Martin Luthers »Judenschriften«: Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert 9783666557897, 9783525557891


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German Pages [338] Year 2015

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Martin Luthers »Judenschriften«: Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert
 9783666557897, 9783525557891

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Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 64

Vandenhoeck & Ruprecht

Martin Luthers „Judenschriften“ Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert Herausgegeben von Harry Oelke, Wolfgang Kraus, Gury Schneider-Ludorff, Anselm Schubert und Axel Töllner

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 3 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0874 ISBN 978-3-666-55789-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Harry Oelke Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grundlagen Volker Leppin Luthers „Judenschriften“ im Spiegel der Editionen bis 1933

. . . . . .

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Anselm Schubert Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im Spiegel der Biographik des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Von der Restauration bis zum Ende des Kaiserreiches Martin Friedrich „Luther und die Juden“ in Preußen bis 1869 . . . . . . . . . . . . . . .

71

Hanns Christof Brennecke Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ in Erweckungsbewegung und Konfessionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Christian Wiese Gegenläufige Wirkungsgeschichten: Jüdische und antisemitische Lutherlektüren im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

6

Inhalt

Weimarer Republik und Nationalsozialismus Gury Schneider-Ludorff „Luther und die Juden“ in den theologischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Siegfried Hermle „Luther und die Juden“ in der Bekennenden Kirche . . . . . . . . . . . 161 Oliver Arnhold „Luther und die Juden“ bei den Deutschen Christen . . . . . . . . . . . 191

Protestantische Diskurse nach 1945 Harry Oelke „Luther und die Juden“ in der kirchengeschichtlichen Forschung nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Reiner Anselm „Luther und die Juden“ in der systematischen und ethischen Debatte nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Stephen G. Burnett “Luther and the Jews” in Anglo-American Discussion . . . . . . . . . . 249

Ökumene und Kirchliche Politik nach 1945 Lucia Scherzberg „Luther und die Juden“ in der katholisch-theologischen Wahrnehmung

269

Wolfgang Kraus „Luther und die Juden“ in den kirchenpolitischen Stellungnahmen und Entwicklungen seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Inhalt

7

Schlussbetrachtungen Berndt Hamm Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im 19. und 20. Jahrhundert Ein Kommentar zur Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Johannes Heil Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im 19. und 20. Jahrhundert Ein Kommentar zur Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Vorwort

Der vorliegende Band basiert auf den Beiträgen der Tagung „Die Rezeption von Luthers ,Judenschriften‘ im 19. und 20. Jahrhundert“, die vom 6.–7. Oktober 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg stattgefunden hat. Die Tagung wurde auf Initiative von „Begegnung von Christen und Juden. Bayern“ (BJC.Bayern) vorbereitet und durchgeführt von den drei für den Bereich der Neueren Kirchengeschichte zuständigen Lehrstühlen an den evangelisch-theologischen Ausbildungsstätten Bayerns in Erlangen (Prof. Dr. Anselm Schubert), München (Prof. Dr. Harry Oelke) und Neuendettelsau (Prof. Dr. Gury Schneider-Ludorff), von BJC.Bayern (Prof. Dr. Wolfgang Kraus) sowie dem Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen, Augustana-Hochschule Neuendettelsau (Dr. Axel Töllner). Die Tagung setzte einerseits eine bewährte bayerische Wissenschaftskooperation zwischen den drei beteiligten kirchengeschichtlichen Instituten fort, andererseits war sie inspiriert vom gemeinsamen wissenschaftlichen Interesse an der Luther-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert. Dem vorliegenden Band liegen im Wesentlichen die Beiträge der Tagung zugrunde. Erfreulicherweise konnte der Bestand um den Beitrag von Martin Friedrich zum 19. Jahrhundert erweitert werden. Das Referat von Thomas Kaufmann „Luther und die Juden in antisemitischen Lutherflorilegien“ wurde auf Wunsch des Verfassers in der Zeitschrift für Theologie und Kirche 112 (2015), 192–228, veröffentlicht. Wir danken den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Vorträge und für die zeitnahe und kooperative Bereitstellung der Manuskripte, den Teilnehmenden an der Tagung danken wir für konstruktive Diskussionsbeiträge. Die Tagung und die Drucklegung dieses Bandes ist ganz wesentlich durch eine nachhaltige Förderung von Seiten engagierter Institutionen ermöglicht worden. Wir danken in dieser Hinsicht der Dr. German Schweiger-Stiftung, der Lutherdekade Reformationsjubiläum 2017 in Bayern sowie dem Verein zur Förderung des christlich-jüdischen Gesprächs in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern e.V. (BJC.Bayern) für eine namhafte finanzielle Unterstützung. Nicht zuletzt gebührt unser Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an den Lehrstühlen, deren Einsatz die umsichtige Durchführung der Tagung sowie die sorgfältige redaktionelle Betreuung des Tagungsbandes geschuldet ist. Insbesondere gilt das für Siglinde Scholz im Tagungsbüro in Erlangen und

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Vorwort

für Claudia Mühlbacher in der Gesamtredaktion in München. Den Herausgebern der „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Reihe. Saarbrücken / München / Neuendettelsau / Erlangen, im August 2015 Wolfgang Kraus Harry Oelke Gury Schneider-Ludorff Anselm Schubert Axel Töllner

Harry Oelke

Einleitung

1. Hermeneutische Balance Das bevorstehende Reformationsjubliäum 2017 hat inzwischen in Deutschland, Europa und darüber hinaus ein hohes Maß an erinnerungskultureller Dynamik entfaltet. In diesem Zusammenhang richtet sich seit geraumer Zeit ein besonderes Interesse auf das Thema „Luther und die Juden“. Dabei sind es weniger die historischen Kontexte der einschlägigen Luthertexte zu diesem Thema als vielmehr deren Wirkung auf die deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, die das Interesse der Öffentlichkeit wecken. Es sind die „späten“, groben Judenschriften Luthers und damit die vermeintlich ,dunklen‘ Seiten des Reformators, die vor dem anstehenden evangelischen Jubelfest ein öffentliches Interesse auslösen. Magazine, Journale, Blogs und Medien beteiligen sich, nicht selten mit enthüllungsjournalistischer Attitüde, leicht erkennbar motiviert durch ein merkantiles Interesse an hohen Absatzzahlen für ihr Produkt. Dabei spielen moralische, gelegentlich auch politische Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle. Vor allem dann, wenn in einer direkten Verbindung Luthers harsche Judenäußerungen direkt mit dem mörderischen Antisemitismus der NS-Zeit in Verbindung gebracht werden.1 Die Diskussion gewinnt freilich hochgradig ambivalente Züge, wenn von anderer Seite der gleiche Reformator als Begründer von Freiheit und Toleranz gefeiert werden kann.2 Nun dürfte feststehen, dass der historische Luther nicht ohne die von ihm freigesetzte Wirkungsgeschichte zu begreifen ist, wie andersherum auch gilt, dass Luthers bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte eingedenk des fatalen Antisemitismus der NS-Zeit nicht ohne seine historischen Äuße1 Vgl. etwa Cicero 04.2014, Titelthema „Judenfeind Luther“, unter der Beweisführung des Kriminologen Christian Pfeiffer wurde hier zur Wirkungsgeschichte des Themas ,Luther und die Juden‘ eine „Mitschuld der Kirche“ festgestellt und ihr zu diesem Thema eine Praxis des Verschweigens und Verdrängens zur Last gelegt. Vgl. dazu die Entgegnung von Wallmann, Kriminologen. Vgl. zuvor schon Der Spiegel 51 (15. 12. 2003). 2 Vgl. z. B. Kirchenamt der EKD, Rechtfertigung. Der Grundlagentext bemüht sich für eine heutige Leserschaft um eine komprimierte Darstellung der reformatorischen Errungenschaften, nicht ohne problematische Aspekte der Reformation zumindest andeutungsweise zu benennen. Die genannte Ambivalenz tritt dann hervor, wenn diese Ergebnisse in der öffentlichen Diskussion mit einer extrem verzerrenden Negativdarstellung Luthers konfrontiert werden.

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Harry Oelke

rungen in ihrer historischen Bedingtheit und Komplexität sachgemäß erfasst werden kann. Der Kirchenhistoriker sieht sich vor die Aufgabe gestellt, dafür Sorge zu tragen, dass sich beide Deutungsperspektiven zu Luther nicht verselbstständigen und eine hermeneutische Balance zwischen dem reformationsgeschichtlichen Befund und der zu ermittelnden neuzeitlichen Wirkung erhalten bleibt. In diesem Zusammenhang ist die diesem Band zugrundeliegende Tagung „Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im 19. und 20. Jahrhundert“, die vom 6.–7. Oktober 2014 an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg stattfand, konzipiert worden. Eingedenk des verfügbaren kirchenhistorischen Wissens um die Genese von Luthers „Judenschriften“ und ihren theologischen und publizistischen Kontexten werden deren unterschiedliche Wirkungen in den theologischen diskurs- und kirchenhistorischen Ereignisfeldern des 19. und 20. Jahrhunderts einer eingehenden Untersuchung unterzogen.

2. Intention Luthers Äußerungen zu den Juden hat die Forschung in jeder Phase ihrer Geschichte beschäftigt. Die einschlägigen Schriften Luthers sind, das wird man heute feststellen können, von der reformationsgeschichtlichen Forschung inzwischen umsichtig und weitgehend methodisch reflektiert untersucht worden. Auch wenn einige bis heute gewisse Versäumnisse anmahnen3, so gilt es doch, zumal unter Einschluß der zuletzt vorgelegten Publikationen, einen vergleichsweise hohen kirchenhistoriographischen Kenntnisstand zum Thema „Luther und die Juden“ zu konstatieren4. Anders stellt sich die For3 Kritisch verwiesen wird in der aktuellen Diskussion beispielsweise auf eine gattungsbezogene Engführung in der rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung des Themas „Luther und die Juden“, insofern diese mit einer Konzentration auf Luthers „Judenschriften“ einhergeht. Luther habe sich, worauf zurecht verwiesen wird, auch mittels anderer Textsorten wie etwa Predigten und Vorlesungen kritisch zu den Juden geäußert, woraus sich ein veränderter Interpretationsansatz ergeben könne, vgl. dazu den Beitrag von Volker Leppin in diesem Band, dort besonders Fußnote 2. In einer ganz ähnlichen Richtung beklagt Thomas Kaufmann eine durch die kirchenhistorische Forschung nur unzureichend verfolgte „Frage nach den historisch-kontextuellen Publikations- und Rezeptionsbedingungen“, allerdings nicht ohne das eingangs festgestellte Desiderat im Zuge seiner profunden Untersuchung nicht unwesentlich zu schließen, Kaufmann, „Judenschriften“, Zit. 2. 4 Eine detaillierte bibliographische Plattform für jede fachwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema bietet Kaufmann, „Judenschriften“, 183–215. Forschungsgeschichtlich zu nennen sind v. a. Lewin, Stellung; Brosseder, Stellung. Von den jüngeren, methodisch und perspektivisch höchst unterschiedlich angelegten Arbeiten seien hier genannt Osten-Sacken, Luther; Kaufmann, „Judenschriften“; Ders., Juden; Ders. Martin Luther ; Kirn, Luther, 217–225; Bell / Burnett, Jews; Bering, Luther; zur englischsprachigen Rezeption Gritsch, Anti-Semitism; Probst, Jews. Zur deutschen Kirchengeschichtsforschung vgl. den Beitrag von Harry Oelke in diesem Band.

Einleitung

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schungssituation für die Rezeption von Luthers ,Judenschriften‘ im 19. und 20. Jahrhundert dar. Welche theologischen und politischen Motive bedingten die Rezeption von Luthers antijüdischen Schriften in der Lutherforschung des 19. Jahrhunderts? Welche Rolle spielten sie im lutherischen Konfessionalismus und in der jüdischen Wahrnehmung jener Zeit? Wie wurden sie in der Zwischenkriegszeit von der „Bekennenden Kirche“ oder den „Deutschen Christen“ zur Zeit des Nationalsozialismus politisch und theologisch instrumentalisiert? Welche Bedeutung kam angesichts der deutschen NS-Verbrechen an den Juden Luthers „Judenschriften“ in den theologischen und kirchlichen Diskursen nach 1945 zu? Zu vielen Aspekten fehlen Spezialuntersuchungen, an eine zusammenhängende Darstellung zur Rezeptionsgeschichte von Luthers „Judenschriften“, die den fortgeschrittenen Kenntnisstand der Reformationsforschung berücksichtigt, ist daher noch nicht zu denken. Seit der grundlegenden Dissertation von Johannes Brosseder von 1972 sind keine weiteren zusammenfassenden Darstellungen mehr erschienen5. Angesichts der Komplexität des Themas und dessen Erforschung im interdisziplinären Kontext dürfte eine derartige synthetische Zusammenführung für einen einzelnen auch kaum noch möglich sein. Vor allem war es die Antisemitismusforschung6, die auf ein wichtiges Desiderat der kirchenhistorischen Forschung aufmerksam gemacht hat. In der Antisemitismusforschung spielen Fragen nach dem Transfer antijüdischer Stereotype in die Neuzeit eine gewichtige Rolle. Von Interesse ist, wie sie in den Volkstums- und Rassetheorien der Neuzeit rezipiert wurden. Indem auf diese Weise nach dem Anteil des Christentums an der Entstehung des modernen, rassisch begründeten Antisemitismus gefragt wurde, gewann auch der Aspekt, inwiefern Luther für die Genese dieser jüngeren Form des Antisemitismus in die Verantwortung zu nehmen sei, an Bedeutung.7 Damit war auch auf einen Nachholbedarf für die kirchengeschichtliche Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert verwiesen. Zugespitzt lässt sich formulieren: Martin Luthers „Judenschriften“ haben in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eine wechselvolle, teilweise wohl auch hochproblematische, aber bislang kaum erforschte Wirkungsgeschichte gehabt. Dieser Rezeptionsgeschichte widmet sich der vorliegende Band. Dabei steht nicht die eindimensionale Perspektivierung eines historischen Versagens Luthers im Vordergrund. Vielmehr wird die Rezeption im Kontext zeitgenössischer theologischer und historischer Bedingungen untersucht.

5 Brosseder, Stellung. 6 Bergmann / Kçrte, Antisemitismusforschung; Nonn, Antisemitismus; Rìrup, Entwicklung. 7 Vgl. dazu den Beitrag von Harry Oelke in diesem Band.

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Harry Oelke

3. Konzeptionelle Anlage Der vorliegende Band ist konzeptionell so angelegt, dass zunächst zwei Beiträge aus einer übergeordneten Perspektive mit Blick auf die Lutherausgaben (Volker Leppin) bzw. die Lutherbiographik des 19. und 20. Jahrhunderts (Anselm Schubert) eine materialreiche Zusammenschau zu den beiden grundlegenden Parametern jeder Lutherforschung bieten. Gemäß der chronologischen Anlage des Buches rückt sodann das 19. Jahrhundert „Von der Restauration bis zum Ende des Kaiserreichs“ ins Blickfeld. Der hier gewählte periodologische Einsatzpunkt scheint für unsere Zwecke hilfreich, da die von Pietismus und Aufklärung bestimmte Rezeptionsgeschichte Luthers zwar zweifellos vorwärtsweisende Züge aufweist, aber doch soweit eigenen theologie-, sozial- und kulturgeschichtlichen Koordinaten folgt, dass deren Berücksichtigung in diesem Band entfallen kann und muss. Die Rezeption des Themas „Luther und die Juden“ in diesem Abschnitt wird bis an die Schwelle zur Reichsgründung unter räumlichen Gesichtspunkten für Preußen analysiert (Martin Friedrich) sowie im Hinblick auf die theologiegeschichtliche Entwicklung für die Erweckungsbewegung und den bayerischen Konfessionalismus (Hanns Christof Brennecke). Abschließend wird gefragt, inwiefern jüdische Lutherdeutungen die antisemitische Rezeption konterkarieren konnten (Christian Wiese). Der dritte Teil des Bandes befasst sich mit der Rezeption von Luthers Judenschriften im Zeichen der geballten Historizität der Weimarer Republik und der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft. Drei exponierte Untersuchungsfelder rücken zu diesem Zweck in den Fokus: die Theologiegeschichte (Gury Schneider-Ludorff), die Bekennende Kirche (Siegfried Hermle) und schließlich die Deutschen Christen (Oliver Arnhold) – präzise Beobachtungen und teilweise überraschende Ergebnisse differenzieren und korrigieren in allen drei Fällen oberflächliche oder verzerrte Wahrnehmungen, die die Diskussion für diese ereignisreiche Phase bis in die Gegenwart hinein bestimmen. Die inhaltliche Aufarbeitung der Wirkungsgeschichte von Luthers „Judenschriften“ ist nicht auf das Ende des Zweiten Weltkriegs begrenzt. Für die Zeit nach 1945 wird deren Rezeption in den protestantischen Diskursfeldern der Kirchengeschichtsforschung (Harry Oelke), Ethik und Systematischen Theologie (Reiner Anselm) sowie des angloamerikanischen Kontextes (Stephen G. Burnett) untersucht. Zwei Beiträge blicken abschließend über den Rand des deutschen Protestantismus im engeren Sinn hinaus : Einmal wird die katholische Wahrnehmung von Luther und seinen „Judenschriften“ untersucht (Lucia Scherzberg), zum anderen schlägt der letzte Beitrag Schneisen in das Dickicht kirchenpolitischer Verlautbarungen (Wolfgang Kraus), deren globale orientierungsgebende Wirksamkeit nicht zu unterschätzen ist. Zwei resümierende Kommentare

Einleitung

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(Berndt Hamm, Johannes Heil) spiegeln den Ertrag der Beiträge im Forschungszusammenhang. Das vorliegende Buch stellt die Schriften Luthers zu den Juden bewusst ins Zentrum des theologischen Diskurses, auch oder gerade mit Blick auf eine sensibilisierte Öffentlichkeit vor dem kommenden Reformationsjubiläum. Das Thema „Luther und die Juden“ ist ein wirkungsgeschichtlich so wichtiges Element der lutherischen Tradition, dass es volle wissenschaftliche Beachtung verdient. Die Beiträge dieses Bandes rücken das beschämte Verschweigen, die ideologischen Verzerrungen sowie die kirchlichen, theologischen oder gesellschaftspolitischen Funktionalisierungen von Luthers „Judenschriften“ ins Licht. Erst das Wissen um diese subtilen Wirkungen kann zu deren Überwindung in der gegenwärtigen Gestaltung von Kirche und Ökumene beitragen.

Literaturverzeichnis Bell, Dean-Philipp/Burnett, Stephen G.: Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany (Studies in Central European Histories). Leiden 2006. Bergmann, Werner/Kçrte, Mona: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Berlin 2004. Bering, Dietz: War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin 2014. Brosseder, Johannes: Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten. Interpretationen und Rezeption von Luthers Schriften und Äußerungen zum Judentum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum. München 1972. Cicero 04.2014: Judenfeind Luther. Gritsch, Eric: Martin Luther’s Anti-Semitism. Against His Better Judgment. Grand Rapids 2012. Kaufmann, Thomas: Luthers Juden. Stuttgart 2014. –, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung. Tübingen 22013. –, Martin Luther. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2,2. Berlin 2009. Kirchenamt der EKD (Hg.): Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Kirn, Hans-Martin: Luther und die Juden. In: Beutel, Albrecht (Hg.): Luther Handbuch. Tübingen 2005, 217–225. Lewin, Reinhold: Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche). Berlin 1911. Nonn, Christoph: Antisemitismus. Darmstadt 2008.

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Harry Oelke

Osten-Sacken, Peter von der : Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas ,Der gantz Jüdisch Glaub‘ (1530/31). Stuttgart 2002. Probst, Christopher J.: Demonizing the Jews. Luther and the Protestant Church in Nazi Germany. Bloomington 2012. Rìrup, Reinhard: Zur Entwicklung der modernen Antisemitismusforschung. In: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur Judenfrage der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1987 (zuerst Göttingen 1975). Wallmann, Johannes, Kriminologen sollten keine historischen Beweise führen. In: Cicero 05.2015, http://cicero.de/autoren/johannes-wallmann [letzter Aufruf: 22. 09. 2015].

Grundlagen

Volker Leppin

Luthers „Judenschriften“ im Spiegel der Editionen bis 1933

Die Beantwortung der Frage, ob Luthers späte Schriften gegen die Juden überhaupt Einfluss auf den Antisemitismus der Deutschen Christen haben konnten, hängt zunächst einmal an einer ganz elementaren Grundlage: ob man sie überhaupt kennen konnte. Johannes Wallmann ist zu dem erstaunlichen Ergebnis gekommen, eben dies sei nicht der Falle gewesen – seit dem Pietismus habe man unter den Judenschriften allein jene frühe aus dem Jahre 1523 gekannt, in der Luther sich dem Gedanken einer Judenmission öffnete und für eine freundliche Aufnahme der Juden warb1. Um diese These überprüfen zu können, soll im Folgenden die Editionsgeschichte der Juden1 Wallmann, Kirche. Der Beitrag basiert zu guten Teilen auf Wallmann, Reception. Er spitzt die darin enthaltenen Äußerungen aber noch zu. Die Behauptung, die Lutherschriften seien über lange Zeit unbekannt gewesen, wurde von Personen, die sie im Zusammenhang von Nationalsozialismus und Deutschchristentum bekannt machen wollten, wiederholt vertreten; vgl. Linden, Kampfschriften, 7: „Erste und vordringlichste Pflicht ist die allgemeine Verbreitung der Lutherschen Hauptschrift ,Von den Juden und ihren Lügen.‘ Es ist ein unerträglicher Zustand, dass dieses wichtige und heute noch vollauf gültige völkisch-religiöse Bekenntnis des großen deutschen Reformators bei fast allen Deutschen höchstens dem Namen nach bekannt und nur von wenigen gelesen ist.“ Gegen solche Annahmen hat sich, konkret in der Auseinandersetzung mit Mathilde Ludendorff, schon Steinlein, Phantasien, 4 (hierzu Brosseder, Stellung, 226–230), unter Verweis auf die Gesamtausgaben gewandt; Mathilde Ludendorff hielt an ihrer Behauptung in geradezu grotesker Weise fest: In der zweiten Auflage ihres Pamphlets fügte sie 1936 eine Fußnote hinzu, in der sie erklärte: „In der ersten Auflage war die von Falb, dem gewissenhaften Forscher, übernommene Mitteilung gebracht, daß die judenfeindlichen Schriften Luthers in einer jüngst erschienenen Gesamtausgabe [dies bezieht sich vermutlich auf die WA, die „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Schem Hamphopras“ erst 1920 edierte {V.L.}] nicht enthalten seien. Pfarrer Steinlein trat dagegen in einem Zeitungsaufsatz auf. Daraufhin wurden Nachforschungen gemacht und ergaben: Falb war jäh gestorben, seine Schwester konnte nur ganz wie sein Verleger die gründlichen Vorforschungen für seine Schrift ,Luther und die Juden‘ beteuern. Zwei Theologen bestätigten ferner, Exemplare gesehen zu haben, in denen diese Aufsätze fehlten, daß aber in den heute vertriebenen Exemplaren die Schriften stünden. Da der Verlag selbst aber zweierlei Ausgaben bestritt, wurde in den Neuauflagen der Aufsätze nur die einwandfreie Feststellung gemacht daß sogar in großen Ausgaben der Lutherwerke, die viele Bände stark sind, diese Bücher fehlen. Tatsächlich schrieben viele Geistliche, sie hätten die Schriften nie zu Gesicht bekommen!“ (Ludendorff, Frevel, Anm. 5; vgl. zu diesem Werk und seiner Einordnung Spilker, Nationalismus, 96). Gegen solche Äußerungen richtete sich aber ein selbst deutschchristlich orientierter Theologe wie Vogelsang, Kampf, 5, der auf die große Verbreitung sowohl in kirchlichen Kreisen als auch eben in der neuheidnischen (zur Problematik des Begriffs in Anwendung auf Ludendorff s. Spilker, Nationalismus, 307) Ludendorff-Bewegung verweist (s. zu Vogelsang Leppin, Schatten, 132–142).

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Volker Leppin

schriften nachvollzogen werden. Als solche werden die Schriften „Daß unser Herr Jesus ein geborene Jude sei“ von 1523, „Wider die Sabbather“ von 1538, „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 und „Vom Schem Hamphoras“ aus demselben Jahr verstanden, nicht aber „Von den letzten Worten Davids“, da es sich hierbei lediglich um ein Parergon zu Schem Hamphoras handelt2.

Die Judenschriften in Gesamtausgaben Wittenberger Ausgabe: Die erste große Werkausgabe Luthers entstand bekanntlich ab 1539 in Wittenberg, beginnend mit der deutschen Reihe, gefolgt von einer lateinischen Reihe3. Die, dieser unter sprachlichen Gesichtspunkten erfolgten Haupteinteilung entsprechenden, beiden Serien waren ihrerseits nicht nach chronologischen, sondern nach systematischen Gesichtspunkten untergliedert4. Die interimistische Krise unterbrach die Arbeit in Wittenberg kurzzeitig, aber 1552 konnte der dickleibige fünfte Band der deutschen Reihe erscheinen. Er enthielt die heute sogenannten Judenschriften in einem Band, der ausweislich des Titelblatts „die Auslegung vber das erste Buch / vnd fole gend vber etliche Capitel der andern Bucher Mose / Auch vber etliche Pro5 pheten /“ enthielt . Ursprünglich war es vorgesehen gewesen, sie in Band 2 zusammen mit Schriften gegen Täufer, Sabbater, Antinomer und Türken zu veröffentlichen6. Dieser nach Auskunft Christoph Walthers so noch von Luther konzipierte Band7 konnte aber aufgrund des Ausbruchs des Schmalkaldischen Krieges nicht vollständig verwirklicht werden8, so dass die Judenschriften nun einen anderen Ort bekamen9. Hierdurch rückten sie in einen neuen, hermeneutischen Kontext ein: Sie fanden ihren Platz als Unterstützung der christologischen Deutung des Alten Testaments, nicht aber als Beitrag zur Auseinandersetzung mit Häretikern oder Andersgläubigen. Diese eher Editionszufällen folgende editorische 2 Zur Sonderstellung dieser Schrift s. WA 54,20. Ohnehin ist mit der Gattung „Judenschriften“ die Problematik von Luthers Stellung zum Judentum nur unzureichend erfasst: Sucher, Stellung, behandelt neben den oben genannten fünf Schriften die frühen Vorlesungen, die MagnificatAuslegung, Tischreden sowie die Vermahnung wider die Juden vom 15. Februar 1546. Diese Ausweitung ist auch deswegen bedeutsam, weil eine Fixierung auf die Judenschriften und die Frage ihrer Rezeption oder Nichtrezeption aus dem Blick zu drängen droht, dass Luther sich „auch in vielen anderen Zusammenhängen, seien es Predigten, seien es Vorlesungen“ „abträglich über die Juden geäußert hat“ (Von der Osten-Sacken, Luther, 274). 3 Wolgast, Wittenberger, 93. 102. 4 Vgl. ebd., 38. 5 Luther, Fünfter Teil. 6 Wolgast, Wittenberger, 123. 7 Ebd., 125. 8 Ebd., 123. 9 Ebd., 152.

Luthers „Judenschriften“ im Spiegel der Editionen bis 1933

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Grundentscheidung spiegelte sich dann in drei Charakteristika der Ausgabe wider : 1. die Vorrede Georg Majors. Dieser hatte gerade erst Georg Rörer aufgrund dessen Fortgang zunächst nach Kopenhagen, dann nach Jena10 als Redakteur der Gesamtausgabe abgelöst11. Nun musste er, da Melanchthon nicht vor Ort war12, selbst eine Vorrede verfassen. Er unterzeichnete sie stilvoll am 18. Februar 1552, also sechs Jahre nach Luthers Tod13. Major entwirft in ihr einen Abriss der Heilsgeschichte anhand der Unterscheidung der beiden Regimente Gottes14 : Gott hat hiernach „zu jeder zeit in der Kirchen vnd im weltlichen Regiment“ „treffliche Leute“15 erweckt. Dieser Grundgedanke ermöglicht es Major, innerhalb eines Zeitschemas, das gemäß der Elia-Weissagung16 bzw. nach der nach ihr gestalten Carions-Chronik von einer Entstehung der Welt ungefähr viertausend vor Christus ausgeht, Gestalten des Alten Testamentes als von Gott Gesandte zu charakterisieren17. Interessant wird das dritte Jahrtausend, weil in diesem, wohl in Anlehnung an das Chronicon Carionis neben den biblischen Erzvätern Abraham, Isaak, Jakob und Josef auch Gestalten der paganen Antike wie (nebeneinander!) Achill und Hektor erscheinen18. Im e vierten Jahrtausend erscheinen dann „Im Kirchenregiment / bey den Juden die 19 Propheten von Elias bis zu den Makkabäern“ . „Im weltlichen Regimment e aber / bey den Juden“ werden die Könige bis zum Exil in Auswahl namentlich aufgeführt, danach pauschal unter Verweis auf Lk 3,23–38 benannt20. Nach der Geburt Christi erscheinen als Hauptgegner die Vertreter der antichristlichen Reiche: Papst und Türke21, welche nach Major „Anno sechshundert nach des Herrn geburt (…) fast zugleich miteinander angangen“22. Sie sind das eigentliche Gegenüber, gegen das Gott Gestalten wie Anselm, Bernhard, Tauler, Hus, Gerson und „zu diesen vnsern zeiten den grossen tewren Man Doctorem Martinum Lutherum“ erweckt hat23. Dieses heilsgeschichtliche Szenario ist insofern bemerkenswert, als in ihm dem Judentum eine grundsätzlich positivpräparative Rolle zugemessen wird. In „Von den Juden und ihren Lügen“ hatte 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Michel, Sammler, 26–30. Wolgast, Wittenberger, 152. Michel, Erbe, 154. Luther, Fünfter Teil der Bücher, )( VIr. Ebd., )( IIr. Ebd., )( IIv. Ausdrücklich erwähnt in ebd., )( Vr. Ebd., )( IIv – IIIr. Ebd., )( IIIr ; zur Erwähnung im Chronicon Carionis s. CR 12,771 (Achill im Zusammenhang des Trojanischen Krieges); 951 (Hektor, freilich nur im Zusammenhang der Legende, die Franken würden von Hektor abstammen). Luther, Fünfter Teil)( IIIr. Ebd., )( IIIr. Ebd., )( IIIr. Ebd., )( IVv. Ebd., )( Vv.

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Luther selbst ein Geschichtsbild vorausgesetzt, in welchem sich das Anrennen des Bösen gegen Gott, das auch Major seit Beginn der Schöpfung am Wirken sieht24, in der vorchristlichen Zeit in den Juden als „des Teufels kinder“25 und „des Teuffels volck“26 manifestierte27. Diese wurden somit zwar nicht selbst zu Antichristen, aber sie gerieten doch in eine Reihe mit der Materialisation des Teufels durch Papst und Türke28, die aber ihrerseits erst nach Christi Geburt vom Teufel gesandt wurden. So hatte Luthers Geschichtsbild gerade durch seinen vehementen Antijudaismus eine große Konsistenz gewonnen29. Dieser nahm Major durch seine Vorrede die Spitze. Wenn er dann in seiner Ankündigung des Inhaltes des Bandes auch auf die Schriften „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, „Wider die Sabbather“, „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras“ zu sprechen kam, so hatte dies die hermeneutische Funktion, dass „der Juden jrthumb gewaltiglichen verlegt werden / vnd die lere von dem Reich Christi vleissig erkleret und getrieben wird“30. Es handelte sich also um die Behauptung der alleinigen Legitimität christlicher Deutung des Alten Testaments, die seit den ersten Vorlesungen Luthers zu den Grundkoordinaten reformatorischer Hermeneutik gehörte31. Einen konkreten Bezug auf die Verwerfungen und Repressionsmaßnahmen, die Luther in seinen späten Judenschriften empfahl, ließ Major nicht erkennen. 2. die Voranstellung der Schrift „Wie sich die Christen in Mose schicken sollen“. Zu der grundlegend hermeneutischen Intention des fünften Bandes der Wittenberger Ausgabe passt, dass die Auslegung des 1. Buches Mose, mit der er naheliegender Weise beginnt, schon in der Erstausgabe von 1527 mit Luthers „Unterrichtung wie sich die Christen ynn Mosen sollen schicken“ verbunden war32. Die grundsätzliche Bedeutung dieses Textes hoben die Editoren durch Zwischenüberschriften hervor, die sie gegenüber ihrer Vor-

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Ebd., )( IIv. WA 53,420,27. WA 53,431,24; vgl. ebd., 447,20: „Der Teufel hat dis Volck mit allen seinen Engeln besessen“.. Zum späteren Angriff des Teufels durch den Papst s. in „Von den Juden und ihren Lügen“: WA 53,438,4. Oberman, Wurzeln, 155, rückt allerdings die drei Gestalten zu eng zueinander, wenn er sie gleichermaßen als Erscheinungen der Endzeit deutet: Die Juden waren für Luther gerade nicht einfach eschatologische Gestalten, sondern von früh an präsent. Diese theologische Konsistenz wird noch in der jüngeren Forschung gerne übersehen – sie geht bis dahin, dass Luther zwar den Vorwurf der Brunnenvergiftung und des Ritualmordes gegen Juden wieder aufgriff (WA 53,482,12–14), nicht aber den des Hostienfrevels, da dieser für ihn sakramententheologisch nicht mehr denkbar war. Luther hat den Juden also gerade nicht „jedes Verbrechen zu[ge]traut“ (so Kaufmann, Konfession, 135), sondern nur solche, die in sein theologisches Raster passten. Erzählungen vom Hostienfrevel waren noch am direkten Vorabend der Reformation virulente Ereignisse (s. Backhaus, Hostienschändungsprozesse; Honemann, Hostienschändung; Oberman, Wurzeln, 129–134). Luther, Fünfter Teil der Bücher, )( VIr. Grundlegend hierzu: Ebeling, Evangelienauslegung. WA 24,2–6; Luther, Fünfter Teil, 1r–6v.

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lage, dem Druck von Georg Rau aus dem Jahre 152833, einschoben34. Hierdurch entstand eine auf die Lehre von Gesetz und Evangelium ausgerichtete hermeneutische Lektüreanweisung, die den Blick auf die weiteren Texte prägen sollte. 3. die Zufügung der Schrift „Daß Jhesus Nazarenus der ware Messias sey“ in der Übersetzung Wenzel Lincks. Sie galt als Sendbrief eines Rabbi Samuel aus dem 11. Jahrhundert35. Das Inhaltsverzeichnis vermerkte hierzu: „Dis letzte Buch / wiewol es nicht von Doctore Martino Luthero geschrieben / jedoch e ist es darumb hinzugesatzt / dieweil es einerley materien ist / mit den Buchern / so zuuor stehen / vnd gewaltiglichen bezeuget / das Jhesus Nazarenus der rechte ware Messias sey.“36

Hier wurde also – wie auch sonst verschiedentlich in der Wittenberger Ausgabe – mit dem Autorprinzip einer Werkausgabe gebrochen, um den Sachgehalt des Weissagungsbeweises zu unterstreichen. Letztlich wird genau durch diese dreifache hermeneutische Vorgabe erst das Genus „Judenschriften“ geschaffen37. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, den Traktat „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“38 mit den anderen drei polemischen Schriften39 zusammenzustellen. Dem hermeneutischen Anliegen entsprach auch die Fassung des Titels dieser frühesten Schrift, 33 Vber Das j Erste Buch Mose / prej digete Mar. Luthers j sampt einer vnterricht j wie Mose zu leren istj, Wittenberg: Rau 1528; s. zu diesem Text als Vorlage WA XLIV; dies geht neben dem für die WA-Edition vorgenommenen Textabgleich auch aus der Datierung der Vorrede auf das Jahr 1528 hervor (Luther, Fünfter Teil, 1r). 34 „Underscheid des Gesetzes und Euangelii“ (Luther, Fünfter Teil 1v vor WA 4,5; fehlt in Luther, das Erste Buch 3r), „Historia wie und durch wen die erste predigt des Gesetzes gegeben“ (Luther, Fünfter Teil, 2r vor WA 4,22; fehlt in Luther, das erste Buch, 3v), „Underscheid des Gesetzes Mose“ (Luther, Fünfter Teil der Bücher, 2v vor WA 6,8; fehlt in Luther, das Erste Buch, 5r – da hier schon eine Überschrift stand [„Das gesetz Mose bindet die Heyden nicht / sondern allein die Juden“] entsteht hier eine Doppelüberschrift), „Warumb Moses zu predigen“ (Luther, Fünfter Teil, 3r vor WA 8,3; als Marginalnotiz zur Stelle in Luther, das Erste Buch, 6v), „Missbrauch des Moses schrifft“ (Luther, Fünfter Teil, 5r vor WA 11,26; fehlt in Luther, das Erste Buch, 10r). 35 Luther, Fünfter Teil, 566r–583v ; vgl. zu dieser Schrift Kaufmann, Judenschriften, 44–57. 165–169. 36 Luther, Fünfter Teil, )( VIv. 37 Das Register zur Wittenberger Ausgabe hat dies sogar noch verschärft, indem es die Schriften e e unter dem Titel „Wider die Juden“ zusammenfasste (Register aller Bucher j vnd Schrifften des j Ehrwirdigen Herrn Doctoris j Mart. Lutheri (…), Wittenberg 1556, C IVv ; vgl. Kaufmann, Judenschriften, 11 f, Anm. 17); zu den Registern der Wittenberger Ausgabe s. Wolgast, Wittenberger, 42 f. Angesichts dieses Befundes ist die Deutung von Hagen, Judenschriften, 135, in der Wittenberger Ausgabe sei „no classification“ erfolgt, zu differenzieren. 38 Luther, Fünfter Teil, 434v–443r. 39 „Wider die Sabbather“ (Luther, Fünfter Teil, 443v–453v), „Von den Juden und ihren Lügen“ (ebd., 454r–509v), „Vom Schem Hamphoras“ (ebd., 509v–535v); vgl. „Von den letzten Worten Davids (ebd., 536r–566r).

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den die Wittenberger Ausgabe gegenüber den vorliegenden Einzeldrucken40 auf interessante Weise ergänzte: Die Überschrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ wurde nun ergänzt um den Zusatz: „VNd wie mit den Jüden / sie zu bekeren / zu handeln sey“41. Damit wurden auch die folgenden Schriften in den Dienst eben dieser Aufgabe der Judenmission gestellt, deren Sinnhaftigkeit dann wiederum durch die Epistola Rabbi Samuelis aufgegriffen wurde. Der systematische Horizont der Wittenberger Ausgabe gibt den Schriften mithin den doppelten Platz der hermeneutischen Vergewisserung der christlichen Deutung des Alten Testaments und der Perspektive der Judenmission. Jenaer Ausgabe: Mit der Jenaer Ausgabe entstand im Horizont der innerlutherischen Auseinandersetzungen nach dem Interim ein großangelegtes Konkurrenzvorhaben zu dem Wittenberger Unternehmen42. Den Erweis philologischer Überlegenheit versuchte man durch Korrekturen im Detail und durch eine chronologische Gesamtanlage zu erbringen. Entsprechend wurde die Gruppe der Judenschriften, die die Wittenberger Ausgabe geschaffen hatte, wieder aufgesprengt. Die in Frage kommenden Texte waren nun auf die Bände 2 (Schriften von 1522–1525), 7 (Schriften von 1538–1542) und 8 (Schriften von 1542–1547) verteilt. In Band 2 erschien, nun wieder unter dem – dem Anspruch auf historische Korrektheit folgenden – knappen Titel „Daß e Jhesus Christus ein geborner Jude sey“ die Schrift aus dem Jahre 152343. Der programmatische Purismus der Ausgabe lässt allerdings wenig Möglichkeiten, die Intention der Herausgeber nachzuzeichnen: Zum zweiten Band erklärt Nikolaus von Amsdorff ausdrücklich, dass und warum man keine eigene e Vorrede beigeben wolle, „Sonderlich dieweil die Bucher Lutheri / sich selbs / vnd zuuor aus jren Autorem loben vnd preisen / wie man pflegt zu sagen / Das werck lobet seinen Meister.“44 Entsprechend bieten auch die Ausgaben der anderen Schriften „wider die Sabbater“ in Band 745 und „Von den Juden und ihren Lügen“ sowie „Vom Schem Hamphoras“ in Band 846 keine aussagekräftigen Informationen zur Intention der Editoren oder zu von ihnen gesetzten Rezeptionsanreizen.

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Vgl. WA 11,308. Luther, Fünfter Teil, 434v. Vgl. hierzu Michel, Erbe, 109–237. Luther, Der Ander Teil, 237v– 248v (Die Erstausgabe des zweiten Bandes der Jenaer Ausgabe erschien 1555 [Aland, Hilfsbuch, 570; Michel, Erbe, 170]; mir stand nur die Auflage von 1563 zur Verfügung, die auf dem Titelblatt als dritte Auflage bezeichnet wird). 44 Luther, Der Ander Teil, * iiir. 45 Luther, Der Siebend Teil, 31r–42r (Die Erstausgabe des siebten Bandes der Jenaer Ausgabe erschien 1558 [Aland, Hilfsbuch, 570; Michel, Erbe, 176]; mir stand nur die dritte Auflage von 1568 zur Verfügung). 46 Luther, Der Achte Teil, 49r–106r ; 108v–135v ; „Von den letzten Worten Davids“ findet sich Ebd., 137r–170r. (Die Erstausgabe des achten Bandes der Jenaer Ausgabe erschien 1558 [Aland, Hilfsbuch, 571; Michel, Erbe, 176]; mir stand nur die dritte Auflage von 1568 zur Verfügung).

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Da es sich bei ihr lediglich um Ergänzungen zur Jenaer Ausgabe handelt47, kann die Eislebener Ausgabe hier außer Acht bleiben. Gleiches gilt für die Altenburger Ausgabe, die im Wesentlichen die Jenaer Ausgabe reproduziert48. Eine Änderung der chronologischen Editionsweise und damit eine neue Zusammenstellung der Judenschriften ergab sich erst wieder mit der Leipziger Ausgabe Zedlers im 18. Jahrhundert: Hier waren nun in Band 21 in der Abe e e teilung „wider die Judischen und Turckischen Irrthumer“ alle Judenschriften zusammengestellt, interessanterweise so, dass „Wider die Sabbather“49 den Beginn machte und die Reihe mit „Daß Jesus Christus“ schloss50. War somit zwar editorisch das systematische Grundprinzip der Wittenberger Ausgabe wieder aufgenommen, so war die systematische Zuordnung nun eine ganz andere: Unmittelbar vorauf gingen Schriften gegen den alten Glauben. Was folgte, war die Übersetzung der Verlegung des Alcorani Bruder Richards51. Die Judenschriften waren nun eindeutig in den häresiologischen Kontext gestellt. Die Perspektive war dabei aber vornehmlich ihre Bekehrung zum Christentum. Ebenfalls systematisch gliederte die Walchsche Ausgabe. Hier wurden aber die Schriften gegen das Papsttum in einem eigenen Band (19) gesammelt. Die Schriften gegen die Juden kamen in den folgenden Band, der „Sakramentierern, Fanaticos, Juden und Türken“ gewidmet war52. So gingen ihnen die die Sakramentenfrage betreffenden Schriften voraus, und es folgten die Schriften gegen die Türken. Das bemerkenswerteste Faktum an der Ordnung der Walchschen Ausgabe ist, dass den Übergang zwischen beidem die „Vermahnung wider die Juden“ bildete53, die ursprünglich der Anhang zu Luthers Predigten in Eisleben kurz vor seinem Tod gewesen war54. Diese Passage, in welcher Luther noch einmal eindringlich zur Bekehrung der Juden mahnte, widrigenfalls aber aufrief, sie nicht zu dulden, gewann so eine eigenständige Be47 Wolgast/Volz, Geschichte, 544. 48 Ebd., 561. Die Schrift „Daß unser Herr Jesus Christus…“ findet sich in: Luther, Der Ander Teil aller Deutschen Bücher, 313–324; die anderen Judenschriften in: Luther, Der Siebend Theil aller Deutschen Bücher, 32–44 (Wider die Sabbater; dieser Band enthielt ebd. A IIr – AVv auch die ursprünglich dem fünften Band der Wittenberger Ausgabe zugehörige Vorrede Georg Majors, die also – zufällig – wiederum eine Judenschrift mit einleitete, obwohl die Altenburger Ausgabe dem chronologischen Editionsprinzip verpflichtet war ; als Grund nannten die Herausgeber das Fehlen von Vorreden und Widmungen in der Jenaer Ausgabe, das nun durch entsprechende Passagen der Wittenberger und der Eislebener Ausgabe aufgefangen wurde [ebd. A 1v]); Luther, der achte Teil aller teutschen Bücher, 208–274 (Von den Juden und ihren Lügen); 277–303 (Vom Schem Hamphoras). 49 Luther, Des Theuren Mannes, 531–543. 50 Luthers Werke (Zedler) 21, 646–657. Außerdem enthielt die Ausgabe: „Von den Juden und ihren Lügen“ (ebd. 544–614) und „Vom Schem Hamphoras“ (ebd. 614–645). 51 Luther, Werke (Zedler) 657–683; vgl. hierzu Ehmann, Luther, 75–190. 52 Luther, in Deutscher als Lateinischer Sprache, formulierte etwas stärker abgesetzt: „wider die Sacramentirer und andere Schwärmer, sowie auch wider die Juden und Türken“. 53 Walch, Schriften, Bd. 20, 2630–2632. 54 WA 51,195 f.

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deutung und band gewissermaßen die Schrift von 1523 und die späteren Judenschriften in ihrer Intention zusammen – und auch in ihrer Wertung. Der Reformator zeige in den „Schrifften, welche Lutherus wieder die Juden verfertiget“, eine genaue Einsicht in deren Verderben, welches durch „Blindheit, Bosheit, Halsstarrigkeit, Hochmuth“ bedingt sei55. Beide im Horizont der Aufklärung entstandenen Ausgaben sind sich also einig in der systematischen Ordnung der Werke Luthers – und der Zuordnung der Judenschriften zur häresiologischen Abteilung56. Dies bedeutete im Willen um Systematisierung letztlich eine Rückkehr zum ersten Plan der Wittenberger Ausgabe. Dieses Ordnungsprinzip wurde durch die zweite Auflage der Walchschen Ausgabe noch in das 19. Jahrhundert überliefert. Deren Publikation stellte allerdings, wie Eike Wolgast und Hans Volz feststellten, schon einen „Rückschritt“ zu veralteten philologischen Standards dar57. Deren Verbesserung war durch die Erlanger Ausgabe vor allem in der Hinsicht erreicht worden, dass die Edition nun wieder wie im 16. Jahrhundert in der Originalsprache erfolgte58 – eine Entscheidung, die allerdings die Judenschriften nicht tangierte. Für diese war vielmehr bedeutsam, dass die Erlanger Ausgabe wie die aufgeklärten Editionen nach systematischen Gesichtspunkten gegliedert war59, so dass die Judenschriften in die Reihe der polemischen Schriften gelangten. Hier standen sie allerdings nicht zusammen, da innerhalb dieser Sachabteilung eine chronologische Abfolge beachtet wurde. Für die Publikation dieser Texte war Johann Konrad Irmischer zuständig, seinerzeit Pfarrer an der Neustädter Kirche in Erlangen. Er präsentierte die Judenschriften in den Bänden 29 („Daß Jesus Christus“)60, 31 („Wider die Sabbater“)61 und 32 („Von den Juden“62 ; „Vom Schem Hamphoras“63). Eine eigene Gruppe von „Judenschriften“ entstand so nicht, und die Einleitungen, die Irmischer den Texten beigab, waren durchweg knapp und sachlich gehalten. Die antijüdischen Töne wurden allerdings im Indikativ wiedergegeben64, so etwa, wenn als Anlass für die Schrift „Von den Juden“ „die Frechheit, mit welcher die Juden, den Christen gegenüber, ihre 55 Walch, Schriften, Bd. 19, 90. 56 Dies steht im Kontext dessen, dass in der Aufklärung, im Unterschied zum Pietismus, der radikale Antijudaismus wieder auflebte (s. Gritsch, Anti-Semitism, 104); signifikant hierfür ist e der Artikel „Juden“ im Zedlerschen Universallexikon (Grosses Vollstandiges j UNIVERSAL-j LEXICONj Aller Wissenschafften und Künste. Bd 14, Leipzig und Halle 1739, Sp. 1497–1503); vgl. hierzu Wallmann, Reception, 84. 57 Volz / Wolgast, Geschichte, 602. 58 Ebd., 597. 59 Ebd., 594. 60 Luthers sämmtliche Werke 29, 45–74. 61 Luthers sämmtliche Werke 30, 416–449. 62 Luthers sämmtliche Werke 32, 99–274. 63 Ebd., 275–358. 64 Luthers sämmtliche Werke 29, 45: „Zugleich zeigt er, wie man mit Juden, die man bekehren wolle, umzugehen habe.“; Luthers sämmtliche Werke 31, 416: „Luther zeigt daher gründlich, dass die Juden vergeblich auf den Messias warten“.

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Irrthümer vertheidigten“65 genannt wird. Insgesamt handelt es sich also um eine relativ distanzlose Aufnahme der Tendenzen Luthers, ohne dass Irmischer in besonderer Weise um Schärfung der antijüdischen Ausrichtung bemüht gewesen wäre – allerdings ist die Erlanger Ausgabe ein deutlicher Beleg dafür, dass die Annahme, seit Spener seien Luthers Judenschriften „für nahezu zweihundert Jahre fast völlig in Vergessenheit geraten“66 einer philologischen Grundlage entbehrt. Das rein chronologische Gliederungsprinzip der Weimarer Ausgabe löste dann – darin letztlich an die Jenaer Ausgabe anknüpfend – die Gruppe der Judenschriften vollends auf, machte sie allerdings selbstverständlich alle zugänglich. Im Jahre 1900 erschien der elfte Band, welcher die Schrift „Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei“, besorgt von G. Koffmanne und A.E. Berger67, enthielt68. Dass deren historische Einleitung knapp ausfällt, liegt im Duktus des gesamten Bandes, folgt also nicht dem besonderen Inhalt69. Sie fasste den Anlass der Schrift in der Verteidigung gegen die Beschuldigung, Luther bestreite die Jungfrauenschaft Mariens, indem er Jesus als Abrahams Same bezeichne, zusammen, hob Luthers Bemühen hervor, man solle mit den Juden „freundlich, nicht nach des Papst sondern nach der christlichen Liebe Gesetz“ umgehen und verwies auf das Schreiben an den getauften Juden Bernhard, dem Luther die Schrift beilegte70. Auch die 1914 erfolgte Publikation der Schrift „Wider die Sabbater“, verfertigt durch E. Thiele und O. Brenner, besaß nur eine kurze Einleitung, die in ähnlicher Weise wie die Erlanger Ausgabe, Luthers Kritik an „den“ Juden repetierte, ohne ihr eine aktualisierende Schärfe zu geben – dies bedeutete auch die Aufnahme der Erzählung von jüdischen Missionserfolgen aus den Tischreden und Mathesius71. 1920 erschienen dann in Band 53 die Schriften „Von den Juden und ihren Lügen“72 und „Vom Schem Hamphoras“73. Quer zum chronologischen Gliederungsprinzip der WA – und wohl erstmals überhaupt74 – benutzen die Editoren beider Texte Ferdinand Cohrs und Oskar Brenner hier den Gattungsbegriff „Judenschriften“75. Wiederum lässt sich wie schon in der Erlanger Ausgabe eine distanzlose Aufnahme der Quellenschriften beobachten, wenn etwa ganz selbstverständlich von „der Juden Torheit“ gesprochen wird76. Aber das Bemühen um eine angemessene Kontextualisierung zeigt sich doch etwa darin, dass ausdrücklich für weitere 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Luthers sämmtliche Werke 32, 99. Wallmann, Spener, 262 Anm. 97. WA 11,XXVII. WA 11, 307–336. WA 11, XXVII. WA 11,307; der Brief an Bernhard findet sich in WA.B 3,101 f (Nr. 629). WA 50,311–337. WA 53,412–552. WA 53,573–648. Hagen, Judenschriften; Kaufmann, Judenschriften 11 Anm. 17. WA 53,414. 573. WA 53,412.

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Informationen auf die Studie des jüdischen Forschers Reinhold Lewin77 verwiesen wird78. Im Zusammenhang von „Schem Hamphoras“ wird in der Einleitung den innerreformatorischen Gegnern der Schrift auffällig viel Raum gegeben79. Eine gewisse Gesamtschau über den Komplex der „Judenschriften“ gab Cohrs bei der Veröffentlichung von „Von den letzten Worten“ in WA 54 im Jahre 1928. Unter Einbeziehung einer ersten brieflichen Äußerung gegenüber Spalatin aus dem Jahre 151480 sprach er von einer zweimaligen Änderung in Luthers Auffassung von den Juden81: Er habe sich zunächst aus „biblischdogmatischen“ Gründen gegen die Juden gewandt, dann aus ebenso „biblischdogmatischen“ Gründen für die Judenmission eingesetzt. Hiervon habe er sich aufgrund von „praktischen Erfahrungen“ wieder abgewandt, die erneuerte Judenfeindschaft dann allerdings wieder dogmatisch vertieft82. Zusammen mit Äußerungen, Luthers letzte Schrift sei gelegentlich „demselben harten Urteil verfallen“ wie die Gedanken in „Von den Juden und ihren Lügen“83, machen diese Hinweise die Einleitung in der Endphase der Weimarer Republik zu einem bemerkenswert abgewogenen Text. In den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts standen also die Judenschriften in zwei niveauvollen wissenschaftlichen Editionen zur Verfügung, die ihrerseits auf eine antijudaistische Zuspitzung des edierten Materials verzichteten, aber natürlich rasch in dieser Weise ausgewertet werden konnten84. Unter Gesichtspunkten der Rezeptionsmöglichkeiten im zwanzigsten Jahrhundert der auffälligste Befund ist der Umstand, dass die Clemensche Ausgabe, die von 1912 bis 1933 erschien, – ebenso wie zuvor die Braunschweiger Ausgabe85 – auf eine Veröffentlichung der Judenschriften verzichtete86. Clemen schienen sie offenbar für eine Ausgabe für seine Zeit nicht 77 Vgl. zu ihm Brosseder, Stellung, 112–114; Wiese, Idealisierung, 251; ders., Unheilsspuren, 100 Anm. 14. Wiese verweist ebd., auch auf einen nicht erhaltenen Vortrag Gustav Kaweraus zur Thematik aus dem Jahre 1917. 78 WA 53,412 Anm. 1; 574 Anm. 3. 79 WA 53,574. 80 WA.B 1,23 f (Nr. 7). 81 WA 54,23. 82 WA 54,23 f. 83 WA 54,20. 84 S. etwa Vogelsang, Kampf, der sich intensiv auf die WA stützt (s. z. B. Ebd., 7 f); zu dieser Schrift s. Ginzel, Luther, 204 f. 85 S. Aland, Hilfsbuch 508–510; vgl. Wallmann, Kirche, 333; Wallmann erwähnt hier auch den Sonderfall der Münchener Ausgabe: Hier wurden diese – einschließlich der Schrift von 1523! – in einem Ergänzungsband 1936 nachgetragen (Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. v. J.H. Borcherdt und Georg Merz, 2. Aufl., Erg.Bd. 3, München 1938). 86 Wallmann, Kirche, 332, nimmt bereitwillig die Erklärung von Bethge, Bonhoeffer, 225, auf, Bonhoeffers Unkenntnis von Luthers Judenschriften in dem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“ von 1933 (Bonhoeffer, Werke, Bd. 12, 349–358), liege an der Benutzung der vier in seiner Bibliothek befindlichen Bände der Clemenschen Ausgabe, weswegen ihm „der (…) antijüdische Luther einfach kaum begegnet“ sei, greift allerdings (ganz abgesehen von der Frage, ob die Zitate tatsächlich auf Bonhoeffer selbst oder einen Schriftleiter der Zeitschrift „Der

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bedeutsam genug87. Anders stand es mit der Ausgabe von Lutherschriften, die 1927 Ludwig Goldscheider, eingeleitet durch Ricarda Huch, herausbrachte: hier war die Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ abgedruckt88. In die Studienausgabe, die unter den Bedingungen der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg erstellt wurde, fand dann wieder keine der Judenschriften Eingang.

Einzel- und Sammelausgaben der Judenschriften Die Judenschriften waren nicht nur innerhalb der Werkausgaben zugänglich, sondern selbstverständlich von Anfang an auch als Einzel- und Teilausgaben. Vormarsch“ zurückzuführen sind; s. ebd., 349 Anm. 1) zu kurz – denn die Clemensche Ausgabe enthielt ja auch nicht die Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, aus der Bonhoeffer (worauf schon Brosseder, Stellung, 244 hinweist) ebd., 70 zitierte (WA 11,315, 19–24; 336, 24.27–29; vgl. Bethge, Bonhoeffer, 225); dies ist übrigens ein grundsätzlicher Einwand gegen die gesamte Argumentation Wallmanns, der ja eine Differenz zwischen der Bekanntschaft mit dieser Schrift einerseits, den massiv antijüdischen Schriften der Spätzeit andererseits konstruieren will, was sich aufgrund der Ausgaben, die hier keine Unterschiede machten, gerade nicht begründen lässt. Zudem zitierte Bonhoeffer ebd. auch aus der „Vermahnung wider die Juden“ (WA 51,195,39–41. 25–27; vgl. Bethge, Bonhoeffer 225), die nach Ausführungen über die Lästerungen der Juden in den Ratschlag mündete: „DAs hab ich als ein Landkind euch zur warnung wollen sagen zur letzte, das jr euch frembder Suende nicht teilhafftig macht, Denn ich meine es ja gut und trewlich beide, mit den Herrn und Unterthanen, Wollen sich die Jueden zu uns bekeren und von jrer lesterung, und was sie uns sonst gethan haben, auffhoeren, so wollen wir es jnen gerne vergeben, Wo aber nicht, so sollen wir sie auch bey uns nicht dulden noch leiden“ (WA 51,196,12–17). Der Schrift fehlen zwar jene grausamen Züge, die den Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ prägen, aber ohne Erwähnung dieses Zitates zu behaupten, dass Bonhoeffer 1523 „von Luthers antijüdischen Spätschriften offenbar nichts weiß“ (Wallmann, Kirche, 332), ist abwegig, zumal Wallmann hiermit die argumentative Abzweckung übersieht: Bonhoeffer ging es 1933 darum, Antisemiten Luther als Autorität zu entwinden. Vor allem bleibt deutlich, dass Bonhoeffer seine Textkenntnis beider zitierter Schriften aus bis heute nicht eindeutig identifizierten Quellen hatte. Tatsächlich hätte Bonhoeffer ausgerechnet die „Vermahnung“ aus einer Auswahlausgabe kennen können: Sie findet sich in Luther, Flugschriften, Bd. 2, 18–20; allerdings weist die bei Buchwald charakteristische Änderung des „noch“ in WA 51,195,39 in ein Dennoch bei Buchwald, Flugschriften, Bd. 7, 20, der Bonhoeffer sich nicht anschließt, darauf, dass dieser den Text nicht durch Buchwalds Auswahlausgabe, sondern auf andere Weise kannte. 87 Wallmann, Kirche, 333, schreibt, leider ohne Beleg, Houston Stewart Chamberlain sei zur Mitarbeit an der Ausgabe nur unter der Bedingung bereit gewesen, dass die Judenschriften aufgenommen würden, und dies habe ihm Clemen verweigert. Brosseder, Stellung, 101, verweist darauf, dass Chamberlain im Zusammenhang seiner Einordnung Luthers dessen Judenschriften nicht erwähnt. 88 Martin Luthers Deutsche Schriften, 279–291; auf diese Ausgabe hat erst jüngst Wallmann, Nachtrag, 468, aufmerksam gemacht. Dass allerdings die Auswahl entgegen der Angabe des Buches selbst nicht von Goldscheider, sondern „zweifellos“ von Ricarda Huch stammen soll, scheint eine Übertreibung Wallmanns zu sein. Angesichts der recht allgemeinen Einleitung, welche die Schrift nicht besonders hervorhebt, ist Ricarda Huchs Beteiligung an ihrer Publikation nicht besonders hoch zu veranschlagen.

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Für die Schrift „Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei“ verzeichnet das VD 16 zehn Ausgaben, die alle in das Jahr 1523 fallen89. Hinzu kommen bis 1525 drei Ausgaben in lateinischer Übersetzung90. Von „Wider die Sabbather“ liegen zwei Drucke aus dem Jahre 153891 sowie ein Druck der lateinischen Übersetzung aus dem Folgejahr vor92. „Von den Juden und ihren Lügen“ wurde zweimal 1543 in Wittenberg aufgelegt93, 1544 folgte auch von dieser Schrift eine lateinische Übersetzung durch Justus Jonas94. „Vom Schem Hamphoras“ wurde 1543 sechsmal und einmal 1544 gedruckt95, ausschließlich in deutscher Sprache. Eine Sammelausgabe veröffentlichte 1577 Nikolaus Selnecker. Inhalt waren nur die späten judenfeindlichen Schriften – also nicht „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“96. Diese Sammlung war nun – anders als die Wittenberger Ausgabe – eindeutig antijudaistisch ausgerichtet, sollte, vor allem in Handelsstädten der Warnung vor Juden dienen97. Selnecker brandmarkte diese zudem als Verräter bei den Türken und anderen Feinden Deutschlands98. Entstanden war so ein 408 Blätter im Oktavformat umfassendes „hande buchlein D. Lutheri“99 für die Verachtung von Juden, das Selnecker mit einer ausführlichen Vorrede anreicherte, in welcher er unter anderem die Behauptung aufstellte, Luthers Schriften gegen die Juden seien bislang unterdrückt worden100. 89 VD 16 L 4306–4315; die WA kennt neun Ausgaben (WA 11,308 f). 90 VD 16 L 4316 f (Übersetzung von Justus Jonas); vgl. WA 11,309; VD 16 L 4318 (Übersetzung von Johannes Lonicer); vgl. WA 11,310. 91 VD 16 L 4181 f; vgl. WA 50,310 f. 92 VD 16 L 4184; vgl. WA 50,311. 93 VD 16 L 7153 f; vgl. WA 53,415. 94 VD 16 L 7156; vgl. WA 53,415. 95 VD 16 L 7058 f. 7061–7065. 96 Luther/Selnecker, Von den Juden)( IIv ; vgl. hierzu Gritsch, Anti-Semitism, 99; zum zeithistorischen Kontext und der antijudaistischen Schrift des Nigrinus aus dem Jahre 1570 (Nigrinus, Judenfeind) s. Wallmann, Reception, 77 f; Kaufmann, Konfession, 146–151. 97 Luther/Selnecker, Von den Juden)( IIv. 98 Ebd., )( IIIv. 99 Ebd., )( Vr. Die Interpretation des Textes als „private supplement to the ,Formula of Concord‘ (Wallmann, Reception, 78) hat im Text keinen unmittelbaren Anhalt. 100 Luther/Selnecker, Von den Juden, )( 2v. Dies dürfte kaum mit Maßnahmen wie der wenig später nachweisbaren Konfiszierung einer Dortmunder Druckausgabe von „Von den Juden und ihren Lügen“ in Verbindung zu bringen sein (so Kaufmann, Konfession, 142). Dergleichen Vorgänge sind nicht dokumentiert, und Selnecker bewegt sich offenkundig in einem anderen Kontext: Er spricht in der Vergangenheitsform: „welche etliche heimischer tückischer weis zu vnterdrücken sich mutwillig / doch Gott lob / vergebens vnterstanden“ (Luther/ Selnecker, Von den Juden, )( 2v) – hierfür ist die plausibelste Erklärung die Veröffentlichungsweise in der Wittenberger Ausgabe, zumal der Band 2, in den die Judenschriften der Systematik hinein hätten gesetzt werden sollen, ohnehin scharfer Kritik, vor allem von Nikolaus von Amsdorff, ausgesetzt gewesen war (s. Wolgast, Wittenberger, 132 f), oder die von Kaufmann ebd., 143, selbst ins Spiel gebrachte Überlegung, es könne sich bloß „um einen polemischen Topos“ handeln.

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Auch nach seiner Sammelausgabe blieb der Bedarf an Abdrucken der Judenschriften erhalten: Ein Dortmunder Druck aus dem Jahr 1596 ist zufällig im Zusammenhang von Auseinandersetzungen um seine Zensur erhalten101. 1613 erschien eine Neuausgabe der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ in Frankfurt102. 1617 wurde ebendort eine weitere Ausgabe der drei letzten Judenschriften herausgegeben103. Der Kontext für diese beiden Veröffentlichungen in zwei unterschiedlichen Druckereien ist offenkundig: 1612 bis 1616 kam es in Frankfurt zu dem antijüdischen Fettmilch-Aufstand104, in dessen Verlauf gewalttätige Aktionen gegen Juden erfolgten und am 23. August 1614 „1380 Juden und Jüdinnen von Bewaffneten durch das Fischerpförtchen an den Main geführt“ und aus Frankfurt vertrieben wurden105 – die Publikation von Luthers Judenschriften hatte hier also einen höchst konkreten Bezug auf die Geschehnisse in der Stadt. Einzeldrucke unterblieben in der Folgezeit, allerdings kam es zu einem in der Forschung bislang übersehenen eigenartigen Teilabdruck: Gerade die konkreten Ratschläge zur Verbrennung der Synagogen und zur Vernichtung ihrer Bücher wurden unter dem Titel: „Martin Luthers treuer Rat, was die Christen mit dem verworfenen und verdammten Judenvolk tun sollen“106, 1967 in Hamburg gedruckt. Der Kontext dieser Veröffentlichung war offenkundig die Verstärkung restriktiver Maßnahmen gegen Juden in Hamburg im Jahre 1697107, welche die Auswanderung zahlreicher jüdischer Einwohner zur Folge hatte108. Vor dem Hintergrund, dass es bei den Streitigkeiten um Besitzrechte an Häusern ging109, gewinnt Luthers Forderung nach einer Zerstörung jüdischer Häuser in dem Pamphlet110 eine besondere kontextuelle Schärfe, zumal dieses in der Druckerei Konrad Neumann, dem seinerzeitigen Rats- und Gymnasialdrucker erschien111. Einen ähnlichen Vorgang gibt es auch bei der Schrift „Vom Schem Hamphoras“.

101 Luther, Christlicher Unterricht. Der Vorgang ist dokumentiert in: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Juden Akten Nr. 403; hier (f. 13–53) findet sich auch ein Druckexemplar der genannten Lutherschrift. Der Frankfurter Vertreter „Gemeinerr Judicheidt“ ebd. 8r) hatte eine Supplikation bezüglich des Textes vorgelegt und Kaiser Rudolf II. seine Konfiskation angeordnet (ebd. 2r – 3v). 102 Luther, Tractat. 103 Luther, Drey Christliche. 104 S. hierzu Brandt, Fettmilch-Aufstand; zum Bezug des Lutherdrucks hierauf s. Wallmann, Reception, 78. 105 Kasper-Holtkotte, Gemeinde, 145. 106 D. Martin Luthers Treuer Rath. 107 Bìttner, Hoffnungen, 70. 108 Baasch, Handelskammer, 219. 109 Bìttner, Hoffnungen, 70. 110 D. Martin Luthers, Treuer Rat, 2r. 111 S. Reske, Buchdrucke, 344.

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Der Impetus der Judenschriften wirke also im 16. und 17. Jahrhundert nach112. Im 18. und 19. Jahrhundert waren sie dann nicht als Einzeleditionen, sondern nur als Teil der Gesamteditionen bekannt und präsent113. Einzelne Autoren haben gerne Auszüge aus ihnen mitgeteilt. Im Blick auf die Kontinuitätslinien, die schließlich in die deutschchristliche Haltung im Dritten Reich führen, besonders bemerkenswert ist hier ein Text, den vermutlich Georg Buchwald114, später einer der wichtigsten Editoren der WA, 1881, gegen Ende seiner Studentenzeit, herausbrachte. Er bezog sich auf die seinerzeit kursierende Antisemitenpetition115, die nach der Zusammenfassung von Daniela Kraus vier konkrete Forderungen enthielt: „1. Einschränkung jüdischer Einwanderung, 2. Ausschluss von Juden von obrigkeitlichen Stellungen (…). 3. Verbot jüdischer Lehrer an Volksschulen sowie eingeschränkter Zugang zum Dienst an höheren Schulen und 4. Wiederaufnahme der amtlichen Statistik über die jüdische Bevölkerung“116. Insbesondere richtete Buchwald sich an diejenigen evangelischen Theologen, die zweifelten, ob sie diesen Text unterzeichnen sollten117. Als wichtige Werke hob er Luthers Brief an Josel von Rosheim von 1527 sowie die Schriften „Wider die Sabbater“, „Von den Juden und ihren Lügen“ sowie „Vom Schem Hamphoras“ hervor118. Aus diesen zitierte er dann weitgehend mit einzelnen Überleitungen, vor allem aber stellte er an das Ende seiner Schrift die Vorschläge Luthers zum Umgang mit den Juden aus „Von den Juden und ihren Lügen“119. Der Vorgang ist durchaus den Ereignissen in Hamburg 1697 vergleichbar : Zu einem konkreten Anlass wurden Luthers Schmähschriften gegen die Juden herangezogen, um eine gegen diese gerichtete Aggression zu stärken bzw. motivierend zu unterstüt112 Die Vermutung, dass Luthers Judenschriften „In Einzelausgaben (…) nach dem 16. Jahrhundert nicht mehr verbreitet worden“ seien (Kaufmann, Juden, 155), lässt sich nach obiger Recherche so nicht halten. 113 Die auf diese klare Evidenz bezogene rhetorische Frage von Wallmann, Kirche, 333: „Wer aber hat sie gelesen?“ hat rein apologetischen Charakter. Wenigstens exemplarisch sei zur Antwort auf wenige Beispiele verwiesen: Fischer, Luther, bot nicht im strengen Sinne eine Auswahlausgabe, sondern längere eigene Ausführungen über das Judentum, zu denen er dann wiederholt lange Zitate von Luther zuordnete, die durchweg aus der Walchschen Ausgabe stammten; Buchwald, Luther, 1, erklärte noch als Student unter Rekurs auf eine nationalistische Predigt Luthardts am 1. Advent (wohl 1880): „An demselben Tage blätterte ich in den Werken D. Martin Luthers“ und bezieht sich hiermit auf die Altenburger Ausgabe (Ebd., Anm. 2); Rçsel, Luther, benutzte den Nachdruck des fünften Bandes der Wittenberger Ausgabe von 1893; Gabriel, Luther, 46, verwies noch ganz selbstverständlich neben den Auswahlausgaben von Buchwald und Linden auf die Wittenberger Ausgabe als Grundlage seiner Zitation. 114 S. zur Autorendiskussion Brosseder, Stellung, 56 Anm. 1; zur Person Buchwalds s. Michel, Buchwald, 128 f. 115 Buchwald, Luther. 116 Kraus, Antisemitenpetition, 7–9. 117 Buchwald, Luther, 1. 118 Ebd., 2 f. 119 Ebd., 25–32.

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zen. Ab dem frühen 20. Jahrhundert hatte das Thema dann weiter Konjunktur, und mit ihm auch das editorische Bemühen. Weitgehend aus der Erlanger Ausgabe schöpfte Alfred Falb, der schon 1921 in der Reihe „Deutschlands führende Männer und das Judentum“ einen Band zum Thema „Luther und die Juden“ herausbrachte, welcher im wesentlichen aus thematisch sortierten Zitaten bestand120. Ausdrücklich wollte Falb mit Lutherzitaten im Streit um die „Große Täuschung“ von Friedrich Delitzsch121 Partei nehmen122 – im Sinne dessen, dass Luther in einem schweren Kampf zu der „bitteren Erkenntnis“ der Judengegnerschaft gekommen sei und diese in „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Schem Hamphoras“ als Vermächtnis hinterlassen habe123. Dies verband er mit einer Polemik gegen die Weimarer Ausgabe, die diese Schriften noch nicht veröffentlicht hatte124. Mit der Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ setzte er sich dabei ganz im Sinne von Delitzsch auseinander, indem er unter Verweis auf die Herkunft aus Galiläa eine jüdische Abstammung Jesu bezweifelte125 und dies sogar so weit ausdehnte, dass er auch im Jüngerkreis allein Judas gesichert als Juden einordnete126. Dass hier der religiöse Antijudaismus bereits in einen rassischen Antisemitismus überging, zeigt der Verweis auf Chamberlain im selben Zusammenhang127. Schon 1920 lag mithin eine Sammlung von Textausschnitten vor, die Luthers Judenschriften in den völkisch-antisemitischen Kontext einzeichnete: Luther wurde zum Propheten des Antisemitismus der zwanziger Jahre stilisiert128 ! So kann es nicht verwundern, dass Eduard Lamparter 1928 feststellte, Luther sei

120 Die Themen waren Luthers Urteile über „die Juden im allgemeinen“, „Ihre Weltanschauung und religiöse Lehre“, „Ihre Messiashoffnung“, „Ihren Wucher“, „Ihre Wohltätigkeit“, „Ihre ,Gefangenschaft‘ im Ghetto“, „Ihren Gott“, Ihre Bekehrung“, „Urgrund jüdischen Wesens“, „Warnungen vor dem Judentum“ (s. Falb, Luther, 3); zu Falb s. Brosseder, Stellung, 156–163; Gritsch, Anti-Semitism, 113 f; Ginzel, Kronzeuge, 200 f; Wiese, Unheilsspuren, 118; Kaufmann, Juden, 160 f. Die Berufung auf Luthers Judenschriften erfolgte im antisemitischen Kontext schon um 1910 bei Theodor Fritsch (s. Ginzel, Kronzeuge, 194 f; Wiese, Unheilsspuren, 116). 121 S. zur forschungsgeschichtlichen Einordnung Baltes, Evangelium, 154 f. 122 Falb, Luther, 10. 74–76; vgl. Detmers, Interpretation, 288. Zur Bedeutung der Delitzschen Auffassung in den Debatten der zwanziger Jahre vgl. auch Lamparter, Kirche, 40 f. 123 Falb, Luther, 11. 124 Ebd., 11. Tatsächlich war ein Jahr zuvor die Weimarer Ausgabe an diesem Punkt vervollständigt worden. 125 Ebd., 25–27. 126 Ebd., 26. 127 Ebd., 27. In einem problematischen Zusammenhang hat selbst Walther, Luther, 37, in Auseinandersetzung mit Falb den Unterschied zwischen Antijudaismus und Antisemitismus herausgearbeitet. Diese wichtige Differenzierung sollte man auch nicht durch die Rede „von einer strukturellen Affinität zwischen dem Antijudaismus des Reformators und dem Antisemitismus“ (Von der Osten-Sacken, Luther, 297) verwischen: Was sich beobachten lässt, ist eine Benutzbarkeit und Adaptierbarkeit von Luthers Judenschriften im rassenideologischen Kontext des 20. Jahrhunderts, dies allerdings deutlich vor Beginn des Dritten Reiches. 128 Falb, Luther, 82.

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wegen seiner späten Judenschriften „zum Kronzeugen des modernen Antisemitismus geworden“129. Von ähnlicher Machart wie Falbs Florilegium war die Schrift „Luther als Judenfeind“, die Karl-Otto v. d. Bach 1931 herausbrachte130. Wohl im selben Jahr erschienen dann alle Judenschriften, zum Teil in Auswahl, im Verlag der Inneren Mission. Gestaltet wurden die Hefte von Georg Buchwald. Bemerkenswerter Weise begann die Reihe mit einem Band, der „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ und Ausschnitte aus „Wider die Sabbather“ enthielt131. Allein schon dies macht deutlich, dass es vereinfachend wäre, die Edition als Ausdruck von Antijudaismus oder Antisemitismus zu werten. Auch Buchwalds Einleitung ist nicht durchweg propagandistisch orientiert132, mündete allerdings in eine positive Aufnahme von Wilhelm Walthers Polemik gegen Reinhold Lewin133. Bemerkenswert ist auch, dass sowohl das erste Heft wie auch das übernächste mit einer Auswahl judenfeindlicher Aussagen Luthers aus „Vom Schem Hamphoras“, Predigten und Tischreden ein im ersten Heft von Adolf Wendelin gezeichnetes Vorwort der Inneren Mission enthielt, 129 Lamparter, Kirche, 17; vgl. Ginzel, Kronzeuge, 190. Der Stuttgarter Pfarrer Eduard Lamparter (zu ihm Wiese, Unheilsspuren, 121) war vielfältig gegen antisemitische Tendenzen engagiert; vgl. auch Lamparter, Judentum. Er wandte sich darin gegen das „außerordentliche Anschwellen der antisemitischen Bewegung“ in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg (IX) und setzte sich sowohl mit der Rassentheorie als auch mit verzerrten Geschichtsbildern vom Judentum auseinander. Bemerkenswert ist, dass seine Schrift „Evangelische Kirche und Judentum“ mit einem positiven, die Sachlichkeit des deutlich gegen antisemitische Verzerrung gerichteten Textes hervorhebenden Geleitbrief versehen war, den neben Emil Balla (Leipzig), Otto Baumgarten (Kiel), Paul Fiebig (Leipzig), Christian Geyer (Nürnberg), Dietrich Graue (Berlin), Wilhelm Kahl (Berlin), Hermann Schafft (Kassel), Siegmund-Schultze (Berlin) und Karl Wolfarth (Bayreuth) auch so unterschiedliche Theologen wie Karl Barth, Martin Rade und Paul Tillich unterzeichnet hatten (ebd. nach S. 60; vgl. hierzu Brosseder, Stellung, 213). Im Blick auf die hier vorliegende Fragestellung wird man also wohl davon auszugehen haben, dass diese Personen wenigstens oberflächlich von der durch Lamparter, Judentum, 7–17, dargestellten Haltung Luthers zu den Juden Kenntnis genommen hatten. Die hervorgehobene Rolle Luthers für die Legitimation des Antisemitismus betonte auch Holsten, Luther, Walter Holsten in: Luther, Werke (München2). Erg.-Bd. 3, 537: „,Von den Juden und ihren Lügen‘ ist diejenige Schrift, der Luther seinen Ruhm als führender Antisemit verdankt. Sie ist geradezu das Arsenal zu nennen, aus dem sich der Antisemitismus seine Waffen geholt hat.“ 130 V.d. Bach, Luther (vgl. hierzu Ginzel, Kronzeuge, 203; zur Abhängigkeit von Falb Brosseder, Stellung, 165). Bach wollte mit seinen Textauszügen ausdrücklich die gegenwärtige Haltung im Sinne von Luthers Antijudaismus beeinflussen: „Vieles von dem, was Martin Luther vor nunmehr fast 400 Jahren schrieb, erscheint uns so, als ob es der neuesten Zeit entstamme. Es ist zu beklagen, daß die klaren Erkenntnisse dieses großen Deutschen von seiner Umwelt und Nachwelt nicht aufgenommen worden sind, wie man überhaupt erst jetzt beginnt, die völkische Bedeutung der Reformation zu erkennen. So sind 400 Jahre nutzlos verstrichen, Elend und Leid sind auf uns gekommen, weil man die Bahnen Luthers nicht weiter gegangen ist.“ (V. d. Bach, Luther, 4) 131 Luther, Daß Jesus Christus (BUCHWALD), 2. 132 Buchwald verweist ausdrücklich auf „Hoffnung und Liebe“ in Luthers letzter „Vermahnung wider die Juden“ (Luther, Daß Jesus Christus [Buchwald], 8). 133 Ebd.

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welches auf die Gegenwartsbedeutung dieser unterschiedlichen Schriften gleichermaßen abhob: „D. Martin Luther hat nicht nur seiner Zeit Entscheidendes zu sagen gehabt. Wie die Sendung Joh. Seb. Bachs nicht zeitlich gebunden war, sondern so zeitlos gültig ist, daß sie uns Heutige ebenso, vielleicht noch stärker bewegt und packt, als die Zeitgenossen Bachs, so gilt auch Luthers Sendung heute uns, wie unsern Vätern.“134.

Zwischen beiden war auch eine Auswahl aus „Von den Juden und ihren Lügen“ erschienen135. So war nun leicht zugänglich, was bei Clemen fehlte136. Für die durch diese alle Schriften umfassende Edition noch nicht ganz eindeutig gesteuerte Rezeption dürfte es allerdings bedeutsam geworden sein, wie Buchwald Kürzungen an der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ vornahm: Gerade die langen theologischen Passagen, in denen Luther sich zur Frage der christlichen oder jüdischen Deutung des Alten Testaments geäußert hatte, strich er137. Konzentriert präsentiert wurden hingegen abfällige Äußerungen über Juden und die berühmten Vorschläge zum Umgang mit ihnen138. Diese mit einer sehr knappen, im Grundsatz affirmativen, aber nicht zuspitzenden Einleitung139 versehene Textauswahl stellte Luthers Äußerungen in aller auf die Gegenwart der frühen dreißiger Jahre adaptierbaren Weise vor Augen und machte sie, im Verlag der Inneren Mission gedruckt, für weite Kreise zugänglich. Ebenfalls wohl noch 1931 erschien auch in Ludendorffs Volkswarte-Verlag in München eine „Volksausgabe“ von Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ und Auszügen aus „Schem Hamphoras“, vorbereitet von Hans Ludolf Parisius140. Parisius legitimierte seine Ausgabe mit dem Hinweis darauf, dass zwar die großen Luther-Ausgaben die Judenschriften enthielten, nicht aber die kleineren jüngeren Ausgaben. So seien sie „aus dem Buchhandel verschwunden“141. Diese Behauptung ist schon in sich, wie der Verweis auf die Falbsche Auswahl zeigt, problematisch – vor allem aber hat Parisius die Si134 Ebd., Luther, Schem Hamphoras [Buchwald], 3. 135 Luther, Juden [Buchwald] 136 In Luther, Schem Hamphoras [Buchwald], 3 verweist der Landesverein für Innere Mission ausdrücklich auf das Fehlen der Judenschriften in Auswahlausgaben. 137 Vgl. etwa die Auslassungen von Ausführungen zum Gesetz in WA 53,441–446; bei Luther, Juden [Buchwald] 8; oder von Darlegungen zu alttestamentlichen Aussagen WA 53,483–511; Luther, Juden [Buchwald] 8, 15. 138 Luther, Juden [Buchwald], 8 19–30 (vgl. [mit Auslassungen] WA 53,522,29–552,38). 139 Ebd., 3. 140 Parisius, Von den Jüden und ihren Lügen. Die Erstauflage erfolgte ohne Jahresangabe, ist von der Bayrischen Staatsbibliothek aber auf 1931 datiert; jedenfalls erschien 1933 bereits die dritte Auflage; vgl. zu Parisius Kaufmann, Juden 163; Vogelsang, Kampf, 5 Anm. 2, verweist schon 1933 auf die Sammlung. Hinweise auf diese Ausgabe finden sich für die neuere Forschung bei Brosseder, Stellung, 173. 141 Parisius, Von den Jüden und ihren Lügen, 4.

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tuation schlagartig geändert: Schon 1933 erschien seine Ausgabe in dritter Auflage und erreichte nach Verlagsangabe die Stückzahl 7000142. Davon, dass Luthers Judenschriften am Vorabend des Dritten Reiches unbekannt waren, kann also allein schon wegen der Ausgaben von Buchwald und Parisius, aber auch wegen der großen Werkausgaben und der einzelnen Auswahlausgaben, schlechterdings nicht die Rede sein. Im Dritten Reich selbst erfolgten erst recht zahlreiche Nachdrucke143. Diese Ausgaben können hier nur exemplarisch benannt werden: 1936 erschien unter dem Titel „Luthers Kampfschriften gegen das Judentum“ ein von dem zur deutschgläubigen Bewegung gehörigen144 Germanisten Walther Linden aufwendig gestaltetes Werk. Anliegen der Einleitung war es, die Schrift von 1523 „Dass Jesus Christus“ als durch Gutmütigkeit und Gutgläubigkeit hervorgerufenes Intermezzo einer eigentlich seit den Anfängen judenfeindlich gesonnenen Haltung Martin Luthers darzustellen145. Von dieser Haltung aber habe der Reformator sich abgewandt, als in ihm „der scharfe Blick für die jüdische Wirklichkeit“ entstanden sei146. In diesem Horizont veröffentlichte Linden seine eigene Sammlung von antijudaistischen Passagen aus verschiedenen Kontexten und vor allem den von ihm als „Luthersche Hauptschrift“147 titulierten Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“, der, so Linden „[n]ur als Ganzes“ gelesen werden könne148. Von besonderer Häme erfüllt war die Schrift von Marin Sasse, dem Bischof der thüringischen Landeskirche, der kurz nach der Reichskristallnacht 1938 eine Heft unter dem Titel „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ herausbrachte149. Ausdrücklich verband Sasse die Verbrennung der Synagogen in Deutschland mit Luthers Geburtstag150. Das Büchlein bestand zu großen Teilen aus Zitaten aus der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ und kleineren Texten, die Sasse aufgrund der großen kritischen Ausgaben – der Erlanger und der Weimarer – kompiliert hatte: Auch hier zeigt sich, dass eben 142 Parisius, Von den Jüden und ihren Lügen 3. Aufl., Titelblatt. 143 Eine hochinteressante Anwendung der Judenschriften findet sich bei Walter Gabriel, einem Angehörigen der Bekennenden Kirche (s. zu ihm als Teilnehmer der Dahlemer Bekenntnissynode Meier, Kirchenkampf, Bd. 2, 211; zu seiner Position zu Luthers Judenschriften Probst, Demonizing, 99–103): Er sieht in klarer Unterscheidung von (nach heutiger Terminologie) Antijudaismus und rassischem Antisemitismus in Luthers Judenschriften einen Aufruf zur Judenmission (Gabriel, Luther, 44). 144 Brosseder, Stellung, 176. 145 Linden, Kampfschriften, 32. 146 Ebd., 37. 147 Ebd., 95. 148 Ebd., 7; die Behauptung von Wallmann, Kirche, dass unter dem Titel „Martin Luther, von den Juden und ihren Lügen“ im Dritten Reich lediglich Florilegien, nicht aber die gesamte Schrift nachgedruckt worden seien, hält den Quellen nur Stand, wenn man diese Titelbenennung bibliographisch sehr eng fasst. Mit der literarischen Realität im Dritten Reich hat sie wenig zu tun. 149 Sasse, Luther; vgl. zu dieser Schrift Ginzel, Kronzeuge, 207; Kaufmann, Judenschriften, 143. 150 Sasse, Luther, 2.

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diese editorischen Großleistungen der Lutherphilologie ausreichten, um die Judenschriften bekannt zu machen. *** Welche Wirkung Luthers Judenschriften tatsächlich auf die Adaption des antisemitischen Rassismus in kirchlichen Kreisen hatten, kann nicht aufgrund der editorischen Lage entschieden werden. So viel aber ist deutlich: Die Texte standen jederzeit – auch am Vorabend des Dritten Reiches – zur Verfügung. Und man kann noch einen Schritt weitergehen: Sie wurden immer wieder aus dem Gedächtnisspeicher, den die großen Werkausgaben Luthers darstellten, hervorgeholt, wenn es konkreten Bedarf an antijudaistischem Material gab. Das war im Zusammenhang des Fettmilch-Aufstandes in Frankfurt der Fall, in Hamburg 1697, aber eben auch in der Weimarer Republik, als Florilegien und schließlich Ausgaben der späten Judenschriften Luthers in den Dienst des Antisemitismus gestellt wurden.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Quellen I.1 Werke Luthers I.1.1 Werkausgaben Wittenberger Ausgabe: Der Fünffte j Teil der Bücher des Ehrn-j wirdigen Herrn Doctoris Martini Lutheri /j darinnen begriffen sind die Auslegung vber das erste Buch / vnd fol-j gend vber e etliche Capitel der andern Bucher Mose / Auch vber etliche Pro-j pheten / nach anzeigung des Registers / so nach der Vorrede verzeichnet, Wittenberg: Hans Lufft 1552. Jenaer Ausgabe: Der Ander Teil j aller Bücher vnd Schrifften des j thewren / seligen Mans Doct. Mart. Lutheri/ vom XXII. j Jar an/ bis auff den Christlichen vnd seligen Abschied aus diesem Le-jben/ des Hochlöblichen Herrn Fridrichen/ Hertzogen vnd Chur-jfuerst. zu Sachssen/ im Meien des XXV. Jars, Jena: Ritzenhain / Rebat 1563. Der Siebend j Teil aller Bücher vnd Schriff-j ten des thewren seligen Mans Doct. Mart. Luthe-j ri/ vom XXXVIII. jar an/ bis auff XLII. geschrieben vnd im Druck j ausgangen, Jena: Ritzenhain / Rebat 1568.

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Der Achte Teil j vnd letzte aller Bücher vnd schriff-jten des thewren seligen Mans Gottes/ Doctoris Mar-jtini Lutheri/ vom XLII. Jar an / bis auff seinen Christlichen j ,Abschied aus diesem Leben / vnd dasselbe Jar vollend hinaus / bis auffs j XLVII. geschrieben/ vnd im Druck ausgangen, Jena: Ritzenhain / Rebat 1568. Altenburger Ausgabe: Der Ander Teil j aller Deutschen Bücher j und Schrifften des theuren / seeligen j Mannes Gottes / Doctor Martini Lutheri / j vom XXII. Jahre an / biß auff den Christlichen und seeligen j Anschied aus diesem Leben / des hochlöblichen Herrn Frie-j drichen / Hertzogen und Churfürsten zu Sachsen / im j Mayen / des XXV. Jahrs. j Aus denen Wittenbergischen / Jehnisch- und j Eißlebischen Tomis zusammen getragen, Altenburg: Fürstlich-Sächsische Offizin 1661. e Siebend j Theil aller Deutschen j Bucher und Schrifften des theu-j ren seeligen Mannes Gottes / Doct. j Martin Lutheri / vom XXXVIII. Jahre an biß jauff das XLII. Geschrieben und in Druck ausgegangen / ausgenommen etliche wenige Stücke / so zu Ende des j VI. Theils gesetzet sind. j Aus denen Wittenbergischen / Jenisch-j und Eißlebischen Tomis zusammen getragen, Altenburg: Fürstlich-Sächsische Offizin 1562. e Der Achte Teil j aller teutschen Bucher j und Schrifften des theuren seeli-j gen Mannes Gottes / Doct. Marti-j ni Lutheri / vom XLII. Jahre an biß auff seinen j Christlichen Abschied aus diesem Leben / in das j XLVI. Jahr. j Aus denen Wittenbergischen / JEnisch-j und Eißlebischen Tomis zusammen getragen., Altenburg: FürstlichSächsische Offizin 1662. Leipziger Ausgabe: e

Des j Theuren Mannes Gottes, j D. Martin Luthers j Samtliche,j Theils von Jhm selbst e Deutsch verfertigte, theils aus dessen j Lateinischen ins Deutsche ubersetzte j Schrifften und Wercke,j Welche aus allen vorhinj Ausgegangenen Sammlungen j zusammen getragen, j Und j Anietzo in eine bequemere, und nach denen Materien eingerich-j tete Ordnung gebraucht (…). Ein- und Zwantzigster Theil, Leipzig: Johann Heinrich Zedler 1733. Walchsche Ausgabe: D. Martin Luthers j sowol j in Deutscher als Lateinischer Sprache verfertigte j und aus e der letztern in die erstere übersetzte j Samtliche Schriften. j Zwanzigster Theil,j Welcher j die Schriften wider die Sacramentirer, j Fanaticos, Juden und Türken j e enthalt, j nebst einer historischen Einleitung in selbige; j herausgegeben j von j Johann Georg Walch, Halle: Gebauer 1747. Dr. Martin Luthers Schriften, hg. v. Joh. Georg Walch. 20. Band. Abt. 2, Groß-Oesingen2 1986 [= Ausgabe St. Louis/ Missouri 1880–1910].

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Erlanger Ausgabe: D. Martin Luthers sämmtliche Werke. Neun und zwanzigster Band. Zweite Abtheilung. Reformations-historische und polemische deutsche Schriften. Sechster Band, Erlangen 1841. D. Martin Luthers sämmtliche Werke. Ein und dreißigster Band. Zweite Abtheilung. Reformations-historische und polemische deutsche Schriften. Achter Band, Erlangen 1842. D. Martin Luthers sämmtliche Werke. Zwei und dreißigster Band. Zweite Abtheilung. Reformations-historische und polemische deutsche Schriften. Neunter Band, Erlangen 1842.

Weimarer Ausgabe (WA): Martin Luther, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883–2009.

Münchener Ausgabe: Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. v. H. H. Borcherdt und Georg Merz. 2. Aufl. Ergänzungsreihe Bd. 3: Schriften wider Juden und Türken, München 1938.

I.1.2 Einzel- und Sammelausgaben Vber Das j Erste Buch Mose / prej digete Mar. Luthers j sampt einer vnterricht j wie Mose zu leren istj, Wittenberg: Rau 1528. Von den Jüjden vnd jren Lügen.j Vom Schem Hamphoras der j Jüden/ vnd vom Geschlecht j Christi.j Wider die Sabbather/ vnd der j Jüden Lügen vnd betrug.j Durch j D.Martinum Lutherum.Jtem/j Von den teglichen Gotteslesterungen der j Jüden wider vnsern HERRN Jhesum j Christum […] j in Druck verfertiget j vnd mitgeteilet/ Durch j Nicolaum Selneccerum D., Leipzig: Berwald 1577. Christlicher vnterricht j D: Mart. Lu-j theri / von der Jüden Lügen j wider die Person vnsers HErren j Jesu Christi / (…), Dortmund: Arnt Westhoff [1596]. Tractat j Von den Jüden vnd j jhren Lügen. j D. Mart. Luth. j Zum andermahl zu Wittemberg ge-j druckt: Jetzo aber widerumb auff anhalten guther-j tziger frommer Christen auffs newe vbersehen / vnd zu trewher-j tziger Christlicher Erinnerung aller vnd jeder Oberkeit / do Jüden vnter j sich wohnent haben / die abzuschaffen / wie dann auch ncht weniger j den Unterthanen sich solcher müssig zu gehen / vnd j für jhnen / als ein Gifft der Seelen zu hü-j ten / in Truck verfertiget, Frankfurt: Johann Sauer 1613. Drey Christliche/ in Gottes Wort j wolgegründte Tractat. j Der Erste j Von dem hohen vermeyn-j ten Jüdischen Geheymnuß/ dem Schem-j Hamphoras / […] j Der Ander j Von dem Geschlecht CHRISTI/ Matth. 1. in wel-j chem gleichfalls gründtlich erwiesen wirdt / daß Christus war-j hafftig auß dem Stamm JVDA/ und

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Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im Spiegel der Biographik des 19. und 20. Jahrhunderts Einleitung Wenn man das Thema Die Rezeption von „Luthers Judenschriften“ im Spiegel der Biographik des 19. und 20. Jahrhundert behandelt, gilt es zunächst zu klären, was unter Biographik verstanden werden soll, ist dies doch eine weder historiographisch noch literaturwissenschaftlich klar definierte Gattung. Um die Grenze zur Erbauungs- und Unterhaltungsliteratur einerseits und zu theologischen Einzelstudien andererseits zu ziehen, sollen nur monographische Darstellungen des gesamten Lebens Luthers berücksichtigt werden, wobei rein literarische Bearbeitungen des Themas außen vor bleiben. Aus pragmatischen Gründen werden überdies nur deutschsprachige oder in Deutschland breit rezipierte Biographien berücksichtigt, ist hier doch die intensivste Rezeption durch jene politischen, kirchlichen und theologischen Traditionen zu erwarten, die Gegenstand des vorliegenden Bandes sind. Und es ist, um nicht in kurrente Auseinandersetzungen einzugreifen, mit dem Jahr 1983 und dem Erscheinen der Biographie Martin Brechts der Endpunkt gesetzt. Das so erhobene Textcorpus umfasst nur rund 40 Biographien, die jedoch in einer nahezu unüberschaubaren Fülle von Ausgaben und Auflagen erschienen sind1. Um eine quantitative Gewichtung zu geben, seien die Spitzenreiter jeweils genannt: Die Biographie, die im 19. Jh. den weitreichendsten Einfluss auf das deutsche Lutherbild gehabt hat, war gleichwohl ein Werk, das selbst gar nicht aus dem 19. Jh. stammt: Johannes Mathesius’ Lutherpredigten erschienen erstmals 15662, erlebten aber den Höhepunkt ihrer Rezeption im 19. Jh. und wurden allein zwischen 1817 und 1917 in 14 Ausgaben mit insgesamt mindestens 27 Auflagen verkauft3 und waren damit die einflussreichste Lutherbiographie des 19. Jh. überhaupt. Erstaunlicherweise wurde von Mathesius’ Werk nach 1917 jedoch keine einzige deutschsprachige Ausgabe mehr besorgt. Hinter Mathesius folgt mit weitem Abstand Julius Köstlins populär1 Einen Überblick über die Thematik bietet Johannes Brosseder. Brosseder, Luthers Stellung; auch wenn man den zum Teil arg kursorischen Darstellungen der verschiedenen Positionen nicht immer zustimmen kann, bleibt das Werk doch in der Breite der Wahrnehmung der Lutherrezeption verdienstvoll; zur älteren Lutherbiographik vgl.: Kçstlin, Luther, 720–756; ebd., 722. 2 Mathesius, Historien. Zu Mathesius selbst vgl.: Junghans, Aurifaber, 751–755. 3 Wobei die nicht nummerierten Auflagen der Leipziger Reclam-Ausgabe von 1889 nicht mitgezählt werden.

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wissenschaftliche Biographie „Martin Luther’s Leben“ von 1882, die es auf zehn Auflagen und drei Volksausgaben brachte. Im 20. Jahrhundert ist der Spitzenreiter Richard Friedenthals umfangreiche populärwissenschaftliche Biographie von 1967, die bis ins Jahr 2005 in insgesamt 28 Auflagen und Sonderausgaben erschien, sowie Hanns Liljes kleines Rowohlt-Bändchen von 1965, das bis 2008 in 27 Auflagen erschien. Hinter Friedenthal und Lilje rangiert auf drittem Platz Roland Baintons „Hier stehe ich“, mit insgesamt zwölf Auflagen und Sonderausgaben4.

1. Mathesius und das 19. Jahrhundert Vor diesem Hintergrund muss der Blick auf die Biographik des 19. Jahrhunderts mit Mathesius’ Predigtwerk beginnen, das (neben Luthers Werken und Briefen in ihren Ausgaben)5 als die schlechthin autoritative Quelle für das Leben Luthers galt, und das daher stets explizit oder implizit mitbehandelt wurde6. Erst in der Differenz zu Mathesius ergibt sich das je eigene Profil einer Lutherbiographie im 19. Jh. Mathesius widmet sich dem Thema Luther und die Juden recht ausführlich in der 14. Predigt, wobei er das Material weitgehend aus Johannes Aurifabers Sammelwerk von 1564 übernimmt7. Interessanterweise setzt Mathesius mit dem Brief an die Sabbater 1538 ein, den Luther geschrieben habe, da diese „Christen an sich lockten und beschnitten“8, was ihn endlich auch dazu bewogen habe „sein köstlich Buch von den Juden und ihren Lügen“9 zu schreiben, nicht um die Juden zu bekehren, sondern um das Alte Testament von der „Rabbinen Geschmeiß und Unflath“10 zu reinigen. Unter der Perspektive einer Reinigung „der schönen Texte in der Bibel von der Juden Lügen“11 wird dann anachronistisch auch die Judenschrift von 1523 eingeführt: schon damals 4 Gerhard Ritters ebenfalls für das breite Publikum geschriebene Biographie aus dem Jahr 1925 erschien in acht Auflagen bis 1985 und ist in ihren verschiedenen Metamorphosen der Longseller der deutschen Lutherforschung. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Volker Leppin im vorliegenden Band. 6 Zu Mathesius’ Darstellung vgl. auch, wenn gleich sehr knapp und ohne Blick auf die besondere Wirkungsgeschichte im 19. Jh., Brosseder, Luthers Stellung, 44–46. 7 Im Folgenden ist die Ausgabe Mathesius [1885] zugrundegelegt; Zu [Johannes Aurifaber]: Der Erste Theil / Der Bücher / Schriften vnd Predigten des Ehrwirdigen Herrn / D. Martin Luthers deren viel weder in den Wittenbergischen noch in den Jhenischen Tomis zu finden […], Eisleben MDCLXIII, als Grundlage von Mathesius’ Biographie vgl. dazu demnächst Schubert, Luther töten. 8 Ebd., 278. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., 283.

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habe Luther gezeigt, „wie die Juden zu bekehren wären“12, indem er nachwies, dass der „verheißene Messias längst […] in das Fleisch gekommen sei“13. Mathesius wertet die 1523er Schrift explizit als Missionsschrift. Für Mathesius gibt es daher keine inhaltliche Differenz zwischen den Judenschriften von 1523 und 1543, weshalb er auch keinen theologischen, persönlichen oder gar psychologischen Wandel zwischen jungem und altem Luther konstruieren muss14. Während er Luthers Judenschriften nur knapp eine Seite widmet, behandelt er das persönliche Verhältnis Luthers zu den Juden recht länglich auf fünf Seiten und entwickelt dabei das wirkmächtige Narrativ vom Verrat der Juden an Luther15. Wegen der vermeintlichen Mordanschläge der Juden, ihrer Undankbarkeit und Unbelehrbarkeit habe Luther schließlich gemahnt, gar nicht mehr mit den Juden als „teufelsbannigen Leuten“16 zu disputieren, sondern sie vielmehr als „öffentliche Feinde und Lästerer unsers Herrn und gemeine Landschäden und Flüche“17 nicht weiter zu dulden. Mathesius’ Präsentation des Materials wurde für die Lutherbiographik des 19. Jh. weitgehend stilbildend: das betrifft zum einen das völlige Fehlen einer kommentierenden Distanz. Die Ereignisse werden ausschließlich in der Perspektive von Luthers Werken und Briefen wiedergegeben, so dass jede kritische Wertung oder historisierende Kontextualisierung unterbleibt. Zum zweiten ist auffällig, dass in Luthers Judenbild und Judenschriften kein Wandel wahrgenommen wird: alle Schriften haben übereinstimmend den Nachweis der Messianität Jesu und die Reinigung der Bibel von den Lügen der Juden zum Ziel. Mit dieser durchgehend judenfeindlichen Interpretation der Judenschriften entspricht Mathesius’ Meinung unter verkehrten Vorzeichen Positionen der neueren Lutherforschung, die in Luthers früher Judenschrift ebenfalls keine positive Wertschätzung des Judentums mehr erkennen kann18. Weil eine Differenz zwischen den frühen und den späten Schriften nicht gesehen wird, setzt Mathesius drittens auch nicht mit der Äußerung von 1523 ein, sondern lässt das Thema Luther und die Juden erst mit den späten Schriften beginnen. Die Schrift von 1523 wird so zum kaum erwähnenswerten Vorläufer der späteren Äußerungen Luthers. Auch das sollte sich im 19. Jh. allgemein durchsetzen19. 12 13 14 15 16 17 18 19

Ebd., 278. Ebd., 279. Vgl. ebd., 279. Vgl. ebd.: „Für seine Person hätte er den Juden gerne gedient, wie er auch im Anfang Etliche taufen ließ, und verschrieb ihrer Etliche an gute Freunde, aber sie hielten nicht Glauben und ließen sich Etliche bestellen, daß sie ihn mit Gift umbrächten.“ Ebd., 283. Ebd. Vgl. dazu Kaufmann, Luthers Judenschriften; neuerdings ders: Luthers Juden; Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden; Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Alles von Luther Berichtete wird als historisches Faktum vorausgesetzt. So wird etwa durchgehend die Existenz jener böhmischen Sabbater angenommen, die Christen zur Konversion und

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2. Der lange Schatten von Mathesius (bis 1917) Nehmen wir nun die Lutherbiographien bis 1917 in den Blick, so gilt zunächst zu beachten, dass etwa ein knappes Drittel das Thema überhaupt nicht erwähnt: Das gilt etwa für die Biographien von Ukert (1817), Pfitzer (1836), Ledderhose (1836), Jürgens (1846) und Evers (1883)20. Ein weiteres Drittel widmet dem Thema nur einen knappen Absatz von meist wenigen Zeilen, wobei Mathesius’ Darstellung übernommen wird: man ordnet also die Judenschriften in Luthers späte Kämpfe um das Evangelium ein, benennt als Anlass für die Judenschriften die für historisch gehaltene Mission der Juden unter den Christen, sieht keine Differenz zwischen frühem und altem Luther und enthält sich ansonsten jedes eigenen Urteils. Dieser Form folgt auch der erfolgreichste Lutherbiograph des 19. Jh., Julius Köstlin, in seiner wissenschaftlichen Biographie von 1875 und in der populärwissenschaftlichen Ausgabe „Luther’s Leben“ von 188321. Es gilt aber auch für die Biographien von Stang (1835)22, Meurer (1842)23, Rade (1884)24 und Buchwald (1902)25 und die Darstellung von Johannes Janssen (1881)26. Das Fehlen jeder kontextualisierenden Einordnung von Luthers Position hat dabei interessan-

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zur Beschneidung überredet hätten. Wir beobachten hier in statu nascendi die Verfestigung von Aussagen Luthers zu jenen historiographischen Mythen, an denen sich die Reformationsgeschichtsschreibung bis heute abarbeitet (vgl. dazu zuletzt Rothkegel, Sabbater. Die distanzlose Wiedergabe von Luthers Perspektive bedeutet allerdings auch, dass eine heroisierende oder gar konfessionalistische Deutung Luthers, wie wir sie aus dem späteren 19 Jh. kennen, in der ersten Hälfte des 19. Jh. noch weitgehend unterbleibt. Vgl. die bibliographischen Angaben im Anhang. Vgl. Kçstlin, Luther [1875], 568: Dabei scheint es auch bei Köstlin eine Judenschrift von 1523 nicht zu geben, neben den Streitigkeiten gegen das Papsttum sei es aber noch zu „eigentümliche [n] Streitschriften“ gekommen, welche Luthers Zorn „über die Angriffe dreister Juden aufs Christenthum, ja die Verführung mancher Christen durch sie bei ihm hervorrief“. Köstlin lässt Mathesius-Lektüre erkennen wenn er schreibt, Luthers Schriften hätten sich gegen das „jüdische Geschmeiß“ gerichtet. Der Passus wurde wörtlich auch in Köstlins erfolgreichstes Buch, das bereits genannte populärwissenschaftliche Werk „Luthers Leben“ übernommen, das seit 1882 immer wieder erschien (ebd., 560). So habe er sich zu seinem Brief gegen die Sabbater bewegen lassen und dann 1543 gegen die „Schmähungen und wilden Flüche, die das freche Judenthum gegen Christus und die Christen sich erlaube“ geschrieben. Ohne jeden Kommentar wird referiert, Luther habe geraten, „man solle ihre Synagogen, wo sie so lästern und fluchen, verbrennen und sie zu ehrlichem Handwerk antreiben, oder aus dem Lande jagen“, und im nächsten Satz kehrt Luther wieder zu seiner „großen, schönen Lebensarbeit, der deutschen Bibelübersetzung“ zurück; zu Köstlin vgl. angesichts seiner immensen Wirkungsgeschichte knapp Brosseder, Luthers Stellung, 77–78. Stang, Luther [1835], 900–904. Seine Darstellung umfasst zwar mehr als vier Seiten, der genannte Auszug schließt sich aber fast wörtlich an Mathesius an. Meurer, Luthers Leben [1842], II, 371 und 693 f. Rade, Luthers Leben [1884], 671. Buchwald, Luther [1902], 489–493. Janssen, Geschichte [1881], 566.

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terweise eine paradoxe Wirkung: die unkommentierte Repristination von Mathesius’ frühneuzeitlichem Antijudaismus verhindert zugleich jeden neuzeitlichen Antisemitismus. Nur ein Drittel der Biographien bis 1917 widmet sich dem Thema Luther und die Juden etwas ausführlicher. Der erste, der ein über Mathesius hinausgehendes Bild zeichnete, scheint der Erlanger Reformationshistoriker Gustav Plitt gewesen zu sein27. In seinem posthum erschienenen Werk „D. Martin Luthers Leben und Wirken […] dem deutschen Volke geschildert“ von 1883 kommt Plitt im Rahmen der Kämpfe des späten Luther auf knapp vier Seiten auch auf die Judenschriften zu sprechen. Plitt unterscheidet erstmals explizit zwischen frühem und spätem Luther und erläutert recht eingehend auch die Entstehungsumstände der Schrift von 152328. Nach Luthers früher Hoffnung, die Juden mit dem Evangelium für den Glauben gewinnen zu können, sei „infolge der Erfahrungen, die er mit Ihnen machte“29 (gemeint sind weniger die Sabbater, als die unfruchtbaren Diskussionen mit Juden und sein Abscheu vor dem Wucher) ein Umschwung in Luthers Gesinnung eingetreten. Plitt fasst Sabbaterschrift und Lügenschrift knapp und kommentarlos zusammen, motiviert sie aber beide erstmals nicht mehr wie Mathesius theologisch sondern psychologisch. Demnach sei Luther durch die Lästerungen der Juden „auf ’s heftigste entrüstet“30 worden, und habe „dieser Stimmung“ in der Judenschrift Ausdruck gegeben. Obwohl um eine historische Kontextualisierung und psychologische Distanzierung bemüht, ist Plitt auch der erste, der eine historische Parallele in die eigene Gegenwart zieht: „Auch Luthers Zeit hatte ihre Judenfrage, und von jeher hatte das merkwürdige Volk seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, auch wohl den Gegenstand seiner schriftstellerischen Thätigkeit gebildet.“31 Im Gegensatz dazu steht die kritische Abfertigung von Luthers Judenschriften bei Plitts Nachfolger Theodor Kolde, im zweiten Band seiner Lutherbiographie, die 1893 erschien32. Kolde ist der erste, der die frühe Judenschrift in der Chronologie behandelt und nicht thematisch unter die späteren Äußerungen Luthers subsumiert33 und auch der erste, der aus der Frühschrift die berühmte Abschlusspassage der Schrift zitiert: „sind wir doch auch nicht 27 28 29 30 31

Vgl. Plitt, Luthers Leben [1883], 526–529; zu Plitt vgl. Brosseder, Luthers Stellung, 52–55. Vgl. Plitt, Luthers Leben [1883], 528 seine Ausführungen zur Reuchlinaffäre. Ebd., 527. Ebd., 529. Ebd., 526. Dabei ist es auffällig, dass Plitt im Laufe seines Textes die Juden zunächst als „merkwürdiges Volk“ (526) dann als „angefochtenes Volk“ (526) und schließlich als „unseliges Volk“ (529) bezeichnet und mit einer unkommentierten Warnung Luthers vor den Juden endet. Vgl. dazu auch Brosseder, Luthers Stellung, 52–55. 32 Vgl. dazu auch Brosseder, Luthers Stellung, 67–68. 33 Vgl. Kolde, Luther, Bd. 2, 82 f. und 531–534. Demnach habe Luther gehofft, mit seiner „kleine [n], ruhige[n] Schrift“ den ein oder anderen Juden zu bekehren, doch habe er festgehalten, dass dies „nur durch Belehrung“ geschehen könne (82).

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alle gute Christen.“34 Dieser Tonfall findet seine Fortsetzung bei der Behandlung der späten Judenschriften: Kolde hält diese Schriften ausdrücklich nur noch für „kulturgeschichtlich“ interessant35. Mit dieser Qualifizierung wird Luthers späten Judenschriften erstmals im 19. Jh. ihre theologische Verbindlichkeit abgesprochen. Luther wird explizit als Teil einer historischen Bewegung verstanden36, und so interpretiert Kolde die Lügenschrift erstmals nicht mehr als verbindliches Vermächtnis des Reformators, sondern als eine zeitbedingte Äußerung: Luther sei hier nicht besser gewesen als der „römische Fanatismus.“37 Zwar entspringe sein Hass dem „Zorn des in seinem Glauben gekränkten Predigers“38, aber „[e]r beweist nur, daß Luther, wie in gewissen anderen Fragen, z. B. auch in dem Dämonen- und Hexenglauben sich trotz seines Christentums nicht über seine Zeit zu erheben vermochte.“39 Dies dürfte in einer Lutherbiographie sowohl die erste dezidierte Kritik an einer von der Tradition bis zu diesem Zeitpunkt als theologisch richtig charakterisierten Äußerung Luthers sein, als auch die erstmalige Charakterisierung Luthers als eines zumindest partiellen Repräsentanten des Mittelalters. Andere einflussreiche Biographien der Zeit, die des Bonner Germanistikprofessors Arnold Erich Berger (1895)40 und des Heidelberger Kirchenhistorikers Adolf Hausrath (1905)41 schließen sich der psychologischen Interpretation des nun allgemein angenommenen Wandels des frühen zum späten Luther an. Der Literaturwissenschaftler Berger interpretiert den „bitterbösen“42 Ton dieses „blind leidenschaftlichen Antisemitismus“43 als Stilmittel: „Hier hat Luther tatsächlich den Versuch gemacht, eine Beredsamkeit zu erzwingen, die dem ungeheuerlichen Gegenstande [dem Zorn Gottes über die 34 Ebd., 534. 35 Vgl. ebd., 531. 36 Vgl. ebd.; Grund für Luthers erneute Beschäftigung mit den Juden sei keineswegs die Mär von den Sabbatern gewesen, sondern die allgemeine Judenfeindschaft der Zeit: „Aber wie in jenen Jahren allenthalben in Deutschland die Abneigung gegen die Juden […] im Zunehmen begriffen war, so auch bei Luther“. Ausführlich wird hier auch erstmals der Briefwechsel Luthers mit Joseph ben Gerschom erwähnt. 37 Ebd., 533. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Berger, Luther [1895], III, 181–192, behandelt das Thema in seiner dreibändigen Lutherbiographie mit bislang ungewohnter Ausführlichkeit, trägt aber nur alles von der Forschung bislang Gesagte additiv zusammen. Auch Berger unterscheidet nun zwischen frühem und spätem Luther (190), geht von einem Stimmungsumschwung des alten Luther aus („äußerster Gegenpol seiner duldsamen Haltung von 1523“) und führt diesen auf die Erwartung des jüdischen Mordanschlages, die Verbindungen zwischen Türken, Juden und Täufern sowie jüdische Verbrechen in Sachsen und die Sabbater zurück. Sehr ausführlich referiert Berger die Argumentation des Sabbaterbriefes und der Lügenschrift und stellt sogar erstmals Antonius Margharita als wichtigste Quelle Luthers vor. 41 Hausrath, Luthers Leben [1903], 442–449; vgl. dazu auch Brosseder, Luthers Stellung, 79. 42 Berger, Luther [1895], 189. 43 Ebd., 190.

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Juden, A.S.] einigermaßen zu entsprechen schien und auch dem kältesten Gemüte eine Empfindung von den heiligen Werten geben konnte, um die ihm das Spiel ging.“44 Der unter dem Pseudonym „George Taylor“ auch als Romanautor hervorgetretene Kirchenhistoriker Adolf Hausrath deutet Luthers Wandel vom „Philosemiten“ zum „Antisemiten“45 als „zunehmende Verdüsterung des Alters.“46 Während Mathesius die Altersschriften als durch Anfechtungen gereifte Werke interpretiert47, deutet Hausrath eine Art Pathologisierung an, wie sie ja bis heute begegnet. Gegenpole stellen schließlich, sachlich wie formal, die beiden wohl bekanntesten Biographien aus der Zeit vor 1917 dar : Gustav Kaweraus Neubearbeitung des Köstlinschen Werkes von 190348 und Hartman Grisars monumentales Buch „Luther“ von 1911/191249. Kaweraus Darstellung sticht aus der bisher vorgestellten Literatur insofern etwas heraus, als sie den vermeintlichen Sachkomplex „Judenschriften“ auflöst und alle Äußerungen Luthers isoliert, streng chronologisch und – im Geiste des strengsten Positivismus – völlig kommentarlos präsentiert50. Eine eigentliche Deutung von Luthers Verhältnis zu den Juden entwickelt Kawerau nicht, allenfalls lässt er sich zu der Äußerung herbei, Luther sei „tief entrüstet“51 gewesen – und auch das war, wie gesehen, ein Zitat von Plitt. Grisars Buch von 1911/12 stellt die bis zu diesem Zeitpunkt ausführlichste Behandlung des Themas im Rahmen einer Biographie dar52. Grisar ist auch der einzige, der die bis zu diesem Zeitpunkt erschienene Spezialliteratur zum Thema ausführlich rezipierte53. Der Jesuit behandelt das Thema unter den Pathologien Luthers, doch in seinem ausführlichen Referat der antijüdischen Schriften Luthers findet sich erstaunlicherweise keinerlei inhaltliche Verurteilung54. Eine psychologisierende Deutung von der Enttäuschung oder Verdüsterung Luthers lehnt er ab55 : Luthers „Todfeindschaft gegen die Juden“56 müsse religiös erklärt werden; da Luther gegen das Christentum nur zerstö44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

Ebd. Hausrath, Luthers Leben [1903], 442. Ebd., 447. Vgl. Mathesius, wie Anm. 7, 283: „Wenn alte Leute Bücher schreiben, die in schweren und tiefen Anfechtungen gesteckt und sich mit dem Teufeln zerkämpft, solche haben Hände und Füße, und gehen zu Herzen.“ Kçstlin / Kawerau, Luther [1903], I, 648 und II 431 u. 589–591. Grisar, Luther [1911] 3, 342–355. Vgl. Kçstlin / Kawerau, Luther [1903], II 589–591. Ebd., 589. Vgl. Brosseder, Luthers Stellung, 154–155, behauptet, Grisar habe das Thema „sehr verstreut behandelt“, und wird in seinem Referat der recht differenzierten Darstellung Grisars mitnichten gerecht. Vor allem Lewin, Luthers Stellung.. Vgl. Grisar, Luther [1911]; Allenfalls bedauert er die maßlosen Schimpfreden und schmutzigen Ergüsse als „Denkmal der mit dem Alter fortgeschrittenen Entartung seiner Sprache“ (342). Vgl. ebd., 349. Ebd.

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rend gewirkt habe, habe er „die Angriff des Judentums gegen die Pfeiler unserer Religion [benutzt], um mit dem Triumph über dieselben zugleich das Gefühl seiner Zugehörigkeit zu Christus, dem zum Gerichte kommenden Gottessohn, triumphieren zu lassen.“57 Abgesehen davon, dass dies einer psychologisierenden Deutung sehr nahe kommt, ist auffällig, dass Grisar die vermeintlichen „Angriffe des Judentums“ nirgends in Abrede stellt, und so ergibt sich eine merkwürdige Allianz zwischen dem Jesuiten und dem Reformator: Grisar moniert zwar Stil und Motiv Luthers, scheint ihm in der Sache grosso modo aber zuzustimmen. Schauen wir auf die Zeit bis 1917, so zeigt sich ein gemischter Befund: durch den gesamten Zeitraum bleibt Mathesius’ Version der Dinge das eigentliche Masternarrativ. Der frühneuzeitliche Antjudaismus wird umstandslos und unkommentiert rezipiert. Erst seit den 1880er Jahren wird in einem kleinen Teil der Forschung eine Differenz zwischen den frühen und den späten Judenschriften als Problem gesehen, wobei zunächst die bis heute bekannten psychologisierenden Erklärungsmuster von der persönlichen Enttäuschung und Verdüsterung Luthers entwickelt werden. Auffällig ist, dass (mit Ausnahme Grisars) die meisten Darstellungen explizit die Position der frühen Schrift von 1523 befürworten und vom Evangelium eine Bekehrung der Juden erhoffen. Die Positionen der späten Judenschriften werden dagegen von keinem Autor explizit oder implizit befürwortet. Der einzige, der sich explizit von ihnen distanziert ist Theodor Kolde, der auch eine konsequente Historisierung von Luthers Position vor dem Hintergrund der allgemeinen Judenfeindschaft des 16. Jh. versucht.

3. Schweigen und Ambivalenz (1917–1983) Wie gesehen endete die Druckgeschichte von Mathesius mit dem Jahr 1917, ohne dass sich dafür zureichende Gründe benennen ließen. Dem Ende der Mathesius-Rezeption als Quelle entspricht zeitlich die weitgehende Absenz des Themas in der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Lutherbiographik bis weit nach 1945. Über die Gründe dieses Fehlens der Thematik kann nur spekuliert werden: nicht unwahrscheinlich, dass die Judenthematik aus dem Blickfeld geriet, weil der Fokus der Forschung vor allem auf der Entwicklung des frühen Luthers lag. Tatsächlich behandeln die drei wichtigsten Biographien der Zwischenkriegszeit, die Arbeiten von Otto Scheel (1917), Heinrich Böhmer (1925) und Gerhard Ritter (1925), ausschließlich den jungen Luther und kommen deshalb nicht auf das Thema zu sprechen. 57 Ebd., 350.

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Obwohl Ritter den jungen Luther, den „ewigen Deutschen“58, als überzeitlichen Ausdruck deutschen Wesens und deutscher Kultur feiert, findet sich bei ihm keinerlei Reflektion auf die gedanklich naheliegende Idee vom „Ewigen Juden“. Erst in der dritten Auflage von 1943 äußert sich Ritter zum Thema Luther und die Juden und findet in diesem Zusammenhang erstaunlich kritische Worte über Luther59. In einem Absatz über die „Grenzen des lutherischen Genies“60 spricht Ritter über Luthers Mangel an Besonnenheit und „politischer Witterung“61: Statt „in die ruhige Überlegenheit einer langerprobten Führerschaft hineinzuwachsen“62 sei Luther gegen Ende des Lebens eine Art „zürnender Prophet“63, sein Ton im Alter immer maßloser geworden. Besonders „merkwürdig“64 sei sein Wandel in der Judenfrage. Auch wenn Ritter betont, die Juden seien Luther als „Fremdvolk“65 unheimlich und zuwider gewesen, hält er doch fest, dass „rassepolitische Gesichtspunkte“66 für Luther nicht maßgeblich gewesen seien. Luthers „Sintflut volkstümlichen Hasses und böser Nachrede“67 seien zu einem Arsenal des Antisemitismus geworden, dabei habe Luther selbst nur geglaubt, die Obrigkeiten auffordern zu müssen, an den Juden als Lügnern und Feinden Christi das göttliche Strafgericht zu vollziehen. Ritters Distanzierung vom Antijudaismus des alten Luther fällt so deutlich aus, dass Ritter diesen Passus in den weiteren Neuauflagen des Buches 1947 bis 1985 unverändert abdrucken konnte68. Es bleibt aber eine konsternierende Tatsache, dass der größte Teil der Lutherbiographien der Nachkriegszeit das Thema Luther und Juden gänzlich ausspart. Dieser Befund gilt für die Biographien so unterschiedlicher Verfasser wie Hans Preuss (1947), Hanns Lilje (1948), Franz Lau (1959), Heinrich Bornkamm (1979) oder Helmut Diwald (1982)69. Auch in den späteren Ausgaben seiner Biographie, die bis 1965 27 (!) Auflagen erfuhr, verlor Hanns Lilje kein Wort über die Judenschriften Luthers, obwohl es spätestens seit Anfang der 1960er Jahre Spezialforschung zum Thema gab70. Andere Arbeiten Ritter, Luther [1925], 151; zu Ritter vgl. grundsätzlich Cornelissen, Gerhard Ritter. Vgl. ebd., 225. Ebd. Ebd. Ebd., 226. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Zum Beispiel in der sechsten Auflage von 1959, 179–180. Zu Heinrich Bornkamm als Reformationshistoriker vgl. Kaufmann, Bornkamm, 100–158; obwohl Bornkamm antisemitische Äußerungen der Zeit vor 1945 bereute und versprach, aus dieser Schuld „für sein Leben und Handeln Frucht zu ziehen“ (Kaufman, 140), zog er es vor, in seiner Biographie das Thema Judentum ebenso vollständig auszuklammern wie in seiner Arbeit zu „Luther und das Alte Testament“ aus dem Jahr 1948. 70 Man denke etwa an Stçhr, Luther, 157–182; zu Hanns Lilje grundsätzlich vgl. Oelke, Hanns Lilje.

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widmen sich dem Thema dagegen mit irritierender Nonchalance, besonders verstörend die erfolgreichste Lutherbiographie des 20. Jahrhunderts überhaupt: obwohl Richard Friedenthal selbst jüdisch und ein Verfolgter des Naziregimes war, behandelt er das Thema in seiner 700 Seiten umfassenden Biographie von 1967 auf nur wenigen Zeilen71: demnach habe Luther im Alter aus Sorge um sein Werk die unsinnigsten Gerüchte geglaubt, und seine versöhnliche Haltung der früheren Zeit ganz vergessen72. Die fatale Wirkungsgeschichte von Luthers Antijudaismus wird nur angedeutet: „Nur zu deutlich erinnert diese Version an ähnlichen Dämonenglauben der jüngsten Zeit“73. Die erste Biographie, die sich nach 1945 des Themas explizit annahm war die seit 1952 auch in Deutschland höchst erfolgreich verkaufte Biographie des Amerikaners Roland Bainton, die in Darstellung und Wertung weitgehend Theodor Koldes Darstellung ausschrieb. Zwar meinte Bainton, man könne wünschen, Luther wäre gestorben, bevor er diese Schrift geschrieben hätte74, doch tendiert er zu einer merkwürdigen Nivellierung der späten Schriften mit dem Argument, Luther habe „ohne es zu wissen […] eine Rückkehr zu den Verhältnissen des frühen Mittelalters“75 vorgeschlagen – in anderen Staaten seien nur deshalb keine ähnlichen Vorschläge gemacht worden, weil die Juden dort schon vertrieben gewesen seien. Noch zweideutiger drückt sich Heinrich Fausel in seiner 1966 erschienenen Biographie aus76 : kritiklos macht er sich Luthers eigene Aussagen zu eigen, um den Wandel in seinem Denken zu motivieren. Die Frühschrift wird auf ein knappes Zitat reduziert77, den ausführlich dargestellten Gedankengang von Luthers Lügenschrift nimmt der Autor dagegen zum Anlass, die Bescheidenheit (!) des Reformators zu loben: „Trotz dieser nicht zu überbietenden Schärfe der Ablehnung, benützt Luther den Juden nicht zur Erhöhung der eigenen Gerechtigkeit; dadurch würde er ja demselben Fehler verfallen, der den Juden so sehr entstellt.“78 Dass Luther die Obrigkeit anruft, die Juden zu vertreiben, sei zu loben, denn „[s]ie wird verhindern können, daß wilde Rachsucht […] in wüstem Toben ausbricht.“79 Dies nimmt Fausel als zivili-

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Friedenthal, Luther [1967], 644; vgl. dazu auch Brosseder, Luthers Stellung, 313. Vgl. ebd., 644: „Alle alten und neuen Vorwürfe bringt er zusammen […].“ Ebd. Vgl. Bainton, Hier stehe ich [1952], 327; vgl. dazu auch Brosseder, Luthers Stellung, 311; zu Bainton als Reformationshistoriker vgl. Simpler, Bainton. Ebd., 328. Zu Fausel grundsätzlich Botzenhart, Fausel, 51; zu seiner Rezeption von Luthers Judenschriften Brosseder, Luthers Stellung, 313, in seiner Knappheit geradezu irreführend. Vgl. Fausel, Luther [1966], Bd. 2, II, 268; Fausel beharrt darauf, Juden hätten in Mähren Christen zur Beschneidung verführt, ja in Eisleben habe sich eine große Zahl Juden „eingenistet“ und „erging sich alsbald in beleidigenden Äußerungen gegen Christus“. Ebd., 269 (und hierbei handelt es sich nicht etwa um ein indirektes Zitat Luthers!). Ebd.

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satorischen Fortschritt gegen „den entsetzlichen Mißbrauch, der mit Luthers Judenschriften später getrieben worden ist“80 in Schutz. Zaghafte Kritik an Luther wird schließlich im Geist der Bekennenden Kirche formuliert: mit Anklängen an das Stuttgarter Schuldbekenntnis fragt der ehemalige BK-Synodale Fausel, ob Luthers „Geduld nicht größer, seine Liebe unmittelbarer, seine Hoffnung spannkräftiger“81 hätte sein müssen. Luthers „Verhalten in der Judenfrage“ wird abschließend als Ergebnis einer rein theologischen Fehlentscheidung verstanden: Luther hätte sehen müssen, dass „in der Verwerfung Israels durch Gottes Gericht auch seine Erwählung zum Ausdruck kommt.“82 Ein Satz, der seine theologische Herkunft von Karl Barth zwar nicht verleugnet, in diesem Zusammenhang aber höchst missverständlich wirken musste83. Bis in die 1970er Jahre herrschte in der Lutherbiographik Schweigen zum Thema oder ein Ton, der die Bedeutung der moralischen und politischen Dimension des Themas zu negieren schien, um es ins AperÅuhafte oder Allgemeintheologische zu wenden.

4. Die Neubewertung seit den 1980er Jahren Ein Umschwung in der Bewertung von Luthers Judenschriften in der Biographik kann, soweit ich sehe, im Vorfeld des Lutherjubiläums 1983 beobachtet werden, als Folge der jahrelangen Debatte, die auch zum „Synodalbeschluss der Rheinischen Landeskirche zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980 geführt hatte84. Der erste Biograph, der explizit im Lichte des hier formulierten Widerspruchs gegen die Lehre von der Verwerfung Israels Luthers späte Judenschriften konsequent historisierte und sich zugleich unmissverständlich von ihnen distanzierte, war, soweit ich sehe, Heiko A. Oberman85. Oberman verweigerte sich konsequent jeder identifikatorischen Lesart und rückte Luthers Judenfeindschaft in den Horizont der mittelalterlichen Apokalyptik und des humanistischen Antisemitismus. Da Oberman diese These allerdings nicht in seiner Biographie von 198286, sondern in seinem Buch „Wurzeln des Antisemitismus“ von 1981 vortrug, sei hier auf den Beitrag von Harry Oelke in diesem Band verwiesen. 80 Ebd., 270. 81 Ebd.; zum Stuttgarter Schuldbekenntnis vgl. Besier / Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen; Greschat, Der Protestantismus, 16–21. 82 Fausel, Luther [1966], 270. 83 Vgl. dazu Barth, Kirchliche Dogmatik II/2, 213–336; vgl. dazu auch Busch, Unter dem Bogen. 84 Abgedruckt bei Rendtorff (Hrsg.), Die Kirchen und das Judentum, 593–596; vgl. dazu Hermle, Evangelische Kirche und Judentum. 85 Oberman, Wurzeln des Antisemitismus, 12. 86 Oberman, Luther.

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Die These von der Konstanz in Luthers Antijudaismus machte auch Walther von Loewenich 1983 zur Grundlage seiner Darstellung des Problems87. Den Umschwung von der grundsätzlichen Ablehnung zur offenen Aggression führt Loewenich ganz traditionell auf die Enttäuschung der Bekehrungshoffnung zurück88. Gänzlich neuartig ist aber die Stoßrichtung und Grundsätzlichkeit von Loewenichs Kritik: „Wir können heute Luthers messianische Deutung auf Christus nicht mehr nachvollziehen. […] Die historische Auslegung der Rabbinen kommt unserer heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis näher als die christologische Exegese Luthers […]. Er [Luther, A.S.] kann sich darum die andere Auffassung der Juden nur als hartnäckige Verstockung erklären. […] Daß er von da aus auch für die vulgäre Propaganda gegen das Judentum anfällig geworden ist und sie mit solcher Schärfe aufgenommen hat, bleibt ein bedauerlicher Flecken auf seinem Bild.“89

Mit der Infragestellung von Luthers Schriftverständnis zielt Loewenich auf die Mitte von Luthers Theologie90. Deutlicher hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch kein Lutherbiograph Luthers Antijudaismus als genuinen Ausdruck seiner Theologie verstanden und mit diesem auch jene zur Disposition gestellt. Die große Lutherbiographie von Martin Brecht nimmt sich des Themas in bislang ungekannter Ausführlichkeit an91. Brecht behandelt die frühe Schrift in einem eigenen Exkurs des zweiten Bandes und gibt zunächst einen Überblick über die Entstehungsbedingungen und die Argumentation92. Brecht legt den Akzent auf die letzten, versöhnlichen Passagen des Textes und kommt von daher zu einer grundsätzlich positiven Einschätzung: man müsse Luther zubilligen, von seinem Standpunkt aus „eine von falschen Tönen weitgehend freie, positive christliche Werbung für die Juden“93 gemacht zu haben, und verwehrt sich dagegen, mit Blick auf die späteren Äußerungen Luthers „seine erste ausgeführte Stellungnahme von vornherein zu verdächtigen, bloß weil er auch in ihr seinen Christusglauben nachdrücklich vertrat.“94 Brecht wendet sich gegen jene, die den Text anachronistisch als Votum für Toleranz gegenüber dem Judentum missdeuten, aber auch gegen jene, die in Luthers Werke einen konstanten Antijudaismus ausmachen zu können meinen. Die späten Judenschriften werden zwar im größeren Rahmen von Luthers allgemeiner Endzeiterwartung behandelt, Brecht betont aber auch, dass Lu87 von Loewenich, Martin Luther, beschreibt eine durchgehende Linie von der frühen Psalmenvorlesung, über die Römerbriefvorlesung bis zur Schrift von 1523, die ebenfalls allein die Judenmission im Auge gehabt habe. 88 Vgl. ebd., 332. 89 Ebd., 335 f. 90 Vgl. dazu auch grundsätzlich von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus, 345–353. 91 Brecht, Martin Luther, Bd. 1 und 2. 92 Brecht, Martin Luther, Bd. 2, 116. 93 Ebd., 117. 94 Ebd.

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thers Äußerungen selbstverständlich primär als Antwort auf den jeweiligen biblischen Text verstanden werden müssen, aber stets auch situationsabhängig waren. Deshalb sei die Alternative zwischen einem „beklagenswerten Bruch in Luthers Haltung“ und der „weitgehenden Kontinuität seiner Auffassungen“ möglicherweise „nicht ganz sachgemäß“95. Brecht sichtet die gesamte Fülle von auch widersprüchlichen Äußerungen und Begegnungen Luthers über und mit den Juden zwischen 1523 und 154396. Das psychologisierende Narrativ von Altersstarre und Verdüsterung teilt Brecht dezidiert nicht97, vielmehr konzediert er auch den späten Judenschriften ein dezidiert theologisches Interesse98. Den Kern der Lügenschrift sieht Brecht nicht in der Gegnerschaft gegen die Juden, sondern im Kampf Luthers um seinen Christusglauben, den Luther durch den jüdischen Messianismus infrage gestellt gesehen habe99. Gegen den rassistischen Antisemitismus nimmt Brecht Luther in Schutz100 : in dem Versuch, den gewaltlosen Christus mit den Machtmitteln des Staates zu verteidigen, zeige sich aber nicht nur eine „Befangenheit im vorgegebenen politisch-sozialen System“101, sondern auch die „Schwächen und falschen Konsequenzen von Luthers abgrenzender Frömmigkeit“102. Undeutlich bleibt, inwiefern Luthers Judenhass nicht nur ein Problem seiner persönlichen Frömmigkeit, sondern seiner Theologie insgesamt sein könnte. Brecht scheint, darin Maurers Ansatz verwandt103, beides grundsätzlich trennen zu wollen, Luthers Verhalten gegenüber den Juden sei „[v]on der Methode und vom Zentrum seiner Theologie her […] angemessen zu kritisieren“104. Die Differenz zwischen einem biographisch frühen, judenfreundlicheren und einem späten judenfeindlichen Luther, die er als „möglicherweise nicht sachgemäß“ zurückgewiesen hatte, wird bei Brecht zur Unterscheidung von kontingenter, persönlicher Frömmigkeit und bleibender, überzeitlicher Theologie.

5. Zusammenfassung Im Blick auf die Lutherbiographik lassen sich einige Konjunkturen der Thematik benennen. Zunächst ist festzuhalten, dass das Thema Luther und die 95 Brecht, Martin Luther, Bd. 3, 329. 96 Vgl. ebd., 328–335. 97 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 2, 345. Luthers Kritik an rabbinischer Exegese nimmt zu, andererseits habe er die paulinische Hoffnung auf die Bekehrung der Juden nicht aufgegeben. 98 Vgl. dazu auch Schubert, Fremde Sünde, 243–263. 99 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 3, 345. 100 Vgl. ebd. 101 Ebd., 340. 102 Ebd., 341. 103 Maurer, Zeit der Reformation, Bd. 2; ebd., Bd. 1, 363–452. 104 Brecht, Martin Luther, Bd. 3, 345.

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Juden in der Lutherbiographik des 19. Jh. keineswegs ein zentrales gewesen wäre. Ein Drittel der einschlägigen Biographien (Ukert, Pfitzer, Ledderhose, Jürgens und Evers) erwähnt das Thema gar nicht; ein weiteres Drittel (Stang, Meurer, Rade, Buchwald, Janssen und vor allem die kommerziell extrem erfolgreichen Biographien von Köstlin 1875, 1882 und 1883 sowie Buchwald) stehen ganz unter dem Einfluss des Mathesiusschen Narrativs von der Konstanz der Ablehnung der Juden durch Luther, dessen Hauptziel es gewesen sei, die Schrift von den Entstellungen jüdischer Exegese zu reinigen. Erst mit dem Lutherjubiläum von 1883 rückte erstmals auch die frühe Judenschrift verstärkt in den Fokus (Plitt, Kolde, Berger, Hausrath, Grisar). Sie wird durchgängig und wohl auch sachgemäß als Schrift interpretiert, in der Luther sich der freundlichen Hoffnung hingegeben habe, etliche der Juden noch bekehren zu können. Die historistische Forschung des 19. Jh. hatte schließlich auch die Entstehungsbedingungen der Judenschriften und die Kontakte Luthers mit lebenden Juden minutiös rekonstruiert und in ihre Interpretation mit einbezogen (Kolde, Köstlin-Kawerau). Das änderte sich erstaunlicherweise grundsätzlich nach dem ersten Weltkrieg: die Mathesius-Rezeption brach weitgehend ab, und das Thema Luther und die Juden verschwand fast vollständig aus der Biographik. Während das Fehlen des Themas vor 1945 noch mit dem durch die Forschung und die Lutherrenaissance vorgegebenen Fokus auf den jungen Luther erklärt werden mag (Scheel, Böhmer, Ritter), ist das Schweigen der meisten Lutherbiographien nach 1945, die durchaus auch den alten Luther behandelten, insofern verdächtig, als die wenigen Erwähnungen des Themas zu Verharmlosungen oder gar zur kritiklosen Paraphrase von Luthers Judenpolemik neigen (Preuss, Lilje, Bainton, Lau, Fausel, Friedenthal). Gegenüber der Forschung aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ist ein deutlicher Rückschritt in der Differenziertheit der Wahrnehmung festzustellen. Erst mit dem seit 1980 eingeläuteten Wandel des Verhältnisses der Kirche zum Judentum ändert sich auch die Bearbeitung des Themas. Luthers Polemik gegen die Juden wird nun als Konstante seines apokalyptischen Weltbildes oder als Ergebnis seiner mittelalterlichen Prinzipien verhafteten Exegese verstanden (Oberman, Loewenich, Brecht). Interessant sind die von der Biographik hervorgebrachten Erklärungsmodelle für den vermeintlichen Wandel des jungen Luther zum alten Luther. Nur zwei Biographien aus den Jahren um 1900 (Berger, Hausrath) attestieren Luther antisemitische Tendenzen, deuten sie aber beide negativ als Alterserscheinung. Ganz überwiegend wird seit 1883 das psychologisierende Modell von der Enttäuschung Luthers über die ausbleibenden Missionserfolge vertreten, die – vor allem unter dem Einfluss der Gerüchte über Proselyten zum Judentum – zu persönlicher Verbitterung geführt habe. Diese Interpretation ist zwar in dieser Schlichtheit kaum durch die Quellen gedeckt, aber in den Biographien die am weitesten verbreitete (Plitt, Köstlin, Köstlin-Kawerau, Preuss, Lilje, Bainton, Lau, Fausel, Friedenthal). Die Gründe für den Erfolg

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dieses Modells sind schwer zu bestimmen, möglicherweise spielt die Frage literarischer Gestaltung und damit die Notwendigkeit der psychologischen Veranschaulichung eine Rolle. Eine zweite Deutung bemüht sich um die Rekonstruktion eines genuin religiösen Hintergrundes von Luthers spätem Antijudaismus: hier sind eine mentalitätsgeschichtliche und eine theologische Interpretation zu unterscheiden. Eine mentalitätsgeschichtliche Perspektive vertreten Kolde, Oberman, Loewenich und Brecht: sie sehen Luthers Judenhass als Teil des spätmittelalterlichen Antijudaismus seiner Zeit, dem er sich nicht entzogen habe: sei es in Form allgemeinen Judenhasses (Kolde, Brecht), eines apokalyptischen Weltbildes vom Juden als Antichristen (Oberman) oder der spätmittelalterlichen, antijüdischen Exegese (Loewenich). Brecht geht „zum Teil eigene Wege“105 darin, dass er scharf zwischen der Theologie Luthers und seiner Einstellung gegenüber den Juden unterscheidet: die Judentumsfeindschaft Luthers, die er mit „alle[n] christlichen Theologen seiner Zeit“ teilte, wird als Verstoß gegen seine eigenen theologischen Prinzipien dargestellt und dieser Verstoß selbst nicht wieder theologisch, biographisch oder psychologisch aufgefangen. Eine „theologische“ Sichtweise vertreten wenn auch mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen und unter bestimmten konfessionspolitischen Vorzeichen Grisar und Ritter : für Grisar ist Luthers Judenhass die zwangsläufige Kehrseite seines Eifers für Christus; nach Ritter dagegen habe sich Luther selbst zunehmend als Prophet verstanden, dessen Aufgabe die Predigt des Strafgerichts gewesen sei. Ritter nimmt damit Ansätze vorweg, die uns in der Rede vom „renaissance self-fashioning“ heute geläufig sind. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass nur ein kleinerer Teil der Lutherbiographik des 19. und 20 Jahrhunderts die Windungen nachvollzogen hat, die die Spezialforschung zum Thema gemacht hat. Der Großteil der Biographien (auch und gerade die erfolgreichsten!) hat das Thema bis 1980 überhaupt nicht behandelt: ein besonders extremer Fall ist dabei die Biographie von Lilje, die den judenfeindlichen Luther nirgends erwähnte, aber bis 2008 unverändert weitergedruckt wurde. Ein kleinerer Teil folgt bis 1917 dem antijüdischen Narrativ von Mathesius. Auffallend ist aber doch auch, dass keine der Biographien vor oder nach 1917 sich den rassistischen oder nationalsozialistischen Antisemitismus ihrer Zeit zu eigen gemacht hat, sondern fast alle sich (wohl der Gattung geschuldet) ein biographisch-psychologisierendes Narrativ zu eigen gemacht haben. Der antisemitische Luther wurde nicht Gegenstand der Biographik, sondern blieb Objekt der politischen und weltanschaulichen Pamphletistik. Und nur der kleinste Teil der Biographien hat sich vor 1983 überhaupt darauf eingelassen, ein Thema anzupacken, dass zunächst zu unwichtig, dann aber zu problematisch erschien. 105 Brecht, Martin Luther, Bd. 3, 423.

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1836 Gustav Pfitzer : Martin Luther’s Leben, Stuttgart, 1836. 2. Auflage Berlin 1851 1836 Karl Friedrich Ledderhose: D. Martin Luther nach seinem äußern und innern Leben dargestellt, Speier 1836. 2. Auflage Karlsruhe, Reiff 1883 „Zum 400 jährigen Geburtstage Luthers“ 3. Auflage Karlsruhe, Reiff 1883 „Zum 400 jährigen Geburtstage Luthers“ 4. Auflage Karlsruhe, Reiff 1883 „Zum 400 jährigen Geburtstage Luthers“ 1841 Johannes Mathesius: Das Leben Dr. Martin Luthers, herausgegeben von Schubert, Stuttgart 1841. [2. Auflage ?] 3. Auflage mit drei bildlichen Darstellungen und einem Vorwort von Dr. G. H. v. Schubert in München, Stuttgart 1841 4. Auflage Stuttgart 1842 [5. Auflage?] 6. Auflage Stuttgart 1843 7. Auflage Gotha 1871 Johannes Mathesius: Leben Martin Luthers in siebzehn Predigten, neu herausgegeben mit erläuternden Anmerkungen und einem biographischen Anhang versehen von A. J. D. Rust Berlin, 1841. 1842 Moritz Meurer : Luthers Leben aus den Quellen erzählt, 3 Bände, Dresden 1842–46 (mit Bilder von Ludwig Richter). 2. Auflage Dresden 1852 3. Auflage Dresden 1870 Jugend- und Volksausgabe: 3., von neuem durchgesehene Auflage, Leipzig 1878 1846–47 Karl Heinrich Jürgens: Luther’s Leben. Von seiner Geburt bis zum Ablaßstreite, 3 Bände, Leipzig 1846–1847. 1854 Johannes Mathesius: Johann Mathesii Historien von Martin Luthers Leben in zeitgemäßer Bearbeitung, Nördlingen 1854. 1855 Johannes Mathesius: D. Martin Luthers Leben. In siebzehn Predigten dargestellt, herausgegeben vom Evangelischen Bücherverein, Berlin 1855. 2. Auflage Berlin 1862

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1861 Moritz Meurer: Luthers Leben für christliche Leser insgemein aus den Quellen erzählt, Leipzig 1861. 2. Auflage Leipzig 1869 1875 Julius Köstlin: Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften, Elberfeld, 1875. 2. Auflage Elberfeld 1883 3. Auflage Elberfeld 1883 4. Auflage Berlin 1889 5. Auflage, neubearbeitete Auflage nach des Verfassers Tode fortgesetzt von Gustav Kawerau, Berlin, 1903 1882 Julius Köstlin: Luthers Leben, Leipzig 1882. 2. Auflage Leipzig 1883 3. Auflage Leipzig 1883 4. Auflage Leipzig 1887 [5. Auflage ?] 6. Auflage Leipzig 1888 7. Auflage Leipzig 1889 8. Auflage Leipzig 1890 9. Auflage Leipzig 1891 10. Auflage Leipzig 1902 Volksausgabe der 10. Aufl. Luthers Leben. Mit authentischen Illustrationen, 64 Abbildungen im Text und Titelbild Leipzig, 1902. 1883 Johannes Mathesius: Dr. Martin Luthers Leben: in siebenzehn Predigten dargestellt von Johann Mathesius. Mit einem Vorwort, herausgegeben von D. Büchsel. 2. Auflage Berlin 1883 3. Auflage Berlin 1883 Johannes Mathesius: Dr. Martin Luthers Leben beschrieben von Johann Mathesius, nach den Originaldrucken revidiert, mit einem vollständigem Register versehene Auflage, St. Louis 1883. Julius Köstlin: Martin Luther, der deutsche Reformator. Festschrift zur Feier des 400jährigen Geburtstages Martin Luther 10. November 1883, herausgegeben von der Historischen Commission der Provinz Sachsen, Halle an der Saale 1883. 1.–21. Auflage Halle 1883 22. unv. Auflage Halle 1884 Hg. v. Gustav König, Berlin 1889 Halle 1893 Halle 1901

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Gustav Leopold Plitt: Dr. Martin Luthers Leben und Wirken. Zum 10. November dem deutschen evangelischen Volke geschildert, vollendet von F. Petersen, Leipzig 1883. 2. Auflage Leipzig 1883 3. Auflage Leipzig 1883 4. Auflage Leipzig 1883 Georg Gotthilf Evers: Martin Luther. Lebens- und Charakterbild von ihm selbst gezeichnet in seinen eigenen Schriften und Correspondenzen, 14 Bände, Mainz 1883–1891. 1884 Theodor Kolde: Martin Luther. Eine Biographie, 2 Bände, Gotha 1884/93. [Martin Rade]: Dr. Martin Luthers Leben, Thaten und Meinungen. Aufgrund reichlicher Mitteilungen aus seinen Briefen und Schriften dem Volke erzählt von Paul Martin, 3 Bände, Neusalza 1884. [2–7. Auflage?] 8. Auflage Tübingen 1901 1887 Johannes Mathesius: Doktor Martin Luthers Leben in 17 Predigten herausgegeben von G. Buchwald, Leipzig 1887. 2. Auflage Leipzig 1889 [3.–9. Auflage?] 10. Auflage Stuttgart 1904 Johannes Mathesius: Luthers Leben in Predigten herausgegeben, erläutert und eingeleitet von Georg Lösche. 2. Auflage Prag 1906 3. Auflage Prag 1889 1895 Arnold E. Berger : Martin Luther in kulturgeschichtlicher Darstellung, 3 Teile, Wittenberg 1895 / Leipzig 1921. 1902 Georg Buchwald: Martin Luther. Ein Lebensbild für das deutsche Haus, Leipzig 1902. 2. Auflage Leipzig 1909 3. völlig umgearbeitete Auflage 1917 1904 Adolf Hausrath: Luthers Leben, Berlin 1904. Nachdruck Berlin 1905 3. Auflage Berlin 1913 Nachdruck Berlin 1914 Nachdruck Berlin 1924

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1911 Grisar Hartmann: Luther, 3 Bände, Freiburg 1911/12/13. 2. Auflage Freiburg 1927 3. Auflage Freiburg 1924 Johannes Mathesius: Das Leben des theuren Mannes Gottes Doct. Martin Luthers herausgegeben von Hermann v. Bezzel, Nürnberg 1911. 1916 Otto Scheel: Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation, Tübingen 1916/17 (2 Bände). 2. Auflage Tübingen 1917 3. Auflage Tübingen 1921 4. Auflage Tübingen 1930 1917 Johannes Mathesius: Luthers Leben, herausgegeben von Nicolaus v. Henningsen, Köln 1917. 1920 Johannes Mathesius: D. Martin Luthers Leben: in siebzehn Predigten herausgegeben von Georg Buchwald, Leipzig 1920. 1925 Johannes Mathesius: Predigten über Luthers Leben, herausgegeben von Nicolaus v. Henningsen 1925. Heinrich Boehmer: Der junge Luther, Gotha 1925. 2. Auflage Gotha 1929 3. Auflage Leipzig 1939 4. Auflage Stuttgart 1951 5. Auflage Leipzig 1952 6. Auflage Leipzig 1954 5. Auflage Stuttgart 1962 Gerhard Ritter : Luther. Gestalt und Tat, München 1922. 2. Auflage München 1928 Volksausgabe München 1933 Volksausgabe München 1935 3. Auflage München 1943 4. Auflage München 1947 5. Auflage München 1949 6. Auflage München 1959 7. Auflage Stuttgart 1983 ungekürzte Taschenbuchausgabe Frankfurt 1985

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1947 Hans Preuss: Martin Luther. Seele und Sendung, Gütersloh 1947. 1948 Hanns Lilje: Luther. Anbruch und Krise der Neuzeit, Nürnberg 1948. 2. Auflage Nürnberg 1948 1952 Roland Bainton: Hier stehe ich: Das Leben Martin Luthers, übers. von Hermann Dörries, Göttingen 1952. 2. Auflage Göttingen 1958 3. Auflage Göttingen 1959 4. Auflage Göttingen 1962 6. Auflage Göttingen 1967 7. Auflage Göttingen 1980 1. Auflage München 1983 2. Auflage München 1983 Sonderausgabe Berlin 1967 Sonderausgabe Berlin 1971 Sonderausgabe Berlin 1983 1959 Franz Lau: Luther, Berlin 1959. 2. Auflage Berlin 1966 1965 Hanns Lilje: Martin Luther in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek. [27. Auflage 2008] 1966 Heinrich Fausel: Martin Luther, 2 Bände, Calw 1966. 1967 Richard Friedenthal: Luther. Sein Leben und seine Zeit, München 1967. [2.–4. Auflage?] Sonderausgabe München 1967 Sonderausgabe 1970 Sonderausgabe 1974 Sonderausgabe München 1978 5. Auflage 1979 6. Auflage 1982 9. Auflage 1983 10. Auflage 1983 11. Auflage 1983

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Neuausgabe 1982 [1.–5. Auflage der Neuausgabe?] 6. Auflage der Neuausgabe 1990 7. Auflage 1996 8. Auflage 1996 9. Auflage 1997 10. Auflage 2000 [11.–12. Auflage?] 13. Auflage 2005 1979 Heinrich Bornkamm: Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Das Jahrzehnt zwischen dem Wormser und dem Augsburger Reichstag, Göttingen 1979. 1981 Heiko A. Oberman: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1981. 2. Auflage 1982 Lizenzauflage 1983 3. Auflage 1986 4. Auflage Berlin 1987 5. Auflage München 1991 1982 Helmut Diwald: Luther. Eine Biographie, Bergisch Gladbach 1982. 2. Auflage Gladbach 1982 3. Auflage Gladbach 1982 4. Auflage Gladbach 1983 5. Auflage Gladbach 1984 2. Auflage Gladbach 1996 1983 Walter von Löwenich: Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1983. 1983 Martin Brecht: Martin Luther, 1. Band, Calw 1981. 2. Auflage Calw 1983 Nachdruck Berlin 1986 3. Auflage 1990 2. Band, Calw 1986. 2. Auflage Calw 1986 Nachdruck Berlin 1989 3. Band, Calw 1987.

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Anselm Schubert Nachdruck Berlin 1990 Studienausgabe 1994

1986 Reinhard Schwarz: Martin Luther (KIG), Göttingen 1986. 2. Auflage Göttingen 1998 3. Auflage Göttingen 2004 4. Auflage Göttingen 2014

Von der Restauration bis zum Ende des Kaiserreiches

Martin Friedrich

„Luther und die Juden“ in Preußen bis 1869

Das angegebene Jahr 1869 weist auf das Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung im Norddeutschen Bund, mit dem in Preußen die Judenemanzipation vollendet wurde. Nachdem 1871 das Gesetz für das Kaiserreich übernommen wurde, war damit eine fast hundert Jahre währende Debatte zum Abschluss gekommen, die in Preußen besonders intensiv geführt wurde1, seit der preußische Kriegsrat Christian Wilhelm von Dohm sie 1781 mit dem Werk Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden eröffnet hatte2. In immer wieder neuen Wellen brandeten seitdem die Auseinandersetzungen auf. Zuerst entfachte 1799 eine anonyme Schrift des Berliner Fabrikanten David Friedländer die Diskussion über die Möglichkeit und Wünschbarkeit einer Gleichstellung der Juden, an der sich zahlreiche Autoren, darunter auch evangelische Theologen, beteiligten3. Einen Nachklang brachte gewissermaßen die „GrattenauerKontroverse“ von 1803–18054. Als 1812 das Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden den preußischen Juden eingeschränkte Bürgerrechte verlieh5, entbrannte die Debatte erneut; bis 1819 rollte „eine neue Welle antijüdischer Propaganda und Feindseligkeit“6 über das Land. Weil in den 1840er Jahren die Forderungen nach Gleichberechtigung immer lauter wurden, kam es – nun unter der Parole des „christlichen Staates“ – wiederum zu einer Fülle von Gegenschriften7. Diese von Friedrich Julius Stahl verfochtene Ideologie gab auch den Hintergrund ab für eine Gesetzesvorlage im preußischen Landtag von 1856, mit der den Juden die Errungenschaften von 1812 wieder entzogen werden sollte. Auch in den 1860er Jahren erschienen noch Streitschriften gegen die Judenemanzipation bzw. den Einfluss von Juden in Gesellschaft und Kultur, allerdings ohne große Resonanz; erst die von Adolf

1 Vgl. bes. Baumgart, Judenemanzipation, 155–177; zu den ersten Debatten Best, Juden, 170–214. Zur Gesetzgebung immer noch am besten: Brammer, Judenpolitik. 2 Vgl. Friedrich, Juden, 156–168; zu der von Dohm ausgelösten Debatte vgl. Heinrich, Debatte, 813–895. 3 Vgl. Friedrich, Antijudaismus, 319–347; Crouter/Klassen, Emancipation. 4 Vgl. Bergmann, Grattenauer-Kontroverse, 153–156. 5 Vgl. Tress, Emanzipationsedikt, 319–321. 6 Katz, Ghetto, 213. 7 Vgl. Katz, Vorurteil, 193–200.

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Stoecker angeführte „Berliner Bewegung“ von 18798 markiert den Durchbruch des „modernen Antisemitismus“9. Untersuchungsmaterial liegt also zur Genüge vor, und tatsächlich auch schon eine große Zahl an Untersuchungen zu Befürwortern und Gegnern der Emanzipation sowie ihren Motiven und Argumentationen. Die Relevanz des Themas ergibt sich vor allem aus der seit langem anerkannten Erkenntnis, dass die verzögerte Emanzipation und die langandauernde Debatte das Aufkommen des Antisemitismus förderte und geradezu als seine Inkubationszeit angesehen werden kann10. Damit ist die Debatte auch von wesentlicher Bedeutung für die im Vorfeld des Reformationsjubiläums heftig debattierte Frage nach der Wirkung von Luthers Judenschriften. Die in Überblickswerken oftmals zu findende Behauptung, Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen von 1543 sei „entscheidend für den Weg, den der Protestantismus in den kommenden Jahrhunderten beschritt“ und habe „auf Jahrhunderte hinaus das Verhältnis zwischen Christen und Juden“ geprägt11, hat ebenso engagierte Kritiker wie Unterstützer auf den Plan gerufen. Neben Dorothea Wendebourg und dem Journalisten Wolfgang Thielmann12 war es vor allem mein Lehrer Johannes Wallmann, der in der verbreiteten Kritik an Luther eine Selbstvergessenheit der evangelischen Kirche beklagte; zuerst in einem Leserbrief in der FAZ vom 31. 10. 2013 und dann in einem Aufsatz in der Zeitschrift Cicero13, der in erheblich erweiterter Form im Deutschen Pfarrerblatt erschien14. Als Kontrahenten traten der Kriminologe Christian Pfeiffer15, der Systematiker Andreas Pangritz16 und der Pädagoge Micha Brumlik17 auf.

8 Vgl. Tress, Bewegung, 319–321. 9 Zur Forschungsgeschichte und insbesondere den Fragen nach der Kontinuität von christlicher Judenfeindschaft und „Antisemitismus“ nach 1870 vgl. Gr•fe, Antisemitismus. 10 Vgl. z. B. Rìrup, Emanzipation; Katz, Vorurteil; Erb/Bergmann, Nachtseite. 11 So Battenberg, Zeitalter, 190 f; vgl. auch z. B. Manuel, Staff, 248–252; Israel, Germany, 295–304, 298 f. 12 Wendebourg, Luther ; Thielmann, Evangelistan, mit Bezug auf Wallmanns Leserbrief in der FAZ. Seine Kernsätze sind, dass „Luthers judenfeindliche Schriften […] wenig verbreitet und früh abgelehnt“ wurden und noch „im Dritten Reich […] in der Kirche fast unbekannt“ waren. 13 Wallmann, Kriminologen. 14 Wallmann, Kirche 332–336, 382–387, 466–469. Dabei greift er in den wesentlichen Aussagen auf einen älteren Aufsatz zurück: Wallmann, Reception, 72–97. 15 Pfeiffer, Judenfeind. 16 Pangritz, Luther, 54–60. Pangritz beschränkt sich darauf, Wallmann „Luther-Apologetik“ vorzuwerfen, obwohl doch seine Zusammenstellung „allenfalls etwas über die Lutherrezeption in der evangelischen Theologie sagt, nichts jedoch über die Theologie Luthers“ (58) – als ob es Wallmann darum gegangen wäre. Im Folgenden verweist er auf negative Folgen von Luthers Schriften im 16. Jahrhundert, obwohl doch Wallmann die anerkennt und nur von einem veränderten Bild seit dem Pietismus spricht. 17 Brumlik, Luthers Gift. Er bringt eine Reihe von Belegen für die Bezugnahme auf Luthers Schriften, die im Einzelnen bewertet werden müssten.

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In den zahlreichen Spezialuntersuchungen zu den Emanzipationsdebatten wird jedoch eine Wirkung von Luthers Judenschriften nirgends erwähnt. Martin Luther diente gewiss im 20. Jahrhundert als „Kronzeuge des Antisemitismus“18, aber für das 19. Jahrhundert ist bislang die These von Johannes Wallmann nicht widerlegt, dass die Judenschriften Luthers kaum bekannt waren und in den Diskursen bis 1933 kaum eine Rolle spielten. Auch Hans Hillerbrand19 und Thomas Kaufmann20 schlossen sich dieser Bewertung an. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Eine nähere Betrachtung der Quellen kann diesen Befund im Großen und Ganzen bestätigen. Bei einer Sichtung zahlreicher Publikationen (hier musste teils auch über Preußen hinausgegriffen werden, weil die Debatten quer über die Landesgrenzen hinweg geführt wurden) konnte nur festgestellt werden, dass sich weder Befürworter noch Gegner der Judenemanzipation in größerem Ausmaß auf Luthers Judenschriften bezogen haben. Nur in Details kann das bisherige Bild korrigiert werden, was freilich auch zu einer veränderten Bewertung führen kann. Der Überblick fällt also relativ langweilig aus, weil überwiegend Fehlanzeige zu proklamieren ist. Christian Wilhelm von Dohm berief sich in seinem Plädoyer für die bürgerliche Verbesserung nicht auf Luther, erwähnte ihn nicht einmal21; aber ebenso wenig taten das seine protestantischen Gegner wie der Göttinger Professor Johann David Michaelis oder der Jöllenbecker Pfarrer Johann Moritz Schwager22. Im Gegenteil, im auf die ersten Einwände antwortenden zweiten Teil ist Luther mit seiner Haltung gegen die Reformierten für Dohm ein Beispiel für eine glücklicherweise längst überwundene Intoleranz23. Ganz nebenbei erwähnt er, dass dieselbe Intoleranz sich auch in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen finde, über die Dohm aber offensichtlich lieber den Mantel des Schweigens breiten will: Wie Luthers Ausbruch gegen Zwingli „zeigt, wie roh und wenig aufgehellt die Begriffe des sonst so großen Mannes in dieser wichtigen Sache waren“, so könnte man auch aus der Schrift gegen die Juden von 1543, „worinn er den Obrigkeiten deren Duldung mit seiner bekannten Heftigkeit vorwirft, […] noch mehr Beweise anführen, wenn es deren bedürfte“.24 Auch in der weiteren Reaktionen auf Dohm, von der oft als frühantisemitisch angesehenen Argumentation des märkischen Pfarrers Johann Heinrich 18 Ginzel, Luther, 89–210, der auch von Pfeiffer und Pangritz angeführt wird; ausführlich neuerdings: Probst, Demonizing. 19 Hillerbrand, Luther, 127–145; ders., „Deutsche“, 455–471. 20 Kaufmann, Luther, 501–506, hier 505; ders., Reformation, 286–290, hier 290; ders., Judenschriften, 141 f. Kaufmann bietet den bislang erschöpfendsten Überblick auch zur Rezeption von Luthers Judenschriften, erklärt aber auch, dass weitere Forschung nötig ist. 21 Vgl. nur Dohm, Verbesserung, 26: „die Verehrer des Pabsts und Luthers“ sind eins der Beispiele für Scheidungen zwischen den Menschen, die aber keine Trennungen bleiben sollen. 22 Dohm druckte die negativen Reaktionen der beiden im zweiten Teil seines Werkes ab, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu Schwager vgl. Stìckemann, Schwager, bes. 361–370 zur Auseinandersetzung mit Dohm. 23 Vgl. Dohm, Verbesserung, 195–198. 24 Ebd., 198.

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Schulz25 über das Plädoyer für eine Segregation der Juden des Regierungsrats und späteren Innenministers Schuckmann26 bis hin zu Fichtes Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution von 179327, spielt Luther in der Argumentation keine Rolle. Und auch in der Kontroverse um David Friedländers Sendschreiben von 179928 ist mir kein Bezug auf Luthers Judenschriften begegnet, weder bei dem angesprochenen Propst Teller29 noch bei Schleiermacher30 oder bei dem Berliner Juristen Christian Ludwig Paalzow31. Dasselbe gilt für die 1803 erscheinenden Schriften des Berliner Kammergerichtsrats Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer32 oder die ihn unterstützende umfangreiche Schrift Moses und Jesus des Berliner Schriftstellers Friedrich Buchholz33. Anscheinend völlig unbeachtet blieb eine kurze Notiz von Christian Wilhelm Spieker, Theologieprofessor in Frankfurt an der Oder, der sich in seinem die Emanzipation befürwortenden Werk Über die ehmalige und jetzige Lage der Juden in Deutschland von 1809 voller Bedauern zeigt, dass Luther seine frühe Hoffnung auf die Bekehrung der Juden aufgegeben und diese somit „dem gänzlichen Verderben“ preisgegeben habe34. Erst mit den Publikationen des Berliner Historikers Friedrich Rühs wurde Luthers Haltung zu den Juden wirklich zum Thema. Allerdings ging Rühs in seiner 1815 erscheinenden ersten judenfeindlichen Schrift Über die Ansprüche der Juden auf das deutsche Bürgerrecht35 kaum auf Luther ein. Er wusste zwar, dass dieser „bekanntlich kein Freund der Juden“ war, und konstatierte, dass Luthers Gegner Eck „hinsichtlich seines Judenhasses mit Luther übereinstimmt“36, nahm ihn aber nicht für seine Argumentation in Anspruch. Erst als der badische Prälat Johann Ludwig Ewald ihm 1816 in seiner Gegenschrift das Plädoyer des jungen Luther zum freundlichen Umgang mit den Juden entge25 Schulz, Betrachtung; hierzu, wo erstmals der Begriff „Staat im Staate“ gebraucht wird; vgl. z. B. Best, Juden, 187 f. 26 Schuckmann, Judenkolonien, 50–59; vgl. Best, Juden, 188 f. 27 Vgl. Becker, Fichtes Ideen. 28 Vgl. Friedrich, Antijudaismus, 319–347; Crouter/Klassen, Emancipation. 29 Teller, Beantwortung. Hier wird nur auf S. 12 Luther als Gewährsmann für Freiheit gegenüber dem Feiertagsgebot angeführt. Vgl. auch die englische Übersetzung bei Crouter/Klassen, Emancipation, 113–144. 30 Schleiermacher, Briefe, 327–361. Vgl. zuletzt Blum, Antijudaismus, 30–76. 31 Paalzow, Juden. In seinem späteren Werk brachte Paalzow ein Lutherzitat, in dem es aber nur um Gewissensfreiheit ging und das nicht aus den Judenschriften stammt (ders., Helm, 83). 32 Grattenauer, Juden; ders., Nachtrag; ders., Erklärung. 33 Buchholz, Moses. In dem 266 Seiten starken Buch, das vor allem gegen die Taufe als Lösung der Judenfrage argumentiert, wird Luther nur auf S. 208 mit seiner Erklärung der Taufe aus dem Kleinen Katechismus zitiert. 34 Spieker, Juden, 64. 35 Zuerst erschienen in: Zeitschrift fìr die neueste Geschichte der Staaten und Vçlkerkunde, hg. von Friedrich Rìhs und Samuel Heinrich Spiker, Bd. 3, 1815, 129–161. Ich zitiere im Folgenden die 2. Auflage (Berlin 1816). Zu Rühs und seinem Umfeld vgl. z. B. Puschner, Antisemitismus, 211–218. 36 Ebd., 30, 19 (jeweils in der Fußnote).

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genhielt37, sah Rühs sich zum Nachforschen veranlasst. In seiner Replik aus demselben Jahr beanspruchte er, gegen Ewalds Beleg „die wahre Meinung dieses großen Mannes von den Juden“ darzulegen, und bot dazu eine „kleine Chrestomathie aus Luthers Schriften über die Juden“38. Auf mehr als sieben Seiten stellte er nun, mit Referenz auf den 20. Band der Walch-Ausgabe, Zitate aus Luthers Spätschriften zusammen, darunter auch die berüchtigten sieben Ratschläge aus Von den Juden und ihren Lügen. Rühs erklärte allerdings schon in seinen einleitenden Worten, dass „der heilige Eiferer sich in unserer Zeit anders ausdrücken“ würde39, und resümierte, dass „die Ausdrücke […] auf die Rechnung der Zeit“ kommen, der bleibende Kern aber „die gänzliche Unverträglichkeit des Christenthums und des Judenthums“ sei40. Kennzeichnend ist wiederum Ewalds 1817 veröffentlichte Entgegnung, in der er Rühs vorhielt, die „allerhärtesten Stellen, gegen die Juden, aus Luthers Schriften herauszuzuziehen, die man, aus Schonung gegen den großen Mann, eher mit dem Mantel der Liebe zudeken sollte“41. Gegen Luthers „antichristliche, unmenschliche Lästerungen“ sei hier das Liebesgebot Jesu zu setzen42. Ewalds Befürchtungen, dass die Luther-Zitate Wasser auf die Mühlen der Emanzipationsgegner sein würden, waren nicht unberechtigt. Noch im Jahr 1817 wurden sie an mehreren Stellen aufgegriffen, wenn auch meiner Kenntnis nach nicht in Preußen43. Es erschien sogar, vermutlich in Lübeck, eine Broschüre Luthers und v. Herders Stimmen über die Juden44, in der auf zwölf Seiten teils dieselben, teils andere Zitate Luthers wiedergegeben sind [allerdings nicht die sieben „Ratschläge“], mit Parteinahme für Arndt, Rühs und Fries gegen Ewald. Die Stoßrichtung ist, dass die Juden Gegner der Christen seien und ihre Missionierung unmöglich sei. In ähnlicher Weise berief sich der bislang radikalste Judenfeind des 19. Jahrhunderts, Hartwig von Hundt-Radowsky auf Luther, allerdings nicht in seinen ersten Publikationen, sondern erst in seiner Judenschule von 1822 mit Anführung einer Äußerung aus den 37 Vgl. Ewald, Ideen, 159 f. Ewald zitiert (ohne Quellenangabe) aus Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei die bekannte Passage, die mit „Ich hoffe, wenn man mit den Juden freundlich handelte […]“ beginnt, und zwar mit der bezeichnenden Einleitung: „Selbst Luther, der bekanntlich kein Freund der Juden war, sagt“. 38 Rìhs, Rechte, 16; Wallmann irrt also, wenn er meint, „Luthers späte Judenschriften“ seien „in dieser ersten […] antijüdischen Bewegung des frühen 19. Jh. unbekannt“ geblieben (Wallmann, Kirche, 382). 39 Rìhs, Rechte, 17. 40 Ebd., 23. 41 Ewald, Geist, 63. 42 Ebd., 64. In seinen weiteren Schriften zum Thema erwähnt Ewald Luther folgerichtig nicht mehr (vgl. Ders., Fragen; ders., Beantwortung). 43 Z. B. Hamburgisches Morgenblatt 1817, 13. 44 Verlagsort „Deutschland, 1817“. Auf die Sammlung von Luther-Zitaten folgt ein Abdruck von Herders Schrift Bekehrung der Juden und ein Epilog, in dem mit weiteren Autoren gegen die Bestrebungen zur Gleichstellung der Juden argumentiert wird. Für Micha Brumlik ist dies einer der wenigen Belege, dass Luthers antijüdische Schriften doch auch im 19. Jahrhundert gewirkt hätten (vgl. Brumlik, Luthers Gift).

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Tischreden45. In den weiteren Schriften der 1820er und 1830er Jahre, soweit ich sie angesehen habe, ist Luther wiederum nicht erwähnt. So kann schon ein Zwischenfazit gezogen werden. Wallmanns Behauptung, dass „in der Zeit der Aufklärung und des 19. Jh. [k]ein anderes Bild von Luther vorherrschte als das des Judenfreundes“46, ist also zu korrigieren. Es mag für jüdische Autoren stimmen – Wallmann nennt Heine, und vielleicht noch kennzeichnender ist Saul Ascher, der sich nach der Verbrennung seiner Germanomanie beim Wartburgfest 1817 empört zeigte, dass Luther, der „große Mann“, der „die Freiheit des Glaubens proklamirt“ und sich für den „Fortschritt der Menschenbildung“ eingesetzt habe, nun als Gewährsmann für Nationalismus und Judenfeindschaft in Anspruch genommen werde47. Auch bei jüdischen Vorkämpfern der Emanzipation wie etwa Gabriel Riesser48 oder Sigismund Stern galt Luther als Hero der Toleranz49. Dass Ludwig Börne sich von Lutherbegeisterung zur Lutherkritik entwickelte, hatte mit dessen Stellung zu den Juden nichts zu tun50. Selbst nachdem Heinrich Graetz im 1866 erschienenen neunten Band seiner Geschichte der Juden ausführlich alle einschlägigen Schriften Luthers behandelt hatte [mit großem Lob für die von 1523], wollten die preußischen Juden sich ihr positives Lutherbild nicht verderben lassen: Der Berliner Rabbinersohn Ludwig Geiger erklärte in einem 1867 erschienenen Aufsatz den Umschwung mit Enttäuschung über den ausgebliebenen Missionserfolg51. Aber dies nur am Rande; über jüdische Lutherrezeption ist der Beitrag von Christian Wiese in diesem Band zu vergleichen. Bei denen, die Luther kannten, war er auch als Judengegner bekannt. Aber weder Gegner noch Befürworter der Judenemanzipation machten großes Aufheben davon. Erstere wohl deshalb nicht, weil Luthers Argumentationsweise im Allgemeinen nicht mehr in die Zeit zu passen schien. Rühs schien es ja geradezu peinlich, ihn für sich anführen zu können, und selbst bis zu Hundt-Radowsky wollte sich niemand mehr seine Ratschläge zu eigen machen. Zumindest für diejenigen, die nicht aus einem ausgesprochen kirchlichen Hintergrund stammten, war er wohl auch nicht eine geborene Autorität. Wir könnten diese Haltung bei weiteren Judengegnern verfolgen, etwa bei Bruno Bauer. In seiner Judenfrage von 1843 kommt Luther nicht vor; erst in einer 1863 erschienen Sammlung von Artikeln 45 Hundt-Radowsky, Judenschule, 163. In der früheren Schrift Judenspiegel, ist Luther ebenso wenig erwähnt wie im zweiten Band der Judenschule oder dem späteren Neuer Judenspiegel oder Apologie der Kinder Israels. Nur im dritten Band kam Hundt-Radowsky nochmals an drei Stellen auf Luther zu sprechen (90 f., 204, 210), wobei es aber gar nicht um dessen Stellung zu den Juden ging. 46 Wallmann, Kirche, 382. 47 Ascher, Wartburg-Feier, 4 f. 48 Hierzu auch Hein, Riesser, 5–12. 49 Vgl. Wiese, Idealisierung, 215–259, hier 236 f. 50 Vgl. Rippmann, Spuren, 255–287. 51 Geiger, Geschichte, 23–29, (nach Wiese, Idealisierung, 251).

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aus dem Staatslexikon verwies er zweimal auf Luthers Tischreden52 und auf die von Selnecker 1577 neu herausgegebenen Judenschriften, um zu zeigen, wie Luther dank seines religiösen Genies den Gegensatz zum Judentum wieder tiefer erkennt53. Die antijüdischen Äußerungen waren also nicht unbekannt, sondern wurden immer mal wieder herangezogen, aber dies doch höchst selten. Bei den Befürwortern der Judenemanzipation ist noch leichter zu erklären, warum sie sich nicht auf Luther bezogen: Weil dieser, der im Großen und Ganzen ja doch eine Autorität war, in der Allgemeinheit eher als Judenfeind galt. Es kann also auch nicht gesagt werden, dass die judenfreundlichen Töne der Schrift von 1523 größere Wirkung gehabt hätten. Ewald führt sie zwar an und schweigt von den judenfeindlichen Spätschriften, aber auch für ihn ist Luther fraglos ein Gegner des Judentums; er will nur zeigen, dass auch solche sich für Mission einsetzen. Die Hoffnung auf eine Bekehrung der Juden zum Christentum war aber wiederum nur bei einer Minderheit der Emanzipationsfreunde ausschlaggebend für ihr Engagement. Und Luther konnte kaum zum Kronzeugen taugen, weil er eben in seinem Einsatz für die Mission eine Kehrtwende vollzogen hatte. Hier wäre Anlass, auch den Bezug auf Luther in den Publikationen der Judenmission zu untersuchen, die ja bekanntlich in Deutschland auch zuerst in Preußen ihre Hochburg hatte54. Während jedoch pietistische Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts in ihren Plädoyers für eine missionarische Zuwendung zu den Juden oftmals auf Luther Bezug nahmen, scheint dies im 19. Jahrhundert kaum noch geschehen zu sein – vermutlich, weil seine Abkehr von der Hoffnung auf ihre Bekehrung eben doch bekannter war, als Wallmann annimmt. Bezeichnend ist etwa eine Predigt beim Jahresfest der Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter den Juden 1866, in der der Prediger erklärte: „Man kann Luther nicht jüdischer Sympathieen zeihen; aber diesem Wort hier [Röm 11,25] hat er bekannt ,so ist’s nun gewiß, daß die Juden

52 Vgl. Bauer, Judenthum, 42, 77. 53 Vgl. ebd., 43. – Zitate oder auch nur Paraphrasen finden sich nicht; es genügte Bauer wohl, Luther von der Tendenz her auf seiner Seite zu haben. 54 Vgl. Clark, Protestantism. Erwähnt werden sollte auch Rakowski, Judenmission, der zwar einen Verein im Königreich Hannover behandelt, aber relativ ausführlich auf die Rezeption Luthers eingeht. Allerdings beruht die Aussage, „die späten Äußerungen [hätten] bis ins 20. Jahrhundert hinein keine direkte Wirkungsgeschichte nach sich gezogen“ (Kap. 3.1), nur auf Wallmann, und die Aussage, die protestantische Judenmission habe „sich von Anfang an auf Äußerungen Luthers berufen“ (Kap 3.1), bezieht sich wohl auf den Pietismus und bleibt für das 19. Jahrhundert ohne Beleg. Die im Exkurs 2 referierte Ansprache des Genfers Louis Gaussen scheint nur implizit Luthers Diktum aufzunehmen, dass Jesus ein geborener Jude war. Viel interessanter ist eine 1845 vom Evangelischen Verein von Freunden Israels in Kurhessen veröffentlichte Ansprache und Bitte mit einem Schuldbekenntnis gegenüber den Juden, das auf Von den Juden und ihren Lügen Bezug nimmt, ohne die Schrift von 1523 zu erwähnen (Kap. 8.4).

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werden noch sagen zu Christo: Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn, – Gott gebe, daß die Zeit nahe sei als wir hoffen.‘“55 Gerade bei den lutherischen Konfessionalisten in Preußen, dem Kreis um Ernst Wilhelm Hengstenberg und die Brüder Gerlach, ist das Fehlen eines Bezugs zu Luthers Judenschriften auffällig. Sie waren überwiegend Anhänger der Judenmission und standen somit im Gegensatz zu Luthers Haltung in seinen späten Jahren, wie eine in der NS-Zeit entstandene Dissertation vorwurfsvoll bemerkt56. Zugleich waren sie Anhänger des christlichen Staates und Gegner der Judenemanzipation – ohne sich aber auf Luther zu berufen. Weder in Stahls Der christliche Staat und sein Verhältniss zu Deismus und Judentum57 noch in den einschlägigen Werken der preußischen Beamten Heinrich Eugen Marcard aus Minden58 oder Philipp Ludwig Wolfart59 spielt Luthers Haltung zu den Juden eine Rolle. Nur in einem früheren Buch, in dem er sich nur am Rande mit der Judenemanzipation beschäftigte und entschieden dafür eintrat, zum Christentum konvertierten Juden die vollen Rechte zu gewähren, gestand Wolfart zu, dass „unser kräftiger Reformator Luther sich abweisend gegenüber jüdischen Täuflingen geäußert habe“60. Und der der aus dem Judentum konvertierte Arzt Wolfgang Bernhard Fränkel verwies zum Beweis der Unmög lichkeit der Emanzipation der Juden im christlichen Staate auf eine Äußerung Luthers, die die jüdische Ablehnung des Glaubens an Jesus als Messias beklagte61. In den Umkreis der Emanzipationsgegner aus dem Geist des christlichen Staates gehört wohl auch der Leipziger Theologe Ludwig Fischer, der 1838 eine ausführliche Sammlung von Zitaten aus Luthers Judenschriften [auch der frühen!] herausgab und die Äußerungen der Spätschriften zustimmend kommentierte62. Ich habe sie nicht näher angesehen, weil sie eher in den Bereich des lutherischen Konfessionalismus und damit eines anderen Vortrags fällt. Fischers Schrift wurde in manchen Zeitschriften positiv aufgenommen, u. a. in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche und hiernach auch in Tholucks Literarischem Anzeiger63, aber eine größere Wirkung 55 Steffann, Israel, 6. 56 Dierks, Altkonservative, 75; vgl. auch Bussiek, Zeitung, 388–409, wo im Zusammenhang mit der Stellung zur Judenemanzipation nichts zur Rezeption Luthers gesagt ist. 57 Stahl, Staat. Nur auf S. 45 ist Luther erwähnt: Seine Rede von der Ehe als weltlich Ding dürfe nicht als Argument für jüdisch-christliche Mischehen gewertet werden. 58 Marcard, Jude. Zu Marcard vgl. Herzig, Brandstifter. 59 Wolfart, Emancipation. 60 Wolfart, Preußen, 181 f. 61 Fraenkel, Emanzipation, 25. Zu Fraenkel vgl. Jewish Encyclopaedia. Er zitierte übrigens auch schon in der seine Konversion rechtfertigenden Schrift Bekenntniss Luthers Plädoyer aus Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei dafür, den Juden den Zugang zu allen Berufen zu öffnen, als Beleg dafür, dass das „aechte Christenthum“ nicht Einschränkungen für die Juden will, um sie zur Taufe gefügig zu machen. 62 Fischer, Luther. Hierzu vgl. Wallmann, Kirche, 333. 63 Literarischer Anzeiger fìr christliche Theologie und Wissenschaft ìberhaupt, 25. 1. 1840, Sp. [42]. Tholuck scheint das Buch aber nicht angesehen zu haben, sondern referiert nur die ZPK.

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scheint es nicht entfaltet zu haben. Singulär innerhalb der Schriften der preußischen Altkonservativen steht damit eine (zwei Jahre später als Buch erschienene) Artikelreihe in der Evangelischen Kirchenzeitung von 1857, mit der Ernst Wilhelm Hengstenberg das Schweigen brach und ausführlich Luthers Stellung zu den Juden behandelte – offenbar deshalb, um Luthers frühe Judenschrift bekannt zu machen, die er ausführlich zitierte64. Entschuldigend kam er dann auch auf die späten Judenschriften zu sprechen, aus denen er ebenfalls Zitate brachte. Er resümierte dann mit dem schon von Wallmann zitierten Satz: „Diese Stellung, die Luther in seinen späteren Jahren zu den Juden einnahm, ist allerdings recht geeignet, uns den Unterschied zwischen ihm und den Aposteln zur Anschauung zu bringen und zu zeigen, wie bedenklich es wäre, sich einem solchen Meister unbedingt und ohne Prüfung nach der Schrift hinzugeben, was auch die Lutherische Kirche nie getan hat.“65

Ein besseres Schlusswort kann kaum gefunden werden, denn es zeigt, warum selbst die eifrigsten Lutherfreunde des 19. Jahrhunderts ratlos gegenüber dessen Äußerungen zur Judenfrage standen und im Zweifelsfall lieber darüber schwiegen.

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Hanns Christof Brennecke

Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ in Erweckungsbewegung und Konfessionalismus

I Im neunten Band seiner von 1853–1876 zuerst erschienenen „Geschichte der Juden“1, die immer wieder neu aufgelegt wurde, hatte Heinrich Graetz (1817–1891)2 die Auffassung vertreten, dass die antijüdischen Schriften Luthers das Verhältnis des Protestantismus zu den Juden nachhaltig und bis in die Gegenwart vergiftet hätten: „Wie der Kirchenvater Hieronymus die katholische Welt mit seinem unverhüllt ausgesprochenen Judenhasse angesteckt hat, so vergiftete Luther mit seinem judenfeindlichen Testamente die protestantische Welt auf lange Zeit hinaus. Ja, die protestantischen Kreise wurden fast noch gehässiger gegen die Juden, als die katholischen. Die Stimmführer des Katholizismus verlangten von ihnen lediglich Unterwerfung unter die kanonischen Gesetze, gestatteten ihnen aber unter dieser Bedingung den Aufenthalt in den katholischen Ländern. Luther aber verlangte ihre vollständige Ausweisung. Die Päpste ermahnten öfter, die Synagogen zu schonen; der Stifter der Reformation dagegen drang auf deren Entweihung und Zerstörung. Ihm war es vorbehalten, die Juden auf eine Linie mit den Zigeunern zu stellen. Das kam daher, daß die Päpste auf der Höhe des Lebens standen und in der Weltstadt residierten, wo die Fäden von den Vorgängen der vier Erdteile zusammenliefen. Daher hatten sie kein Auge für kleinliche Verhältnisse und ließen die Juden meistens wegen ihrer Winzigkeit unbeachtet. Luther dagegen, der in einer Krähwinkelstadt lebte und in ein enges Gehäuse eingesponnen war, lieh jedem Klatsch über die Juden ein geneigtes Ohr, beurteilte sie mit dem Maßstabe des Pfahlbürgertums und rechnete ihnen jeden Heller nach, den sie verdienten. Er trug also Schuld daran, daß die protestantischen Fürsten sie quälten und aus ihrem Gebiet verwiesen.“3

Johannes Wallmann dagegen hatte jüngst behauptet, dass diese Schriften im Grunde bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum bekannt gewesen seien4. 1 Graetz, Geschichte. Zur Rezeptionsgeschichte von Luthers Judenschriften vgl. auch die in der Behandlung einzelner Autoren allerdings gelegentlich etwas oberflächliche Untersuchung von Brosseder, Stellung. 2 Zu Heinrich Graetz vgl. Bloch, Biographie; Michael, Vorwort. 3 Graetz, Geschichte 9, 301 f. 4 Wallmann, Nachtrag.

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Hanns Christof Brennecke

Im Jahre 1929 hatte allerdings der als strikter Lutheraner bekannte Ansbacher Pfarrer Hermann Steinlein gegen den nach dem Weltkrieg von völkischer Seite, vor allem in besonderer Schärfe von Mathilde Ludendorff erhobenen Vorwurf, dass der Protestantismus seit Melanchthon die antijüdische Einstellung Luthers unterdrückt, sogar seine Schriften in projüdischer Absicht gefälscht hatte5, gezeigt, dass diese Schriften Luthers, von denen er sich allerdings eindeutig inhaltlich distanziert, durchaus bekannt waren6. Und dies in einer Situation als z. B. der später erste bayerische Landesbischof Hans Meiser sich bekanntlich ganz anders über Juden äußern konnte7. Wie war also die Stellung derer, die sich im 19. Jahrhundert in besonderer Weise auf Luther beriefen und sich eigentlich als seine alleinigen und einzig legitimen Erben ansahen, zu Luthers antijüdischen Schriften? Es geht um das sog. „Neuluthertum“8 und hier soll — schon aus ökonomischen Gründen — etwas im Vordergrund stehen die „Erlanger Theologie“9, die die neue und noch traditionslose bayerischen Landeskirche seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bis an das Ende des Jahrhunderts erstaunlich einheitlich geprägt hat. Sowohl das konfessionelle Luthertum des 19. Jahrhunderts allgemein als auch speziell die „Erlanger Theologie“ sind in letzter Zeit vielfach untersucht und dargestellt worden, allerdings hat die Frage nach der Stellung des Luthertums zu Luthers antijüdischen Schriften dabei nach meinem Eindruck so gut wie keine Rolle gespielt. Wichtig erscheint, dass es das „Neuluthertum“ trotz vieler gemeinsamer Züge nicht gibt10. Für die Frage nach der Rezeption von Luthers Judenschriften ist allerdings wichtig, dass dieses konfessionelle Luthertum aus der Erweckungsbewegung11 kommt, von ihr in hohem Maß geprägt ist. Seine führenden Vertreter zumindest der ersten Generation waren eigentlich alle zunächst durch die Erweckungsbewegung geprägt gewesen. 5 Steinlein, Luthers Stellung. Zu den Angriffen von Mathilde Ludendorff vgl. Brosseder, 170–173, zu Hermann Steinlein, ebd., 226–230. 6 Das spricht gegen Wallmanns These, der im Grunde vom Fehlen dieser Schriften in den Auswahlausgaben der Schriften Luthers, vor allem auch in der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr verbreiteten und für den akademischen Unterricht benutzten Ausgabe von Otto Clemen (seit 1912) ausgeht. In WA 53 waren die antijüdischen Schriften Luthers kurz nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1920 erschienen; vgl. den Beitrag von Volker Leppin in diesem Band. Zuzustimmen ist Wallmann allerdings in seiner Kritik an dem Artikel von Pfeiffer in „Cicero“ April 2014, dass die antijüdischen Schriften Luthers im Luthertum keine positive Rezeption erfahren haben. 7 Vgl. Oelke / Hamm / Schneider-Ludorff, Spielra¨ ume. 8 Kantzenbach, Gestalten; Fischer, Konfessionalismus; Kantzenbach / Mehlhausen, Neuluthertum. 9 Kantzenbach, Die Erlanger Theologie; Hein, Lutherisches Bekenntnis; Beyschlag, Erlanger Theologie; Winter, Erlanger Theologie; Slenczka, Studien; Graf, Erlanger Theologie. 10 Vgl. Kantzenbach / Mehlhausen, Neuluthertum. 11 Vgl. Kantzenbach, Erweckungsbewegung; Greschat, Erweckungsbewegung; Benrath, Erweckung / Erweckungsbewegungen.

Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“

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Ein wichtiges Anliegen der Erweckungsbewegung, auf die hier nicht weiter einzugehen ist, war die Mission. Seit der Jahrhundertwende waren – von England ausgehend – überall in Deutschland Missionsgesellschaften als Vereine gegründet worden12. Das Erbe dieser eigentlich aus dem Pietismus kommenden und in der Erweckungsbewegung dann in ungeheuer vielfältiger Form realisierten Missionsbewegung ist ganz und gar in das entstehende, nun streng konfessionelle Neuluthertum eingegangen und unterscheidet es an dieser Stelle total von der älteren lutherischen Orthodoxie. Bekanntlich war gerade der Gedanke der Mission dem älteren orthodoxen Luthertum vor dem Pietismus völlig fremd gewesen und wurde sogar strikt abgelehnt13. Das Luthertum des 19. Jahrhunderts hat Mission zu seinem Anliegen gemacht – und dazu gehört auch in besonderer Weise die Missionierung der Juden14. In der Hoffnung auf die Missionierung der Juden konnte man sich dann ja durchaus auf Luthers Schriften berufen. Ansonsten zeigt dieses konfessionelle Luthertum schon in Deutschland durchaus große Unterschiede. Diese Unterschiede lassen sich vor allem an den verschiedenen sich lutherisch verstehenden Landeskirchen und den sie prägenden theologischen Fakultäten festmachen: Bayern mit Erlangen, Sachsen mit Leipzig, Mecklenburg mit Rostock sowie das bis 1866 bestehende Königreich Hannover als Zentren des Neuluthertums, wobei allerdings die Göttinger Theologische Fakultät insofern eine Ausnahme ist, als sie diesen Konfessionalisierungsprozess ihrer Landeskirche nicht so eindeutig mitgemacht hat. Außerhalb Deutschlands waren das Baltikum und Skandinavien Schwerpunkte dieses Luthertums, sowie die von deutschen Auswanderern 1847 gegründete Missourisynode, die in enger Verbindung zum deutschen Luthertum und besonders zu Wilhelm Löhe in Neuendettelsau stand15. Personell ist trotz ganz verschiedener Prägungen die Verflechtung zwischen diesen lutherischen Landschaften sehr eng, wie man vor allem an dem dauernden personellen Austausch z. B. zwischen den Theologischen Fakultäten Erlangen, Leipzig und Dorpat sehen kann. Wichtige Vertreter dieses konfessionellen Luthertums wie Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869)16 und der aus einer Münchener jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Jurist Friedrich Julius Stahl (1802–1861)17, der sich als Siebzehnjähriger hatte taufen lassen, waren in der unierten preußischen Kirche tätig, wobei Stahl übrigens

12 Gensichen, Missionsgesellschaften/Missionswerke. 13 Brennecke, Protestantismus und Mission. 14 Steger, Mission. Darin eingegangen ist eine zuerst 1847 erschienene Broschüre des Autors über die Judenmission. Der Autor war Pfarrer an St. Egidien zu Nürnberg. 15 Gassmann, Lutherische Kirchen; Kantzenbach / Mehlhausen, Neuluthertum, 336. 16 Mehlhausen, Hengstenberg; Graf, „Restaurationstheologie“. Zu Hengstenbergs Lutherrezeption vgl. Brosseder, Stellung, 8–50. 17 Link, Stahl; J•hnichen, Stahl; vgl. auch aus einer dem Nationalsozialismus deutlich nahestehenden Sicht Heckel, Einbruch des jüdischen Geistes.

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eine prägende Zeit nach seinem Übertritt zum Christentum in der bayerischen Landeskirche und auch in Erlangen verbracht hatte.

II Noch einige Bemerkungen zum Vorgehen und zur hier notwendigen Auswahl: Geradezu ein Wesenszug des konfessionellen Luthertums des 19. Jahrhunderts scheint der ungeheure literarische Fleiß seiner Vertreter in je sehr vielen literarischen Gattungen zu sein. Außer meist sehr umfangreichen Monographien (die leider meistens über keine Register verfügen) haben die theologischen Vertreter dieses Luthertums eine ungeheure Fülle von Kleinschrifttum, meist Broschüren hinterlassen, was für die enorme Wirkung der neulutherischen Theologie in die Gemeinden hinein sicher wichtig ist. In den großen Werken z. B. der Erlanger Dogmatiker des 19. Jahrhunderts wird man für unsere Frage nicht fündig, weil diese Werke ganz auf die lutherische Bekenntnisbildung konzentriert sind18. Aus diesem Grund konnte hier nur eklektisch vorgegangen werden und keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Die kurzen einleitenden Bemerkungen in der seit 1826 erscheinenden Erlanger Ausgabe der Schriften Luthers betreffen je nur die Überlieferung. Die bekanntlich nicht fertiggestellte Erlanger Ausgabe spielt übrigens gerade bei den Erlanger Theologen eine erstaunlich geringe Rolle; zitiert wird meist nach den älteren vorliegenden Editionen19.

III Von 1828 bis 1832 war eine vierbändige Lutherkonkordanz des Darmstädter Hofpredigers und umtriebigen Herausgebers verschiedener theologischer Blätter, Ernst Zimmermann (1786–1832)20, unter dem Titel: „Geist aus Luther’s Schriften oder Concordanz der Ansichten und Urtheile des großen Reformators über die wichtigsten Gegenstände des Glaubens, der Wissenschaft und des Lebens“21 erschienen, die unter dem Stichwort „Juden“ ausführlich Luthers antijüdische Schriften behandelt22. Ernst Zimmermann wird 18 19 20 21 22

Zu den Lutherbiographien vgl. den Beitrag von Anselm Schubert in diesem Band. Schilling: Lutherausgaben; zur Erlanger Ausgabe ebd., 597. Kuhn, Zimmermann. Darmstadt 1828–1832. Bd. 2,2 (1829), 805–834.

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man allerdings nicht dem konfessionellen Luthertum zuordnen können, sondern eher der Spätaufklärung. Aus nun dezidiert lutherischer Perspektive erschien 1838 von dem Leipziger lutherischen Pfarrer Ludwig Fischer eine aktualisierende Zusammenstellung aus Luthers Judenschriften: „Dr. Martin Luther von den Juden und ihren Lügen. Ein crystallisierter Auszug aus dessen Schriften über der Juden Verblendung, Jammer, Bekehrung und Zukunft. Ein Beitrag zur Charakteristik dieses Volkes“23. Diese Schrift, die übrigens kein Clich¦ auslässt, wird man eigentlich in manchen Passagen durchaus antijüdisch nennen können und sogar auch müssen. Aber die Hauptgegner sind hier gar nicht die Juden, sondern Aufklärung („Rationalismus“), Liberalismus und Säkularisierungsbestrebungen, vor allem aber „Das junge Deutschland“, das als „Rotte der Antichristen“24 bezeichnet wird, und dessen jüdische Parteigänger wie vor allem Heinrich Heine und der französische Religionshistoriker Joseph Salvador (1779–1873)25, dessen dreibändige „Geschichte der mosaischen Institution und des jüdischen Volkes“ 1836 in deutscher Übersetzung erschienen war26, und der das Judentum geradezu als Verkörperung der Ideen der französischen Revolution gesehen hatte. Es geht Fischer — ganz anders als Luther — um einen politischen Kampf gegen jeden Liberalismus in Staat, Kirche, Synagoge oder Theologie27 in der politisch aufgeregten Situation nach der Julirevolution 1830 in Frankreich28. Das „Junge Deutschland“ war im Dezember 1835 vom Bundestag für den Deutschen Bund wegen Gotteslästerung und Immoralität der Schriften dieser Gruppe verboten worden29. Der cantus firmus dieser Schrift ist nicht in erster Linie eine Polemik gegen das Judentum und schon gar nicht eine Wiederholung der Polemik des alternden Martin Luther gegen die Juden, sondern die Angst vor der Revolution! Interessant erscheint dabei, dass für Fischer die liberalen und säkularen Juden, die ihren Glauben verloren haben und so für ihn eigentlich keine Juden mehr sind, hier als die von den einstmals christlichen Vertretern des Liberalismus Verführten angesehen werden: „Die Christen sind in dieser Beziehung die Vorgänger der Juden geworden, und die letztern haben gemeint, sich unter die Fahne der Aufklärung zu begeben, wenn sie dem eilfertigen Unglauben ihrer Vetterschaft im Sturmschritt nachsetzten. Die Synagoge nimmt daher an dem allgemeinen Verderben der Kirche Theil; viele Juden 23 Leipzig 1838. Kollegen Thomas Kaufmann danke ich, dass er mir diese in Erlangen nicht vorhandene Schrift schnell zugänglich gemacht hat. 24 Ebd., 83 Anm. 1: „Im jungen Deutschland hat sich die Rotte des Antichrists centralisirt.“ 25 Zu Heine ebd., 40; 57: Heine als „Spießträger des Antichrists“; zu Salvadors Werk ebd., IXf.; 46. 26 Hamburg 1836. 27 Die Polemik gegen die Aufklärung in der evangelischen Theologie und der Synagoge ist das eigentliche Thema der Schrift. 28 Vgl. Luz, Zwischen Habsburg und Preußen; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 366–377. 29 Nipperdey, ebd., 374.

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haben ebensowenig Ehrfurcht vor dem A.T., wie viele Christen vor dem N.T.; ein jeder folgt in religiöser Hinsicht den hoffärtigen Eingebungen seines eigenen Genius, hält sich nicht mehr an die geoffenbarte und geschichtlich begründete Religion und ignorirt oder negirt beharrlich alle tieferen religiösen Bedürfnisse.“30

Die am Alten Testament und der Offenbarung festhaltenden Juden dagegen stehen dem Verfasser näher als alle Vertreter des Liberalismus, auch wenn sie ursprünglich aus dem Christentum kommen oder sich sogar formal noch Christen nennen. Auf den von Luther in seinen Spätschriften aufgestellten Maßnahmenkatalog gegen die Juden in seiner 1543 erschienenen Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ geht er nur ganz am Rande ein. Dem als zeitgebunden31 entschuldigten Eifer Luthers aber dürfen wir nicht folgen – im Gegenteil! Die bisherige Unterdrückung der Juden wird scharf kritisiert32, Schritte zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden werden positiv gewürdigt33, eine volle Emanzipation aber wird von ihm vor allem als Emanzipation vom Glauben interpretiert und abgelehnt34. Ziel muss für Fischer die Bekehrung der Juden zu Christus sein35. Dazu müssen alle Ungerechtigkeiten gegenüber den Juden aufhören36. Das Ziel der Bekehrung der Juden ist dabei durchaus 30 Fischer, Martin Luther, 67. 31 Ebd., 38 Anm. 2. 32 Ebd., 79 f.: „[…] daher können wir nicht unterlassen, theils die falsche Behandlung zu rügen, welche die Juden von Seiten der Christen erfahren haben, theils das helle Urtheil der heiligen Schrift über das falsche Christenthum, seine Vertreter und Anhänger auszusprechen. Denn in der Verwirrung der Christen ist ebenfalls ein Hauptgrund dafür zu suchen, warum das Loos der Judenschaft in religiöser Hinsicht ein so unglückseliges geblieben und es immer mehr geworden ist. Man hat diesem Volk keine christliche Lehre, kein christliches Leben bewiesen — und was früher die christliche Unduldsamkeit verschuldet, dessen Maas erfüllt jetzt der christliche Indifferentismus.“; vgl. ebd., 80; gegen eine immer wieder diskutierte und geforderte Vertreibung der Juden vgl. ebd., 105; über Verfolgungen und Gerüchte über die Juden ebd., 120. 33 Ebd., 99 f. 34 Ebd., 34: „So viel steht ferner fest, daß die antiken Juden, welche sich noch streng an die talmusischen Satzungen und die übrige Erblehre ihrer Väter halten, nicht allen bürgerlichen Pflichten Genüge leisten können, die modernen Israeliten dagegen keine rechten Juden mehr sind, weil sie sich vom geoffenbarten Wort des A.T. zumeist losgerissen und einer heidnischen Weltweisheit zugewandt haben. Damit haben sie aber, dünkt uns, das verwirkt, was jede religiöse Gemeinschaft für sich in Anspruch nimmt, daß man Achtung vor ihrem Glauben habe, denn ihr neues, selbstgemachtes Judenthum ist Apostasie, sie haben das Wesen in einen Schein verwandelt, der so Manchen schon geblendet hat.“; Ebd., 36: „Es ließen sich im Gegentheil [scil. in Ergänzung zu Dahlmanns Kritik an der Judenemanzipation] noch gar manche Umstände anführen, aus denen erhellen würde, daß die Juden noch nicht reif für die Emancipation und in ihrer jetzigen Verfassung derselben gar nicht bedürftig sind; denn die deutschen modernen Juden haben ja allenthalben Theil an den allgemein menschlichen Rechten, die christlichen Obrigkeiten verhelfen ihnen, wo sich’s nur thun läßt, dazu und lassen’s gewiß nicht geschehen, daß man unter ihren Augen dieselben beeinträchtige.“ 35 Das dritte Kapitel ist überschrieben: „Der Juden Bekehrung“ (95–124). 36 Ebd., 100: „Alles ungerechte und willkürliche Verfahren gegen die Juden muß aufhören; wer sich um das jüdische Volk verdient machen will, muß sich gründlich von dem religiösen Zustande desselben unterrichten, denn jeder Ununterrichtete kann sich nur schlecht um die Seligkeit dieses Volks bekümmern; man muß mit gewissen, positiven Gründen gegen dasselbe

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apokalyptisch, aber betont nicht chiliastisch motiviert37. Als Belege dienen dabei Zitate aus Luthers Judenschriften38. Dieses nicht einmal 150 Seiten umfassende Pamphlet muss erstaunlich weit verbreitet gewesen sein und wird durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch von lutherischen Theologen immer wieder genannt. Im dritten Band der von Adolf (von) Harleß 1838 als Organ des Erlanger Luthertums neugegründeten „Zeitschrift für Protestantismus und Kirche“, der 1839 erschien, ist eine nicht namentlich gekennzeichnete ausführliche redaktionelle Rezension dieser Schrift erschienen, die vermutlich von Harleß selbst verfasst wurde, der als verantwortlicher Redaktor des Bandes erscheint39. Gottlieb Christoph Adolf v. Harleß (1806–79)40, von Tholuck während seines Theologiestudiums in Halle geprägt, muss als Begründer des konfessionellen Luthertums der Erlanger Fakultät angesehen werden und hat später in kirchenleitenden Ämtern auch die Sächsische und dann vor allem die Bayerische Landeskirche in diesem Sinn geprägt. Der Rezensent nimmt die Argumente Fischers weithin positiv auf, mildert aber den Ton gegenüber den Juden ab. Er beruft sich auf Luthers Schrift von 1523, betont Luthers Liebe zu den Juden und behauptet interessanterweise, dass nach Luthers Tod seine Schriften noch im 16. Jahrhundert antijüdisch zugespitzt und so verfälscht worden seien. Dieser Vorwurf findet sich außerdem noch bei Hengstenberg, auch da leider ohne irgendwelche Belege41. Diese Behauptung der Verfälschung von Luthers Schriften in einem dezidiert antijüdischen Sinn erscheint angesichts des strikt entgegengesetzten Vorwurfs von Mathilde Ludendorff ein knappes Jahrhundert später besonders interessant. Im deutlichen Widerspruch zu Luthers antijüdischen Spätschriften lehnt der anonyme Rezensent wie auch Fischer alle Zwangsmaßnahmen gegen Juden ab und betont die Schuld der Christen an den Juden. Eine Emanzipation der Juden allerdings lehnt auch er ab, weil das emanzipierte und dann säkulare Judentum nur eine Spielart des von ihm bekanntlich auch sonst bekämpften „Rationalismus“ und eben kein Judentum mehr sei, sondern – und da wird er noch deutlicher als Fischer – antimonarchische, demokratische und revolutionäre Züge vertrete. Ein orthodoxes Judentum, das noch wirkliches Judentum ist, und bei dem es noch Hoffnung einer Bekehrung zum Christentum gibt, steht übrigens auch ihm dabei of-

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fechten, nicht mit ungewissen Argumenten und Feilsprüchen, sonst werden die Juden nur um so halsstarriger und halten unseren Glauben mit gutem Schein für Menschentraum“. Vgl. das vierte und abschließende Kapitel: „Der Juden Zukunft“ (124–131). Die Zitate aus Luthers Schriften, die z. T. sehr ausführlich sind, werden durch kleineren Druck deutlich vom Text des Verfassers unterschieden. Zeitschrift für Protestantismus und Kirche 3 (1839), 15 f. 37–40. 45–48. St•hlin, Harleß; ders., Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche3 (postum und sehr viel knapper als in der 2. Auflage); Beyschlag, Erlanger Theologie, 33–57; Hein, Harleß. S. u. Anm. 68.

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fensichtlich deutlich näher als selbst christliche Vertreter eines „Rationalismus“. Diese Rezension, die ihren Autor als kompromisslosen Vertreter auch der politischen repressiven Politik des Deutschen Bundes nach der Juli-Revolution in Frankreich zeigt, scheint schon die wesentlichen Elemente der Stellung des konfessionellen Luthertums zu den Juden allgemein und besonders auch zu Luthers Judenschriften zu enthalten: 1. Eine Hoch- bzw. Überschätzung von Luthers Schrift von 1523 „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ als dem eigentlichen Zeugnis seiner Sicht des Judentums. 2. Eine deutliche Distanz zu Luthers späten antijüdischen Schriften, die aber apologetisch entschuldigt werden. 3. Betonung der Schuld des Christentums, gerade auch des Protestantismus gegenüber den Juden. 4. Ablehnung eines emanzipierten und wohlmöglich säkularisierten Judentums als Spielart des auch sonst strikt abgelehnten „Rationalismus“ bzw. Liberalismus. Diese Rezension ist übrigens die einzige Erwähnung des Themas „Luther und die Juden“ bis zum Ende der „Zeitschrift für Protestantismus und Kirche“ im Jahr 187642 ; auch im Nachfolgeorgan, „Neue kirchliche Zeitschrift“, die seit 1890 erschien, wird das Thema „Luther und die Juden“ bis zur Wende zum 20. Jahrhundert nicht behandelt43. Ähnlich wie die „Zeitschrift für Protestantismus und Kirche“ muss die „Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ ebenfalls als Organ der Erlanger Theologie angesehen werden, auch wenn die erste Auflage 1854–1868 von Johann Jakob Herzog (1805–1882), dem Inhaber des Lehrstuhls für reformierte Theologie, herausgegeben wurde44. Die zweite Auflage erschien in den Jahren 1877–88 herausgegeben von Herzog und dem Erlanger Lutheraner Gustav Leopold Plitt (1836–1880)45 ; nach dem Tod von Plitt und Herzog führte Albert Hauck (1845–1918) das Werk zu Ende, der dann in Leipzig auch die dritte Auflage (1896–1913) herausgab46. Die von dem Hallenser Kirchenhistoriker Julius Köstlin (1826–1902) verfassten Artikel über Martin Luther in der ersten und zweiten Auflage thematisieren seine Judenschriften nicht und können hier außen vor bleiben47.

42 Mit Ausnahme zweier Artikel zur Judenmission von Franz Delitzsch aus den Jahren 1859 und 1869 – zu Delitzsch s. u. 43 Die „Neue kirchliche Zeitschrift“ erschien unter diesem Namen bis 1933 und wurde dann unter dem programmatischen Titel „Luthertum“ fortgesetzt, bis sie 1944 ihr Erscheinen einstellen musste. 44 Sieffert, Herzog. 45 Brennecke, Luthertum und Nationalismus (zu Plitt vgl. 240–245). 46 Nowak, Hauck. 47 Zu Köstlin als Biograph Luthers vgl. den Beitrag von Anselm Schubert in diesem Band.

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In der ersten Auflage gab es kein Lemma „Juden“ oder „Israel“, sondern der entsprechende Artikel war „Volk Gottes“ überschrieben48, was offenbar durchaus programmatisch gedacht war. Im alttestamentlichen Teil49 betont der Verfasser Gustav Friedrich Oehler (1812–1872), Alttestamentler in Tübingen und strikter Vertreter des konfessionellen Luthertums50, ganz stark die bleibende Erwählung Israels und des Bundes, dem die Heiden „eingepfropft“ worden sind51. Juden und Heiden bilden gemeinsam die neue Heilsgemeinde. Auch das Israel „nach dem Fleisch“ ist nicht aus der Verheißung ausgeschlossen52. Den nachbiblischen Teil hatte der württembergische lutherische Pfarrer Wilhelm Pressel53 verfasst, der die Schuld der Christen an den Verfolgungen in überaus scharfen Worten geißelt und das Verhältnis zu den Juden als Schande der Evangelischen Kirche bezeichnet: „Die Wirkungen jenes Sieges [scil. der Reformation] traten indessen, wie es nicht anders seyn konnte, nur allmählich, nur unter fortgesetzten Versuchen der Finsterniß, das Licht wieder zu trüben und zu verdunkeln, hervor, und diese Versuche entsprangen nicht bloß dem Schooße der alten Kirche: Scholasticismus und Fanatismus erhoben auch in der evangelischen Kirche vielfach ihr Haupt, und die Juden hatten solche unevangelische Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit gleichfalls noch zu erfahren. Das Licht des Evangeliums war wieder ausgegangen in die Welt, und die Welt empfand die Macht dieses Lichtes; aber dass es einging in die Welt, hineinleuchtete in Herz und Verstand, in die ganze Anschauung und das Leben des Volkes, und dass der neue Most auch seine neuen Schläuche sich schuf: – das konnte nicht das Werk eines Zeitalters, nicht die fertige Frucht auch jener außerordentlichen Periode seyn, welche den Sieg des Evangeliums entschieden hatte. Es kann uns darum in Wahrheit gar nicht befremden daß auch die Stellung der Juden in der Christenheit während der ersten zwei Jahrhunderte nach der Reformation noch keine freundliche Erscheinung darbietet. […] Es verhält sich damit ganz ähnlich, wie mit dem Hexenwesen. Beide – Judenthum und Hexenwesen erscheinen während der ersten zwei Jahrhunderte nach der Reformation, trotz alle Dem, dass allerdings die katholische Kirche weit schwerer noch gegen sie verfuhr, doch als eine wahre Schmach der evangelischen Christenheit, als eine große Demüthigung wider allen eitlen Selbstruhm, als ein zweifach augenscheinliches Zeugniß, wie viele Ursachen wir haben, nicht rückwärts, sondern vorwärts zu schreiten“54.

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Bd. 17 (1863), 245–385. Ebd., 245–305. Knapp, Oehler. Ebd., 302. Ebd. Ebd., 305–385. Wilhelm Pressel, von dem eine große Anzahl vor allem alttestamentlicher Artikel in der ersten und zweiten Auflage der Realencyclopädie stammen, war Pfarrer in Lustnau und offenbar ein Schüler Oehlers; Brosseder, Stellung, 78 f. 54 Ebd., 364.

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Als guter Lutheraner will er Martin Luther, dessen antijüdische Schriften er strikt ablehnt, von seiner heftigen Kritik ausnehmen55. Entscheidend ist für Luthers Stellung zu den Juden seine Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ von 1523, die späteren antijüdischen Schriften, die Wilhelm Pressel offenbar peinlich sind, seien, so entschuldigt er den alten Luther, eben dem Zeitgeist geschuldet56. In der zweiten Auflage57 hat er 1880 diese Formulierungen weitgehend wörtlich wiederholt. Interessant ist nun die Behandlung des Lemmas „Mission unter den Juden“ in der ersten Auflage von J. August Hausmeister58. Auch er betont vor allem Luthers Schrift von 1523 und verweist auf Ludwig Fischers Auswahl der antijüdischen Schriften Luthers, die er ebenfalls ablehnt: „Sie wurden von einseitigen, blinden Verehrern Luthers zuweilen fälschlich verstanden und angewandt“59.

IV An den Artikeln der „Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ ist erkennbar, welche Rolle die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wichtig gewordene Judenmission bei der Beurteilung Luthers und seiner Judenschriften im Luthertum gespielt hat. Im deutschen Protestantismus waren seit Beginn des Jahrhunderts fast überall und zunächst noch völlig konfessionsübergreifend Vereine zur Missionierung der Juden gegründet worden60, z. B. 1822 in Berlin noch vor dem 1824 gegründeten Verein für die Heidenmission, der späteren Berliner Missionsgesellschaft. Im Bereich der bayerischen Landeskirche wurde auch in Nürnberg z. B. ein solcher Verein gegründet. In mancher Hinsicht kann man die konfessionsübergreifenden Bestrebungen zur Judenmission im europäischen Protestantismus als Antwort auf die Emanzipationsbemühungen der Juden seit Beginn des 19. Jahrhunderts ansehen. Aus der pietistischen Tradition spielen aber auch eschatologische, apokalyptische, manchmal auch chiliastische Motive eine Rolle. 55 Ebd., 365. 56 Ebd., 365. 57 In der zweiten Auflage erschien derselbe Artikel von Öhler und Pressel (allerdings gegenüber der ersten Auflage nicht unwesentlich gekürzt, nun unter dem Titel: „Israel, Geschichte des Volkes in biblischer Zeit“ von Oehler und „Israel, nachbiblische Geschichte“ von Pressel. 58 Ebd., 9 (1858), 635–650. 59 Ebd., 635. In der zweiten und dritten Auflage ist dieser Artikel — mit ganz ähnlicher Tendenz — von dem reformierten Baseler Theologen Karl Friedrich Heman (einem Schüler von Herzog in Erlangen) verfasst worden; Brosseder, Stellung, 78 f. 60 Vgl. dazu die in der vorigen Anmerkung genannten zeitgenössischen Artikel, die ausführliche Literaturangaben bieten; Steger, Mission; und vor allem das Schrifttum von Franz Delitzsch (s. u.). Die umfassendste Darstellung bietet am Ende des 19. Jahrhunderts de le Roi, Evangelische Christenheit; vgl. auch Aring, Judenmission.

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Ein wichtiger Propagator der Judenmission in Berlin war Friedrich August Gottreu Tholuck (1799–1877)61, der bis zu seiner Berufung nach Halle 1826 vor allem publizistisch für die Berliner Judenmission tätig war62. Bei Tholuck, der damals allerdings noch sehr jung war, fehlt eine wirkliche theologische Reflexion. Gottes Bund mit Israel bleibt für ihn aber auch durch Gottes gegenwärtiges Strafhandeln an den Juden – so versteht er die gegenwärtige Existenz der Juden – bestehen63. Zum Jahresfest des Berliner Missionsvereins 1836 hat er über Joh 4, 22: „Das Heil kommt von den Juden“ gepredigt64. Luthers Judenschriften scheinen für ihn keine besondere Rolle gespielt zu haben65. Sicher kann man Tholuck nicht dem konfessionellen Luthertum zurechnen, im Grunde blieb er der Gedankenwelt der Erweckungsbewegung verhaftet. Aber viele Vertreter des konfessionellen Luthertums waren von ihm auch ganz persönlich geprägt worden. Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869)66, durch die Berliner Erweckungsbewegung hindurchgegangen und ein Vertreter eines strikten lutherischen Konfessionalismus, war nach Tholucks Berufung nach Halle ihm in der Arbeit in der Berliner Judenmission gefolgt67. Von ihm erschien 1859 in der zweiten Auflage ein schmaler Band mit zwei Aufsätzen: „Die Opfer der heiligen Schrift. Die Juden und die christliche Kirche“68. Hengstenberg versucht ebenfalls, Luthers antijüdische Schriften etwas herunterzuspielen und will „zeigen, wie bedenklich es wäre sich einem solchen Meister (Luther) unbedingt und ohne Prüfung nach der Schrift hinzugeben, was auch die lutherische Kirche nie getan hat“69. Gelegentlich sei Luthers Autorität in dieser Frage überschätzt worden, sein einseitiger Standpunkt bedarf der Ergänzung. In diesem Zusammenhang behauptet Hengstenberg auch, dass in Luthers Schriften nach seinem Tod Zeugnisse über das Heil der Juden getilgt worden seien70. Im Ganzen aber, so sein Fazit hat in der lutherischen Kirche in dieser Frage das Wort Gottes über Luthers Autorität (glücklicherweise) gesiegt71. Bei Hengstenberg ist deutlich, dass und wie das Urteil über Luthers antijüdische Schriften vom Gedanken der Mission an den Juden geprägt ist. Interessanterweise sind durch die Judenmission im Kontext sowohl der Erweckungsbewegung als auch des daraus erwachsenen konfessionellen Lu61 62 63 64 65 66 67 68

Zu Tholuck vgl. Wenz, Erweckte Theologie. Maser, Freund Israels. Ebd., 153–151. Ebd., 123. 153. Sie werden jedenfalls bei Maser nicht erwähnt. S. o. Anm. 16. Maser, Freund Israels, 120. Ein Vortrag mit nur dem Titel „Die Opfer der heiligen Schrift“, der 1852 erschienen war, gilt als erste Auflage. Der zweite Teil über die Juden und die christliche Kirche erschien dann nur in der zweiten Auflage von 1859. 69 Ebd., 57. 70 Ebd., 61. 71 Ebd.

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thertums einige Juden getauft worden, die dann besonders strikte Vertreter dieses konfessionellen Luthertums geworden sind, wie der in Berlin dann ganz eng mit Hengstenberg verbundene Jurist Friedrich Julius Stahl72, der Alttestamentler und Patristiker Carl Paul Caspari (1814–1892)73, der sich in Leipzig 1838, in dem Jahr, in dem ebenfalls in Leipzig Fischers Zusammenstellung aus Luthers antijüdischen Schriften erschienen war, hatte taufen lassen, sich dann streng an Hengstenberg orientierte und dann 1847 einen Ruf nach Christiana (heute Oslo) annahm, nachdem er einen Ruf nach Königsberg abgelehnt hatte, weil ihm eine Tätigkeit innerhalb der Union undenkbar erschien74 oder Friedrich Adolf Philippi (1805–1882)75, der ebenfalls eng mit Stahl und Hengstenberg verbunden war. Tholuck erwähnt einmal, dass um 1835 in der Berliner Theologischen Fakultät vier als Erwachsene getaufte Juden lehrten76. Der Nürnberger Pfarrer an St. Egidien und Vorsitzende des dortigen Vereins für Judenmission, Benedict Stefan Steger, hatte 1847 eine Schrift zur Judenmission veröffentlicht, die schon 1857 als Anhang zu einem Buch über die evangelische Missionsbewegung in dritter Auflage erschien77. Auch Steger sieht die jüdische Emanzipation eher kritisch, aber betont die große Schuld der Christen an den Juden über nun 1800 Jahre. Mission ist Pflicht der Nächstenliebe78. Ihr Ziel ist das eine auserwählte Volk Gottes aus Juden und Heiden. Der Verfasser argumentiert hier übrigens ganz von Röm 9–11 her79. Die Mission an den Juden, so fordert er, müsse ein deutlich konfessionelles lutherisches Profil haben. Deshalb ist Luthers Schrift von 1523 vorbildhaft80 ; über die antijüdischen Schriften des alten Luther sagt er dagegen nichts. Ganz interessant ist, wie er das (am Ende bekanntlich gescheiterte) englisch-preußische Bistum Jerusalem, dessen erster Bischof ja ein ehemaliger Rabbiner war, in diesem Konzept der Judenmission verortet81. Als der eigentliche Vater des konfessionellen Luthertums in Bayern gilt Wilhelm Löhe (1808–1872), über den in Bayern ganze Bibliotheken geschrieben wurden und werden, über dessen in mancher Hinsicht nicht unproblematisches theologisches Profil hier aber nichts weiter zu sagen ist82. Löhe ist in Fürth, in einer Stadt, in der durch ihre besondere politische Situation bedingt in vorbayerischer Zeit viele Juden lebten, geboren und 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Vgl. o. Anm. 17. Brennecke, Patristik (zu Caspari vgl. 71–74). Ebd., 72. Ebd., 74–76. Maser, Freund Israels, 148 f. In einer (allerdings anonymen) Rezension von Steger, Mission; vgl. auch de le Roi, Evangelische Christenheit II, 188–209 eine Zusammenstellung von getauften Juden, die später evangelische Theologen geworden sind. Steger, Mission . Ebd., 3. Ebd., 3. 8–11. Ebd., 12 f. Ebd., 61–81. Zu Löhe vgl. Schumann, Löhe; Schlichting, Löhe; Geiger, Löhe; Blaufuss, Wilhelm.

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aufgewachsen. In biographischen Notizen erwähnt er immer wieder dieses jüdische Umfeld. Und er ist durchaus auch durch antijüdische Vorurteile und Clich¦s geprägt. Aber durch diese biographische Situation ist Löhe, bei dem der Übergang von der Erweckungsbewegung zum Neuluthertum auch biographisch besonders deutlich ist, an der Judenmission interessiert. Der Neuendettelsauer Alttestamentler Martin Wittenberg (1911–2001) hat in einer kleinen Schrift „Wilhelm Löhe und die Juden“83 aus dem Jahr 1954 Löhes vielfältige Beziehungen zu Bestrebungen der Mission unter den Juden in Bayern aufgezeigt, direkte Beziehungen zu dem Nürnberger Pfarrer Steger sind offenbar nicht belegt, aber doch sehr wahrscheinlich, da Steger und Löhe zeitweise offenbar sogar gleichzeitig an St. Egidien in Nürnberg tätig waren84. Stärker als bei anderen wird bei Löhe aber eine eschatologische Motivation zur Judenmission deutlich, was offenbar gerade auch im bayerischen Luthertum als Chiliasmus verdächtigt und heftig kritisiert worden war. 1836 hat er einen jüdischen Jungen getauft. Der gesamte Gottesdienst ist samt der von Löhe dazu entworfenen Liturgie überliefert85. Im Beichtgebet heißt es: „Wir haben gesündigt an deiner heiligen Kirche und an denen, die draußen sind, an Israel“86. Diskussionen gab es aber um das von ihm benutzte Karfreitagsgebet mit der Formulierung „pro perfidis Iudaeis“87. Der Neuendettelsauer Vicarius Ferdinand Wilhelm Weber, später der Nachfolger Löhes dort, hatte 1861 eine Art Bekehrungsroman „Hermann der Prämonstratenser oder die Juden und die Kirche des Mittelalters“88 veröffentlicht, zu dem Löhe ein Vorwort beisteuerte, dem er Röm 11,25–32 voranstellte. Löhe verteidigt hier die Judenmission vor allem gegen den Vorwurf, chiliastisch motiviert zu sein. Bei einer Ansprache an die Brüder in Neuendettelsau „In Sachen Judenmission“ im Jahre 186289, die übrigens auch typische antijüdische Vorurteile enthält und die Juden als Fremdlinge bezeichnet, mit denen man möglichst keine Gemeinschaft haben sollte, heißt es aber : „Ich will nicht sagen, ihr sollt mit den Juden im gemeinen Leben nicht verkehren, nicht handeln. Viel weniger möchte ich euch die Maßregeln unserer Väter gegen und für die Juden angreifen. Kennenlernen sollt ihr diese Maßregeln, und es wird Sorge getragen werden, dass euch eine alte Schrift, in welcher sie enthalten sind, zur Kenntnisnahme und Prüfung mitgeteilt werde. […] Die Mischung von Temperatur des Ernstes bei der Liebe, wie sie sich in solchen Schriften unserer Väter findet, ist 83 Wittenberg, Löhe und die Juden. 84 Ebd., 27 ff. Löhe war 1834/35 ein Dreivierteljahr als Pfarrverweser in St. Egidien in Nürnberg; vgl. Schlichting, Löhe, 410. 85 Lçhe, Gesammelte Werke IV, 236–246. 86 Ebd., 239. 87 Wittenberg, Löhe und die Juden, 36. 54. 88 Nördlingen 1861; abgedruckt in: Lçhe, Gesammelte Werke IV, 246–250. 89 Lçhe, Gesammelte Werke IV, 250–256.

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durch der Zeiten Art und Verhältnisse wohl zu entschuldigen, aber nicht zu rechtfertigen; sie ist zu herb und streng“90.

Zu vermuten ist, dass es sich hier um eine Anspielung auf Luthers antijüdische Schriften handelt, auch wenn Luther nicht ausdrücklich genannt wird. Der Plural „Väter“ soll hier offenbar entlasten; so erscheint Luther eben als einer unter mehreren oder gar vielen – und ist umso leichter zu entschuldigen. Einen direkten Bezug auf Luthers Judenschriften habe ich bei Löhe allerdings nicht gefunden. Der für unsere Fragestellung nach meinem Eindruck wichtigste Vertreter der Erlanger Theologie ist Franz Delitzsch (1813–1890), der als betont konfessionell lutherischer Alttestamentler in Leipzig, Rostock, Erlangen (1850–1867) und dann wieder in Leipzig, also den Hochburgen des konfessionellen Luthertums, nicht nur ein unermüdlicher Propagator der Judenmission war, sondern auf diesem Wege auch zum eigentlichen Begründer der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums geworden ist und kompromisslos dann vor allem seit den siebziger und achtziger Jahren jede Form von Antisemitismus bekämpft hat91. Auf die ungeheure und etwas unübersichtliche Menge seiner Schriften ist hier nicht weiter einzugehen. Für die Judenmission92, in der er schon als ganz junger Student aktiv war – die Bekehrung seines lebenslangen Freundes Caspari, die 1838 zu dessen Taufe in Leipzig geführt hatte, war durch ihn angestoßen worden – hat er unendlich viele Aufsätze und Broschüren verfasst. Die Ablehnung des Christentums durch die Juden in ihrer übergroßen Mehrheit ist für ihn im Verhalten der Christen gegenüber den Juden seit 1800 Jahren begründet93. Immer wieder kritisiert er die antijüdische Einstellung vieler Christen sowie antijüdische Maßnahmen von Staat und Kirche und vor allem auch die über Juden verbreiteten Gerüchte. Dem Protestantismus und hier gerade auch dem Luthertum wirft Delitzsch vor, den Judenhass noch geschürt zu haben. Direkte Bezüge zu Luthers Schriften sind gar nicht so häufig, vor allem hat er Luthers Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ von 1523 wie eigentlich alle Vertreter des konfessionellen Luthertums hochgeschätzt und häufig positiv erwähnt. Über sie heißt es dann allerdings in einem offenbar mehrfach veröffentlichten Aufsatz: „Der große Reformator selber hatte die Wirkung dieser vom Geiste der Liebe eingegebenen Schrift durch andere im Geiste Eliae geschriebene wieder aufgehoben“94. Delitzsch geht mit keinem Wort konkret auf diese „anderen, im Geiste Eliae geschriebenen“ Schriften des Wittenberger Reformators ein. Dass er diese Schriften Luthers kennt, dürfte außer Zweifel stehen. Obwohl Delitzsch keine der in 90 91 92 93 94

Ebd., 255. Wagner, Franz Delitzsch; Brosseder, Stellung, 51 f. (völlig unzureichend!). Kìttler, Judenmission. Delitzsch, Missionsvorträge. Ebd., 9.

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Frage kommenden Schriften Luthers auch nur nennt, finde ich, die Kritik an diesen „anderen“ Schriften könnte kaum härter ausfallen. „Im Geiste Eliae“ bezieht sich hier natürlich auf die 1Kön 18 berichtete Abschlachtung der Baalspriester durch Elia. Diese Szene dürfte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ganz abgesehen von der damals noch verbreiteten Bibelkenntnis, durch Felix Mendelssohn-Bartholdys 1846 in Birmingham uraufgeführtes und schnell auch in Deutschland ungeheuer populär gewordenes Oratorium „Elias“ zusätzlich einem Bildungsbürgertum präsent gewesen sein. Wenn ich richtig sehe, ist das eigentlich die schärfste Kritik an Luthers antijüdischen Schriften, die mir im Zusammenhang meiner Suche nach der Wirkung dieser Schriften im konfessionellen Luthertum des 19. Jahrhunderts in Deutschland begegnet ist, und das, ohne eine der Schriften ausdrücklich zu nennen in nur einem Halbsatz! Die großen dogmatischen Werke der Erlanger Theologen thematisieren die Frage nach Luthers Stellung zu den Juden nicht und können das von ihrem theologischen Ansatz her eigentlich auch nicht. In der zweibändigen Darstellung der Theologie Luthers von Theodosius Harnack (1817–1889)95 spielt die Stellung des Reformators zu den Juden keine Rolle, wohl weil es sich dabei für Harnack nicht um eine theologische Frage handelt. Da Harnack sehr ausführlich Luthers Sicht des Zornes Gottes96 behandelt, könnte man an dieser Stelle einen Hinweis auf die Juden als unter dem Zorn Gottes stehend erwarten, aber auch hier thematisiert er Luthers Stellung zu den Juden nicht. Für Johann Christian Konrad v. Hofmann (1810–1877)97 haben die Juden ihren festen Plan im Heilswerk Gottes, wie sehr deutlich aus seinem allerdings nicht so schön zu lesenden Hauptwerk „Der Schriftbeweis“98 oder aus dem schon zu Beginn der vierziger Jahre erschienenen zweibändigen Werk „Weissagung und Erfüllung“99 deutlich wird. Ziel der Geschichte ist die eine Gemeinde Gottes aus Juden und Heiden. Dass es die Juden heute noch gibt, so wie es sie gibt, ist für Hofmann eine Verheißung auf die Zukunft. In diesem heilsgeschichtlichen Konzept ist eigentlich kein Platz für antijüdische Aussagen, auch nicht, wenn sie von Luther kommen. Auch die beiden Erlanger Kirchenhistoriker Gustav Leopold Plitt100 und Theodor Kolde101 distanzieren sich in ihren Darstellungen von Luthers Leben von dessen antijüdischen Schriften102. Der jung verstorbene Gustav Leopold 95 Harnack, Luthers Theologie. Die Neuausgabe von Schmidt und Grether enthält ausführliche Register. Zu Theodosius Harnack vgl. Drehsen, Kirchentheologie. 96 Harnack, Luthers Theologie I, 253–472. 97 Zu v. Hofmann vgl. Behr, Politischer Liberalismus. 98 Hofmann, Schriftbeweis. 99 Hofmann, Weissagung und Erfüllung. 100 Brennecke, Luthertum und Nationalismus; Brosseder, Stellung, 52–55. 101 Brennecke, Ebd., 246–252; Brosseder, Stellung, 67. 102 Vgl. dazu den Beitrag von Anselm Schubert in diesem Band.

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Plitt hat übrigens auch in Bayern den Verein für die Judenmission geleitet, stand in dieser Hinsicht also Delitzsch ganz nahe. Auch bei Theodor Kolde ist eine überdeutliche Distanz, ja Ablehnung der antijüdischen Schriften Luthers zu finden. Als Schüler von Hermann Reuter (1817–1889), in vieler Hinsicht wohl einer der innovativsten und interessantesten Kirchenhistoriker im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts103, wird man Theodor Kolde trotz der mehr als dreißig Jahre, die er in Erlangen gewirkt hat, nicht mehr wirklich dem konfessionellen Luthertum zuordnen können. Für das konfessionelle Luthertum, das sich etwa im Laufe der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, wobei schon das Reformationsjubiläum 1817 und vor allem das Jubiläum der Confessio Augustana im Jahre 1830 für die Herausbildung eines neuen konfessionellen lutherischen Bewusstseins wichtig waren104, aus der zunächst ja überkonfessionellen Erweckungsbewegung herauskristallisiert hatte und in der neuen und noch völlig traditionslosen bayerischen Landeskirche105 und der sie prägenden Erlanger theologischen Fakultät106 bei allen inhaltlichen und noch viel mehr persönlichen Vernetzungen mit anderen neulutherischen Landschaften ein durchaus eigenes Profil gewonnen hatte, kann man mit aller Vorsicht vielleicht eine erste Bilanz ziehen: 1. Die z. T. überaus scharfen antijüdischen Schriften Luthers aus den dreißiger und vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts mit einer eindeutigen Forderung der totalen Entrechtung und Unterdrückung der Juden waren im konfessionellen Luthertum durchaus bekannt und offensichtlich vor allem durch die aktualisierende Zusammenstellung des Leipziger Pfarrers Ludwig Fischer auch präsent. Hier ist Wallmann wohl zu korrigieren. 2. Durch den aus der Erweckungsbewegung kommenden Gedanken der Mission und eben auch der Judenmission, die für das konfessionelle Luthertum auch theologisch wichtig war, wurde vor allem Luthers Schrift von 1523 „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ wichtig, die immer wieder als Vorbild zitiert wird. 3. Die antijüdischen Schriften werden ziemlich einhellig abgelehnt, wobei der Grad der Distanzierung oder Ablehnung durchaus unterschiedlich sein kann. Als besonders interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht zu betonen, dass Hengstenberg betont, dass auch Martin Luther immer an der Schrift geprüft werden muss und hier durch die Schrift selbst widerlegt worden sei. Delitzsch’s Parallelisierung der Schriften Luthers mit der Ausrottung der Baalspriester nach 1Kön 18 muss wohl als die schärfste Distan-

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Vgl. Mìhlenberg, Göttinger Kirchenhistoriker. Kantzenbach / Mehlhausen, Neuluthertum. Bçttcher, Entstehung; Keller, Spätaufklärung. Vgl. die o. in Anm. 9 angegebene Literatur.

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zierung von Luther durch einen Vertreter des konfessionellen Luthertums angesehen werden. 4. Ein Problem für das konfessionelle Luthertum war, die Ablehnung dieser Schriften mit der Verehrung und Hochschätzung ihres Reformators Martin Luther zu vereinen, dessen Name ihre Kirche trug. Hier kann man verschiedene apologetische Strategien zu einer möglichen Entlastung Luthers beobachten (am wenigsten bei Delitzsch). In diesem Zusammenhang erscheint auch die Behauptung von der Verfälschung von Luthers Schriften besonders interessant, vor allem auch weil sie bei Mathilde Ludendorff nun andersherum wieder auftaucht und jedes Mal Philipp Melanchthon als der Verfälscher der Schriften Luthers erscheint. 5. Eine wirklich positive Rezeption dieser antijüdischen Schriften Martin Luthers ist im konfessionellen deutschen Luthertum des 19. Jahrhunderts von seinen führenden Vertretern jedenfalls nicht vertreten worden107. Zumindest für das sich ja in besonderer Weise auf Luther berufende Luthertum des 19. Jahrhunderts stimmt damit die anfangs zitierte Behauptung von Heinrich Graetz von der anhaltend vergiftenden Wirkung der antijüdischen Schriften Luthers so jedenfalls nicht.

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Christian Wiese

Gegenläufige Wirkungsgeschichten: Jüdische und antisemitische Lutherlektüren im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik Im Jahre 1883 löste Emil G. Hirsch, Rabbiner der Reformgemeinde Sinai in Chicago und eine der prägenden Gestalten des modernen, sozial engagierten liberalen amerikanischen Judentums Ende des 19. Jahrhunderts, in der amerikanisch-jüdischen Öffentlichkeit einen handfesten Skandal aus1. Hirsch war – ein in Deutschland unvorstellbarer Vorgang – als Rabbiner die Ehre zuteil geworden, in der Chicagoer Central Music Hall die Festrede anlässlich des Gedenkens an Luthers 400. Geburtstag zu halten – ein Zeichen für die guten Beziehungen zwischen der Reformgemeinde und den deutschen Lutheranern in der Stadt. Zwei Tage später entwarf er auch in einer Predigt vor seiner Gemeinde ein ungewöhnlich positives Bild des Reformators, pries seine Bibelübersetzung als „Eckstein der modernen deutschen Literatur“, als „überragendes, ewiges Monument des deutschen Geistes“, und rief dazu auf, sich bei der Modernisierung der jüdischen Religion am Vorbild Luthers zu orientieren2. Der unmittelbare Auslöser der folgenden Kontroverse mag zunächst gewesen sein, dass Hirsch einen seiner jüdischen Gegner, den Gründer des Hebrew Union College in Cincinnati, Isaac Meyer Wise, polemisch mit dem Ablassprediger Johannes Tetzel verglich und sich damit selbst implizit als eine Art jüdischer Luther stilisierte. Die Diskussion verlagerte sich jedoch rasch darauf, dass Hirsch die historische Figur Luthers stark idealisiert, seine Rolle im Bauernkrieg verteidigt, vor allem aber die Bedeutung der späten antijüdischen Schriften des Reformators heruntergespielt hatte. Der Sturz des „einstigen Freundes der Juden […] von der Höhe der Toleranz in das Tal des Fanatismus“ war aus Hirschs Sicht im Wesentlichen auf Luthers Enttäuschung darüber zurückzuführen, dass die Juden seiner Zeit hartnäckig an ihrer jüdischen Identität festhielten, obwohl das Evangelium dank der Reformation von allen Verdunkelungen befreit und neu in seiner Reinheit offenbar war. Man dürfe jedoch die zeitbedingte Judenfeindschaft des alten Luther nicht überbewerten, sondern müsse vor allem die Größe und Originalität des Ur1 Emil G. Hirsch, Sohn des 1866 nach Amerika ausgewanderten Rabbiners und Religionsphilosophen Samuel Hirsch, war seit 1880 Rabbiner in Chicago und wurde 1892 Professor für rabbinische Studien an der Universität Chicago; als Vertreter einer radikalen Reform des Judentums im Sinne der ethischen Lehren der Propheten wurde er zu einer zentralen Gestalt der klassischen amerikanischen Reformbewegung. Zu Hirsch und der Sinai-Gemeinde in Chicago vgl. Brinkmann, Sundays at Sinai. 2 Vgl. den Bericht im Chicago Occident vom 26. 10. 1883.

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hebers der Reformation würdigen, ohne den die Moderne mit ihren auch für die soziale Stellung der Juden grundlegenden Veränderungen nicht denkbar gewesen sei3. Diese auf den ersten Blick erstaunlich positive Einschätzung, mit der Hirsch jedoch Tendenzen der jüdischen Lutherrezeption auch in Deutschland aufgriff, blieb nicht unwidersprochen. Vor allem der Schriftsteller und Sozialpolitiker Felix Adler, Professor für politische und soziale Ethik an der Columbia University und Gründer der Society for Ethical Culture4, wandte sich in einer Rede in New York scharf gegen Hirschs Lutherdeutung und hob stattdessen die Schattenseiten des Reformators hervor: „Glauben Sie mir, Martin Luther ist aus meiner Sicht nicht das Ideal eines Mannes. Er war ein engstirniger, selbstgerechter Mensch, ganz erfüllt von den Vorurteilen seiner Zeit. Er konnte sich niemals von dem Glauben an einen persönlichen Teufel befreien. Das gute Werk bedeutete ihm nichts, der blinde Glaube alles. Er verdammte die Juden, die doch ohnehin schon verfolgt wurden, und hetzte die Völker gegen sie auf. Auch trat er nicht nur für die Sklaverei der Bauern ein, sondern bemühte sich sogar, sie als göttliche Ordnung zu rechtfertigen.“5

Die konträren Positionen Hirschs und Adlers lassen erkennen, dass bei der Frage nach der jüdischen Wahrnehmung der Gestalt und Wirkung Martin Luthers im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mit einheitlichen, sondern – je nach zeitgeschichtlichem und kulturellem Kontext – mit einander widersprechenden Deutungen zu rechnen ist. Nach diesen Interpretationen und ihren Motiven zu fragen, ist angesichts der historisch so belasteten und umstrittenen Thematik des Verhältnisses Luthers und des Luthertums gegenüber Juden und Judentum in besonderer Weise bedeutsam. Eine Interpretation dieses wenig bekannten Diskurses bietet die Möglichkeit, die weiterhin kontrovers geführten Debatten über die Ursachen und die Wirkungsgeschichte der Juden- und Judentumsfeindschaft Luthers durch die Einbeziehung der Stimmen jüdischer Intellektueller des 19. und 20. Jahrhunderts aus einer anderen Perspektive zu betrachten und auf diese Weise lutherische Rede vom Judentum von ihrer Wirkung her kritisch zu erhellen6. Hinter diesem Ansatz steht zudem die Überzeugung, dass im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs ein Perspektiv- und Paradigmenwechsel unerlässlich ist, der Juden und Judentum nicht nur als Objekt christlicher Fremdwahrnehmung, sondern auf Grund jüdischer Quellen und Interpretationen als Subjekte und Akteure mit eigener Definitionsmacht in den Blick 3 4 5 6

Vgl. Chicago Occident vom 26. 10. 1883. Vgl. Kraut, Reform Judaism. Chicago Occident vom 26. 10.1883. Zum Thema „Luther und die Juden“ vgl. u. a. Kremers, Die Juden und Martin Luther ; OstenSacken, Martin Luther und die Juden; Kaufmann, Luthers „Judenschriften“; Kaufmann, Luthers Juden; zur Wirkungsgeschichte der Judenfeindschaft Luthers vgl. Wiese, „Unheilsspuren“, 91–135.

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nimmt. Viel zu lange hat sich kirchenhistorische Forschung – auch zum Thema „Luther und die Juden“ – einseitig an der Haltung der christlichen Gemeinschaft orientiert, an der Frage nach ihren Bildern von Juden und Judentum und nach ihrer theologischen Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum, nach ihren praktisch-politischen Optionen im Umgang mit der jüdischen Minderheit – mit der Folge, dass jüdische Lebenswirklichkeit und die religiös-kulturelle Tradition des Judentums ausgeblendet blieben7. Gerade die Kommunikation zwischen Kirchengeschichte, jüdischer Historiographie und interdisziplinärer Antisemitismusforschung ist dadurch nicht unerheblich beeinträchtigt worden. Die Chance, dieses Gespräch zu eröffnen, ist angesichts der Vielzahl jüdischer Quellen gerade mit Blick auf Martin Luther besonders groß. Dabei ist jüdisches Interesse am Reformator, sieht man von der unmittelbaren Zeit seines Wirkens ab, in der es innerhalb des zeitgenössischen Judentums gleichermaßen zu teilweise geradezu messianischen Hoffnungen auf eine fundamentale Veränderung des Verhältnisses von Judentum und Christentum und zu einer tiefen Desillusionierung angesichts der immer erkennbarer juden- und judentumsfeindlichen Theologie Luthers kam8, im wesentlichen ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Mehr als aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass eine der maßgeblichen Studien zur Lutherrezeption seit der Aufklärung, Heinrich Bornkamms Studie Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, nicht einmal andeutend auf eine jüdische Lutherdeutung hinweist, während sie – mit dem expliziten Anspruch, die Abwandlungen des Lutherbildes auch „über die Grenzen der Konfessionen hinweg zu verfolgen“ – katholische Stimmen durchaus mit einbezieht9. Man wird nicht fehlgreifen, darin mindestens eine Blindheit gegenüber der jüdischen Partizipation an der deutschen Geistesgeschichte, wenn nicht sogar das wissenschaftliche Echo auf ihre tatsächliche historische Missachtung im 19. und 20. Jahrhundert – ein Verschweigen der jüdischen Stimme – zu vermuten. Der vorliegende Essay kann nicht beanspruchen, einen umfassenden Überblick über die vielstimmige jüdische Lutherrezeption zu geben, deren Anfänge im Deutschland des 19. Jahrhundert liegen, ihre kulturellen und politischen Motive aufzuzeigen und nach ihrer spezifisch jüdischen Prägung im Unterschied zur nichtjüdischen Lutherdeutung der Zeit zu fragen10. We7 Vgl. dazu mit Blick auf die Erforschung des Verhältnisses von Juden und Christen in der Reformationszeit Siegele-Wenschkewitz, Josel von Rosheim, 3–16. 8 Vgl. etwa Cohen, Luther, 195–204; Ben-Sasson, Jewish-Christian Disputation, 369–390; BenSasson, The Reformation, 239–326; Schreiner, Jüdische Reaktionen, 150–165. Als neuere Interpretationen der jüdischen Reaktion auf die Reformation vgl. u. a. Carlebach, Jewish Responses, 451–480 9 Bornkamm, Luther, 5. 10 Vgl. dazu umfassender Wiese, Überwinder des Mittelalters; Wiese, ,Auch uns sei sein Andenken heilig‘, 214–259; Teile des vorliegenden Essays sind diesen beiden Aufsätzen entnommen; vgl. auch Wallmann, The Reception of Luther’s Writings, 72–97; Wendebourg, Jüdi-

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sentliche Aspekte der beiden dominierenden, einander widerstreitenden Strömungen der jüdischen Lutherdeutung seit der Aufklärung, die in der Kontroverse zwischen Emil G. Hirsch und Felix Adler zur Sprache kommen, werden anhand der unterschiedlichen Perspektiven Hermann Cohens und Leo Baecks zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht jedoch die Frage, in welcher Weise sich jüdische Intellektuelle Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Luthers „Judenschriften“ von 1523 und 1543 auseinandersetzten, ob und wie sich die im Kontext der aufkommenden völkisch-antisemitischen Bewegung seit den 1880er Jahren geführten gesellschaftlichen Debatten über die jüdische Gleichberechtigung und Integration auf die jüdischen Deutungen auswirkten und wie letztere sich zu antisemitischen Deutungen innerhalb wie außerhalb der protestantischen Kirche verhielten. Die zentrale These lautet, dass in den jüdischen Quellen dieser Zeit beides zur Sprache kommt: unüberhörbare historische Kritik an der verhängnisvollen Wirkungsgeschichte der judenund judentumsfeindlichen Elemente der Theologie Luthers und ein entschiedener, leidenschaftlich-beschwörender Versuch, die im Zuge der Entwicklung des modernen Antisemitismus seit den 1870er Jahren immer unverhohlenere Inanspruchnahme Luthers als eines Kronzeugen für politische Konzepte von Diskriminierung und Entrechtung der jüdischen Minorität in Deutschland durch ein eigenes, widerständiges Narrativ zu bannen. Indem jüdische Historiker, Theologen und Philosophen Luther vielfach als symbolische Verkörperung einer Tradition von Toleranz und Emanzipation deuteten, formulierten sie in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen antijüdischen Diskurs eine intellektuell herausfordernde Gegengeschichte, die allerdings vom zeitgenössischen Protestantismus fast vollständig ignoriert wurde und daher tragischer Weise wirkungslos blieb.

1. Zwischen Idealisierung und Kritik: Hermann Cohen und Leo Baeck Seit dem frühen 19. Jahrhundert bewegten sich die jüdischen Lutherinterpretationen zwischen zwei Polen: der Kritik am Reformator als dem Ahnherr politischer Unfreiheit, Dienstbeflissenheit und spiritueller Verarmung in Deutschland, wie sie Ludwig Börne 1830 in unübertrefflicher satirischer Schärfe in seinen Briefen aus Paris formulierte, und Heinrich Heines – ebenfalls nicht unkritische – Symbolisierung Luthers als des Schöpfers der Geistesfreiheit und Vorläufers der Aufklärung, die er 1834 in seinem Essay Zur sches Luthergedenken, 195–213; Wendebourg, ,Gesegnet sei das Andenken Luthers!‘, 235–251.

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Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland zur Sprache brachte11. Es war diese von der Perspektive der Aufklärung und des deutschen Idealismus geprägte Wahrnehmung Luthers als des mutigen Streiters für Vernunft und Freiheit des Gewissens, die auf die Mehrzahl der jüdischen Intellektuellen besondere Anziehungskraft ausübte. Je stärker sie sich im Zuge des komplexen, langwierigen Prozesses der Emanzipation und Akkulturation im 19. Jahrhundert mit der deutschen Kultur identifizierten, desto stärker faszinierte der Gedanke, die nationale Symbolfigur des deutschen Protestantismus als Bahnbrecher aufklärerischer Toleranz und der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden in Anspruch nehmen zu können. So sah etwa Leopold Zunz, einer der Gründer und bedeutendsten Vertreter der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert, Luther als Überwinder des Mittelalters, der seiner Zeit weit voraus war und dessen Erkenntnisse in der Gegenwart überhaupt erst eingeholt werden müssten12. Der Philosoph Salomon Ludwig Steinheim, der in seinem Werk Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge den Versuch einer philosophischen Rechtfertigung des Judentums als dem Christentum überlegene Offenbarung vorlegte, formulierte diese Überzeugung 1863 exemplarisch in hymnischer Sprache: „Ehre dem Helden des sechzehnten Jahrhunderts, dem großen, herrlichen Deutschen, der das Panier der Denkfreiheit in der höchsten und reinsten Region des menschlichen Denkens, des Denkens von und über Gott, aus dem Seelenkerker der Inquisition mit starkem Arme befreit, und es der Menschheit zu Ehren, wieder hoch auf der Warte des Geistes entfaltet hat! Gesegnet sei das Andenken Luthers trotz allem und allem, was er in Wort und That geirrt und gefehlt haben mag! Auch uns sei sein Andenken heilig!“13

Von der Interpretation Luthers als des Heros des deutschen Nationalcharakters, der sich spätestens während des Kaiserreichs – in Anknüpfung an Ernst Moritz Arndt und Herders Volksgeistgedanken – zu einem maßgeblichen Faktor der nationalen deutschen Geschichtsschreibung entwickelte, waren die jüdischen Deutungen hingegen weit entfernt. Im Gegenteil, dieser Neigung, Luthers Gestalt und Werk aus der Verkörperung des deutschen Wesens heraus zu erklären, die zur Substanz unzähliger wissenschaftlicher und populärer Lutherdarstellungen wurde, wohnte vielfach eine exklusive, implizit oder explizit antijüdische Tendenz inne, die dazu führte, dass jüdische und nichtjüdische Lutherlektüren sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkennbar auseinanderentwickelten. Nicht umsonst war es der in den Berliner Antisemitismusstreit 1880/81 verstrickte Historiker Heinrich von Treitschke14, der 11 Vgl. Bçrne, Briefe aus Paris; Heine, Zur Geschichte, 44–165; zu ihrer konträren Deutung vgl. Wiese, ,Auch uns sei sein Andenken heilig‘, 219–230. 12 Vgl. Zunz, Die synagogale Poesie, 334. 13 Steinheim, Die Offenbarung, 246. 14 Vgl. Treitschke, Unsere Aussichten, 7–14; zum Kontext vgl. etwa Meyer, Great Debate on Antisemitism.

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1883 in seinem Essay „Luther und die deutsche Nation“ eine solche exklusive Inanspruchnahme Luthers – gegen Katholizismus, Franzosen und implizit wohl auch gegen nichtassimilierte Juden – programmatisch formulierte: „Ein Ausländer mag wohl ratlos fragen, wie nur so wunderbare Gegensätze in einer Seele zusammenliegen mochten: diese Gewalt zermalmenden Zornes und diese Innigkeit frommen Glaubens, so hohe Weisheit und so kindliche Einfalt, so viel tiefsinnige Mystik und so viel Lebenslust, so ungeschlachte Grobheit und so zarte Herzensgüte […] Wir Deutschen finden in alledem kein Rätsel, wir sagen einfach: Das ist Blut von unserem Blute. Aus den tiefen Augen dieses urwüchsigen deutschen Bauernsohnes blitzte der alte Heldenmut der Germanen, der die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen sucht durch die Macht des sittlichen Willens.“15

Die hier zum Ausdruck kommende Sprache des nationalen Selbstruhms hat schließlich das Denken der deutschen protestantischen Theologie im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Zeit zutiefst geprägt und damit eine Tradition geschaffen, an der jüdisches Denken kaum mehr teilhaben konnte. Die jüdische Lutherrezeption setzte stattdessen kräftige Gegenakzente gegen eine solche nationalistisch-exklusive Deutung, und zwar auf zweifache – sehr unterschiedliche – Weise, die sich am Beispiel des Philosophen Hermann Cohen und des Rabbiners und Gelehrten Leo Baeck illustrieren lässt. Der mit namhaften Vertretern des liberalen Kulturprotestantismus – wie Martin Rade und Wilhelm Herrmann – befreundete Marburger Neukantianer Cohen16, in dessen Geschichtsbild Reformation und Protestantismus nicht nur ein Element des geistig-sozialen Fortschritts Europas, sondern zugleich ein Bindeglied zwischen jüdischer Überlieferung und deutscher Kultur darstellten, legte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wohl positivste Lutherdeutung aus der Feder eines jüdischen Gelehrten vor17. Die Affinität Cohens zum Kulturprotestantismus seiner Zeit ist bekannt – der Historiker David N. Myers hat mit Blick auf seine Deutung des Judentums pointiert sogar von einem „jüdischen Kulturprotestantismus“ oder von einer Gestalt „protestantischen Judentums“ gesprochen, in dessen philosophischem Pantheon Luther eine herausragende Stellung eingenommen habe18. Cohens Interpretation des geistigen Beitrags Luthers beruhte auf seiner Überzeugung, der Protestantismus sei eine fortschrittliche Kraft, die im Grunde als Bundesgenossin des Judentums gelten könne. In seinem Aufsatz „Ein Bekenntnis in der Juden15 Treitschke, Luther und die deutsche Nation, 484. 16 Aus der zahlreichen Literatur zu Cohen als bedeutender Gestalt deutsch-jüdischer Geistesgeschichte und zu seiner Beziehung zum Protestantismus vgl. v. a. Dietrich, Cohen and Troeltsch; Kluback, Friendship without Communication, 317–338; Dietrich, The Idea of Humanity ; Moses / Wiedebach, Hermann Cohen’s Philosophy ; Holzhey, Religion der Vernunft. 17 Vgl. Geis, Hermann Cohen, 136–151; Saarinen, Wandlungen des Lutherbildes, 27–43. 18 Myers, Hermann Cohen, 195–214, insbes. 198 f. Derrida bezeichnete Cohen als „Judeo-Protestant“; vgl. Derrida, Interpretation at War, 39–95, Zitat 54.

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frage“ (1880), der sich gegen Heinrich von Treitschkes politische Interventionen im Kontext des Berliner Antisemitismusstreits richtete, rechtfertigte Cohen auf der Suche nach einer Versöhnung der jüdischen und der deutschprotestantischen Kultur die Forderung nach gleichberechtigter Integration der deutschen Juden damit, dass diese sich „in ihren religiösen Bewegungen der protestantischen Art religiöser Kultur auf das unverkennbarste angeschlossen“19 hätten – „in allen geistigen Fragen der Religion denken und fühlen wir im protestantischen Geist“20. Von Luther sprach er dabei mit höchster Verehrung und nannte ihn auf Grund der „religiösen Befreiung“, die er ins Werk gesetzt habe, „Martin Luther gesegneten Angedenkens“ – eine Formulierung, mit der fromme Juden von ihrem rabbinischen Lehrer zu reden pflegen21. Die Juden in Deutschland forderte Cohen zum Respekt vor Luther auf, ohne dessen befreienden Geist weder die politische Emanzipation noch die religiöse Blüte des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert möglich gewesen wären, und vertrat die These, die religiöse Entwicklung eines modernen, liberalen, der zukünftigen gesellschaftlichen Befreiung der Menschheit verpflichteten Judentums liege „in der geschichtlichen Tendenz des deutschen Protestantismus“22. Die weiteren Grundzüge seiner Lutherdeutung entfaltete Cohen später in seiner Ethik des reinen Willens (1904), in seiner 1915 entstandenen Kriegsschrift Deutschtum und Judentum und in einem Essay mit dem Titel „Zu Martin Luthers Gedächtnis“, den er 1917 in den Neuen Jüdischen Monatsheften veröffentlichte – „als deutscher Jude“, wie er schrieb, „der, als Bekenner des Judentums, sich der Pietät bewußt ist, die ihn auch für seine Religion, nicht nur für seine Kultur, mit dem Deutschtum verknüpft“. Zu den „gewaltigsten Schöpfern des Deutschtums“ gehörte Cohen zufolge insbesondere Martin Luther, „der die providentielle Richtung des deutschen Geistes in diejenigen Bahnen gelenkt“ habe, „welche die späteren Klassiker zum Ziele des deutschen Humanismus geführt haben“23. Der Reformator wird hier zum Symbol der geistigen Überwindung des Mittelalters, das historisch recht naiv als „finsteres Zeitalter“ der Unfreiheit firmiert24, während von Luthers Ideen, etwa dem Gedanken des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, die „Freiheit des sittlichen Denkens und Gewissens“ ausgegangen sei25. Lob erfährt auch der „politische Geist“ Luthers, der die geistige Kultur von der Herrschaft der Kirche befreit und der weltlichen Obrigkeit anvertraut habe; die Kehrseite des lutherischen Obrigkeitsdenkens wird hingegen nicht erwähnt, im Gegenteil –

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Cohen, Ein Bekenntnis in der Judenfrage, 79. Ebd., 93. Ebd. Ebd., 78. Cohen, Zu Martin Luthers Gedächtnis, 45–49, Zitate 46. Cohen, Ein Bekenntnis in der Judenfrage, 93. Vgl. dazu kritisch Geis, Hermann Cohen, 140 f. Cohen, Schriften zur Philosophie, Bd. 1, 547.

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die „protestantische Staatsidee“ findet höchste Zustimmung26. Von großer Bedeutung war für Cohen auch Luthers Bibelübersetzung, mit der dieser den „jüdischen Geist“ in der abendländischen Kultur wirksam und die Hebräische Bibel „zum Lebensbaum“ gemacht habe „für alles moderne Geistesleben, zur Wurzel, aus der alle Kräfte der neueren Völker entsprossen und genährt worden sind“27. Aus Luthers Wertschätzung des „Alten Testaments“ schloss Cohen, der Reformator habe die wichtigsten Glaubenswahrheiten weniger aus den Evangelien oder von Paulus, sondern aus den Psalmen und Propheten gewonnen, und erblickte darin den Anknüpfungspunkt für eine gemeinsame religiöse Grundlage des deutschen Nationalstaats, als deren gleichberechtigte Träger Juden und Christen gelten müssten28. Theologisch ging er von einer tiefen Verwandtschaft zwischen Luthers Glauben an den gnädigen Gott und dem jüdischen Glauben an Gott als Versöhner und Erlöser des Menschen aus und deutete – ein Widerhall der Schule Albrecht Ritschls – die Rechtfertigungslehre im Sinne einer Befreiung zur selbstverantwortlichen Sittlichkeit, die aus seiner Sicht auch das Wesen jüdischer Ethik ausmachte29. Natürlich war sich der Philosoph über die tiefgreifenden Glaubensunterschiede zwischen Judentum und Christentum, die er in anderen Zusammenhängen durchaus polemisch zur Geltung bringen konnte30, vollkommen im Klaren, doch er setzte seine Hoffnung letztlich auf eine allmähliche Annäherung des modernen Kulturprotestantismus an die Prinzipien des jüdischen „sittlichen Monotheismus“31. Dass zahlreiche Züge der historischen Gestalt Luthers und der Reformation seiner idealisierten liberalen Interpretation widersprachen, war Cohen bewusst. Er begegnete dieser Schwierigkeit jedoch mit einer methodologischen Überlegung, mit der er auch sonst seine Auffassung religionsgeschichtlicher Erscheinungen, etwa das Postulat einer jüdischen Vernunft- und Sittlichkeitsreligion, zu verteidigen pflegte: Nicht das Leben in Wittenberg während des 16. Jahrhunderts, nicht alle Gedanken und Handlungen Luthers, der Kind seiner Zeit war, seien entscheidend, sondern die „Idee“ der Reformation, der Antrieb, den diese der Entwicklung des deutschen Denkens gegeben habe. Mit Hilfe einer solchen symbolischen Abstraktion war es Cohen möglich, Luther und die Reformation als wichtiges Element der geistigen Entwicklung von der biblisch-prophetischen Tradition über Plato, Maimonides, Luther und Kant bis zu seiner neukantianischen Interpretation des Judentums in Anspruch zu nehmen, die ihm als Garantin der Relevanz des Judentums für den „deutschen Geist“ erschien32. Darin wird ein Charakteristikum eines einflussreichen 26 27 28 29 30 31 32

Cohen, Ethik des reinen Willens, 307. Cohen, Zu Martin Luthers Gedächtnis, 46. Vgl. Cohen, Der Jude in der christlichen Kultur, 193–209, bes. 209. Vgl. Cohen, Zu Martin Luthers Gedächtnis, 46 f. Vgl. Cohen, Die Bedeutung des Judentums, 563–577. Cohen, Deutschtum und Judentum, 237–291, insbes. 256. Vgl. Liebeschìtz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig, 23 ff. Umgekehrt konnte Cohen

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Strangs der deutsch-jüdischen Lutherrezeption vor dem Ersten Weltkrieg überhaupt sichtbar : Die geistige Befreiung, die von einem idealisierten Luther und der Reformation auszugehen schien, war aus der Sicht vieler Interpreten die Voraussetzung für eine Vollendung von Emanzipation und kultureller Integration kraft einer Synthese des deutschen und jüdischen „Wesens“. Das Ziel dieser Konstruktion, das Cohen selbst treffend definierte, wenn er davon sprach, es gehe darum, das „Schreckgespenst“ zu bannen, „als ob [der Jude] ein Fremdling wäre in der christlichen Kultur und gar in der deutschen protestantischen“33, wäre allerdings nur dann realistisch gewesen, wenn ihr von deutsch-protestantischer Seite aus eine Antwort im Sinne der Anerkennung des Judentums als eines Teils der deutschen Kultur entsprochen hätte. Ganz anders als Cohens idealisierende Interpretation Luthers akzentuierte Leo Baeck, der seit der Jahrhundertwende als bedeutende jüdische Stimme in den heftigen Kontroversen der Wissenschaft des Judentums mit dem liberalen Protestantismus über das „Wesen“ des Judentums und des Christentums in Erscheinung getreten war und es unternommen hatte, die Fortexistenz des Judentums als einer religiös wie ethisch relevanten kulturellen Kraft der Moderne intellektuell zu begründen34. Die Grundlage für die selbstbewusste Behauptung, das Judentum sei nicht bloß legitimer Teil der westlichen Kultur, sondern die „Religion der Zukunft“, legte Baeck 1905 in seinem Buch über Das Wesen des Judentums. Dabei handelte es sich um eine glänzende Apologie der jüdischen Religion, die der jüdisch-christlichen Debatte gerade deshalb neue Eindringlichkeit verlieh, weil sie – als Reaktion auf Adolf von Harnacks berühmte Vorlesungen über das Wesen des Christentums – den kulturhegemonialen Ansprüchen des liberalen Protestantismus und der religionsgeschichtlichen Herabwürdigung des antiken (und implizit auch des verschwiegenen zeitgenössischen) Judentums mit dem Postulat der religiösen und ethischen Überlegenheit der jüdischen Tradition begegnete. Das „Wesen“ des Judentums, begründet im „ethischen Monotheismus“ der biblischen Propheten, erscheint bei Baeck – im Gegensatz zum verbreiteten protestantischen Vorurteil – nicht als partikulare „Gesetzesreligion“, sondern als zukunftsweisender, zutiefst universaler Glaube, in dem Religion und Humanität unauflöslich miteinander verbunden seien35. Zentrale Aspekte des Baeck’schen Verständnisses des jüdisch-christlichen Verhältnisses, die sein gesamtes diesen idealisierten Protestantismus in die jüdische Tradition zurückprojizieren, wenn er etwa Maimonides und dessen rationalistische Philosophie zum „Wahrzeichen des Protestantismus im mittelalterlichen Judentum“ bezeichnete und so die Tendenz der Reformation bereits in der mittelalterlichen jüdischen Philosophie verankerte; vgl. Cohen, Deutschtum und Judentum, 244. 33 Cohen, Der Jude in der christlichen Kultur, 209. 34 Vgl. dazu Wiese, Ein unerhörtes Gesprächsangebot, 147–171. Als Gesamtinterpretation des historischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums. 35 Baeck, Das Wesen des Judentums, insbes. 1–58.

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späteres Werk durchziehen und in der Unterscheidung zwischen dem Judentum als dogmenloser „klassischer“ Religion der ethischen Hingabe an den einen Gott und dem Christentum als der „romantischen“, durch die Einflüsse der griechischen Philosophie verdunkelten Religion des trinitarisch-christologischen Dogmas gipfeln, sind hier erstmals systematisch entfaltet36. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass bei Baeck, wie in der liberalen Strömung der Wissenschaft des Judentums überhaupt, die Prophetie mit ihrer universalen, sozial geprägten Botschaft, die auch die protestantische Bibelforschung zur normativen Mitte der Hebräischen Bibel und zur Grundlage der Botschaft Jesu erhoben hatte, zum Kern einer Neuinterpretation jüdisch-liberaler Identität wurde. Indem er das Judentum in seinem Wesen als Religion des „ethischen Monotheismus“ definierte, des Glaubens an den einen Gott und an seinen Anspruch auf die menschliche Verwirklichung seines heiligen Willens, wandte Baeck die protestantische Bibelkritik kritisch gegen das Christentum selbst und erhob das Judentum als Schöpfer und wichtigsten Träger der biblischen Wahrheit zum Maßstab für die Treue der christlichen Religion gegenüber der Lehre ihres Stifters, des pharisäischen Juden Jesus. Im Zusammenhang mit der Kennzeichnung des Judentums als einer der Prophetie verpflichteten Religion der Tat begegnen erste polemische Äußerungen mit Blick auf die lutherische Reformation: Zwar habe diese in ihrer Kritik des Priestertums eine „Rückkehr zu der alten Anschauung des Judentums“ vollzogen37, mit dem Akzent auf dem „Wort“ und dem lehrhaften Bekenntnis aber zugleich eine gefährliche „Anlehnung an die staatliche Gewalt“ als Garantin der „Rechtgläubigkeit“ gesucht38 und zudem das wortreiche Bekennen an Stelle des ethischen Handelns gesetzt39. In der starken ethischen 36 Als kritische Analyse von Baecks Auseinandersetzung mit dem Christentum vgl. u. a. Friedl•nder, Leo Baeck, 107–142; Merk, Judentum und Christentum, 513–528; Martyn, Einleitung, 33–54. 37 Baeck, Das Wesen des Judentums, 32. Vgl. die Kritik Abraham Geigers, der Luther ebenfalls als äußerst zwiespältige Gestalt beschrieb, der zwar das Priestertum aller Gläubigen betont und zur Geistesfreiheit beigetragen habe, dessen Rechtfertigungslehre aber kaum Anknüpfungspunkte für ein Gespräch biete: „Zu der Höhe des hebräischen Prophetismus vermochte er sich nicht zu erheben; jene selige, innere Befriedigung in dem thatkräftigen reinen Willen, verbunden mit der Erkenntnis des alleinigen Gottes […] kamen in ihm nicht zur Klarheit. Er verharrte auf dem alten kirchlichen Standpunkte“ (Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte, Bd. 3, 140 f.); zu Geigers Deutung des Christentums vgl. Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. 38 Vgl. Baeck, Das Wesen des Judentums, 34: „Im protestantischen Staat und im staatlichen Protestantismus ist viel von dem rein religiösen Charakter verloren gegangen, ohne den die Religion ihre unerläßliche Selbständigkeit und ihr unangreifbares Daseinsrecht einbüßt. Religion kann Sache des Volkes sein, aber sie darf nie Sache des Staates werden, wenn anders sie in Wahrheit Religion heißen will.“ 39 Vgl. die polemische Passage ebd., 35: In der lutherischen Kirche finde sich „nicht selten eine Wortreligion, die Herrschaft der gottesfürchtigen Redensart, die sich bald in schwulstreicher Deklamation mit dem eigenen Salbungstonfall […] kund tut, bald in virtuoser Fähigkeit, hinter klingenden Ausdrücken die unbestimmten und unbestimmbaren Gedanken verstecken. Und zu

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Orientierung des zeitgenössischen Kulturprotestantismus erblickte Baeck hingegen eine Luther und der Reformation zutiefst widersprechende Tendenz, in der er eine offenkundige, von protestantischen Theologen uneingestandene Affinität von liberalem Judentum und liberalem Protestantismus erkannte. Diese Behauptung ermöglichte die These, der Kulturprotestantismus sei im Begriff, in der Konzentration auf die Ethik und in der kritischen Revision des dogmatischen Bekenntnisses gleichsam eine „Umkehr zum Judentum“ zu vollziehen. Diese Denkfigur, die Baeck erstmals 1909 in einem Aufsatz entfaltete, beruhte auf seiner Beobachtung, in den gegenwärtigen liberalen Tendenzen innerhalb des Protestantismus – der Orientierung an Jesus anstatt an Paulus, einem Vorgang, der genauso gut mit der Parole „Fort vom christlichen Dogma, zurück zur Lehre des Judentums!“ umschrieben werden könne – seien in der Gotteslehre, in der Ethik wie in der Kritik der Christologie wesentliche Annäherungen an das Judentum greifbar. Dies sei jedoch zugleich die tiefere Ursache dafür, dass die Repräsentanten der liberalen Theologie die religiöse Bedeutung des Judentums beharrlich totschwiegen, denn: „Man spricht nicht gern von dem Weg, den man zurückgehen soll.“ Den eigentlichen Kern der „Umkehr zum Judentum“ erblickte Baeck in der ganz und gar „unlutherischen“ Ethisierung der Religion. Trotz aller Entgegensetzung von Rechtfertigungslehre und jüdischer „Gesetzlichkeit“ habe der Kulturprotestantismus in Wirklichkeit den Akzent auf das aus dem freien Willen entspringende ethische Handeln des Menschen verlagert40. Das war zweifellos ein polemisches Argument, das darauf zielte, unter Hinweis auf die Verdunkelung der Wahrheit der ursprünglichen jüdischen, pharisäischen Lehre Jesu durch das Christentum die historische Priorität, wenn nicht bleibende Überlegenheit des Judentums zu erweisen. In ihrer reifen Gestalt begegnet Baecks Lutherkritik sodann in seinen Essays über „Romantische Religion“ (1922) sowie „Das Judentum in der Kirche“ (1925), in denen der Reformator mit seinem sola fide – im Gefolge des Paulus sowie der augustinischen Sünden- und Gnadenlehre – als Exponent einer amoralischen, „romantischen“ Religion erscheint, die den Menschen zum – mit Schleiermacher gesprochen – „schlechthinnig abhängigen“, passiven, sentimentalen und auf das eigene Seelenheil fixierten Geschöpf der göttlichen Gnade reduziere41. Das Judentum erscheint hingegen als Verkörperung des der Kunstfertigkeit der stets bereiten Glaubenssprache tritt leicht die Selbstgerechtigkeit der Habenden. In der religiösen Tat liegt ein Ideal, das man nie völlig verwirklicht haben kann, aber das Wort und zumal das Bekenntnis kann man bald meinen ganz zu besitzen. Die Wortkünstler der Frömmigkeit werden rasch zu versicherten Erbpächtern der Religion“. 40 Baeck, Die Umkehr zum Judentum, 1–5, Zitate 1 f. und 4. 41 Baeck, Romantische Religion, 59–120, insbes. 61 und 88. Die Konstruktion der Ahnenreihe Paulus – Augustinus – Luther begegnet im 19. Jahrhundert bereits bei Samuel Hirsch, aus dessen Sicht Jesus die höchste Verkörperung des Judentums darstellte, während Paulus dessen Lehren mit der „heidnischen“ Vorstellung der Erbsünde infiziert habe. In dieser Tradition stehend, sei Luther in den Bann des Paulinismus geraten, habe die Reformation unwirksam gemacht und

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Typus der „klassischen“ Religion, die den Menschen als Subjekt seines eigenen sittlichen Handelns versteht und in die Verantwortung für die Gerechtigkeit der Welt stellt. Während Baeck den Calvinismus, der ihm biographisch aus seiner Geburtsstadt Lissa vertraut war, auf Grund seines stärkeren Willens zur ethischen Weltgestaltung und seiner Betonung der Hebräischen Bibel zum Zeugen der fortdauernden Bedeutung des jüdischen Erbes in der modernen Welt erhob42, erblickte er die „unjüdische Art der Religion Luthers“ darin, dass sie infolge ihres radikalen Paulinismus ethisches Handeln zum bloßen Appendix des Glaubens mache und stattdessen den Staat zum „Gebieter und Meister über die Sittlichkeit“ erhebe43. In seinem Vortrag „Heimgegangene des Krieges“, den er 1918 an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin hielt, beleuchtete Baeck die Kehrseite der lutherischen „Zwei-ReicheLehre“, die seiner Überzeugung zufolge Gottes allmächtiger Herrschaft über alles Seiende widersprach, sozialen wie politischen Stillstand zur Folge hatte und die enge Verquickung von Kirche und Staat bedingte, wie er sie vor 1918 in Preußen erlebt hatte. Offenbar war Baeck zudem von Ernst Troeltsch beeinflusst, dessen Werke ein Reservoir moderner politischer Lutherkritik bildeten und den Reformator – im Gefolge von Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack und Wilhelm Dilthey – als Januskopf zeichneten: Luther war demnach einerseits ein bewundernswertes religiöses Genie, aber auch ein mittelalterlicher Mensch, dem Zwang und Intoleranz selbstverständlich waren. Troeltschs Deutung war für Baeck vor allem deshalb äußerst plausibel, weil er das national-heroische Bild Luthers untergrub, indem er ihn nicht nur einer weltindifferenten Ethik zieh, sondern zudem die These vertrat, er sei für die deutsche politische Geschichte zum Verhängnis geworden, indem er durch sein konservativ-patriarchalisches Denken das Übergewicht von Obrigkeit und Staat begründet sowie die politische Passivität des deutschen Volkes zur Folge gehabt habe44. Ähnlich formulierte Baeck unter Hinweis auf das allzu enge Bündnis von Thron und Altar herausfordernd, der „alles bevormundende Polizeistaat“ sei „in gerader Linie aus dem Luthertum hervorgegangen“. Die von der Revolution von 1918 erschütterte „preußische Religion“ war demnach von einem mit der christlichen Weltanschauung verbundenen „starren Autoritäts- und Untertanenbegriff“ den Protestantismus in eine ständige Krise gestürzt; die wahre Reformation erkennt Hirsch in der „Negation des paulinischen Christenthums“ und der Erkenntnis, es sei „das eigentliche Wesen des Menschen, sich mit Gott zu versöhnen und diese Versöhnung selbst, d. h. als sein Eigenthum, zu vollbringen“. Es scheint, als habe Hirsch eine Verwirklichung dieser „wahren Reformation“ erst in der Aufklärung gesehen; vgl. Hirsch, Die Religionsphilosophie der Juden, 786–832, bes. 786–791, Zitate 786. Kritik am „Paulinismus“ Luthers begegnet auch bei Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 9, 172. 42 Vgl. Baeck, Judentum in der Kirche, in: ders., Aus drei Jahrtausenden, 130–147, insbes. 143 f. 43 Ebd., insbesondere 141–143, Zitate 143. 44 Zu Troeltschs Bild Luthers und der Reformation vgl. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus; Bornkamm, Luther, 71 f. und 272–281.

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gekennzeichnet, während das Ethische allein der Sphäre des Privaten überlassen blieb. Baecks Hoffnung richtete sich darauf, dass nach dem Krieg und der Revolution Luthers im Grunde „unprotestantische“ Haltung, die das Luthertum weit vom Judentum entfernt habe („So jüdisch Luther begonnen hatte, so fernab von allem Jüdischen hatte ihn sein weiterer Weg geführt“), durch das dem Judentum weit nähere calvinistische Element, vor allem aber durch die endgültige Durchsetzung des mit dem „jüdischen Geiste“ innig verwandten „Geist(es) der Aufklärung“ überwunden würde, mit der Folge, dass in Deutschland eine neue, der jüdischen Gemeinschaft und dem Gespräch zwischen Judentum und Christentum zuträglichere Kultur wachsen könne45. Eine kritische Bewertung des vielfach sehr schematischen Luther- und Luthertumsbildes Baecks, das als Element der Verteidigung des Judentums gegen das Konzept einer dominierenden, exklusiv protestantischen deutschen Kultur zu verstehen ist, ist gewiss ebenso notwendig wie eine kritische Lektüre der philosophisch-symbolischen Deutung Cohens46. Baecks Arbeiten sind jedoch gerade dort interessant, wo sie einen entschiedenen Kontrapunkt setzen und eine gegenüber der idealisierenden Tendenz eines Teils der jüdischen Rezeption Luthers im 19. Jahrhundert eigenständige, kritische, theologisch-politische Auseinandersetzung mit Geschichte und Wirkungsgeschichte der lutherischen Reformation bieten.

2. Die Konfrontation mit Luthers „Judenschriften“ Dass eine konstruktive protestantische Antwort auf die Herausforderung sowie den Dialogversuch, die in den jüdischen Lutherinterpretationen mit ihren kontrapunktischen Motiven zu vernehmen waren, weitgehend ausblieb, wird insbesondere am Beispiel des Ringens jüdischer Gelehrter mit der Wirkungsgeschichte der sog. „Judenschriften“ Martin Luthers deutlich. Dabei ist zunächst auffällig und überraschend, dass die Frage nach der Juden- und Judentumsfeindschaft Martin Luthers, die seit 1945 das jüdisch-christliche Gespräch über den Reformator bestimmt, bei den meisten jüdischen Autoren, selbst bei Leo Baeck, der politische Defizite des Luthertums mit deutlicher Kritik ansprach, keine wesentliche Rolle spielte und z. T. vollständig ausgeblendet oder aber in ihrer Bedeutung heruntergespielt wurde. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass auch im protestantischen Bereich die „Judenschriften“ Luthers vorwiegend erst im Zuge der Entstehung des modernen Antisemitismus und einer national-völkischen Lutherdeutung im späten 19. Jahrhundert verstärkt diskutiert wurden, zum anderen aber wohl 45 Baeck, Heimgegangene des Krieges, 285–296, Zitate 287 ff. 46 Vgl. etwa die Ansätze zu einer Kritik bei Homolka, Jüdische Identität, 106–132.

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auch damit, dass jüdische Intellektuelle – um der Integration in die deutsche Gesellschaft und Kultur willen – eher positive Anknüpfungen an die für das deutsch-protestantische Kulturbewusstsein so zentrale Figur des Reformators suchten. Zwar konstatierten jüdische Historiker bereits im frühen 19. Jahrhundert, dass Luther über und gegen die Juden geschrieben hatte, doch war dies für sie in der Regel kaum von Bedeutung: Isaak Markus Jost etwa, einer der ersten bedeutenden jüdischen Historiker dieser Zeit, zitierte 1828 in seiner Geschichte der Israeliten lediglich Luthers Schrift „Daß Jesus ein geborener Jude sei“47, während etwa der Reformrabbiner Samuel Holdheim in Berlin noch 1858 dem Konvertiten Friedrich Julius Stahl gegenüber, einem entschiedenen Vertreter der Vorstellung eines „christlichen Staates“, Luthers religiöse Toleranz preisen und ihn als das Prisma beschreiben konnte, durch das im 16. Jahrhundert Gottes Licht in die europäische Geschichte gestrahlt habe, ohne sich überhaupt auf dessen Stellung zu den Juden zu beziehen48. Der erste jüdische Historiker, der sich explizit mit dieser Thematik auseinandersetzte und so die jüdische Wahrnehmung Luthers grundlegend veränderte, war Heinrich Graetz, der in seiner Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart zu erklären versuchte, weshalb Luther, der sich zunächst im Widerspruch zur spätmittelalterlichen Praxis von Verfolgung und Vertreibung „in seinem ersten reformatorischen Aufflammen so kräftig der Juden angenommen“ habe, in seinen späten Jahren „all die lügenhaften Märchen von Brunnenvergiftung, Christenkindermord und Benutzung von Menschenblut wiederholen konnte“49. Er führte diesen dramatischen Wandel auf eine tiefe Verbitterung und Rechthaberei Luthers und ein ebenso ausgeprägtes Unverständnis für den sittlichen Charakter des Judentums zurück – mit der Folge, dass der Reformator die protestantische Welt „mit seinem judenfeindlichen Testament […] auf lange Zeit hinaus“ vergiftet habe50. Spätere Forschungen, etwa jene Ludwig Geigers, der über hervorragende Quellenkenntnisse mit Blick auf die Zeit der Renaissance, des Humanismus und der Reformation verfügte, haben dieses Bild differenziert und wesentlich stärker als die persönlichen die theologischen Motive Luthers in den Blick genommen: So machte Geiger für die politische und theologische Radikalisierung, die er bei ihm wahrnahm, enttäuschte missionarische Bestrebungen, vor allem aber die zunehmend in den Vordergrund seines Denkens tretende Erkenntnis des fundamentalen jüdisch-christlichen Gegensatzes in der Interpretation der Hebräischen Bibel verantwortlich51. 47 Jost, Geschichte der Israeliten, 211 f. Zu Jost vgl. Schorsch, From Wolfenbüttel to Wissenschaft, 109–128. 48 Holdheim, Stahl’s Christliche Toleranz, 46. 49 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 9, 300. Luthers frühe Schrift bezeichnete er indessen als „Wort, wie es die Juden seit einem Jahrtausend nicht gehört hatten“ (189). 50 Ebd., 301 f. 51 Vgl. Geiger, Zur jüdischen Geschichte, 23–29; Geiger, Die Juden und die deutsche Literatur, 297–374 (zu Luther 326–328); Geiger, Renaissance und Reformation, 68–217.

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Die Frage, wie das Verhältnis von Luthers „Judenschriften“ von 1523 und 1543 zu deuten sei und welche Bedeutung ihnen in den aktuellen Debatten über Judentum und Antisemitismus zukomme, trat um die Jahrhundertwende stark in den Vordergrund. In der zwischen 1901 und 1906 in New York erschienenen berühmten Jewish Encyclopedia verwies der jüdische Gelehrte Gotthard Deutsch am Schluss seines Artikels über Martin Luther, der im übrigen ausschließlich die Frage nach dessen Stellung zum Judentum behandelte, auf die widersprüchliche Wirkung der scheinbar miteinander unvereinbaren Schriften in der Gegenwart: „Die völlig unterschiedlichen Einstellungen, die Luther zu verschiedenen Zeiten gegenüber den Juden an den Tag legte, machten ihn während der Kontroversen um den Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts zu einer von Freunden und Feinden der Juden gleichermaßen zitierten Autorität.“52 Mit Blick auf die jüdischen Deutungsversuche dieser Zeit ist dabei zu konstatieren, dass sie auffälliger Weise mehrheitlich nicht von der theologischen Kontinuität der Haltung Luthers, sondern von einer „Zwei-Perioden-Theorie“ oder „Enttäuschungstheorie“ ausgehen53. 1911 legte etwa der jüdische Historiker Reinhold Lewin eine wissenschaftliche Untersuchung zu dieser Thematik vor, in der er die These vertrat, beim späten Luther sei im Vergleich zu seinen toleranteren frühen Einstellungen ein eindeutiger Bruch festzustellen. Allerdings machte er sich über die Wirkungsgeschichte seines Judenhasses keine Illusionen: „Wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen.“54 Wesentlich kritischere Töne finden sich bei Simon Dubnow, der 1927 in seiner Weltgeschichte des jüdischen Volkes Luthers frühe Haltung nicht auf den 52 Deutsch, Art. Luther, Martin, 213 ff.; Deutsch war Professor für jüdische Geschichte am Hebrew Union College in Cincinnati / OH. 53 Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden, 89–96, 112–114, 148–154 und 303 skizziert kurz die Position einiger jüdischer Forscher und arbeitet zutreffend ihre dominierende Neigung hervor, Luthers „Spätschriften“ als Bruch mit einer positiveren frühen Haltung und als Folge eines enttäuschten Missionsversuchs zu verstehen. Der Versuch des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens etwa, zu Beginn der 1930er Jahre in dem von ihm herausgegebenen Verteidigungsbuch Anti-Anti. Tatsachen zur Judenfrage (Berlin o. J.) den frühen Luther zu betonen und vom Antisemitismus abzusetzen, zeigt, dass es im Wesentlichen darum ging, antisemitischen Bestrebungen den „eigentlichen Reformator“ entgegenzusetzen: „…sein Motiv war nur der religiöse Gegensatz. Luther ist kein Antisemit gewesen. […] Aus all diesen Äußerungen [seiner Schrift von 1523] geht hervor, daß es eine Fälschung ist, wenn man Luther zu parteipolitischen Geschäften benutzen will. Dazu steht der Mann zu hoch […]“ (ebd., Stichwort 39). 54 Lewin, Luthers Stellung zu den Juden, 110. Zeitgenössische protestantische Forscher, die Luthers Judenfeindschaft (zurecht!) in seiner Theologie verankert sehen wollten, um sie allerdings dann als essentiellen Aspekt der Reformation für eine zeitgenössische, antisemitische Theologie zur Geltung zu bringen, führten Lewins Interpretation interessanterweise auf sein Judesein zurück; vgl. etwa Vogelsang, Luthers Kampf gegen die Juden, 8 f.: „Daß […] Reinhold Lewin als Rabbiner trotz versuchter Objektivität und wissenschaftlicher Methode von dem eigentlichen Anliegen Luthers kaum etwas erfassen konnte, dürfte nicht verwunderlich sein.“

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Wunsch nach Gerechtigkeit und Gewissensfreiheit zurückführte, sondern auf die Absicht, „sie auf diese Weise für das Christentum neuester Observanz zu gewinnen“. Als er sich in seiner naiven Missionshoffnung getäuscht gesehen habe, sei sein Wohlwollen in Zorn und krankhaften Judenhass – eine Art „Judäophobie“ – umgeschlagen: „Das Volk der Bibel, dem Christus und die Apostel entstammten, lehne es ab, durch seinen Beitritt zur lutherischen Kirche die göttliche Mission ihres Stifters zu bestätigen, also sei es – so folgerte Luther – unverbesserlich und verdiene alle Qualen und Verfolgungen, denen es in den christlichen Ländern ausgesetzt sei. Dies war die Logik der Ereignisse, die Luther dazu nötigte, die Maske der Judenfreundlichkeit bald abzustreifen und dem Judentum den Kampf auf Leben und Tod anzusagen.“55

Eine genaue Analyse der jüdischen Historiographie lässt erkennen, dass die These vom Bruch in der Haltung Luthers offenbar in dem Maße an Plausibilität und Attraktivität gewann, in dem seit Anfang des 20. Jahrhunderts und dann mit großer Vehemenz zur Zeit der Weimarer Republik völkische Interpretationen Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) zum Maßstab seiner Theologie und zum Kriterium gegenwärtigen politischen Handelns gegenüber der jüdischen Minorität in Deutschland erhoben. Der Historiker Samuel Krauss, der an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien lehrte, charakterisierte anlässlich des Reformationsgedenkens 1917 in seinem Aufsatz „Luther und die Juden“ den Reformator als einen der schlimmsten Judenfeinde seiner Zeit; seinen „große[n], unbändige[n] Haß“ gegen die Juden führte er auf seine leidenschaftliche, theologische Unduldsamkeit und auf die Naivität zurück, mit der er ein „Aufgehen des Judentums im Christentum“ erwartete56. Dennoch würdigte er Luther als bedeutenden Theologen, dessen frühe Äußerungen historisch und politisch schwerer wögen als seine späteren Schmähschriften. Dahinter verbirgt sich ganz offenbar die Hoffnung, Luther – ganz im Sinne der aufklärerischen Interpretation – als Gewährsmann einer unumkehrbaren Politik der Integration und Gleichberechtigung in Anspruch nehmen zu können: „Die Grundsätze, die er [Luther] zu Beginn seiner Laufbahn in alle Welt eingeführt hat und die auch reiner und gerechter waren als die von Haß und Bitterkeit verzerrten Aufstellungen seines Alters, Grundsätze der Aufklärung und der freien Entfaltung des menschlichen Geistes, darunter auch die Forderung, daß den Juden weder geistig noch leiblich ein Zwang angetan werden dürfe, erwiesen sich als gewaltige Faktoren der Folgezeit, die selbst durch Luthers eigene Fehler nicht mehr zu bannen waren.“57 55 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, 192–217, Zitate 200 und 202 f. 56 Krauss, Luther und die Juden, 544–547 (wieder abgedruckt in: Wilhelm, Wissenschaft des Judentums, 309–314, Zitate 310 und 312). 57 Ebd., 313. Auch Elbogen, Geschichte der Juden, 69–71, konstatierte die langfristige Wirkung der antijüdischen Invektiven Luthers, hielt jedoch daran fest, er bleibe „der bedeutendste Meilenstein auf dem Weg zum bürgerlichen Staate und zur Freiheit des Denkens und Gewissens“

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Ihren Widerhall findet eine solche Deutung in den vereinzelten Versuchen protestantischer Theologen kurz vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, mittels einer Idealisierung des frühen Luther den immer mächtiger werdenden Schatten der Judenfeindschaft Luthers und ihrer völkischen Instrumentalisierung durch die Berufung auf eine Tradition der Liebe und der Glaubensfreiheit zu bannen, die in der Reformation prinzipiell angelegt sei. Eine bemerkenswerte Stimme ist in diesem Zusammenhang jene des Stuttgarter Pfarrers Eduard Lamparter. In einer 1928 veröffentlichten Schrift mit dem Titel Evangelische Kirche und Judentum. Ein Beitrag zum christlichen Verständnis von Judentum und Antisemitismus, mit denen er auf die wachsende völkisch-antisemitische Stimmung reagierte, distanzierte er sich scharf von den judenfeindlichen Neigungen des alten Luther und versuchte das Erbe der frühen Lutherschriften neu zur Geltung zu bringen. Als liberaler Theologe, der führend im Verein zur Abwehr des Antisemitismus tätig war und sich unermüdlich für eine gleichberechtigte Integration der Juden setzte, beklagte er, Luther habe seine ursprünglich „gerechte und wahrhaft evangelische Stellung zur Judenfrage“ preisgegeben und damit die protestantische Kirche in eine verhängnisvolle Richtung gelenkt58. Am frühen Luther lobte er die Wertschätzung des Alten Testaments und den von Nächstenliebe und Gerechtigkeitsgefühl inspirierten Einspruch gegen die mittelalterliche Judenpolitik. Aus Lamparters Sicht gehörte es „zum Schmerzlichsten, daß dieser größte Deutsche, der zuvor solch warme Worte voll Mitleid, Gerechtigkeit und Liebe für die Juden gefunden hatte“, sich später „in einen solch blinden Haß gegen sie hineinsteigerte“, dass er den Stab über sie brach59. Damit habe er sein eigenes Prinzip der Glaubens- und Gewissensfreiheit dauerhaft beschädigt und sei zum „Kronzeugen des modernen Antisemitismus“ geworden. Dies sei aber nicht zwangsläufig auch die Grundlage der protestantischen Theologie der Gegenwart, diese müsse vielmehr jenen Luther ernst nehmen, „der auf dem Höhepunkt seines reformatorischen Wirkens für die Unterdrückten, Verachteten und Verfemten in so warmen Worten eingetreten ist und der Christenheit die Nächstenliebe als die vornehmste Pflicht auch gegen die Juden so eindringlich ans Herz gelegt hat“60. Dieser Luther stand für Lamparter in einer Linie mit der philosemitischen pietistischen „Judenmis(70). Nur anzudeuten ist in diesem Zusammenhang, dass das ausgeprägte jüdische Interesse an Luthers Theologie und an der Reformation anlässlich des Reformationsjubiläums im Jahre 1917 auch zur Begegnung jüdischer und nichtjüdischer Forscher führte. So wurde für den 12. März 1917 der Lutherforscher Gustav Kawerau von der liberalen Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin zu einer öffentlichen Vorlesung über das Thema „Luthers Stellung zu Juden und Judentum“ eingeladen (vgl. Fìnfunddreissigster Bericht, 11); leider ist der Vortrag selbst nicht überliefert – es wäre mehr als interessant gewesen, zu lesen, was ein protestantischer Forscher vor jüdischen Zuhörern über diese brisante Frage zu sagen hatte. 58 Lamparter, Evangelische Kirche und Judentum, 5. 59 Ebd., 15. 60 Ebd., 17.

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sion“, der Aufklärung und den wenigen Theologen seiner Zeit, die den Antisemitismus bekämpften. Lamparters Eintreten für eine Betonung der Relevanz des frühen Luther war mit scharfer Kritik des modernen Antisemitismus verbunden, mit dem Versuch einer gerechten Würdigung des nachbiblischen Judentums sowie mit der Forderung, Geschichte und Kultur des Judentums unvoreingenommen wahrzunehmen und Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum stärker zu gewichten. Am Ende seiner Ausführungen steht ein Plädoyer für eine Anerkennung des Judentums, die über das, was Vertretern der „Judenmission“ möglich war, und erst recht über das, was der frühe Luther vor Augen hatte, weit hinausging. Der Reichtum an religiösen und ethischen Perspektiven, der beide Religionen verbinde, verpflichte sie „zu einem Verhältnis des Friedens und gegenseitiger Achtung“ und stelle vor allem das Christentum vor die Aufgabe, „in dem Judentum einen gottgewollten Weg zur Lösung der höchsten Lebensfragen anzuerkennen“ – eine Aufgabe, die mindestens ebenso wichtig sei wie jene, „christliche Propaganda unter den Juden zu treiben“: „Unter den Völkern, welche an der Geisteskultur der Neuzeit Anteil haben, dürfen fremde Hände nicht in das Heiligtum der persönlichen religiösen Überzeugung und Entscheidung eingreifen. Das Judentum steht als eine kultur- und religionsgeschichtliche Erscheinung vor uns, die mit Ehrfurcht erfüllt. Wir werden auf unsere jüdischen Volksgenossen den tiefsten Eindruck machen, wenn wir mit diesem Zugeständnis nicht zurückhalten. Wir werden ihre Herzen am ehesten gewinnen, wenn wir den dem Geiste wahren Christentums widerstreitenden Antisemitismus verleugnen.“61

Mit diesen Ausführungen kam Lamparter wie kaum ein anderer Theologe seiner Zeit dem Anspruch des zeitgenössischen Judentums entgegen, als eine lebendige, religiös und kulturell wertvolle Tradition und als legitimer Bestandteil der deutschen Gesellschaft und Kultur anerkannt zu werden. Angesichts der historischen Erkenntnis, dass Luther wohl zu keiner Zeit eine wirklich positive Haltung gegenüber Juden und Judentum eingenommen hat, sondern dass vor allem sein theologisches Judentumsbild durchgängig negativ geprägt war62, dürfte Lamparter allerdings einer Idealisierung der Theologie 61 Ebd., 59 f. 62 Zu diesen antijudaistischen Grundkonstanten gehören insbesondere die Überzeugung von der Verstockung der unter Gottes Zorn stehenden Juden und der Christusfeindschaft des Judentums, das Unverständnis für eine von der christologischen Schriftdeutung abweichende und als Lästerung verstandene jüdische Exegese, das Verständnis der Juden als des Typus der Selbstverherrlichung des sündigen Menschen vor Gott. Heiko A. Oberman ist Recht zu geben, wenn er urteilt, dass die scharfe Auseinandersetzung mit dem Judentum „keine schwarze Sonderseite in Luthers Werk bildet, sondern zentrales Thema seiner Theologie ist“; vgl. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus, 125. Allerdings überzeugt es nicht, wenn Oberman „Antijudaismus“ als rein theologische Kategorie, als essentielles Element der Reformation versteht und ihn als den „gemeinsame[n] Sturmlauf von Humanismus und Reformation gegen alle Veräußerlichung von inneren Werten“ deutet, als „Überwindung des toten Buchstabens im Namen des lebendigen

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des frühen Luther unterlegen sein. Dass er sich in seinem Urteil mit jüdischen Gelehrten wie Hermann Cohen, Reinhold Lewin oder Samuel Krauss einig war, dürfte kaum ein Zufall sein: So wie der späte Luther antisemitischem Denken als ideologischer Gewährsmann galt, versuchten jene, die für eine Anerkennung der religiösen wie politisch-sozialen Existenz- und Gleichberechtigung des Judentums eintraten, die Autorität dieser zentralen Figur des deutschen Protestantismus für ihre Bedürfnisse in Anspruch zu nehmen und dem frühen Luther als der für sie maßgeblichen Gestalt eine möglichst positive Haltung abzuringen63. Jüdischen Beobachtern war allerdings schmerzlich bewusst, dass sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit der nationalistisch-völkischen Deutung Luthers eine ganz andere Tendenz etabliert hatte, der etwas Ernsthaftes entgegenzusetzen sich die zeitgenössische protestantische Theologie aufgrund der ihr selbst innewohnenden antijüdischen Neigungen ungeheuer schwer tat. Kontext ist die Verbindung des modernen politischen Antisemitismus mit nationalistischen, rassistischen und sozialdarwinistischen Theorien. Aus der Sicht einer kulturpessimistischen Kritik der Moderne wurde die jüdische Minderheit in noch stärkerem Maße als bisher zur Verkörperung all dessen, was völkisch-nationales Denken bekämpfte, der kapitalistischen Massengesellschaft wie des Sozialismus, des Individualismus, des Pluralismus, der Traditionen von Humanität und Liberalität. Unter der Einwirkung rassischer Theorien verschmolz das antisemitische Denken zum „arischen Mythos“ mitsamt seinem negativen Gegenmythos der semitischen / jüdischen Rasse. Bestimmende Kennzeichen dieser Ideologie waren die Behauptung des biologisch minderwertigen und zerstörerischen Charakters der Juden und eine dualistische Weltanschauung, die den Ablauf der abendländischen Geschichte, einschließlich der zeitgenössischen sozialen, politischen und geistigen Konflikte aus dem germanisch-jüdischen Rassengegensatz erklärte. Konsequent entwickelte sich der Antisemitismus radikal-völkischer Prägung sodann zu einer Ideologie weiter, die sich entweder auch gegen die christliche Religion und ihre jüdischen Ursprünge wandte oder aber, wie in Houston Geistes“ (ebd., 28). Der verhängnisvollen Funktionalisierung der Juden für die theologische und politische Argumentation Luthers, der über jüdisches Selbstverständnis nur wenig wusste, steht Oberman dabei offenbar unkritisch gegenüber ; zudem meint er Luthers „Antijudaismus“ streng vom Antisemitismus trennen zu können, betrachtet seine Theologie also nicht als eine der Wurzeln des Antisemitismus; vgl. Oberman, Die Juden in Luthers Sicht, 136–162, insbesondere 162: „Nur bei Verdrängung von Luthers theologischer Grundstruktur kann der bei ihm – wie im christlichen Glauben überhaupt – angelegte Antijudaismus zum Spielball des neuzeitlichen Antisemitismus werden. Das ist geschehen.“ Eine solche Interpretation blendet die politische Dimension des Theologischen aus und kann damit auch die Wirkungsgeschichte der „Judenschriften“ Luthers nicht angemessen in den Blick bekommen. 63 Verwiesen sei auch auf Dietrich Bonhoeffer, der 1933 seiner Schrift Die Kirche vor der Judenfrage mehrere Zitate aus Luthers Frühschriften voranstellte und damit implizit auf eine Position theologischer Verantwortung verweisen wollte; vgl. dazu Bethge, Dietrich Bonhoeffer und die Juden, 211–248.

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Stewart Chamberlains Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, eine Germanisierung und „Entjudung“ des Christentums forderte64. Religiöse, politische und rassische Argumente wurden von den völkischen Antisemiten nach Belieben herangezogen, so auch der Bezug auf Luthers „Judenschriften“. Exemplarisch für dieses vor 1933 gesellschaftlich zunehmend einflussreiche Phänomen wäre etwa auf den sächsischen Publizisten Theodor Fritsch hinzuweisen, einen der wichtigsten Repräsentanten des völkisch-radikalen Antisemitismus, der die Kontinuität der rassischen Ideologie vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik verkörperte. Ihm ging es in seinen Veröffentlichungen vor allem darum, die Position der Juden in der Gesellschaft durch eine gehässige Verleumdung ihrer Religion, ihres Charakters und ihrer Mentalität systematisch zu schwächen. Bereits 1887 gab Fritsch den Antisemiten-Katechismus heraus, der später unter dem Titel Handbuch der Judenfrage weite Verbreitung fand. Fritsch versammelte darin alles Material, das geeignet schien, die jüdische Gemeinschaft als gefährliche Gegenmacht gegen das deutsche Volk darzustellen, und rief zum „heiligen Krieg“ gegen den „bösen Geist“ des Judentums und für die „höchsten Güter der arischen Menschheit“65 auf. Die Bekämpfung der jüdischen Religion erfüllte im Zusammenhang seiner politischen Agitation eine bedeutende Funktion. Die Emanzipation der Juden war aus Fritschs Sicht aufgrund der falschen Voraussetzung gewährt worden, „daß die jüdische Religion auf den nämlichen sittlichen Grundlagen beruhe, wie die christliche“66. Er projizierte die antisemitischen Phantasien von einer „jüdischen Weltherrschaft“ in die angeblich geheimen und verbrecherischen Inhalte der rabbinischen Literatur hinein, wobei ihm der Vorwurf, der Talmud diskriminiere alle Nichtjuden und gestatte ihnen gegenüber verbrecherische Handlungen vom Wucher bis hin zum Ritualmord, zur Dämonisierung der sozialen und religiösen Erscheinung des Judentums mittels einer überlieferten christlichen Metaphorik diente, die ihm helfen sollte, die ohnehin latenten Fremdheitsgefühle gegenüber der jüdischen Minderheit zu mobilisieren. Fritsch dehnte seine Angriffe zudem konsequent auf die Gottesvorstellung der Hebräischen Bibel aus und konstruierte einen Gegensatz zwischen dem „Gott des Judentums“, den er als verbrecherischen Götzen betrachtete, und dem „wirklichen Gott des Christentums“. In seiner Schrift Der falsche Gott (1916; erstmals 1911 unter dem Titel Beweis-Material gegen Jahwe erschienen) berief sich Fritsch auf Martin Luther, der „mit den schärfsten Waffen gegen die ehrlosen Fremdlinge zu Felde gezogen“ sei67. Ausgiebig zitierte er Luthers Polemik und hob insbesondere dessen Forderung nach Verbrennung der Synagogen und Vertreibung von Juden als eines Mittels im Kampf gegen die „giftigen, hämischen Schlangen, Meuchelmörder und 64 65 66 67

Vgl. Tal, Religious and Anti-Religious Roots. Fritsch, Handbuch der Judenfrage, 415 f. Ebd., 12. Fritsch, Der falsche Gott, 192.

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Teufelskinder“ hervor68. Unter Berufung auf den „deutschen Luther“ werden die jüdischen Bürger in Fritschs Machwerk als ruchlose Gegner des deutschen Volkes gekennzeichnet, und Luther erscheint als Retter, der das Christentum mit dem Deutschtum verbunden und den vom ebenfalls „verjudeten“ Papsttum übermalten Gegensatz zum Judentum neu hervorgehoben habe69. Luthers theologische Argumente interessierten den antisemitischen Agitator dabei in keiner Weise, vielmehr verwendete er die Schriften des Reformators lediglich als Steinbruch für die eigenen Hasstiraden. Theodor Fritsch ist als früher Vertreter durchaus exemplarisch für die Instrumentalisierung Luthers durch den völkischen Antisemitismus. Als späteres Beispiel dieses perfiden Schrifttums sei zudem das mit Luther und die Juden betitelte Pamphlet des völkischen Schriftstellers Alfred Falb aus dem Jahre 1921 genannt. Der Autor, erkennbar von Fritsch und von Friedrich Delitzschs antisemitischer Schrift Die große Täuschung (1921) beeinflusst, behauptete darin, der „Befreier Luther“ sei bereits, ohne über das moderne Wissen über das Judentum und das Wesen der Rassen zu verfügen, intuitiv – kraft der „Empörung seines germanischen Wesens“ – unterwegs zu den Erkenntnissen des modernen Antisemitismus gewesen, den Weg jedoch nicht konsequent zu Ende gegangen70. Zu würdigen sei jedoch, dass er sich im Verlaufe vom „ausgesprochenen Judenfreund zum allerschärfsten Judengegner“ entwickelt habe71. Der treuherzige Luther von 1523 sei noch ganz naiv gewesen, habe das Eindringen des „jüdischen Geistes“ in das Christentum seiner Zeit und die rassischen Ursachen des jüdischen Wuchers nicht durchschaut. Er habe geglaubt, das schändliche Treiben der Juden auf eine zu überwindende religiöse Verblendung zurückführen zu können, aber verkannt, „daß alles Denken und Empfinden, Tun und Handeln aus den tiefsten Gründen unseres eingeborenen Wesens“ stamme, „das aus dem Blute steigt“72. Der Reformator habe deshalb auch an der jüdischen Abstammung Jesu festgehalten, während die heutige Wissenschaft längst Jesu galiläisch-arische Herkunft bewiesen habe. Im Hauptteil seines hasserfüllten Pamphlets, der sich dem Thema „Luther als Judengegner“ widmet, zitiert Falb dann ausführlich aus Luthers späten Schriften und bezieht dessen Aussagen jeweils auf antisemitische Ideen der eigenen Zeit. Luthers Erbitterung gegen die Juden sei durch seine Vorausahnung der „künftigen Verjudung des Christentums“ zu erklären73, durch seine Einsicht in die Rachgier und Blutrünstigkeit des jüdischen Volkes, und im Grunde hätte er erkennen müssen, dass Israel nicht das Volk Gottes, sondern 68 Ebd., 189. 69 Ebd., 190 ff. Zur Haltung jüdischer wie protestantischer Forscher gegenüber Fritschs Dämonisierung des jüdischen Gottesbegriffs vgl. Wiese, Jahwe – ein Gott nur für Juden, 27–94. 70 Falb, Luther und die Juden, 4 und 8. 71 Ebd., 11. 72 Ebd., 24. 73 Ebd., 30.

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das eines bösen Dämons sei74. Wenigstens Luthers Anhänger in der Gegenwart müssten aber nun einsehen, dass das, was sie am Alten Testament liebten, „in Wahrheit nur Luthers Dichterwort und Luthers Seele“ sei75, während sich in Wahrheit dahinter doch nur jüdischer Götzendienst verberge. Trotz seiner Naivität habe sich Luther mit der Frage befasst, wie es überhaupt möglich sei, dass ein solches „Barbarenvolk“ auf Erden existiere, und seiner kraftvollen Wendung gegen das Judentum komme höchste Bedeutung für die „arische Menschheit“ zu: „als innerste Empörung und jähe Abschüttelung jüdischorientalischer Wesensvergewaltigung, als erstes Erwachen der germanischen Seele zu arischer Gotteserkenntnis und Wiedergeburt.“76 Luther habe das mehr gefühlsmäßig als in klarer politischer Erkenntnis zur Sprache gebracht, doch habe er in seiner germanischen Seele zumindest geahnt, dass der „Gott der Juden“ nicht der Gott der christlichen Liebe, sondern ein verabscheuungswürdiger Götze sei. Die gegenwärtige – „verjudete“ – protestantische Theologie habe allerdings die Botschaft des Reformators verzerrt, statt sie fortzuschreiben, und sein eigentliches theologisches Vermächtnis – „sein Bangen um die Zukunft der deutschen Seele, die er vorausschauend in den Klauen des schleichenden Wucherdämons ersticken sah“ – auf schuldhafte Weise unterschlagen77. Zahlreiche weitere solche Beispiele dieses Hassdiskurses ließen sich anführen: In den Schriften von Mathilde Ludendorff, in Arthur Dinters 197 Thesen zur Vollendung der Reformation (1926) und in der ganzen Fülle antisemitischer Hetzschriften dieser Zeit begegnet immer wieder der Vorwurf, die Gewährung der Emanzipation für die Juden sei ein Verrat an Luther gewesen und die Kirche müsse sich auf dessen späte Schriften besinnen, seine „Enthüllungswerke über die jüdischen Geheimziele und-wege und seine flammende Predigt des Abwehrkampfes gegen das Judentum“78, wie Mathilde Ludendorff 1928 formulierte. Spätestens seit 1917 hatten sich völkisch-antisemitische und deutsch-christliche Kreise ganz selbstverständlich auf die antijüdische Polemik des Reformators berufen und ihn zum Vorläufer ihrer Bestrebungen erhoben. Über den Bund für deutsche Kirche bis zur Glaubensbewegung Deutsche Christen reicht die Reihe der Stimmen, die Luther für eine antisemitische Ideologie in Anspruch nahmen und ihm allenfalls den Vorwurf machten, mit der Reformation nicht weit genug gegangen und vor der konsequenten Tilgung aller jüdischen Spuren im Christentum, d. h. vor der Beseitigung des Alten Testaments und der Entdeckung des „arischen Jesus“ zurückgeschreckt zu sein79. Solche Einstellungen gipfelten in der Nazi-Zeit zwangsläufig in einer Rechtfertigung antijüdischer Gewalt unter Berufung auf 74 75 76 77 78 79

Ebd., 47. Ebd., 53. Ebd., 59. Ebd., 53. Ludendorff, Der ungesühnte Frevel, 11. Vgl. dazu Heschel, The Aryan Jesus.

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Luther, etwa wenn der thüringische Landesbischof Martin Sasse 1938 in seiner Schrift Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen! den Novemberpogrom als folgerichtige Erfüllung der Forderungen Luthers verstand: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. […] In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“80

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Alfred Rosenberg, der Hitlers Ideologie wesentlich prägte81, in seinem Mythos des 20. Jahrhunderts einen ganz anderen Weg ging und Luthers Wirksamkeit und die Reformation als einen Schritt zur „Verjudung“ des deutschen Volkes kennzeichnete: Indem Luther die Bibel, vor allem das Alte Testament, übersetzt und zum christlichen Volksbuch gemacht habe, habe er den „jüdischen Geist“ mitten ins deutsche Volk getragen. Es ist nicht ohne Ironie, dass in einer der wirkmächtigsten Publikationen der nationalsozialistischen Ideologie Luther nicht als Antisemit, sondern als „Judenfreund“ dargestellt wurde, während sich vor allem die deutsch-christlichen und völkischen Kreise innerhalb der evangelischen Kirche bemühten, das genaue Gegenteil zu beweisen, ihn für eine antisemitische Ideologie in Anspruch nahmen und das reformatorische Prinzip ecclesia semper reformanda im Sinne einer konsequenten Antijudaisierung des Protestantismus und „Entjudung“ des Christentums auslegten. Mehr als der eindeutig rassenantisemitische Diskurs, der Luther für Verleumdung, Dämonisierung, Hass und Gewalt in Anspruch nahm, interessieren in diesem Zusammenhang jene – politisch gemäßigteren – Interpreten, die völkisch-radikalen Verzerrungen lutherischen Denkens entgegentraten, auf dem Boden einer angeblich rein wissenschaftlichen Deutung jedoch ihre eigene ideologische Verstrickung in antisemitische Denkmuster mit Hilfe von Luthers „Judenschriften“ theologisch zu legitimieren suchten. Bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein geschah dies vielfach mit dem Ziel, wenigstens den christentumsfeindlichen Konsequenzen des Antisemitismus die Spitze abzubrechen. Nur in ganz wenigen Fällen war damit allerdings wirkliche Solidarität mit Juden und Judentum verbunden. Wie mühsam die Distanzierung von völkischen Perspektiven vielfach ausfiel, lässt sich anhand einer Artikelserie des Rostocker Lutherforschers Wilhelm Walther aus dem Jahre 1921 über „Luther und die Juden“ zeigen. Die für die protestantische Theologie dieser Zeit insgesamt charakteristische Strategie der Bewah80 Sasse, Martin Luther über die Juden, 2. Zur völkischen und nationalsozialistischen Lutherdeutung vgl. Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden, 156–208. Vgl. dazu auch Ginzel, Martin Luther, 189–210. 81 Vgl. Piper, Alfred Rosenberg.

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rung christlicher Überzeugungen gegenüber antichristlich zugespitzten völkischen Thesen bei gleichzeitiger Preisgabe des Judentums an die antisemitische Hetze wird in dieser Schrift überdeutlich. Den Anlass für Walthers Ausführungen bot das erwähnte Pamphlet Alfred Falbs. Der lutherische Kirchenhistoriker wandte sich gegen Falbs Verachtung des Alten Testaments, verband seine Haltung aber mit einer unverkennbar antijüdischen Position. „Das Abstoßende“ am heutigen Antisemitismus sei, „daß er, um die Juden gründlich schlecht zu machen, auch das ganze Alte Testament in Verachtung zu stoßen nicht müde wird. Damit richtet er nur Unheil an. Damit raubt er nach seiner Überzeugung auch seinem berechtigten Kampfe die Siegeskraft.“82 Es sei falsch, das, was Luther dem Talmud und den Juden seiner Zeit mit Recht vorwerfe, in das Alte Testament hineinzuprojizieren. Viele Christen gerieten durch die Angriffe auf das Alte Testament in Not, sei es doch unleugbar, dass „überall in der alttestamentlichen Geschichte die Nationalfehler des jüdischen Volkes“ sich bemerkbar machten83. Dennoch habe sich Jesus in Wort und Tat zum Alten Testament bekannt. Wenn aber die Antisemiten meinten, „in ihrem Kampfe gegen das gefahrbringende Judentum die Waffe der Verhöhnung des Alten Testaments nicht entbehren zu können“, so solle sie die Tatsache eines Besseren belehren, „daß derselbe Luther, der das Alte Testament so hoch geehrt und aus ihm soviel Segen für sich und für uns geschöpft hat, doch der Juden Mängel und die von ihnen drohende Gefahr mit klarem Blick gesehen und mit gewaltiger Sprache davor gewarnt hat“84. Konkret hieß das: Die Rezeption Luthers möge die Christen der Gegenwart das Alte Testament achten, aber die Juden und das nachbiblische Judentum verachten lehren. Denn alle anderen Stereotype und Ziele des Antisemitismus galten Walther als völlig gerechtfertigt: „So schroff die Antisemiten Luther widersprechen, so berechtigt sind sie, bei ihrem Kampfe gegen den jüdischen Geist sich auf Aussprüche Luthers zu berufen. Sie vermögen auch um so tieferen Eindruck mit dieser ihrer Berufung auf Luther deshalb zu machen, weil dieser lange Zeit hindurch eine viel freundlichere Stellung zu den Juden eingenommen hat, also erst durch viele betrübende Erfahrungen zu seinem harten Urteil über sie gekommen ist.“85

In der Folge verteidigte Walther die judenfeindlichen Äußerungen der späten Lutherschriften und zog immer wieder Parallelen zur Gegenwart. Luther habe seine Auffassung ändern müssen, weil die Juden seiner Zeit sich der Wahrheit verschlossen hätten und er bei der Beschäftigung mit der rabbinischen Literatur der arroganten Christentumsfeindschaft der Juden – ihrer Verfluchung und Verhöhnung Jesu – begegnet sei. Diese Feindschaft unterstellte Walther 82 83 84 85

Walther, Luther und die Juden, 6. Ebd., 6. Ebd., 9. Ebd.

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auch dem Judentum seiner Gegenwart: Den Antisemiten dürfe das Recht nicht abgesprochen werden, „auf die Ereignisse der neuesten Zeit als auf eine Bestätigung der Aussagen Luthers hinzuweisen, da jüdische Revolutionsführer vor allem in Rußland […] ohne jedes Bedenken soviel Christenblut vergossen haben, als ihnen zur Erlangung und Sicherung ihrer Herrschaft dienlich zu sein schien“86. Andeutungsweise stellte Walther unter Hinweis auf Luthers negative Erfahrungen auch Sinn und Berechtigung der Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts in Frage: „Ob die Folgen günstigere gewesen sind als die, welche Luther von seinen ähnlichen Gedanken, wie er sie in seiner judenfreundlichen Schrift von 1523 aussprach, beobachten mußte? Er meinte zu erkennen, daß die Juden die Herren, Christen ihre Knechte würden.“87 So bestätigte Walther im Grunde antisemitische Denkmuster und warnte lediglich vor einem Überhandnehmen des Hasses sowie einer zu starken Wirkung rassischer Konzepte, die letztlich auch das Alte Testament „als bloßes Judenbuch“, als „vom bösen Judengeiste“ herrührende Tradition verwerfen mussten88. Hiermit, so seine besonders perfide, aber durchaus verbreitete Einschätzung, täten die Antisemiten das Werk der Juden, würden also selbst zu „Judaisierern“. Mit dieser Strategie, dem Antisemitismus theologisch und politisch starke Zugeständnisse zu machen, ihn jedoch zugleich so zu domestizieren, dass er die christlichen Glaubensgrundlagen unangetastet ließ, kann Walther als repräsentativ für zahlreiche protestantische Theologen jener Zeit gelten. Typisch ist insbesondere jene ausgeklügelte Methode der Desolidarisierung mit dem Judentum, welche die als Vorstufe des Neuen Testaments verstandene Hebräische Bibel scharf vom Judentum unterschied und so einen unüberwindlichen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum konstruierte. Dahinter stand die ungebrochene traditionelle Enterbungstheologie, die mit Hilfe antijüdischer Stereotype von der Verwerfung Jesu und vom jüdischen „Gottesmord“ die Hebräische Bibel für das Christentum beanspruchte und die Geschichte und Gegenwart des jüdischen Volkes im Zeichen der göttlichen Verfluchung verstand. Insbesondere der späte Luther war ein wichtiger Gewährsmann für diese antijüdische Tradition und wurde für sie in Anspruch genommen, wobei die gegenläufigen Akzente seiner Schrift von 1523 im Grunde als – in der Gegenwart zu überwindender – Irrtum des in der Begegnung mit Juden noch unerfahrenen Reformators für irrelevant erklärt wurden.

86 Ebd., 35. 87 Ebd., 37. 88 Ebd., 39.

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3. Schlussfolgerung: Vom Scheitern einer tragischen Liebesgeschichte Dass der für viele jüdische Interpreten charakteristische Versuch, durch die stark akzentuierte These der Diskontinuität zwischen Luthers „Judenschriften“ einen idealisierten „judenfreundlichen“ Luther vor antisemitischem Missbrauch zu retten und mittels der geradezu beschwörenden Deutung des Reformators als eines Ahnherrn der Werte der Aufklärung eine wirksame Gegengeschichte gegen dessen Inanspruchnahme für eine nationalistischexklusive, antijüdische und anti-emanzipatorische Kultur zu formulieren, spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Scheitern verurteilt war, zeigt nicht zuletzt die Geschichte der Rezeption der Theologie Luthers im Jahre 1933. Hatte die theologische Bewegung der „Lutherrenaissance“ seit 1917 mit ihrem Programm der Erneuerung der Lutherforschung nicht zuletzt auch deshalb großen Widerhall unter jungen Theologen gefunden, weil seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der „deutsche Luther“ zu einer wichtigen Identifikationsfigur des wachsenden Nationalismus geworden war89, so verstärkte sich dieses Interesse im Zusammenhang der zahlreichen akademischen Lutherfeiern zum 10. November 1933, dem 450. Geburtstag des Reformators, an dem er vielfach mit schwärmerischer Begeisterung als „Wegbereiter eines neuen Deutschlands in Staat und Kirche“ und als „Erneuerer des Deutschtums“ bejubelt wurde. Zwangsläufig wurden auch Luthers späte „Judenschriften“ einschließlich ihrer nun häufig rassisch zugespitzten theologischpolitischen Interpretationsmuster in die öffentliche Diskussion über die Stellung der jüdischen Gemeinschaft im nationalsozialistischen Staat mit einbezogen. Sehr hellsichtig schrieb daher Ludwig Feuchtwanger, ein Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwangers, anlässlich des Lutherjubiläums: „Es geht hier um keine antiquarische Kuriosität, um keine sonderbare Altersschrulle eines großen Mannes, zu seinem 450. Geburtstag wiedererzählt. Wie damals Martin Luther gegen die Juden losbrach, so tönt es immer wieder aus dem deutschen Volk seit 450 Jahren. Wir erleben im November 1933, daß zahlreiche bedeutende Vertreter der protestantischen Kirche und Lehre sich diese Stellung Luthers ausdrücklich zu eigen machen, ihm Wort für Wort nachsprechen und seine Judenschriften eindringlich zitieren und empfehlen.“90 89 Zur Lutherrenaissance vgl. u. a. Helmer / Holm, Lutherrenaissance Past and Present. 90 Feuchtwanger, Luthers Kampf gegen die Juden, 371–373, Zitat 371. Feuchtwanger bezog sich dabei u. a. auf ein Zitat aus einem Vortrag des Berliner liberalen Kirchenhistorikers Hans Lietzmann über „Luther als deutscher Christ“, in dem dieser mit Blick auf die späten „Judenschriften“ urteilte: „Es ist ein fürchterliches Gericht, das hier Luther über die Juden hält, und wir können feststellen, daß er in der Beurteilung ihres schädlichen Einflusses auf Deutschland völlig mit der völkischen Auffassung unserer Tage übereinstimmt“ (zit. n. Feuchtwanger, ebd., 371).

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Tatsächlich fällt auf, dass namhafte protestantische Theologen 1933 den Schwerpunkt nun zumeist auf Luthers Spätschriften legten und dabei zwar der völkischen und rassenpolitischen Vereinnahmung des Reformators durchaus widersprachen, selbst aber in ihrem theologischen Verdikt über das Judentum antisemitischen Anklängen gegenüber zumindest nicht abgeneigt waren. So sprach etwa Heinrich Bornkamm in einem Vortrag über Volk und Rasse bei Martin Luther von Luthers „instinktive[r] rassenmäßige[r] Abneigung gegen die Juden“; er machte zwar deutlich, Luthers Vorwürfe gegen das Judentum seien nicht aus dem Rassengegensatz erwachsen, betonte dafür aber um so stärker den religiösen Antagonismus: „Sie [Luthers Anklagen] erklangen vielmehr wider ein Volk, das unausgesetzt Gott durch Unglauben und Lästerung beleidigte.“ An dem grundsätzlich religiösen Charakter von Luthers Judenfeindschaft könne kein Zweifel bestehen; allerdings, so fügte Bornkamm bezeichnenderweise hinzu, könne die „Lästerung Christi“, der Ungehorsam gegen die Schrift und der „Raub an der Ehre Gottes“ alleine Luthers Zorn nicht erweckt haben. Bestärkt worden sei seine Abneigung durch die wirtschaftliche Schädigung und „Aussaugung Deutschlands“ durch die Juden91. Exemplarisch sei an dieser Stelle die Position des Königsberger Lutherforschers Erich Vogelsang skizziert, die er 1933 in einer dem Evangelischen Reichsbischof Ludwig Müller gewidmeten Schrift mit dem bezeichnenden Titel Luthers Kampf gegen die Juden entfaltete92. Statt den völkischen Lutherinterpreten entschieden zu widersprechen, redete er von dem „heute volksnotwendigen Antisemitismus“93, erklärte sein Einverständnis mit dem sog. „Arierparagraphen“ und versagte dem Judentum explizit jegliche Solidarität. Gegen eine Einebnung des Gegensatzes von Judentum und Christentum, die er der liberalen Theologie seit der Aufklärung vorwarf, machte er geltend, das jüdische Volksschicksal sei nur in den Kategorien „Fluch und Verblendung, Zorn und Gericht Gottes“ zu verstehen94. „Das ist der rätselhafte Fluch über dem jüdischen Volk seit Jahrhunderten“, so gab er Luthers Haltung wieder : „In Wahrheit eine Selbstverfluchung. An Christus, dem Stein des Anstoßes, sind sie zerschellt, zermalmt, zerstreut.“95 Anklänge an die Legende vom „ewigen Juden“ fehlen ebenso wenig wie die Rede von dämonischen Mächten und einem auch politisch wirksamen Fluch, aus dem keine bürgerliche Gleichberechtigung retten könne. Theologisch vermochte Vogelsang das Judentum nur als unter Gottes Zorn stehendes, verworfenes Volk zu begreifen, während ihm das bei Luther angelegte und von der lutherischen „Judenmission“ des 18. und 19. Jahrhunderts verstärkte Motiv von Verheißung und 91 Bornkamm, Volk und Rasse bei Martin Luther, 5–19, Zitate 15 f.; Zu nationalsozialistisch inspirierten Deutungen im Kontext deutsch-christlicher Theologien vgl. Osten-Sacken, Der nationalsozialistische Lutherforscher Theodor Pauls, 136–166. 92 Als jüdische Reaktion vgl. die Rezension Feuchtwangers, in: Feuchtwanger, Bücherschau. 93 Vogelsang, Luthers Kampf gegen die Juden, 6. 94 Ebd., 18. 95 Ebd., 10.

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Hoffnung für das Judentum, das noch einmal einen anderen Blick und zumindest so etwas wie ein kritisches Potential gegen den völkischen Antisemitismus eröffnete, verschlossen blieb96. Polemik gegen die „jüdisch-rabbinische Sittlichkeit“ mitsamt all den impliziten antisemitischen Vorwürfen findet sich bei Vogelsang – neben einer Vielzahl anderer Stereotypen aus dem Arsenal theologischer und politischer Judenfeindschaft – ebenso wie der Vorwurf des im Glauben an die Erwählung Israels und an das Kommen des Messias wurzelnden „unheimlich zähen Weltherrschaftsanspruch(s) des Judentums“97. Er nahm Luther jedoch auch für völkische Kategorien in Anspruch, etwa wenn er urteilte, der Reformator habe eine Abneigung gegen „alles Landfremde“ gehabt, ja – viele seiner sozialen Anklagen gegen das Judentum hätten auch einen „völkischen Klang“, insofern sie gegen die „undeutsche Verschlagenheit und Lügenhaftigkeit“ der Juden gerichtet gewesen seien98. Luthers eigentliche Stärke war aus dieser Perspektive die „innere Einigung und Durchformung von Deutschtum und Christentum“99. Wie sich Vogelsang konkret die „scharfe Barmherzigkeit“ Luthers für die Gegenwart vorstellte, ließ er, wie viele seiner protestantischen Kollegen, die darauf achteten, die politischen Konsequenzen ihrer theologischen Argumentation staatlichem Handeln zu überlassen, offen. Dass er vor allem Luthers Vorstellungen von einer „reinlichen Scheidung von Juden und Christen“ hervorhob, spricht dafür, dass ihm eine Politik der Separation und der Aufhebung der Integration und Gleichberechtigung der deutschen Juden vorschwebte100. Dies aber ist kaum anders denn als Legitimation der konkreten staatlichen Entrechtungspolitik der Nazis im ersten Jahr nach ihrer Machtergreifung zu verstehen. In jedem Fall distanzierte sich Vogelsang von Eduard Lamparters liberaler Position: Luthers praktische Lösung der „Judenfrage“ heiße keineswegs „Verständigung“ oder Angleichung oder freundliche Anerkennung, „daß [Zitat Lamparter] auch der jüdischen Religion neben der christlichen ein göttliches Daseinsrecht, eine besondere Gabe und Aufgabe im Geistesleben der Menschheit (heute noch) verliehen ist“. Für die Kirche gelte vielmehr, in Verantwortung für das Erbe Luthers, „Scheidung der Geister und entschiedener Abwehrkampf gegenüber der inneren Zersetzung durch jüdische Art, gegenüber allem ,Judaisieren‘ und ,Judenzen‘101. Vogelsangs Position stellt ein klassisches Beispiel für eine Form von Judenfeindschaft dar, die antijudaistische Kategorien mit einer ausgeprägten sozio96 Zur lutherischen Judenmission vgl. u. a. Clark, The Politics of Conversion; Wiese, Judenmission, 233–236. 97 Vogelsang, Luthers Kampf gegen die Juden, 14. 98 Ebd., 31. Dem Judentum solle keine rassische Verachtung entgegengebracht werden, aber: „Menschen und Völker und Rassen sind nicht, wie der Rationalismus der Philosemiten meint, alle gleich wertvoll, gleich an Adel, an Klugheit, an Bejahung, an Kraft“ (12). 99 Ebd., 32. 100 Ebd., 23. 101 Ebd., 25.

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kulturellen Feindschaft gegen die jüdische Gemeinschaft verband und sich gegenüber rassistischen Konzepten zumindest offen verhielt102. 1933 und darüber hinaus war dies ein sehr verbreitetes Denkmodell. Das Judenbild, das auf diese Weise Verbreitung fand, war das eines – bedingt durch seine Abkehr von Christus – dem Christentum und dem deutschen Volk feindlich gegenüberstehenden Volkes, eines zumindest fremdartigen, wenn nicht fremdrassigen Volkstums, dessen angeblich „zersetzende“ Kraft Deutschland bedrohte und nach Gegenmaßnahmen verlangte, was einer stillschweigenden Billigung der Entrechtungspolitik, jedenfalls der Preisgabe der jüdischen Gemeinschaft entsprach. Dass lutherische Kirchen und Theologen sich, abgesehen von der unmittelbaren Wirkung der Judenfeindschaft Luthers, auch von einer politisch verhängnisvollen, lutherischen „Zwei-Reiche-Lehre“ haben leiten lassen, die dem Staat programmatisch das Recht zum politischen Handeln gegen die jüdische Gemeinschaft überließ und ihm nicht hereinreden wollte (eine Tendenz, die Leo Baeck als Bestätigung seiner Kritik Luthers erschienen sein muss), ist in diesem Zusammenhang nur anzudeuten. Unter Berufung auf die lutherische Unterscheidung zwischen den beiden Regimenten Gottes gaben weite Kreise selbst der Bekennenden Kirche die Juden der „scharfen Barmherzigkeit“ staatlichen Handelns preis und beanspruchten allenfalls das Recht zu einem anderen Handeln an den Judenchristen im Bereich der Kirche. Theologisch aber hatten sie der Diffamierung des Judentums nichts Wirksames entgegenzusetzen. Angesichts der protestantischen Interpretationen Luthers, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer stärker in nationalistische, antisemitische und völkische Denkweisen abglitten, lässt sich daher rückblickend nur von einer großen Tragik der jüdischen Lutherrezeption des 19. Jahrhunderts insgesamt und insbesondere der Jahrzehnte vor der Shoah reden. Die überraschend positiven Klänge dieses Diskurses, einschließlich der beschwörenden Unterscheidung zwischen dem „frühen“ und dem „späten“ Luther, lassen sich m. E. nicht etwa als historische Bestätigung einer protestantischen Selbstentlastung von der Bürde des Erbes der theologischen Juden- und Judentumsfeindschaft des Reformators und ihrer Wirkungsgeschichte in der Moderne lesen, sondern müssen im Kontext der zwiespältigen Elemente der deutsch-jüdischen Geschichte verstanden werden: im Spannungsfeld von erfolgreicher gesellschaftlich-kultureller Integration, bestän102 Ich akzentuiere hier anders als Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden, 131–135, der Vogelsangs Arbeit trotz ihrer zeitgeschichtlichen „Verhaftetheit“ in der Situation von 1933 „hohen Wert“ bescheinigt und urteilt, er habe darin eine „der Theologie des Reformators gerecht werdende Darstellung der Judenfrage bei Luther“ versucht (130). Nur angedeutet ist, Vogelsang lasse die „wissenschaftlich notwendige Distanz“ gegenüber Luthers Spätschriften vermissen (132) und isoliere die „Judenfrage“ bei Luther vom Gesamtzusammenhang seiner Theologie. Man wird jedoch angesichts des oben Dargestellten urteilen müssen, dass bei Vogelsang der Versuch, als Lutherforscher den zeitgenössischen Antisemitismus auf der Grundlage der Schriften der Autoritätsfigur des Protestantismus zu legitimieren und damit die judenfeindlichen Maßnahmen der Nazis theologisch gutzuheißen, absolut im Vordergrund steht. Erst in diesem Zusammenhang beansprucht dieses antisemitische Pamphlet zugleich, zur historischen und theologischen Forschung beizutragen.

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diger Infragestellung der Grundlagen eines sich über ein Jahrhundert hinziehenden Prozesses der bürgerlichen Gleichberechtigung durch die Behauptung einer ungelösten „Judenfrage“ sowie der Überschattung jüdischer Teilhabe an der deutschen Gesellschaft durch den von der Romantik bis ins 20. Jahrhundert in immer neuen Formen in Erscheinung tretenden Antisemitismus. Die – trotz gegenläufiger kritischer Akzente – überwiegend idealisierende Wahrnehmung Luthers, die mit der starken Identifikation der jüdischen Minderheit mit Deutschland und seiner Geistesgeschichte sowie mit der intensiven Hoffnung auf eine vollgültige und dauerhafte gleichberechtigte Integration in die deutsche Gesellschaft und Kultur zusammenhing, erscheint, betrachtet man die Antwort der überwiegenden Mehrheit der deutschen protestantischen Theologie wie der deutschen Gesellschaft insgesamt, als symbolischer Ausdruck einer unerwiderten, tragischen Liebe. Gerade die in der jüdischen Forschung vor 1933 dominierende scharfe Trennung zwischen dem zum Vorläufer der Emanzipation stilisierten Luther des Jahres 1523 und dem ins Mittelalter zurückgefallenen Luther von 1543 – eine Folge des Impulses, den Reformator nicht der antisemitischen Interpretation zu überlassen, sondern ihn der deutschen Gesellschaft in idealisierter Gestalt als Spiegel vorzuhalten – stand in der Gefahr, dem Reformator aufklärerische Motive zuzuschreiben, die historischer Analyse nicht standhalten, und die judentumsfeindlichen Konstanten seiner Theologie zu unterschätzen. Dass es sich bei den theologischen Kontinuitätslinien im Denken Luthers um Kernaspekte eines verhängnisvollen Antijudaismus handelt, dessen Fortschreibung in modernisierter Gestalt nicht einfach von der darin eingeschriebenen „Lehre der Verachtung“ (Jules Isaac) abgelöst werden kann und mit dazu beitrug, dass die protestantische Theologie dem Antisemitismus keine Tradition der Achtung entgegenzusetzen hatte, hat sich jüdischer wie christlicher Forschung jedoch erst nach der Shoah erschlossen103. Gershom Scholem hätte vermutlich den jüdischen Diskurs über Luther im Sinne seiner kritischen Diagnose des „Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch“ gedeutet, der zufolge die jüdische Minderheit „ein Gespräch mit den Deutschen“ versucht habe, „von allen möglichen Gesichtspunkten her, fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit“. Niemand, so seine Forderung an die Zeitgenossen nach der Shoah, „auch wer die Hoffnungslosigkeit dieses Schreis ins Leere von jeher begriffen“ habe, solle „dessen leidenschaftliche Intensität und die Töne der Hoffnung und der Trauer, die in ihm mitgeschwungen haben, geringschätzen“. Allerdings, von einem Gespräch zwischen Juden und Deutschen vermochte er „bei alledem nichts wahrzunehmen“, da die Hoffnung der Juden, in ihrem Selbstverständnis, ihrem Anspruch auf kulturelle Teilhabe und ihrer Hoffnung auf 103 Als Reflexion über die kontroverse historiographische Debatte über den differenzierten Zusammenhang von Antijudaismus und Antisemitismus vgl. Wiese / Kiesel, Zur politischen Dimension des Theologischen, 207–254.

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Achtung wahrgenommen zu werden, unerfüllt geblieben sei: „Niemals hat etwas diesem Schrei erwidert.“104 Diese Perspektive lässt sich, wenn es um die – begeisterte oder kritische – „Liebesgeschichte“ der jüdischen Intellektuellen mit Martin Luther und um ihren Versuch geht, den judenfeindlichen Lutherdeutungen unterschiedlicher Couleur eine Gegengeschichte entgegenzusetzen, nur schwer entkräften. Im historischen Rückblick erscheint diese Liebesgeschichte, der auf nichtjüdischer Seite, mit wenigen Ausnahmen, keine Wirklichkeit des Gesprächs und des Respekts vor der jüdischen Minorität und des Judentums als religiöse und kulturelle Tradition und Kultur in ihrer Zugehörigkeit wie in ihrer Eigenständigkeit und Differenz entsprach, als eine unverschuldet gescheiterte. Das – angesichts der erkennbaren Berührungen zwischen jüdischen und vereinzelten liberalen nichtjüdischen Deutungen – nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilte Projekt, Luther für eine Gegentradition von Aufklärung, Freiheit des Denkens und Humanität in Anspruch zu nehmen, mag sich im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrzehnte vor dem Völkermord als Utopie erwiesen haben, jedoch als eine, deren unzweifelhafter „ergreifender Würde“ für eine kritische protestantische Selbstreflexion in der Gegenwart große Bedeutung zukommt: allerdings gerade nicht im Sinne eines historisch gültigen jüdischen Zeugnisses für einen von theologischer Judenfeindschaft unbefleckten Kern des theologischen Denkens und politischen Handelns Luthers, sondern als Herausforderung zu einer differenzierten, von Apologetik freien Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

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Weimarer Republik und Nationalsozialismus

Gury Schneider-Ludorff

„Luther und die Juden“ in den theologischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit

1. Protestantismus im Spannungsfeld Für das Thema der Rezeption der „Judenschriften“ in den theologischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit ist von Bedeutung, dass sich das Verhältnis von Judentum und Protestantismus in den Jahren der Weimarer Republik in einem Spannungsfeld bewegte. Dies betraf sowohl die innerkirchlichen Gruppierungen als auch die theologische Wissenschaft: Artikel 137 der Weimarer Verfassung hatte die Religionsgesellschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts gleichgestellt, darunter auch die jüdische. Juden erhielten uneingeschränkt staatsbürgerliche Rechte und Pflichten. Zugleich lässt sich zwischen 1919 und 1923 eine Zunahme des Antisemitismus der völkischen Bewegung und der Rechtsparteien feststellen. Sie polemisierten und agitierten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Durchsetzung des Versailler Friedensvertrages gegen Revolution, Republik und die Pluralisierung von Gesellschaft, Politik und Kultur : Dabei unterstellten sie eine führende Rolle von Juden, die sie als Wegbereiter, Hauptvertreter und Unterstützer der wenig geschätzten Demokratie angriffen und als Urheber aller als negativ erlebten Entwicklungen der Gegenwart bekämpften1. Jene Kräfte, die an der Erhaltung der Weimarer Republik interessiert waren, versuchten den demokratiefeindlichen Kräften die liberalen Verfassungsnormen entgegenzusetzen2. In diesem Spannungsfeld also bewegte sich auch der Protestantismus in der Zwischenkriegszeit. Auf der einen Seite erhielt der sich im Kaiserreich etablierte latent oder offene Antisemitismus als kultureller Code3 neue Impulse durch die als krisenhaft erlebte Weimarer Republik und bildete das Fundament einer politisch wie religiös gerichteten Bewegung gegen die neue Ordnung der Weimarer Republik aber auch gegen liberale theologische Positionen. Auf der anderen Seite erreichte an den theologischen Fakultäten die Beschäftigung mit dem Judentum eine neue Dimension. Sie ist jener Entwicklung 1 Vgl. dazu ausführlich Jochmann, Antisemitismus, 148. 2 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Verhältnis, 164. 3 Volkow, Kultureller Code; vgl. zudem Jochmann, Antisemitismus. Zur herausgehobenen Rolle des Berliner Hofpredigers und Politikers Adolf Stoecker bei der Vermittlung dezidiert antisemitischer Vorstellungen in den kirchlich-protestantischen Bereich vgl. Greschat, Antisemitismus.

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geschuldet, die den Juden mit der politischen Gleichberechtigung der Weimarer Verfassung nun auch explizit eine institutionelle und organisatorische Gleichstellung rechtlich garantierte. Denn damit erhielt auch die von jüdischen Wissenschaftlern ins Leben gerufene Wissenschaft des Judentums4 neue Impulse. Diese hatten sich im Kaiserreich erstmals zu Wort melden können5. Die 1852 gegründete „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“, die dann 1939 mit dem 83. Band eingestellt werden musste, etablierte sich zunehmend als zentrales wissenschaftliches Organ. 1854 wurde das Seminar in Breslau zur Rabbinerausbildung gegründet. Zwar hatte sich die Forderung nach einem eigenen Lehrstuhl für jüdische Theologie innerhalb einer Universität nicht umsetzen lassen, jedoch war 1870 auf Basis von jüdischen Stiftungen und Spenden durch Abraham Geiger in Berlin im Gegenüber zur Universität die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ gegründet worden6. Diese musste sich 1883 aufgrund des in jenen Jahren grassierenden Antisemitismus in „Lehranstalt“ umbenennen und durfte erst unter dem preußischen Kultusminister Becker 1920 wieder die alte Bezeichnung tragen – bis 1934. In Frankfurt wurde 1923 Martin Buber Inhaber des erstmals eingerichteten Lehrstuhls für jüdische Religionsphilosophie7. Sowohl die Universität Leipzig wie die Universität Gießen errichteten ein Lektorat für rabbinische Literatur. Und in den Jahren 1927 bis 1934 erschienen zwei große jüdische Nachschlagewerke: das „Jüdische Lexikon“ von Georg Herlitz und Bruno Kirschner, herausgegeben im Jüdischen Verlag in Berlin, und die Fragment gebliebene „Encyclopaedia Judaica“, die 1934 ihr Erscheinen einstellen musste8. Die Zusammenarbeit von jüdischen und protestantischen Wissenschaftlern war vielfältig. Jüdische Wissenschaftler publizierten in protestantischtheologischen Zeitschriften, wie der „Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft“ und waren als Referenten gefragt. So eröffnete der neue Leiter des Berliner Institutum Judaicum – eine Einrichtung der Evangelischen Fakultät der Universität Berlin –, Hugo Greßmann, die Arbeit des Instituts mit einer Vortragsreihe, die von den jüdischen Wissenschaftlern Ismar Elbogen, Juda Bergmann, Michael Guttmann, Julius Guttmann und Leo Baeck gehalten wurde9. Umgekehrt genoss etwa der Tübinger Judaist und Neutestamentler Gerhard Kittel hohes Ansehen unter jüdischen Gelehrten, ungeachtet seiner wiederholt verbreiteten judenfeindlichen Theorien10.

4 5 6 7 8 9 10

Vgl. dazu ausführlich Wiese, Wissenschaft des Judentums. Vgl. dazu und zum folgenden: Siegele-Wenschkewitz, Verhältnis, 157–167. Vgl. ebd. 162. Siehe dazu auch Wiese, Wissenschaft des Judentums. Vgl. dazu Siegele-Wenschkewitz, Verhältnis, 165. Vgl. ebd. 165. Vgl. ebd., 166. Etwa 1926 in der Studie „Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum“. Zur Wertschätzung Kittels unter jüdischen Gelehrten vgl. Morgenstern, Schlatter.

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Die politische Situation der Weimarer Republik begünstigte neben den verschärften antisemitischen Angriffen offenbar ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein jüdischer Wissenschaftler, das von evangelischen Theologen mit Interesse und Respekt wahrgenommen wurde. Vielleicht erklärt dieser Umstand der Gleichzeitigkeit des vehementen Antisemitismus der völkischen Gruppierung und der zunehmenden Etablierung der Wissenschaft des Judentums durch die organisatorische Einbindung jüdischer Wissenschaftler in die Wissenschaftskultur der Weimarer Republik, dass die Auseinandersetzung um die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ an den Universitäten und im theologisch-wissenschaftlichen Bereich zunächst eher zurückhaltend aufgegriffen wurde11. Möglicherweise trug auch der Umstand dazu bei, dass völkisch-antisemitische Ideologen, wie etwa Theodor Fritsch, den Reformator zu einem der Kronzeugen ihres Judenhasses erklärten, die nicht als Wissenschaftler, sondern als nicht ernstzunehmende Agitatoren galten.

2. Der Beginn der Auseinandersetzung um Luthers „Judenschriften“ auf der Ebene des protestantischen Vereinswesens Es war der emeritierte Rostocker Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte, Wilhelm Walther, der relativ früh – bereits im März 1921 – direkt auf die kurz zuvor von Alfred Falb erschienen antisemitische Schrift „Luther und die Juden“12 reagierte. In einer fünf Folgen umfassenden Artikelserie in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung zum Thema „Luther und die Juden. Und die Antisemiten“13 setzte er der antisemitischen Vereinnahmung Luthers seine Position entgegen und gab damit die Rezeption in der Öffentlichkeit des kirchlich-konservativen Luthertums vor. Offenbar waren die „Judenschriften“ Luthers bekannt, wenn Walther gleich zu Beginn seiner Schrift einen Zeitgenossen darüber aufklärte, dass dieser mit seinen Behauptungen wohl nicht auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft sei: „Vor einiger Zeit sagte mir ein Theologe, er sei um einen Vortrag über ,Luther und die Juden‘ ersucht worden und habe wohl Lust, sich mit dem Thema zu beschäftigten, da es den Reiz der Neuheit für sich habe. Ich mußte ihm erwidern, dann werde er nicht viel weniger als zwei Dutzend Vorgänger haben. Denn Luthers Stellung zu den Juden ist so auffallend, daß sie nicht nur bei Christen ein verblüffendes Erstaunen auslösen, sondern auch bei Juden großen Unwillen erregen und das Verlangen nach einer 11 Vgl. dazu Schneider-Ludorff, Lutherrezeption in der Weimarer Republik, 457–459. 12 Falb, Luther und die Juden. 13 Walther, Luther.

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Abwehr erzeugen mußte. In diesem Jahr ist eine neue Schrift von Dr. Alfred Falb mit dem Titel „Luther und die Juden“ erschienen.“14

In seiner Abgrenzung gegen den völkischen Antisemitismus von Alfred Falb resümiert Walther dann: „Das ist das Erschütternde an dem heutigen Antisemitismus, daß er sich nicht damit begnügt, den Juden, mit denen wir es heute zu tun haben, ihre Fehler vorzuhalten, sondern auch für geboten hält, das Alte Testament der Verachtung, ja dem Haß preiszugeben […] So schroff die Antisemiten Luther widersprechen, wenn sie das Alte Testament in den Schmutz ziehen, so berechtigt sind sie, bei ihrem Kampfe gegen den jüdischen Geist sich auf Aussprüche Luthers zu berufen. Sie vermögen auch um so tieferen Eindruck mit dieser ihrer Berufung auf Luther deshalb zu machen, weil dieser lange Zeit hindurch eine viel freundlichere Stellung zu den Juden eingenommen hat, also erst durch viele betrübende Erfahrungen zu seinem harten Urteil gekommen ist.“15

Wilhelm Walther nimmt damit eine doppelte Abgrenzung vor: Zunächst versucht er, den völkischen Antisemiten Luther als Referenzfigur zu entziehen, indem er ihnen eine Fehlinterpretation der Theologie Luthers in Bezug auf das Alte Testament vorhält, auf der positiven Haltung Luthers gegenüber dem Alten Testament insistiert und damit das Alte Testament als christliches Erbe vor den Angriffen der Antisemiten in Schutz nimmt. Zugleich gesteht er ihnen jedoch zu, eine Lutherrezeption im Blick auf die Vorwürfe des zeitgenössischen Juden und den „jüdischen Geist“ vorzunehmen. Diese Trennung zwischen „Volk des Alten Testaments“ und „zeitgenössischem Judentum“, sollte sich im Laufe der Weimarer Republik als ein zentraler Interpretationsstrang durchsetzen, der dann in der Zeit des Nationalsozialismus wesentlich dafür verantwortlich wurde, dass von den Theologen ein Widerstand gegen die Judenverfolgung mit theologischen Argumenten nicht oder kaum erfolgte. Aus theologischer Sicht war es das Ziel, das Alte Testament als Erbe des Christentums zu retten. Dies gelang vermeintlich umso erfolgreicher, indem man sich von den jüdischen Zeitgenossen distanzierte und sich damit letztlich auch auf Luthers späte „Judenschriften“ beziehen konnte. Auch wenn Walther noch auf die Schrift Luthers von 1523 hinweist und eine andere Sichtweise Luthers annimmt sowie die Vorschläge der späten „Judenschriften“ als „hart“, und damit nicht als zeitgemäß ansieht – und vor allem nicht im Sinne einer religiösen Frage relevant –, ist die später sich durchsetzende Interpretationsstruktur hier bereits angelegt. Die Diskussion begann also als Reaktion auf die in dieser Zeit als Angriff auf die Kirchen und ihre theologischen Grundlagen verstandene und wohl auch intendierte Positionierung der völkischen Antisemiten. Von hier aus fand die Debatte um Luthers „Judenschriften“ im Laufe der 1920er Jahre Eingang in die 14 Ebd, 3. 15 Ebd., 3 f.

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Diskussion einer breiten kirchlichen Leserschaft16. Diese Breitenwirkung ist in ihrer Wirkung auf die Mentalität des Protestantismus der Weimarer Zeit nicht zu unterschätzen und führte zu Synergieeffekten mit der theologischen Wissenschaft zu Beginn der 1930er Jahre.

3. Die Zusammenarbeit jüdischer und evangelischer Wissenschaftler als Schutz gegen eine explizite Rezeption der späten „Judenschriften“ Luthers im akademischen Bereich Auf der Ebene der Universitätstheologie lässt sich zunächst eine andere Entwicklung feststellen, die möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass noch immer ein gewisser Anteil liberal orientierter Theologen und Hochschullehrer Lehrstühle der Theologischen Fakultäten inne hatten und die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit jüdischen Wissenschaftlern und der Wissenschaft des Judentums als bereichernd für die theologische Diskussion erlebte und beförderte. Dies mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass sich bis zum Ende der Weimarer Republik eine explizite Auseinandersetzung mit den „Judenschriften“ Luthers, vor allem den späten Schriften in der wissenschaftlichen Theologie an den Universitäten, nicht nachweisen lässt. Es finden sich keine wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich ausdrücklich mit den Schriften Luthers über die Juden befassen. Auch Anselm Schubert stellt in seinem Beitrag fest, dass die in jener Zeit entstandenen Biographien, das Verhältnis zwischen Luther und den Juden nicht beleuchten und auch seine Schriften nicht zitieren17. Inwieweit antijüdische Traditionen von Luthers Theologie im wissenschaftlichen Bereich auch und gerade in den exegetischen Fächern und von Vertretern auf den Lehrstühlen des Alten und Neuen Testaments der Weimarer Republik implizit weitergeführt und verschärft wurden, also untergründig fortwirkten, sich mit den antisemitischen Stereotypen amalgamierten und den Weg bereiteten, davon wird später die Rede sein. Denn die späten „Judenschriften“ Luthers waren bekannt, zumal, wie Volker Leppin in seinem Beitrag hervorhebt, seit 1921 Band 54 der Weimarer Ausgabe vorlag18, der die einschlägigen Schriften des Jahres 1543 enthält. Zunächst scheint auch ein großangelegtes Projekt des Mohr-Siebeck-Verlages eine gewisse Rolle bei der Abwehr der antisemitischen und antijüdischen Positionen geleistet zu haben. Denn dessen Leiter, Oskar Siebeck, von seiner politischen Überzeugung her ein vehementer Befürworter der Weimarer Demokratie und ihrer Verfassung, hatte seit 1919 den Plan einer Neuauflage 16 Vgl. dazu auch Wiese, Unheilsspuren, 91–135. 17 Vgl. dazu den Beitrag von Anselm Schubert in diesem Band. 18 Vgl. dazu den Beitrag von Volker Leppin in diesem Band.

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der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG) gefasst, diesen 1924 konkretisiert und eine konfessionelle sowie religiöse Öffnung dieses wirkmächtigen Kompendiums vorgeschlagen. Die Artikel der RGG II sollten auch von katholischen wie auch jüdischen Wissenschaftlern verfasst werden19. Die Neuauflage sollte sich von der in der RGG I stärker beachteten religionswissenschaftlichen und historischen Verortung der Beiträge nun auf die Relevanz für die Gegenwart konzentrieren. Die Herausgeber und Redakteure waren allesamt Vertreter der liberalen Theologie20 und zum Teil bereits mit der Herausgabe der RGG I betraut gewesen. Der Fokus auf die Gegenwartsfragen führte nun zu der besonderen Ausrichtung, dass für historische und theologische Artikel, die das Judentum betrafen, jüdische Wissenschaftler gewonnen wurden. Zum einen sollten sie Parallelartikel schreiben, zum anderen verfassten die jüdischen Wissenschaftler jene Artikel, die die Geschichte, Literatur und Religion des nachbiblischen Judentums zum Thema hatte21. Diese neue, durch den Weimarer Staat begünstigte Form der gegenseitigen Kenntnisnahme und Zusammenarbeit dauerte bis in die späten 1920er Jahre hinein an. Dennoch lässt sich eine Entwicklung der universitären Theologie analog zur nachlassenden Akzeptanz der Weimarer Demokratie feststellen. Während liberale theologische Positionen gegen Ende der zwanziger Jahre an Durchsetzungskraft verloren, erhielten die beiden sie kritisierende Richtungen zunehmend an Deutungshoheit und Resonanz an den Universitäten. Das waren auf der einen Seite die Holl-Schule – und in ihrem Zuge die Lutherrenaissance – und auf der anderen Seite die Vertreter der Dialektischen Theologie um Karl Barth, deren Vertreter seit Mitte der 1920er Jahre auf Lehrstühle gelangten.

19 Vgl. dazu und zum folgenden Siegele-Wenschkewitz, Verhältnis, 167–176; Vgl. dazu die instruktive und ausführliche Untersuchung von Oelschl•ger, Judentum; Vgl. auch Conrad, Lexikonpolitik. 20 Leopold Zscharnack, Horst Stephan, Hermann Gunkel, Hermann Faber und Alfred Bertholet. 21 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Verhältnis, 169–170. Leo Baeck verfasste Artikel zur Armenpflege, Askese, Geist, Speiseverbote, Gottesglaube, Messias, Mystik, Offenbarung, Sittlichkeit, Speiseverbote, Sünde, Verdienst, Vergeltung, Wohlfahrtspflege. Ismar Elbogen schrieb Parallelartikel über Gebet, Gottesdienst, Jugendbewegung, Kasusistik, Musik, Presse, Tradition, Vereinswesen. Julius Guttmann zum Begriff Versöhnung. Grundsätzliche Artikel schrieben Leo Baeck über Chassidismus und Judentum, Ismar Elbogen über Haggada, jüdische Seminare, Mischna, Talmud, Midrasch, Schma, Schmone Esre, Synagoge, Julius Guttmann über jüdische Philosophie, Sabbath, Zionismus.

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4. Die Verschärfung der antisemitischen Angriffe und die Diskussion um Luthers Stellung zu den Juden Ende der 1920er Jahre Einen neuen Impuls erhielt die Diskussion um Luthers „Judenschriften“ durch Schriften von Mathilde Ludendorff vom Tannenbergbund22. Sie hatte 1928 eine Artikelserie der Berliner Deutschen Wochenschau, dem Vereinsorgan des Tannenbergbundes, veröffentlich, in der sie der Kirche die Fälschung der Reformation Luthers vorwarf, indem sie dessen judenfeindliche Schriften verschwiegen habe23. Die Reaktion von protestantischer Seite erfolgte wiederum durch Vertreter des Verbandsprotestantismus – diesmal auch durch den Verband, der seit dem Kaiserreich versucht hatte, den aufkommenden Antisemitismus die Stirn zu bieten. So meldete sich der Stuttgarter Stadtpfarrer Eduard Lamparter mit seiner Schrift „Evangelische Kirche und Judentum. Ein Beitrag zu christlichem Verständnis von Judentum und Antisemitismus“ zu Wort. Der dem Vorstand des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ angehörende Lamparter hat mit seinen Publikationen in der Zeit der Weimarer Republik den Verein entscheidend geprägt24. In seiner Schrift resümierte er : „Der Luther, welcher die zwei Schriften ,Von den Juden und ihren Lügen‘ und ,Vom Shem Hamphoras und dem Geschlecht Christi‘ niedergeschrieben hat, ist zum Kronzeugen des modernen Antisemitismus geworden. Wir aber verweilen lieber bei dem Luther, der auf dem Höhepunkt seines reformatorischen Wirkens für die Unterdrückten, Verachteten und Verfemten in so warmen Worten eingetreten ist und der Christenheit die Nächstenliebe als die vornehmste Pflicht auch gegen die Juden so eindringlich ans Herz gelegt hat.“25

Für unsere Frage nach der Verortung der Rezeption der „Judenschriften“ in den theologischen Bewegungen ist hier das Geleitwort interessant, das im Herbst 1928 Theologen solch unterschiedlicher Richtungen wie Martin Rade, Otto Baumgarten, Friedrich Siegmund-Schulze, Paul Tillich und Karl Barth unterschrieben haben: „Die Stellung der evangelischen Geistlichen zu der antisemitischen Bewegung ist im Unterschied von der katholischen Kirche eine unsichere und gebrochene zum Schaden des friedlichen Verhältnisses der Konfessionen für unser Vaterland. Wir sind der Überzeugung, daß jene Bewegung, die im Gefolge des Weltkrieges einen mächtigen Aufschwung genommen hat, mit der christlichen Gesinnung und mit unserer Dankesschuld gegenüber der Wiege des Christentums unvereinbar ist. Ohne die 22 23 24 25

Zur Ideologie von Ludendorff und dem Tannenbergbund vgl. z. B. Tçllner, Schauspiel. Vgl. dazu Steinlein, Luthers Stellung, 2. Zeiss-Horbach, Verein, 354–363. Lamparter, Evangelische Kirche, 17.

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idealen Motive zu verkennen, die der antisemitischen Bewegung da und dort zu Grunde liegen, halten wir dafür, daß die evangelischen Geistlichen auf der Kanzel wie in ihrer Gemeindearbeit keinen Zweifel darüber aufkommen lassen sollten, daß sie die Aechtung einer ,Rasse‘ oder eines religiösen Bekenntnisses für eine Versündigung an Christus halten, der den eifernden Jüngern zurief: ,Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?‘ Die Broschüre des Stuttgarter Stadtpfarrers Lamparter, in der wir vornehme Sachlichkeit und ernste Wissenschaftlichkeit mit warmer Sympathie für die Opfer des Fanatimus verbunden finden, schein uns vorzüglich geeignet, zur Klärung des Verhältnisses der evangelischen Kirche zum Antisemitismus beizutragen. Wir empfehlen sie darum der ernstlichen Berücksichtigung seitens der evangelischen Geistlichen.“26

Das Geleitwort verurteilte also den Antisemitismus als nicht christusgemäß und stellte ihm zugleich Luthers vermeintlich judenfreundliche Schrift von 1523 als Vorbild entgegen. Auch Pfarrer Hermann Steinlein vom „Verein für innere Mission“ in Nürnberg verwies auf die inzwischen durch Theodor Fritsch, Alfred Falb und Mathilde Ludendorff angestoßene breite Diskussion um Luthers „Judenschriften“. Er warnte in seiner gegen Mathilde Ludendorff gerichteten Schrift „Luthers Stellung zum Judentum“, die 1929 in der Schriftenreihe der „Arbeitsgemeinschaft für Volksmission des Landesvereins für Innere Mission in Bayern r.d. Rheins“ erschien: „So sehr wir Luther hochschätzen und von ihm oft selbst in nebensächlichen Dingen lernen können so ist er uns doch nicht unfehlbare oberste Autorität.“27 Selbst wenn sich hier am Ende der Weimarer Republik noch einmal mit Vehemenz Stimmen zu Wort meldeten, die der zunehmenden Rezeption der späten „Judenschriften“ durch die völkischen Antisemiten die Legitimität bestritten und ihr demonstrativ die Schrift von 1523 als vermeintlich angemessene Position entgegenstellten, zeigt sich doch auch, dass inzwischen die Entwicklung der universitären Theologie – auch gerade in den exegetischen Fächern – eine Wendung genommen hatte, die der gesteigerten Rezeption von Luthers späten „Judenschriften“ im Jahr 1933 zuarbeitete. Denn als die antisemitischen Angriffe auf das Alte Testament und die Vorwürfe zunahmen, die Protestanten betrieben eine „Judaisierung“ des Christentums, waren besonders die Alttestamentler und Neutestamentler auf den Plan getreten, um sich der Abwertung des Alten Testamentes als Glaubensurkunde des Christentums entgegenzustellen. Die Diskussion über die Bedeutung des Alten Testaments und seine Zuordnung zum biblischen Kanon des Christentums, die bereits im Kaiserreich geführt worden war, geriet im Laufe der Weimarer Republik weiter in den Fokus der wissenschaftlichen Theologie an den Universitäten und löste eine breite Debatte bei den Exegeten jeglicher theologischer Provenienz aus. Das 26 Geleitwort der Schrift von Lamparter als Einzelblatt beigelegt. 27 Steinlein, Luthers Stellung, 14.

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Thema stand auf der Tagesordnung, weil sich sowohl auf liberaler als auch auf völkischer Seite ablehnende Stimmen gegenüber dem Alten Testament mehrten. Das Spannungsfeld, in dem sich die Bearbeitung dieser Thematik bewegte und die Weichen, die sie für die Rezeption der späten „Judenschriften“ Luthers stellte, zeigt sich beispielsweise an dem Artikel „Judentum“ der RGG II. Ganz nach dem neuen Konzept des Verlages und der Herausgeber waren für diesen Artikel statt eines alleinigen, christlichen, Verfassers wie in RGG I (Paul Fiebig) nun insgesamt vier Autoren gewonnen worden: Die ersten drei waren der prominente Alttestamentler und Religionsgeschichtler Otto Eißfeldt (Judentum I: Vom Exil bis Hadrian) sowie die ebenso prominenten jüdischen Wissenschaftler Ismar Elbogen (Judentum II A: Bis zur Neuzeit. 135–1780) und Leo Baeck (Judentum II B: Neue Zeit und Gegenwart)28. Als vierten Autor fragte man im Sommer 1927 den als ausgewiesenen Kenner des Judentums geltenden Gerhard Kittel an, ob er nicht für die Neuauflage der RGG II einen grundsätzlichen Artikel „Judentum III: Judentum und Christentum“ schreiben wolle. „Er soll so ähnlich angelegt sein wie etwa, Buddhismus und Christentum‘ und soll eine Art missionarischer Auseinandersetzung mit dem Judentum bis zur Gegenwart vom christlichen Standpunkt aus bilden und so den Artikel über ,Judenmission‘ vorarbeiten.“29 Kittel sollte also in einem vierten und letzten Teil des Artikels „Judentum“, das Thema Juden und Christen noch einmal aus christlicher Perspektive in Bezug auf die Gegenwart in den Blick nehmen und zugleich eine Scharnierfunktion zum Artikel Judenmission übernehmen. Insgesamt spiegelt dieser Artikel die politische wie auch theologische Spannung am Ende der Weimarer Republik: Paul Fiebig hatte in seinem Artikel in der RGG I Luthers „Judenschriften“ – auch die Spätschriften – erwähnt. Diese Problematik war bei der Neuauflage also schon bekannt und die wesentlichen Informationen darüber seitdem in dem prominenten Lexikon zugänglich. Interessanterweise wies Ismar Elbogen, der diesen Abschnitt in der RGG II zu behandeln hatte, in seiner Darstellung der Geschichte der Neuzeit weder auf Luther noch auf seine „Judenschriften“ hin30. Die Reformation wird nur mit ihrem Impuls der Gewissensfreiheit für die Geschichte der Neuzeit vorgestellt. Elbogen überging also die negative Rolle Luthers – und das obwohl Willy Cohn im zeitgleich erschienenen „Jüdischen Lexikon“ ausführlich die Judenfeindschaft Luthers samt seiner Schriften darstellte31. Offenbar ging es Elbogen vielmehr darum, im Sinne des Gegenwartsbezugs die Emanzipation der Juden und ihre Integration in die Gesellschaft herauszustellen. So legte er 28 Vgl. dazu und zum Folgenden den Artikel Judentum, in RGG2 3 (1929), 469–494. Vgl dazu ausführlich die Untersuchung von Oelschl•ger, Judentum, 123–287. 29 Schreiben von Oskar Rühle im Auftrag von Hermann Gunkel an Gerhard Kittel vom 30. 8. 1927, zitiert nach Oelschl•ger, Judentum, 257. 30 Vgl. Elbogen, Judentum II A, 477–486. 31 Vgl. dazu Cohn, Luther, 1254–1256.

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Wert auf die Aufklärung und ihre Traditionen, die Pluralität der Theologien des Judentums, die vielfältigen Reformansätze, die Teilnahme jüdischer Freiwilliger an den Freiheitskriegen, und damit die patriotische Gesinnung der deutschen Judenheit. Auch Leo Baeck zeichnete die Entwicklung des Judentums in den Rahmen der europäischen Geschichte unter der Überschrift der „Emanzipation“ ein, hob die verschiedenen Ausrichtungen hervor, den Umbruch der Moderne und beschrieb differenziert die Neuansätze im 19. Jahrhundert.32 Auch er betonte die Integration der Juden in die europäische und deutsche Gesellschaft33. Dieses jüdische Selbstverständnis, das sich in den beiden Teilabschnitten des Artikels „Judentum“ der RGG2 zeigt, konterkariert der abschließende vierte Teil des Artikels, den der Judaist und Neutestamentler Gerhard Kittel unter der Überschrift „Judentum und Christentum“ verfasst hatte. Im Gegensatz zu Elbogen und Baeck behauptete Kittel, dass sich das echte Judentum lediglich im Volk Israel des Alten Testaments zeige. Zugleich betonte er, dass das Handeln Gottes mit seinem Volk zum Ziel gehabt habe, das „neue Israel“ und „neue Gottesvolk“ zu schaffen. Mit dem Hinweis, das Christentum wisse sich als Erfüllung jener Verheißung und Erfüllung jener Geschichte Gottes, reproduzierte er die traditionelle christliche Enterbungstheorie34. Für unsere Fragestellung wichtig ist jedoch besonders die Argumentation, die Kittel im letzten Teil seiner Ausführungen vornahm: Wenngleich er zugestand, dass Judentum und Christentum durch die Gebote und den Geist des Alten Testaments ihre sittliche Kraft erhalten hätten, trat für ihn eine „unüberbrückbare Gegensätzlichkeit“35 in deren unterschiedlichen Rezeptionen der Gebote und sittlichen Forderungen zutage. Im Judentum hätten die sittlichen Impulse des Alten Testaments eine „Leistungsreligion“ hervorgebracht, während sie im Christentum mit Christus zur „reinen und ausschließlichen Religion der Gnade“ geführt habe.36 Kittel propagierte also eine qualitativ unterschiedliche doppelte Rezeption des Alten Testamentes. Legitime und illegitime Auslegung markierten den Bruch zwischen Judentum und Christentum. Kittel griff auf diese hermeneutische Konzeption zurück, derer sich beispielsweise bereits die Alte Kirche und die Reformatoren bedient hatten, um so das recht verstandene Alte Testament gegenüber der antisemitischen Abwertung für das Christentum als Glaubensurkunde zu erhalten und sich zugleich vom Judentum zu distanzieren, das dieselbe Urkunde verkehrt verstand. 32 Vgl. Baeck, Judentum II.B, 486–491. 33 Vgl. dazu die ausführliche, präzise und erhellende Analyse von Oelschl•ger, Judentum, 137–254, hier: 203. 34 Vgl. Kittel, Judentum III, 493. 35 Ebd. 36 Ebd., 494.

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Kittels Rückgriff auf traditionell antijudaistische hermeneutische Topoi markiert die Richtung, in der sich die seit 1933 erfolgten Rezeption von Luthers späten „Judenschriften“ bewegte. Erkennbar diktierte in beiden Fällen die Abgrenzung von der Völkischen Bewegung die Auseinandersetzung. Diese Entwicklung kulminierte erstmals im Jahr 1933, als die von der Lutherrenaissance geprägten Kirchenhistoriker zum 450. Geburtstag des Reformators zur Wort meldeten. Luther wurde als Erneuerer des Deutschtums gefeiert37. Das Luthergedenken rückte auch Luthers „Judenschriften“ zunehmend in die öffentliche Diskussion der kontroversen „Judenfrage“. Nahezu sämtliche Kirchenhistoriker der Lutherrenaissance haben das Thema behandelt38 und ihren Teil zur Verbreitung der von Luther entfalteten theologischen Interpretationsmuster beigetragen. Sie konnten zudem in ihrer Argumentation aufbauen auf die durch die Exegeten wiederholte Behauptung, das Volk Israel habe sich abgespalten vom Urchristentum und sei mit seiner abweichenden Interpretation des Alten Testaments eine theologisch irrelevante Größe. Kirchenhistoriker wie Heinrich Bornkamm, Hanns Rückert und Erich Vogelsang untermauerten dies durch Verweis auf die späten Schriften Luthers über die Juden39. Im Gegensatz zu der in der Weimarer Republik von Vertretern des Verbandsprotestantismus als Verteidigung gegen antisemitische Anwürfe ins Feld geführten angeblich judenfreundlichen Schrift Luthers von 1523 lässt sich feststellen, dass die prägenden lutherischen Theologen und Kirchenhistoriker sich 1933 auf die Äußerungen des späten Luther zum Judentum beriefen und ausschließlich seine späten „Judenschriften“ rezipierten40. Marijke Smid hat dies in ihrer 1990 erschienen Dissertation bereits ausführlich untersucht41. Sie weist darauf hin, dass das Judenbild, das auf diese Weise konstruiert und theologisch – auch durch den Verweis auf die Position Luthers – untermauert wurde, das Bild eines Volkes vorstellte, das dem Christentum feindlich gegenüberstand, „ein fremdartiges, weil fremdrassiges und für die eigene Fortexistenz bedrohliches Volkstum“42. Besonders bedenkenswert ist, dass darunter gerade auch Theologen waren, die in der Weimarer Zeit einen engen Kontakt zu jüdischen Wissenschaftlern pflegten. So äußerte sich Kittel im Juni 1933 in seinem öffentlichen Vortrag

37 Vgl. Zur Mìhlen, Wirkung und Rezeption, 482–488; Leppin, Lutherforschung, 69–80; Schneider-Ludorff, Lutherrezeption im Nationalsozialismus, 437–439; 38 Vgl. dazu Brosseder, Luthers Stellung. 39 Vgl. z. B. Bornkamm, Volk und Rasse, 5–19; Vogelsang, Luthers Kampf; Kittel, Judenfrage; Siegele-Wenschkewitz, Geschichtsverständnis; Siegele-Wenschkewitz, Universitätstheologie; Leppin, Rosenbergs Schatten. 40 Vgl. dazu Smid, Protestantismus, 277; vgl. auch Kaufmann / Oelke, Evangelische Kirchenhistoriker. 41 Vgl. dazu Smid, Protestantismus, 264–280. 42 Ebd., 277.

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„Die Judenfrage“43 zum 50. Jahrestag der Gründung des „Vereins Deutscher Studenten“ in Tübingen nun zur aktuellen Situation der Juden im Reich und leitete aus seinen exegetischen Theorien zum Verhältnis von Judentum und Christentum Schlüsse für politische Maßnahmen ab: „Die einzige für die abendländischen Völker und für das echte Judentum selbst tragbare und sinnvolle Form des Judentums ist darum das in seiner Stellung als nicht assimilierter Gast verbleibende Judentum, das seine Zerstreuung und Fremdlingsschaft als Gottes Gericht bejaht. Es gilt also den Gastzustand wieder her zu stellen. Es gibt keine „Deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“, sondern nur in Deutschland lebende Juden. Das Recht des Gastes muss gegenüber dem des Bürgers abgegrenzt werden.“44

Kittel plädierte also dafür, Juden unter eine Fremdgesetzgebung zu stellen45. Der publizierte Vortrag Kittels fand breite Resonanz, so auch bei Erich Vogelsang, der ihn seiner im selben Jahr erschienenen Schrift „Luthers Kampf gegen die Juden“ seinen Ausführungen zugrunde legte46. Auch bei Vogelsang zeigt sich die Tendenz, eine größtmögliche Distanzierung zum Judentum und den zeitgenössischen Jüdinnen und Juden zu schaffen, indem er die konträre Rezeption des Alten Testament durch Christen und Juden akzentuiert. Fatal ist schließlich Vogelsangs Rezeption der Lutherschriften in der Weise, dass er – wie auch Kittel zuvor – die Frage, wie mit Juden umzugehen sei, der Obrigkeit zuordnete. Theologische Fragen nach einer Verbundenheit von Judentum und Christentum liegen außerhalb dieser Perspektive: Die zeitgenössischen Juden gelten darin vielmehr als Sondergruppe, die nichts mit dem Christentum zu tun hat. Ihr Schicksal liegt demnach allein in der Hand der politischen Gewalt. Dieses Denken führte Vogelsang auf Luther zurück. Der Wittenberger Reformator wisse nämlich, „dass die Judenfrage in der konkreten Entscheidung eine volkspolitische und staatspolitische ist, bei der man nicht von dem einzelnen vielleicht ausnahmsweise gutartigen Juden und nicht von dem einzelnen vielleicht rachsüchtigen oder geschäftsneidischen Christen aus, sondern nur vom Grundsätzlichen und vom Ganzen aus, von dem das Judentum als Gesamterscheinung und von der deutschen Christenheit als Gesamtkörper denken muss. Niemals wird ein individualistisches sondern nur ein volkspolitisches Denken zu einer entscheidenden Lösung der Judenfrage schreiten können.“47 43 Der Vortrag erschien 1933 in mehreren Auflagen als Broschüre mit zwei Beilagen (Antwort an Martin Buber und eine Erklärung „Kirche und Judenchristen“). 44 Kittel, Judenfrage 40. 45 Vgl. dazu auch die ausführliche Analyse des Vortrags bei Siegele-Wenschkewitz, Evangelisch-theologische Fakultät, 53–80. 46 Vgl. zum Folgenden: Vogelsang, Luthers Kampf, 1–35; Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu auch der Beitrag von Oliver Arnhold in diesem Band. Zur theologischen Entwicklung Vogelsangs, siehe: Leppin, Rosenbergs Schatten. 47 Vogelsang, Luthers Kampf, 28. Hervorhebung im Original.

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Vogelsang bezieht sich damit auf die sieben Ratschläge Luthers aus dessen Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) und postuliert: was Luther in seiner scharfen Barmherzigkeit fordere, sei theologisch gesprochen der „usus politicus legis“48. Mit dem Rekurs auf Luther und das lutherische Obrigkeitsverständnis erteilte Vogelsang auch dem nationalsozialistischen Staat eine theologische Legitimation: In seinen Bereich fällt die alleinige Zuständigkeit für die Juden.

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Nimmt man die beiden für die Bekennende Kirche besonders einschlägigen Publikationen zur Hand, die „Junge Kirche“ und die Reihe „Theologische Existenz heute“, so ist für unser Thema weitgehend Fehlanzeige zu vermelden. Kein Heft der „Theologischen Existenz heute“ nimmt das Thema auf1 und auch in der „Jungen Kirche“ finden sich nur zwei Beiträge, auf die noch einzugehen sein wird. Wie wenig zentral dieses Thema für die Bekennende Kirche war, ist auch daran zu erkennen, dass sich kein Exponent der Bekennenden Kirche zu „Luther und die Juden“ zu Wort meldete, vielmehr waren es eher unbekannte, allenfalls regional bedeutsame Personen, die zur Feder griffen. Auch wenn die Frage nach der Einführung eines „Arierparagraphen“ mit zur Gründung der Jungreformatorischen Bewegung und dann auch des Pfarrernotbundes wesentlich beitrug – und damit im Vorfeld der sich gründenden Bekennenden Kirche eine wichtige Rolle spielte –, so standen bei dieser Auseinandersetzung kirchengeschichtliche Aspekte wie Luthers Haltung zu den Juden ganz im Hintergrund. In Rechnung zu stellen ist – dies sei eingangs herausgestellt –, dass sämtliche Autoren, auf die im Folgenden einzugehen sein wird, die seit den Zeiten der Alten Kirche geltend gemachten Vorwürfe gegen die Juden teilten. Man findet in ihren Beiträgen die Substitutionstheorie, die Verwerfungstheorie sowie die verallgemeinernde Sicht, dass die Juden Feinde Christi und der Kirche seien. Auch vertreten sie die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert geforderte Abwehr eines vorgeblich „zersetzenden Einfluß des religionslosen Judentums auf den mancherlei Gebieten unseres Volkslebens“ – genannt werden Politik, Wirtschaft, Rechtswesen, Kultur und Presse2. Auch stellte keiner der Autoren die Kategorie „Rasse“ in Frage oder problematisierte die verallgemeinernde Rede von „dem Juden“. Entgegen der Feststellung von Christopher Probst, „surely many Protestants in Hitler’s Germany might have read Luther’s recommendations“3, ist – auch mit Johannes Brosseder4 – der Beobachtung von Johannes Wallmann 1 Vgl. Reprint der zwischen 1933 und 1941 erschienenen 77 Bände der Theologischen Existenz heute. München 1980, hier: Bd. 1, XXXI–XXXVI. Auch Karl Barth geht in seinem Beitrag „Lutherfeier 1933“ (ThExh Heft 4, 1933) nicht auf Luthers Haltung zu den Juden ein. 2 Vgl. Materialdienst, Nr. 18 vom 29. 9. 1932, 144. Vgl. ebenso Nr. 19 vom 12. 10. 1932, 150 f. 3 Probst, Demonizing 13. 4 Vgl. Brosseder, Stellung, 184 f.

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zuzustimmen, dass Luthers judenfeindliche Texte in dem 1930er-Jahren wenig bekannt waren5. Zwar war 1920 in der Weimarer Ausgabe von Luthers Schriften der Band 53 erschienen, der die „Judenschriften“ des Jahres 1543 bot, doch war dieser einem breiteren Publikum wohl nicht zugänglich. Die Wallmannsche These wird dadurch gestützt, dass 1934 und 1936 Publikationen erschienen, die zu einem Großteil aus Zitaten aus Luthers „Judenschriften“ bestanden, um so interessierten Leserinnen und Lesern mit dem Originaltext in Bekanntschaft zu bringen. Auch ein Rundschreiben der Württembergische Bekenntnisgemeinschaft aus dem Jahre 1935 legt nahe, dass die Texte eher unbekannt waren, da man sich bemüßigt fühlte zu betonen, es habe „nie den Versuch“ gegeben, „die Einstellung Luthers zu vertuschen“6 ; die einschlägigen Texte seien zuletzt 1931 vom Verlag Landesverein der Inneren Mission in Dresden in einer preiswerten Ausgabe unter dem Titel „Von den Jüden und ihren Lügen“ zugänglich gemacht worden. Zuletzt bleibt noch darauf hinzuweisen, dass auch ein Beitrag im „Deutschen Pfarrerblatt“ vom Ende des Jahres 1935 belegt, dass selbst in der Pfarrerschaft Luthers „Judenschriften“, zumal dessen spätere Schriften, wenig bekannt waren: Karl Ramge bot eine detaillierte Aufstellung der Publikationsorte der wichtigsten Schriften. Allerdings ist der einleitende Hinweis, diese „Lutherschriften [… seien] in allen Ausgaben seiner Werke enthalten“, nicht zutreffend, da die in den 1930er-Jahren vor allem genutzten Bonner (ab 1912) und Münchner (ab 1914) Auswahl-Ausgaben diese Texte eben nicht enthielten7. Ramge verwies denn auch vor allem auf die Wittenberger (ab 1539), die Jenaer (ab 1555), die Walchsche (ab 1770), die Erlanger (ab 1886) und die Weimarer Ausgabe (ab 1883)8. Eine umfassende und leicht zugängliche Ausgabe von Luthers „Judenschriften“ war demnach in den 1930er-Jahren dringlich. Als Ergänzungsband 3 erschien in der Münchner Ausgabe 1936 ein Band mit „Schriften wider Juden und Türken“, der eine auf der Weimarer Ausgabe beruhende Zusammenstellung sämtlicher einschlägiger Texte Luthers zur „Judenfrage“ bot. Für die nachfolgenden Darlegungen sind – neben den Quellentexten – zwei solenne Studien einschlägig, die beide die Rezeption von Luthers Judenschriften in der Zeit des Nationalsozialismus zum Thema haben: Eine Monographie des katholischen Theologen Johannes Brosseder aus dem Jahr 1972 und eine Studie des Historikers Christopher Probst von 20129. Zur Auswahl der zu betrachtenden Texte sei angemerkt, dass einige scheinbar unser Thema tangierende Beiträge die Haltung der Kirche zum Judentum allgemein thematisieren10 ; sie werden nur dann bedacht, wenn sie dezidiert auch Luthers 5 6 7 8 9 10

Vgl. Wallmann, Kirche, 6/2014, 332 f. und 7/2014, 284 f. Sch•fer, Dokumentation 4, 398. Ramge, Schriften, 778. Vgl. Schilling, Art. Lutherausgaben, 595–598. Brosseder, Stellung; und Probst, Demonizing. Vgl. z. B. Halfmann, Kirche. Vgl. zu Halfmann: Zankel, Kirche, 53–66.

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„Judenschriften“ in den Blick nehmen11. Sodann werden solche Ausarbeitungen – publizierte oder unpublizierte – in die Untersuchung eingebunden, die entweder von Personen vorgelegt worden, die sich aktiv für die Bekennende Kirche engagierten oder die eine Distanzierung von der deutschchristlichen Sicht auf Luthers „Judenschriften“ erkennen lassen. Zu ersteren gehörten unter anderen Heinrich Fausel, Walter Gabriel oder Hugo Gerhard Bluth, zu letzteren Hermann Steinlein oder Hansgeorg Schroth. Es wird für die vorzustellenden Beiträge – darunter zwei unveröffentlichte – jeweils zu untersuchen sein, welcher Anlass für ihre Entstehung geltend zu machen ist und wie auf Luthers „Judenschriften“ Bezug genommen wurde. Zu fragen sein wird ebenfalls danach, inwieweit die Autoren der zeitgenössischen Haltung gegenüber den Juden Tribut zollten und ob sie von Luther her Distanz üben oder gar ausdrückliche Kritik äußern konnten. Neben der Darstellung von Kontinuitäten wird in besonderem Maß darauf zu achten sein, wo die jeweiligen Autoren sich dem Mainstream entgegenstellten. Interessant ist auch, gegen wen gegebenenfalls Position bezogen wurde: Blieben die Autoren auf der theologische Ebene oder äußerten sie sich auch im Blick auf die politischen Entwicklungen? Als These sei vorab formuliert, dass Beiträge aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche zu „Luther und die Juden“ in der Regel auf konkrete Herausforderungen reagierten. Stellungnahmen verdankten sich deutschchristlichen Aktionen – beispielsweise der Polemik gegen die Taufe von Juden – oder Vorstößen von nationalsozialistischen Protagonisten, die Luther als Vorläufer ihrer antisemitischen Maßnahmen vereinnahmten. In einem ersten Abschnitt soll in zwei Texte eingeführt werden, die grundsätzlich Luthers „Judenschriften“ vorstellen und sie allgemein zu beurteilen suchen; sodann sollen eine Reihe von Publikationen bedacht werden, die die Frage der Taufe von Juden und der Bedeutung des Alten Testaments für die Kirche aufwerfen und sich auf Luthers Haltung beziehen. Ein dritter Teil bietet Aufsätze, die zwischen 1936 und 1938 erschienen; abschließend wird noch ein Blick über die Grenze geworfen, wenn die Ausarbeitung eines schweizerischen Pfarrers betrachtet wird.

1. Zwei programmatische Äußerungen aus den Jahren 1934 und 1935 Anfang Januar 1934 führte der Evangelische Gemeindedienst / Ev. Volksbund Württemberg in der Dekanatsstadt Leonberg eine sechsteilige Vortragsreihe 11 Beispielsweise Heinrich Fausels Vortrag „Die Judenfrage“ (Vortragsmanuskript in: LKA Stuttgart D33).

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durch, die unter dem Generaltitel „Das Christentum im dritten Reich“ stand12. Der junge Heimsheimer Pfarrer Heinrich Fausel – später Mitglied der Wurm kritisierenden und der radikalen Bekennenden Kirche dahlemitischer Prägung nahestehenden Kirchlich-theologischen Sozietät – trug am zweiten Abend über „Die Judenfrage“ vor, ein Thema, das zahlreiche Zuhörer anzog und auch in der örtlichen Presse Resonanz fand13. Fausel fasste die Judenfrage streng christologisch – es gehe im „Raum der Kirche […] nicht um die Frage der bestimmten Rasse […], sondern um die Stellung zur Mitte der Welt, zu Christus.“14 Es gehe „in der Geschichte des jüdischen Volkes um die Frage des Gehorsams gegen Gott.“ Der „Kern der Judenfrage“ bestehe darin, dass Gott mit „diesem bösen und halsstarrigen Volke […] einen Bund geschlossen [habe], dieses Volk hat er unter vielen andern erwählt“. Der Jude sei „der lebendige Beweis dafür, dass Gott seine Gnade schenken kann, wem er will, dass er frei ist zu wählen, wie er will“. Durch „die Verstocktheit der Juden“ sei „die verschlossene Tür zu den Heiden aufgegangen“. Im Blick auf die „uns heute bedrängende [.] Judenfrage [sei] eine unmittelbare, direkte Antwort aus dem Neuen Testament“ unmöglich, da die aktuelle Schärfe der Judenfrage sich erst „durch das Erwachen des modernen Rassebewusstseins“ stelle, das sich gegen die Bedrohung des eigenen Volkstums durch fremde Einflüsse wehre. Der Staat habe daher eine „ungeheure Aufgabe, die Quellen seiner Kraft und seiner Existenz, das Volkstum reinzuerhalten und gegen die erschreckende Überfremdung […] anzukämpfen.“ Durch „die Gedanken der französischen Revolution [… sei] jede Möglichkeit abhanden“ gekommen, „dem immer wilder einströmenden, immer zügelloser emporkommenden entwurzelten Geiste eines von allen Bindungen gelösten Judentums entgegenzuwirken.“ Die Taufe sei dadurch zum „Eintrittsbillet in die Gesellschaft“ verkommen. Nach diesen Ausführungen zu den aktuellen politischen Herausforderungen lenkte Fausel den Blick zurück auf seine Eingangsthese, derzufolge zur „Beurteilung der Juden […] die Christusfrage“ entscheidend sei. Dies sehe man auch bei Luther. Da man „in letzter Zeit so viel Halbrichtiges über Luthers Stellung zu den Juden gehört“ habe, wolle er diese „einmal deutlich“ machen. Luther sei bereits in Worms in persönlichen Kontakt mit Juden gekommen und habe sich in den ersten Jahren seiner Wirksamkeit günstig über die Juden ausgesprochen – dies zeige sich in der Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“. Er hoffte, „dass das neue, goldene Licht des Evangeliums viele Juden […] zum Christenglauben führen werde.“ Allerdings musste er bald feststellen, dass er bei den Juden „keinen Eingang“ fand, ja, dass König Ferdinand die Juden gewähren ließ, während er zugleich „evangelische Gemeinden zerstörte“. Diese Erfahrungen hätten Luther „gegen Ende seines 12 Vgl. Werbezettel bei Rçhm / Thierfelder, Juden, Bd. 1, 164. 13 Vgl. ebd., 165. Vgl. zu Fausel Lehmann, Fausel, 259–267. 14 Vortragsmanuskript in: LKA Stuttgart D33. Vgl. auch Probst, Demonizing, 1 f. und 94–99.

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Lebens gegen die Juden eingenommen“, zumal er gehört habe, dass sich bereits 1532 in Mähren „Christen durch Jüdisches Geschmeiss“ verführen ließen, den „Sabbat und das ganze jüdische Gesetz zu beobachten und sich sogar der Beschneidung zu unterziehen.“ Die in diesem Zusammenhang entstandenen Altersschriften Luthers fasste Fausel in drei Sätzen zusammen: Luther sah „in den Juden die Feinde Christi“, er schlug – zweitens – „eine Reihe von unerhört scharfen Massregeln gegen die Leugner Christi vor“ und er habe drittens „die Hoffnung auf Umkehr des Judenvolkes“ verloren, doch hielt er „an der Hoffnung von Einzelumkehr fest.“ Im Blick auf Punkt 2 hob Fausel nachdrücklich hervor, dass die von Luther genannten Maßnahmen von der Obrigkeit durchzuführen seien, da diese ansonsten „all der Lügen, des Lästerns, Speiens und Fluchens“ der Juden gegen Christus teilhaftig würde. Zugleich habe Luther die Prediger gebeten, das Volk zu ermahnen, „dass man doch ja nicht persönlich sich an […den Juden] rächen solle“; hier müsse allein die Obrigkeit um ihres Amtes willen walten. Zu Punkt 3 bemerkte Fausel, dass Luther zwar die Anweisung gegeben habe, die Juden aus dem Land zu treiben, doch wenn sich Juden bekehren lassen, sollten „sie gern als unsre Brüder“ angenommen werden. Zusammenfassend hielt Fausel fest, Luthers scharfe Beurteilung der Juden sei durch deren „Ungehorsam gegen Christus“ bedingt; alle anderen Laster hätten hier „ihre Ursache“. Fausel leitete aus dieser Haltung des Reformators für die Gegenwart ab, dass die „staatlichen Bemühungen des Schutzes des eigenen Volkes“ zu bejahen seien, während alle „Versuche, im Raum der Kirche den Arierparagraphen gesetzlich einzuführen“, abgelehnt werden müssten, da er das Wesen der Kirche angreife. Die Einführung eines solchen Paragraphen sei auch unnötig, da im Pfarrerstand keine „Überfremdung“ eingetreten sei – lediglich bei sechs von 18.000 Pfarrern komme ein solcher zur Anwendung –, zudem stelle die Einführung „einen Rückfall in jüdische Gesetzlichkeit“ dar und in der Kirche solle „das Gesetz nicht herrschen, sondern das Evangelium“. Dieser Vortrag wurde etwas ausführlicher vorgestellt, da er mir beispielhaft für den Rekurs auf Luthers „Judenschriften“ durch bekenntniskirchliche Theologen zu sein scheint. Zunächst ist hervorzuheben, dass Fausel ganz in der Tradition der bereits in der Alten Kirche ausgebildeten Denkschemata steht: Die Juden sind zwar das von Gott erwählte Volk, haben diese Erwählung aber durch die Ablehnung Christi verwirkt. Hier zeigt sich die Verwerfungstheorie ebenso ungebrochen wie die Substitutionstheorie. Über diese Fundierung Fausels hinaus fällt auf, dass er einen dezidierten Bruch zwischen Luthers frühen und späten Schriften herausstellte, wobei freilich die Grundfrage – Stellung der Juden zu Jesus Christus – als Konstante hervortrat. Wichtig war ihm zu betonen, dass es die Verpflichtung der Obrigkeit sei, einen auch von ihm als übermäßig empfundenen Einfluss der Juden zurückzudrängen; wobei er zugleich betonte, dass keine persönlichen Rachegefühle oder gar Hass des Einzelnen zu Aktionen berechtigen. Fausel bezeichnete es als „entscheidende[n] Unterschied von Luthers Judenpolemik gegen diejenige

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seiner Zeit“, dass er jegliche regellose Lynchjustiz ablehnte; seine Vorschläge sollten in einem „geordneten Verfahren“ von der Obrigkeit ausgeführt werden. Insbesondere suchte Fausel mit Verweis auf die Zeitgebundenheit und auch auf Luthers Gesundheitszustand die radikalen Forderungen von 1543 zu relativieren und sie als Ausweisungen „abzumildern“, die von der Obrigkeit zu organisieren seien. Zentral war, dass Fausel von Luther her eine Differenz im Handeln des Staates und der Kirche ableitete: Während Ersterer die Juden aus bestimmten Bereichen ausschließen könne, sei dies für die Kirche aus theologischen Gründen nicht möglich. Die Kirche könne sich nicht verbieten lassen, Juden zur Taufe einzuladen – sie sind dann vollwertige Glieder der Kirche. In der Reihe „Stoffsammlung für Schulungsarbeit“ der Apologetischen Centrale veröffentlichte Hansgeorg Schroth, studierter Jurist und Soziologe, im November 1935 ein Heft „Luther und die Juden“15. In seinen Vorbemerkungen hielt Schroth fest, dass sich angesichts der Zuspitzung der Rassenerkenntnis die Frage stelle, wie „die Kirche zur Rassenfrage“ stehe – und in diesem Zusammenhang stelle „die Auffassung Luthers über die Juden einen besonderen Abschnitt dar.“16 Er wolle „fast nur Luther selbst sprechen“ lassen, da die Kenntnis von dessen Stellung „nicht nur theologisch und kirchlich, sondern auch völkisch etwas unbedingt Notwendiges“ sei. Ein erster Abschnitt bot in Anlehnung an den bereits erwähnten Beitrag im Pfarrerblatt17 eine Auflistung der einschlägigen Äußerungen Luthers und ein zweiter Zitate aus Schriften Luthers der Jahre bis 1530. Zusammenfassend hielt Schroth für diesen Zeitabschnitt fest, Luther habe „die Juden in jeder Hinsicht als gleichberechtigte Menschen“ angesehen und seine Stellung „nicht aus Erkenntnis der Rasse“ begründet, sondern „biblisch-theologisch […], praktisch-christlich [… und] missionarisch“18. Der dritte Abschnitt bot auf über sechs Seiten Zitate aus Luthers späten Schriften. In seiner auch hier beigefügten Zusammenfassung stellte Schroth heraus, dass Luther „die Juden [nun] nicht mehr als gleichberechtigte Mitbürger“ angesehen habe19. Allerdings habe Luther diese seine neue Haltung „nicht rassisch“ begründet. Luther habe nämlich, so Schroth, „seine grundsätzliche Stellung nach 1530 eigentlich nicht aufgegeben“, da für ihn „das Judentum [immer] ein Problem der Kirche“, immer „ein ausschließlich heilsgeschichtliches Problem“ gewesen sei. Luthers Haltung gegenüber den Juden könne also „nicht aus einem rein äußeren Gegensatz“ abgeleitet werden, zumal für Luther „besonders deutlich“ sei, dass „Gott mit den Juden in einer ganz besonderer Weise“ handele; sie seien vor allen Völkern erwählt, hätten diese Erwählung jedoch missachtet. Da die Juden 15 Schroth, Luther. Vgl. auch Probst, Demonizing, 103–109; sowie Brosseder, Stellung, 245–253. 16 Schroth, Luther, 2. 17 Vgl. Anm. 7. 18 Ebd., 3. 19 Ebd., 10.

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Gottes Verheißungen ausschließlich weltlich aufgefasst hätten, lebten sie heute zerstreut auf der Welt. Sie seien „nicht mehr Judentum, sondern ,Juden‘ des Kaisers, verworfene ,Teufelskinder‘“20. Luther lehnte auch das Alte Testament nie ab, da es die Verheißungen Gottes enthalte. Von daher lasse sich auch nachweisen, „daß das evangelische Christentum nicht die unmittelbare Fortsetzung oder eine Tarnung des Judentums“ sei. Die völkischen Angriffe auf das Christentum fielen daher in sich zusammen. Allerdings seien die Juden „gegenüber anderen Völkern nicht in ganz besonderem Maße negativ ausgezeichnet“, zu einer „ausgeprägten Anti-Art [… würden sie] allein durch die Kreuzigung Christi“. Hier zeige sich der Aufruhr gegen Gott – und davon sei „kein Volk und keine Rasse“ ausgenommen. Kein Volk sei „sicher vor dem ,Jüdischen‘, wenn es Christus verwirft.“ Luthers praktische Folgerungen seien daher „nicht aus ,Rache‘ ergriffen“, sondern allein „aus der Verpflichtung Gott und Christus gegenüber.“21 Wichtig war Schroth zudem, darauf zu verweisen, dass Luther die Judentaufe nicht ausgeschlossen habe, da er „um die erneuernde Wirkung der Taufe“ wusste. Für die Gegenwart sei die spezifisch kirchliche Aufgabe neben der Judentaufe die Predigt von Gottes Zorn, der allen Menschen – auch den Juden – drohe, aber auch die „Predigt von dem Heil Gottes“, das ebenso allen Menschen geschenkt sei. Schroth hatte mit seiner kleinen Studie nicht nur das Ziel, für die Schulungsarbeit anhand von ausführlichen Zitaten Einblick in Luthers „Judenschriften“ zu geben, er leitete zugleich durch seine Zusammenfassungen die Interpretation von Luthers Schriften in eine bestimmte Richtung. Dabei war ihm – über Fausel hinausführend – wichtig, die Vereinnahmung Luthers durch die Deutschgläubigen oder Nationalsozialisten zurückzuweisen, indem er jede rassische Fundierung von Luthers Stellung gegenüber den Juden zurückwies. Für ihn waren die Juden der Prototyp aller sich gegen Gott stellender Menschen: Wer Luther zum Zeugen gegen die Juden mache, der könne dies nur, wenn Luthers grundsätzliche Stellung zum Ausdruck gebracht werde, wenn also „der Angriff gegen Christus“ gesehen werde. Fausel wie Schroth nahmen demnach antijüdische Topoi ungeprüft auf und interpretierten Luther ganz in deren Sinne. Beide suchten jedoch herauszustellen, dass Luthers Äußerungen nicht im rassistischen Sinne interpretiert werden dürften: Luthers Äußerungen zu den Juden seien christologisch bzw. heilsgeschichtlich angelegt. Fausel und Schroth sahen bei Luther eine klare Differenzierung zwischen einem Handeln des Staates – er habe die Aufgabe, auf geordnetem Weg den Einfluss der Juden zu begrenzen – und der Kirche, die aus theologischen Gründen keinen Ausschluss von aus dem Judentum stammenden Mitgliedern vornehmen dürfe und die unbedingt – mit Luther! – weiterhin die Taufe an Juden vollziehen müsse. Über Fausel hinausgehend war Schroth bestrebt, durch zahlreiche Zitate aus Luthers Schriften den potenti20 Ebd., 11. 21 Ebd., 12.

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ellen Multiplikatoren Material für die Schulungsarbeit an die Hand zu geben und damit vor allem auch den von deutschgläubiger Seite erhobenen Vorwurf, das Christentum sei nichts anderes als ein getarntes Judentum, Paroli zu bieten. Beide suchten also Luther vor Missdeutungen zu schützen, doch kennzeichnete ihre Stellungnahmen – so Brosseder zutreffend – „noch viel zu viel völkisches […] Ideengut“, das sie in Luther hineinlasen22.

2. Der Streit um die Taufe und das Alte Testament – Texte aus den Jahren 1935 bis 1937 2.1 Judentaufe? Die Augustausgabe 1935 des Hetzblattes „Der Stürmer“ zeigte unter der Hauptüberschrift „Judentaufe“ ein Bild mit der karikaturhaften Darstellung „achtzehn Juden“, von denen „vier katholisch und drei protestantisch getauft“ seien; man möge die Getauften der Redaktion melden23. Diese Stürmerausgabe, die mit diesem Bild das rassistische „Jude bleibt Jude“ propagierte, stand im Zusammenhang mit der Taufe eines jüdischen Mannes in Magdeburg, die der BK-Pfarrer Oskar Zuckschwerdt am 17. März 1935 vollzogen hatte24. Der Stürmer griff Zuckschwerdt und den ihn stützenden Provinzialbruderrat der Bekennenden Kirche Sachsen massiv an. Besonders genüsslich wurde hervorgehoben, dass der Getaufte, der Handelsschullehrer Albert Hirschland, vier Wochen nach seiner Taufe verhaftet und wegen sexuellen Missbrauchs Abhängiger zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war25. Neben dem schon genannten Text von Schroth, der ja auch dezidiert auf Luthers Haltung zur Judentaufe einging, sind drei weitere apologetische Texte anzuführen, die die Judentaufe mit Verweis auf Luther verteidigen. In der Septemberausgabe der Zeitschrift „Junge Kirche“ wurde ein Beitrag des Ansbacher Pfarrer Hermann Steinlein veröffentlicht, der „Luthers Stellung zur Frage der Judentaufe“ thematisierte26. Bezugnehmend auf die Magde22 23 24 25

Brosseder, Stellung, 253. Rçhm/Thierfelder, Juden, Bd. 2/1, 43. Vgl. ebd., 45 f. Hinzuweisen ist darauf, dass es auch in anderen Landeskirchen Auseinandersetzungen wegen der Judentaufe gegeben hat. Beispielsweise stellte sich diese Frage im Jahre 1938 in Württemberg, als ein Pfarrer, der eine solche Taufe vornahm, sich massiven Nachstellungen lokaler Parteigrößen ausgesetzt sah und andererseits der Taufbewerber unwürdig anmutende „Bewährungszeiten“ seitens der Kirchenbehörde auferlegt bekam (vgl. Hermle, Bischöfe, 298). Vergleichbare Diskussionen ergaben sich auch in der Rheinischen Landeskirche (vgl. hierzu Hermle, Herausforderungen, 231 f.). 26 Vgl. auch Probst, Demonizing, 75–79. Friedrich-Wilhelm Kantzenbach machte darauf aufmerksam, dass sich Steinlein bereits 1890/91 in einem verloren gegangenen Zeitungsartikel mit

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burger Vorfälle und den von völkischer Seite vorgetragenen Angriff auf die Judentaufe, erläuterte er zunächst kurz die drei Phasen von Luthers Stellung zu den Juden: Einer „ersten antijüdischen Periode“ folgte in den 1520er-Jahren „eine gewisse Wendung“, die Luther auf eine Bekehrung der Juden zu Christus hoffen ließ27; obwohl in den 1530er-Jahren dann seine Haltung gegenüber den Juden ablehnend wurde, endete doch selbst Luthers schärfste antijüdische Schrift „in einem Gebetswunsch für Bekehrung von Juden“28. Dies zeige eindrücklich, dass Luther „Judentaufen nicht grundsätzlich“ verwerfe. In der Gegenwart werde ein „überaus starke[r] Gegensatz zwischen dem rasseechten Judentum und dem Christenglauben“ konstatiert, dies sei bei Luther anders gewesen. Er unterschied zwischen den „nachchristlichen (den ,kaiserlichen‘) und den ,mosaischen‘ Juden“. Rassistische Kategorien aufnehmend hielt Steinlein fest, die Feindschaft der Juden gegen Christus sei „auf ihre Bastardisierung zurückzuführen“ – ihr Blut, so habe Luther herausgestellt, sei „gar vermischt, unrein, wässerig und wild“. Obwohl sich bei Luther vereinzelt Aussagen fänden, die nahelegten, er „sei doch ein grundsätzlicher Gegner der Judentaufe gewesen“, so seien diese doch als „Stimmungsäußerungen“ zu qualifizieren, die zum Beispiel angesichts „mancherlei Enttäuschungen bei der Taufe von Juden“ fielen29. Trotz eines gewissen Misstrauens habe Luther die Taufe aber niemals grundsätzlich verworfen. Dies sei auch gar nicht möglich, bestand doch „die Urgemeinde anfangs fast ausschließlich aus Judenchristen“30. Deutlich sei zweierlei: Luther wollte eine „sehr große Vorsicht bei der Vornahme von Judentaufen“ obwalten sehen, aber es könne „keine Rede davon sein, daß er grundsätzlich gegen solche Taufen war.“31 Steinleins Rezeption von Luthers Schriften fällt ambivalent aus: Einerseits nutzte er antisemitische Formeln und meinte, solche auch bei Luther entdecken zu können, andererseits hinterfragte er kritisch die bei Luther zu findenden ablehnenden Äußerungen zur Judentaufe. Aus theologischen Gründen und mit Verweis auf die Kirchengeschichte führte er Luther gegen Luther ins Feld und qualifizierte dessen ablehnende Äußerungen als zeit- und situationsbedingt und daher als nicht generalisierbar. Steinlein argumentierte demnach gegen die deutschgläubige bzw. völkische Ablehnung der Judentaufe, indem er deren Bezug auf Luther zurückwies. So zeigte sich Steinlein zwar als eine Person, die im rassistischen Denken seiner Zeit verwurzelt war, doch wies er von Luther her Angriffe auf die Taufe von Juden entschieden zurück.

27 28 29 30 31

dem Thema Luther und die Juden befasst habe und dieses Thema 1929 mit einer Broschüre wieder aufgriff (vgl. Kantzenbach, Der Einzelne, 205 und 208–214). (Ich bedanke mich bei Axel Töllner für diesen Hinweis.) Steinlein, Stellung, 842. Ebd., 843. Ebd., 844. Ebd., 845. Ebd., 846.

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Auch die Württembergische Bekenntnisgemeinschaft, die sich als Ableger der BK in Württemberg verstand und Landesbischof Wurm stützte, beschäftigte sich mit Luthers Haltung zur Judentaufe32. In ihrem Rundbrief vom 16. Oktober 1935 wurde nicht nur über die Ereignisse in Magdeburg berichtet – wobei besonders die Sorgfalt der Taufvorbereitung hervorgehoben wurde –, sondern auch knapp über „Luther und die Judenfrage“ gehandelt33. Angesichts der „Stürmer“-Veröffentlichung, die nahelege, dass Luther gegen die Judentaufe eingestellt gewesen sei, wurde den „Gemeindegliedern Folgendes“ gesagt: Die Kirche habe nie versucht „die Einstellung Luthers zu vertuschen34, allerdings sei Luther zweifellos aufgrund seiner Enttäuschungen mit der Mission unter Juden gegen „Ende seines Lebens zu einem harten Urteil über die Juden gekommen“35. Doch der „Stürmer“ verschweige, dass Luther sich selbst drei Tage vor seinem Tod noch positiv zur Judentaufe geäußert habe: „Wo sie sich aber bekehren, ihren Wucher lassen und Christum annehmen, so wollen wir sie gern als unsere Brüder halten.“ Um der Wahrheit willen müsse dies gesagt werden, zumal der Taufbefehl Jesu im Matthäus-Evangelium letztgültig für die Kirche sei. Äußerst komprimiert bietet die Bekenntnisgemeinschaft eine Auseinandersetzung mit der im „Stürmer“ gebotenen Lutherdeutung. Vorgestellt werden sowohl die Judentaufe ablehnende als auch diese fordernde Äußerungen Luthers. Wichtig ist vor allem der Rückverweis auf die Schrift, von der her auch Luther zu beurteilen wäre und von der her überhaupt keine Zweifel an der Berechtigung, ja Verpflichtung der Kirche zur Judentaufe möglich seien. Die Stärke dieser Argumentation ist schlagend: Für eine protestantische Kirche ist letztlich nicht Luther maßgebend, sondern die Schrift. Sie ist norma normans, alleinige Basis für das Handeln der Kirche. In dem bereits erwähnten Artikel im „Deutschen Pfarrerblatt“ vom Ende 1935, der die Auflistung von Luthers „Judenschriften“ bot, erklärte Ramge Luthers radikale Haltung gegen die Juden dadurch, dass er dessen Schriften als „Kampfschrift“ qualifizierte und zudem auf die Differenz „zwischen dem Judentum der Schrift und dem des Abfalls“ abhob36. Wie in anderen Zusammenhängen habe Luther „auch gegen das Aergernis der Juden schärfste Abstellung seitens der Fürsten verlangt“. Seinen Beitrag beschloss Ramge mit Überlegungen zur Judentaufe: Er verwies darauf, dass Luther „mitten in diesen leidenschaftlichen judengegnerischen Schriften des Jahres 1543 aus christlichem Mitleid und Erbarmen den Ruf zu einer […] geordneten Ju-

32 Vgl. Probst, Demonizing, 92 f. 33 Sch•fer, Dokumentation 4, 396–398 (Magdeburg), 398 f. (Luther). 34 Ebd., 398; in diesem Zusammenhang wird dann auch auf die oben schon erwähnte, 1931 beim Landesverband der Inneren Mission Dresden herausgegebene Broschüre mit Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ verwiesen. 35 Ebd., 399. 36 Ramge, Schriften, 778.

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denmissionstätigkeit erschallen“ ließ37. Diese Pflicht zur Missionierung sei Grundlage der von „orthodoxen Lutheranern“ betriebenen organisierten Missionstätigkeit unter Juden geworden. Den Lesern wurde nahegelegt, bei Publikationen, die sich auf Luther beriefen, kritisch zu fragen, ob diese die „vollständigen wörtlichen Abdrucke oder nur Auszüge“ böten. Für Luther sei – wie im Übrigen auch für Paul de Lagarde – in der Taufe die Möglichkeit einer vollständigen Einbindung der Juden in Volk und Kirche gegeben. Wo sie sich freilich nicht bekehrten, sollte man sie austreiben. Ramge wies demnach eine rassistische Interpretation Luthers zurück: ein getaufter Jude sei vollgültiges Mitglied des Volkes wie der Kirche. Zugleich zielte seine Argumentation – trotz der „Höherordnung des Geistes über das Blut“ – auf eine durch die Obrigkeit vorzunehmende „Abstellung“ eines wie auch immer gearteten Ärgernisses seitens der Juden. Insofern wurde Luther für ihn durchaus zu einem Ahnherrn einer Diskriminierung der Juden – bis hin zu einer möglichen Ausweisung. Am Ausführlichsten beschäftigte sich der Hallesche BK-Pfarrer Walter Gabriel mit „Luthers christliche[m] Antisemitismus“. Unter dem Titel „Von den Jüden“ suchte er mit ausführlichsten Zitaten Einblick in Luthers Haltung zu geben38. Auch seine Schrift war durch die Magdeburger Ereignisse angeregt und suchte angesichts der „Stürmer“-Angriffe auf die Judentaufe Orientierung zu geben. Da Luther zum Gewährsmann der Ablehnung der Judentaufe hochstilisiert worden sei, wolle er dessen Sicht in ihrer historischen Entwicklung aufzeigen. Noch ehe Gabriel – beginnend mit 1514 – Zitate aus Lutherschriften bot, wies er darauf hin, dass es Luther „in keiner Weise“ um die heute virulente „Rassenfrage“ gegangen sei39. Alles liege ihm „an der religiösen, der missionarischen Seite der Judenfrage.“ Zudem verwies Gabriel, der „gewissermaßen bedenkenlos von einem christlichen Antisemitismus“ redete40, darauf, dass Stoecker dieselbe Haltung wie Luther gehabt habe. Für die Phase ab 1523 hielt Gabriel fest, „daß Luthers Anliegen allein die JudenMission“ gewesen sei41. Ereignisse in Mähren hätten die theologische Streitschrift ,Wider die Sabbater‘ von 1538 hervorgebracht, und 1543 sei schließlich jene Schrift entstanden, die „jetzt besonders gern zitiert [werde], um zu beweisen, daß Luther ein Judenfeind und Gegner der Judentaufe gewesen sei.“42 Doch auch in „Von den Jüden und ihren Lügen“ habe Luther „seine ursprüngliche Doppelstellung nicht aufgegeben“, wenngleich er nun anstelle „der anfänglichen Freundlichkeit die Methode einer ,scharfen Barmherzigkeit‘ empfiehlt“. Ehe Gabriel seitenlang Zitate aus dieser Schrift bot, stellte er 37 Ebd., 779. 38 Gabriel, Luther, 6. Vgl. auch Probst, Demonizing, 99–103; und Brosseder, Stellung, 299–241. 39 Gabriel, Luther, 6. 40 Brosseder, Stellung, 240. 41 Gabriel, Luther, 10. 42 Ebd., 13.

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nachdrücklich heraus, dass es sich „um eine reine Glaubens- und in keiner Weise um eine politische oder rassische Schrift“ handele; Luther sei „fern […] von manchem heutigen Rassenempfinden“43. Im Blick auf die im dritten Teil dieser Schrift gebotenen konkreten Handlungsanweisungen gegen die Juden hob Gabriel hervor, dass Luther ausdrücklich „jedes eigene disziplinlose Handeln der Straße verbiete und nur der Obrigkeit die Regelung der Judenfrage übergibt“44. Deutlich sei auch in diesen harten Aussagen, „daß es Luther nicht um einen Racheakt, sondern um ,scharfe Barmherzigkeit‘ zu tun“ gewesen sei45. In der im selben Jahr entstandenen Schrift „Vom Schem Hamphoras“ lag Luther daran, auf die „Endbekehrung aller Juden“ hinzuweisen und auch in seiner „Vermahnung wider die Juden“ vom 15. Februar 1546 schloss er mit einem Angebot zur Taufe46. Allerdings verwies Gabriel auch darauf, dass Luther für den Fall einer Zurückweisung der Taufe empfehle, die Juden auszuweisen. Abschließend stellte Gabriel fest, dass Luthers „Judenschriften“ eine ambivalente Haltung zeigten: Man könne aus ihnen beweisen, „daß er ein heftiger Antisemit gewesen sei“47, aber auch Philosemiten könnten sich auf „eine Fülle von Stellen aus Luthers Schriften“ beziehen48. Beide Auffassungen träfen freilich Luthers Position nicht: Luthers Weg sei „ein Weg innerer Spannung zwischen Liebe und Zorn“, den Gabriel als „christliche[n] Antisemitismus“ bezeichnete: man müsse den Feind, den man liebt, bekämpfen49. In zwölf Punkten umriss Gabriel abschließend Luthers Haltung gegenüber den Juden: Zunächst erinnerte er an die Auserwähltheit Israels, weshalb auch das Alte Testament Wort Gottes sei; dann nahm Gabriel den Vorwurf der Kollektivschuld des ganzen jüdischen Volkes für den Tod Christi auf, verwies auf die Verpflichtung des Staates, „gegen die Juden als Gotteslästerer vor[zu]gehen“ und vor allem darauf, dass die „rassen-biologische Betrachtung der Judenfrage […] kaum in Luthers Blickfeld gekommen“ sei50. Resümierend hielt er fest: „Wollen wir ein christliches Volk bleiben, so dürfen wir jedenfalls weder den Standpunkt der Aufklärung einnehmen […], noch auch den Standpunkt eines unchristlichen Antisemitismus“51. Kirche und Staat hätten „beide an der Lösung der Judenfrage gemeinsam zu arbeiten“; die Übertragung von Luthers Grundsätzen in die Gegenwart sei das Gebot der Stunde: Die Maßnahmen des Staates wie der Kirche sollten nicht von Hass, sondern von Liebe geleitet sein. Luthers Sorge sei es gewesen, dass seine Deutschen „wie die Juden Christus ablehnen und dadurch wieder ,Juden‘ 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Ebd., 14. Ebd., 21. Ebd., 26. Ebd., 36. Ebd., 41. Ebd., 42. Ebd. Ebd., 43. Ebd., 44.

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werden könnten.“52 Das Zentrum von Luthers „Judenschriften“, so Gabriel, sei auch die „Hauptsache seines ganzen Lebens und Arbeitens […]: ,Christus, das ist der Mann.‘“ Gabriel suchte demnach zwischen einem unchristlichen und einem christlichen Antisemitismus zu differenzieren. Während ersterer von Hass, Rache und Rassismus geprägt sei, wisse Letzterer zwar von der Verwerfung Israels, von dem Zorn Gottes, aber doch auch um die fordernde Liebe Gottes zu seinem Volk. Daher sollten Maßnahmen gegen die Juden – die Gabriel nicht in Abrede stellte – nur geordnet durch die Obrigkeit vorgenommen werden. Die Kirche aber sei verpflichtet, den Juden das Evangelium zu verkündigen und taufwillige Juden in ihren Reihen aufzunehmen. Ganz unverblümt übte Gabriel Kritik an antikirchlichen Aktionen von nationalsozialistischen Verbänden und Exponenten dieser Bewegung, die eine Entchristlichung Deutschlands anstrebten oder einen deutschen Gottesglauben propagierten. In Aufnahme von Adolf Schlatter53 stellte er heraus, dass ein Volk, das nur an Gott, nicht aber an Christus glaube, „Judentum“ sei. Kritisch zu hinterfragen ist freilich, ob Gabriel nicht der rassistischen Forderung seiner Zeit erlag, wenn er Luthers Haltung als einen „christlichen Antisemitismus“ deutet, der Feindesliebe mit dem Kampf gegen den Feind verbindet54. Nicht bedacht ist hierbei, dass Christen ihre Feinde lieben sollen und zur Nächstenliebe verpflichtet sind! Gabriel interpretiert Luther auf der Folie der eigenen Gegenwart und unterschlägt dabei – wie Brosseder herausgestellt hat –, „daß die Kirche Anwalt des Menschen auch gegenüber dem Staat zu sein hat“55. Angefügt sei noch, dass Ernst Wolf in seiner Vorlage für die 3. Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union in BerlinSteglitz, die vom 23. bis 26. September 1935 tagte, ausführlich auf die Verpflichtung zur Judentaufe hinwies und dabei auch Bezug auf Luthers Großen Katechismus nahm, um diese zu unterstreichen56. Unmissverständlich stellte er heraus: „Wer der Kirche die Judentaufe als ,Verrat an Christus‘ o. ä. anrechnet, lästert das heilige Sakrament.“ 2.2 Die Auseinandersetzung um das Alte Testament Von deutschchristlicher Seite wurde die Bedeutung des Alten Testaments zunehmend relativiert, wenn nicht dieser Teil der Schrift sogar ganz abgelehnt und für die Kirche als nicht relevant herausgestellt wurde57. Aber auch staat52 53 54 55 56 57

Ebd., 45. Vgl. Schlatter, Jude. Vgl. hierzu Brosseder, Stellung, 241. Ebd. Vgl. Hermle/Thierfelder, Herausgefordert, 388 f.; nachfolgendes Zitat ebd., 389. Vgl. die Rede des DC-Obmanns Reinhold Krause bei der Sportpalastkundgebung im November

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liche Institutionen polemisierten gegen das Alte Testament. So plante beispielsweise das Württembergische Kultministerium alttestamentliche Texte aus den Lehrplänen zu eliminieren, da diese „artfremd“ seien58. Wohl um 1935 gab der Evangelische Gemeindedienst für Württemberg eine schmale Broschüre mit dem Titel „Luther und die Juden“ heraus, als deren Verfasser „Widmann“ angegeben war. Es handelt sich um Richard Widmann, seit 1932 Pfarrer in Oberboihingen und Mitglied der Kirchlich-theologischen Sozietät. Widmann führte eingangs die oft zu findende Annahme an, Luther habe „zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise zur Judenfrage Stellung genommen“59. Dies treffe nicht zu. In Wirklichkeit sei nämlich seine „Stellung zur Judenfrage von Anfang bis zu Ende innerlich völlig einheitlich“ gewesen und entspreche der „gegenüber dem Papst, den Schwärmern, den Bauern“. Es sei Luther um den Glauben an Jesus gegangen. In drei Abschnitten stellte Widmann sodann Luthers Äußerungen zu Beginn seiner Wirksamkeit, 1523 und ab Mitte der 1530er-Jahre vor – wobei er für letzteren Zeitabschnitt insbesondere darauf verwies, dass es Luther nie darum gegangen sei, „die Taufe eines Juden grundsätzlich zu verbieten.“60 Ausführlich und mit einem längeren Zitat bot Punkt 5 Überlegungen zu Luthers „Kampf um das rechte Verständnis, um die rechte Auslegung des Alten Testaments“. Für den Christen sei das Alte Testament wichtig, weil in ihm Jesus Christus verheißen werde; daher habe Luther auch den Theologen nahegelegt, „tapfer hebräisch [zu] studieren“, damit sie die Bibel „wieder heimholen von den mutwilligen Dieben“, als die er die Rabbinen ansah61. In seinen Auseinandersetzungen mit den jüdischen Auslegungen suchte Luther zu erweisen, „daß das Glaubensbekenntnis der christlichen Kirche […] auch das Glaubensbekenntnis von Abraham, Isaak, Jakob, Mose und allen Propheten des Alten Testaments“ gewesen sei“62. Das Alte Testament sei Luthers „schärfste Waffe gegen das Judentum“ gewesen – wenn dieses lediglich als „Judenbuch“ gesehen werde, dann habe „der Jude […] gesiegt.“ Widmann wollte in seinem kurzen Beitrag die Gemeinde über zwei Sachverhalte in Kenntnis setzen: Zum einen war es ihm wichtig, Luthers Äußerungen als theologische Stellungnahmen zu qualifizieren, die im Grunde auf derselben Basis zu sehen waren wie seine Angriffe auf andere Gegner der Reformation. Im Mittelpunkt stand für Luther das Verhältnis zu Jesus Christus. Sodann suchte Wittmann nachdrücklich das Alte Testament als christliches Buch herauszustellen, wobei er die in der Bekennenden Kirche

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1933, in: Hermle/Thierfelder, Herausgefordert, 138 f. Vgl. auch den Beitrag von Arnhold in diesem Band. Ebd., 211. Widmann, Luther, 1. Ebd., 6. Ebd., 7. Ebd., 8.

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gängige Sicht des Alten Testamentes als Zeugnis von Christus übernahm63, die schon Luther vertreten hatte. Damit jedoch wurde dem Judentum die ihm heilige Schrift genommen und als genuin christliches Buch qualifiziert. Widmann suchte demnach das Alte Testament zu Lasten des Judentums für die Kirche zu retten. Mit „Luther und das Alte Testament“ findet sich im 5. Jahrgang der Zeitschrift „Junge Kirche“ der einzige längere Beitrag in diesem Publikationsorgan zu unserem Thema. Verfasst war er von dem Leiter des Nürnberger Predigerseminars Gerhard Schmidt64. Schmidt warnte gleich eingangs seines Beitrages vor einer „Verquickung der Judenfrage mit den Dingen des A. T.s“; Luther habe das Alte Testament stets hoch geschätzt, da er konsequent „zwischen dem alten Volk Israel und dem späteren Judentum“ unterschied65. Für die Gegenwart sei lehrreich zu sehen, dass „dort, wo sich Martin Luther gegen die Frechheit und Unverschämtheit der zeitgenössischen Juden“ wandte, er „sich mit ganzer Macht […] für das A. T. und seinen Offenbarungscharakter“ eingesetzt habe66. Unterlegt mit zahlreichen Zitaten führte Schmidt sodann „Luthers Liebe zum A. T.“ und dessen Einschätzung des Alten Testaments „als Heilige Schrift“ vor67. Für Luther gehörten beide Testamente „eng zueinander“; das Alte Testament biete „die Verheißung des kommenden Christus“, das Neue sei „Zeugnis der Erfüllung“68. In zwei weiteren Abschnitten ging Schmidt auf Gesetz bzw. Evangelium im Alten Testament ein, wobei für Luther einerseits deutlich gewesen sei, dass Christus „alles Jüdisch-Völkische am Gesetz“ abgetan und „die Freiheit des Christenmenschen vom mosaischen Gesetz“ betont habe69, andererseits verwies er auf die „messianischen Weissagungen in den Texten des Alten Bundes“70 und auf die von Luther praktizierte „typologische Auslegung“, „die bildhaft-weissagend über sich hinausdeuten und Christus und seinen Neuen Bund schattenhaft vorbilden“ würde71. Nach einem knappen, mit zahlreichen Zitaten gespickten Absatz – „Exempel“ überschrieben –, in dem Schmidt daran erinnerte, wie sehr Luther die „Exempel des Glaubens, der Liebe und des Kreuzes in den Vätern“ schätzte72, bot Schmidt abschließend Überlegungen zu „Luther und wir“. Zwar könne man heute „Luthers Auslegungen und Auffassungen“ vom Alten Testament nicht einfach übernehmen, doch man könne bei Luther „in die Lehre gehen“73. Von 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl. Vischer, Christuszeugnis. Vgl. zu Schmidts Beitrag auch Probst, Demonizing, 79–81. Schmidt, Luther, 712. Ebd., 713. Vgl. ebd., 714 f. und 715–718. Ebd., 717. Ebd., 719. Ebd., 720. Ebd., 721. Ebd., 722. Ebd., 723 f.

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Luther her seien heute eine Reihe gewichtiger Fragen zu stellen, so, ob man „um die Einheit der Heiligen Schrift“ wisse, ob man sich „darüber klar [sei], daß […] das A. T. von Christus aus [zu] lesen und [zu] verstehen“ sei und ob man bedacht habe, dass es „im A. T. […] allein um Gott den Herrn“ gehe und „nicht um Menschenreligion, völkische Sittlichkeit, vorderasiatische Kultur und Rasse“74. Schmidt suchte demnach unter Verweis auf Luthers Liebe zum Alten Testament dieses für die Gegenwart zu bewahren. Dass er dabei die antijüdischen Stereotypen von der Verwerfung Israels aufgriff und die Juden seiner Zeit in Diskontinuität zum alttestamentlichen Judentum stellte, entsprach der theologischen Haltung vieler seiner Zeitgenossen. Schmidt rettete also das Alte Testament, indem er es zu einem quasi übervölkischen Text machte und es ganz für die Christen reklamierte. Die Juden seiner Zeit sah er nicht in Kontinuität zu den „Vätern und Propheten“; sie konnten daher allein durch die Hinwendung zu Jesus Christus Heil und Rettung erfahren.

3. Wider die Entchristlichung Deutschlands – Drei Texte aus den Jahren 1936 bis 1938 Drei grundsätzliche Texte stellten Luther und seine Haltung gegenüber den Juden sehr direkt in die zeitgenössischen Auseinandersetzungen und suchten den Reformator gegen eine Entchristlichung Deutschlands ins Feld zu führen75, wobei insbesondere Luthers Judenschriften mit ihren Zurückweisungen der Juden die Argumentation bestimmten. Zu verweisen ist zunächst auf einen in drei Teilen im „Deutschen Pfarrerblatt“ publizierten Beitrag des Theologen Hugo Gotthard Bluth76. Bluth beteiligte sich „am Kampf der Bekennenden Kirche“ und war daher zeitweise mit einem Redeverbot belegt77. Bluths Beitrag, „Luthers Kampf gegen die Juden“ überschrieben, bot zunächst einen Blick auf „Luthers innerste[n] Beweggrund“: Hingewiesen wird auf die Ambivalenz von Luthers Haltung gegenüber den Juden, zugleich aber betont, erst der alte Luther habe sich gegen die Juden gestellt78. Erinnert wird zudem daran, dass Luther stets an die Möglichkeit der Judentaufe festgehalten habe. Wolle man Luther verstehen, so müsse gesehen werden, dass Luther „niemals aus allgemeinen Erwägungen […], sondern 74 Ebd., 724. 75 Vgl. Hermle/Thierfelder, Herausgefordert, 365–368. 76 Vgl. Brosseder, Stellung, 237–239. – Bluth hatte im Rahmen seines Theologiestudiums schwerpunktmäßig Kirchengeschichte betrieben, u. a. bei Karl Stange in Göttingen und Karl Holl in Berlin. Bluth war zunächst Pfarrer in Ferchen (1927), wechselte 1931 nach Stargard und 1936 schließlich ins Pfarramt in Neustettin. 77 Geschlechterbuch, 75. 78 Bluth, Kampf, 175.

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immer aus ganz besonderen, greifbaren Anlässen heraus das Wort“ ergriffen habe79. Im Mittelpunkt habe stets „Luthers leidenschaftliche Sorge um die christliche Gemeinde“ gestanden. Dabei sei ihm deutlich geworden, „daß die Juden von Gott verworfen“ wurden und „erbitterte Feinde des christlichen Glaubens und der christlichen Gemeinde“ seien. Das Typische des Judentums erkannte Luther, so Bluth, in einem „religiös begründeten Rassenstolz“ und in einem „völkischen Messianismus“. Ausführlich wies Bluth sodann auf, dass nach Luther die zeitgenössischen Juden nicht mehr als „das jüdische Volk der Bibel“ angesehen werden könnten80, die „Geschichte des Volkes Israel“ sei „mit der Kreuzigung Christi […] zu Ende.“ Bluth hob hervor, dass Luther „den rassischen Zusammenhang der heutigen Juden mit dem Volke der Bibel aus allgemeinen geschichtlichen Gründen“ bestritten habe. Ja, zugespitzt müsse sogar festgehalten werden, dass selbst zu biblischen Zeiten nur „ein kleinerer Teil, eine Auswahl, das eigentliche, wahre Gottesvolk“ gebildet habe – und zwar diejenigen, „die nicht auf das Gesetz, sondern auf die Gnade allein“ setzten, also auf Christus81. Für die Gliedschaft zum Volk Gottes sei nach Luther also nicht ein „Blutszusammenhang“ entscheidend gewesen, vielmehr gehörten zu ihm „alle die zahllosen Menschen, die nach der Bibel den Glauben an Gott annahmen, ohne Juden zu sein.“ Die Christen allein seien das Volk Gottes und damit habe Luther auch „den Juden die Bibel entrissen“. Zum Schluss seines Beitrages wies Bluth noch auf Luthers Vorschläge „zur Bekämpfung der Juden“ hin, die, wenn man seinem „Rat gefolgt wäre, schon zu Luthers Zeit zur Befreiung des deutschen Volkes von den Juden geführt hätten.“82 Allerdings sei es Luther nicht darauf angekommen, die Juden zu vertreiben, sondern „die Wurzel des Judentums“, den völkischen Messianismus, auszurotten. Auch im Papsttum, bei den Schwärmern und Türken habe es solchen Messianismus gegeben und daher habe sich Luther auch gegen diese gestemmt. Heute müsse gesehen werden, dass ein „Volk, das die Kirche des Evangeliums“ ablehne, nur eine Religion erwarten könne, „die dem völkischen Messianismus des Judentums ähnlich“ sei. Hiervor wollte „Luther seine Deutschen warnen“. Es ist offensichtlich, dass Bluth völlig unkritisch die Substitutionstheorie rezipierte und selbst antisemitischen Vorstellungen folgte, wenn er vom möglichen Ende des jüdischen Einflusses schon zur Zeit Luthers phantasierte. Vor allem irritiert Bluths rassistischen Kategorien folgende Argumentation, derzufolge schon Luther eine Kontinuität vom Volk der Bibel und den zeitgenössischen Juden zurückgewiesen habe: „die heutigen Juden [hätten] kein Recht […], sich Juden zu nennen.“83 Indem Bluth Luthers Kampf gegen die 79 80 81 82 83

Ebd., 176. Ebd., 194. Ebd., 195. Ebd., 214. Ebd., 194.

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Juden als Absage an jeden auf Rassenstolz beruhenden völkischen Messianismus deutete, wies er zugleich die Deutschgläubigen seiner Zeit zurück und bezichtigte sie letztlich eines ausschließlich negativ konnotierten Judentums. Um die Stellung der Kirche angesichts der massiven Angriffe seitens exponierter Nationalsozialisten und der sogenannten Deutschgläubigen zu wahren, instrumentalisierte Bluth Luther zum Kronzeugen eines radikalen Kampfes gegen ein auf seine Rasse stolzes Judentum. Eine mit Bluth vergleichbare Zielsetzung verfolgte der bereits erwähnte Hansgeorg Schroth in einem kleinen Büchlein, das 1937 erschien und den Titel „Luthers christlicher Antisemitismus heute“ trug84. Schroth wollte „umfassend die Lage der Kirche von jener im Mittelpunkt stehenden Frage nach der Rasse“ her umreißen und hierzu Luthers Stellung „uneingeschränkt zu Wort kommen“ lassen85. Schon im Vorwort machte Schroth seine Grundthese deutlich. Das Wort Christi sei „das Zeichen eines totalen Weltherrschaftsanspruches“, dem sich jeder zu stellen habe. Sein in acht unterschiedlich lange Abschnitte gegliederter Text setzte mit dem Hinweis ein, dass sich die Kirche der Frage nach dem Antisemitismus notwendigerweise stellen müsse. Da sich die Kirchen nun freilich nicht darauf berufen könne, in ihrem Raum „einen kirchlichen Antisemitismus einzuführen“, gelte es danach zu fragen, „ob es eine heilsgeschichtliche Bedeutung des Antisemitismus gibt und geben kann, die auch kirchlich bindendes Wort für unser Handeln sein kann.“86 Im Folgenden ging Schroth auf Luthers verschiedene Haltungen zur „Judenfrage“ ein und betonte, Luther sei nicht durch eine Rassenfrage zu seinen Äußerungen veranlasst worden, sondern er sei immer aktiv geworden, wenn er „eine antichristliche Gegenpropaganda“ der Juden erkannt habe87. Nun habe Luther freilich nicht nur das Wesen der Juden begriffen – und schlug deshalb auch gewaltsame Gegenmaßnahmen vor –, sondern er fragte „nach dem Grunde, warum die Juden so seien“88. Luther habe, so das Resümee Schroths, „die innerste Wesenhaftigkeit des Juden als Antichristen und Teufelsbesessene“ erkannt89 und unter Rückgriff auf die Bibel selbst die Lästerungen der Juden widerlegt. Vor allem habe er den Zusammenhang „zwischen dem modernen Judentum und dem alten Israel“ nachdrücklich bestritten90. Da die Juden von Gott verworfen seien, ihr „Volkstum und eigene Lebensordnung unwiderbringlich verloren“ hätten und daher „auf ein Parasitendasein angewiesen“

84 Vgl. Probst, Demonizing, 103–109; und Brosseder, Stellung, 245–253. 85 Schroth, Antisemitismus, 3. Schroth legte in diesem Bändchen eine erweiterte Fassung eines Aufsatzes vor, den er in der Zeitschrift „Das Evangelische Westfalen“ 1936 publiziert hatte (Ausgaben Nr. 6 und 7/8). 86 Ebd., 6. 87 Ebd., 7. 88 Ebd., 9. 89 Ebd., 11. 90 Ebd., 12.

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seien, müsse ihnen die Obrigkeit Einhalt gebieten91. Aber die von Luther aufgeführten Maßnahmen seien nicht sein letztes Wort, da die Kirche „,antisemitisch‘ allein vom heilsgeschichtlichen Tatbestand aus“ handele92. Daher habe sie die Juden auch zur Taufe einzuladen – womit Luther, so Schroth die Brücke in die Gegenwart schlagend, völlig in einer Linie zu sehen sei, in der „wir heute von der Bekennenden Kirche her erneut eingetreten“ seien93. Die Juden hätten durch die Ablehnung Christi zwar den Bund gebrochen, der nun auf die Kirche übergegangen sei, aber sie seien „nicht gänzlich“ verworfen, da der Kirche auch „der Auftrag der Bekehrung der Juden übergeben“ wurde94. Weiter verwies Schroth darauf, dass die Juden „für die Kirche ein Zeichen von Gottes Zorn“ bildeten – dies bedeute konkret, dass jedes Volk, das sich „gegen diesen Herrn Christus“ entscheide, „ein jüdisches Volk“ werde95. Beziehe man die heilsgeschichtliche Sicht Luthers auf den modernen Antisemitismus, so ergeben sich drei Folgerungen: 1. Es sei Aufgabe der Kirche „Gesetz und Evangelium zu predigen“ und sie habe ihre Stimme zu erheben, da „das deutsche Volk in Mißachtung des Gesetzes und in Verweltlichung des Evangeliums Mächten Raum gegeben hat, die wider Gottes Ordnung der gefallenen Welt gerichtet waren“96. Der politische Antisemitismus sei für die Kirche keine Frage; vielmehr habe sie die Welt zu fragen, ob sie Gott oder dem Antichristen gehorche. 2. Die Kirche müsse sich vom „weltanschaulichen und politischen Handeln“ abgrenzen und sich auf ihr theologisches Wort besinnen; dabei müsse sie im Blick behalten, dass „die Judenfrage ein Problem der Kirche selbst ist, weil das ,Judentum‘ die Möglichkeit des Verrates der Kirche an ihrem Herrn darstellt.“97 3. Die Kirche habe „am Juden schlechthin eine Missionsaufgabe“. Durch die Taufe sei gegeben, dass sie „nicht in der Lage ist, die Juden, wenn sie Christen geworden sind, in eine gesonderte ,Judenkirche‘ von der übrigen Gemeinde abzusondern.“ Zwar ändere die Taufe nicht den Rassencharakter, aber in der Kirche dürfe es keinen Ausschluss von Judenchristen von den Ämtern geben. Schroth weitete abschließend noch den Blick, indem er festhielt, der „Gegensatz Bolschewismus – Antisemitismus“ entscheide „über die Zukunft der ganzen Welt“98. Durch die Verkoppelung von Bolschewismus und Judentum werde „diese umfassende Weltfrage“ zu einer „entscheidenden Religionsfrage“, denn es müsse die Frage beantwortet werden, ob der „Gehorsam zum Gott

91 92 93 94 95 96 97 98

Ebd., 14. Ebd., 17. Ebd., 18. Ebd., 19. Ebd., 21. Ebd., 23. Ebd., 24. Ebd., 27.

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Jesu Christi oder zu den Göttern [… des] Nationalismus“ bestimmend sei99. Das zur Führung berufene Deutschland stehe vor dieser Frage und daher sei auch der Kampf der Bekennenden Kirche zu verstehen, die allein für die Kirche Jesu Christi eintrete und jeder Irrlehre widerspreche. Darin liege ihre Verantwortung vor Gott. Sie habe Jesus Christus zu verkündigen und „allem Antichristentum oder völkisch-nationalem Christentum bis zum letzten Widerstand zu leisten, so wie es Luther gegenüber den Juden tat.“100 Schroth ging von rassistischen Prämissen aus und nahm auch zentrale Elemente eines christlichen Antijudaismus auf: Für ihn waren die Juden enterbt, die Kirche hatte Israel ersetzt und das Alte Testament galt ihm als christliches Buch. Doch trotz dieser antijudaistischen und antisemitischen Grundeinstellung bezog er unverblümt Stellung gegen die Luther für sich einnehmenden Deutschen Christen, aber auch gegen Deutschgläubige und Exponenten der nationalsozialistischen Bewegung. Insbesondere stellte er sich gegen jede Ablehnung der Judentaufe oder eine Diskriminierung von getauften Juden; sie durften weder von Ämtern ausgeschlossen noch gar in separate Kirchen gezwungen werden. Wichtig war Schroth zudem herauszustellen, dass Luther nicht aus rassischen, sondern allein aus theologischen Gründen gegen die Juden Stellung bezogen habe. Der Kern von Luthers Position, die Frage nach dem Verhältnis zu Jesus Christus, betrifft auch die gegenwärtig Agierenden. Ein Volk, das Christus ablehnt, werde zu einem gesetzlichen, zu einem ,jüdischen‘ Volk. Vor dieser Gefahr wollte Schroth nachdrücklich warnen. Die „Judenfrage“ war für Luther, so Schroth, eine heilsgeschichtliche Frage: Durch diese Position konnte Schroth zwar viele zeitgenössische Missdeutungen Luthers zurückweisen, doch letztlich blieb in seinem Ausführungen „doch noch viel zu viel völkisches, wenn auch religiös interpretiertes Ideengut“ zurück101. In den Unterlagen der Vorläufigen Kirchenleitung der Bekennenden Kirche hat sich ein vierseitiger Entwurf erhalten, der mit „Luther zur Judenfrage“ überschrieben ist102. Die zumeist stichwortartige Ausarbeitung bietet weder den Namen eines Verfassers noch das Datum ihrer Entstehung. Einen Hinweis auf Letzteres könnte darin zu sehen sein, dass der Text mit Luthers Ratschlägen zum Umgang mit den Juden in seiner Schrift von 1543 einsetzt: „Dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke“. Möglicherweise verweist dies auf die Zeit nach der Reichspogromnacht im November 1938. Die in Luthers Schrift von 1543 gebotenen Forderungen werden in zwei Spalten aufgeführt, so dass sich diese nach religiösen und sozialen Problemen gliedern. Im Blick auf erstere war festgehalten, dass Luther mit religiösem Pathos „einem Treiben Einhalt“ geboten sehen wollte, „das den Fortgang des 99 100 101 102

Ebd., 28. Ebd., 29. Brosseder, Stellung, 253. Vgl. EZA Berlin, 50/114, 75–78. Vgl. auch Probst, Demonizing, 109–112.

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Evangeliums hinderte“103. Was die soziale Seite betraf, so habe schon Luther jede Rache untersagt und „die Härte seiner Forderungen z.t. im gleichen Zusammenhang durch Vorbehalte oder Einschränkungen bedeutend gemildert.“104 In einem weiteren Abschnitt ist „Grundsätzliches zu den Forderungen Luthers“ zusammengestellt und betont, Luther habe aus Enttäuschung über die gescheiterten Bekehrungsversuche gesprochen. Auch seien die gebotenen Forderungen „von der Kirche zu verwirklichen gedacht, nicht eigentlich an den ,Staat‘ im modernen Sinne gerichtet.“ Kritisiert wurde sodann, dass Luther wichtige Informationen über das Judentum von einem Konvertiten bezogen habe, und nach „der Psychologie der Konvertitenliteratur ist bekanntlich die Weitergabe solcher Greuelgeschichten in Gestalt gesicherter Tatsachen nicht unbedenklich.“ Auch zeigten einzelne Urteile Luthers „die Reizbarkeit des älteren Luther“, weshalb die Zürcher Theologen „Luthers letzte Streitschriften als des Reformators unwürdig“ verurteilt hätten105. Zuletzt wurde „vor falscher Kanonisierung Luthers“ gewarnt – in lutherischen Kirchen gelte allein „was Christum treibt“. Auch Luther sei von „einem fremden Geist“ nicht frei gewesen; das mahne zur Vorsicht gegenüber Luthers Urteilen in der „Judenfrage“. In einem weiteren Abschnitt wurde „Luthers Mission an Israel“ untersucht. Luther sei es um die Rettung Israels gegangen! Luther habe zum Ausdruck gebracht, dass diese „nicht erfolglos“ bleiben werde106. Daher verurteilte er auch „Handeln aus dem Hass heraus […] aufs Schärfste.“ Überhaupt sei „Luthers Anliegen in der Judenfrage kein politisches, soziologisches, rassegesetzliches, sondern ein theologisches, kirchliches“. Luther habe bewiesen, dass „Jesus der verheissene Messias“ gewesen sei und „dass dieser Jesus Jude“ war sowie darauf beharrt, dass „um seinetwillen die Juden als erwählt zu gelten“ hätten107. Durch Jesus sei jedoch „eine Scheidung zwischen geistlichem Israel [Kirche] u. ,jüdischem Geschmeiss‘ eingetreten“ – eine Scheidung „gerade nicht nach rassischen Gesichtspunkten.“ Abschließend wurde noch über „Antisemitismus bei Luther“ reflektiert und festgehalten, Luther ging es „in der Judenfrage […] um die Kirche, um die Christenheit u. nur in abgeleitetem Sinne um das Volk.“ Im Zentrum stehe die Frage nach Jesus Christus, alles andere lediglich am Rande. Es sei bedenklich, den „Reformator unter Vernachlässigung der gedanklichen Zusammenhänge zu zitieren“, zumal selbst „die aggressivste Schrift Luthers zur Judenfrage […] mit dem Gebet um Israels Bekehrung“ schließe. Es gelte: „Luthers Aussagen zur Sache sind nicht ,Schrift‘, sondern Hinweis auf sie, und nur so sollten sie benutzt werden.“ 103 EZA Berlin, 50/114, 75. 104 Ebd., 76. 105 Es war Heinrich Bullinger, der Luthers späte Judenschriften in einem Schreiben an Martin Bucer scharf kritisierte (vgl. Kaufmann, „Judenschriften“, 15). 106 EZA Berlin, 50/114, 77. 107 Ebd., 78.

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Obwohl auch dieser Entwurf antijüdische Anklänge enthielt und letztlich den Juden nur die Taufe als Weg zum Heil nahelegte, nahm der Autor dieses Textes eine kritische Haltung gegenüber Luther ein. Indem er unmissverständlich vor einer falschen Kanonisierung Luthers warnte, suchte er einer Argumentation, die sich auf Luther berief, den Boden zu entziehen. Auch Luther muss hinterfragt werden! Weiter verwies er darauf, dass sich Luthers Äußerungen keinem politischen, sondern ausschließlich einem theologischkirchlichen Anliegen verdankten. Der Hinweis, dass Jesus Jude gewesen sei, zielte auf die von deutschchristlichen Kreisen propagierten arischen Herkunft Jesu108 ; die Betonung der Erwählung Israels aber war eine Kritik an der in der Kirche bis dato üblichen Verwerfungstheorie und öffnete insoweit neue Horizonte, als dass die auch in diesem Text präsente Substitutionstheorie hinterfragbar wurde. Freilich wurde dies erst in den 1960er-Jahren aufgegriffen und weiter theologisch reflektiert109. Anzufügen ist noch eine Stellungnahme der 2. Vorläufigen Kirchenleitung und der Konferenz der Landesbruderräte. Als der NS-Staat im September 1941 die Kennzeichnung der Juden durch einen gelben Stern angeordnete, verfügte die Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche am 22. Dezember, die jeweiligen obersten Kirchenbehörden möchten dafür Sorge tragen, dass getaufte „Nichtarier“ vom kirchlichen Leben ausgeschlossen werden110. Die genannten bekenntniskirchlichen Organe protestierten am 15. Februar 1942 gegen diese Anordnung und forderten die Kirchenkanzlei zur Rücknahme ihres Schreibens auf111. In diesem Protestschreiben findet sich – so viel ich sehe – der einzige Hinweis auf Luthers „Judenschriften“ in einem offiziellen Text der Bekennenden Kirche. Die Anordnung der Kirchenkanzlei wurde als mit dem „Wesen der Kirche“ unvereinbar herausgestellt und nachdrücklich an die „Pflicht der Mission an den Heiden wie an den Juden“ erinnert112. In diesem Zusammenhang beriefen sich die Verfasser auf Martin Luther, der „bei allem berechtigten Zorn gegen die Juden, die die christliche Kirche schmähen und christliche Volkssitte untergraben“, doch „noch in seiner letzten Predigt vom 15. 2. 1546 ausdrücklich“ zur Judenmission aufgerufen habe. An diesem Grundsatz halte die Bekennende Kirche fest; als Christen sei man „den Juden die Botschaft Christi schuldig“, und „die getauften Nichtarier [habe man] als unsere Brüder in Christo zu behandeln“.

108 Vgl. Grundmann, Jesus; oder Rçhm/Thierfelder, Kirche, 78 f. 109 Es ist bedauerlich, dass Probst gerade diese theologische Kritik an Luther, die auch über die im Bereich der Kirche tradierten Antijudaismen hinauswies, nicht erkannte, vgl. Probst, Demonizing, 112. 110 Vgl. Hermle/Thierfelder, Herausgefordert, 649 f. und 653 f. 111 Vgl. ebd., 657–659. 112 Ebd., 658.

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4. Eine Stimme von außen Interessanterweise erschien in der Oktober-Ausgabe des Jahres 1939 im „Kirchenblatt für die reformierte Schweiz“ ein Beitrag „Zur Judenfrage bei Luther“, der abschließend noch vorgestellt werden soll. Verfasst war er von dem Sennwalder Pfarrer Herbert Hug, der drei Jahre später eine Monographie mit dem Titel „Das Volk Gottes“ vorlegte, in deren zweitem Abschnitt der vorzustellende Artikel – erweitert – Aufnahme fand113. Angesichts einer „konservativen Pseudowissenschaftlichkeit“ warnte Hug im Blick auf die „Judenfrage“ zu „höchste[r] Sachlichkeit“114. Da diese „die Substanz der Kirche“ betreffe, dürfe sie nicht verharmlost oder bagatellisiert werden. Für ihn war der „Antisemitismus des Christentums […] tatsächlich die grandioseste pia fraus [frommer Betrug], die sich denken läßt“115. Judenund Heidenchristen seien gleichberechtigt, und gerade auch Luther sah die Juden unter der „gnädigen, schuldtilgenden Hand Gottes“. Allerdings habe es bei Luther Zeiten gegeben, in denen er die Juden verdammte – seien seine Ratschläge „mehr furor teutonicus als caritas“ gewesen. Es lasse sich nicht leugnen, dass Luther „ein Antisemit war.“ Sodann stellte Hug drei Studien zur „Judenfrage“ bei Luther vor : Am besten sei die von Reinhold Lewin, ihm habe „Erich Vogelsang „widersprochen mit der allerdings unmaßgeblichen Begründung, daß Lewin ,als Rabbiner‘ […] nicht in der Lage habe sein können, vom eigentlichen Anliegen des Reformators etwas zu erfassen.“ Den Versuch Vogelsangs, Luther „zum Kronzeugen des deutschen Antisemitismus [zu] erheben“, habe Theodor Pauls fortgesetzt116. Bezeichnend sei, dass beide die Schrift von 1523 unterschlagen. Hug stellte demgegenüber heraus, dass Luther zu verschiedenen Zeiten „tatsächlich verschieden gedacht“ habe. Für Luther sei die „Judenfrage“ „das Paradoxon per excellence.“ Luther habe sich mit dem Unglauben Israels beschäftigt; er wollte nicht nur den Christen, sondern auch den Juden „ihre Sünde groß machen“. Allerdings erklärte er, dass es nutzlos sei zu disputieren. Da die Juden Jesus nicht als den verheißenen Messias angenommen hätten, wären sie verstockt. Und im verstockten Judentum sah Luther nur „das Destillat der menschlichen Sünde überhaupt.“117 Luthers Antisemitismus sei in dieser Hinsicht „der der alttestamentlichen Prophetie selbst“, daher ließ er sich im „hohen Alter zu Maßnahmen gegen die Juden hinreißen, die sich mit 1. Kor. 13 wirklich nicht im geringsten vereinbaren 113 Vgl. Hug, Volk. Offensichtlich kennt Brosseder den Artikel im Kirchenblatt nicht, er stellt von Hug ausschließlich die erweiterte Fassung von 1942 vor (Brosseder, Stellung, 253–258). Letztere erschien im Übrigen mit der Widmung: „Den Freunden des Schweizerischen Evangelischen Hilfswerkes für die Bekennende Kirche Deutschlands“. 114 Hug, Judenfrage, 326. 115 Ebd., 327. 116 Ebd., 328. 117 Ebd., 329.

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lassen“. Luther, so Hug, sei Antisemit gewesen, doch nicht immer und vor allem „nicht aus den Gründen, die heute dem Begriff des Antisemitismus seinen gottlosen Inhalt geben“. Daher dürfe Luther keinesfalls „in einem Atemzug […] mit den Verfechtern des Rassenantisemitismus“ genannt werden. Hätte Luther von diesen Kenntnis gehabt, dann hätte er sicher erkannt, „daß es noch etwas viel Schlimmeres gibt als das Judentum, nämlich das Neuheidentum.“ Die in diesem gegebene „Gegnerschaft gegen eine bestimmte Rasse bedeutet Abfall von Christentum.“ Klar brachte Hug zum Ausdruck, dass Luther in seiner Haltung zum Judentum „kein Vorbild“ sein könne118. Luther sah nur, dass die Juden den Messias ablehnten, doch er erkannte nicht, dass sie „durch ihr hartnäckiges ,Noch nicht!‘“ das Heil für die Heiden eröffneten. Am Tag des Herrn sei es zudem unerheblich, ob die „Pilgrime hier auf Erden Juden, Arier oder Mohren“ seien, denn dann gebe es nur noch „das neue Jerusalem, die ecclesia triumphans.“ Hug bietet keine dezidierte Auseinandersetzung mit den Schriften Luthers, vielmehr stellte er unter Verweis auf Lewin – den er im Gegensatz zu Vogelsang und Pauls zustimmend hervorhob – heraus, dass Luther sich positiv zu den Juden geäußert und an der Verpflichtung der Kirche zur Judenmission festgehalten habe. Der alte Luther war für Hug ein Antisemit – wenn auch kein Rassenantisemit –, dessen Position als falsch zu beurteilen sei; daher könne Luther auch kein Vorbild sein. Luthers Stellung zu den Juden sei auch deshalb bedauerlich, da er nicht erkannt habe, dass erst deren Nichtannahme des Messias den Heiden den Zugang zum Bund Gottes eröffnet habe; im Übrigen habe er auch die eschatologische Dimension außer Acht gelassen, da in Gottes Reich „die Juden mit den Ariern ihre Schande verloren hätten“. Hug bot also eher eine allgemeine Auseinandersetzung mit der in Deutschland von den genannten Autoren vorgegebenen Interpretation Luthers, als dass er sich mit konkreten Fragestellungen, die in Deutschland diskutiert wurden, auseinandergesetzt hätte. Freilich sind diese Punkte unterschwellig präsent, wenn er darauf hinwies, dass es die Gründung einer speziellen judenchristlichen Kirche nicht geben könne oder dass das Neuheidentum die größte Herausforderung der Gegenwart darstelle.

5. Resümee Autoren im Umfeld der Bekennenden Kirche beschäftigten sich mit Luthers „Judenschriften“ aus ganz konkreten Anlässen heraus. Sofern als Begründung nicht wie beispielsweise bei Schroth ganz allgemein angegeben war, dass sich angesichts der Zeitumstände die Kirche der Rassenfrage zu stellen habe, so ist unter anderem durch die Württembergische Bekenntnisgemeinschaft auf den 118 Ebd., 330.

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Vorwurf Bezug genommen, die Kirche unterschlage gezielt die Haltung Luthers gegenüber den Juden. Unmissverständlich wurde auch – z. B. durch Steinlein oder Gabriel – den Angriffen des Stürmers auf die Taufe von Juden entgegengetreten und die radiale Ablehnung des Alten Testaments durch Deutschgläubige zurückgewiesen. Einen weiteren Grund – u. a. bei Schroth oder Gabriel – bildeten die Bestrebungen eines Teils der NS-Elite, das Christentum aus Deutschland zurückzudrängen. Durch ein Distanzierung von den Juden erhofften sich bekenntniskirchliche Theologen dem Vorwurf, die Christen seien getarnte Juden, begegnen zu können. Auffällig ist, dass bei der Auseinandersetzung mit den Luther für sich reklamierenden „Gegnern“ nur selten Namen genannt werden: zu finden sind lediglich Alfred Rosenberg, Mathilde von Ludendorff und „Der Stürmer“. Der offensichtliche Informationsbedarf über Luthers „Judenschriften“ tritt in mehreren Beiträgen – Ramge, Schroth, Gabriel, Bluth – zutage. Die Autoren lieferten einerseits Aufstellungen mit Publikationsorten der einschlägigen Schriften Luthers und boten andererseits sehr ausführliche Zitate aus Luther Schriften, um die Leserinnen und Lesern mit dem Text bekannt zu machen und um ihnen ein eigenes Urteil zu ermöglichen. Alle Autoren weisen eine mit Luther in Verbindung gebrachte rassisch begründete Gegnerschaft zu den Juden zurück – so besonders Schroth, Ramge, Gabriel oder Bluth. Nachdrücklich hervorgehoben wurde, dass Luthers Äußerungen ausschließlich theologisch motiviert gewesen seien; Luther habe sein Haltung „nicht rassisch“ begründet119. Verwirren musste jedoch, dass beispielsweise Gabriel im Blick auf Luther von einem „christlichen Antisemitismus“ sprach, den er von einem „unchristlichen Antisemitismus“ abzuheben suchte; hier hätte eine Differenzierung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus Klarheit schaffen können. In dieselbe Richtung weist die Äußerung Hugs, der in Luther einen Antisemiten sieht – freilich, wie er betont, „nicht aus den Gründen, die heute dem Begriff des Antisemitismus seinen gottlosen Inhalt geben“120. Mit Hinweis auf Luther wurde auch jedes eigenmächtige, womöglich von Hass und Rachegedanken geprägtes Vorgehen gegen die Juden zurückgewiesen. Fausel, Schroth, Gabriel und die 2. Vorläufigen Kirchenleitung hoben in ihren Beiträgen darauf ab, dass allein die Obrigkeit die Verpflichtung habe, in einem „geordneten Verfahren“121 Maßnahmen durchzuführen, die geeignet sein können, den als übermäßig empfundenen jüdischen Einfluss zurückzudrängen. Einmütig wird von allen Autoren die Verpflichtung der Kirche zur Judentaufe verteidigt und den Gegnern vorgeworfen, sie würden Luther nur unvollständig wiedergeben. Gerade die letzte, äußerst judenkritische Stellung119 Vgl. Anm. 19. 120 Wie Anm. 117. 121 Wie Anm. 14.

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nahme habe Luther mit einem Gebet für die Juden beendet, in dem die Taufe als Angebot an die Juden herausgestellt sei. Die Taufe mache die Juden zu vollwertigen Gliedern der Kirche, denen alle Ämter offen stehen. Es könne daher in der Kirche – im Gegensatz zum Staat – auch keine Einschränkungen für die Juden, also keinen „Arierparagraphen“, geben. Die „Rettung“ des Alten Testaments für die Kirche wurde von Widmann, Schmidt und Bluth unter Bezug auf Luther damit begründet, dass dieses wegen der in ihm enthaltenen Verheißungen für das Verständnis des Neuen Testamentes unabdingbar sei; zugleich wurde unter Verweis auf Luther die jüdische Auslegung als unangemessen herausgestellt und die Rabbinen als „Diebe“ bezeichnet. Das Alte Testament sei kein Volksbuch, kein Produkt der „vorderasiatischen Kultur und Rasse“, vielmehr sei es von Christus her zu lesen. Luther haben den Juden das Alte Testament entrissen und es wurde ihm zur „schärfste[n] Waffe gegen das Judentum.“122 Mit Verweis auf Luthers Schriften prolongierten die Autoren der Bekennenden Kirche alle traditionellen antijudaistischen Stereotype. Teilweise wurden diese sogar verschärft, so wenn wiederum mit Rekurs auf Luther durch Schroth, Steinlein, Ramge, Schmidt oder Bluth die Vererbungstheorie dahingehend modifiziert wurde, dass jede Kontinuität zwischen Israel als dem biblischen Volk Gottes und den gegenwärtigen Juden bestritten wurde. Andererseits konnte das biblische Volk Israel nur partiell als Volk Gottes bezeichnet werden, wenn Bluth darauf verwies, dass ausschließlich die Propheten, die sich auf die Gnade Gottes stützen als Glieder des Volkes Gottes angesehen wurden könnten, während der Rest des Volkes, das dem Gesetz verhaftet war, nicht als solches zählen konnte. Vor einer Abkehr der Deutschen von Christus, die durch Germanisierungskampagnen der Deutschgläubigen betrieben wurde, wurde unter Verweis auf Luther nachdrücklich gewarnt. Ein Volk, das sich von Christus abwende, werde letztlich zu einem „jüdischen“ Volk. Gabriel beispielsweise stellte heraus, dass Luther seiner Sorge Ausdruck verliehen habe, das deutsche Volk könnte – wenn es wie die Juden Christus ablehne – „wieder ,Juden‘ werden“123. Der negativ konnotierte Begriff „Jude bzw. jüdisch“ wurde auf Deutschland übertragen, das damit eine Bezeichnung zugewiesen bekam, die im zeitgenössischen Kontext als unerträglich erscheinen musste. Spannend sind zwei in den Beiträgen der Württembergischen Bekenntnisgemeinschaft und der 2. Vorläufigen Kirchenleitung und zu findende kritische Zugänge: Zum einen wurde Luther gegen Luther ins Feld geführt, wenn dessen spätere Äußerungen als Resultat einer Enttäuschung bzw. als Folge der Reizbarkeit des alten Luther qualifiziert und damit als emotionale Ausrutscher hingestellt wurden. Zum anderen wurde unmissverständlich klargestellt, dass die Schrift über Luther stehe. Die Schrift als norma normans mache bei122 Wie Anm. 62. 123 Wie Anm. 52.

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spielsweise deutlich, dass die Taufe von Juden keinesfalls zur Disposition gestellt werden könne. Die 2. Vorläufige Kirchenleitung brachte dezidiert zum Ausdruck, in einer evangelischen Kirche habe nicht Luther letzte Autorität, sondern allein „was Christus treibt“124. Als Kritik an Luther kann auch ein Gedanke verstanden werden, der unter anderem bei Fausel anklingt: Israels Verwerfung erst habe die „verschlossene Türe zu den Heiden aufgetan“125 ; und auch die Feststellung der 2. Vorläufigen Kirchenleitung, die Verwerfung Israels sei nicht endgültig, eröffnet ebenso zumindest einen kleinen Spalt, für eine weiterführende Reflexion, wie die Äußerung Hugs, Israel habe durch sein Nein das Heil für die Heiden eröffnet. So bleibt festzuhalten, dass sich nahezu alle Autoren in ihren Ausführungen antijudaistischer und oft genug auch antisemitischer Stereotype bedienten; sie waren insoweit Kinder ihrer Zeit, als dass sie ganz selbstverständlich von „dem Juden“ redeten und staatliche Maßnahmen zum vorgeblich notwendigen „Schutz des Volkes“ nicht in Frage stellten. Luther wurde auf der Folie der Vorstellungen der eigenen Gegenwart interpretiert und mit Rückbezug auf seine Schriften die traditionelle kirchliche Israeltheologie und kirchliches Handeln im Blick auf die Juden verteidigt. Die Argumentation diente letztlich der Sicherung der eigenen Position und dem Schutz der aus dem Judentum stammenden Kirchenglieder. Die Kirche, so suchten die Autoren deutlich zu machen, könne und müsse von Luther her erkennen, dass die im weltlichen Bereich stark in den Vordergrund getretene rassische Frage für sie nicht im Zentrum stehen könne, ja, dass sie sich dem weltlich-politischen Handeln zu enthalten habe. Diese Positionierung freilich führte zur Preisgabe der zeitgenössischen Juden: Reklamiert wurde nicht nur deren heilige Schrift ausschließlich für die Kirche, auch die Kontinuität zwischen biblischem Volk Gottes und dem gegenwärtigen Judentum wurde bestritten. Der Rekurs auf Luthers „Judenschriften“ sollte also zum einen aufweisen, dass der Reformator nicht von den Gegnern in Anspruch genommen werden könne, und zum anderen die eigenen Schwerpunkte stärken. Allerdings war die Argumentation der bekenntniskirchlichen Theologen insoweit problematisch, als sie durch die Hervorhebung bestimmter, ihre Position stützender Passagen aus Luthers Schriften lediglich eine andere Facette der Äußerungen des Reformators herausstellten als ihre Widersacher. Beide Seiten beriefen sich auf Luther : Zitat stand gegen Zitat. Offen bleiben musste, wer sich zu Recht auf Luther stützen konnte. Nur selten wurde – wie durch die Württembergische Bekenntnisgemeinschaft, die 2. Vorläufige Kirchenleitung oder Hug – Luther selbst hinterfragt und historisiert. Zumeist wurde Luther als Autorität anerkannt, seine Position galt als quasi kanonisch und wurde nicht an der Schrift als norma normans gemessen. Lediglich Hug benannte ganz grundsätzlich Luthers antisemitische Aussagen als solche und machte deutlich, dass dessen 124 Wie Anm. 104. 125 Wie Anm. 14.

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Ratschläge „mehr furor teutonicus als caritas“ gewesen seien. Und Hug war es auch, der mit seinem Hinweis auf 1. Kor 13 auf ein bedrückendes Defizit sämtlicher Publikationen der bekenntniskirchlichen Autoren aufmerksam machte: Sie erinnerten nirgends ausdrücklich daran, dass die Liebe zentrales Moment christlicher Existenz ist; die Liebe darf nicht nur der Schwester und dem Bruder im Geist gelten, sondern gerade dem „unter die Räuber Gefallenen“126, dem Gedemütigten, Gepeinigten und Verfolgten.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Evangelisches Zentralarchiv (EZA) Berlin 50/114. Landeskirchliches Archiv (LKA) Stuttgart D33 (Nachlass Fausel).

II. Veröffentlichte Quellen und Literatur Bluth, Hugo Gotthard: Luthers Kampf gegen die Juden. In: DtPfrBl 11–13 (1936), 157 f., 194 f., 214. Brosseder, Johannes: Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten. Interpretation und Rezeption von Luthers Schriften und Äußerungen zum Judentum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum (Beiträge zur Ökumenischen Theologie 8). München 1972. Deutsches Geschlechterbuch. Genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien. 10. Pommernband, bearb. von Max Bruhn. Limburg/L. 1985. Gabriel, Walter: D. Martin Luther. Von den Jüden. Luthers christlicher Antisemitismus nach seinen Schriften. Göttingen 1936. Grundmann, Walter: Jesus der Galiläer und das Judentum. Leipzig 1940. Halfmann, Wilhelm: Die Kirche und der Jude (Amt für Volksmission Heft 11). Breklum 1937. Hermle, Siegfried / Thierfelder, Jörg: Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 2008. Hermle, Siegfried: Die Bischöfe und die Schicksale „nichtarischer“ Christen. In: Gailus, Manfred/Lehmann, Hartmut (Hg.): Nationalsozialistische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes. Göttingen 2005, 263–306. 126 Vgl. Lk 10, 30–37.

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–, Herausforderungen des deutschen Protestantismus durch die nationalsozialistische Rassenpolitik. In: Nabrings, Arie (Hg.): Reformation und Politik – Bruchstellen deutscher Geschichte im Blick des Protestantismus (SVKGR 186). Bonn 2015, 217–250. Hug, Herbert: Das Volk Gottes. Der Kirche Bekenntnis zur Judenfrage. Zürich 1942. –, Zur Judenfrage bei Luther. In: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz 89/1939, 326–330. Junge Kirche. Halbmonatsschrift für reformatorisches Christentum 1 ff. (1933 ff.). Kantzenbach, Friedrich-Wilhelm: Der Einzelne und das Ganze. Zwei Studien zum Kirchenkampf. In: ZBKG 47 (1978), 106–228. Kaufmann, Thomas: Luthers „Judenschriften“ in ihren historischen Kontexten. Göttingen 2005. Lehmann, Hartmut: Heinrich Fausel. Barthverehrer und Lutherkenner. In: Bloedt, Diether A. / Ehmer, Hermann / Schöllkopf, Wolfgang (Hg.): Uracher Köpfe (Uracher Geschichtsblätter 2 [2009]). Bad Urach 2009, 259–267. Materialdienst, hg. von der Landesgeschäftsstelle des Evangelischen Volksbundes für Württemberg, 4. Jahrgang (1932). Probst, Christopher J.: Demonizing the Jews. Luther and the Protestant Church in Nazi Germany. Bloomington/Indianapolis 2012. Ramge, Karl: Die Schriften Luthers über die Juden, ihr Vorkommen in den Gesamtausgaben der Werke Luthers, ihr Sinn. In: DtPfrBl 39(1935), 778 f. Rçhm, Eberhard / Thierfelder, Jörg: Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Bilder und Texte einer Ausstellung. Stuttgart 21982. –, Juden – Christen – Deutsche Bd. 1: 1933–1935, Ausgegrenzt. Stuttgart 1990; Bd. 2/ 1: 1935–1938. Entrechtet. Stuttgart 1992. Sch•fer, Gerhard: Dokumentation zum Kirchenkampf. Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus Bd. 4: Die intakte Landeskirche 1935 bis 1936. Stuttgart 1977. Schilling, Johannes: Art. Lutherausgaben. In: TRE 21 (1991), 595–598. Schlatter, Adolf: Wird der Jude über uns siegen?. Wuppertal 1935. Schmidt, Gerhard: Luther und das Alte Testament. In: JK 5 (1937), 712–724. Schroth, Hansgeorg: Luther und die Juden (Stoffsammlung für Schulungsarbeit 44). Berlin-Spandau 1935. –, Luthers christlicher Antisemitismus heute. Witten 1937. Steinlein, Hermann: Luthers Stellung zur Frage der Getauften. In: JK 3 (1935), 842–846. Theologische Existenz heute. Eine Schriftenreihe 1 ff. (1933 ff.). Vischer, Wilhelm: Das Christuszeugnis des Alten Testaments, Bd. 1: Das Gesetz. München 1934. Wallmann, Johannes: Die Evangelische Kirche verleugnet ihre Geschichte. Zum Umgang mit Martin Luthers Judenschriften. In: DtPfrBl 114 (2014), 332–336, 382–387. Widmann, (Richard): Luther und die Juden. o. O. [Stuttgart] o. J. [1935?].

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Zankel, Sönke: Die Bekennende Kirche und die „Judenfrage“. Der Radikalantijudaismus des Wilhelm Halfmann. In: Günther, Niklas / Zankel, Sönke (Hg.): Theologie zwischen Kirche, Universität und Schule (FS Klaus Kunzendörfer). Kiel 2002, 53–66.

Oliver Arnhold

„Luther und die Juden“ bei den Deutschen Christen

1. Einleitung Als Julius Streicher, Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“, beim Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg am 29. April 1946 gefragt wurde, ob es „außer Ihrem Wochenblatt […] noch andere Presseerzeugnisse in Deutschland“ gegeben habe, „welche die Judenfrage in judengegnerischem Sinne behandelten?“, antwortete er : „Antisemitische Presseerzeugnisse gab es in Deutschland durch Jahrhunderte. Es wurde bei mir zum Beispiel ein Buch beschlagnahmt von Dr. Martin Luther. Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen würde. In dem Buch ,Die Juden und ihre Lügen‘ schreibt Dr. Martin Luther, die Juden seien ein Schlangengezücht, man solle ihre Synagogen niederbrennen, man soll sie vernichten…“1

Elf Jahre zuvor, im Jahr 1935, hielt Gerhard Hahn, Vizepräsident des Landeskirchenamtes in Hannover, einen Vortrag auf der 1. Reichstagung der Deutschen Christen für Niederdeutschland in Bremen, der ebenfalls den von Streicher zitierten Titel von Luthers 1543 veröffentlichten Spätschrift „Von den Jüden und ihren Lügen“2 trug. In diesem Vortrag lobte Hahn Julius Streicher in höchsten Tönen, zitierte ausgiebig aus seinem antisemitischen Hetzblatt und begründete dies damit, „daß der Frankenführer Parteigenosse Julius Streicher in seiner Kampfzeitung ,Der Stürmer‘ Woche für Woche und Jahr für Jahr das offen und unverblümt und unerschrocken sagt, was gesagt werden muß, wenn ein Volk im Kampf auf Leben und Tod steht.“3 Daran wird der nicht allzu überraschende Umstand deutlich, dass zu den von Streicher in Nürnberg erwähnten antisemitischen Presseerzeugnissen auch solche zu zählen sind, die aus den verschiedenen Strömungen der deutschchristlichen Bewegung stammten. Bei allen deutschchristlichen Gruppierungen, egal ob gemäßigt oder radikal orientiert, gehörte das anti1 http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3 %BCrnberger+Proze%C3 %9F/Hauptverhandlungen/Einhundertsechzehnter+Tag.+Montag,+29.+April+1946/Vormittagssitzung (12. 1. 2015). 2 Hahn, Jüden. 3 Ebd., 3.

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jüdische Denken und Handeln, das sowohl auf religiös-antijudaistischen als auch rassisch-antisemitischen Vorstellungen basierte, zum ideologischen Standardrepertoire. Der Antisemitismus speiste sich, wie Manfred Gailus richtig bemerkt hat, nicht in erster Linie aus den einschlägigen Judenschriften Martin Luthers, sondern die deutschchristliche „Theologengeneration von 1933, die im Kaiserreich und der Weimarer Republik studiert hatte“4, erfuhr ihre antisemitische Sozialisation zumeist durch andere Quellen, beispielsweise Houston Stewart Chamberlain, Theodor Fritsch, Heinrich von Treitschke, Adolf Stoecker oder Reinhold Seeberg, um nur einige zu nennen. Gleichwohl erlebten Luthers „Judenschriften“ ab 1933 bei den Deutschen Christen (DC) eine Renaissance, sie wurden wiederentdeckt, „da sie plötzlich neue Aktualität“5 erlangten. Bei der Rezeption Luthers in den Publikationen der verschiedenen deutschchristlichen Gruppierungen ist daher weniger von Belang, wie seine „Judenschriften“ interpretiert wurden, denn dies war von vorneherein festgelegt: Sie wurden instrumentalisiert, um die eigene antisemitische Grundeinstellung bestätigt zu sehen. Allerdings kann man an der Rezeption ebenfalls ablesen, welches kirchenpolitische und ideologische Interesse die jeweilige DC-Gruppierung, der der Verfasser angehörte, zu diesem Zeitpunkt verfolgte. Die unterschiedliche antisemitische Schärfe ergab sich aber auch aus dem aktuellen politischen Geschehen, den unterschiedlichen Phasen der nationalsozialistischen Ausgrenzungs-, Entrechtungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Juden in Deutschland und später in Europa, unter deren Eindruck die jeweiligen Verfasser zu diesem Zeitpunkt standen. In der Tendenz ist dabei feststellbar, dass Luthers „Judenschriften“ parallel zur Verschärfung der nationalsozialistischen Judenpolitik mit zunehmender Intensität und immer rücksichtsloser zur Legitimation eines rassischen Antisemitismus benutzt wurden, der letztlich die Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates gegenüber den Juden legitimieren sollte. Die folgende Darstellung der Rezeption von Luthers „Judenschriften“ bei den Deutschen Christen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie greift vielmehr exemplarisch Vertreter von drei unterschiedlichen deutschchristlichen Bewegungen heraus. Dabei handelt es sich zunächst um Mitglieder der 1932 gegründeten und reichsweit operierenden „Glaubensbewegung Deutsche Christen“6. Mit Gerhard Hahn und seinem bereits erwähnten Vortrag von 1935 wird ein Vertreter der deutschchristlichen Bewegung „Christus bekennende Reichskirche – Bewegung deutsche Christen“ vorgestellt, die der Bremer DCBischof Heinz Weidemann gegründet hatte. Diese änderte im Herbst 1936 ihren Namen in „Kommende Kirche“ und war deswegen besonders einflussreich, da sie über Tagungen und Publikationen eine große volksmissionari4 Gailus, Juden, 5. 5 Ebd., 10. 6 Ausführliche Darstellungen zur Geschichte der Glaubensbewegung Deutsche Christen finden sich bei: Meier, Christen; Scholder, Kirchen. Bd. 1 u. 2.

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sche Aktivität entfaltete.7 Die volksmissionarischen Bemühungen der Bremer Deutschen Christen setzten schon früh im Jahr 1934 ein. Im Oktober 1937 fand der erste Kurs der „Bremer Bibelschule“ statt, die künftig zweimal im Jahr Lehrgänge veranstaltete, auf denen sich Theologen in Arbeitskreisen um eine Reform von Bibel, Gesangbuch und Agende bemühten. Daneben gab es Vorträge von namhaften Theologieprofessoren, die dem deutschchristlichen Anliegen nahe standen. Zu ständigen Mitarbeitern der „Kommenden Kirche“ zählten unter anderen die Professoren Emanuel Hirsch, Hermann Werdermann, Martin Redeker, Carl Schneider, Hans Schöttler und Paul Sturm, die zum Teil auch im Verlag der „Kommenden Kirche“ veröffentlichten.8 Als einflussreichste deutschchristliche Gruppierung, in der sich vor allem die radikalen deutschchristlichen Kräfte sammelten, kann spätestens ab dem Jahr 1936 die Thüringer „Kirchenbewegung Deutsche Christen“ angesehen werden, die die beiden befreundeten Pfarrer Julius Leutheuser und Siegfried Leffler 1928 im ostthüringischen Wieratal als kirchenpolitische Bewegung gegründet hatten. Sie trat mit dem Ziel der Schaffung einer überkonfessionellen deutschen Nationalkirche auf und propagierte eine Synthese zwischen nationalsozialistischer Ideologie und christlichen Religionsinhalten.9 In diesem Aufsatz wird die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ in den Jahren 1937 und 1938 von zwei Vertretern der Thüringer Deutschen Christen, dem Professor für Praktische Theologie in Jena, Wolf Meyer-Erlach, und dem Thüringer Landesbischof Martin Sasse vorgestellt. Auf besondere Initiative der Thüringer Deutschen Christen wurde am 6. Mai 1939 auf der Wartburg auf der Grundlage einer Entschließung von elf evangelischen Landeskirchen das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gegründet. Die Leitung des Instituts übernahm Leffler, die wissenschaftliche Leitung hatte Walter Grundmann, seit 1936 Professor für Neues Testament und Völkische Theologie in Jena, inne. Dieses Institut hatte sich zur Aufgabe gesetzt, Kirche und Theologie zu „entjuden“, um sie den ideologischen Vorgaben des Nationalsozialismus anzupassen.10 Auch die Lutherforschung wurde in dieses Vorhaben einbezogen, wie der abschließende Teil anhand der Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter Theodor Pauls und Werner Petersmann aus den Jahren 1939 und 1940 verdeutlichen soll.

7 Vgl. dazu Heinonen, Anpassung. 8 Der Göttinger Professor für Systematische Theologie, Emanuel Hirsch, veröffentlichte beispielsweise im Verlag der „Kommenden Kirche“ 1940 die Schrift „Paulus“, die eine neue Übersetzung des Römer- und Galaterbriefes enthielt und die Haltung des Apostels als antijüdisch beschrieb. Ein Jahr zuvor hatte Hirsch bereits im gleichen Verlag eine Abhandlung zu „Jesus“ publiziert, mit der er ein authentisches Bild des historischen Jesus geben wollte, das er anhand von Quellenvergleichen der synoptischen Evangelien gefunden zu haben glaubte. 9 Vgl. dazu: Bçhm, Christen; Arnhold, „Entjudung“, Bd. 1. 10 Vgl. dazu: Heschel, Jesus; Arnhold, „Entjudung“, Bd. 2.

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2. Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ von Vertretern der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ im Jahr 1933: Joachim Hossenfelder, Heinrich Bornkamm und Erich Vogelsang Die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ wurde als Kirchenparteibewegung der NSDAP im Februar 1932 mit dem Ziel der Gleichschaltung der Evangelischen Kirche ins Leben gerufen. Sie wurde zum Sammelbecken verschiedenster regionaler deutschchristlicher Gruppierungen, siegte bei der Kirchenwahl im Juli 1933, dominierte ab 1933 mit ihren Mitgliedern die Mehrzahl der Landeskirchenleitungen und ihr Schirmherr Ludwig Müller wurde im September 1933 zum Reichsbischof gewählt. Eine Wende brachte die „Sportpalastkundgebung“ in Berlin im November 1933, in dessen Folge die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ an Flügelkämpfen zwischen radikalen und gemäßigten Kräften zerbrach. Die Nachfolgeorganisation, die „Reichsbewegung Deutsche Christen“, die sich 1938 in „Luther-Deutsche“ umbenannte, erreichte nie wieder die kirchenpolitische Stärke der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“. Reichsleiter wurde 1932 Joachim Hossenfelder, der 1931 als junger Pfarrer nach Berlin kam. Am 26. Mai 1932 veröffentlichte die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ Richtlinien, in denen es unter anderem hieß: „Wir stehen auf dem Boden des positiven Christentums. Wir bekennen uns zu einem bejahenden artgemäßen Christus-Glauben, wie er deutschem Luther-Geist und heldischer Frömmigkeit entspricht.“11 Ebenso wie die Formulierung „positives Christentum“ dem Paragraphen 24 des Parteiprogramms der NSDAP entnommen ist, bezieht sich der „artgemäße Christus-Glaube“ auf das dort angesprochene „Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse“12. Interessant ist die Verbindung, die die Richtlinien zwischen den ideologischen Vorgaben des Nationalsozialismus und Luthers reformatorischem Wirken behaupten. Luther wird als Erneuerer des Deutschtums, als Nationalheros und Vordenker des Nationalsozialismus gesehen. In der im Jahr 1933 herausgegebenen Schrift „Unser Kampf“ geht Hossenfelder sogar so weit zu behaupten, Hitler sei der größte Deutsche seit Luther gewesen: „Das, was die Rasse schafft, ist das Volk. Volk ist nicht die Summe von Menschen, die auf einem bestimmten Lebensraum wohnen, sondern die Gemeinschaft derer, die desselben Blutes sind und dieselbe Geschichte haben. Das war das größte Erlebnis unserer Zeit, daß Gott Volk werden ließ. […] Und das hat Gott durch Adolf Hitler

11 Richtlinien der Glaubensbewegung Deutsche Christen (26 Mai 1932), zit. n. Hermle / Thierfelder, Herausgefordert, 47. 12 Ebd., 31.

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getan, den wir deshalb getrost den größten Mann nach Dr. Martin Luther nennen können.“13

Luther und Hitler sind somit für Hossenfelder Vorbilder, an denen sich die Deutschen Christen zu orientieren haben: „Deutsche Christen wollen wir sein, die in ihrer Gott geschaffenen Art Gott suchen und um Gott kämpfen, die als Menschen dieser Welt sich vom Evangelium erfassen und sich und ihr Volkstum heiligen lassen wollen, und die als Menschen, die Gott gerecht spricht, auf einen anderen Himmel und eine andere Erde warten. Wir rufen das Deutsche Volk auf, sich in letzter Stunde unter den Willen Gottes zu stellen, der in unserem Volkstum zu uns redet und im Evangelium sich offenbart. Volk Luthers, höre des Herrn Wort, sei fromm und deutsch, so wird der lebendige Gott deinen Kindern wieder das tägliche Brot für diese und die andere Welt geben. Wenn Deutschland nicht mehr leben kann, muß Luther auferstehen.“14

Luther verkörpert für Hossenfelder also den Typus des religiösen und deutschen Nationalhelden, dessen Lehre mit den ideologischen Zielen der Deutschen Christen übereinstimmt. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ gewinnen daher Luthers Schriften plötzlich besondere Aktualität. So formuliert Hossenfelder beispielsweise im Vorwort zur Lutherbiographie von Wilhelm Fronemann mit dem bezeichnenden Titel: „Der deutsche Luther“15 : „Luther ist nicht tot! Luther lebt! Luthers Geist, Luthers Wille, seine heldische Glaubenshaltung ersteht wieder in der dem deutschen Volk von Gott geschenkten Glaubensbewegung. Wir deutschen Christen bekennen uns zu Luther. Er ist für uns das Symbol des deutschen Christen.“16

Es versteht sich beim Antisemitismus der Deutschen Christen von selbst – in den angeführten Richtlinien wird beispielsweise die „Judenmission“ als „Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper“ abgelehnt –, dass sie sich auch dankbar der wiederentdeckten „Judenschriften“ Luthers bedienten. Allerdings war im Jahr 1933 eine direkte Verbindung von Luthers Schriften hin zum nationalsozialistischen Rassedenken auch bei den Deutschen Christen noch nicht zwingend. Heinrich Bornkamm, seit 1927 ordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Gießen und gemäßigter Deutscher Christ, der nach der „Sportpalastkundgebung“ im November 1933 aus der Glaubensbewegung austrat, betonte 1933 in einem Aufsatz „Volk und Rasse bei Martin Luther“17, dass es sich bei Luthers Worten zur „Judenfrage“ „um eine religiöse Auseinandersetzung“ gehandelt habe: 13 14 15 16 17

Hossenfelder, Kampf, 15. Ebd., 19. Fronemann, Luther. Ebd., 5 f. Bornkamm, Volk.

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„Das Verbrechen der Juden ist religiöser Art: Lästerung Christi; und das Ziel des Kampfes ist, wenn auch kaum Aussicht besteht, es auch in bescheidensten Maße zu erreichen, ebenfalls religiös: die Bekehrung einzelner Juden. Ihr Grundfehler ist der Ungehorsam gegen die Schrift, sie glauben nicht an die Verheißung, die die Schrift als erfüllt ansieht.“18

Bornkamm kommt also in seinen Studien zu dem Ergebnis, dass für Luther jeder Jude, der sich zum Christentum bekannt habe, unbedingt als gleichwertiger Bruder anzusehen sei, was eigentlich beim kirchlichen „Arierparagraphen“ eine Berufung der Deutschen Christen auf Luther ausschloss. Gleichwohl stellt Bornkamm aber auch fest, dass zur Zeit Luthers „das völkische Bewusstsein im Erwachen begriffen war“19 und dass auch „bei Luther eine instinktive rassenmäßige Abneigung gegen die Juden“20 bereits vorhanden gewesen sei. Allerdings seien „seine flammenden Kampfrufe gegen das Judentum nicht aus dem Rassegegensatz abzuleiten“, sondern hier seien religiöse Motive leitend gewesen: „Sie erklangen vielmehr wider ein Volk, das unausgesetzt Gott durch Unglauben und Lästerung beleidigte. Solche Verstockung wog um so schwerer, als Israel vor allen anderen Völkern bevorzugt worden war. Gottes Ehre rief Luther in diesen Kampf. Der Zorn des Gottesstreiters verband sich mit der Empörung über die Aussaugung Deutschlands durch dieses, wie es schien, wahrhaft vom Teufel besessene Volk.“

Bornkamms theologische Interpretation von Luthers „Judenschriften“ konnte sogar, für Deutsche Christen überaus untypisch, Interesse am Alten Testament betonen. Sie stand auch im starken Gegensatz zu solchen völkischen Lutherdeutungen, wie sie von deutschgläubigen Bewegungen21 formuliert wurden. Mit deren Argumentationen setzte sich im Jahr 1933 Erich Vogelsang auseinander. Der Privatdozent für Kirchengeschichte in Königsberg und Referent im Kultusministerium in Preußen zur Reorganisation der theologischen Fakultäten veröffentlichte eine Publikation mit dem Titel „Luthers Kampf gegen die Juden22, die er dem ersten deutschen evangelischen Reichsbischof Ludwig Müller, dem Schirmherrn der Deutschen Christen, widmete. Der Impuls zur Beschäftigung mit Luther kommt bei Vogelsang, wie er zu Anfang seiner Schrift herausstellt, von außen, hervorgerufen durch die völkische und nationalsozialistische Lutherdeutung. Dies verdeutlicht, dass innerhalb der deutschchristlichen Bewegung die Rezeption der Haltung Luthers zu den Juden bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht besonders intensiv betrieben worden war. Vogelsang beginnt seine Schrift, für einen Deutschen Christen ungewöhnlich, mit einem Zitat des Rabbiners und Lutherforschers Reinhold 18 19 20 21 22

Ebd., 15. Ebd., 7. Ebd., 16. Folgende Zitate ebd. Vgl. Puschner / Vollnhals, Bewegung. Vogelsang, Kampf.

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Lewin: „,Wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen.‘“23 Vogelsang fügt hinzu: „Die jüngsten Ereignisse bestätigen das“ und verweist nicht nur auf das „Antichristentum der Mathilde Ludendorff und des Tannenbergbundes“, sondern auch auf Veröffentlichungen „unserer nationalsozialistischen Presse und Literatur“. Vogelsang kritisiert, dass Positionen, die „für die Lutherforschung der Vorkriegszeit gelinde gesagt eine Peinlichkeit“ bedeutet hätten, inzwischen wieder dankend aufgegriffen würden, nur um „dem deutschen Luther nahe zu sein“, und stellt dabei eine „merkwürdige Überschneidung des Verstehens und Nichtverstehens“ fest. Die völkischen und nationalsozialistischen Lutherdeutungen stellen für Vogelsang lediglich eine unwissenschaftliche Anpassung an den antisemitischen Zeitgeist dar. Dagegen betont er, dass für Luther „die Judenfrage zuerst und zuletzt die Christusfrage“24 gewesen sei: „Einer vom Religiösen losgelösten, rein völkischen oder rein rassischen Betrachtungsweise wird man bei Luther nicht begegnen. Auch die Judenfrage ist für ihn niemals nur eine Rassenfrage. Anfang und Ende seiner Gedanken ist Christus.“25 Während, so Vogelsang weiter, der moderne Mensch von dem „unsichtbaren Macht- und Geld- und Bluts- und Schicksalszusammenhang des Weltjudentums“ klar wisse, sehe Luther „das jüdische Volksschicksal nur in den Kategorien Fluch und Verblendung, Zorn und Gericht Gottes“26. Luther habe aufgrund der jüdischen Verstocktheit nicht an „eine Endbekehrung von ganz Israel zu Christus“27 geglaubt. Der entscheidende Punkt sei für Luther aber dabei die theologische und nicht die rassische Erkenntnis gewesen. Dennoch hält Vogelsang die Frage offen, „mit wie viel innerem Recht der heutige deutsche Volksabwehrkampf gegen die Greuel- und Boykotthetze des Weltjudentums“28 sich auf Luther berufen könne. Für eine klare Antwort dazu sei „unser heutiger volksnotwendiger Antisemitismus noch viel zu elementar, noch viel zu wenig begrifflich faßbar“. Dennoch käme Luthers judenfeindlicher Haltung eine immense Gegenwartsbedeutung zu, da sie eine gewichtige zeitgemäße Antwort der Theologie auf die aktuell politisch brisanten Fragen darstelle. Vogelsangs Argumentation geht in zwei Richtungen: Indem er die Kontinuität und Härte von Luthers Judenfeindschaft geradezu betont, weist er einerseits den von den Völkischen häufig gemachten Vorwurf, dass christliche Theologen Luthers antijüdische Einstellung gerne unterschlagen würden, als unbegründet zurück. Als theologisch richtig postuliert Vogelsang andererseits mit Luther eine Position der Kirche, die sich mit der antisemitischen Ideologie 23 24 25 26 27 28

Ebd., 5. Folgende Zitate ebd. Ebd., 9. Ebd., 32. Ebd., 18. Ebd., 32 f. Ebd., 6.

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des nationalsozialistischen Regimes und damit natürlich auch der Deutschen Christen vollständig deckt. Letztlich sei eine Lösung der Judenfrage nur durch die Einbeziehung der christlichen Religion möglich: „Es ist gut, daß wir unsere Entscheidungen heute nicht einfach ohne eigene Verantwortung aus Luther ablesen können. Aber aus der lebensnahen Energie seines Glaubens und aus der inneren, sachlichen Gebundenheit seiner Leidenschaft können wir alles Entscheidende lernen, können begreifen, daß die Judenfrage keine agitatorisch gezüchtete, auch keine nur innerdeutsche, sondern eine weltgeschichtliche Frage ist, die nicht individualistisch, sondern im Blick auf Volk, Staat und Kirche, nicht im Umkreis der reinen Humanität, sondern sub specie aeternitatis, genauer gesagt: im Angesicht des Kreuzes Christi gesehen werden muß.“29

3. Gerhard Hahns Rezeption von Luthers „Judenschriften“ bei der Reichstagung der „Christus bekennenden Reichskirche – Bewegung deutsche Christen“ im Jahr 1935 Während Vogelsang den wissenschaftlichen Diskurs mit der völkischen Lutherrezeption suchte, die seiner Ansicht nach den Fehler beging, die christliche Begründung von Luthers Judenfeindschaft nicht sehen zu wollen, richtete sich der bereits erwähnte Vortrag von Gerhard Hahn „Von den Jüden und ihren Lügen“30 auf der Reichstagung in Bremen 1935 gegen den anderen kirchenpolitischen Gegner der Deutschen Christen: die Bekennende Kirche. In der Einleitung betont Hahn, dass er das Thema anders als Bornkamm oder Vogelsang nicht wissenschaftlich-theologisch behandeln wolle, sondern „als einfacher lutherischer Christ und als Nationalsozialist; aber nicht so, daß ich zuerst als Christ und dann als Nationalsozialist spreche – das ist unmöglich!“31 Der Vortrag lässt eine Wissenschaftsfeindlichkeit erkennen, die vielfach innerhalb der deutschchristlichen Bewegung propagiert wurde. Die schroffe Ablehnung der wissenschaftlichen Theologie erfolgte mit der Begründung, dass diese zu einer Abkehr der Kirche von ihrem eigentlichen Adressaten, dem Volk, führe. Dieses könne den theologischen Richtungsstreit ohnehin nicht verstehen. Zudem würden die wissenschaftlichen Diskussionen nur zur Verwirrung beitragen sowie zum Streit in der Kirche führen und Abspaltungen hervorrufen. Dennoch ist die Beschäftigung mit Luthers Judenfeindschaft für Hahn von immenser Bedeutung, ja für ihn hängt „von der Stellung zur Judenfrage 29 Ebd., 35. 30 Hahn, Jüden. 31 Ebd., 1.

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überhaupt Leben und Tod der Deutschen Nation“32 ab. Es sei „erschütternd, zu sehen […], daß gewisse Kreise einer sogenannten ,christlichen‘ Kirche in diesem Kampfe zu finden sind auf der Seite des ewigen Juden“: „Es fehlen überhaupt Worte, um unsere Empfindungen auszudrücken, als wir lasen, daß ein ,Bekenntnispfarrer‘ ernstlich vorschlägt, mit einem Aufruf oder mit einer Fürbitte von der Kanzel für die armen, bedrückten Juden einzutreten! Als ein Horst Wessel ermordet, ein Herbert Norkus erstochen wurde, hat man nichts davon gehört, dass diese heute so mutigen ,Bekenner‘ einen Kanzelaufruf erwogen hätten! Warum denn nur nicht? Oder was soll man dazu sagen, wenn in letzter Zeit ein ,Bekenntnispfarrer‘ im Anschluß an den öffentlichen Gottesdienst die Taufe an der Frau und den Kindern eines Juden vollzieht?“33

In einer solchen Praxis sieht Hahn eine unabsehbare „Gefahr für unser Volk“: „Und wenn nun der Staat den jüdischen Einfluß mehr und mehr ausschaltet und die arische Art schützt vor dem Gift der jüdischen Rasse und damit stehn muß und soll gegen den fanatischen Haß des gesamten internationalen Judentums, dann kann und darf der Deutsche Christ nicht feige abseits stehen oder gar dulden, daß der Jude durch die bewährte Praxis vergangener Zeiten, das heißt, durch die Hintertür der Taufe sich wieder hineinschmuggelt in seine alten Einflußkreise. Der Jude wird durch die Taufe nie und nimmer ein Deutscher.“34

Als Gewährsmann dafür, dass man „als Christ das Judentum bekämpfen“ müsse, führt Hahn nun Luther und dessen Spätschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ an. Süffisant betont er, dem Reformator könne „wohl kaum in den allerschwärzesten Kreisen der unfehlbaren ,Bekenner‘ das Christentum“ abgesprochen werden. Der Impuls zur Beschäftigung mit Luther ist bei Hahn kirchenpolitisch motiviert, er will das Handeln der Bekennenden Kirche in einen Gegensatz zur staatlichen Judenpolitik stellen. In der nun folgenden Besprechung von Luthers Schrift von 1543 wird Hahn seinem in der Einleitung geäußerten Anspruch, nicht theologisch-wissenschaftlich sprechen zu wollen, voll und ganz gerecht. Er zitiert wahllos antijüdische Passagen aus Luthers Veröffentlichung, ohne auch nur im Entferntesten die theologische Argumentation des Reformators zu beachten. Umso prägnanter sind allerdings die Folgerungen, die Hahn daraus zieht: „Und wir, weil wir deutsche Christen sind, stehen an der Seite des Führers auf Gedeih und Verderb, gerade auch in der Front gegen den Juden und den jüdischen Ungeist, und werden es nimmer dulden, daß der Jude etwa die Kirche als Hintertür benutzt, um durch sie wieder in das deutsche Volksleben zu gelangen und hier wieder seinen 32 Ebd., 2. Folgende Zitate ebd. 33 Hahn bezog sich auf die Taufe eines jüdischen Mannes (!) durch den Magdeburger BK-Pfarrer Oskar Zuckschwerdt am 17. 3. 1935. Vgl. dazu den Beitrag von Siegfried Hermle in diesem Band. 34 Hahn, Jüden, 4.

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satanischen Einfluß auszuüben. Nein, wir sind verantwortlich und werden wachen!“35

Diese Verantwortlichkeit zieht für Hahn kirchenpolitische Konsequenzen für die Deutsche Evangelische Kirche nach sich. Er stellt folgenden Maßnahmenkatalog vor, wie fortan in der evangelischen Kirche mit den Juden umzugehen sei: „1. Die Deutsche Evangelische Kirche umfaßt alle evangelischen Christen arischer Abstammung. Evangelisch getaufte Juden werden zusammengefaßt in sogenannte juden-christliche Gemeinden. 2. In der Deutschen Evangelischen Kirche können daher auch nur Pastoren arischer Abstammung im Amte sein. (Hiermit würde auch den sogenannten Judenchristen volle Gerechtigkeit widerfahren; denn bei dieser Regelung haben sie die Freiheit und Möglichkeit, ihr gottesdienstliches Leben, die Predigt und Seelsorge ihrer Art gemäß zu gestalten.) 3. Die Pastoren der Deutschen Evangelischen Kirche werden in Zukunft alle Anträge auf Judentaufen überweisen an die Pastoren der judenchristlichen Gemeinden. 4. Die Pastoren der Deutschen Evangelischen Kirche werden in Zukunft alle Anträge auf Trauungen von Christen arischer Abstammung mit Christen jüdischer Abstammung, sofern solche Eheschließungen nicht durch das Reichsgesetz vom 15. September 1935 bereits verboten sind, überweisen an die Pastoren der judenchristlichen Gemeinden.“36

Hahn benutzte in seinem Vortrag aus dem Jahr 1935 Luthers späte „Judenschrift“ dazu, Front gegen den kirchenpolitischen Gegner der Bekennenden Kirche zu machen. Der pauschale Vorwurf des Philosemitismus sollte die Treue der Bekennenden Kirche sowohl zur Tradition Luthers als auch zum nationalsozialistischen Staat in Abrede stellen. Einzelne Bekenntnispfarrer würden sogar dafür sorgen, dass die Taufe zum Einfallstor der „unermüdlichen Zersetzungsarbeit“ „des Juden“ werde, um „das deutsche Blut zu verseuchen“37. Deshalb müssten, so Hahn, Deutsche Christen „aus Liebe zu unserem deutschen Volk“38 und ganz im Sinne Luthers eintreten für die Einführung des „Arierparagraphen“ in der Kirche, für die Separierung der „Judenchristen“ in der Kirche, für ein Verbot der Judentaufe und für die gesetzlichen Regelungen der Nürnberger Rassegesetze. Seine Ausführungen dienten folglich der direkten Unterstützung des von dem nationalsozialistischen Regime propagierten Antisemitismus und der staatlichen Verfol35 36 37 38

Ebd., 14 f. Ebd., 16. Ebd., 13. Ebd., 15.

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gungsmaßnahmen gegenüber den Menschen, die unter den Nürnberger Gesetzen zu leiden hatten.

4. Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ bei den Thüringer Deutschen Christen 1937/38: Wolf Meyer-Erlach und Martin Sasse Wolf Meyer-Erlach, Professor für Praktische Theologie und von 1935–37 Rektor an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, veröffentlichte im Jahr 1937 eine Schrift mit dem Titel: „Juden, Mönche und Luther“39. Meyer-Erlach war seit 1933 Mitglied der Thüringer „Kirchenbewegung Deutsche Christen“, nachdem er zuvor Leiter der bayrischen Deutschen Christen in Mittel- und Unterfranken gewesen war. Sein Engagement bei den Deutschen Christen und seine nationalsozialistische Einstellung gaben für seinen Ruf nach Jena den Ausschlag, denn bis dahin war er neben seinem kirchenpolitischen Engagement nur als Rundfunkredner in Erscheinung getreten. Er hatte keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorzuweisen und war weder promoviert noch habilitiert. Seine Aufgabe als praktischer Theologe sah er darin, den „Pfarrer im dritten Reich“ zu einem „Bannerträger im nationalen Kampf“, zu einem „Nationalsozialist[en] bis ins Mark“ auszubilden40. Für Meyer-Erlach bildete die nationalsozialistische Weltanschauung die Grundlage seiner Forschung und Lehre. So verlangte er von seinen Studierenden, dass sie für das theologische Examen „Adolf Hitlers ,Mein Kampf‘ und die Schriften Rosenbergs, vor allem die ,Dunkelmänner‘ gelesen haben“41 sollten. Meyer-Erlach veröffentlichte während der NS-Zeit zahlreiche Traktate und Publikationen zu praktisch theologischen Fragen und zu Luther. Seine Schrift „Juden, Mönche und Luther“ widmete er dem Thüringer DC-Landesbischof Martin Sasse, „dem Kampfgenossen für eine deutsche Kirche“42. Meyer-Erlach beschreibt in seiner Schrift eine Wandlung Luthers, „die ihn in seiner Frühzeit als Judenfreund und nach schweren bitteren Erfahrungen, nach neuen Erkenntnissen als den größten Judenfeind der deutschen Vergangenheit zeigt“43. Zunächst habe Luther „die christliche Nächstenliebe, Güte und Freundlichkeit gegen jedermann“44, also auch gegen die Juden, gepredigt, habe aber trotz „aller schwärmerischen Hoffnung für die Bekehrung der Juden“ erkennen müssen, dass Rasse Rasse bleibe, auch wenn Luther „die 39 Meyer-Erlach, Juden. 40 Meyer-Erlach, Pfarrer, 11. 41 Gutachten über Prof. Dr. Meyer-Erlach, erstellt durch das Auswärtige Amt (ohne Ort und Datum) (PA AA Berlin, R 98796, Nr. 4689, C 5-C 6). Mit den „Dunkelmännern“ ist Alfred Rosenbergs Schrift „An die Dunkelmänner unserer Zeit“ gemeint. 42 Meyer-Erlach, Juden, 5. 43 Ebd., 15. 44 Ebd., 19.

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Frage der Rasse kaum gekannt“45 habe. Im Gegensatz zu Vogelsang, der die Kontinuität von Luthers Äußerungen zur Judenfrage betonte, sieht MeyerErlach also eine psychologische und theologische Wandlung des Reformators zwischen 1523 und 1543: „Bis ins Innerste aufgewühlt von der Wirklichkeit des Judentums“ habe sich beim späten Luther die „Erkenntnis von dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Judentum und Christentum“ und „die Einsicht über die tödliche Gefahr, die durch die Juden dem Reiche drohten“ durchgesetzt46. So sei aus „dem Schutzherrn der Juden wider das Volk“ der „Schutzherr des Volkes wider die Juden und ihre Genossen“ geworden47. Als Gründe für die Wandlung Luthers gibt Meyer-Erlach neue religiöse Erkenntnisse, Einsichten in Bezug auf die Nation sowie sein soziales Verantwortungsgefühl an. Dass diese Wandlung „in Richtung auf Gedankengänge“ erfolgte, „denen der Autor [Meyer-Erlach] allzu beflissen anhing“48, war dabei sicherlich nicht rein zufällig: „Nicht als der bekenntnistreue Judenschutzherr sondern als der größte und leidenschaftlichste Judengegner der ganzen deutschen Vergangenheit ist Luther von uns geschieden. Nicht seine judenfreundlichen Schriften vom Jahre 1523, sondern seine gewaltigen Anklagen, seine profetische Verwerfung der Juden aus christlicher Glaubensverantwortung und aus der heißen Liebe zu seinem deutschen Volke sind sein Vermächtnis an uns.“49

Allerdings habe die Kirche, so Meyer-Erlach, einen Verrat an diesem Vermächtnis Luthers begangen und begehe diesen Verrat noch heute, indem sie den Kampf des Nationalsozialismus gegen das Judentum nicht unterstütze: „In der Haltung und Entscheidung des Nationalsozialismus gegen das Judentum geht Luthers Wollen nach Jahrhunderten in Erfüllung. Heute wird die Judenfrage nicht mehr sentimental als Einzelschicksal gesehen sondern als Volksschicksal, das über die Zukunft des Abendlandes, über Geist und Gesicht der Welt in den kommenden Jahrhunderten entscheiden wird. Gerade die führenden Männer im Kampfe wider die Juden, deren Lebensarbeit die Gesetze von Nürnberg möglich gemacht haben, sehen im Gegensatz zu den blinden Blindenleitern die religiöse Tiefe der Frage, den ewigen Kampf des Juden gegen alles Göttliche, gegen den Göttlichen, gegen das Christentum. Sie kämpfen den völkischen und den wirtschaftlichen Kampf, die Entscheidungsschlacht der abendländisch-christlichen Menschheit, der abendländisch-christlichen Kultur wider die Wüstendämonie des Judentums, den Kampf gottgeschaffener Völker wider die überstaatliche, internationale Zersetzungsarbeit des Juden. Wenn die Kirchen wirklich nur Christus wollten und nicht weithin zu streitsüchtigen Interessenhaufen herabgesunken wären, deren Wille und Erkenntnis sich im theologischen 45 46 47 48 49

Ebd., 25. Ebd., 32. Ebd., 53. Brosseder, Stellung, 204. Meyer-Erlach, Juden, 58.

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Gezänk erschöpft, dann würden die Vertreter des Christentums, wachgerüttelt durch die Männer des neuen Deutschland, in die Reihen der Kämpfer treten, die die Vollstrecker sind des Lebenswillens der abendländisch-christlichen Völker.“50

Während der Nationalsozialismus also den Ruf Luthers vernommen habe, sei die christliche und insbesondere die lutherischen Kirche, so Meyer-Erlach, zur „Filiale des Judentums“51 verkommen. Gnadenlos rechnet er mit der Ökumene, dem konfessionellen Luthertum und der Bekennenden Kirche ab: „Wir waren verjudet, bis wir den Ruf des erwachten Volkes, den Todesschrei der Millionen hörten, bis wir aufwachten durch das Wort des Führers und seiner Getreuen, durch jene Kämpfer, die ein ganzes Leben dransetzten, um das Volk hinzuführen zu dem Luther in der Zeit seiner höchsten Reife. Sie haben das Erbe Luthers des Deutschen, Luthers des Wächters für das ganze Abendland gehütet, während die Kirche es verriet. Sie haben Luthers Kampf gegen die Juden vor der Verschüttung durch die kirchliche, bekenntnismäßige Gewohnheit gerettet. Aber die Bischöfe des lutherischen Rates, die Männer von Oxford und ihre bekennenden Brüder in Deutschland träumen noch immer den jüdischen Traum.“52

Während die Lutherische und Bekennende Kirche weiterhin einen „Verrat an Luther“53 begingen, sei das Erbe Luthers durch den Nationalsozialismus und dessen antisemitische Ideologie bewahrt. In Meyer-Erlachs Kritik am kirchenpolitischen Gegner schwingt auch das kirchenpolitische Programm der Thüringer Deutschen Christen mit: Demnach könne keine konfessionelle Kirche, sondern nur eine durch die nationalsozialistische Ideologie bestimmte überkonfessionelle deutsche Nationalkirche letztlich den Ansprüchen und dem Anliegen Luthers gerecht werden. Folgerichtig griffen die Thüringer Deutschen Christen ebenfalls auf den Reformator zurück, um das Abbrennen der Synagogen bei dem Novemberpogrom 1938 zu legitimieren. Luther habe solche Maßnahmen gegen die Juden schließlich schon sehr viel früher gefordert. Der bereits angesprochene Thüringer DC-Landesbischof Martin Sasse, dem Meyer-Erlachs Publikation gewidmet war, veröffentlichte am 23. November 1938 eine Schrift mit dem reißerischen Titel „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“54. Darin reihte er wahllos aus dem Zusammenhang gerissene antijüdische Luther-Zitate aneinander und bot damit „im Kern […] kaum mehr als polemische Ausfälle, die um die Maßnahmenkataloge gruppiert waren“55. Im Vorwort dieser Schrift, die noch im Jahr 1938 eine Auflage von 100.000 Exemplaren56 50 51 52 53

Ebd., 60. Ebd., 51. Ebd. Ebd. Im Jahr 1938 veröffentlichte Meyer-Erlach im Verlag Deutsche Christen in Weimar eine weitere Schrift mit gleichnamigen Titel „Verrat an Luther“. 54 Sasse, Luther. 55 Kaufmann, Juden, 165. 56 Brosseder, Stellung, 209.

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Cover der Schrift „Verrat an Luther“ von Wolf Meyer-Erlach, erschienen im Verlag Deutsche Christen in Weimar im Jahr 1938

erreichte, formulierte Sasse die Intention, die er mit seiner Veröffentlichung verfolgte: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volke wird zur Sühne für die Ermordung des Gesandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. […] In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als der deutsche Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“57

Begleitet wurde Sasses Pamphlet im November 1938 von einer antisemitischen Hetzkampagne in den Mitteilungsblättern der Thüringer Deutschen Christen. Deren Tiefpunkt bildete der Abdruck von Auszügen einer Rede des fränki57 Sasse, Luther, 2.

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Deckblatt der Schrift „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ von Martin Sasse, erschienen in Freiburg/B. im Jahr 1938

schen Gauleiters und Stürmerherausgebers Julius Streicher in der Zeitschrift „Die Nationalkirche“, die dieser auf dem Adolf-Hitler-Platz in Nürnberg kurz nach dem Pogrom vor 10.0000 Zuhörern gehalten und in der er unter anderem ausgeführt hatte: „Vergeßt nicht, daß dieser Mörder ein Jude ist. Der Jude ist es, der den Mord von Golgatha auf dem Gewissen hat. Dieses Volk kann kein ,auserwähltes‘ Volk sein.“58 In einem Artikel „Kampf dem Weltfeind. Zu den Reden des Frankenführers Streicher aus der Kampfzeit“ würdigte Meyer-Erlach im Januar 1939 die „Leistungen“ des „Stürmer“-Herausgebers wie folgt: „[…] In der Reihe der großen Redner, die mit ihrem Worte deutsche Geschichte gestaltet haben, wird Streicher als einer der ersten genannt werden. Die Reden Streichers haben etwas Besonderes, das ihn in den engsten Kreis der Entscheidenden stellt. Kaum ein anderer – außer der Führer – hat so wie Streicher mit durchdringender Klarheit schon frühzeitig den eigentlichen Todfeind des deutschen Volkes, der wurzelhaften, bodenverwachsenen Völker, den Juden, erkannt und bekämpft. […] 58 „Die Nationalkirche“ Nr. 49 vom 4. 12. 1938, 529.

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Man kann ohne Uebertreibung sagen, ohne seinen gigantischen Kampf der Aufklärung wären die Judengesetze nicht möglich gewesen. In einer Zeit der völligen jüdischen Verseuchung der sogenannten christlichen Kirchen, als wir blind und blöd durch volksfremde Dogmen und judaistische Lehrsätze den Juden nicht mehr sahen, wie ihn Christus, wie ihn die großen Führer des Christentums immer gesehen haben, hat Streicher in der Mitternachtsstunde der Kirche, in der Judas wieder Herr geworden war über Christus, unentwegt, allem Haß und Hohn, allem Gelächter und jedem Bannfluch zum Trotz, in das deutsche Volk, in die Christenheit des Abendlandes das Wort Luthers geworfen: ,Die Juden sind unser Unglück‘.“59

5. „Entjudung“ selbst der Lutherforschung: Theodor Pauls und Werner Petersmann Nach dem Novemberpogrom im Jahr 1938 bemühten sich die führenden Köpfe innerhalb der Thüringer „Kirchenbewegung Deutsche Christen“ verstärkt darum, ein „Entjudungsprogramm“ für die deutsche Kirche und Theologie voranzutreiben. Seinen Ausdruck fand dieses Programm unter anderem in der „Godesberger Erklärung“ vom März 193960, die einen Konsens von Vertretern der Thüringer Deutschen Christen, der kirchlichen Mitte und Vertretern des gemäßigten Flügels der Bekennenden Kirche auch in Sachen kirchlichen Antisemitismus darstellte. Denn in der Erklärung wurde „der christliche Glaube“ als „der unüberbrückbare Gegensatz zum Judentum“ definiert61. Elf Landeskirchenführungen unterzeichneten daraufhin am 4. April 1939 in Anknüpfung an die „Godesberger Erklärung“ eine Bekanntmachung, in der die Gründung eines „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben“ beschlossen wurde. Die Gründung dieses sogenannten kirchlichen „Entjudungsinstituts“62, das am 6. Mai 1939 in Anwesenheit zahlreicher kirchlicher und akademischer Würdenträger mit einem feierlichen Festakt auf der Wartburg eröffnet wurde, stellte die bewusste Abkehr vom nichtakademischen Stammtischantisemitismus — la Hahn hin zu einer vermeintlich wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema innerhalb der deutschchristlichen Bewegung und Kirche dar. Die wohl ausführlichste und umfassendste Arbeit über die „Judenschriften“ Martin Luthers während der Zeit des Nationalsozialismus, die „auf der Durchsicht einer Fülle von Lutherschriften aus seiner Frühzeit bis zu seinem 59 „Die Nationalkirche“, Nr. 2 vom 8. 1. 1939, 14. Tatsächlich entnahm Heinrich Treitschke das bekannte antisemitische Schlagwort: „Die Juden sind unser Unglück“ dem Satz Luthers von 1543: „Denn sie uns eine schwere Last, wie eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück in unserm Land sind“. Vgl. Osten-Sacken, Luther, 134. 60 Vgl. Arnhold, „Entjudung“, Bd. 1, 432–454. 61 Ebd. 62 Vgl. Arnhold,: „Entjudung“, Bd. 2 , 476–489.

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Lebensende“63 basierte, legte im Jahr 1939 in drei Bänden Theodor Pauls64 vor. Pauls war seit Anfang 1939 planmäßiger Professor für evangelische Religionslehre und Methodik des Religionsunterrichtes an der Hochschule für Lehrerbildung in Hirschberg im Riesengebirge. Er war Mitunterzeichner der „Godesberger Erklärung“ und Mitarbeiter im kirchlichen „Entjudungsinstitut“65. Daher verwundert es nicht, wie Johannes Brosseder richtig festgestellt hat, dass seine dreibändige Publikation trotz „ihrer Materialfülle […] derart mit der nationalsozialistisch antisemitischen Problematik belastet“ ist, „daß sie insgesamt kein gültiges Bild von Luthers Stellung zu den Juden vermittelt“66. Als Religionspädagogen war es Pauls besonders wichtig, „didaktische Schneisen durch das Material“ zu schlagen, um „die unterrichtliche Verwertung von Luthers Judenfeindschaft zu begünstigen“ und damit „das bildungspolitische Ziel der ,Entjudung‘ zu forcieren“67. Im ersten Band stellt Pauls 24 Leitsätze voran, die die Ergebnisse seiner Untersuchungen zum frühen Luther und seinem Verhältnis zu den Juden bis 1524 zusammenfassen und die nach seiner Sicht „erheblich von den bisherigen Auffassungen“68 abweichen würden. Darin heißt es beispielsweise zum ersten Kapitel: „Der Widerspruch der ersten Psalmenvorlesung gegen das Judentum“: „1. Schriftauslegung und persönliche Erfahrung begegnen sich bei Luther in ihrem Widerspruche gegen das Judentum. 2. Die Lehre von der ,Rechtfertigung‘ enthüllt die jüdische Großmacht des Unglaubens und ihren Widerstreit gegen das Werk Christi. 3. Das Toben der Juden gegen die Person Christi ist begründet in der zwischen ihnen bestehenden Artverschiedenheit. Diese – und nicht ,Mission‘ – ist den Christen als ein bleibendes Erbe aufgegeben. 4. Die Juden sind nicht ,das auserwählte Volk‘, sondern auf ewig von Gott ,verworfen‘. 5. Die Juden – ohne Rechtfertigung und ohne Heiligung – sind dem Erdgeist verfallen. 6. Jüdischer Intellekt gehört einer anderen Welt an als der des Wortes und des Glaubens. Keine Menschenmacht kann ihn bekehren. Vielmehr übt er eine zersetzende Wirkung innerhalb der Kirche selbst aus. 7. Der Name der Juden ist ihnen zur Schande, den Christen aber zur Ehre geworden. Denn Gott hat zwischen dem Volke Christi und der Synagoge eine strenge ,Teilung‘ 63 Brosseder, Stellung, 135. 64 Pauls, Luther. 65 Arnhold, „Entjudung“, Bd. 2, 858. Auf der Jahrestagung des Instituts im Juni 1942 in Nürnberg hielt Pauls einen Vortrag zur „Ursprünglichkeit des Gotteslobes bei Luther“, der in den Sitzungsberichten des „Entjudungsinstituts“ veröffentlicht wurde. Vgl. Pauls, Ursprünglichkeit. 66 Brosseder, Stellung, 135. 67 Kaufmann, Juden, 166. 68 Pauls, Luther, Bd. 1, 5.

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vollzogen, mit der Richtschnur des Evangeliums. Dieser Maßstab, der in bezug auf Volk und Blut dem Grundsatze der Billigkeit entspricht, deckt den inneren Kräfteschwund der Synagoge und ihrer Völker auf.“69

Zusammen mit Pauls veröffentlichte Werner Petersmann im Jahr 1940 eine Schrift mit dem Titel „,Entjudung‘ selbst der Lutherforschung in der Frage der Stellung Luthers zu den Juden!“70, in der Petersmann unter anderem die Genese des dreibändigen Werkes von Pauls beschrieb. Petersmann, der ebenfalls in der Mitarbeiterliste des „Entjudungsinstituts“ geführt ist71, war seit November 1938 Leiter der „Luther-Deutschen“, der Nachfolgeorganisation der „Reichsbewegung Deutsche Christen“. Er führte in der Schrift „,Entjudung‘ selbst der Luther-Forschung an diesem Punkte“ aus, dass die „erste und einzige ausführliche Wissenschaftsarbeit“ über „Luthers Stellungnahme zu den Juden“ ausgerechnet von dem „Rabbiner Dr. Reinhold Lewin“ im Jahr 1911 erstellt worden sei72. Lewin habe dabei, so Petersmann, die „bewußte Zielsetzung“ verfolgt, „Luthers radikale Judengegnerschaft zu verwischen“, ja, Lewin habe die „Stellung Luthers zu den Juden gerade in das Gegenteil“ verkehrt73. So sei Lewin ein „Schulbeispiel von solchem ,jüdischen Einfluß‘“74, den das kirchliche „Entjudungsinstitut“ bekämpfen wolle. Denn die „typisch jüdische Schau des Rabbiners Lewin“ habe bisher „grundlegend die deutsche Theologie an diesem Punkte bestimmt“75. Um diese „jüdische Sicht“ zu brechen, habe Pauls nun „endlich das notwendige Gegenwerk gegen Lewins Monographie“76 verfasst, das sowohl vom Minister für kirchliche Angelegenheiten, Hanns Kerrl, als auch vom Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin finanziell unterstützt worden sei77. An der „Entjudung selbst der Lutherforschung“ erweist sich also für Petersmann nicht nur die Notwendigkeit zur „Errichtung eines ,Instituts der NSDAP. Zur Erforschung der Judenfrage‘“ durch Alfred Rosenberg, sondern auch eines kirchlichen „Entjudungsinstituts“, damit „bestimmte, noch so fein erscheinende Kanäle von Einflüssen und Einflußmöglichkeiten“ des Judentums „tatsächlich forschungsmäßig ausgegraben werden“78 können, damit auch die Kirche nicht länger zum Einfallstor jüdischen Einflusses werde.

69 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Ebd. Petersmann / Pauls, „Entjudung“. Vgl. Arnhold: „Entjudung“, Bd. 2, 858 f. Petersmann / Pauls, „Entjudung“, 7. Ebd., 8 f. Ebd., 7. Ebd., 9. Ebd., 10. Ebd., 11. Ebd., 7.

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Cover der Schrift „‘Entjudung‘ selbst der Luther-Forschung“ von Werner Petersmann und Theodor Pauls, erschienen in Bonn, 2. Auflage 1940

6. Resümee Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ bei den Deutschen Christen je zu ihrer Zeit dazu geeignet war, die Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten gegenüber den deutschen Juden sowie die kirchenpolitischen Anliegen der deutschchristlichen Bewegung zu legitimieren und zu unterstützen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen war sie gänzlich durch die nationalsozialistische Rasseideologie bestimmt und konnte unter ihrem verzerrten Blickwinkel Luthers Stellung zum Judentum nur fehldeuten. Der christliche Antijudaismus in Luthers „Judenschriften“ wurde durch die deutschchristliche Lutherrezeption immer stärker im Sinne der eigenen antisemitischen Vorstellungen umgedeutet und verfolgte in erster Linie kirchenpolitische und ideologische Interessen. Die deutschchristlichen Anstrengungen gipfelten sogar in dem Bemühen, mithilfe eines „Entjudungsinstituts“ die Theologie – und mit ihr auch die „Lutherforschung“ selbst – zu „entjuden“.

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Mit ihren Beiträgen unterstützten die hier exemplarisch angeführten deutschchristlichen Theologen je auf ihre eigene Weise die antisemitische Ideologie und die Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates gegenüber den Juden und trugen zu ihrer Akzeptanz und Durchführung bei. Im Unterschied zu dem anfangs erwähnten Julius Streicher musste sich nach 1945 keiner von ihnen für die antisemitischen Ausfälle vor einem Gericht verantworten. Wenn überhaupt, dann wurden sie in Spruchkammerverfahren allenfalls als Mitläufer eingestuft und konnten schon sehr bald wieder ganz normal am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Häufig stilisierten sie sich, wie beispielsweise Meyer-Erlach, selbst zu Widerstandskämpfern gegen den antichristlichen NS-Staat79. Meyer-Erlach erhielt in den 1960er-Jahren sogar das Bundesverdienstkreuz. Mit Selbstrechtfertigungen trieben sie die eigene Entnazifizierung voran und nahmen für sich eine vermeintlich moralische Integrität in Anspruch. Dabei kam ihnen zugute, dass viele Deutsche die Gräueltaten gegen die Juden während der Zeit des Nationalsozialismus als Taten einer kleinen Bande von Verbrechern betrachteten und mit deren Abkehr von den christlichen Werten und vom Christentum begründeten. In einem Klima der Verdrängung leugneten oder verschwiegen sie erfolgreich ihre eigene Beteiligung als deutschchristliche Kirchenmänner an der Judenverfolgung. Die meisten fanden auch ohne Schuldeingeständnis einen Weg zurück in die Kirche oder in die theologische Wissenschaft. Sie hielten nach 1945, wie viele andere nicht deutschchristliche Theologen im Übrigen auch, an judenfeindlichen Stereotypen fest, die sich weiterhin auch auf Luther berufen konnten. So wurden die beschriebenen antijüdischen Denkmuster nicht revidiert, so dass sie weiterhin in Kirche und Theologie über Predigt und wissenschaftliche Publikationen wirkungsmächtig bleiben konnten.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA) Berlin R 98796, Nr. 4689, C 5-C 6.

II. Veröffentlichte Quellen und Literatur Arnhold, Oliver : „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Bd. 1: Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939. Bd. 2: Das „Institut zur Erfor79 Vgl. Arnhold, „Entjudung“, Bd. 2, 760.

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schung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ 1939–1945. Berlin 2010. Bçhm, Susanne: Deutsche Christen in der Thüringer evangelischen Kirche (1927–1945). Leipzig 2008. Bornkamm, Heinrich: Volk und Rasse bei Martin Luther. In: Volk Staat Kirche. Ein Lehrgang der Theologischen Fakultät Gießen. Gießen 1933. Brosseder, Johannes: Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten (Beiträge zur Ökumenischen Theologie 8). München 1972. Fronemann, Wilhelm: Der deutsche Luther. Leipzig 1933. Gailus, Manfred: Von den Juden und ihren Lügen: Martin Luther, protestantischer Antisemitismus und Judenverfolgung im „Dritten Reich“ (http://www.akademienordkirche.de/assets/Akademie/Jahresordner-2014/PDFs-Erinnerungskultur/ Luther-die-Kirche-die-Juden.pdf, Abruf 3. 3. 2015). Hahn, Gerhard: „Von den Jüden und ihren Lügen“. Ein Vortrag über Luthers Schrift. Bremen 1935. Heinonen, Reijo E.: Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933–1945. Göttingen 1978. Hermle, Siegfried / Thierfelder, Jörg: Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 2008. Heschel, Susannah: The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany. Princeton 2008. Hossenfelder, Joachim: Unser Kampf. Berlin 1933. Kaufmann, Thomas: Luthers Juden. Stuttgart 2014. Meier, Kurt: Die Deutschen Christen, Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Halle a. d. Saale 1964. Meyer-Erlach, Wolf: Der Pfarrer im dritten Reich. Weimar 1933. –, Juden, Mönche und Luther. Weimar o. J. [1937]. Osten-Sacken, Peter von der : Martin Luther und die Juden: neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31). Stuttgart 2002. Pauls, Theodor : Luther und die Juden, Bd. 1: In der Frühzeit der Reformation (1513–1524). Bd. 2: Der Kampf (1524–1546). Bd. 3: Aus Luthers Kampfschriften gegen die Juden (Aufbau im „Positiven Christentum“. Eine theologische und religionspädagogische Schriftenreihe 54, 55, 61). Bonn 1939. –, Die Ursprünglichkeit des Gotteslobes bei Luther. In: Grundmann, Walter (Hg.): Germanentum, Christentum und Judentum, Studien zur Erforschung ihres gegenseitigen Verhältnisses, Dritter Band, Sitzungsberichte der dritten Arbeitstagung des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben vom 9.–11. Juni 1942 in Nürnberg. Leipzig 1943, 137–192. Petersmann, Werner / Pauls, Theodor : „Entjudung“ selbst der Lutherforschung in der Frage der Stellung Luthers zu den Juden! (Aufbau im „Positiven Christentum“. Eine theologische und religionspädagogische Schriftenreihe 62). Bonn 1940. Puschner, Uwe / Vollnhals, Clemens (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus: Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen 22012.

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Oliver Arnhold

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Protestantische Diskurse nach 1945

Harry Oelke

„Luther und die Juden“ in der kirchengeschichtlichen Forschung nach 1945

Angesichts der desaströsen deutschen Geschichte mit Juden in den zwölf Jahren NS-Herrschaft war es eine Frage der Zeit, bis die feindseligen Aussagen Luthers über die Juden kritisch hinterfragt werden würden. Es bedurfte zwar einer gewissen Anlaufzeit, dann aber hat das Thema „Luther und die Juden“ die Luther- und Reformationsforschung nach 1945 intensiv und auch kontrovers beschäftigt.1 Der Reflex, den das Thema in der kirchengeschichtlichen Forschung der Bundesrepublik fand, weist möglicherweise über sich selbst hinaus auf den Umgang der Deutschen mit den Juden in der Phase nach 1945. Wir nehmen diesen Umstand zum Anlass, um dem Thema in einer forschungsgeschichtlichen Perspektive genauer nachzugehen. Wir wollen fragen, welche Rolle Luthers „Judenschriften“ in der kirchengeschichtlichen Forschung nach 1945 tatsächlich gespielt haben. Mit wieviel Energie und mit welchen leitenden Interessen und Fragestellungen man sich, wenn überhaupt, diesem Thema genähert hat? Und welche interdisziplinären Forschungsmöglichkeiten sich daraus ergeben haben? Was waren deren Ergebnisse? Es wird ein chronologischer Zugang gewählt. Drei Phasen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema „Luther und die Juden“ werden voneinander abgehoben.2 Dabei ist die Prämisse leitend, dass sich kirchenhistorische Forschung per se nicht in einem sterilen, ausschließlich selbstreferentiellen Kontext entfaltet. Kirchenhistorische Arbeit steht vielmehr immer in engen soziokulturellen und auch kirchlichen Bezügen, auf die sie reagiert und auch zurückwirkt. Dies gilt umso mehr für ein Thema, das durch die historischen Verstrickungen ein sehr „deutsches“ Thema ist und – wie jüngst von Thomas Kaufmann herausgestellt wurde – auch ein „unverzichtbarer Gegenstand nationaler Selbstverständigung und –aufklärung“3 sein dürfte. Im Falle des Themenfeldes „Luther und Juden“ wird man als Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich kirchenhistorische Arbeit zu entfalten hatte, den in Deutschland jeweils virulenten Antisemitismus sowie die Beziehung der evangelischen Kirche zum Judentum vorausssetzen können. Wir beschränken 1 Vgl. dazu die detaillierte bibliographische Zusammenstellung von Kaufmann, „Judenschriften“, 183–215. 2 Zur Periodisierung der westdeutschen Kirchengeschichte nach 1945 vgl. Oelke, Kirchengeschichte. 3 Kaufmann, „Judenschriften“, 2.

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uns nachfolgend auf die evangelische Kirchenhistoriographie, der Fokus liegt dabei auf derjenigen deutschsprachigen Lutherforschung, die sich explizit dem Thema zuwendet; lutherbiographische oder reformationsgeschichtliche Darstellungen, die das Thema nur streifen, müssen weitgehend unberücksichtigt bleiben.

1. Beschwerliche Selbstfindung (1945–1960) In dem Maße, wie das kapitale Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden, die Shoa, nach Kriegsende in seinem ganzen Ausmaß erkennbar wurde, stellte sich auch zumindest implizit aus kirchengeschichtlicher Perspektive die Frage nach der Mitverantwortung der Kirche und ihrer theologischen Lehrtradition für den Völkermord.4 In der Schuldfrage bestimmte ein beharrliches Schweigen die deutsche Nachkriegspolitik. In seiner Regierungserklärung zum ersten deutschen Bundestag 1949 ließ Adenauer – wohl auch aus verhandlunsgtaktischen Gründen – das jüdische Schicksal und die Konsequenzen bis 1951 unerwähnt.5 Dieser reservierte Umgang mit dem nationalsozialistischen Kapitalverbrechen an den Juden hatte einen Anhaltspunkt in der Einstellung der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Eine Meinungsumfrage aus dem August 1949 zeigt, dass in den ersten Nachkriegsjahren die Hälfte der Deutschen sich in unterschiedlichen Abstufungen noch immer antisemitisch einschätzte.6 Dem Ende der Naziherrschaft folgte zwar „das Ende des Antisemitismus als herrschender Staatsideologie“, wie Frank Stern das formuliert7. Dieser Wandel war nach 1945 gewissermaßen von außen politisch implantiert, er war aber nicht getragen von einer tiefgehenden Transformation der Einstellungsdisposition gegenüber den Juden in Deutschland. Die Reformations- und Lutherforschung jener Zeit wurde demnach flankiert von einem durchaus präsenten Antisemitismus, der gleichzeitig gesellschaftlich und politisch tabuisiert wurde. Die evangelische Kirche hat es erst in einem langen Lernprozess verstanden, ihre Schuld an diesen Verbrechen nach dem Holocaust klar zu benennen.8 4 Zu zentralen Problemkonstellationen deutscher Kirchengeschichtsschreibung nach 1945 vgl. Oelke, Kirchengeschichte, 175–178. 5 Vgl. dazu insgesamt Vogel, Dialog. 6 Vier Jahre nach Kriegsende gaben an: 8 % demonstrativ freundlich, 41 % tolerant, 15 % zurückhaltend, 23 % antisemitisch und 14 % harte Antisemiten zu sein, vgl. Nçlle / Neumann, Jahrbuch, 128. 7 Stern, Entstehung, 181. 8 Die Stuttgarter Schulderklärung von 1945 ließ den expliziten Hinweis auf die Juden noch vermissen, die synodale Erklärung von Berlin-Weißensee 1950 benannte erstmals die Schuld an Israel. Die Schuld an der Shoa wurde danach ein fester Bestandteil jeder evangelischen Erklärung, vgl. Oelke, Schuld, 13.

„Luther und die Juden“ in der kirchengeschichtlichen Forschung

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Das Thema „Luther und die Juden“ war vor diesem Hintergrund für die kirchengeschichtliche Forschung nach dem Ende des Krieges – ein entsprechendes Problembewusstsein vorausgesetzt – einer der schwierigsten Gegenstände überhaupt. Die nationalsozialistische Epoche hatte den Zugang zu dem ohnehin brisanten Thema massiv verstellt. Die wichtige Studie des jüdischen Lutherforschers Reinhold Lewin zu Luthers Verhältnis zu den Juden aus dem Jahr 19119, die zu diesem Thema eine nach modernen methodischen Standards arbeitende Forschung begründet hatte, hatte angesichts der Flut brauner Vereinnahmungsversuche von Luthers Spätschrift von 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“10 keine Chance auf eine unvoreingenommene Rezeption. Das Spektrum der NS-Usurpation war gewaltig. Die braune Literatur, die sich des Themas „Luther und die Juden“ in der NS-Zeit bemächtigt hatte, lässt sich in bezug auf Herkunft und Inhalt mindestens in sieben inhaltliche Richtungen unterscheiden: die Völkische Deutung, der Tannenbergbund, das Geistchristentum Artur Dinters, die Deutsche Glaubensbewegung, die NSLutherdeutung11, der Bund für Deutsche Kirche und Deutschchristliche nationalkirchliche Observanz.12 In der wissenschaftlichen Disziplin Kirchengeschichte stand nach Ende des Krieges wie in anderen theologischen Fächern eine umfassende Erneuerung an. Die „antihistoristische Revolution“ der 1920er Jahre hatte das Fach in eine Krise geführt, von der es sich bis 1945 nicht erholt hatte.13 Die zwölf Jahre NSZeit hatten die theologischen Anfälligkeiten für die Aufnahme der NS-Ideologie deutlich gemacht.14 Der in den 1920er Jahren eingeschlagene Kurs einer Theologisierung der Reformations- und Lutherforschung setzte sich nach 1945 weiter fort. Die kirchenhistorische Arbeit organisierte sich in den westlichen und der östlichen Besatzungszone an 20 akademischen evange9 Lewin, Stellung. 10 Luther, Juden. 11 Für die NS-Deutung sind im einzelnen folgende Gruppen zu unterscheiden: Der Stürmer, Der Völkische Beobachter, Artur Rosenberg, Wilhelm Grau, vgl. dazu Brosseder, Stellung, 182–198. 12 Vgl. dazu instruktiv Ebd., 156–208; Kaufmann, Luther und die Juden; und Ders., Juden.. 13 Die Abkehr vom Historismus des 19. Jahrhunderts nach dem Ende des Ersten Weltkriegs führte die Kirchengeschichte wie die Geschichtswissenschaft insgesamt in eine bis 1945 fortdauernde Krise. Der wissenschaftliche Aufbruch nach 1945 hat das Fach nur bedingt revitalisieren können, die Kirchengeschichte blieb im Kanon der theologischen Disziplinen bis heute ein „Randfach“, Nowak, Kirchengeschichte, 469. Es bleibt abzuwarten, ob die immense erinnerungskulturelle Dynamik, die das Reformationsjubiläum 2017 auslöst, mittel- und langfristig zu einer Aufwertung der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin führen wird. 14 Die Disziplin hatte sich in Fortentwicklung der von Karl Holl angestoßenen „Lutherrenaissance“ spätestens seit 1930 in mehrfacher Hinsicht als anfällig für die Aufnahme einzelner Elemente der NS-Ideologie erwiesen. Ordnungstheologische Konstruktionen aus dem Erlanger Neuluthertum (Paul Althaus, Werner Elert) sowie subjektivitätstheoretische Einlassungen von Emanuel Hirsch hatten im Zusammenspiel mit traditionsbelasteten nationalkonservativen Einstellungsdispositionen im Mehrheitsprotestantismus die Anfälligkeiten der Luther- und Reformationsforschung deutlich gemacht, vgl. dazu Kaufmann / Oelke, Kirchenhistoriker.

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lisch-theologischen Ausbildungsstätten, an denen 20 professorale Kirchenhistoriker tätig waren. Für die Reformations- und Lutherforschung hat man ganz zutreffend eine Fortsetzung der in den 1920er Jahren einsetzenden „Theologisierungsdynamik des Faches Kirchengeschichte“ festgestellt15. Daraus ging eine Abkoppelung der Kirchengeschichte von gesellschaftlichen Bezügen einher, die erst wieder mit dem Bedeutungsgewinn der Sozialwissenschaften in den 1970er Jahren eine Rolle spielten, als deren methodische und inhaltliche Impulse nicht nur die Allgemeingeschichte, sondern auch die Kirchengeschichte erreichten und qualitativ veränderten. Von allen zwischen 1945 und 1950 gefertigten kirchengeschichtlichen Dissertationen waren 18 zu Luther geschrieben worden16, davon waren zehn schriftexegetisch orientiert; die Judenfrage wurde darin nicht thematisiert, ebensowenig spielten in dieser Phase institutions-, sozial-, rechts- und kulturgeschichtliche Aspekte eine nennenswerte Rolle. Das stärkste Bindeglied zwischen der Lutherdeutung der NS-Zeit und der Nachkriegszeit markierte die These von einer direkten Linie, die kausalchronologisch von Luther über diverse historische Etappen bis zu Hitler führte. Sie ging zurück auf den amerikanischen Historiker William Montgomery McGovern und sein Buch „From Luther to Hitler“, das 1941 in erster Auflage erschienen war17. Schon hierin wurde eine harsche Kritik an Luthers Judenschriften formuliert. Der Brite Peter F. Wiener, der sich selbst als dilettierenden Hobby-Historiker einführte, sich aber in Luthers Schriften offenkundig sehr gut auskannte, führte die These weiter und machte sie populär. Er bombardierte gewissermaßen seine Leser mit Luthers Äußerungen und stellte einen deutschen Sonderweg heraus. Im Zentrum der Kritik stand hier Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die – anders als bei Zwingli und Calvin – durch sklavische Untertänigkeit und omnipotente Herrscher ein teutonisches Christentum geschaffen habe, das den politischen Absolutismus auszubilden half und so Hitler den Boden bereitete. Wieners These wurde zwar früh kritisiert und zurückgewiesen, hat aber im angelsächsischen Sprachraum eine erhebliche Wirkung erzielt. Auch deutsche Stimmen vertraten diese Auffassung, allerdings ohne viel Gehör zu finden.18 Zwei Stimmen in deutscher Sprache, die Luther ähnlich kritisch beurteilten, gewannen für die deutsche Diskussion ein größeres Gewicht als die angelsächsische Luther-Hitler-These, namentlich Thomas Mann und Karl Barth. Thomas Mann hielt, während er am Dr. Faustus arbeitete, am 29. Mai 1945 in der Library of Congress seine berühmt gewordene Rede über „Germany and the Germans“, die auch in Deutschland schnell Verbreitung fand. Um den 15 Kaufmann, Reformationsforschung, 405; zur wissenschaftlichen Disziplin Kirchengeschichte nach 1945 vgl. ebd., 405–415. 16 Vgl. ebd. 414–417. 17 McGovern, Luther. 18 Vgl. dazu Mannack, Luther ; und den Beitrag von Stephen Burnett in diesem Band.

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Amerikanern den deutschen Weg in die NS-Katastrophe zu erläutern, ging Mann auch akzentuiert auf Luther ein. Der Literat zeichnete Luther als eine Figur der deutschen Geschichte, in der das Beste „durch Teufelslist zum Bösen ausschlug“19. Luther galt ihm als religiöser Genius, ein „Freiheitsheld – aber in deutschem Stil“, die Freiheit des Christenmenschen sei ihm vertraut gewesen, die „Freiheit des Staatsbürgers – die ließ ihn nicht nur kalt, sondern ihre Regungen und Ansprüche waren ihm in tiefster Seele zuwider“20. Bei aller Größe, so Mann, habe Luther im Namen des Glaubens der Staatsgläubigkeit Vorschub geleistet und letztlich das Scheitern der republikanischen Staatsform bewirkt. Getragen von einer „Solidarität mit der Sache der bekennenden Christen in Deutschland“, aber ähnlich kritisch wie Mann, veröffentlichte Karl Barth 1945 unter dem Titel „Eine Schweizer Stimme“ seine wichtigsten politischen Stellungnahmen aus der Zeit zwischen 1938 und 1945. Er rückte darin deutlich vom Reformator ab, 1939 konnte er schließlich sagen; „Der Hitlerismus“ sei „der gegenwärtige böse Traum des erst in der lutherischen Form christianisierten deutschen Heiden“21. Mit Mann und Barth drangen zwei Stimmen gewissermaßen „von außen“ an die deutsche Öffentlichkeit heran. Ihre Kritik traf eine den Deutschen durch Luther vermittelte Autoritätsgläubigkeit. Damit wurde Luther gewissermaßen für die fehlgeleitete Entwicklung zum und im NS in die Pflicht genommen.22 Die kritische Haltung Barths fand im Lager seiner deutschen Freunde eine gewisse Resonanz. Hier kritisierte man zwar nicht explizit Luthers Stellung zu den Juden, aber die nationalprotestantische Luthertradition war den Barthianern ein Dorn im Auge. Sie mahnten einen präziseren Umgang mit Luthers Texten an, um so Voraussetzungen für eine bessere kirchliche Zukunft zu schaffen. Der Lautsprecher dieser Richtung war der in Göttingen wirkende Ernst Wolf. Er warf den reformatortreuen Kollegen einen „lutheromanen Enthusiasmus“ vor, der Luther als die letztgültige Instanz betrachte23. Bevor man in Fragen des sozialen Lebens heute wieder bei Luther in die Schule gehe, solle man, so Wolf, „zuvor ganz eindeutig“ den „Irrtum eines früheren ZurSchule-Gehens“ festgestellt haben24. Hermann Diem und andere klagten bei den Lutheranern ein selbstkritisches Verhalten insbesondere in bezug auf die politische Ethik ein. Daraus hätte sich freilich im Lutherlager eine Reflexion über das heikle Thema Luther 19 20 21 22

Mann, Deutschland, 1146. Ebd., 1134. Barth, Stimme, 113. Zur Diskussion in der Nachkriegszeit um Luther als Ermöglichungsgrund Hitlers und des Nationalsozialismus vgl. Eberan, Luther. 23 Wolf, Erbe, 79. 24 Wolf, Selbstkritik, 95, dort Anm. 30. Vgl. zum Ganzen den anschaulichen Beitrag von Lehmann, Katastrophe.

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und die Juden ergeben können. Dafür hätte indes eine entsprechende Problemsensibilität vorhanden sein müssen. Im deutschen Luthertum zeigte man sich nach dem Ende des Krieges unbeeindruckt von der an den Reformator herangetragenen Kritik.25 Einen Zusammenhang zwischen Luther und dem Verlauf der deutschen Geschichte mit ihrem fatalen Ausgang konnte man hier nicht ausmachen. Die Feier anlässlich des 400. Todestages Luthers am 18. Februar 1946 in Erlangen ließ keine Spur von einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Reformator erkennen. Paul Althaus gab zu bedenken: Wenn es in Deutschland „einen Untertanengeist“ gegeben habe, dann sei daran nicht Luther schuld, „sondern der kleinstaatliche Absolutismus und wenn schon ein Denker genannt werden müsste, dann Hegel, aber nicht Luther“26. Walther von Loewenich machte geltend, dass Luther als „Genie“ „turmhoch“ über das gewöhnliche Maß hinausrage. Er sei der „Inbegriff echten Deutschtums“ und stehe in einer Zeit, in der die Deutschen sich selbst zu verlieren drohen oder sich weithin schon verloren haben „als Rufer zu eigener Tiefe vor uns“27. Ganz ähnliche Töne verlauteten in der florierenden biografischen Lutherliteratur, wie etwa bei Hanns Lilje. In seiner über lange Jahre verkaufsstarken kleinen Luther-Biographie aus dem Jahr 1946 erkennt der hannoversche Lutheraner gleich ein ganzes Bündel geistlicher, ethischer und theologisch bedeutsamer Wirkungen, die dem Reformator Luther geschuldet waren und in denen angesichts der deutschen materiellen und geistigen Trümmerlandschaft bei Kriegsende als „einzige Zukunftshoffnung“ die „Grundlagen Europas“ gesehen wurden28. Wurde ein zu bauendes Europa hier auf einem lutherischen Fundament entworfen, so streift Luthers Verhältnis zu den Juden noch nicht einmal ein Seitenblick des Verfassers. Einen gewissen Höhepunkt der im Lager des Luthertums nach 1945 betriebenen Apologetik markiert Hans Asmussens Text aus dem Jahr 1947 mit der aufreizenden Titelfrage „Muss Luther nach Nürnberg?“29 Asmussen wendet sich darin gegen Barths Luther-Kritik und unterstreicht, dass die Wurzeln des Nationalismus nicht zu Luther, sondern vielmehr zu Kant, zur Französischen Revolution und zu Marx führten. Luther habe die Obrigkeiten schärfer kritisiert als andere. So wie hier wurde Luther im Lager des theologischen Luthertums nach 1945 nahezu unisono von einer Verantwortung für die deutsche Geschichte vor 1945 freigesprochen. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass die Frage nach dem Zusammenhang von Luthers Juden-Schriften und der fatalen Verfolgung der Juden im NS-Deutschland in

25 26 27 28 29

Vgl. dazu Ebd., 135–138. Althaus, Luther. In: Zeitwende, 18 (1946/47), 129–142. Loewenich, Botschaft, 6. Lilje, Luther, 5, 7 f. Asmussen, Luther.

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dieser frühen Phase der Nachkriegszeit nicht in den Fokus der Wissenschaft rückte. Die eigentliche Zuwendung der kirchengeschichtlichen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg zu Luthers Stellung zu den Juden setzte in den 1950er Jahren ein. Alle dazu Forschenden waren sich der Brisanz der Themenstellung angesichts der jüngeren Vergangenheit Deutschlands bewusst. In den Vorworten oder Einleitungen der einschlägigen Publikationen wurde der Antisemitismus bzw. Antijudaismus explizit abgelehnt. Vielfach erinnerte man an die Judenpogrome der Nationalsozialisten und auch die nationalsozialistischen Anleihen bei Luther für die Rechtfertigung ihrer Verbrechen wurden benannt. Genau darin lag jetzt das Motiv, sich Luthers Judenschriften zuzuwenden und sie sachbezogen auszuwerten. Im deutschsprachigen Raum ragten in den 1950er Jahren zwei Arbeiten heraus, die aus der Feder von Karl Kupisch und Willhelm Maurer stammten. An beiden Arbeiten lässt sich der inhaltliche Zuschnitt dieser frühen Forschungen signifikant erfassen. Der Berliner Kirchenhistoriker Karl Kupisch wandte sich 1953 in seiner Studie „Volk ohne Geschichte“ erstmals diesem Thema zu.30 Wie auch die anderen Arbeiten dieser Zeit kreiste die Untersuchung um die Frage, wie sich die frühe Judenschrift Luthers von 152331 zu der späteren von 1543 in Beziehung setzen ließe. Kupisch kam zu der Auffassung, dass die beiden Schriften ganz offensichtlich ein starker Wandel kennzeichnet: von wohlwollend temperierten Äußerungen aus der freundlichen Anfangszeit hin zu den Verbitterungen und kolerischen Wutausbrüchen gegenüber den Juden in der Spätschrift. Gleichwohl erkannte Kupisch eine gemeinsame theologische Verbindung zwischen beiden Schriften: Luther urteile immer von den Begriffen „Gesetz und Evangelium“ aus, darin erkannte der Verfasser, dass Luthers Verständnis der Judenfrage „primär immer dogmatisch bestimmt war und nicht exegetisch“. Harsch wird Luther kritisiert, der nach Kupisch aus dem Spannungsbogen von Gesetz und Evangelium mittelalterliche Gepflogenheiten ableite, die Obrigkeit zur Anwendung von Gewalt gegen die Juden verpflichten zu können.32 Der Erlanger Kirchenhistoriker Wilhelm Maurer kam im Hinblick auf die Argumentationsstruktur zu einer ganz ähnlichen Bewertung wie Kupisch.33 Bei der Frage nach dem Verhältnis der beiden Texte identifizierte auch er eine theologische Kontinuität zwischen beiden Schriften Luthers. Sie basiere auf den konstanten theologischen Grundprinzipien, die Maurer v. a. in der Lehre 30 Kupisch, Volk ohne Geschichte. 31 Luther, Jesus. 32 Vgl. Kupisch, Volk der Geschichte, 83–85. Brosseder, Stellung, hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass Kupischs Deutung des Luther-Verständisses von Gesetz und Evangelium als „dogmatisch“ zu kurz greife, vielmehr ließe sich die Formel durch eine Anleihe bei Gerhard Ebeling als „Verstehensschlüssel für die konkrete Wirklichkeit des rechtfertigenden Tun Gottes am Sünder“ deuten, 268. 33 Maurer, Kirche.

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von der Rechtfertigung, in der gezweiten Formel von Gesetz und Evangelium sowie in Gottes paradoxem Handeln ausmachte.34 Einen Wandel indes erkannte Maurer in beiden Schriften durch die praktisch-rechtlichen Folgerungen, die der „späte“ Luther aus seiner theologischen Grundüberzeugung zog. 1523 war demnach für Luther eine missionarische Verantwortung leitend, 1543 sei Luther vom gegenmissionarischen Wirken der Juden aufgebracht gewesen und wollte Kirche und Synagoge daher auf Distanz halten. Die Folgerungen Luthers in Form einer ,scharfen Barmherzigkeit‘ von 1543 versteht Maurer als Mahnung und Warnung, die auf keine direkte politische Umsetzung abzielten. Luthers Polemik indes wurde von ihm scharf kritisiert und Luthers sozialpolitische Postulate als hoffnungslos rückschrittlich gebrandmarkt.35 Beide Verfasser haben in einer späteren zweiten Auflage ihre Positionen differenziert.36 Wir brauchen dem hier nicht weiter nachzugehen. Für unsere Zwecke ist wichtig, dass in dieser frühen Phase die Kernfrage der Forschung ausgebildet wurde, die über Jahrzehnte leitend blieb: Hat bei Luther zwischen 1523 und 1543 ein grundsätzlicher theologischer Wandel stattgefunden? In den 1950er Jahren ist die Auffassung von theologischer Kontinuität und einem Wandel bei den rechtlich-praktischen Folgerungen dominant. Eine Durchsicht der Arbeiten der ,Wandlungstheoretiker‘ zeigt, dass der Transformationsprozess Luthers an ganz unterschiedlichen Punkten seiner Einstellung bzw. Haltung zu den Juden festgemacht wurde: Mission der Juden vs. keine Judenmission; Bekehrungshoffnung vs. -hoffnungslosigkeit; Dialog vs. Polemik; transreligiöse Perspektive auf alle Menschen vs. Fokus nur auf Christen.37 Der Wandel wird insgesamt durch externe Gründe psychologischer oder ökonomischer Natur und auch gegenwartspolitisch begründet. Schon in dieser Phase belegen etliche Beispiele, und zwar aus unterschiedlichen konfessionellen und geistesgeschichtlichen Richtungen, dass Luthers Spätschriften wirkungsgeschichtlich mit Hitler und der Genese des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wurden.38

2. Ein „fälliges Thema“ (1960–1985) Der Beginn einer neuen Phase der kirchengeschichtlichen Arbeit zum LutherJuden-Thema lässt sich um das Jahr 1960 ausmachen. Gerade an diesem Neueinsatz wird das Zusammenspiel des gesellschaftlichen und kirchlichen 34 35 36 37 38

Vgl. Ebd., 47, 89. Ebd.; vgl. zum Ganzen auch Brossseder, Stellung, 270–275. Kupisch, Volk mit Geschichte; Maurer, Zeit. Vgl. dazu Namen und Analysen bei Brosseder, Stellung, bes. 310–331. Exemplarisch seien genannt: Evangelisch: Barth, Protestantismus; katholisch: Heer, Liebe; jüdisch: Adler, Juden; philosophisch: Jaspers, Religionen.

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Kontextes und des kirchengeschichtlichen Wissenschaftsbetriebs besonders erkennbar. Zunächst werfen wir einen Blick auf den Antisemitismus, wie er just in dieser Zeit in Westdeutschland neu erstarkte: In der Nacht des Heiligen Abends 1959 kam es zu einer massiven Beschmierung der Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen. Das Vergehen markierte den Auftakt für eine neue Welle antisemitischer Ausschreitungen, zunächst in Deutschland, dann weltweit. In Deutschland löste das Wiedererstarken der Rechtsradikalen und die damit einhergehende Bedrohung der jüdischen Bevölkerungsteile großes Erschrecken aus. Auch im kirchlichen Bereich zeigte man sich sensibilisiert, im neuen Jahr folgten öffentliche Stellungnahmen. Insgesamt zeichnete sich jetzt, bedingt auch durch einen Generationswechsel, sehr behutsam ein grundsätzlicher Einstellungswandel in der Kirche gegenüber dem Judentum ab. Die Überwindung antijudaistischer Vorurteile schien möglich. Wieder ein Jahr weiter, 1961, wurde auf dem zehnten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin ein Meilenstein gesetzt. Es kam im Verlauf der Veranstaltung zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“. Das „Thema ist fällig“, wie es auf dem Kirchentag hieß.39 Zum ersten Mal bestand damit in Deutschland ein Gremium, in dem sich Christen und Juden gemeinsam kontinuierlich mit theologischen Fragen des christlich-jüdischen Verhältnisses auseinandersetzten. Diese Tendenz zur theologischen Reflexion fand auch in der kirchengeschichtlichen Forschung einen Reflex. Im Berliner Kirchentag von 1960 liefen die Linien des neu aufgebrochenen Antisemitismus, der kirchlichen Beziehungsgeschichte zum Judentum und der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Verhältnisses von Juden und Christen zusammen. Martin Stöhr und Karl Kupisch waren Vorreiter einer veränderten Einstellungsdisposition zum Judentum. Beide gehörten zu den Initiatoren der neuen Arbeitsgruppe und thematisierten auch dort Luthers Verhältnis zu den Juden auf der Basis von dessen Schrifttum sehr kritisch. Damit trugen beide ihre wissenschaftlichen Bemühungen um das LutherJuden-Thema in die Arbeitsgruppe des Kirchentags hinein. Schon im Jahr zuvor hatte Stöhr einen wichtigen Aufsatz veröffentlicht, in dem er sich besonders mit den theologischen Gründen für Luthers Haltung zu den Juden beschäftigt hatte.40 Er hatte darin jene Deutungen kritisiert, die nach seiner Einschätzung Luthers exegetische Schriften nicht ausreichend zur Kenntnis nahmen und dessen praktische Forderungen in der Schrift von 1543 nicht aus dessen Theologie, sondern nur aus einem kontingenten Zeitkontext (psychologisch, ökonomisch) verstanden. Stöhr kam mittels diffiziler Einzelanalysen von Luthers ,Judenschriften‘ zu dem Ergebnis, dass Luthers Theologie zwischen 1523 und 1543 einem gravierenden Wandel unterworfen war. Der Luther von 1523 bleibe mit dem von 1543 zwar „unter dem Evangelium zusammen“, doch gehe er „von diesem Evangelium aus in jeweils verschiedene 39 Redebeitrag von Kupisch gemäß der Berichterstattung in: Goldschmidt/Kraus, Bund, 85. 40 Stçhr, Luther.

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Richtungen“. Den Hauptunterschied sah Stöhr darin, dass die Juden und Christen 1523 „gemeinsam als Eingeladene und Beschenkte unter dem lebendigen Evangelium stehen“, wohingegen 1543 dieses Geschenk Gottes „zu einem mit allen Mitteln zu sichernden Besitz der Christen“ geworden sei. Die Einladung habe sich in einen Ausschluss verwandelt, was Stöhr mit theologischen Argumenten als Irrtum Luthers nachzuweisen bemüht war.41 Als „junger Luther“ habe er demnach 1523 den Christen das Evangelium erbaulich ausgelegt, als „alter Luther“ sprach er theologische Urteile mit letzter Verdammnis.42 Der alte Luther sei daher selbst auf dem Weg zur Orthodoxie. Der hier postulierte signifikante Wandel zwischen dem frühen und späten Text Luthers und die dezidiert theologisch argumentierende Studie bildeten einen markanten Reizpunkt, an dem sich die Forschung lange abgearbeitet hat. Die Frage nach „Kontinuität oder Wandel“ wurde für jenen Teil der Luther-Forschung, der sich mit dem Thema Luther und Juden auseinandersetzte, leitend.43 Auch eine Hinwendung zur theologischen Analyse der Lutherschriften ist in den 1960er und 70er Jahren deutlich auszumachen. Als ein starkes Argument gegen die Wandlunsgthese stellte sich heraus, dass in Folge der angenommenen theologischen Neuorientierung Luthers nach 1523 der größte Teil von Luthers Schriften als unreformatorisch gelten müsse, genaugenommen diejenigen vor 1519 und nach 1526 verfassten Schriften. Als besonders durchsetzungsfähig erwiesen sich jene Arbeiten, die im Gefolge von Maurer das Verhältnis zwischen beiden Schriften mit der Formel „Kontinuität und Wandel“ analysierten. Maßgebliche Vertreter dieses Vorgehens seien zumindest namentlich genannt: Kurt Meiers kirchenpolitische Studie „Kirche und Judentum“44 von 1968 sowie die bis heute grundlegende Dissertationsschrift des katholischen Forschers Johannnes Brosseder von 1972 mit seiner umsichtigen Analyse der bis dahin vorliegenden Arbeiten zu Luthers Stellung zu den Juden45. 1983 wurde der 400. Geburtstag Luthers in Ost uns West feierlich begangen. Ungeachtet einer gewissen Ignoranz, mit der die vielen Protagonisten der deutschen Lutherforschung das brisante Thema im jubiläumskulturellen Kontext behandelten, kam es doch zu einigen besonderen Publikationen, die etwas von dem gängigen Frageraster zum Thema „Luther und die Juden“

41 Ebd, 179. „Dieser Ausschluss wird begründet mit dem Kampf um Gottes bzw. Christi Ehre, mit der Enthaltung von fremder Schuld, und metaphysisch fixiert durch eine nicht mehr gepredigte Lehre von der doppelten Prädestination, die ihre starre Endgültigkeit in der (im Gegensatz zu Paulus!) lähmenden Naherwartung und in einem dualistischen Gottesbegriff findet, der den Bereich des Zornes Gottes, wo auch die Predigt des Evangeliums zur Wirkungslosigkeit verurteilt ist, ohne Verantwortlichkeit dem Teufel überläßt“. 42 Ebd., 180. 43 Vgl. beispielsweise auch den Beitrag des finnischen Lutheraners Siirala, Luther. 44 Meier, Interpretation. 45 Brosseder, Stellung.

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abwichen und etwas Besonderes zu bieten hatten. Anhand von drei Beispielen lässt sich der innovative Impuls aufzeigen. Am eindeutigsten ist der Zusammenhang zum Lutherjubiläum ablesbar am Beitrag Heiko A. Obermans, den er mit dem Titel „Luthers Beziehungen zu den Juden“ auf ausdrücklichen Wunsch Helmar Junghans’, dem Herausgeber der großen Aufsatzsammlung zum sog. „alten“ Luther, die 1983 als Geburtstagsgabe Luthers erschien, beisteuerte46. Oberman erkannte darin in der Reformationszeit besondere Bedingungen, unter denen der Einfluss innerer und äußerer Bedrohungen bei den Zeitgenossen Ängste mit einer endzeitlichen Signatur wecken konnte. Wurden diese entsprechend dramatisch wahrgenommen, konnten sie die Verfolgung vermeintlicher Gegenspieler freisetzen. Der Beitrag Obermans, der mit dem Untertitel „Ahnen und Geahndete“ erschien, ist nicht nur inhaltlich, sondern auch publikationsstrategisch von Interesse. Es ist einer der wenigen Beiträge zum Thema „Luther und die Juden“, die an den zum Lutherjahr geadelten Publikationsplätzen der ersten Kategorie Berücksichtigung fanden. In der zentralen Lutherausstellung im Nürnberger Germanischen Museum war das Thema beispielsweise überhaupt nicht präsent47. Ein zweiter Aspekt ist bedeutsam: Oberman fand die Arbeiten für seinen Aufsatz so inspirierend, dass er sich frühzeitig entschloss, daraus ein ganzes Buch zu machen. Es erschien bereits 1981 unter dem Titel „Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation“48. Der Titel ist bemerkenswert: Im 15. und 16. Jahrhundert ist Oberman nicht auf der Suche nach den Spuren des Antijudaismus, sondern nach den Anfängen des Antisemitismus. Damit berührte Oberman zu einem äußerst frühen Zeitpunkt das schwierige Problem des genetischen Zusammenhangs von Antijudaismus und Antisemitismus. Befördert durch die Antisemitismusforschung trat dieser Problemzusammenhang erst Ende des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund. Die dritte Entwicklung, die sich im Umfeld des Lutherjubiläums ergab: Der von Heinz Kremers 1985 herausgegebene stattliche Aufsatzband „Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden“ war der erste Versuch einer Gruppe christlicher und jüdischer Wissenschaftler, das „Luther-Juden-Thema“ gemeinsam zu untersuchen49. Das Lutherjubiläum hatte via negationis als Impuls gedient. Der Band ist als Gegenentwurf zu aller Apologetik und Tabuisierung konzipiert, die die Initiatoren des christlichjüdischen Pilotprojekts bei den Verantwortlichen des Luther-Jahres ausgemacht hatten50. 46 47 48 49 50

Oberman, Beziehungen; zur Genese vgl. Oberman, Wurzeln, 11. Vgl. den einschlägigen Ausstellungskatalog Bott, Luther. Oberman, Wurzeln. Kremers, Juden. Vgl. Ebd., Vorwort.

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Die hier ins Auge gefaßten zweieinhalb Jahrzehnte Forschungsgeschichte zum Problemfeld „Luther und die Juden“ haben gezeigt, wie begleitet durch einen wiedererstarkenden Antisemitismus in Deutschland seit 1960 neue Forschungsfragen in den Fokus rückten. Zeittypisch ist der Umstand, dass es synchron auf dem zehnten Deutschen Evangelischen Kirchentag zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“ kam. Trotz der von hier ausgehenden wissenschaftlichen und kirchenpolitischen Dynamik erreichte die Thematik weite Teile der wissenschaftlichen Akteure des Lutherjubiläums von 1983 nicht. Es waren literarische Elaborate abseits der großen Ausstellungen und Tagungen, die für einen innovativen Impuls sorgten.

3. Historisierung und Differenzierung (seit 1985) Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der kirchengeschichtlichen Arbeit veränderten sich seit Mitte der 1980er Jahre: In der deutschen Öffentlichkeit verlagerte sich das akute Bedrohungsszenario durch antisemitsche Aktionen auf die diskursive Ebene: meist durch skandalöses Politikerverhalten verursachte Diskussionen über die Antisemitismusproblematik mit hohem Erregungspotential rückten in den Vordergrund.51 Das christlich-jüdische Verhältnis entspannte sich in den 1980er Jahren entscheidend, vor allem durch die wegweisende Schuldanerkenntnis, wie diese vom Synodalbeschluss zur „Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ der Evangelischen Kirche im Rheinland 1980 ausgesprochen worden war52. Die kirchengeschichtliche Forschung zur Luther-Juden-Thematik erlebte unter diesen Rahmenbedingungen insbesondere noch einmal eine nachhaltige Beförderung. Insgesamt ist dabei eine Tendenz zur Differenzierung und Historisierung auszumachen. Standen in der vorausgegangenen Phase text51 Die Intensität der gesellschaftlichen Erregung über vermeintliche politische Fehlleistungen war stetig im Wachsen begriffen: So stand der Besuch des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan 1985 in Bitburg im Zeichen einer äußerst kontrovers und lautstark geführten Debatte, im Jahr darauf setzte der Historikerstreit ein, 1988 folgte die verunglückte Rede Philipp Jenningers im Bundestag. 1996 setzte Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ die deutsche Öffentlichkeit in Bewegung, im Jahr darauf stritt man über die von Jan Philipp Reemtsma initiierte Wehrmachtsausstellung, 1998 folgte die umstrittene Rede Martin Walsers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises, 2005 wurde schließlich nach einer langen kontrovers geführten Debatte das Holocaust-Mahnmal in Berlin eingeweiht. Zur Deutung der gesellschaftlichen Erregung in dieser Phase vgl. Assmann, Erinnerung, 200–204. 52 Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland, Synodalbeschluss. Weitere Landeskirchen folgten in diese Richtung. Die Verankerung der Schuldanerkenntnis in den kirchlichen Grundordnungen führte auf christlicher Seite zu einer neuen Wahrnehmung des Judentums. Die Erinnerung an die problematische christlich-jüdische Geschichte entwickelte sich zum Bestandteil des kirchlich geprägten kulturellen Gedächtnisses fort, vgl. Oelke, Schuld, 18–23.

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exegetische und theologische Argumente im Vordergrund, so gewannen nunmehr die kontextuelle Forschungen und Rezeptionsfragen an Bedeutung. Ein erstes Ergebnis dieser Phase wird in dem Umstand greifbar, dass nunmehr die personelle Basis von Reformatoren im Hinblick auf ihre Haltung zu den Juden untersucht wurden. Achim Detmer analysierte in seiner Studie „Reformation und Judentum“ von 2001 neben Luther in komparatistischer Perspektive Melanchthon, Zwingli, Bullinger, Capito, Bucer, Osiander, des weiteren auch Vertreter der radikalen Reformation mit ihren jeweiligen Einstellungen zu den Juden53. Nunmehr wurden auch Bildquellen ausgewertet. Ein zweiter historisierender Zug vollzieht sich durch die Heranziehung weiterer zeitgenössischer Schriften, wie etwa bei Peter von der Osten-Sacken, der 2002 das antijüdische Buch des Konvertiten Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31) zur Erörterung der Lutherschriften nutzt und erhellende Beobachtungen anstellt54. In diese Richtung bewegt sich auch der Beitrag von Thomas Kaufmann „Luthers ,Judenschriften‘“ von 2011. Der Verfasser bekennt sich darin gleich zu Beginn zu einer „konsequent historischen Betrachtung“ in der „Verantwortung für die Gegenwart“ und analysiert unter Berücksichtigung der historisch-kontextuellen Publikations- und Rezeptionsbedingungen die einzelnen „Judenschriften“ Luthers55. Mehrere zentrale Themen der Forschung werden hier ergiebig weitergeführt: In theologischer Hinsicht wird die Christologie überzeugend als „Dreh- und Angelpunkt“56 in Luthers Bewertung des Judentums herausgestellt. Kaufmann hat einsichtig gemacht, inwiefern Luther sein Vorgehen gegen die Juden als Kampf verstanden wissen wollte, den er stellvertretend für die gesamte Christenheit austrug57. Am Ende plädiert auch Kaufmann im Hinblick auf die Differenzen zwischen Früh- und Spätschrift für eine Kontinuität einer theologisch begründeten Ablehnung der Juden.58 Dieses Ergebnis deckt sich mit der Lutherforschung insgesamt. Denn in dieser zentralen Frage hat sich in der Auseinandersetzung mit Stöhr und anderen ,Wandlungstheoretikern‘ seit den 1960er Jahren ein weitgehender Konsens eingestellt: Demnach gilt Luthers Stellung zu den Juden als theologisch begründet und bleibt im Laufe seines Lebens relativ konstant. Ein Forschungskonsens besteht inzwischen auch weitgehend darin, dass Luthers Position annähernd mit dem bis dahin entwickelten christlichen Antijudaismus identisch war. Rassische Motive indes, wie diese seit etwa 1870 in Europa eine Rolle spielten, lagen jenseits des Verstehens- und Argumentationshorizonts Luthers. Luther rezipierte die antijüdischen Vorbehalte aus der Adversus-Judaeos-Literatur (Verstocktheit gegenüber Jesus Christus als 53 54 55 56 57 58

Detmer, Reformation. Osten-Sacken, Luther. Kaufmann, „Judenschriften“, 2. Ebd., 129. Ebd., 130 f. Ebd., 128.

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Messias, Kollektivschuld am Tode Jesu, teuflische Herkunft, Verschwörung gegen Christen) und übernahm die traditionellen Stereotypen der Wucherei, der göttlichen Verfluchung und Enterbung der Juden und schloss sich der verbreiteten Dämonisierung der Juden an. Der Tendenz der kirchengeschichtlichen Forschung zur Historisierung ging eine Verlagerung von exegetisch bestimmten Textanalysen zur kirchenund kulturgeschichtlichen Beleuchtung des Kontextes einher. Die Publikationsbedingungen Luthers, seine Referenztexte für die Judenschriften sowie judenpolitische Entwicklungen in diesen Zeitspannen wurden sorgfältig recherchiert und – wie idealtypisch bei Kaufmann – auf diese Weise ein komplexer Deutungsrahmen zur Verfügung gestellt. Die Deutungen selbst, insbesondere im Hinblick auf die Entstehung des rassisch motivierten Antisemitismus, wurden meist, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, bewusst nur im Ansatz gewagt. Im Anschluss an die Ergebnisse der Lutherforschung zum 16. Jahrhundert hätte man sich eine Untersuchung der Rezeption von Luthers Judenschriften vom 18. bis zum 20. Jahrhundert vorstellen können. Dies blieb aber weitgehend ein Desiderat. Die Betrachtung der kirchengeschichtlichen Forschung zum Thema „Luther und die Juden“ wäre nicht vollständig, wollte man nicht die sie begleitende Antisemitismusforschung mit in den Blick nehmen. Die Antisemitismusforschung beschäftigt sich mit der Entstehung, den Ursachen und den Formen des Antisemitismus, wobei die Kontinuitäten und Transformationen im Antisemitismus nach 1945 eine große Rolle spielen. Das hier umrissene Forschungsfeld wird von einer Vielfalt wissenschaftlicher Theorien und Ansätze bestimmt.59 Beide – Kirchengeschichts- und Antisemitismusforschung – stehen in einem interdisziplinären Beziehungsgefüge. In dieser dritten von uns hier fokussierten Phase der kirchengeschichtlichen Forschung lässt sich zugleich ein Bedeutungsgewinn der Antisemitismusforschung ausmachen, nicht zuletzt ablesbar an dem Umstand, dass seit 1982 – unabhängig voneinander – entsprechende Institute in Jerusalem und an der Technischen Universität Berlin entstanden.60 Beide fachwissenschaftlichen Ansätze haben thematische Berührungspunkte. Das gilt etwa in Bezug auf die Kenntnisse über den religiösen Hintergrund und zum Gehalt der immer wieder neu aufgelegten antijüdischen Stereotype. Die auf kirchengeschichtlicher Seite immer wieder verhandelte Frage nach dem Anteil des Christentums an der Entstehung des modernen Antisemitismus ist auch Teil der Antisemitismusforschung61. Sie leistet die Verhältnisbestimmung eines mittelalterlich-reformatori59 Bergmann / Kçrte, Antisemitismusforschung; Nonn, Antisemitismus; Rìrup, Entwicklung. 60 Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism an der Hebräischen Universität Jerusalem; Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. 61 Vgl. v. a. Siegele-Wenschkewitz, Antijudaismus; Siemon-Netto, Luther; Eberan, Luther; Kaufmann, Reformationsforschung, 422 f.

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schen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus. In diesem Zusammenhang kommt diejenige kirchenhistorische Forschung zum Tragen, die sich seit 1945 mit der Frage nach den christlichen Anteilen an der Entstehung des modernen Antisemitismus befasst.62 Hier spielen Fragen nach dem Transfer antijüdischer Stereotype in die Neuzeit eine Rolle und wie diese in den Volkstums- und Rassetheorien der Neuzeit rezipiert wurden. Die Erlanger Tagung leistet exakt an dieser Stelle einen Beitrag für die Antisemitismusforschung, indem Luthers Beitrag zur Entstehung des modernen Antisemitismus ausgelotet wird. Im Wesentlichen konkurrieren zu dieser Frage zwei Ansätze miteinander, auch hier ist die Frage maßgeblich: Kontinuität oder Wandel? Einerseits wird die Entstehung des modernen Antisemitismus in zeitlicher und sachlicher Kontinuität zum religiösen Antijudaismus verstanden. Angesichts der im 19. Jahrhundert wirksamen nationalen oder ökonomischen Faktoren scheint diese Sicht allerdings zu reduktionistisch auszufallen. Kirchengeschichtliche Arbeiten betonen eher die Brüche und Übergänge – mit feinen Unterscheidungen – zwischen dem religiösen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus: Oberman erkennt in der Reformationszeit eine Phase der dramatischen Verschärfung der christlichen Judenfeindlichkeit63 ; Johannes Heil sieht im Spätmittelalter einen Prozess eines den Juden zugeschriebenen Rollenwandels vom „Gottesfeind“ zum „Menschenfeind“64 ; und Christopher Frey postuliert mit der normativen Kraft, die einem RGGArtikel innewohnt, dass christliche Motive nur indirekt auf die Entstehung des modernen Antisemitismus einwirkten65. Die auf dieses Problem abzielenden kirchengeschichtlichen Beiträge betonen den qualitativen Unterschied, machen aber auch deutlich, dass insbesondere bei Luther eine zugespitzte Ablehnung der Juden vorliegt, die als Vorstufe des modernen Antisemitismus verstanden werden kann.66 Die hier chronologisch vorgenommene Bestandsaufnahme der kirchenhistorischen Forschung hat gezeigt, dass die nationalsozialistische Vorgeschichte der Forschung den Zugang zu diesem Thema nach 1945 nicht leicht 62 63 64 65 66

Vgl. dazu Kaufmann, Martin Luther; und Ders., Juden. Oberman, Beziehungen; Ders., Wurzeln. Heil, Menschenfeinde. Frey, Antisemitismus / Antijudaismus. Eine reine Kontinuitätsthese wird im Bereich der neueren kirchengeschichtlich orientierten Forschung kaum vertreten. Die judenfeindliche Haltung der entsprechenden Reformatoren wird tendenziell reformationsgeschichtlich kontextualisiert und untersucht, vgl. z. B. Detmer, Judentum. Allerdings wird Luthers Einstellung zu den Juden wirkungsgeschichtlich durchaus in Richtung Moderne problematisiert. Luthers Judenhaß gilt nicht selten als Brückenkopf zwischen einem mittelalterlichen Antijudaismus und dem rassisch motivierten Antisemitismus der Moderne. Osten-Sacken, Luther, 294, spricht mit Blick auf Luther von „Proto-Antisemitismus“; Kaufmann, „Judenschriften“, 132, favorisiert den Begriff „frühneuzeitlichem Antisemitismus“, vgl. dessen Begründung in Ders., Konfession, 149 f. Zur Diskussion vgl. v. a. Benz, Handbuch, 16–21; Bergmann / Kçrte, Antisemitismusforschung; Rìrup, Entwicklung.

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gemacht hat. Es ist erkennbar geworden, wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Antisemitismus) und das kirchlicherseits entfaltete Verhältnis zu den Juden in Westdeutschland das atmosphärische Umfeld bestimmten, in dem sich das Thema „Luther und die Juden“ wissenschaftlich entfaltete.67 Die luther- und reformationsgeschichtlichen Forschungen wurden über Jahrzehnte von der Frage nach dem Verhältnis von Luthers früher Judenschrift von 1523 und seinen Spätschriften, insbesondere der von 1543 bestimmt. Die theologische Kontinuität zwischen beiden Schriften sowie ein Wandel bei den praktisch-rechtlichen Folgerungen Luthers markieren den heutigen Konsens der Forschung (die Wirkungsgeschichte der „judenfreundlichen“ Frühschrift bleibt vergleichsweise unterbelichtet). Die Frage nach Zusammenhang und Wandel hat auch die Antisemitismusforschung der zurückliegenden Jahre bestimmt. Hier kennzeichnet das Verhältnis zwischen einem religiösen Antijudaismus christlicher Herkunft und dem modernen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts mit seinen verbrecherischen Fehlentwicklungen die Forschung. Das Forschungsfeld erweist sich als noch nicht abschließend bearbeitet. Nur naive oder ideologisch verzerrte Wahrnehmungen werden ernsthaft ein grundsätzliches Forschungsdefizit oder ein Verdrängen des Themas „Luther und die Juden“ aus der kirchenhistorischen Forschungsagenda nach 1945 postulieren.68 Gleichwohl, das haben die vorausstehenden Darlegungen zeigen wollen, war die kirchenhistorische Forschung einem Wandel ausgesetzt. Das lässt sich abschließend an einer schlichten Beobachtung zu den drei wichtigen Publikationen ablesen, die in exponierter Weise für die theologische Arbeit zu Luther in den vergangenen fünf Jahrzehnten stehen. Während in der „Theologie Luthers“ bei Paul Althaus im Jahr 1962 dem Thema „Luther und die Juden“ kein nennenswerter Raum gegeben wurde69, hat Bernhard Lohse 1995 in „Luthers Theologie“ dem Thema immerhin elf Seiten gewidmet, die von ihm aber noch in einem „Exkurs“ an das Ende des Buches gestellt worden waren70. Die jüngste Darstellung zur Theologie Luthers von Reinhard Schwarz aus dem Jahr 2015 behandelt die Thematik verteilt über das ganze Buch als integralen Bestandteil von Luthers Theologie.71 Das indiziert: Die kirchenhistorische Forschung hat in methodischer Hinsicht inzwischen einen ganz gewöhnlichen Umgang mit einem sehr ungewöhnlichen Thema gefunden.

67 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Hinblick auf die Periodisierung der wetsdeutschen Kirchengeschichte insgesamt vgl. Oelke, Kirchengeschichte. 68 Vgl. dazu die Einleitung zu diesem Band. 69 Althaus, Theologie. 70 Lohse, Theologie. 71 Schwarz, Luther.

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Reiner Anselm

„Luther und die Juden“ in der systematischen und ethischen Debatte nach 1945

1. Die Evidenz des Grauens: Der Holocaust und die Neuorientierung in der theologischen Ethik Mit dem Zusammenbruch des Jahres 1945 und der Machtübernahme der Alliierten war ein Leugnen und Verdrängen der den Juden angetanen Gräueltaten unmöglich geworden. Im Rahmen der „Reeducation“ erzwangen die Alliierten eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die das nationalsozialistische Deutschland den Juden gegenüber begangen hatte. Diese erzwungene Auseinandersetzung war zwar alles andere als nachhaltig, da sie letztlich selbst zu einer erneuten Verdrängung der antisemitischen Exzesse beitrug. Sie half nämlich, diese Verbrechen „nur“ den Nationalsozialisten zuzuschreiben und die Wurzeln für dieses Denken nicht in den tiefer liegenden Ressentiments zu suchen. Dennoch: Die Bilder des Holocausts vor Augen war es der evangelischen Theologie schlicht nicht mehr möglich, auf Luthers Judenschriften, insbesondere auf seine Schrift von 1543 in irgendeiner konstruktiven Weise zurückzugreifen. Es hätte nicht einmal mehr der viel zitierten, entschuldigenden Berufung von Julius Streicher auf Luther bedurft, mit dem dieser sich während der Nürnberger Prozesse zu verteidigen suchte: Gerade weil Luthers Judenschriften nach 1933 massenhaft verbreitet worden waren, konnte nach 1945 der Abbruch in der Rezeption nur schroff und abrupt ausfallen. Dieser aus der Evidenz der Ereignisse entstandene Abbruch bedeutet freilich keinesfalls, dass die entsprechenden Denkformen bereits nachhaltig revidiert worden wären, und zwar nicht nur in der Gesellschaft als Ganzer, sondern auch in Theologie und Kirche. Wenn sich – amerikanischen Umfragen zufolge – in den Jahren 1945–1948 zwischen 23 % und 19 % der Deutschen als antisemitisch bezeichneten und diese Zahl bis 1952 gar auf 34 % anstieg, so dürften durchaus auch Vertreter von Kirche und Theologie von diesen Zahlen mit erfasst worden sein.1 Dennoch: Eine Anknüpfung an Luthers Judenschriften findet sich – soweit ich sehe – in der dogmatischen und der sozialethischen Literatur nach 1945 nicht. Es ist die Evidenz des Grauens, die einen solchen Rückgriff verbietet, ganz abgesehen davon, dass zumindest 1 Vgl. Bergmann, Meinungsumfragen, 113.

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in den ersten Nachkriegsjahren ein solcher expliziter Rückgriff die eigene Weiterbeschäftigung an der Universität eklatant hätte gefährden können. Ein Übriges tat die bereits angesprochene Bewältigungsstrategie der Erlebnisse von Nationalsozialismus und Krieg, die in der Nachkriegszeit schnell dominant wurde: Die Verantwortung für diese Untaten wurde einer kleinen Gruppe von ideologischen Verbrechern zugewiesen, die eigene Beteiligung geleugnet oder doch zumindest kleingeredet. Eine explizite Auseinandersetzung mit Luthers Judenschriften hätte aber diese Distanzierung infrage stellen müssen. Die Gründe, warum eine Thematisierung und auch eine kritische Aufarbeitung von Luthers Judenschriften und ihrer Rezeption unterblieben, liegen somit auf der Hand. Verdrängung, Scham und Selbstschutz gingen hier Hand in Hand. Gerade letzterer dürfte dabei sich nicht nur auf die pragmatische Ebene der Entnazifizierung bezogen haben, sondern es gab diese Tendenz zum Selbstschutz auch in einer theoretischen, ja theologischen Variante: Eine kritische Auseinandersetzung mit Luther war – zumindest im landeskirchlichen Protestantismus – auch deswegen unmöglich, weil das Paradigma, mit dem diese sich die eigene Bedeutung für den gesellschaftlichen Wiederaufbau zurechtlegte und in dem man zumindest anfänglich auch gerade von den Amerikanern unterstützt wurde, lautete: Der Irrweg des Nationalsozialismus war gerade deswegen möglich, weil die Deutschen von Gott und von ihrem christlichen Glauben abgefallen waren. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem berühmtesten Protagonisten hätte diese Position der evangelischen Kirchen nachhaltig schwächen müssen. Die Evidenz des Grauens und das daraus abgeleitete „Nie-wieder!“, das zur beherrschenden Maxime des gesellschaftlichen und politischen Wiederaufbaus in der unmittelbaren Nachkriegszeit wird, sind es aber auch, die zu einem so zuvor nicht gekannten Umbauprozess der ethischen Theoriebildung im Protestantismus, besonders im Luthertum führen. Der Grundgedanke überkommener Ethik, nämlich die Einbindung des Einzelnen in die gesellschaftlichen Strukturen und damit auch die Reglementierung der im Glauben zugesprochenen Freiheit, tritt gegenüber dem Respekt vor der Würde und der Verantwortung des Einzelnen zurück. Die Konzepte von Menschenrechten und Menschenwürde werden, nachdem sie seit ihrem Aufkommen zumindest skeptisch beurteilt worden waren, nun zum selbstverständlichen Kernbestand evangelischer Ethik.2 Diesem Umbildungsprozess in der Theorie korrespondiert sicherlich zunächst keine umfassende Veränderung der Mentalitäten, alte Verhaltensweisen bleiben gerade im landeskirchlichen Protestantismus, aber auch über ihn hinaus bestehen. Aber dennoch ist den alten, primär an der Aufrechterhaltung von Ordnung und der Eindämmung des aus der Freiheit des Einzelnen resultierenden Chaos interessierten Argumentationsweisen die Basis entzogen. Der Dual zwischen dem menschengewirkten Chaos und der gottgewirkten Ordnung, die so bestimmend für die lutherische Ethik war, 2 Vgl. Huber, Gerechtigkeit, 514–518.

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weicht der Einsicht, dass auch die Ordnungen selbst menschengemachte Konstrukte sind, selbst diabolische oder doch zumindest problematische Gestalt annehmen können und vor allem leicht ideologisierbar sind. Ihre Legitimation muss sich daher aus ihrer Dienlichkeit für das individuelle Leben ergeben und – das gehört zu den am schärfsten diskutierten Punkten in der sozialethischen Debatte der jungen Bundesrepublik – diese Legitimation muss sich auf rechtsstaatliche Mechanismen, nicht auf überpositive Grundlagen stützen.3 Rückblickend wird man sagen müssen, dass diese unter dem Eindruck des moralischen und staatlichen Zusammenbruchs von 1945 entstandenen Veränderungen sich sehr schnell eine gesellschaftliche Realität schufen, auch wenn die 1950er-Jahre noch ganz im Zeichen der Restauration stehen. Die „Fundamentalliberalisierung“4, setzt eben schon Mitte der 1960er-Jahre ein und führt dazu, dass Polarisierungen, wie sie der Judenpolemik Luthers und allen seinen Nachfolgern zu eigen sind, zwar nicht verschwinden, wohl aber selbst in höchstem Maße rechtfertigungspflichtig werden. Diese Struktur bedeutet keine Verdrängung, auch kein Kleinreden fremden- und judenfeindlicher Tendenzen. Zu verzeichnen ist aber doch eine nach der Vorgeschichte durchaus bemerkenswerten Verschiebung von Evidenzen: Konnten sich nationalistische und antisemitische Sichtweisen zuvor mit der Aura der Normalität umgegeben und so argumentativ immunisieren, so ist es nun die Ablehnung entsprechender Argumentationen, die die Evidenz auf ihrer Seite hat. Gerade in der Sozialethik führt das zu einer merkwürdigen Situation: Die Fragen des Umgangs mit dem Fremden, Rassismus und Antisemitismus spielen zumindest in der deutschen Debatte so gut wie keine Rolle; in den einschlägigen Ethiken fehlen entsprechende Ausführungen und auch in der Zeitschriftenliteratur gibt es nur ganz vereinzelte Auseinandersetzungen – sieht man einmal von der umfangreichen Rezensionstätigkeit des Schwäbisch Haller Pfarrers Rudolf Pfisterer5 in der Zeitschrift für evangelische Ethik ab. Dennoch bilden die Grundkoordinaten, die aus der Erfahrung des Nationalsozialismus resultieren, die Folie, von der aus argumentiert wird und werden muss. Dass der Antisemitismus dabei abgelehnt wird und eine antisemitische Position auch dann kritisiert werden muss, wenn sie mit den eigenen Auffassungen zu einer ethischen Problematik übereinstimmt, zeigt ein Beispiel, das ebenfalls der ZEE entstammt: In der Diskussion um die Abschaffung der 3 Vgl. dazu insbesondere Wolfgang Hubers programmatischen Text: Huber, Freiheit, 113–127. 4 Habermas, Interview, 21–28, 26. 5 Rudolf Pfisterer (1914–2005) war nach der Entlassung aus französischer Kriegsgefangenschaft zunächst als Seelsorger für die übrigen deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich zuständig. Seit 1948 war er erst als Gemeindepfarrer, dann als Gefängnisseelsorger in Schwäbisch Hall tätig. Pfisterer hatte wegen der Angriffe der Nationalsozialisten auf das Alte Testament den Treueeid auf Hitler verweigert. Nach 1948 werden die Erforschung des christlichen Antisemitismus sowie die Versöhnung zwischen Juden und Christen sein Lebensthema.

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Strafbarkeit der Homosexualität macht sich 1962 Adolf Köberle die Position eines Befürworters des § 175 StGB nur deswegen nicht zu eigen, weil er in dessen Bibelbezug eindeutig antisemitische Grundlagen erkennt. Die entsprechende Passage, in der Köberle auf Hans Blühers Argumentation eingeht, lautet: „Die Juden ,leiden an einer Männerbundschwäche und zugleich an einer Familienhypertrophie, sie sind u¨ berwuchert von Familientum.‘ Blu¨ her hat sich dabei wohl nicht klargemacht, daß das schroffe Nein gegen die Homosexualität nicht nur der Erhaltung des Volkes, des Samens Abrahams, dienen soll. Das Verbot hat zweifellos auch messianische Motive“.6

Sicher, man kann dies auch als latenten Antisemitismus Köberles deuten, der Blüher sagen lässt, was er selbst nicht sagen möchte. Mir scheint es allerdings naheliegender, von einer Evidenz der Ablehnung auszugehen: Antisemitismus ist kein Thema, mit dem sich die Ethik erst auseinandersetzen müsste um zu einem Urteil zu gelangen. Es ist schlicht eindeutig, dass es sich dabei um ein falsches Verhalten handelt. Auch hier nochmals ein Beispiel, ebenfalls aus der ZEE: In seiner Rezension von Helmut Gollwitzers 1962 erschienener Aufsatzsammlung „Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik“ referiert der Rezensent, Friedrich Karrenberg, zwar, dass zu den fünf Themenschwerpunkten des Buches auch der Antisemitismus gehöre, den dort versammelten Beiträgen widmet er in seiner systematischen Zusammenstellung der Problembereiche und Gollwitzers Positionierung zu diesen Fragen jedoch keine Zeile. Die Auseinandersetzung um die Wirtschaftsform und das politische System des Sozialismus erscheint ihm wesentlich wichtiger und drängender, ebenso der Demokratie und der Friedensethik.7 Dass es sich hierbei nicht um Ignoranz oder Verdrängung handelt, sondern um eine Verschiebung der für vordringlich erachteten Fragestellung, wird plausibel, wenn man sich verdeutlicht, dass Karrenberg wenige Jahre zuvor, ebenfalls im Rahmen einer Rezension in der ZEE, die intensivere Auseinandersetzung mit den christlichen Wurzeln des Antisemitismus im 20. Jahrhundert gefordert hatte8. Offenbar jedoch standen nun andere, gegenwartsorientierte Aspekte im Vordergrund. Für die Auseinandersetzung mit Luther gilt Analoges. Zwar gibt es, ausgehend von der bereits 1934 von Edmond Vermeil formulierten9 und dann vielfältig rezipierten genealogischen Trias Luther-Bismarck-Hitler, nach 1945 in der Nachfolge der einschlägigen Hinweise Karl Barths10 eine intensive Debatte um die Mitschuld des lutherischen Denkens an Deutschlands Weg in 6 7 8 9 10

Kçberle, Deutung, 141–149, 146. Vgl. Karrenberg, Gollwitzer, 112–118. Vgl. Karrenberg, Sterling, 185 f. Vermeil, L’Allemagne. Barth, Stimme.

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die Diktatur und in die Barbarei.11 Allerdings stehen hier nicht die Judenpolemiken, sondern die sog. Zwei-Reiche-Lehre im Mittelpunkt, die es Theologen wie Emanuel Hirsch, Wilhelm Stapel oder auch Friedrich Gogarten ermöglicht hatte, auch das Staatsgesetz mit dem Willen Gottes zu identifizieren und damit den nationalsozialistischen Führerstaat mit theologischer Legitimation auszustatten. Im Medium der Aufarbeitung des kirchlichen Versagens gegenüber dem Nationalsozialismus und im Medium einer Debatte um die rechte Interpretation Luthers wird dabei vorrangig eine Auseinandersetzung um die Rolle der Kirche in der Gegenwart geführt: Ist es richtig, sich den sittlichen Neuaufbau von einer intensiveren Bindung an die lutherischen Traditionen zu erwarten? Oder trägt dieses Denken immer schon den Keim des Übels in sich, indem es dazu neigt, die weltlichen Ordnungen sich selbst zu überlassen? Da zudem die drei lutherischen Kirchen Bayern, Hannover und Württemberg das Rückgrat der jungen EKD und damit des landeskirchlichen Protestantismus bildeten, stellt die Kontroverse um das Erbe Luthers immer auch eine Frage um die Legitimität der EKD dar. Auffallend ist dabei, dass die Auseinandersetzung mit Luther schon in dieser Zeit nur vordergründig Züge einer historischen Herangehensweise trägt. Faktisch wird jedoch unter Rückgriff auf Luthers Denken Gegenwartsdeutung betrieben. Die historische Distanz zwischen Luther und der eigenen Gegenwart wird dabei ebenso souverän übergangen wie eine distanzierend-historisierende Auseinandersetzung mit Luther unterbleibt.

2. Unerwartete Parallelen: Der Motivtransfer zwischen Luthers Judenschriften und der Auseinandersetzung um das Versagen der Kirche während des Nationalsozialismus Diese Gegenwartsdeutung ist dabei immer auch getrieben von der Frage nach der Schuld des Protestantismus am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Hier ist es besonders Martin Niemöller, der immer wieder an die Schuld auch der Kirche erinnern und gewissermaßen das Stuttgarter Schuldbekenntnis zum Identitätsmerkmal des Nachkriegsprotestantismus machen möchte. So problematisch Niemöller hier als Figur wirkte, so richtig war es zweifelsohne, daran zu erinnern, dass der Nationalsozialismus nicht wie ein Unglück über den deutschen Protestantismus gekommen war, sondern dass dieser – wenn auch wohl in der Regel ohne es wirklich zu wollen – durchaus dazu beigetragen hatte, dem Nationalsozialismus den Boden zu bereiten und ihm den Weg in die Gesellschaft zu ermöglichen. Schwierig an dieser Argumentationsfigur war allerdings, dass bei genauem Hinsehen sich in der 11 Vgl. dazu und zur weitverzweigten Debatte Siemon-Netto, Luther.

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Schuldformulierung nun selbst etwas wiederfand, was zum argumentativen Kern in Luthers Judenschriften gehörte. Die Schuld, die die Protestanten auf sich geladen hatten und die sie – ohne einen tief greifenden Bewusstseinswandel – erneut auf sich zu laden im Begriff seien, resultiere daraus, dass sie dem Wort Gottes nicht gefolgt, sondern sich von ihm abgewendet hätten. Die Strukturen einer Behördenkirche, die Binnenlogik der eigenen Strukturen und die Anpassung an den Geist der Zeit sei ihnen wichtiger gewesen als die Nachfolge und das Hören auf das Wort Gottes. So sehr diese Analyse, die Karl Barth bereits 1945 formuliert hatte12, einen wahren Kern in sich trägt, so sehr zeigen sich die Probleme einer solchen Transformation des politischen Versagens in theologische Sprachmuster, wenn man die Judenschriften Luthers daneben hält: Auch hier besteht ja die Schuld darin, das Wort Gottes nicht anzunehmen. Zunächst liegt diese Schuld noch in den Irrlehren der Papisten, die nicht nur für die Christen, sondern auch für die Juden das Evangelium verdunkeln und dessen Annahme verweigern. Dann aber, mit der Etablierung der reformatorischen Lehre und der Zurückweisung der gesetzlichen Missdeutung der Botschaft Christi, kann die bleibende Distanz der Juden nur durch die Prädestination erklärt werden. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der Behauptung, der Glaube der Juden bedeutet eine latente Gefahr für die reformatorische Gemeinde, wieder in den alten Glauben zu verfallen oder die Zeichen der Zeit nicht zu hören. Diese Sorge, die Zeichen der Zeit nicht zu hören, erneut in eine Verstockung gegenüber dem Evangelium zu verfallen und sich der notwendigen, tief greifenden Umkehr zu verschließen, ist es auch, die in der Debatte um die Schuldfrage und ein mögliches Schuldbekenntnis im deutschen Protestantismus vorherrscht. So klingt in dem Vorwurf an die eigenen Glaubensgenossen der von Luther den Juden gemachte Vorwurf nach: Die Schuld besteht darin, nicht dem Wort Gottes zu folgen. Wer das nicht erkennt und als eigene Schuld bekennt, wer sich nicht an das Wort Christi hält, der bereitet den Weg für ein neues Erwachen der Dämonie – so wie schon Luther im Verhalten der Juden ein Werk des Teufels sehen konnte. Gerade die Rede von der Dämonie ist ja in der Nachkriegszeit enorm populär, die Exzesse des Nationalsozialismus werden als Durchbruch des Dämonischen gedeutet, und in der Kundgebung der Kirchenkonferenz der EKD zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben formulierte Gerhard Ritter, nur dort, „wo Grundsätze christlicher Lebensordnung sich im öffentlichen Leben auswirken“, bliebe „die politische Gemeinschaft vor der Gefahr dämonischer Entartung gewahrt“13. 12 Barth, Kirche. 13 Kundgebung der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben. Treysa – August 1945, zit. nach: Merzyn, Kundgebungen, 3. Zur Autorschaft und auch zum Status dieser Kundgebung vgl. insbes. Mehlhausen, Konvention, 468–483, bes. 478 f.

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Unglaube und Dämonie werden hier in einem Atemzug genannt und damit bewusst oder unbewusst der Zusammenhang weitergeführt, den bereits Luther hergestellt hatte. Dass eine solche Interpretation nicht nur hypothetisch ist, belegt eine Passage aus einem Vortrag zum Reformationsfest des Kieler Oberkonsistorialrats und späteren Holsteiner Landesbischofs Wilhelm Halfmann, der bereits 1935 im Auftrag des Landesbruderrats der BK eine Schrift zur Judenfrage veröffentlicht hatte: Halfmann suchte die Gründe für die Kriegsniederlage im Abfall von Gott und lieferte damit eine eigentümliche Parallele zum kurz vorher veröffentlichten Stuttgarter Schuldbekenntnis. Seiner Meinung nach war die Abwendung von Gott verantwortlich für die Niederlage und die Katastrophe von 1945. Denn „auf die Machtmittel gesehen hätte Deutschland den Krieg gewinnen können, aber wir hatten Gott verlassen. Ohne Gnade haben wir im Hochmut um das Reich gestritten. Nun sollen wir neu aufbauen. Dazu müssen wir unsere Schuld erkennen und anerkennen und Buße tun. Wir Christen haben Angst gehabt, das ist unsere Schuld. Nur in der Buße beweisen wir uns als die Kirche Luthers. Sonst werden wir in der Verstockung sein wie die Juden.“14

Halfmann hielt sich damit an die Linie seiner an Luther angelehnten Schrift „Die Kirche und der Jude“15, in der er sich zwar von jedem rassischen Antisemitismus ebenso wie von staatlicher Gewaltanwendung gegenüber den Juden distanzierte, dennoch aber darauf beharrte, dass es sich aus religiösen Gründen bei den Juden um Feinde des Christentums handele. An dieser Auffassung hielt er auch noch 1960 fest, auch wenn er konzedierte, dass die Argumentation, die er in seiner Judenschrift angeführt hatte, unter den gegenwärtigen Bedingungen nach der Kenntnis des systematischen Massenmordes an den Juden unmöglich sei. Allerdings – und das ist für die Problematik, die sich hier stellt, symptomatisch – hielt Halfmann nach wie vor an einem theologisch begründeten Antijudaismus fest. In einem Schreiben an den Hamburger Landesbischofs Karl Witte vom 5. 3. 1960 formuliert er : „Trotzdem kann ich heute noch nicht anders, als den theologischen Ansatz für richtig zu halten. Aber auch über die Judenfrage zu diskutieren so, daß auch das theologische Nein zum Judaismus, nicht nur zum ,Antisemitismus‘ durchgehalten wird, ist fast unmöglich. Ich kann die christlich-jüdische Verbrüderung auf humanitärer Basis, unter Eliminierung der Theologie, nicht mitmachen.“16

Das Beispiel von Wilhelm Halfmann ist aus zwei Gründen besonders aufschlussreich: Zum einen bestätigt es die Evidenz der Distanzierungsnotwen14 Vortrag zum Reformationstag 1945, (EZA Berlin EKD 1/132), 8. Zit. nach: Rudolph, Kirche, 293. 15 Halfmann, Kirche. 16 Halfmann, Schreiben an Landesbischof Dr. Karl Witte vom 5. 3. 1960, zit. nach: Zankel, Verbrüderung, 123–138, 129 f.

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digkeit, die bereits oben festgestellt wurde. Jede Anknüpfung an Luthers Judenpolemik ist, auch wenn sie moderater erfolgt als beim Reformator selbst, nach den Ereignissen des Holocaust nicht mehr möglich. Darüber hinaus aber zeigt das Beispiel auch die Schwierigkeiten, die ganz grundsätzlich mit der Vermischung von theologischen und politischen Argumentationsfiguren einhergehen. Für Halfmann ist es vollkommen eindeutig, dass einer theologischen Sichtweise der Primat zukommt gegenüber „humanitären“ Gesichtspunkten – sachgerechter wäre es wahrscheinlich, hier von einer menschenrechtsbasierten Argumentation zu sprechen. Die Einsicht, die sich in den religiös imprägnierten Konflikten der Gegenwart langsam durchzusetzen beginnt, dass nämlich religiöse Argumente immer nur in den Grenzen der allgemeinen Menschenrechte Kraft entfalten dürfen, wenn sie nicht selbst zur Quelle von Gewalt werden sollen, steht Halfmann offenkundig noch nicht zur Verfügung.17 In gewisser Weise bildet sich hier noch einmal das Problem ab, das für die politische Ethik des Protestantismus ganz grundsätzlich charakteristisch war, nämlich die Tendenz zur theologischen Deutung politischer Konstellationen. Es ist eben gerade nicht das Denken in zwei Teilbereichen, das Operieren mit einer scharfen Unterscheidung zwischen Weltlichem und Göttlichem, das im Feld des Politischen solche Schwierigkeiten hervorruft, im Gegenteil: Gerade das Unterlaufen dieser Unterscheidung durch den Versuch, politische Fragen theologisch entscheiden zu wollen, führt zu höchst problematischen Konsequenzen.18 Diese Konsequenzen zeigen sich im Übrigen keinesfalls nur auf der Seite derer, die zumindest theologisch einen Antijudaismus vertreten. Sie zeigen sich auch bei denen, die, wie Kurt Scharf oder dem Heidelberger Kreisdekan Hermann Maas, ihrerseits die Rückkehr der Juden nach Palästina nicht zumindest auch als Besetzung eines bewohnten Landes auffassen, sondern als „Vorerfüllung messianischer Verheißungen“19. Maas hält in einem Reisebericht von 1950 fest: Die Rückkehr der Juden nach Palästina nimmt etwas viel Größerem voraus, „was aber nur mit den Worten ,Erlösung‘ und ,Erfüllung‘ zu fassen ist, hinter denen groß und lebendig der Messias steht“.20 Grundsätzlich bewirkt ein solcher Zugriff eine Spiritualisierung der politischen Handlungen, die Immunisierung gegenüber den konkreten Handlungsoptionen und politischen Schwierigkeiten: Wer die Schuld gegenüber den Juden nur im Horizont eines generellen Abfalls vom Glauben sieht, bekommt die konkreten Verbrechen nicht richtig in den Blick und neigt zur Verniedlichung. Ebenso kann, wer die zionistische Bewegung und die Gründung des Staates Israels nur in einer heilsgeschichtlichen Per-

17 Für einen solchen Zugang zur Problematik des Staates Israels und dem Konflikt um das Heilige Land s. Slenzcka, Wege, 243–258. 18 Vgl. dazu ausführlich Anselm, Ethik, 195–263. 19 Gronauer, Konflikt, 163–192, 175. 20 Maas, Skizzen, 22.

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spektive wahrnimmt, die damit verbundenen Vertreibungen und Gewaltanwendungen nicht richtig realisieren und als ungerechtfertigt klassifizieren.21

3. Bleibende Probleme: Das Verhältnis von Christentum und Judentum in der dogmatischen Theoriebildung nach 1945 Von diesen Überlegungen aus möchte ich nun abschließend einen Blick auf die dogmatische Lehrbildung nach 1945 und ihre Rezeption von Luthers „Judenschriften“ werfen. Grundsätzlich gilt hierbei dasselbe wie für die sozialethische Literatur : Jede Anknüpfung an die Judenpolemik, an die Aufforderungen zur Gewaltanwendung gegenüber den Juden ist nach dem Holocaust nicht mehr möglich und unterbleibt. Dabei ist es durchaus notierenswert, dass eine entsprechende Auseinandersetzung mit Luthers Judenschriften auch dort unterbleibt, wo, wie etwa bei Gerhard Ebeling, der Versuch unternommen wird, Luthers Theologie für das moderne Denken neu zu entfalten. So setzt sich Ebeling in einem kleinen Beitrag von 1961 mit Martin Bubers 1950 erschienener Schrift „Zwei Glaubensweisen“ auseinander, in dem Buber die Verschiedenheit des Glaubens als bleibende Differenz zwischen Juden und Christen identifiziert. Buber betont, dass Jesus ein „großer Platz in der Glaubensgeschichte Israels zukommt“22. Allerdings markiert er auch eine konstitutive Differenz zwischen dem Glauben Jesu – und damit dem Glauben Israels auf der einen und dem Christusglauben, dem Glauben der Kirche auf der anderen Seite. Ebeling nun weist ausdrücklich darauf hin, dass der Holocaust – von ihm etwas euphemistisch „Verstummen von Millionen Juden“23 genannt – das Gespräch mit den Juden unmöglich gemacht habe, nimmt aber auf Luthers Judenpolemik keinen Bezug. Stattdessen sucht er zu entfalten, dass gerade in Christus und damit in der Glaubensweise der Kirche sich die Abrahamsverheißung erfüllt habe: „Daß nun der Glaube zu den Heiden kommt, deformiert ihn nicht, im Gegenteil: läßt ihn vollkommen werden, das heißt, läßt ihn als das zur Erfüllung kommen, als was er verheißen war“24. Ein solches Substitutionsverhältnis findet sich, mutatis mutandis, auch bei Paul Althaus: An Israel ergeht seiner Meinung nach eine besondere Form der Uroffenbarung. „Dieses besondere Gottesverhältnis, das in der Gabe des Gesetzes besteht, führt dazu, dass in Israel so gesündigt wird, wie kein im Heidentum gefangenes Volk sündigen kann, aber die Sünde wird auch so erkannt, wie nirgends sonst in der Menschheit, in ihrem personalen Ernste als Untreue 21 22 23 24

Darauf verweist eindrucksvoll Shavit, Land. Buber, Glaubensweisen, 14. Ebeling, Glaubensweisen?, 236–245, 236 f. Ebd., 244.

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und Verrat an Gott“25. Diese Sünde, so argumentiert Althaus weiter, „wurde nicht wirklich überwunden, völlige Vergebung wurde nicht erfahren, sondern blieb in Frage“.26 Dadurch weist es auf das Evangelium voraus, darum musste Jesus aus Israel kommen. Auch bei Althaus also findet sich eine Substitutionstheorie, auch bei ihm gibt es aber keinen Bezug auf Luthers Argumentation. Wie bereits in der sozialethischen Debatte werden die Fragen des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum eigentümlich entgegenständlicht und mit nur sehr geringem Bezug auf die praktischen Konsequenzen und die Erfahrungen im Umgang miteinander dargelegt. Gleichzeitig bleibt das theologische Problem ungelöst, das – sieht man von allen Vorurteilen und Polemiken einmal ab – systematisch den Hintergrund von Luthers Judenschrift von 1543 steht: Wenn man die Selbstwirksamkeit der Heiligen Schrift als das Wort Gottes annimmt, wie kann es dann sein, dass die Juden auch dann, wenn ihnen der rechte Sinn des Evangeliums dargelegt wird, sich nicht dem Evangelium zuwenden? Diese Frage hat nicht nur im Blick auf die Juden, sondern vor allem im Gegenüber zu den Heiden, die zwar von Christus hören, aber nicht an ihn glauben, die christliche Theologie immer wieder beschäftigt und ihre wirkmächtige Auslegung in Augustins Überlegungen zur Prädestination gefunden: Gott hat immer schon eine Entscheidung getroffen, wen er zum Heil bringen möchte. Er trifft aber eine Vorherbestimmung nur zur Gnade, nicht zur Verdammnis, da er sonst ja auch als Urheber des Bösen angesehen werden müsste. Die Verdammnis ergibt sich vielmehr aus dem sündigen Wesen des Menschen, sodass alle, die nicht zum Heil kommen, in dieser Verdammnis bleiben müssen. Der Gegensatz zwischen den beiden civitates, zwischen denen, die in himmlischer Herrlichkeit und denen, die in der Hölle leben, ist die Folge. Die systematischen und auch die seelsorgerlichen Schwierigkeiten, die aus dieser Vorstellung resultieren, sind in der Christentumsgeschichte stets registriert worden und führten zu einer kontroversen Diskussion um diese Lehre. Im Interesse der Sicherheit von Gottes Gnadenwahl rezipierten die Reformatoren Augustins schroffe Fassung der Prädestinationslehre. Parallel zu seiner dualistischen Fassung der Soteriologie, der zufolge Gott sich als Gesetz und Evangelium, in der Liebe und im Zorn offenbart, konnte Luther und die an ihn anschließenden Theologen lehren, dass sowohl Heil als auch die Verwerfung auf den Willen Gottes zurückzuführen seien. Gottes Wille kann verstocken und sich erbarmen27, wie es Luther in De servo arbitrio formulieren kann. Mit dieser Zuspitzung handelten sich Luther und die an ihn anknüpfenden Theologen allerdings eine doppelte Problematik ein: Zum einen wird so einem ethischen und religiösen Indifferentismus Vorschub geleistet, da die 25 Althaus, Wahrheit, 100. 26 Ebd., 101. 27 Vgl. Luther, De servo arbitrio, WA 18, 707.

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Heilszueignung im strengen Sinne unabhängig sein muss von dem Vermögen des Menschen. Zum anderen aber wird damit auch das Unheil auf Gott zurückgeführt, eine Problematik, die gerade in der Neuzeit immer wieder zu kontroversen Diskussionen führte. Die besonderen Schwierigkeiten ergaben sich aber vor allem deshalb, weil schon Luther die von ihm selbst noch proklamierte Enthaltsamkeit über die Gründe von Gottes Handeln nicht durchhalten konnte. Obwohl Luther in De servo arbitrio betonte, dass Gottes Wille „völlig unerforschlich und unerkennbar“ sei28, führte er dennoch zahlreiche Kriterien dafür an, die dessen Entscheidungen offenkundig beeinflussen – die falsche Lehre der Papisten und, vor allem, das Verhalten der Juden sind hier zu nennen. Ganz offenkundig konnte auch Luther der Versuchung nicht widerstehen, dem Willen Gottes mitunter nachzuhelfen und es eben nicht seiner Vorhersehung zu überlassen, wem das ewige Heil zukommt und wem nicht. Überblickt man die sich an die älteren, vorrangig substitutionstheoretisch angelegten Positionen anschließende Debatte, so zeigt sich, dass unter dem Eindruck einer stärkeren Begegnung mit dem Judentum und dem Staat Israel in der Theologie Positionen vorherrschen, die, wie es etwa Karl Barth vorgezeichnet hatte, von einer eigenständigen und bleibenden Erwählung Israels sprechen. Notierenswert ist hier insbesondere Wolfhart Pannenberg, der in seiner Systematischen Theologie explizit seine früher vertretene Substitutionstheorie widerruft29. Die grundsätzlichen Herausforderungen bleiben aber auch hier bestehen: Entweder man betreibt unter der Hand eine inklusivistische Theoriebildung, bei der die Erwählung Israels in die christliche Heilsgeschichte eingeordnet wird, oder aber man relativiert das Christuszeugnis und macht dadurch die eigene Position als christlich-theologische unglaubwürdig. Gleichwohl ist es vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte für eine deutsche evangelische Theologie schlichtweg alternativlos, sich gegen jede Form der Diskriminierung von Juden einzusetzen. Diese Einsicht ist aber der historischen Erfahrung und der daraus – glücklicherweise – entstandenen Evidenz der Geltung und des Primats der Menschenrechte vor jeder Theologie zu verdanken. Die Lehre, die man aus der Rezeption von Luthers Judenschriften wie überhaupt aus dem Verhältnis von Theologie und Politik ziehen sollte, scheint mir darum vorrangig zu sein, die Fragen des Zusammenlebens nicht als theologische, sondern als praktische, durch das Recht zu regelnde Fragen zu betrachten. Dies selbst, die darin eingeschlossene Säkularisierung der Politischen und die Geltung der Menschenrechte, ist aber zugleich ein eminent theologisches Motiv.30

28 Ebd., 685 f. 29 Pannenberg, Theologie, Bd. 2, 384. 30 Vgl. Brosseder, Luther, 109–135, 135.

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Abkürzungsverzeichnis AKiZ BK EDIS EKD ÖR WA ZEE

= Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte = Bekennende Kirche = Edition Israelogie = Evangelische Kirche in Deutschland = Ökumenische Rundschau = M. Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe = Zeitschrift für evangelische Ethik

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Archivalische Quellen Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA) Bestand 2: Kirchenamt der EKD, Nr. 132. Schreiben an den Landesbischof Dr. Karl Witte vom 5. 3. 1960

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Althaus, Paul: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik. Gütersloh 41958. Anselm, Reiner : Politische Ethik. In: Huber, Wolfgang / Meireis, Torsten / Reuter, Hans-Richard (Hg.): Handbuch der Evangelischen Ethik. München 2015, 195–263. Barth, Karl: Eine Schweizer Stimme 1938–1945. Zollikon ZH 1945. Barth, Karl: Die evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Stuttgart 1946. Bergmann, Werner : Sind die Deutschen antisemitisch? Meinungsumfragen von 1946–1987 in der Bundesrepublik Deutschland. In: Bergmann, Werner/Erb, Rainer (Hg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945. Wiesbaden 1990, 108–130. Brosseder, Johannes: Luther und der Leidensweg der Juden. In: Kremers, Heinz u. a. (Hg.): Die Juden und Martin Luther. Martin Luther und die Juden. Geschichte – Wirkungsgeschichte – Herausforderung. Neukirchen-Vluyn 1987, 109–135. Buber, Martin: Zwei Glaubensweisen. Gütersloh 1950. Ebeling, Gerhard: Zwei Glaubensweisen?. In: Ders.: Wort und Glaube. Bd. 3: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie. Tübingen 1975, 236–245. Habermas, Jürgen: Interview mit Angelo Bolaffi. In: Ders.: Die nachholende Revolution. Frankfurt am Main 1990, 21–28.

„Luther und die Juden“ in der systematischen und ethischen Debatte

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Gronauer, Gerhard: Der Konflikt um den Staat Israel in der protestantischen Wahrnehmung Westdeutschlands zwischen 1948 und 1967. In: Schwarz, Berthold (Hg.): Wem gehört das Heilige Land? Christlich-theologische Überlegungen zur biblischen Landverheißung an Israel (EDIS 6). Frankfurt am Main u. a. 2014, 163–192. Halfmann, Wilhelm: Schreiben an Landesbischofs Dr. Karl Witte vom 5. 3. 1960. Abgedr. in: Zankel, Sönke: „Ich kann die christlich-jüdische Verbrüderung unter Eliminierung der Theologie nicht mitmachen.“ Bischof Halfmann und der christliche Antijudaismus in den Jahren 1958–1960. In: Demokratische Geschichte. Jahrbuch für Schleswig-Holstein 21 (2010), 123–138, 129 f. Halfmann, Wilhelm: Vortrag zum Reformationstag 1945 (EZA Berlin EKD 1/132). In: Rudolph, Hartmut: Evangelische Kirche und Vertriebene 1945–1972, Bd. 1: Kirchen ohne Land. Die Aufnahme von Pfarrern und Gemeindegliedern aus dem Osten im westlichen Nachkriegsdeutschland: Nothilfe – Seelsorge – kirchliche Eingliederung (AKiZ Reihe B, 11). Göttingen 1985, 293. Halfmann, Wilhelm: Die Kirche und der Jude. Breklum 1936. Huber, Wolfgang: Freiheit und Institution. Sozialethik als Ethik kommunikativer Freiheit. In: Ders.: Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung. Neukirchen-Vluyn 1983, 113–127. Wiederabgedruckt in: Ders.: Von der Freiheit. München 2012, 57–73. Huber, Wolfgang: Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik. Gütersloh 32006. Karrenberg, Friedrich: Rez. Eleonore Sterling: Er ist wie du, Fru¨ hgeschichte des Antisemitismus. München 1956. In: ZEE 2 (1958), 185 f. Karrenberg, Friedrich: Rez. Helmut Gollwitzer : Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik. München 1962. In: ZEE 9 (1965), 112–118. Kçberle, Adolf: Deutung und Bewertung der Homosexualität im Gespräch der Gegenwart. In: ZEE 6 (1962), 141–149. Luther, Martin: De servo arbitrio (1525), WA 18, 551–787. Maas, Hermann: Skizzen von einer Fahrt nach Israel. Karlsruhe 1950. Mehlhausen, Joachim: Die Konvention von Treysa. Ein Rückblick nach vierzig Jahren. In: ÖR 34 (1985), 468–483. Merzyn, Friedrich (Hg.): Kundgebungen. Worte und Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945–1959. Hannover o. J. Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie. Bd. 2. Göttingen 1991. Shavit, Ari: My Promised Land. The Triumph and Tragedy of Israel. New York 2013. Siemon-Netto, Uwe: Luther als Wegbereiter Hitlers? Zur Geschichte eines Vorurteils. Gütersloh 1993. Slenzcka, Notger : Wege, Holzwege und Abwege im Umgang mit den Landverheißungen. In: Schwarz, Berthold (Hg.): Wem gehört das Heilige Land? Christlichtheologische Überlegungen zur biblischen Landverheißung an Israel (EDIS 6). Frankfurt am Main u. a. 2014, 243–258. Vermeil, Edmond: L’Allemagne du CongrÀs de Vienne — la R¦volution hitl¦rienne (1815–1933). Êditions de Cluny. Paris 1934.

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1. Introduction Martin Luther has historically played only a modest role in the religious life of all English speaking lands. Until the 1950s, Lutheranism in North America was mainly the faith of German and Scandinavian immigrants and their descendants. Since most non-Lutheran church historians and theologians have been content to leave Luther scholarship to the Lutherans, this meant that the potential pool of Luther scholars has been very small. American Luther scholars mainly teach at seminaries, whose primary mission is to prepare pastors for the ministry rather than scholars for the Academy.1 It is no wonder that George Forell reported to the first Luther Research Congress in 1956 “the interest in Luther and his thought as an object of historical study in the United States is not very old.”2 Luther played an even more modest role historically within the United Kingdom’s religious scene. When Richard Gutteridge arrived in Tübingen to study theology in 1933, his tutor asked him whether English students read Luther in German or English translation. Gutteridge shocked him by replying that “they read hardly a word of Luther” in either language. Gordon Rupp reported, “The story of Luther in English dress is of a few intermittent bursts of translation. The rest is silence.”3 Since the Lutheran church has never been a national church anywhere in the English-speaking world, Luther’s Judenschriften have had little practical relevance to Lutherans, except as a public relations problem or within the context of the Jewish-Christian dialogue. I have found 131 publications by Anglo-American scholars related to the problem of Luther and the Jews, appearing in print between 1917 and the present.4 Of these works, 53 appeared before 1982, and 78 between 1983 and 2013. Apparently, nothing at all on the topic was published before 1917.5 I will concentrate, for the most part on scholarship rather than the enormous 1 2 3 4

See Lindburg, Lutherforschung, 376–391, here 378. Forell, Lutherforschung, 137. Chandler, Introduction, 8. Roynesdal, Luther was my major source, together with the annual Luther Bibliographie in LuJ from 1931–2013. 5 Lehmann, Luther, 292–293 claims that Luther’s anti-Jewish writings played no significant role in American views of Luther until the Nazis began quoting them in their own propaganda.

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number of popularizing works. I have divided my presentation into two parts: works written before the 1983 Luther year, and those written during and since 1983.

2. Someone else’s problem (1917–1982) Until 1983, scholars in the English-speaking world seldom felt the need to discuss the problem of Luther and the Jews.6 Of Luther’s 1543 Judenschriften, only On the Last Words of David was available in English translation before 1971.7 The Lutherans’ main concern before 1983 was to demonstrate that Luther’s attacks on the Jews were not racist, but religious in character to avoid being branded as anti-Semites. The earliest reference that I found to the problem of Luther and the Jews was in Johann Michael Reu’s Thirty Five Years of Luther Research (1917), which reported on Luther scholarship that appeared between the Luther commemorations of 1883 and 1917. Reu mentioned only the works of Georg Buchwald (1881) and Reinhold Lewin (1911), but at least he reported that Luther and the Jews was a scholarly problem.8 In a lecture on “Luther and the Jews” that he delivered in 1942, a year before his death, Reu also cited the works of Wilhelm Walther (1921), Walter Holsten (1932), and Erich Vogelsang (1933).9 He took pains to demonstrate that Luther’s Judenschriften reflected not a racial hatred of Jews, but antagonism toward Judaism as a religion. He believed that Luther’s view of the Jews remained fairly constant throughout his life, though its “practical expression” changed over time.10 Reu was a German, educated in Neuendettelsau, who immigrated to America and then taught at Wartburg Theological Seminary in Dubuque, Iowa from 1899 until his death in 1943. Bibliographic reports of Luther scholarship in the English speaking lands between 1921 and 1967 mention only two scholarly works.11 Roland Bainton (1945–51) listed the first, a published Master of Arts thesis by Ralph Moellering. George Forell’s account of “Lutherforschung in den USA” (1956) 6 Brosseder, Stellung, mentions only seven Anglo-American authors, including those who devote no more than a few paragraphs to the topic. They include Rupp and Wiener (209–212), Holmio (263–266), Siirala (281–285), Cecil Roth (297–298), Bainton (311–312), and Milton (327–328). The latter three are unimportant enough (also in Brosseder’s opinion) that they will not be considered in this essay. 7 See Luther, Works, Bd. 2, 177–335; Rupp characterized this collection of Luther translations as “the kind of Luther who appealed to English Evangelicals.” Chandler, Introduction, 199–229. 8 See Reu, Research, 108–109. 9 See Walther, Luther ; Holsten, Christentum; and Vogelsang, Kampf. Reu also cited Graetz, Geschichte; Reu, Luther, 588–610, here 588, 590, 594. 10 Reu, Luther, 590–591, 609–610. Reu characterized the idea that Luther’s attitude changed twice (Lewin) as “superficial and untenable” (609). 11 See Smith, Decade, 107–135; Pauck, Historiography, 305–340; Dillenberger, Literature, 160–177; Ebd, Volumes, 61–87; and Spitz, Accents, 549–573.

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reported the other publication: Amras Holmio’s The Lutheran Reformation and the Jews. (1949).12 In Gordon Rupp’s report, “Lutherforschung in England”, he mentioned only Peter Wiener’s scurrilous Martin Luther: Hitler’s Spiritual Ancestor (1945), together with his own published rejoinder to it.13 Before 1983, any Luther scholar in the English speaking world who was seriously interested in Luther and the Jews would have been better off following Reu’s example and ignoring Anglo-American scholarship altogether! The two pieces of “Luther scholarship” we can address quickly because they deserve nothing more. Amras Holmio’s The Lutheran Reformation and the Jews; the birth of Protestant Jewish Missions (1949) sought to explain Luther’s change of heart toward the Jews, culminating in the Judenschriften, while at the same time maintaining that the 1543 works were written “with a missionary purpose”. The only textual evidence that Holmio introduced for his novel position involved incorrect interpretations of terms such as “Sendbrief”.14 Holmio asserted, though he did not argue the point very clearly, that Luther felt that if he won the argument with the Jews over the meaning of the various proof texts he interpreted in On the Jews and their Lies — Genesis 49, Daniel 7 etc., that he had discharged his responsibility to “missionize” as well.15 Ralph Moellering’s article “Luther’s Attitude toward the Jews” (part 3, 1949) provides an exposition of Luther’s arguments/charges presented in On the Jews and their Lies (pages 195–207). Like Holmio, Moellering stressed that Luther’s anti-Judaism was not a form of racism, but reflected Luther’s sharp religious differences with Judaism, and the political situation of the time.16 The apologetic note that both Moellering and Holmio struck was reflected in two public exchanges between those who considered Luther to be an antiSemite and Luther’s defenders. The best known of these took exchanges in Britain during 1945 between Peter Wiener, an ¦migr¦ German teacher of Jewish descent, and Gordon Rupp. Wiener’s short book Martin Luther: Hitler’s Spiritual Ancestor (83 pages) was written as an expose of Luther’s bad character and fascist political ideas, concluding with a chapter entitled “From Luther to Hitler”. Wiener’s chapter titled “Jew Baiter No. 1” began with his report of a sermon on “Luther and the Jews” given by a ¦migr¦ Lutheran pastor to the students of the public school where Wiener taught. To Wiener’s fury the speaker gave a portrayal straight out of Jesus Christ was Born a Jew (although Wiener apparently did not realize this), without referring to the 1543 12 13 14 15

Forell, Lutherforschung, 144–145. He listed 114 American publications on Luther in all. Rupp, Lutherforschung, 146–150, here 146. See Brosseder, Stellung, 265 f. Holmio, Reformation, 130, 159. On Luther’s “missionary arguments”, see 132–136. Ölberg, Luther made a more nuanced argument along the lines of Holmio in his book. Friedrich, Abwehr, 51 f discussed this attitude toward Jewish mission. 16 See Moellering, Attitude, 218. Cf. Holmio, Reformation, 121.

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Judenschriften at all.17 The remainder of Wiener’s discussion consisted of quotations from the most lurid of Luther’s charges against the Jews.18 Wiener’s book is remembered today, if at all, because Gordon Rupp, an English Methodist, ripped it to shreds in his Martin Luther: Hitler’s Cause or Cure? In Reply to Peter F. Wiener (1945). Rupp found many historical flaws in Wiener’s presentation. Rupp’s witty prose and elegantly phrased criticisms only made matters worse for Wiener. For example, this is how Rupp reported the sermon on Luther and the Jews: Mr. Wiener begins with a pathetic tale of how at a “very large public school” he had to listen to a Lutheran pastor telling his audience that Luther was the “first to turn against anti-Semitism”. It made Mr. Wiener feel “almost sick” to hear such a onesided presentation of the facts. We do indeed deeply sympathize with Mr. Wiener’s sensitive stomach (His own book has a similar emetic [vomit inducing] quality) (74).

Rupp too was at pains to stress that “Luther’s antagonism to the Jews was poles apart from the Nazi doctrine of ‘Race’” (75).19 Several years later, this time in the United States, another propagandistic episode involving Judenschriften took place. In early 1948, a right-wing political group called the Christian Nationalist Crusade announced that it would publish a book called The Jews and their Lies by Martin Luther in May of that year.20 Lutheran theologians lined up to denounce this publishing venture. Theodore Tappert, Theodore Graebner and Ernest Schwieber all wrote editorial pieces against it.21 After The Jews and their Lies appeared in print, Armas Holmio wrote a pamphlet entitled Martin Luther: Friend or Foe of the Jews, in which he presented an incisive critique of the Christian Nationalist Crusade publication.22 Neither Tappert nor his colleagues saw any point in translating this book because it was unedifying and not theologically useful. Only in 1971 did On the Jews and their Lies appear in a full English translation in the series Luther’s Works. Franklin Sherman, the editor, stated flatly that publishing this book was not an endorsement of its “distorted views 17 See Wiener, Luther, 58 f; Brosseder, Stellung, 210 A. 8. Wiener’s pamphlet appears to have been part of the inspiration for another anti-Luther pamphlet: Mills, Luther. 18 See Wiener, Luther, 59–65. 19 Matheson, Peter C. brought up the controversy again in 1980 to pose questions about what made Hitler’s ideology, and his anti-Semitism, so attractive to some German Lutheran theologians in his article: Matheson, Luther, 445–453. 20 Luther, Jews. See Jeansonne / Smith, Minister, 108. The question of which base text (the entire book or an excerpted version) the translator used has never been resolved. Collections of excerpts from On the Jews and their Lies were also published in Denmark, Sweden, the Netherlands and Latvia before 1939. Luther, judarna; Ebd, Jøderne; Ebd, Joden; Ebd, schihdeem. 21 Graebner, Luther, 113–114; and Schwiebert, Jews, 368–370. Theodore Tappert issued two denunciations under different titles: Tappert, Luther, 453–456; and Tappert, Translation, 135–136. 22 Holmio pointed out that this “translation” contained no more than a fifth of the entire text. Holmio, Luther, 9.

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of the Jewish faith”. It was printed in the series only to “make available the necessary documents for scholarly study of this aspect of Luther’s thought, which has played so fateful a role in the development of anti-Semitism in Western culture”.23 Jewish-Christian discussions concerning Luther and the Judenschriften also began in this period. In preparation for the Løgumkloster ecumenical discussions of 1964,24 Finnish-Canadian theologian Aarne Siirala prepared a working paper on Luther and the Jews, which he then published in revised form later that year.25 Siirala’s purpose in expounding Luther’s theology was to create a basis for discussion on how contemporary Lutheranism should regard the Judenschriften and the exclusionary theology that they represented.26 To Siirala’s disappointment the consultation refused to repudiate the Judenschriften in its final statement.27 Broader trends within both American Lutheranism and Judaism made it inevitable that a Jewish-Lutheran Dialogue take place. American Lutherans and American Jews had served together during the Second World War, attended colleges through the “G.I. Bill” and lived in the same suburbs together. It was pressure “from below” as well as theological reflection that led the Lutheran Council in the USA to issue a statement in 1971, “Some Observations and Guidelines for Conversations Between Christians and Jews”.28 Inevitably these conversations broadened to include not only the American Lutheran and Jewish pasts, but also the historical anti-Judaism of Lutheran theology, including Luther’s Judenschriften. For most of the twentieth century Luther’s Judenschriften played little or no role in Anglo-American Luther scholarship.29 The Luther’s Works translation of On the Jews and their Lies (1971) was the most important contribution that Anglo-American scholarship made to discussions of Luther and the Judenschriften. But American enthusiasm for translating them only went so far. On the Ineffable Name, the “best-seller” among the three 1543 Judenschriften,30 was not translated in the Luther’s Works series. Luther’s

23 24 25 26 27 28

Sherman, Introduction, 123. See Ditmanson, Stepping-Stones, 18–32. Siirala, Luther, 427–452; English version: Siirala, Luther, 337–357. See ebd., 439–452. See Siirala, Reflections, 135–148, here 137, 145. See also Gilbert, Lutherans, 7–12, here 8. Sherman, Bridges, 91–93. On the broader context of the beginning of the Lutheran-Jewish Dialogue in the United States, see Sherman, Relations, in: http://www.jcrelations.net/LutheranJewish_Relations_in_the_United_States__A_Historical_and_Personal_Retros.4559.0.html?L=3 (1 March 2014). 29 Most of the scholars I mention in this part of the paper are either Americans or work there; Grislis is Canadian and Raphael Hallett is British. 30 Vom Schem Hamphoras was printed seven times in 1543–1544, far more often than the other two. VD 16 L7058-L7065.

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Admonition against the Jews, given in his final sermon were also left out of the series, although the sermon itself was translated and published in volume 51.31

3. 1983 Luther Year to 2013 The 1983 Luther anniversary brought Luther’s Judenschriften to the attention of a wider public, scholarly and otherwise, in North America especially and the theme has never completely been forgotten since then. The most important fruit of the Luther year was Mark Edwards’ Luther’s Last Battles: Politics and Polemics 1531–46 (1983). Jerome Friedman’s The Most Ancient Testimony : Sixteenth-Century Christian-Hebraica in the Age of Renaissance Nostalgia (1983) also pioneered a new approach to the Judenschriften by pointing out that Luther attacked Christian Hebraists as well as Jews. A number of scholarly essays and chapters addressing the Judenschriften (21) have also appeared since 1983.32 Mark Edwards’ iconoclastic book Luther’s Last Battles is the single most important Anglo-American contribution to scholarship on the later Judenschriften.33 He sought to provide a significant historical and intellectual context for all of Luther’s polemical works, political and religious alike, written against all of his foes after 1530. Leaving Luther’s later works to the theologians, according to Edwards, resulted in a distorted view of these later works. When theologians examined the Judenschriften, for example, they tried to explain them either with reference to Luther’s essential theology, arguing over whether it had changed or not, or whether these later polemics were reflections of his ill health, possible mental illness or advancing age and increasingly peevish disposition. Edwards addresses these questions, especially the problem of Luther’s ill health and age.34 He asserted that establishing the circumstances of the composition of Luther’s polemical books was crucial for understanding them properly. Luther wrote some of his polemical works on behalf of others such as Elector Johann Friedrich, not on his own initiative. At times he was even obliged to argue for positions that he disagreed with, such as the “right of 31 Luther’s Admonition against the Jews appears in the new series of Luther’s Works: Luther, Admonition, 458–459. An English translation of Vom Schem Hamphoras will apear in the new LW series. 32 Heiko Oberman played an important public role in raising awareness within North America of the problem of Luther and the Jews. His previous teaching experience at Harvard, his network of former students in North America, his frequent trips to the United States, and the swift translation of relevant books and essays into English meant that his work was very much a part of the North American scholarly conversation on this theme. His book Wurzeln des Antisemitismus (Berlin 1981) was quickly translated into English: Oberman, Roots. 33 Edwards, Battles. 34 See also Haile, Luther, 220–221.

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resistance” (24–25). Edwards argues that Luther wrote his polemical works very deliberately, picking what he felt to be the appropriate content and tone for each one (18–19). Even his most defamatory, filthy books such as the Judenschriften and Against the Papacy did not reflect the months long rant of a man not fully in possession of his faculties, but were deliberately written the way they were.35 In his chapter “Against the Jews”, Edwards presents a brief introduction to the topic, summaries of Luther’s public statements concerning the Jews from 1523 until his death and their reception, and finally gives an argument concerning the “time-bound” nature of Luther’s Judenschriften. Edwards’ concern was to categorize the Judenschriften in an historical way rather than a theological one. He rejected the distinction Maurer made between Luther’s central theology and the “remnants of medieval tradition” in these polemical books (139) because Luther and his contemporary readers would not have recognized it. Luther himself felt that the entire argument presented in these books was coherent. Maurer’s position reflects the needs of the twentieth century rather than the historical contingencies of the sixteenth (140). Edwards contends that Luther treated Jews in much the same way he treated his other opponents — Catholics, Turks and other Protestants (141). Where Luther’s references to the devil are concerned, Edwards noted that he “often directed his attacks not at his human opponents but at the devil, who he sees as their master” (17). Edwards considered two further factors relevant when interpreting the Judenschriften. First, Luther believed that Jewish exegesis posed a deadly threat to the true church, hence some of the vehemence of his books. Secondly, Edwards also saw the influence of Luther’s apocalyptic beliefs, which he had already discussed in an earlier chapter on Luther and the Turks (141–142). Jerome Friedman’s Most Ancient Testimony : Christian Hebraica in the Age of Renaissance Nostalgia (1983) was the other original contribution to interpretation of the Judenschriften to emerge from the early 1980s.36 Friedman’s focus was Christian Hebraism during the first half of the sixteenth century and its impact, especially on the Reformation. Rather than offering a narrative history of Christian Hebraism, Friedman wrote case studies of a few figures and their approaches to Jewish sources. His representative figures included Michael Servetus, Johannes Reuchlin, Paul Fagius, and Sebastian Münster. Friedman discussed Luther in a chapter entitled “Battle for Christian-Hebraica” since he considered Luther a staunch opponent of the new Christian Hebrew learning. Friedman demonstrated that some of Luther’s Christian contemporaries were reading Jewish texts in Hebrew and drawing different conclusions about the meaning of Old Testament passages as a result. In Luther’s eyes this amounted to Judaizing interpretation. 35 See Haile, Luther, 164; and Edwards, Battles, 18–19. 36 Friedman, Testimony.

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Unfortunately Friedman’s work contains a number of flaws, both conceptual and factual. In contrast to Edwards’ measured approach to Luther’s references to the devil, Friedman assumes that Luther was confused. “Luther increasingly allied the image of the Jew with that of the devil, and his works expressed an inability to distinguish among Jews, sectarians, Turks, and the devil”. Friedman asserts that Luther’s anti-Semitism “consumed him so completely that by the time he died he believed that everything touching the Jews became equally evil, including the beneficial Christian study of Hebrew” (203). Friedman believed that Luther was far less capable in Hebrew than he was, apparently neglecting all of the years of practice that Luther had had when translating and revising his German Old Testament translation. Friedman flatly refused to discuss The Last Words of David and On the Ineffable Name because they were “so vicious, so hate-filled, and so completely devoid of any concept of human decency, especially since they ramble and are also incoherent” (204). Some of these charges fairly describe On the Ineffable Name, but do not fit On the Last Words of David since it is the mildest of the 1543 Judenschriften. Friedman’s knowledge of which Jewish sources were accessible to Christian Hebraists was also very limited, and he sometimes assumed that Christians such as Sebastian Münster dishonestly misrepresented Jews and Judaism in their works.37 For all of its flaws, however, Friedman’s work provides important new insights on how to understand Luther’s arguments in the Judenschriften.38 Apart from Edward’s Luther’s Last Battles, some of the most useful contributions to the study of the Judenschriften within the Anglo-American world have appeared as articles and essays. Kenneth Hagen’s “Luther’s socalled Judenschriften: A Genre Approach” (1999) is one of the most interesting and provocative articles on the Judenschriften written since 1983. Hagen approached his theme by analyzing two kinds of information: the classification of four of these works (he did not include Against the Sabbatarians in his analysis) within printings of Luther’s collected works, and Luther’s stated purposes in writing each of the four books.39 Hagen’s findings concerning the place of the Judenschriften in collections of Luther’s works are revealing. The only specifically theological categories the editors of these works placed them were “Concerning Temporal Government” [Von der weltlichen Obrigkeit] (Altenburg, 1661–1664), and “Writings against Jewish and Turkish Errors” (Leipzig 1729–1740). The former classification reflects one of the primary ways that Lutheran theologians used these writings: in theological advice given to the rulers of evangelical cities and territories.40 The latter is a more 37 See Burnett, Dialogue, 168–190, here 169. 38 See ebd., Reassessing, 181–201; Kaufmann, “Judenschriften”, 94, 99, 111. 39 Curiously, Luther mentioned Sabbatarians only three times in the 1543 Judenschriften, all of them mere footnote references to his book. Sabbatarian Judaizers were apparently not a worry for Luther in 1543. See WA 53: 434, 26; 459, 19; 473, 11–12. 40 See Hagan, Judenschriften, 130–158, here 134–135; Wallmann, Reception, 72–97.

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theological classification, reflecting their usefulness for controversial theology. By specifically examining Luther’s stated purpose in composing each of the Judenschriften, Hagen raises awkward interpretive questions about them that scholars often ignore in favor of present day concerns. If these works were written to “strengthen the faith” of Christians, how did Luther seek to accomplish this purpose employing the arguments he offered in these books? Hagen identifies the genres of the books as — decuit, expositio, probatio, assertio, and quodlibetum — something the editors of the Weimarer Ausgabe failed to do, categorizing them instead as “writings against the Jews”.41 I believe that Hagen’s book-historical points are worth taking to heart. These controversial writings must be interpreted within Luther’s own historical frame of reference before considering the ways that later readers appropriated them. Hagen’s criticisms of the Weimarer Ausgabe reflect his long-standing complaints about its limitations, especially for the study of Luther’s biblical commentaries.42 Hagen’s criticism that Luther’s theological concerns in the Judenschriften have been overlooked is reflected in several recent studies of On the Last Words of David, not as writings against the Jews, but as statements of Luther’s Trinitarian theology. Mickey Mattox in “From Faith to the Text and Back Again” (2006) discusses On the Last Words of David in the context of the elder Luther’s theological interests.43 Luther saw the believers of Old Testament times not as part of a “sub-Christian shadow” of the church, but rather members of the “faithful synagogue” where men like David “knew and referred to ”the Triune God (302).44 For Luther the truth of the Nicene faith was “inscribed far and wide into every letter of Holy Scripture” and he insisted, an “explicit recognition of this truth should illuminate and inform every authentically Christian act of biblical interpretation” (302). John Slotemaker also examined On the Last Words of David in his article “The Trinitarian House of David” (2011).45 Since Luther was aware that Jews, Turks, and some Christian radicals such as Michael Servetus denied the doctrine of the Trinity, after 1532 he felt the need to address the question in both his doctrinal works and in his polemics. His disputations for Erasmus Alber (1543), George Major (1544) and Petrus Hegemon (1545) all contain discussions of both the Trinity and the relationship between faith and reason, theology and philosophy (238–239).46 Slotemaker argues that Luther’s Christianizing exegesis of this passage resolves the tension between “an eternal covenant with the house of David”-and therefore with the Jews- and his 41 42 43 44 45 46

Hagan, Judenschriften, 150, 157. See ebd., 156. Mattox, Faith, 281–303. Hendrix, Ecclesia, 263–266. Slotemaker, Trinitarian, 233–254. See also Helmer, Trinity.

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own Christian theology. By offering a Trinitarian and Christological interpretation of the passage, Luther strengthens his overall argument in favor of a supersession of Israel by the Church (254). Raphael Hallett and David Steinmetz made contributions to the study of On the Jews and their Lies. Hallett adopted a literary approach to the function of the Jews within his work “‘Vile interpretations and Devilish Supplements’: Jewish Exegesis and Linguistic Siege in Martin Luther’s ‘On the Jews and their Lies’ (1543)”.47 Hallett follows “the rhetorical progress” of On the Jews and their Lies and compares it with That Jesus Christ was Born a Jew, to discover how “Luther’s conception of malign Jewish speech, imminently physical in its threat, derives from a much more consistent anxiety about Judaism and theological exegesis” (91). According to Hallett, Luther believed that the Jews “violate” the word through an “active and deliberately blasphemous corruption of scripture” (95). David Steinmetz’s “Luther and the Blessing of Judah” focuses on one key text that Luther interprets repeatedly throughout his career : Genesis 49:8–12.48 Luther discussed it in That Jesus Christ was Born a Jew (1523), Against the Sabbatarians (1538), and On the Jews and their Lies (1543). In his exposition, Luther addressed the positive theological value of the passage as a messianic prophecy, and also rebuked Jewish exegetes. The “older” rabbis who were responsible for Targum Onkelos understood the passage about the coming of “Shiloh” to be a messianic prophecy, as Nicholas of Lyra made clear. More recent rabbinic interpreters sought to evade this interpretation by a variety of means. In Luther’s view “the rabbinic readings were constructions designed to evade the thrust of Genesis 49” (171). Like Hallett, Steinmetz stressed that On the Jews and their Lies reflected Luther’s fears that Jewish exegesis would mislead Christians (178). Anglo-American Luther scholars have addressed the Judenschriften through broader interpretive essays on “Luther and the Jews” as well. Several good examples are Hans J. Hillerbrand’s “Martin Luther and the Jews” (1990), Egil Grislis, “Martin Luther on the Jews” (2001), and Eric W. Gritsch’s chapter “The Gospel and Israel”, in Martin — God’s Court Jester : Luther in Retrospect (1983).49 Christopher Probst discussed the problem in an explanatory chapter within his larger work Demonizing the Jews Luther and the Protestant Church in Nazi Germany.50 The handbook articles by David Whitford and Gregory Miller are very useful.51 Steven Katz and David Nirenberg both provide extensive discussions of Luther’s anti-Semitism, including the Judenschriften

47 48 49 50 51

Hallett, Interpretations, 89–109. Steinmetz, Luther, 159–178. Gritsch, Martin, 130–145. Probst, Demonizing, 39–58. Whitford, Luther, 149–169; and Miller,Views; Dingel / L’uormir, Handbook, 427–434.

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from the perspective of Jewish studies.52 None of these essays offer new insights or approaches on how to understand the Judenschriften. The final way that Luther and the Jews appear in Anglo-American scholarship is in the context of ecumenical dialogue. Both Paul Hinlicky and Mark Edwards addressed the importance of the Judenschriften as a stumbling block to Jewish-Christian understanding.53 Rabbi Marc Tannenbaum also did so in his essay “Luther and the Jews: From the Past, A Present Challenge”, written in 1983 to mark the Luther year in his own way.54 Brooks Schramm and Kirsi Stjerna published a Luther anthology on the general theme of Luther and the Jews, containing thoughtful introductory essays and useful notes for both seminary use and ecumenical discussion: Martin Luther, The Bible, and the Jewish People (2012).55 Eric Gritsch, in his final book, Martin Luther’s Anti-Semitism: Against His Better Judgment (2012) spoke to the issue of Jewish-Christian relations.56 He explained how Luther understood Jews and Judaism throughout his career, based upon his decades of work on Luther. He repeatedly declared that Luther’s anti-Jewish positions were taken “against his better judgment” (53, 77, 119). Gritsch partly based his conclusions on Luther’s own unwillingness to speculate about the “hidden things of God”, and partly on an historically novel interpretation of Romans 11: Paul refused to offer any conclusions regarding the mystery of Jewish-Christian relations after the crucifixion of Jesus during the time before the Last Day ; he contended that in the interim Jews and Christians should find some historical configuration to exist together without any mutual hatred (77; see also 53).

Gritsch’s book reflects both his strong commitment to the Jewish-Christian dialogue, and unfortunately his lack of engagement with scholarship on Luther and the Jews since 1983.57

4. Conclusions Anglo-American scholars have published a few books and a larger number of articles and book chapters related to Luther and the Jews since 1917, but all too frequently their work is either superficial or unoriginal. Fortunately some studies have offered new insights and innovative approaches to this old and troubling theme. 52 53 54 55 56 57

Katz, Holocaust, 386–400; Nirenberg, Anti-Judaism, 268. Edwards, Understanding, 1–19; and Hinlicky, Contribution, 123–152. Tanenbaum, Luther, 264–275. Schramm / Stjerna, Luther. Gritsch, Martin. See Burnett, Review, 217–218.

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1. Edwards and Friedman both approached the Judenschriften as historical pieces that were “time bound”, closely reflecting the circumstances in which they were written. 2. Hagen, Edwards, and Hallett remind us that the Judenschriften were written above all to Christians, and should be interpreted accordingly. Confusing Luther’s original goals and audiences for the Judenschriften with their appropriation by readers who lived centuries later does not does not advance our understanding of the Judenschriften as Lutherschriften. 3. Friedman identified Christian Hebraists as one of Luther’s chief targets in the Judenschriften. Discovering who Luther was attacking in these books could help clarify Luther’s arguments. 4. Mattox and Slotemaker remind us that the Judenschriften were theological products, and that they reflect Luther’s later life theological concerns. 5. Hagen and Steinmetz, Mattox and Slotemaker remind us that the Judenschriften are at some level works of biblical exegesis. Some of Luther’s arguments depend upon on precise grammatical points that he made on the basis of the original Hebrew text. Like Luther’s later exegesis generally, the 70 % or so of the 1543 Judenschriften that are devoted to biblical interpretation have been largely ignored by Luther scholarship. 6. The lack of English translations of the Judenschriften before 1971 may reflect their historically contingent or “time bound” character (Edwards) and their irrelevance to non-German Lutherans generally.58 For example, On the Jews and their Lies has only been translated into English and Finnish in its entirety. It has never been translated into French, Norwegian, Swedish or Danish.59 Historically, Anglo-American Luther scholarship and Lutheran church bodies ignored Luther’s Judenschriften. The books became important only during the Nazi era when English-speaking Lutherans were confronted with Luther’s anti-Semitism in a focused way for the first time. English-language scholarship on the Judenschriften has been motivated by apologetic concerns, the need to understand why Luther felt he had to compose ugly anti-Jewish polemics, and by the Jewish-Christian dialogue in North America. The most fruitful Anglo-American scholarship on the Judenschriften has focused upon them as “time bound” treatises that reflect Luther’s late life theology, concerns, and fears.

58 Three of the Judenschriften appeared for the first time in English translation in the Luther’s Works series: That Jesus Christ Was Born A Jew, vol. 45, 195–229 (1962); Against the Sabbatarians, vol. 47, 57–98 (1971); On the Jews and their Lies, vol 47, 137–306 (1971). On the Last Words of David already had appeared in English translation in Henry Cole’s Luther, Works, 177–335. 59 See Luther, Juutalaisista; Arnold, Plaidoyer 15–22.

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Abbreviations Archiv für Reformationsgeschichte Beiträge zur historischen Theologie Beiträge zur ökumenischen Theologie Church History Currents in Theology and Mission Harvard Theological Review Jahrbuch evangelischer Mission Journal of Ecumenical Studies Lutherische Rundschau Luther-Jahrbuch Lutheran Quarterly Luther’s Works Studies in Medieval and Reformation Thought Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts VIEG = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz WA = M. Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe

ARG BHTh BÖT ChH CTM HThR JEM JES LR LuJ LuthQ LW SMRT VD 16

= = = = = = = = = = = = = =

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Ökumene und Kirchliche Politik nach 1945

Lucia Scherzberg

„Luther und die Juden“ in der katholisch-theologischen Wahrnehmung

Wie katholische Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts Luthers Schriften über die Juden beurteilten, hat bisher nur der 2014 verstorbene Ökumeniker Johannes Brosseder erforscht.1 In seiner 1972 veröffentlichten Dissertation befasste er sich auf breiter Basis mit der Rezeption dieser Schriften, innerhalb derer die katholischen Autoren allerdings eher eine Randerscheinung sind. Brosseders Untersuchung der einzelnen katholischen Rezipienten ist ganz auf sein spezifisches Interesse ausgerichtet, das „theologische Problem“ der „Judenschriften“ Luthers herauszuarbeiten. Dies führt dazu, dass eine historische Einordnung der jeweiligen Rezeption und eine Analyse ihrer Funktion unterbleiben. Nun hat Thomas Kaufmann zu Recht festgestellt, dass die katholische Auseinandersetzung mit Luthers antijüdischen Schriften gewissen „deutungspolitischen Konjunkturen“ unterlag und „konfessionsstrategische Interessen“ erkennen lässt.2 Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, diese Konjunkturen und Interessen exemplarisch nachzuzeichnen und zu interpretieren. Als Beispiele für das 19. Jahrhundert seien Ignaz von Döllinger und Joseph Hergenröther herangezogen. Döllinger wollte in Band 3 seiner 1848 erschienenen Geschichte der Reformation die innere Seite der Reformation darstellen, d. h. die Entstehung und Entwicklung der Lehre, die als der wichtigste Ertrag der Reformation als religiöser Bewegung betrachtet werde.3 Die Rechtfertigungslehre habe sich als Hauptgrund für die Trennung der Konfessionen und zugleich als Magnet für die Gläubigen erwiesen. Darauf folgt eine Charakterisierung Luthers. Dessen eigenen Aussagen zufolge sei die Rechtfertigungslehre für ihn das Entscheidende gewesen und habe seine Person im Innersten geprägt. In diesem Zusammenhang ging Döllinger auch auf die Schriften über die Juden ein. Er zitierte Bullingers harsche Kritik von 15454, bezeichnete Luther als furchtbaren Polemiker und Kriegshetzer und sah den Ursprung der Schriften im Hass und Groll Luthers. Nicht die Zeitumstände seien dafür verantwortlich zu machen, denn schon die Zeitgenossen hätten Luthers Ver1 2 3 4

Brosseder, Stellung. Kaufmann, „Judenschriften“, 135. Dçllinger, Reformation, Bd. 3. Vgl. ebd., 262–263.

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halten und vor allem seinen Ton für ungewöhnlich gehalten. „Der Grund liegt demnach tiefer, und einzig in Luthers Individualität.“5 Für seine letzten Lebensjahre schrieb Döllinger Luther „Verstimmung und Verbitterung“ zu, „gesteigert durch das Gefühl, daß bei aller Vervielfältigung seiner Anhänger doch die Zahl seiner Freunde immer kleiner, die Menge derer, die ihm entfremdet wurden oder sich durch sein Wesen abgestoßen fühlten, immer größer wurde“6. Man sieht die Absicht: die Charakterisierung Luthers sollte die Lehre des Protestantismus diskreditieren und die Rechtfertigungslehre als Produkt eines bedenklichen Geisteszustandes dargestellt werden.7 Der Münchener Professor, zu dieser Zeit Abgeordneter in der PaulskirchenVersammlung und eines der bedeutendsten Mitglieder des sog. Görres-Kreises8, der sich der Romantik und der Restauration gleichermaßen verpflichtet fühlte, begriff den Katholizismus als ursprüngliche Einheit von Lehre, Verfassung und Gottesdienst und kämpfte für die Freiheit der Kirche von staatlicher Beeinflussung. Sein Schüler, der Kirchenrechts- und Kirchengeschichtsprofessor und spätere Kardinal Joseph Hergenröther9, der in Bezug auf das Erste Vatikanische Konzil eine ganz andere Richtung als sein Lehrer einschlagen sollte10, veröffentlichte von 1876–1880 sein dreibändiges Handbuch der allgemeinen Kirchengeschichte.11 Dieses Handbuch zählte lange Zeit zur Standardliteratur in der Priesterausbildung. Hergenröthers Ausführungen über die späten „Judenschriften“ Luthers sind eingebettet in ein Kapitel über die gewaltsame Ausbreitung des Luthertums und dessen innere Schäden. Während dieses in der äußeren Verbreitung Fortschritte habe aufweisen können, sei sein innerer Zustand immer bedenklicher geworden – hier wird auf die Dispens für die Doppelehe Landgraf Philipps von Hessen verwiesen. Luther selbst sei sehr wechselnder Stimmung gewesen und habe seinen Zorn gegen die Schwärmer und Sakramentfeinde und natürlich gegen den Papst gerichtet. „Um noch mehr seinem Ingrimm Luft zu machen, wandte er sich auch gegen die Juden.“12 Seine Ausführungen seien so „pöbelhaft“ gewesen, „dass seine späteren Anhänger (sie) der Vergessenheit anheimzugeben sich bemühten“13. Luther wird hier und an anderen Stellen als problematische 5 6 7 8 9 10

Ebd., 252. Dçllinger, Reformation, 261. Vgl. auch Finsterhçlzl, Kirche, 366–374. Vgl. Fink-Lang, Joseph Görres, 223–298 Zu Person und Werk siehe Weitlauff, Hergenröther, 471–550. Hergenröther befürwortete die Definition der Infallibilität und wandte sich in der Schrift „AntiJanus“ (Janus= Döllinger; LS) gegen Döllingers Konzils-Kommentare. 11 Hergenrçther, Kirchengeschichte, Bd. 3 (hier zit. nach der 5. Auflage). Bereits 1884–1886 erschien die dritte Auflage; bis 1925 wurde das Werk immer wieder neu aufgelegt. Weitlauff bescheinigt Hergenröther eine profunde Kenntnis der Quellen und der Literatur und hebt die Fülle des Stoffes hervor, merkt aber an, dass Hergenröther wörtlich aus anderen Werken abgeschrieben habe, auch aus protestantischen. Vgl. Weitlauff, Hergenröther, 535. 12 Ebd., 485. 13 Ebd., 486.

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Persönlichkeit betrachtet und dies aus psychologischer, moralischer und theologischer Perspektive. Er habe an Angstzuständen und Verfolgungswahn gelitten, seine Persönlichkeit sei gespalten in „den begabten, feurigen Volksredner und den dreisten, lächerlichen Possenreißer“14. Sein Charakter müsse als hochfahrend und herrschsüchtig, aufbrausend und jähzornig beschrieben werden, seine Ausdrucksweise als derb, pöbelhaft und verleumderisch. Zudem habe er einen ausgeprägten Hang zu unflätigen Zoten besessen, und „für die zwingende Kraft des Naturtriebs trat er in sehr starker Weise ein“15 – m.a.W. Luther sei ein Fresser, Säufer und Sexbesessener gewesen. Theologisch warf Hergenröther ihm Misshandlung der Hl. Schrift, Hexen- und Aberglauben und die Anmaßung göttlicher Sendung vor. Die „Judenschriften“ galten ihm folglich als Beispiel für die psychologisch und moralisch bedenkliche Verfassung Luthers. Zugleich stellte Hergenröther eine Übereinstimmung zwischen Luthers Person und dem Zustand des Luthertums allgemein fest. Wie Döllinger wollte er die innere Zersetzung und die Auflösungstendenzen des Protestantismus aufzeigen, und zwar sowohl an dessen Ursprung in der Reformation als auch in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts. Der Bezug auf Luthers antijüdische Schriften hat also die Funktion, den inneren Zerfall der Reformation und des Protestantismus nachzuweisen. Es geht nicht primär um eine Zurückweisung des Antisemitismus; allerdings gehen beide Autoren davon aus, dass die antijüdischen Äußerungen der Schriften dazu geeignet waren, Luther und die Reformation in einem negativen Licht erscheinen zu lassen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gibt es allerdings auch andere Beispiele. 1893 veröffentlichte Georg Rösel, den man zu den katholischen antisemitischen Extremisten rechnen kann, ein Büchlein, dessen Ziel der Nachweis war, dass die Reformation und Luther nicht judenfreundlich gewesen seien und keineswegs den Boden für die Toleranz gegenüber den Juden geschaffen hätten.16 Die judenfreundliche Haltung Luthers in der Schrift von 1523 erklärt Rösel mit der Isolation des Theologen vom „wirklichen Leben“: er hatte „keine Gelegenheit, den Juden praktisch kennen zu lernen“17. Diese Freundlichkeit gegenüber den Juden sei dann allmählich, ohne dass sich ein genauer Zeitpunkt bestimmen lasse, in Judenfeindschaft übergegangen. Die Ursache sei die Berührung mit dem wirklichen Leben; Luther sei nun „kein bloßer Theologe mehr, sondern Mann des sozialen Lebens und Treibens“18. Als Quelle für die Diagnose des Übergangs dienen Rösel Äußerungen aus Luthers 14 Ebd. 15 Ebd. 487. 16 Rçsel, Luther und die Juden. Das Buch erschien im selben Verlag wie das 1871 erschienene und vielfach aufgelegte antisemitische Pamphlet August Rohlings „Der Talmudjude“. Vgl. Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus, 60, 250. 17 Rçsel, Luther, 8. 18 Ebd., 13 f.

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Tischreden über den Zweifel am Charakter der Juden, ihr hartes Schicksal als Strafe Gottes und ihre „Verstockung“. Quelle für die Feindschaft gegen die Juden sind die Schriften von 1543, aus denen Rösel seitenweise und anscheinend mit Genuss zitierte. Er wies darauf hin, dass sie sich nicht an die Juden selbst richten, sondern als Warnung für die Christen („die Deutschen“) dienen sollen. Weil Luther an der Unmöglichkeit verzweifelt sei, die Juden zu bekehren oder ihren Charakter zu ändern, sei er immer wieder zur ultima ratio der Entfernung der Juden gelangt. Zusammenfassend konstatierte Rösel, dass weder die Reformation noch ihr Führer etwas von Toleranz gegen die Juden wissen wollten. Die entsprechende Stimmung der Schrift von 1523 habe keine Bedeutung gegenüber der späteren Meinung Luthers und deren Auswirkungen: „Es ist ein falscher Ruhm, der die ,Reformation‘ mit ,Judentoleranz‘ zu schmücken sucht.“ Rösels Anliegen war weniger die religiöse Herabsetzung Luthers und der Reformation, als vielmehr ein politisches. Er bekämpfte die Verteidigung der Judenemanzipation in den Reihen der Freisinnigen, die seiner Auffassung nach ihre Haltung mit der Reformation legitimierten und auf deren Grundlage eine humane Lösung der „Judenfrage“ für möglich hielten. Diesen Leuten wurde er nicht müde vorzuhalten, dass davon keine Rede sein könne. „Mit der ,humanen‘ Lösung der Judenfrage ist die ,Reformation‘ völlig verunglückt; denn die unternommene Lösung oder richtiger Beseitigung der Judenkalamität ist eine so ungeheuerlich gewalttätige, daß man sie auch beim größten Semitenhasse gewiß keine Lösung, sondern eben nur eine Ausrottung nennen kann.“19 Eine Ausrottung der Juden verwürfen allerdings genau diejenigen, welche die Reformation als Quelle der modernen Humanität ansähen. Für Rösel ist klar, dass die Reformation es weder geschafft habe, die „Judenfrage“ friedlich zu lösen noch die Juden gewaltsam auszurotten. Bei diesem Autor tritt die konfessionelle Polemik gegenüber dem politischen Antiliberalismus in den Hintergrund; Hauptantrieb ist der Antisemitismus. Möglicherweise spielte auch die im gleichen Jahr zur Abstimmung stehende Militärvorlage im Reichstag eine Rolle. Abgeordnete und Basis des Zentrums sowie die Freisinnigen lehnten die Aufrüstung ab, die rechtskatholische Seite und die Konservativen unterstützten sie.20 Die Sympathie für die in Luthers Schriften geforderten Maßnahmen gegen die Juden drückte der Autor allerdings nur indirekt aus, weil er Luther als Autorität nur gegenüber denjenigen anführen konnte, die sich auf ihn beriefen, nicht gegenüber den Katholiken. Das Buch des aus Tirol stammenden Dominikaners Heinrich Denifle „Luther und Luthertum in der ersten Entwickelung“, das 1903 erschien, schlug aufgrund seiner Polemik gegen Luther wie eine Bombe ein. Hubert Jedin 19 Ebd., 36 f. 20 Zur Haltung des Zentrums zur Militärvorlage vgl. Leugers-Scherzberg, Porsch, 60–71; Loth, Katholiken im Kaiserreich, 48–51.

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kommentierte dies in seinem Habilitationsvortrag von 1930 wie folgt: „Das Buch war eine ,moralische und wissenschaftliche Hinrichtung‘ des abgefallenen Augustiners durch den treugebliebenen Dominikaner, ein Buch cum ira et studio geschrieben, bei dem der Verfasser wohl auch an die damals in Österreich agitierende Los-von-Rom-Bewegung gedacht hatte. Kein katholischer Kirchenhistoriker in Deutschland teilt heute noch Denifles Anschauung von Luthers sittlicher Persönlichkeit. Keiner wird wie Denifle Luther gegenüber mit Ausdrücken wie Lüge, Fälschung, Verleumdung um sich werfen und ihm die bona fides mit Vorliebe absprechen.“21 Denifle wandte nicht viel Mühe für die Behandlung von Luthers „Judenschriften“ auf22 – sie galten ihm als Beispiel und Beleg für Luthers „zotenhafte und unflätige“ Sprache. Diese wiederum sei Ausdruck seines üblen Charakters, dessen Eigenschaften sich mit dem Abfall von der römischen Kirche und ihrer Lehre immer mehr verschlimmerten.23 Die inkriminierte Sprache wurde von Denifle nun keineswegs als Äußerlichkeit oder bloße Form angesehen, sondern aufgrund des Zusammenhangs von Lehre und Leben als Beweis für die Falschheit der Lutherschen Lehre verstanden. Diese wiederum drehe sich vor allem um Luther selber. „Der Mittelpunkt in Luthers ,Theologie‘ ist nicht Christus oder die Rechtfertigung aus dem Glauben, sondern der Mensch, und zwar ein spezieller Mensch: es ist Luther mit seinem individuellen traurigen Innern, das er auf alle anderen übertrug.“24 Aus dem Luther zugeschriebenen Prinzip der „unüberwindlichen Begierlichkeit“ – identisch mit der bleibenden Erbsünde – folge das sittliche Sich-Gehen-Lassen und die reine Willkür auf dem Gebiet des Glaubens. So erkläre sich die zunehmende Verrohung Luthers. Die „Judenschriften“ waren für Denifle also ein Beispiel unter vielen für die unmoralische Persönlichkeit des Reformators und die Falschheit seiner Lehre. Die Polemik richtete sich aber weniger an die Protestanten selbst, sondern an die eigene Klientel und sollte Ordnung in den eigenen Reihen schaffen. Denifle bekämpfte die Los-von-Rom-Bewegung und einen katholischen Liberalismus oder Kulturkatholizismus, der auf einen Ausgleich mit der Gesellschaft zielte und den er für bedenklicher hielt als den konfessionellen Gegner selbst. Denifles Ordensbruder Albert Maria Weiß, der wegen Denifles plötzlichem Tod die 2. Auflage des Werkes herausgab, fühlte sich genötigt, Denifles Untersuchungen in einem eigenen Band kritisch nachzuprüfen und Denifles Polemik zu erklären. Weiß, der selbst eine extrem integralistische Position einnahm

21 Jedin, Erforschung, 22. 22 „Der ,Gottesmann‘ muß sich natürlich gegen die Juden ergehen. Geradezu toll treibt er es 1543 in ,Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi‘ .…“, in: Denifle, Luther, 1. Bd. Schlußabteilung. 23 Z.B.: „So lange er katholisch war, oder wenigstens in der früheren Periode seines Ordenslebens, erkennt man in ihm noch das Bestreben, mit den Zoten zurückzuhalten.“, in: ebd., 815. 24 Ebd., 622 f.

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und als leidenschaftlicher Kämpfer gegen den Modernismus auftrat25, kommentierte Denifles Ausbrüche folgendermaßen: „Denifle schrieb unter dem Eindruck, den auf ihn der moderne Kreuzzug aller zerstörenden Mächte wider die Kirche machte. … Was ihn bei diesem Schauspiel am meisten empörte – man mußte ihn nur kennen – das war weniger das offene Auftreten des baren Unglaubens, das konnte er achten, als vielmehr die Unaufrichtigkeit so vieler, die sich des Namens Luther als Wurfgeschoß wider die Kirche bedienen, ohne für ihre Person auf diesen mehr zu geben als auf die Kirche. … Männer, die ,Los von Rom‘ rufen einzig darum, weil sie wissen, daß die Predigt des ,romfreien Christentums‘ das beste Mittel ist, um laue Katholiken völlig dem Christentum zu entfremden, das Auftreten solcher Männer war es, was seine gerade Natur bis ins Innerste hinein empörte. … Es war die Reaktion seiner ehrlichen ganzen Natur gegen den Zug der Zeit, und auch ein wenig gegen sich selbst. In früheren Jahrzehnten hatte er dem entschiedenen Kampf wider die Abschwächung der katholischen Wahrheit durch den sogen. Ausgleich mit den modernen Ideen ziemlich untätig zugesehen, nicht als ob er je in seinem Leben jener Richtung gehuldigt hätte, die man katholischen Liberalismus nennt. … Nun überblickte er mit seinem durchdringenden Geist auf einmal das ganze Verderben. … Mit Staunen und Schrecken sah er, wie sehr unsere Tage wenigstens in einem, und zwar im wesentlichsten Punkte denen gleichen, die dem großen Abfall vorausgingen. … Darum wendete er sich nun auch mit der höchsten Entschiedenheit, deren er fähig war, zur Verteidigung der bedrohten Wahrheit. … Die Halbheit, die Unentschlossenheit derer, die jetzt vom Schweigen, vom Ausgleich redeten, erschien ihm gefährlicher und konnte ihn mehr empören als der eingestandene Abfall.“26 Der Jesuit Hartmann Grisar, dessen dreibändiges Werk27 einige Jahre später erschien, widmete den „Judenschriften“ größere Aufmerksamkeit als Denifle und versuchte eine Erklärung. Die Schrift von 1523 sei aus der übertriebenen Hoffnung auf eine Massenbekehrung der Juden entstanden.28 Wäre diese eingetreten, hätte Luther einen ungeheuren Erfolg für seine Sache verbuchen können, da die Papstkirche an dieser Aufgabe gescheitert war. Dies lag in Luthers Perspektive nicht nur daran, dass sie die falschen Mittel angewandt habe, sondern auch an dem Umstand, dass sie selber auf einer Irrlehre beruhe. Als die Hoffnung auf Bekehrung der Juden sich nicht erfüllte, sei ein Umschwung in Luthers Ansichten erfolgt, möglicherweise auch unterstützt durch seine konkrete Wahrnehmung von Juden.29 Als Impuls für die Schriften von 25 26 27 28 29

Vgl. Landersdorfer, Weiß, 195–216. Weiss, Lutherpsychologie, 70 f., 72. Grisar, Luther, hier bes. Bd. 3, 340–352; auch ders., Leben, 482–484. Vgl. Grisar, Luther, Bd. 3, 346–348. Vgl. ebd., 348: „Diese enttäuschende Erfahrung, sodann die Wahrnehmung der wachsenden Ungebühr der Juden, ihres Hochmutes und ihrer Wucherei, aber auch persönliche Beweggründe, wie angebliche Nachstellungen, die von Papisten gedungene Juden gegen sein Leben

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1543 betrachtete Grisar weniger die immer trüber werdende Stimmung Luthers, sondern vielmehr eine „religiöse Erregtheit“30, die ihn gedrängt habe, den Unglauben der Juden in ihrer Schriftauslegung und die Lästerung in ihrem Leben zu widerlegen. Der Innsbrucker Professor attestierte Luther darüber hinaus das Streben, am Ende seines Lebens sein Lebenswerk angesichts der von ihm angerichteten Zerstörung zu rechtfertigen. „Er fühlt gegen Ende seiner Lebenstätigkeit, die dem bisherigen Christentum gegenüber so zerstörend gewirkt hat, das innerste Bedürfnis, zu seiner eigenen Beruhigung doch wenigstens die Würde Christi zu verteidigen.“31 So wolle der Reformator sich mit diesen Schriften als Verteidiger der Ehre Christi und als Retter der Bibel erweisen, deutlich machen, dass die intensive Beschäftigung mit der Bibel, d. h. „die im Schoße des Luthertums gepflogenen biblischen Studien die Waffen zu dem Erfolge geschliffen haben“32. Dies würde zusätzlich das gegen das Judentum erfolglose Papsttum beschämen. „Indessen die Großtat für die Bibel, seine Domäne, und die Beschämung des gegenüber den Juden kriegsunfähigen Papsttums, alle solche Nebengedanken treten zurück im Vergleich mit dem Drange, die Ehre Christi, unseres einzigen Heiles, für die er nach seiner Meinung den großen Lebenskampf geführt hat, gegen den Judenteufel zur Beruhigung seines Lebensabends zu retten.“33 Luther wurde von Grisar als pathologisch diagnostiziert – allerdings scheint hier eher ein psychologisierendes Interesse auf als konfessioneller Kampfeseifer wie bei Denifle. Grisar sprach von Luthers anormalem Charakter, seinen Angstzuständen, seiner „Dämonomanie“34 und, in Bezug auf seine Sprache, von seinem „Grobianismus“. Andererseits aber schrieb er lange Seiten über die guten Charaktereigenschaften Luthers, räumte mit vielen katholischen Lutherlegenden auf und beurteilte die Tischreden Luthers ausgesprochen positiv. Streckenweise wird eine gewisse Wertschätzung deutlich in dem Sinne: Was hätte man mit diesem Mann anfangen können, wenn er nicht auf der falschen Seite gestanden hätte. Grisars Haltung zum antijüdischen Charakter von Luthers Aussagen ist schillernd. Einerseits kritisierte er, dass Luthers Forderungen nach einem gewaltsamen Vorgehen gegen die Juden sich zwar an die Obrigkeit richteten, aber dennoch geeignet waren, das Volk zu widerchristlicher Verfolgung der Juden aufzustacheln. Auf der anderen Seite lobte er die Tischreden Luthers unter Einschluss zuvor zitierter Aussprüche gegen die Juden. In Bezug auf die

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unternommen hätten, schufen in den Jahren 1524–1536 in seiner Stimmung einen gänzlichen Umschwung zu Ungunsten dieses Geschlechtes.“ Ebd., 349: „Daß vielmehr die religiöse Erregtheit bei Luther die eigentliche psychologisch wirksame Triebkraft bildete, legen viele Ergüsse seines Gemütes in den beiden Schriften dar. Ein gewisser Anteil seiner Verdüsterung bleibt dabei bestehen.“ Ebd., 350. Ebd., 350 f. Ebd., 351. Ebd., 250–253.

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Schriften von 1543 hielt er zwar die Sprache für unentschuldbar, schätzte aber die „treffenden Gedanken“, die in „packender Form“ überall in den Schriften gegen die Juden eingestreut seien. „Auch ist die Absicht anzuerkennen, gründliche Widerlegungen den biblischen Mißdeutungen und spöttischen Einwänden ihrer Gelehrten entgegenzusetzen.“ Doch das ungezügelte Wesen Luthers mache alles kaputt; es „verunstaltet ihm die Ausführung der edeln Aufgabe“35. Dass Grisar die Argumentation Luthers gegen die Juden, abgesehen von der gewaltsamen Verfolgung, für richtig hielt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Dies belegt auch die Luther-Biographie von 1926, in der Grisar sich in der Darstellung der „Judenschriften“ zwar von der Gewalttätigkeit distanzierte, die Juden aber als Verblendete und Missetäter bezeichnete: „Ein glühender Eifer für das geschmähte Christentum wogt auf manchen Seiten dieser Erzeugnisse aufgeregter Stimmung. Der Eifer für Wahrheit und Recht gewinnt aber nichts durch die allzu reichlich hindurchziehenden Aufrufe zu Gewalttätigkeit gegen die religiös Verblendeten und von ihrem Unrecht Belasteten.“36 Kommen wir zur Behandlung der „Judenschriften“ durch katholische Theologen, die dem Nationalsozialismus nahe standen. Wer vermutet, dass diese Theologen den Schriften besondere Aufmerksamkeit schenkten, muss feststellen, dass sie diese häufig nicht einmal erwähnen. Wir betrachten zwei verschiedene Ausprägungen: zum einen Lutherforscher, wie Joseph Lortz und Adolf Herte, die das katholische Lutherbild nachhaltig verändern sollten, zum andern den geistlichen Religionslehrer Richard Kleine, der führender Kopf und Impulsgeber einer konspirativ arbeitenden Gruppe nationalsozialistischer Priester war, der auch der Paderborner Theologieprofessor Adolf Herte und der Tübinger Dogmatiker Karl Adam angehörten.37 Auch zwischen Lortz und Kleine gab es eine Verbindung: im Jahr 1935 arbeiteten sie gemeinsam an dem Sendschreiben katholischer Deutscher an ihre Volks- und Glaubensgenossen, das der Annäherung der Katholiken an den Nationalsozialismus dienen sollte.38 Lortz lehrte während der NS-Zeit in Braunsberg und Münster und trat 1933 in die NSDAP ein.39 Er wurde berühmt für seine Thesen, die er in den Jahren 1939/40 veröffentlichte, dass angesichts des vorreformatorischen Zustands der Kirche die Reformation historisch notwendig war, dass die katholische Seite Mit-Schuld an der Kirchenspaltung trug, vor allem weil sie das religiöse Anliegen Luthers nicht ernst genommen habe, und dass Luther in sich einen Katholizismus überwand, der nicht wirklich katholisch war.40 Die 35 Alle Zitate in: Grisar, Luther, Bd. 2, 613. 36 Ders., Leben, 483 f. 37 Vgl. Scherzberg, Adam, 99–124; zur Mitgliedschaft Hertes 122; auch online verfügbar unter http://universaar.uni-saarland.de/journals/public/journals/3/Komplettausgabe_tgBeiheft3.pdf 38 Vgl. Brombacher / Ritter, Sendschreiben; Scherzberg, Ökumene, 11–13. 39 Zu Lortz s. Lautenschl•ger, Lortz; dies., Lortz (in: BBKL), 241–244; Scherzberg, Ökumene, 9–14. 40 Vgl. Lortz, Reformation; ders., Reformation in Deutschland.

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antijüdischen Schriften Luthers erwähnte Lortz in Die Reformation in Deutschland in einigen wenigen Zeilen im Zusammenhang mit der gewaltsamen Ausbreitung der Reformation; er zog sie dort zur Illustration der hasserfüllten Stimmung heran, die sich in seiner Sicht aber hauptsächlich gegen die Papstkirche richtete.41 Luthers Polemik und sein „Grobianismus“ sind ebenfalls Gegenstand der Untersuchung; die diesbezüglichen Passagen unterscheiden sich kaum von den entsprechenden bei Grisar ; jedoch wurden, anders als bei Grisar, die „Judenschriften“ nicht mehr als Beispiel für den „Grobianismus“ aufgeführt.42 Zentral war in Lortz’ Einschätzung Luthers „Subjektivismus“, d. h. die von jeder lehramtlichen Korrektur gelöste Fokussierung der Lehre auf das Heilsbedürfnis des eigenen Selbstes. 1948 hielt Lortz in Vorträgen, welche die Überwindung der Kirchenspaltung intendierten, an der Kritik des „Grobianismus“ fest, die Schriften gegen die Juden aber werden überhaupt nicht mehr erwähnt.43 Sein Bild von Luthers Persönlichkeit wurde dann bis in die 60er Jahre hinein immer positiver. Spätere Werke, auch gemeinsam mit seinem Schüler Erwin Iserloh, und ebenso dessen Schriften aus den 60er und 70er Jahren, die eine große Sympathie für Luther erkennen lassen, breiteten den Mantel des Schweigens über die antijüdischen Schriften, dokumentierten aber weiterhin die Kritik an der scharfen Polemik Luthers.44 Adolf Herte, dessen dreibändiges Werk von 1943 nachzuweisen suchte, dass die katholische Polemik gegen Luther durch die Jahrhunderte direkt oder indirekt von den Kommentaren des Cochlaeus abhängig gewesen sei, erwähnte die antijüdischen Schriften Luthers nicht. Die Werke von Hergenröther, Denifle und Grisar u.v.a. wurden schärfstens von ihm kritisiert.45 Der allmähliche Wandel im katholischen Lutherbild, der gleichwohl zu konstatieren sei, habe weniger wissenschaftliche, als nationale und religiöse Ursachen. Der Erste Weltkrieg, „die auf dem Boden des Reiches neuerwachenden geistigen, nationalen und religiösen Tendenzen“, d. h. der Nationalsozialismus, und der aktuelle Krieg hätten die Polemik verstummen lassen und die „nationale Verbundenheit und Schicksalsgemeinschaft“46 in den Vordergrund gestellt. Der geistliche Religionslehrer Richard Kleine gehörte zu den Vertretern der sog. „braunen Ökumene“, einer Überwindung des konfessionellen Gegensatzes auf völkisch-nationaler Grundlage. Die wesentlich von ihm inspirierte Gruppe NS-affiner Priester suchte in den Kriegsjahren die Zusammenarbeit mit Deutschen Christen und völkisch-religiösen Gruppen, um eine geeinte

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Vgl. Lortz, Reformation in Deutschland, Bd. 1, 374 (zit. nach der 2. Auflage, Freiburg 1941). Ebd., 409–418. Lortz, Reformation als religiöses Anliegen, 149–152. Lortz / Iserloh, Reformationsgeschichte, 319; Iserloh, Reformation, geht nur auf Luthers Polemik gegen Karlstadt und die Bauern ein, nicht auf die späten Schriften des Reformators. 45 Herte, Lutherbild, Bd. 2, 51–53, 328–341, 351–369. 46 Beide Zitate ebd., XXIf.

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Kirche aller Deutschen zu schaffen.47 Die im politischen Bereich erfolgte nationale Revolution musste sich in Kleines Vorstellung auch in der Kirche durchsetzen. Kleine warnte vor einer Verabsolutierung der Scholastik auf der einen und Luthers auf der anderen Seite. Letztere schrieb er der Bekennenden Kirche zu, die er für konfessionalistisch hielt, Erstere der „katholischen Renitenz“. Beide Kreise seien reaktionär und fühlten sich nur aus politischen Gründen einander nahe. Die Deutschen Christen dagegen wollten aufgrund der „Zeitenwende“ über diese Absolutsetzung Luthers hinaus.48 In Bezug auf die Ursachen der Reformation und das Anliegen Luthers dachte Kleine wie Lortz: „Wir katholischen Deutschen sehen heutzutage Martin Luther ganz anders, als noch die Generation der Katholiken vor uns. Wir wissen darum und haben es vielfach schon offen ausgesprochen, dass Schuld zum mindesten in der gleichen Schwere auch die katholische Kirche von damals und in der Folgezeit, besonders die päpstliche Kurie, belastet.“49 Kleine war unermüdlich schriftstellerisch tätig; viele seiner Gedanken wurden in den Rundbrief der Priestergruppe aufgenommen; das meiste blieb jedoch unveröffentlicht. Nur an einer einzigen Stelle in diesem umfangreichen Material nahm er Bezug auf Luthers Schriften über die Juden und das auch nur en passant. Der Kontext war die antisemitisch motivierte Ablehnung des Alten Testaments als „artfremd“. Diese Erkenntnis sei durch die Übersetzung des Alten Testaments durch Luther stark verzögert worden, da Luthers Sprachgewalt die Unvereinbarkeit von jüdischem und deutschem Geist verschleiert habe. In diesem Zusammenhang sprach Kleine Luthers Verhältnis zu den Juden an: „Wir glauben sogar, dass wir Deutsche schon viel früher hier die wahrhaft deutschen und ebenso folgerichtig christlichen Konsequenzen gezogen hätten, wenn nicht der anfängliche Luther, der damals ganz im Gegensatz zum antisemitischen Papst stand, – später wurde er allerdings ein Vorbild echter Judengegnerschaft – aus solchem naivem, übrigens von unseren heutigen rassischen Erkenntnissen noch unberührten Verhalten heraus nicht eine so sprachgewaltige Eindeutschung auch der alttestamentlichen Schriften vorgenommen hätte.“50 Warum nutzten diese Theologen nicht die Vorlage, die ihnen Luthers Schriften für ihren eigenen Antisemitismus boten? Maßgeblich dürfte sein, 47 Zu Kleine vgl. Scherzberg, Adam, 99–124; dies., Katholizismus, 299–334, bes. 318–333. Eine Biographie Kleines und eine Abhandlung zur nationalsozialistischen Priestergruppe werden zurzeit im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes an der Universität des Saarlandes fertig gestellt. 48 Richard Kleine an Karl Adam, 24. 4. 1940 (DA Rottenburg, NL Adam, N 67, Nr. 33, Bl. 356). 49 Richard Kleine, Wiedervereinigung im Glauben, unv. Ms. v. 26. 3. 1944 (nach handschriftlicher Notiz am 27. 3. versandt an Karl Dungs) (Johann Adam Möhler-Institut Paderborn, NL Kleine). 50 Richard Kleine, Das Alte Testament, unv. Ms. v. 16. 9. 1941, 4 f. (Johann Adam Möhler-Institut Paderborn, NL Kleine). Kleine notierte auf dem Manuskript, dass er es einen Tag später an Johann Pircher, den Sekretär der Priestergruppe, geschickt habe.

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dass in der katholischen Literatur die antijüdischen Schriften in der Regel als Negativ-Beispiel auftauchten und der Bezug auf sie die Kritik an Luther illustrieren sollte. Wollte man Luther für Katholiken positiv darstellen, war der Bezug auf diese Schriften nicht geeignet. Auch die revolutionäre Elite, als die sich die NS-Priestergruppe verstand, mochte sich nicht auf Luther als Autorität berufen, einerseits, weil dies in ihren Augen die Bekennende Kirche tat und andererseits, weil sie über jede konfessionelle Orthodoxie hinaus strebte. Den theologischen und rassistischen Antisemitismus versuchten Kleine und auch Karl Adam eher mit Hilfe typisch katholischer Lehraussagen zu legitimieren.51 Nach 1945 finden wir neben den Luther immer positiver rezipierenden Theologen, die über die antijüdischen Schriften schweigen, Theologen und Schriftsteller, die sich mit diesen im Interesse einer Vergangenheitsbewältigung befassen und eine Linie von Luther zu Hitler ziehen. Ich nenne zwei Beispiele. Johannes Oesterreicher52, der vom Judentum zur katholischen Kirche konvertierte, 1938 aus Österreich fliehen musste und in den USA als Gründer und Leiter des Instituts für christlich-jüdische Studien an der Seton HallUniversität hervortrat, wurde von Kardinal Bea zum Mitarbeiter des Sekretariats für die Einheit der Christen berufen, und zwar als Mitglied der Unterkommission, die sich mit dem Entwurf der sog. Judenerklärung für das Zweite Vatikanische Konzil befasste. Oesterreicher hatte sich schon 1946 in der Zeitschrift The Dublin Review über Luthers Antisemitismus geäußert.53 In diesem Artikel finden sich bereits Aussagen, die später in das Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den anderen Religionen Nostra Aetate eingingen bzw. Gegenstand intensiver historischer, politischer und theologischer Debatten wurden, z. B. über die bleibende Erwählung Israels und die Singularität des Holocaust. „One cannot treat the Jewish question without recalling these atrocities, whose vast extent and factory-like precision are without precedent in history.“54 Hinsichtlich der späten Schriften Luthers schloss sich Oesterreicher der Deutung an, dass sie aus der Enttäuschung über die nicht erfolgte Bekehrung der Juden entstanden seien. Luther habe sich von der Bekehrung der Juden die Legitimation erhofft, den Papst als den in der Endzeit auftretenden Antichrist bezeichnen zu können. Die Linie von Luther zu Hitler sei Teil eines häretischen Stromes, der das Christentum von Israel abtrennen wolle. Er reiche von Marcion, „dem ersten Protestanten“55, über Luther, einen weiteren Marcion, bis hin zu Hitler. Gemeinsam sei allen dreien, dass sie dem Menschen die Fähigkeit absprächen, 51 Z. B. unter Bezug auf die Bewahrung der Gottesmutter Maria vor der Erbsünde, vgl. Scherzberg, Adam, 137–140. 52 Zur Person s. Recker, Wegbereiter, 310–399. 53 Oesterreicher, Jewish Question, 137–151. 54 Ebd., 142. 55 Ebd. 139.

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„capax dei“ zu sein, d. h. Gott erkennen und sich ihm nähern zu können. Hitler verkörpere den Höhepunkt dieser Entwicklung, weil er die Zeichen der bleibenden Erwählung Israels erkannt und seine Opfer ihrer Fähigkeit, Gott zu erkennen und sich ihm zu nähern, beraubt habe56. „According to Marcion, man was barred by nature from the knowledge of God – of his God; Luther held that in all things spiritual man was like a senseless, even lifeless, statue. Marcion said man could not know God save by the Gospel; Luther taught that he could not make any move towards Him; Hitler, however, himself hindered man from knowing or approaching God. No longer was man to be capax Dei, a creature whose heart is ample for God; no longer to be born to pray or praise, nor to be made for love.“57 Das Buch des bekannten österreichischen Publizisten und Kulturhistorikers Friedrich Heer58 „Gottes erste Liebe“ von 1967, das der Aufdeckung des Antisemitismus in allen Konfessionen dienen und den Einfluss des österreichischen Katholizismus auf Hitler nachzeichnen wollte, ist im Blick auf Luther ein Konglomerat verschiedenster psychologischer bzw. psychologisierender Theorien. Heer bezeichnete Luther analog zu Hitler als großen Enthemmer, der die Rachebedürfnisse des Volkes geweckt habe. „Seine EnthemmerFunktion für das deutsche Volk kann nur mit der des ihm so unebenbürtigen Enthemmers im 20. Jahrhundert verglichen werden. Der Mönch Martin Luther enthemmt, entbindet die Ängste, die Verzweiflung, den Haß, die Liebeskraft, die Wut, die Trauer, den Trotz … Luther entbindet nicht zuletzt ein riesiges Rachebedürfnis im deutschen Volk: Dieses Volk möchte sich endlich an den hohen Herren, an den adeligen Schurken, an dem Hochklerus und den Mönchen, an Rom, an allen seinen äußeren und inneren Feinden einmal rächen. Dieses Volk möchte sich endlich einmal an seinem Gott rächen: an diesem furchtbaren, unverständlichen, mörderischen Gott der Rache. An diesem Gott der Juden.“59 Die antisemitischen Schriften reflektierten den Verfall des alten Luther und seien getragen von der Angst vor jüdischer Infiltration der Reformation durch judaisierende Menschen und von der Konkurrenz um den Besitz der Bibel. Erklärbar seien sie nur vor dem Hintergrund des Scheiterns der Reformation. „Von all den großen Hoffnungen, die in Europa schließlich auf großen Friedhöfen zu Grabe getragen wurden, war Luther eine der allergrößten. Luther weiß 56 Die bleibende Erwählung Israels vergleicht Oesterreicher hier mit dem character indelebilis der Taufe, dem unauslöschlichen Merkmal, das die Taufe dem Menschen einpräge. Ebd., 141. 57 Ebd., 141 f. 58 Zu Heer vgl. Faber / Scheichl (Hg.), Heer, darin bes. den Artikel des evangelischen Exegeten Ebach, Bibelexeget, 65–84, bes. 70 f., sowie Gaisbauer, „Heer-Bilder“, 251–312, der ein neues Licht auf Heers Biographie wirft, insofern er aufgrund intensiven Quellenstudiums zu dem Schluss kommt, dass Heers Selbstdarstellung als Gründer einer universitären Widerstandsgruppe, von der Gestapo Verfolgter und mehrfach Verhafteter und Gefolterter nicht der Wahrheit entspricht. 59 Heer, Liebe, 181 f.

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das selbst. In seinem Zorn, seinem Haß, seinem Wüten gegen die Hure Kirche, den Papst, den Teufel, die Juden, gegen die Schwärmer und gegen den linken Flügel seiner eigenen Bewegung spricht sich nicht zuletzt die Trauer, die Verzweiflung über das große Scheitern aus.“60 Der katholische Ökumeniker Johannes Brosseder strebte mit seiner 1970 fertig gestellten und zwei Jahre später veröffentlichten Dissertation61 an, das theologische Problem der antijüdischen Schriften Luthers herauszuarbeiten. Den Hintergrund bildeten der Missbrauch Luthers während der Zeit des Nationalsozialismus und das gewandelte katholische Lutherbild.62 Der junge Assistent von Heinrich Fries betrachtete Luther als großen Theologen und Glaubenszeugen und rechnete ihn aufgrund der Ergebnisse der jüngeren Lutherforschung gewissermaßen mit zur eigenen Tradition.63 In der Analyse der frühen und späten Schriften lehnte Brosseder die Theorie der Diskontinuität ab und kam im Rekurs auf verschiedene evangelische Forscher zu dem Ergebnis, dass Luthers Beurteilung des Judentums unmittelbar mit seiner Rechtfertigungslehre zusammenhänge.64 Auch die geforderten harten Maßnahmen gegen die Juden seien keine bloß praktisch-rechtlichen Konsequenzen, die man ablehnen könne, ohne dass die Theologie betroffen wäre. Der Zorn Gottes gegen die Sünde, deren Kern der Unglaube, d. h. die Ablehnung des in Christus zu unserem Heil Geschehenen, sei, müsse sich in Luthers Sichtweise konsequenterweise auf die Juden erstrecken, die Jesus Christus nicht als Messias und Gottessohn annahmen. Die „scharfe Barmherzigkeit“ repräsentiere die Funktion des Gesetzes, die Sünde aufzudecken und den Sünder zum Evangelium zu führen. Brosseder fand sich nun in dem Dilemma wieder, dass er an der zentralen Bedeutung der Rechtfertigungslehre – auch für die Katholiken – festhalten, aber Luthers Beurteilung des Judentums nicht mit vollziehen wollte. So attestierte er Luther eine problematische Universalisierung der Rechtfertigungslehre. Luther habe nicht erkennen können, dass sie die Antwort auf bestimmte menschlich-religiöse Fragen seiner Zeit und aus einer bestimmten Erfahrung heraus entstanden sei. Für diese Frage sei die Antwort Luthers unbedingt gültig; die Frage nach der christlichen Einstellung zum Judentum sei aber eine eigenständige, andere religiöse Frage des Christentums. Hier stehen unausgesprochen der Holocaust im Hintergrund und die Frage, wie sich die christlichen Kirchen angesichts dessen zum Judentum positionieren und wie sie sich selbst gegenüber dem Judentum begreifen. Auch wenn Brosseders Lösung nicht wirklich zufrieden stellt, ist die Arbeit interessant, weil sich hier die beiden Strömungen der Zeit nach 1945 in einem allerdings noch recht stillen Konflikt treffen – die relativ homogene und 60 61 62 63 64

Ebd., 186. Brosseder, Stellung. Vgl. ebd., 31 f. Vgl. ebd., 33, 34. Zum Folgenden vgl. ebd., 381–392.

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deutlicher präsente Strömung der neuen katholischen Luther-Begeisterten, die den Antisemitismus Luthers gerne verschweigen, und die heterogene derjenigen, welche die Shoah als nicht hintergehbares Datum für die christliche Rede über das Judentum ansehen.65 Erst im Lutherjahr 1983 finden wir das nächste Beispiel. Der Freiburger Kirchenhistoriker und Jedin-Schüler Remigius Bäumer setzte sich intensiv mit der Behauptung auseinander, ob Luther und sein altgläubiger Gegner Johannes Eck in ihren antijüdischen Äußerungen vergleichbar seien bzw. Eck Luther in dieser Hinsicht noch übertreffe.66 Diese These sei bereits von Heinrich Graetz in seiner „Geschichte der Juden“ aufgestellt und von Ismar Elbogen 1935 aufgegriffen worden. Auch auf nationalsozialistischer Seite habe es Harmonisierungsversuche gegeben in der Absicht, deutsche antijüdische Gemeinsamkeit zu beschwören. Allerdings sei auch in der neueren katholischen und evangelischen Kirchengeschichtsforschung diese Behauptung aufgestellt worden. Bäumer nennt Johannes Brosseder und auf evangelischer Seite Heiko A. Obermans „Wurzeln des Antisemitismus“ von 1981. Letzterer habe sogar betont, dass Ecks Schrift „Ains Judenbüchlins Verlegung“ von 1541 alle antijüdischen Äußerungen von reformatorischer Seite noch übertroffen hätte. Dieses Urteil Obermans habe die weitere Forschung stark beeinflusst. Bäumer bemängelte die fehlende Untersuchung der Quellen in der Literatur, die sich mit Ecks Beurteilung der Juden befasst. Entweder werde nur Sekundärliteratur herangezogen oder Ecks Haltung gegenüber den Juden – wie z. B. in Erwin Iserlohs Eck-Biographie – gar nicht thematisiert. Bäumer stellte nun selbst die o.g. Schrift Ecks vor, die als Widerlegung eines von einem Christen verfassten Büchleins gedacht war, das gegen die Ritualmord-Vorwürfe und die Blut-Beschuldigungen gegen die Juden Stellung genommen hatte. Eck gab an, dieses Buch zur Prüfung erhalten zu haben. Er kritisiere es umso lieber, als es von einem lutherischen Verfasser stamme – Eck vermutete Osiander – und ihm die Gelegenheit gebe, den schlechten Baum an seinen bösen Früchten zu identifizieren. Bäumer gestand nun zu, dass die 25 Kapitel des Buches tatsächlich voll von antijüdischen Äußerungen seien, die vor allem um die Vorwürfe des Ritualmordes und der Sakramentschändung kreisten. Eck sei der festen Überzeugung gewesen, dass diese Vorwürfe der Realität entsprachen; er berufe sich neben einschlägiger Literatur und „Geständnissen“ konvertierter Juden auf seine eigene Erfahrung mit einem entsprechenden Fall. Auch eine ganze Reihe von diskriminierenden Vorschriften, wie das Tragen eines Erkennungszeichens, das Ausgehverbot in der Karwoche und die Verweigerung von Doktortiteln oder öffentlichen Ämtern würden von 65 Im katholisch-jüdischen Dialog und in der katholischen Theologie nach Auschwitz spielt die Auseinandersetzung mit Luthers „Judenschriften“ allerdings, soweit ich das sehe, keine Rolle. 66 Vgl. B•umer, Juden, 253–278; ders., Antijudaismus, 5–7. Zu Eck vgl. auch den Sammelband B•rsch / Maier, Johannes Eck

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Eck gefordert. Jedoch, hob Bäumer hervor, begründe Eck im 22. Kapitel die Duldung der Juden durch die Kirche und fordere ihre Behandlung im Rahmen eines Toleranzrechtes. Er begründe dies mit der Zugehörigkeit Jesu, Mariens und der Apostel zum jüdischen Volk und der Erbauung der Kirche aus den Juden, mit dem Alten Testament und den Propheten als Zeugnis von Christus, mit der Sichtbarkeit der Strafe Gottes für die Juden in der Zerstreuung und der allgemeinen Verachtung der Juden und schließlich mit der Notwendigkeit, dass die eschatologische Verheißung von der Bekehrung der Juden erfüllt werde. Bäumer fasste zusammen, dass es zwar viele Übereinstimmungen zwischen Luther und Eck in Bezug auf die Juden gebe, dennoch aber gewichtige Differenzen festzustellen seien, die es nicht erlaubten, beide als gleich oder gar Eck als schlimmer zu bezeichnen. Wo Luther fordere, die Synagogen in Brand zu stecken, spreche Eck von der Möglichkeit einer Ausbesserung der alten Synagogen; wo Luther die Juden verjagen und ihre Geschäftsausübung vereiteln wolle, fordere Eck die Duldung des Handels und die Respektierung ihrer religiösen Gebräuche; wo Luther von Zwangsdiensten spreche, zu denen die Juden herangezogen werden sollten, spricht Eck von der Unbilligkeit einer solchen Verpflichtung. „So ergibt ein Vergleich der Aussagen Luthers und Ecks über die Juden – neben Übereinstimmungen – einige Differenzen. Die herkömmliche Behauptung, daß Eck ebenso antijüdisch wie Luther war, hält aber einer Überprüfung nicht stand. Denn während Eck, wie die Lektüre des 22. Kapitels seines Judenbüchleins zeigt, für eine relative Duldung der Juden eintrat, ermunterten Luthers Vorschläge und Aussagen von 1543 zu scharfem Vorgehen gegen die Juden. Angesichts des maßlos groben, keine Schmähungen und Verleumdungen scheuenden Tones in Luthers Schriften von 1543, kann man nicht behaupten, Eck habe alle Reformatoren an Judenfeindschaft übertroffen.“67 Bäumers quellenorientierte Differenzierung des Vergleichs zwischen Luther und Eck dürfte durch die Befürchtung inspiriert worden sein, dass mit der Etikettierung Ecks als schlimmerer Judenfeind eine Luther-Apologetik und konfessionelle Selbstbestätigung auf Kosten der katholischen Seite betrieben werden sollte. Dies belegt seine Äußerung andernorts: „Auf jeden Fall hält die verschiedentlich versuchte Rechtfertigung von Luthers Antijudaismus mit dem Hinweis auf Eck einer Überprüfung nicht stand.“68 Auch die Kritik an Gottfried Maron, der in einer Besprechung der Festschrift für Erwin Iserloh die Hoffnung geäußert hatte, dass aus der Beschäftigung mit den katholischen Theologen des 16. Jahrhunderts „nicht falsche Aufwertung und nicht konfessionelle Selbstbestätigung erwächst“69, ging in dieselbe Richtung. Bäumer 67 B•umer, Juden, 278. 68 B•umer, Antijudaismus, 7. 69 Zit. nach B•umer, Juden, 264, Anm. 74. Es handelt sich um die von Bäumer unter dem Titel „Reformatio ecclesiae“ herausgegebene Festschrift, erschienen Paderborn 1980. Marons Rezension wurde in der ZKG 94 (1983) 102–103, veröffentlicht; das Zitat stammt von S. 103; vgl. dazu auch Maron, Lutherbild.

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kommentierte Marons Befürchtung so: „Angesichts der Lutherfeiern in diesem Jahre hätte eine solche Besorgnis eher für den Protestantismus eine Berechtigung.“70 Die Sorge um eine Indienstnahme und Ideologisierung des bevorstehenden Gedenkjahres der Reformation prägt auch einen Artikel des Journalisten Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung.71 Drobinski beschreibt darin anschaulich die Vorbereitungen in Wittenberg für die Veranstaltungen im Jahr 2017, die anscheinend den Charakter eines „Mega-Events“ haben sollen, und kontrastiert dies mit den Forschungen des Literaturwissenschaftlers Dietz Bering und des (evangelischen) Historikers Hans Schilling über Luther. Bering bezeichne Luther als einen Antisemiten „aus Enttäuschung, aus Nähe“; Schilling halte die Botschaften der evangelischen Kirche über Luther für Vereinnahmungen, z. B. das Bemühen, sich im Rekurs auf Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ als „Kirche der Freiheit“ darzustellen. „Für Schilling sind das Vereinnahmungen“, schreibt Drobinski, „die mit dem, was wirklich war, nur wenig zu tun haben. Luther, der Reformator? Andere vor ihm dachten ähnlich. Der den Deutschen die Bibel brachte? Es gab frühere Übersetzungen. Der den Christenmenschen die Freiheit gab? Luthers Freiheitsverständnis und das eines heutigen Europäers haben so gut wie nichts miteinander zu tun; er war ein spätmittelalterlicher Mensch, getrieben von der Angst vorm Teufel und vor der Hölle.“ Drobinski erinnert an die große Vereinnahmung Luthers zu seinem 500. Geburtstag im Jahr 1983 durch die DDR, die Luther als frühbürgerlichen Revolutionär feiern wollte. Auch damals hätten Historiker einer solchen Ideologisierung widersprochen. Wenn man Luther als Antisemiten bezeichnen müsse, sei es dann möglich, ihn zu feiern? „Und so einen soll man feiern, mit großem Event und fröhlichem Kirchentag, mit pop-art-verfremdetem Konterfei, mit Luther-Luftballons, Luther-Bonbons zu Halloween, LutherSocken (,hier stehe ich, ich kann nicht anders‘), mit hüfthohen Lutherfiguren aus Plastik, die jetzt in den Caf¦s in Wittenberg stehen? Ja, aber zurückhaltend und ohne Triumphalismus, sagt Dietz Bering. Und getroffen von der Erkenntnis, dass sich in Luthers Hass aus Nähe die gesamte deutsch-jüdische Geschichte spiegelt: Ausgerechnet das Land der Judenemanzipation wurde zum Land der Judenmörder.“

70 B•umer, Juden, 264, Anm. 74. 71 Drobinski, Nicht zu glauben (auch für die folgenden Zitate).

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Schluss Die konfessionsstrategischen Interessen, welche die katholische Rezeption der „Judenschriften“ begleiteten, lassen sich also, wie folgt, zusammenfassen. Döllinger und Hergenröther dienten sie dazu, der Reformation und dem Protestantismus des 19. Jahrhunderts eine innere Zersetzung zu attestieren. Von katholischen Antisemiten auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert wurden sie für ihren Antisemitismus und Antiliberalismus instrumentalisiert. Im frühen 20. Jahrhundert lässt sich bei Denifle im Kontext der sog. Modernismuskrise eine konfessionelle Polemik feststellen, die vor allem für eine Stärkung und Homogenisierung der eigenen Reihen sorgen sollte. Grisars Interesse richtete sich auf psychologische Erklärungen und eine Pathologisierung Luthers; andererseits korrigierte er zahlreiche Auswüchse katholischer Luther-Polemik und signalisierte eine gewisse Übereinstimmung mit den antijüdischen Äußerungen des Reformators. In den 30er und 40er Jahren wurden die antijüdischen Schriften Luthers im Interesse einer Veränderung des katholischen Lutherbildes in den Hintergrund gedrängt. NS-affine Theologen nutzten sie nicht zur Untermauerung ihres eigenen Antisemitismus, sondern gaben wesentliche Impulse zu einer Revision des katholischen Luther-Verständnisses. Theologen, die nach 1945 dieses erneuerte Lutherbild ohne diese politischen Implikationen übernahmen, behielten das Schweigen über die antijüdischen Schriften Luthers bei, vermutlich, weil sie fürchteten, dass sie der Ökumene schaden könnten. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit erfolgte nicht. Diese wurde von Autoren, wie Friedrich Heer oder Johannes Oesterreicher, zwar angestrebt, durch mangelnde Differenzierung aber nicht wirklich erreicht. Johannes Brosseder war anscheinend der Einzige, den das Problem beschäftigte, wie sich die neue Hochschätzung Luthers und der Rechtfertigungslehre mit einer katholischen Theologie vertrug, die das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum radikal auf den Prüfstand gestellt hatte. Allerdings war auch er nicht in der Lage, das Problem als solches wirklich zu diagnostizieren oder zu lösen. Schließlich ist im Zusammenhang mit Luther- und Reformationsjubiläen die Auseinandersetzung mit Luthers antijüdischen Äußerungen mit dem Interesse verbunden, die Schwesterkirche vor einem konfessionellen Triumphalismus bzw. einer übermäßigen Konzentration auf den Event-Charakter des Gedenkens und der damit verbundenen Kommerzialisierung zu warnen oder zu bewahren.

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Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Diözesanarchiv Rottenburg N 67: Nachlass Karl Adam Nr. 33, Bl. 356: Richard Kleine an Karl Adam, 24. Mai 1940

Johann Adam Möhler-Institut Paderborn Nachlass Richard Kleine Das Alte Testament, unv. Ms. v. 16. September 1941 Wiedervereinigung im Glauben, unv. Ms. v. 26. März 1944

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen B•rsch, Jürgen / Maier, Konstantin (Hg.): Johannes Eck (1486–1543). Scholastiker – Humanist – Kontroverstheologe. Regensburg 2014. B•umer, Remigius: Antijudaismus bei Johannes Eck. In der Judenfeindschaft übertraf ihn Luther. In: KNA – Ökumenische Information, Nr. 38 vom 5. 9. 1984, 5–7. –, Die Juden im Urteil von Johannes Eck und Martin Luther. In: Münchener Theologische Zeitschrift 34 (1983), 253–278. Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Göttingen 1999. Brombacher, Kuno / Ritter, Emil (Hg.): Sendschreiben katholischer Deutscher an ihre Volks- und Glaubensgenossen. Münster 1936. Brosseder, Johannes: Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten. Interpretation und Rezeption von Luthers Schriften und Äußerungen zum Judentum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum. München 1972. Denifle, Heinrich: Luther und Luthertum in der ersten Entwickelung. Quellenmäßig dargestellt. Bd 1. Schlußabteilung, 2. durchgearb. Aufl., erg. u. hg. von Albert Maria Weiß O.P. Mainz 1906. Dçllinger, Ignaz von: Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des lutherischen Bekenntnisses. Bd. 3. Regensburg 1948. Drobinski, Matthias: Nicht zu glauben. Deutschland, die Stadt Wittenberg und die evangelische Kirche wollen Martin Luther feiern. Doch manchem, der seine verstörende Geschichte mit den Juden kennt, ist dabei unwohl. In: Süddeutsche Zeitung v. 11. 11. 2014, 3.

„Luther und die Juden“ in der katholisch-theologischen Wahrnehmung 287 Ebach, Jürgen: Der Bibelexeget und Bibelrezipient Friedrich Heer. In: Faber, Richard / Scheichl, Siguard Paul (Hg.): Die geistige Welt des Friedrich Heer. Wien / Köln / Weimar 2008, 65–84. Faber, Richard / Scheichl, Sigurd Paul (Hg.): Die geistige Welt des Friedrich Heer, Wien / Köln / Weimar 2008. Fink-Lang, Monika: Joseph Görres. Die Biographie. Paderborn 2013. Finsterhçlzl, Johann: Die Kirche in der Theologie Ignaz von Döllingers bis zum ersten Vatikanum, aus dem Nachlass hg. v. Johannes Brosseder. Göttingen 1975. Gaisbauer, Adolf: „Heer-Bilder“ oder ein „Widerruf“ mit Folg(erung)en. In: Faber, Richard / Scheichl, Sigurd Paul (Hg.): Die geistige Welt des Friedrich Heer. Wien / Köln / Weimar 2008, 251–312. Grisar, Hartmann: Luther. 3 Bde. Freiburg 1911–1912. –, Martin Luthers Leben und sein Werk, Freiburg 1926. Heer, Friedrich: Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler. München u. a. 1967, 181 f. Hergenrçther, Joseph: Anti-Janus. Eine historisch-theologische Kritik der Schrift „Der Papst und das Concil“ von Janus. Freiburg 1870. Herte, Adolf: Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus. Bd. 2: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die neueste Zeit. Deutschland. Münster 1943. Iserloh, Erwin: Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriß. Paderborn 1980. Jedin, Hubert: Die Erforschung der kirchlichen Reformationsgeschichte seit 1876. Leistungen und Aufgaben der deutschen Katholiken. (Münster 1931) Darmstadt 1975. Joseph Kardinal Hergenrçthers Handbuch der allgemeinen Kirchengeschichte, neu bearb. v. Johann Peter Kirsch. Bd. 3: Der Verfall der kirchlichen Machtstellung, die abendländische Glaubensspaltung und die innerkirchliche Reform. Freiburg 51915. Kaufmann, Thomas: Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung. Tübingen 2011. Landersdorfer, Anton: Albert Maria Weiß OP (1844–1925). Ein leidenschaftlicher Kämpfer wider den Modernismus. In: Wolf, Hubert (Hg.): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums. Paderborn 1998. Lautenschl•ger, Gabriele: Joseph Lortz (1887–1975). Weg, Umwelt und Werk eines katholischen Kirchenhistorikers. Würzburg 1987. –, Lortz, Joseph Adam. In: BBKL 5 (1993), 241–244. Leugers-Scherzberg, August H.: Felix Porsch 1853–1930. Politik für katholische Interessen in Kaiserreich und Republik (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 54). Mainz 1990. Lortz, Joseph / Iserloh, Erwin: Kleine Reformationsgeschichte. Ursachen – Verlauf – Wirkung. Freiburg 1969.

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„Luther und die Juden“ in den kirchenpolitischen Stellungnahmen und Entwicklungen seit 1945

1. Vorbemerkung: Zwei Schlaglichter Im Jahr 1980 verabschiedete die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland den Beschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“.1 Dem Beschluss haben drei Synodale nicht zugestimmt. Sie gehörten dem lutherischen Konvent an und hatten vorher versucht, die Abstimmung zu verhindern, indem sie den „konfessionellen Notstand“2 für gegeben ansahen. Sie sahen in der Synodalerklärung einen „Verrat an der Theologie Luthers“.3 Heinz Kremers führte die ablehnende Haltung der drei Lutheraner auf deren Festhalten an Luthers theologischem Antijudaismus zurück.4 Bei der nächsten Sitzung des Rates der EKD warfen lutherische Bischöfe dem rheinischen Präses vor, mit dem Synodalbeschluss „in unverantwortlicher Weise aus der bisher eingenommenen Stellung der evangelischen Kirchen in Deutschland zum jüdischen Volk ausgebrochen“ zu sein.5 Das war 1980. Sibylle Biermann-Rau plädiert am Ende ihres 2012 erschienenen Buches „An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen“ dafür, dass die EKD sich öffentlich und verbindlich im Rahmen der Reformationsdekade zu „Martin Luthers Irrweg der Judenfeindschaft“ äußern solle.6 Sie vermerkt eine positive Entwicklung im Umgang mit Luthers Antijudaismus in den nichtdeutschen Kirchen und in einzelnen deutschen Landeskirchen. „Ein prägnantes und verbindliches Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Luthers Judenfeindschaft steht aber immer noch aus.“7 Ja, die Autorin geht noch weiter : „Die Absage an den Antijudaismus und insbesondere den von Martin Luther halte ich für eine Bekenntnisfrage. Gehört eine solche Absage nicht in die Grundordnung einer Kirche, die sich lutherisch nennt?“8

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Text in Rendtorff / Henrix, Kirchen, Bd. I, 593–596 (E.III.29). Vgl. dazu Kremers, Juden, XVII–XVIII. Ebd., XVIII. Ebd., XVIII. Ebd., XVIII. Biermann-Rau, Synagogen, 306. Ebd., 308. Ebd., 310.

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Nun lässt sich darüber streiten, ob Martin Luthers Antijudaismus geeignet ist, so etwas wie eine „Bekenntnisfrage“ zu stellen.9 Und Grundordnungen von Kirchen enthalten in der Regel keine Absagen, sondern beschreiben positiv, worauf sich Kirchen gründen. Die Frage nach einem verbindlichen Wort der EKD bleibt gleichwohl bestehen und wird am Schluss dieses Beitrages noch einmal aufgegriffen. Zum Vorgehen im Folgenden sei noch vorausgeschickt: Neben den offiziellen Verlautbarungen der Kirchen zum Thema „Luther und die Juden“ gibt es eine Reihe von Äußerungen zum umfassenderen Thema „christlicher Antijudaismus/Antisemitismus“. Letztere werden im Folgenden nicht berücksichtigt.10 Analog zur Beschäftigung mit der Bedeutung der Judenschriften Luthers in der Kirchengeschichtsforschung seit 1945 lassen sich auch beim Umgang mit dem Thema „Luther und die Juden“ in kirchlichen Erklärungen verschiedene Phasen unterscheiden. Harry Oelke erkennt in seinem Beitrag drei Phasen, die er folgendermaßen überschreibt: 1. Beschwerliche Selbstfindung (1945–1960); 2. Ein fälliges Thema (1960–1985); 3. Historisierung und Differenzierung (seit 1985).11 Diese Phasen lassen sich parallel – wenngleich zeitlich etwas verschoben – auf den Umgang mit dem Thema „Luther und die Juden“ in kirchlichen Verlautbarungen anwenden.

2. Überblick über kirchliche Erklärungen und Stellungnahmen zu Luthers Judenschriften12 2.1. Erste Stellungnahmen aus den Kirchen in Deutschland13 Bis ins Jahr 1980 gibt es von Seiten der Kirchen in Deutschland keine Stellungnahme zum Problem. Erstmals 1980 wird diese Fragestellung in einer offiziellen Erklärung benannt und zwar in einem Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union: „Kirche als ,Gemeinde von 9 Schon aus historischen Gründen sollte man mit der Feststellung des „status confessionis“ vorsichtig sein. Biermann-Rau gebraucht das Stichwort vermutlich nicht im präzisen theologischen Sinn. 10 Auch werden im Wesentlichen nur offizielle Verlautbarungen berücksichtigt und nicht ,halboffizielle‘ oder ,offiziöse‘. 11 Vgl. den Beitrag in diesem Band: Oelke, Harry, ,Luther und die Juden‘ in der kirchengeschichtlichen Forschung seit 1945. 12 Die folgenden Zitate aus kirchlichen Erklärungen stammen, wenn nicht anders angegeben, aus: Rendtorff / Henrix, Kirchen, Bd. I, bzw. aus Henrix / Kraus, Kirchen, Bd. II. Die Seitenzahlen stehen jeweils in Klammern, die Zählung der Dokumente bezieht sich auf die in den beiden Bänden angewandte Systematik. Band I enthält allerdings – entgegen dem Titel – auch einige Texte, die bereits ins Jahr 1986 gehören (K.I.33; J.7; J.8). 13 Vgl. zur Sache auch Volkmann, Positionsbestimmungen, 297–303, bes. 299.

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Brüdern‘ (Barmen III)“ vom Mai/Juni 1980 (E.III.31). Der Theologische Ausschuss stellt hier die Frage: „Ist es in das Bewußtsein der evangelischen Christen wirklich eingedrungen, daß wir in den Fragen ,Israel und die Kirche‘ und ,Die Kirche und die Juden‘ mit der kirchlichen Tradition – zu der auch Luther etwa mit seiner Schrift ,Von den Juden und ihren Lügen‘ (1543) beigetragen hat – brechen müssen?“ (601)

Und der Ausschuss stellt fest: „Nach Röm 11,26 bleibt ganz Israel unter der Verheißung endgültiger Rettung, obwohl es in seiner Mehrzahl zu Jesus als dem Christus sein Nein sprach und weiter spricht.“ (601) Der Ausschuss nimmt damit eine Aussage auf, die sich in kirchlichen Dokumenten erstmals in dem „Wort zur Judenfrage“ des Bruderrates der EKD vom 8. April 1950 findet14 : Die Verheißung Gottes gegenüber seinem Volk Israel ist weiterhin gültig, heißt es dort. Dies anzuerkennen, bedeutet einen Bruch mit Teilen der Tradition, auch wenn dies erst langsam erkannt wurde. Im Lutherjahr 1983 veröffentlichte die EKD eine Stellungnahme zum Thema „Martin Luthers Gegenwart 1983“ (E.III.32). Es werden darin verschiedene Fehlentwicklungen angesprochen, die sich aus der Reformation ergeben haben. Am Schluss des 2. Hauptabschnittes findet sich eine Distanzierung von den Aussagen des „alten Luther“: „So wichtig Luthers frühe Schrift über die Juden auch noch heute ist, so verhängnisvoll wurden Äußerungen des alten Luther. Niemand kann sie heute gutheißen.“ (605)

Die Chance, im Lutherjahr eine substantielle Auseinandersetzung mit Luthers Judenschriften einzuleiten, wurde verpasst. Erst im Jahr 1988 meldeten sich dann in Deutschland wieder kirchliche Stimmen zum Thema zu Wort. Im Kontext der Erinnerung an den 50. Jahrestag des Novemberpogroms veröffentlichten die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland und die Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens jeweils Stellungnahmen.15 Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland formulierte in ihrem „Beschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden – Überlegungen im Blick auf die 50. Wiederkehr des Jahrestages der Synagogenbrände“ vom 15. Januar 1988 (E.III.5‘): „Die Geschichte der christlichen Abwendung vom jüdischen Volk, die diesem die Rolle des Sündenbocks zuwies, reicht bis in die frühen Phasen des Christentums zurück. In diese Geschichte gehört auch der ,treue Rat‘ des Reformators Martin Luther, ,daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke‘.“ (558) 14 Text bei Rendtorff / Henrix, Kirchen, Bd. I, 540–544. 15 Auffällig ist, dass 1988 in den offiziellen Stellungnahmen der EKD und BEKDDR zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome im Unterschied zur sächsischen Landeskirche der Hinweis auf Luther fehlt (vgl. E.III.7‘ mit E.III.12‘).

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Und die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens äußerte in ihrem „Wort aus Anlaß des 50. Jahrestages der Pogromnacht vom 9. 11. 1938“ vom 25. Oktober 1988 (E.III.12‘): „Unser Reformator Dr. Martin Luther hatte zunächst die Hoffnung, die Juden ließen sich vom Evangelium gewinnen, wenn es ihnen nur rein und in Liebe nahegebracht würde. Doch als sich diese Hoffnung nicht erfüllte, ließ er sich im Laufe seines Lebens immer mehr zu einem verwerflichen Judenhaß verleiten.“ (577)

Während in der Äußerung der Evangelischen Kirche im Rheinland Luther eher deskriptiv in die Geschichte des Antijudaismus eingereiht wird, distanziert sich die sächsische Landeskirche mit dem Stichwort „verwerflichen Judenhaß“ erkennbar von Luther.

2.2 Das weltweite Luthertum Ein anderer Blickwinkel tut sich auf, wenn wir den internationalen Rahmen betrachten. Der Lutherische Weltbund (LWB) hat sich in den Jahren 1969, 1982 und 1984 zum Thema zu Wort gemeldet. Der 1964 eingesetzte „Ausschuss für die Kirche und das jüdische Volk“ veröffentlichte im April 1969 einen Bericht „Zur Theologie des Verhältnisses von Kirche und jüdischem Volk“ (E.I.11). Im Zusammenhang der Ekklesiologie als Konsequenz der ,theologia crucis‘ heißt es: „Wir sind überzeugt, daß die zentrale Stellung des Kreuzes und der Auferstehung Jesu fundamentale Konsequenzen für das Verständnis der Kirche hat. Luther hat das in einzigartiger Weise gesehen und ausgesprochen. […] Luther lehnte jede Art von theologia gloriae ab, jeden Versuch also, Gott und seine Taten und Werke (einschließlich der Kirche) nur unter dem Gesichtspunkt von Macht, Herrschaft, Sieg und Triumph zu sehen und zu verkündigen. Luther versagte jedoch angesichts dieses theologischen Paradoxes, dem er sich in seiner Zeit gegenüber sah. Das kann man an seinen späten Schriften gegen die Juden sehen.“ (366 f)

Danach werden Luthers späte Schriften als „polemische Abhandlungen“ qualifiziert und es heißt, dass Luther „in einigen seiner späten Schriften“ die Juden auf „grausame und gefährliche Weise angegriffen“ habe. Zugleich wird eine christliche Verantwortung für das Existenzrecht der Juden benannt: „In diesen polemischen Abhandlungen bricht doch eine theologia gloriae durch. Luthers Angst um die Existenz der Kirche wurde so stark, daß er es nicht mehr fertig brachte, die Zukunft in Gottes Hand zu stellen, sondern daß er im Vorgriff auf das, was er als Gottes zukünftiges Gericht verstand, die weltliche Gewalt aufrief, dieses Gericht in der Gegenwart vorwegzunehmen. Damit überschritt er die Grenzen der menschlichen Autorität, ganz zu schweigen vom Gebot der Liebe. […] Weil Menschen, die in der christlichen Tradition standen, tief und tragisch in die Verfolgung

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des jüdischen Volkes verstrickt gewesen sind, weil Luther in einigen seiner späten Schriften die Juden auf grausame und gefährliche Weise angegriffen hat, und weil die Existenz der Juden als einer weltweiten Gemeinschaft auch heute noch bedroht ist, erklären wir uns als Christen verantwortlich für ihr Recht, als Juden existieren zu können.“ (367)

Es handelt sich bei dieser Erklärung von 1969 um die erste offizielle Stellungnahme überhaupt, die sich auf evangelischer Seite findet. Im August 1982 veröffentlichte der Lutherische Weltbund im Vorblick auf das Lutherjahr 1983 einen umfangreichen Bericht, der aus einer Konsultation der Studienabteilung hervorgegangen war : „Die Bedeutung des Judentums für Leben und Mission der Kirche“ (E.I.21). Neben grundsätzlichen Themen, die im Verhältnis von Christen und Juden relevant sind (Altes Testament, Verständnis von Erlösung und Glaubensgehorsam, Sendung in die Welt), werden am Schluss Aufgaben für die Zukunft benannt. Dabei heißt es im ersten Abschnitt, der auf die „Entfremdung zwischen Christen und Juden“ eingeht: „Als Lutheraner haben wir ein besonderes Problem: Im kommenden Jahr begehen wir den 500. Geburtstag Martin Luthers. Er machte in seinen letzten Lebensjahren gewisse bissige Äußerungen über die Juden, die von den lutherischen Kirchen heute durchweg abgelehnt werden. Wir bedauern die Art und Weise, in der Luthers Aussagen dazu gebraucht worden sind, den Antisemitismus zu fördern.“ (427)

Anschließend formuliert der Bericht als Aufgabe für das Lutherjahr 1983, dass der Frage nach dem Verhältnis Luthers zum Judentum „ein beträchtliches Maß an Aufmerksamkeit gewidmet werden“ muss (427). Dazu ist es dann jedoch nicht gekommen. Auch die Formulierung selbst bietet Anlass zu Nachfragen. Streng genommen äußert die Erklärung ihr Bedauern eher gegenüber der (missbräuchlichen?) Rezeption als gegenüber Luthers Äußerungen selbst, die das Papier mit dem Prädikat „gewisse bissige Äußerungen“ nur sehr zurückhaltend charakterisiert. Das fällt besonders im Vergleich mit der sogleich zu besprechenden Erklärung des LWB von 1984 auf, in der sich möglicherweise ein Paradigmenwechsel seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bereits abzeichnet. Im Jahr 1984 verabschiedete die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes drei Erklärungen zu „Luther, das Luthertum und die Juden“ (E.I.22). Der „Ausschuss für die Kirche und das jüdische Volk“ hatte diese Erklärungen vorbereitet (zuletzt in Stockholm 1983). Es fanden hierzu gemeinsame Tagungen mit dem „Internationalen Jüdischen Komitee für Interreligiöse Konsultationen“ statt. Die Erklärung der Vollversammlung des LWB enthält dann eine Erklärung der lutherischen Teilnehmer, eine der jüdischen Teilnehmer und eine gemeinsame Erklärung. In der Erklärung der lutherischen Teilnehmer heißt es schon zu Beginn: „Wir Lutheraner leiten unseren Namen von Martin Luther ab, dessen Verständnis des Christentums auch weitgehend unsere Lehrgrundlage bildet. Die wüsten antijüdi-

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schen Schriften des Reformators können wir jedoch weder billigen noch entschuldigen.“ (437 f)

Danach folgen Ausführungen zur missbräuchlichen Rezeption von Luthers Antijudaismus: „Wir glauben, daß eine ehrliche und die historischen Gegebenheiten berücksichtigende Auseinandersetzung mit Luthers Angriffen auf die Juden den Antisemiten unserer Zeit den Vorwand entzieht, sie könnten sich mit ihrem Antisemitismus auf die Autorität von Luthers Namen berufen. Wir verweisen nachdrücklich darauf, daß Luther einen rassischen, nationalistischen und politischen Antisemitismus nicht gebilligt hat. Selbst der beklagenswerte religiöse Antisemitismus des 16. Jahrhunderts, zu dem Luthers Angriffe viel beigetragen haben, nimmt sich in unserer heutigen Welt schrecklich anachronistisch aus. Wir stellen jedoch mit tiefem Bedauern fest, daß Luthers Name zur Zeit des Nationalsozialismus zur Rechtfertigung des Antisemitismus herhalten mußte und daß seine Schriften sich für einen solchen Mißbrauch eignen.“ (438)

In Bezug auf Luthers Ausführungen selbst spricht der Text von „Sünden“, was zwei Jahre später eine Erklärung der Vollversammlung des Jüdischen Weltkongresses explizit wieder aufgreift (s. u.): „Viele der antijüdischen Schriften Luthers sind im Lichte seiner Polemik gegen das zu verstehen, was er als Fehldeutungen der Schrift verstand. Er griff diese Fehldeutungen an, da ihm das richtige Verständnis des Wortes Gottes alles galt. Die Sünden von Luthers antijüdischen Äußerungen und die Heftigkeit seiner Angriffe auf die Juden müssen mit großem Bedauern zugegeben werden. Wir müssen dafür sorgen, daß eine solche Sünde heute und in Zukunft in unseren Kirchen nicht mehr begangen werden kann. Lutheraner und auch andere Christen müssen sich auch offen mit den antijüdischen Haltungen ihrer Kirchen früher und heute befassen. Feindschaft zu den Juden begann lange vor Luther und ist nach ihm ein ständiges Übel geblieben.“ (438) […] „Die Lutheraner unserer Zeit lehnen es ab, alle Äußerungen Luthers über die Juden zu akzeptieren.“ (439)

In der Erklärung der jüdischen Teilnehmer wird gesagt: „Wir sind uns bewußt, daß die Nazis Luthers Antijudaismus mißbraucht haben, um ihre Völkermordkampagne gegen das jüdische Volk zu rechtfertigen. […] Die jüdischen Teilnehmer begrüßen das Engagement der lutherischen Partner, die lebendige Realität des Judaismus aus der Sicht des jüdischen Selbstverständnisses zu achten, und ihr Versprechen, daß lutherische Schriften nie wieder benutzt werden, um Haß gegen den Judaismus zu lehren und das jüdische Volk zu verleumden. Damit beginnt ein neues Kapitel in der Beziehung zwischen Juden und Lutheranern […].“ (439)

Auf diese Erklärung der Vollversammlung des LWB reagierte zwei Jahre später die Vollversammlung des Jüdischen Weltkongresses mit einer „Erklärung über christlich-jüdische Beziehungen“ vom 30. Januar 1986 (J.7):

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„Die Versammlung nimmt mit Anerkennung die Erklärungen der Zweiten Konsultation von Vertretern des Lutherischen Weltbundes und des Internationalen Jüdischen Komitees für Interreligiöse Konsultationen in Stockholm zur Kenntnis, welche Luthers Lehren über die Juden verwerfen und feststellen, daß ,wir dafür sorgen (müssen), daß eine solche Sünde heute und in Zukunft in unseren Kirchen nicht mehr begangen werden kann‘. Die Versammlung begrüßt insbesondere die Ergänzungen dieser Erklärungen durch die Siebte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Budapest 1984, die ,diese Erklärungen dankbar entgegengenommen und sie allen Mitgliedskirchen des LWB zum Studium und zur Beachtung empfohlen‘ hat.“ (635)

Neben dem LWB hat sich auch die Amerikanische Lutherische Kirche (ELCA) bereits in den 1970er Jahren dem Thema zugewandt. Im Oktober 1974 veröffentlichte die Synode der ELCA die Erklärung „Die Amerikanische Lutherische Kirche und die jüdische Gemeinde“ (E.II.12): „Daß während der Nazizeit Luthers eigener mittelalterlicher Judenhaß wieder auflebte, ist für uns ein besonderer Grund zur Buße. Diejenigen, die Luther lieben und von ihm lernen, müssen einstimmig bekennen, daß seine antijüdischen Schriften jede Grenze überschreiten und nicht zu entschuldigen sind.“ (489)

Diese Aussagen von 1974 klingen noch sehr vorsichtig. Es folgten Stellungnahmen von 1994 und 1998, die sich ausführlicher und deutlicher von Luthers Antijudaismus distanzieren. Am 18. April 1994 gab die ELCA eine Stellungnahme unter dem Titel „Erklärung an die Jüdische Gemeinschaft“ (E.II.5‘) heraus. Darin heißt es: „In der langen Geschichte des Christentums gibt es keine tragischere Entwicklung als die der Behandlung jüdischer Menschen, der sie durch Christen ausgesetzt waren. Sehr wenige christliche Glaubensgemeinschaften waren stark genug, der Verseuchung durch Anti-Judaismus und seinen modernen Nachfolger Anti-Semitismus zu entrinnen. Lutheraner, die zum Lutherischen Weltbund und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika gehören, empfinden in dieser Hinsicht eine besondere Bürde, einmal wegen bestimmter Teile in Martin Luthers Vermächtnis und zum anderen wegen des Unheils, einschließlich des Holocaust im 20. Jahrhundert, das Juden gerade an Orten erleiden mußten, an denen lutherische Kirchen stark vertreten waren. […] Im Geist dieser Benennung der Wahrheit [scil. Luthers Eintreten für die Wahrheit des Evangeliums] müssen wir, die seinen Namen und sein Erbe tragen, mit Schmerzen auch Luthers antijüdische Schmähungen und gewalttätige Empfehlungen in seinen späten Schriften zur Kenntnis nehmen. Wie es viele von Luthers Zeitgenossen im 16. Jahrhundert taten, weisen wir diese gewalttätigen Schmähungen zurück und mehr noch, wir drücken unseren tiefen und bleibenden Kummer aus über ihre tragische Wirkung auf folgende Generationen.

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Im Einverständnis mit dem Lutherischen Weltbund mißbilligen wir es ausdrücklich, daß moderne Antisemiten sich auf Luthers Aussagen berufen in ihrer Lehre des Hasses gegen das Judentum oder gegen jüdische Menschen unserer Tage.“ (499).

Am 16. November 1998 veröffentlichte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika schließlich „Richtlinien für lutherisch-jüdische Beziehungen“ (E.II.18‘). Darin heißt es zusammenfassend: „In ihrer ,Erklärung an die jüdische Gemeinschaft‘ von 1994 verwarf die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika öffentlich die antijüdischen Schriften Martin Luthers.“ (528) Die Erklärung der ELCA von 1994 wurde im Jahr 1995 von der EvangelischLutherischen Kirche von Kanada wörtlich übernommen (E.II.9‘). Gleiches gilt für die Evangelisch-Lutherische Dekanatssynode Nürnberg (1996) und auch für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (1998). Letztere führt den Text im Anhang des Arbeitsberichtes auf (E.III.67‘).

2.3. Neue Aufbrüche seit Anfang der 1990er Jahre Ab dem Jahr 1990 kommt es in den lutherischen Kirchen verstärkt zu einer Auseinandersetzung mit Luthers Judenfeindschaft. Am Beginn steht die Erklärung der Lutherischen Europäischen Konferenz Kirche und Judentum (LEKKJ) von Driebergen: „Erklärung zur Begegnung zwischen lutherischen Christen und Juden“ vom 8. Mai 1990 (E.I.3‘). Nach einem ersten Teil, der mit „Grundlegendes“ überschrieben ist, folgt ein zweiter Teil „Die Schoa (Holocaust) und Folgen“. Im dritten Teil geht es um „Formen der Begegnung“, der vierte Teil zieht „Folgerungen“. In Letzterem heißt es: „Wir dringen darauf, daß in den lutherischen Kirchen nicht nur die antijüdischen Ausfälle des späten Luther mit ihren verheerenden Folgen aufgearbeitet werden im Sinne der Erklärung von Stockholm 1983, sondern auch Grundschemata lutherischer Theologie und Lehre wie ,Gesetz und Evangelium‘, ,Glaube und Werke‘, ,Verheißung und Erfüllung‘, ,Zwei Regimente/Zwei Reiche‘ im Blick auf ihre Auswirkung auf das christlich-jüdische Verhältnis neu überdacht werden. Dafür kann gemeinsame theologische Arbeit mit Juden besonders in der Bibelauslegung wichtig werden.“ (451)

Dies zielt nicht nur auf Luthers eigene Judenfeindschaft ab, sondern spricht Grundschemata lutherischer Theologie an, die auf ihre Wirkungen hin bedacht werden sollen. Das hat später die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern explizit aufgegriffen (E.III.66‘). Die LEKKJ hat sich in weiteren Stellungnahmen in den Jahren 2003, 2004, und 2011 zum Thema geäußert (s. u.). Darin lässt sich ein permanentes Nachdenken über die Notwendigkeit einer Erneuerung des lutherisch-jüdischen Verhältnisses erkennen. Das mag nicht zuletzt an der personellen Kontinuität der Zusammensetzung der LEKKJ liegen.

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Bevor wir zu den Kirchen in Deutschland kommen, soll noch ein kurzer Blick auf das weltweite Luthertum nach 1990 und die Leuenberger Kirchengemeinschaft geworfen werden. Die Evangelisch-Lutherischen Kirchen von Amerika und Kanada wurden bereits genannt. Im Jahr 1996 äußerte sich die Versammlung der Präsidenten der Lutherischen Kirche von Australien in einer Erklärung „Lutheraner und Juden“ vom 10. September 1996 (E.II.11‘): „Wir Lutheraner müssen außerdem zugeben, daß die antijüdischen Schriften Martin Luthers von den Verfolgern der Juden – um ihre Positionen und Praktiken zu rechtfertigen –, sowie von antijüdischen Extremisten benutzt werden konnten, indem sie aus ihrem historischen Kontext gerissen wurden.“ (508)

Für die Situation in Australien stellt sie fest: „Hier in Australien waren Lutheraner weitgehend ahnungslos in Bezug auf Luthers antijüdischen [sic] Schriften und deren Wirkung.“ (508) Am 28. Oktober 1998 äußerte sich die Generalsynode der Evangelischen Kirchen in Österreich in der Erklärung „Zeit zur Umkehr – die Evangelischen Kirchen in Österreich und die Juden“ (E.II.17‘): „Uns evangelische Christen belasten in diesem Zusammenhang die Spätschriften Luthers und ihre Forderung nach Vertreibung und Verfolgung der Juden. Wir verwerfen den Inhalt dieser Schriften.“ (523)

Die Leuenberger Kirchengemeinschaft, die nicht nur lutherische, sondern auch reformierte und unierte Kirchen umfasst, hat im Jahr 2001 eine umfangreiche Studie vorgelegt, die eine breite historische und theologische Durchdringung des christlich-jüdischen Verhältnisses bietet. Im ersten Hauptteil geht es um die Geschichte des Verhältnisses von Christen und Juden seit neutestamentlicher Zeit. Unter Abschnitt I.4.4. werden zunächst historisch referierend die verhängnisvollen Sachverhalte der Reformationszeit dargestellt. Zu Luthers späten Schriften wird formuliert : „War er anfänglich noch bereit gewesen, die Juden im Blick auf ihre mögliche Bekehrung zu dulden, so sah er in ihnen nun eine soziale, politische und religiöse Gefahr (Wucher, Türkenspionage, Proselytenmacherei) und riet von ihrer weiteren Duldung ab. In seiner ersten antij üdischen Schrift ,Wider die Sabbater‘ (1538) wandte er sich gegen die angebliche Blindheit, Lüge und Gotteslästerung der Juden. In der im Jahre 1543 verfaßten Schrift ,Von den Juden und ihren Lügen‘ wurde dann eine radikale apokalyptisch begründete Judenfeindschaft erkennbar : Er forderte, Synagogen und Schulen als ,Orte der Lästerung‘ anzuzünden, Häuser von Juden zu zerstören und die Bücher zu verbrennen und den Rabbinen das Lehren zu verbieten ; darüber hinaus sollte aber auch das freie Geleit auf den Straßen aufgehoben, der ,Wucher‘ verboten und den Juden Gold und Silber

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weggenommen werden. Den Gedanken einer Judenmission verwarf Luther jetzt als aussichtslos.“16

Die Studie der Leuenberger Kirchengemeinschaft spricht dann von der ähnlichen Haltung anderer Reformatoren (z. B. Johannes Calvin), und erwähnt schließlich die von Luther unterschiedene Haltung von Andreas Osiander, Heinrich Bullinger, Wolfgang Capito und Martin Borrhaus. Insgesamt stellt die Studie fest: „Im ganzen muß man sagen, daß die Reformation fast überall die spätmittelalterlichen Judenvertreibungen bestätigte oder sogar zu neuen Vertreibungen führte.“17 Im abschließenden dritten Hauptteil der Studie („Die Kirche in Israels Gegenwart“), in dem konkrete Folgerungen gezogen werden, heißt es unter III.1.1.2: „Im Kampf gegen alle Erscheinungsformen von Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus weiß sich die Kirche an der Seite Israels.“18 Im Schlusswort wird das Problem der christlichen Judenfeindschaft noch einmal aufgegriffen: „Die Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft erkennen und beklagen angesichts der jahrhundertelangen Geschichte christlicher Judenfeindschaft ihre Mitverantwortung und Schuld gegenüber dem Volk Israel. Die Kirchen erkennen ihre falschen Auslegungen biblischer Aussagen und Traditionen; sie bekennen vor Gott und Menschen ihre Schuld und bitten Gott um Vergebung.“19

2.4. Die Evangelische Kirche in Deutschland Auf Seiten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sind drei Texte zum Thema einschlägig: Die bereits erwähnte Erklärung zum Lutherjahr 1983, die nur zwei wenig aussagekräftige Sätze enthält (s. o.), die EKD-Studie „Christen und Juden II“ von 1991 und die EKD-Studie „Christen und Juden III“ aus dem Jahr 2000. Im Jahr 1991 veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die nach einer ersten Erklärung von 1975 wiederum von der „Studienkommission Kirche und Judentum“ der EKD erarbeitete Studie „Christen und Juden II. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum“ vom 30. Oktober 1991 (E.III.24‘). Die Studie, die sich vor allem mit dem Thema „Volk Gottes“ beschäftigt, enthält nur einen kurzen Hinweis auf Luthers Judenschriften: 16 Text nach: Leuenberger Texte, Heft 6, 38. 17 Ebd., 40. Den unterschiedlichen Haltungen der Reformatoren zu Juden und Judentum kann hier nicht nachgegangen werden. 18 Ebd., 75. 19 Ebd., 83.

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„In der Geschichte der Kirche war eine ununterbrochene Tradition von Polemik, Kritik und Herabsetzung von Judentum und jüdischen Menschen vorhanden, die immer wieder neu belebt werden konnte. Die Rezeption der Haltung des älteren Luther in neueren Phasen deutscher Geschichte ist ein Beispiel dafür.“ (643)

Die vom Rat der EKD im Jahr 2000 verabschiedete Studie ist demgegenüber ausführlicher. „Christen und Juden III. Schritte zur Erneuerung im Verhältnis zum Judentum“ vom 14. März 2000 (E.III.72‘): „Das Verhältnis Martin Luthers zu den Juden ist ein warnendes Beispiel dafür, wie nahe beide Formen christlichen Umgangs mit Juden beieinander liegen konnten. In seiner frühen Schrift ,Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei‘ (1523) teilt Luther zwar das allgemeine Urteil der Kirche seiner Zeit, das jüdische Volk stehe unter dem Zorn Gottes, weil es den in seinen eigenen heiligen Schriften geweissagten Jesus nicht als Messias anerkannt habe. Er verweist jedoch auf die jüdischen Wurzeln des Christentums, wendet sich gegen Diskriminierung von Juden und jüdischen Lebensformen und redet stattdessen einer liebevollen Zuwendung der Christen zu Juden das Wort, ja er plädiert sogar für ihre Integration in die Gesellschaft. Er hofft, dass dadurch die Juden bereit werden, die christliche Botschaft zu hören und anzunehmen. Enttäuscht darüber, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllte, und besorgt über den Bestand seines reformatorischen Lebenswerkes, verfasste Luther zwanzig Jahre später (1543) die Schrift ,Von den Juden und ihren Lügen‘. Sie ist ein erschreckendes Zeugnis tief verwurzelter Judenfeindschaft. In ihr zeigt sich, dass Luther, nicht anders als seine Zeitgenossen, die Verweigerung des Glaubens an Christus durch die Juden auf böswillige Verblendung und auf den Einfluss teuflischer Mächte zurückführte. Diese Spätschrift des Reformators enthält die furchtbaren sieben Ratschläge an die Obrigkeit […]“ (896)

2.5. Stellungnahmen aus deutschen Landeskirchen Die kurzen Erklärungen der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evang.-Luth. Kirche Sachsens im Zusammenhang des Gedenkens an den Novemberpogrom 1938 im Jahr 1988 wurden bereits erwähnt (s. o.). Am 24. April 1990 verabschiedete die Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg eine Erklärung „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“ (E.III.18‘). Sie distanziert sich nicht einfach von Luthers Schriften gegen die Juden, sondern fragt – ähnlich wie etwas später die LEKKJ – nach theologischen Zusammenhängen: „Als Kirche der Reformation haben wir in besonderer Weise zu klären, ob und wie Luthers Verurteilung der Juden mit seiner Christologie und seiner Rechtfertigungslehre zusammenhängt. Wir haben zu fragen, inwieweit die lutherisch-ortho-

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doxe Lehre von Gesetz und Evangelium einer judenfeindlichen Grundhaltung Eingang in die lutherischen Kirchen verschafft hat.“ (597)

Die Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) hat sich im Jahr 1998 mit einer ausführlichen Erklärung zum Thema „Luther und die Juden – und wir lutherischen Christen“ vom 20./21. Februar 1998 zu Wort gemeldet (E.III.59‘). Der Text ist gegliedert in eine Kurzfassung und eine ausführlichere Darstellung. Die für unser Thema entscheidenden Passagen des Teils „A. (Kurzfassung)“ lauten: „Luther wußte sehr genau, daß Jesus Christus aus dem jüdischen Volk stammte. So ehrte und achtete er die Juden als Blutsverwandte Jesu und der Apostel und darüber hinaus als das erwählte Gottesvolk des Alten Testaments.“ (784) „Nachdem nun aber in der Reformation das Evangelium von der Liebe Gottes in Christus wieder ans Licht gekommen war, forderte Luther die Christen auf, den Juden brüderlich zu begegnen und ihnen in Liebe den Messias Jesus zu verkündigen - dann würden die Juden auch in die christliche Kirche finden und die Erfüllung ihres jüdischen Glaubens erleben können. Als sich diese Erwartung jedoch nicht erfüllte und die Juden für sich blieben, meinte Luther, das nur als bewußte Abwehr und Verweigerung verstehen zu können und damit als schaurige Lästerung des Messias Jesus.“ (784) „So empfahl Luther den Landesherren, dafür zu sorgen, daß den Juden die Ausübung ihres Glaubens verboten und unmöglich gemacht würde, sie zudem enteignet und zu landwirtschaftlicher und handwerklicher Arbeit gezwungen würden. Daß Luther dabei alte antijüdische Vorurteile aufgriff und eine verbitterte und ehrabschneidende Sprache führte, ist leider nicht zu bestreiten.“ (784) „War Luthers Ablehnung der Juden in seiner Spätzeit also ausschließlich religiös und aus der Sorge um die Wahrung der Ehre Gottes und des Messias Jesus begründet, so war der moderne Antisemitismus dagegen zunächst völkisch und dann auch rassistisch orientiert.“ (784)

Luthers Antijudaismus wird von der Kirchenleitung der SELK auf die ausschließlich religiöse Dimension reduziert, um ihn dann vom rassistischen Antisemitismus abzusetzen. Die gewählten Formulierungen „verbitterte und ehrabschneidende Sprache“ werden der Tiefe des Problems kaum gerecht. Der Teil „B. (ausführlichere Darstellung)“ findet angemessenere Formulierungen, geht jedoch nur wenig über die Kurzfassung hinaus: „Martin Luther (1483–1546) hat sich viele Gedanken über das Judentum gemacht. Das Thema war ihm wichtig. Seine Äußerungen über das Judentum weisen allerdings eine verwirrende Spannbreite auf. Sie reichen von überraschender Offenheit bis zu erschreckender Feindseligkeit. Lutherische Christen fragen deshalb: Wie konnte der Reformator, der sich doch im Glauben ganz an Gottes Wort und seinen Herrn Christus gebunden wußte, so schwankend urteilen? Und: Wie sollen wir mit der belastenden Tatsache umgehen, daß Menschen ganz unterschiedlicher Denkungsart sich durch Luthers judenfeindliche Ratschläge in ihrem Judenhaß bestärkt fühlen konnten?“ (785)

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„Luther zog von seinem Ansatz her zwei Folgerungen, die sein Verhalten den Juden seiner Zeit gegenüber prägten. Erstens achtete er in ihnen die Nachkommen des Gottesvolkes. […]. Andererseits hielt er eine tiefgreifende Reform auch der jüdischen Frömmigkeit seiner Zeit für notwendig. Die Juden müßten, um im vollen Sinne ihre jüdische Bestimmung anzunehmen, zum Christusglauben zurückkehren, in dem schon die Patriarchen lebten.“ (786) „Luthers positive Einstellung den Juden gegenüber in ihrer Hochschätzung als Glieder des Volkes, dem Gott sich in einzigartiger Weise verbunden hat, beruhte mithin nicht etwa darauf, daß er das Selbstverständnis der Juden seiner Zeit gelten ließ. […] Er hoffte darauf, daß sie, wenn man sich ihnen nur in christlicher Liebe zuwandte, Christus als ihren Messias im Glauben annehmen würden. […] Als messiasgläubige Juden – und das hieß aus seiner Sicht eben: als wirkliche, echte Juden – sollten sie ihren unbestrittenen und uneingeschränkten Platz inmitten der Christenheit einnehmen, also auch volles Bürgerrecht genießen. Juden, die Christus als ihren Herrn verleugneten, verleugneten seiner Ansicht nach demgegenüber ihr eigenes Judesein. […] Luther schreckte in diesem Fall vor ehrabschneidenden und beleidigenden Verallgemeinerungen und auch vor menschenverachtenden Ratschlägen an die christlichen Landesherren nicht zurück.“ (786 f) „Luther […] trat damit in das Gespräch mit Juden bereits mit einem vorgefaßten Bild ein, das er sich über die Juden gemacht hatte. Anders als er werden wir als lutherische Christen den jüdischen Gesprächspartner zunächst einmal in seinem eigenen Selbstverständnis annehmen.“ (789)

Luthers Aussagen über Juden und Judentum werden als „ehrabschneidende […] und beleidigende […] Verallgemeinerungen“ bezeichnet, seine sieben Ratschläge an die Landesherren von 1543 als „menschenverachtend“. Treffen solche Beschreibungen wirklich den Sachverhalt? Die Haltung Luthers wird auf sein „vorgefaßte[s] Bild“ von den Juden zurückgeführt, und als Aufgabe für die Kirche ergibt sich „den jüdischen Gesprächspartner zunächst einmal in seinem eigenen Selbstverständnis“ anzunehmen. Das kann kaum ausreichen. Deutlicher wird die SELK-Erklärung, wenn es um die Frage der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes geht. Dieser Komplex war im jüdischchristlichen Dialog in den 1990er-Jahren die am häufigsten diskutierte Frage. In diesem Zusammenhang statuiert die SELK klar : Es gehe darum „unsern Glauben an Gott deutlicher so auszusprechen, daß dabei Gottes weiteres Festhalten an dem Volk seiner Erwählung mitbedacht und mitbekannt wird. Es verbietet sich, Gottes Weg mit seinem Volk Israel ausschließlich kirchlich zu vereinnahmen. Die Erwählungsgeschichte Israels kann auch nicht auf die vorchristliche Zeit eingegrenzt werden. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments hat Gott seine Erwählung Israels nicht widerrufen.“ (789)

Nach einem längeren Diskussionsprozess, der durch einen eigens dafür eingesetzten Arbeitsausschuss gesteuert wurde, äußerte sich am 24. November 1998 die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern zum Thema „Christen und

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Juden“. Die Äußerung besteht aus einer Erklärung der kirchenleitenden Organe (E.III.66‘) und einem Bericht des Arbeitsausschusses (E.III.67‘). In der Erklärung finden sich zwei Stellen, an denen Luthers Antijudaismus bzw. seine Judenschriften explizit angesprochen werden: „Es ist für eine evangelisch-lutherische Kirche, die sich dem Werk und Erbe Martin Luthers verpflichtet weiß, unerläßlich, auch seine antijüdischen Äußerungen wahrzunehmen, ihre theologische Funktion zu erkennen und ihre Wirkung zu bedenken. Sie hat sich von jedem Antijudaismus in lutherischer Theologie zu distanzieren. Hierbei müssen nicht nur seine Kampfschriften gegen die Juden, sondern alle Stellen im Blick sein, an denen Luther den Glauben der Juden pauschalisierend als Religion der Werkgerechtigkeit dem Evangelium entgegensetzt.“ (807) „Sowohl Aussagen Martin Luthers als auch bestimmte Ausprägungen lutherischer Theologie haben antijüdische Wirkungen hervorgerufen. Über die notwendige inhaltliche Distanzierung hinaus sind deren Ursachen, Motive und Wirkungsgeschichte zu erforschen und für eine künftige lutherische Theologie im Blick auf das christlich-jüdische Gespräch zu überdenken und zu kritisieren.“ (809)

Analog zu den Forderungen in der Erklärung der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg vom April 1990 und der Erklärung der LEKKJ vom Mai 1990 erfolgt auch hier nicht nur eine Distanzierung von Luthers Schriften. Vielmehr wird nach Grundstrukturen lutherischer Theologie gefragt, die im Zusammenhang der Überwindung von Antijudaismus diskutiert werden müssen. Ausführlicher als die Erklärung geht der Bericht des Arbeitsausschusses, der von der Synode bei ihrer Tagung entgegengenommen wurde, auf das Thema „Luther und die Juden“ ein. Der Arbeitsbericht enthält fünf Abschnitte: 1. Luther und Luthertum, 2. Die Bayerische Landeskirche und die Judenverfolgung im Dritten Reich, 3. Christliches Zeugnis, 4. Land und Staat Israel, 5. Weitere bedenkenswerte und teilweise umstrittene Themen (darunter „Messianische Juden“). Es handelt sich bei den ersten vier um Themenbereiche, die als besonders diskussionswürdig galten und daher zu vertiefter Weiterarbeit empfohlen wurden. In dem Abschnitt zu Luther und Luthertum wird ausgeführt: „In ,dem Juden‘ sieht er [Martin Luther] den Prototypen des Menschen, der sich mit ,äußeren‘ Werken sein Heil vor Gott erkaufen will. Dieser verfehlten Grundhaltung stellt er das dem Evangelium gemäße ,allein aus der Gnade‘ gegenüber. Luther zielt damit vor allem auf die Christen, er will ihnen die Augen für diese Botschaft öffnen. Dazu setzt er eine Fehlentwicklung in der Kirche seiner Zeit […] gleich mit dem, was er fälschlich als das Wesen der jüdischen Religion ausmacht.“ (815) „Luther ist in seinen frühen Jahren v. a. an diesem Zusammenhang interessiert. Die Juden und das Judentum erhalten als Negativpol zur reformatorischen Erkenntnis einen festen Platz in seinem theologischen Reden. Vorwürfe wie Hostienschändung und Ritualmord, sonst in seiner Zeit üblich, findet man bei ihm nicht.“ (Ebd.)

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„In seinen frühen Jahren wollte Luther die Juden […] zum Glauben ihrer Väter zurückbringen. Schriftgelehrte und Talmud hätten diese Einsicht zunichte gemacht.“ (Ebd.) „Vor dem Hintergrund der Judenhetze im ausgehenden Mittelalter stellen verschiedene Äußerungen Luthers eine völlige Neuorientierung dar. […] Er nennt darin antijüdische Stereotype ,Lügengeschichten‘ und plädiert sogar für die Integration von Juden in die Gesellschaft.“ (Ebd.) „Als Luther mit seinen Bemühungen keinen Erfolg hat, sondern im Gegenteil von Übertritten von Christen zu der Bewegung der Sabbater (die Beschneidung und Einhaltung des jüdischen Gesetzes fordern) hört, unterstellt er den Juden groß angelegte Missionsbemühungen. […] Jetzt können Juden nur noch durch die Bereitschaft, Christen zu werden, beweisen, daß sie nicht auf der Seite des Teufels stehen.“ (816) „Im Jahr 1543 schreibt Luther die Schrift ,Von den Juden und ihren Lügen‘. Sie enthält die furchtbaren sieben Ratschläge, die Luther an die Oberen richtet und mit denen er ihnen das Verbrennen von Synagogen, die Zerstörung jüdischer Häuser, Lehrverbot, Konfiszierung von Talmud und Gebetbüchern, Handelsverbot und Zwangsarbeit für Juden anempfiehlt.“ (Ebd.) „Ziel: ,… ob wir doch etliche aus der Flamme und Glut (sc. des göttlichen Zorns) erretten können.‘ Luther hat an dieser Stelle seine eigene Theologie aufgegeben. Einst sah er Juden und Christen in derselben Sünde verhaftet und wußte beide an die Gnade Gottes gewiesen. Nun will er selber retten, nun macht er den göttlichen Zorn einseitig und endgültig auf Seiten der Juden fest.“ (Ebd.)

Luthers Äußerungen werden hier kontextualisiert. Es wird zwischen dem frühen und dem späten Luther unterschieden. Zugleich wird gesagt, und damit dürfte es sich um den Spitzensatz des Berichtes handeln, Luther habe „an dieser Stelle seine eigene Theologie aufgegeben.“20 In der „Hauptvorlage“ zum Thema Kirche und Israel der Evangelischen Kirche von Westfalen aus dem Jahr 1999 (E.III.70‘) heißt es zur Begründung der Einbringung:21

20 In ihrer Erklärung von Straubing, 2008, hat die ELKB die Aufgabe, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen und insbesondere Luthers antijüdische Äußerungen aufzuarbeiten, erneuert: „Die ELKB stellt sich ihrer historischen Verantwortung für die Entstehung von Antijudaismus und Antisemitismus. Dazu gehört auch eine intensivierte kritische Auseinandersetzung mit den antijüdischen Äußerungen Martin Luthers.“ Wort aller kirchenleitenden Organe zur Entwicklung des christlich-jüdischen Verhältnisses auf der Herbstsynode 2008 in Straubing. Text unter: http://www.ekd.de/aktuell_presse/pm88_2008_elkb_christen_juden. html. 21 Der Tradition der Westfälischen Kirche entsprechend sollte durch die Hauptvorlage die Diskussion an der Basis der Kirche angestoßen werden. Sie diente damit zugleich der Vorbereitung der Landessynode 1999. Bis August 1999 waren die Presbyterien und Kreissynoden, Ämter und Werke um Rückäußerungen gebeten.

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„Was zum Beispiel Martin Luther 1543 über die Juden geschrieben hat, liest sich heute wie eine unverhüllte Anstiftung zur ,Reichskristallnacht‘.“ (833) An späterer Stelle geht die Hauptvorlage erneut auf Luthers Stellung zu den Juden ein: „Es ist sicher kein Zufall, daß Luther in seiner Schrift von 1523 ,Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei‘, die diese im Titel enthaltene Einsicht klar zum Ausdruck bringt und festhält, Mahnungen und Vorschläge gibt, die ein menschliches Verhalten gegenüber den Juden verlangen. Wer als Christ das Judesein Jesu wahrnimmt und ernst nimmt und sich mit diesem Juden verbunden weiß, kann sich gegenüber den Juden als Geschwistern Jesu noch weniger feindlich verhalten als gegenüber anderen Menschen. Es war verhängnisvoll und bleibt ein Schmerz, daß Luther später diese Einsicht in die Bedeutung des Judeseins Jesu verdrängte und zu einem äußerst aggressiven Vorgehen gegen die Juden aufrief.“ (846)

Die Württembergische Evangelische Landeskirche hat im Jahr 2000 eine „Erklärung zum Verhältnis von Christen und Juden ,Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen‘ oder ,[…] der Treue hält ewiglich‘“ abgegeben (6. April 2000, E.III.73‘). Darin heißt es: „Als lutherische Kirche steht sie [die Württembergische Landeskirche] in der Tradition Martin Luthers. Deswegen distanzieren wir uns ausdrücklich von seinen judenfeindlichen Äußerungen.“ (934)

Im Jahr 2013 greifen Landesbischof und Synodalpräsidentin in ihrer Erklärung „1988–2013: 25 Jahre landeskirchliche Erklärung ,Verbundenheit mit dem jüdischen Volk‘“ auf den Text von 2000 zurück:22 „Als lutherische Kirche distanzieren wir uns von den judenfeindlichen Äußerungen Martin Luthers.“ Die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (AcK) in Baden-Württemberg führt in einer Handreichung zum Gedenken an den Novemberpogrom aus dem Jahr 2008 folgendes aus: „Die Nazis und ihre Helfer konnten auf eine lange und reiche Tradition der christlichen Judenfeindschaft zurückgreifen. Die meisten Kirchenväter, viele Theologen des Mittelalters, auch viele Reformatoren, allen voran Martin Luther, hatten ihren Judenhass freimütig, teils hemmungslos gepredigt.“23

22 Bischof July / Hausding, „1988–2013: 25 Jahre landeskirchliche Erklärung ,Verbundenheit mit dem jüdischen Volk‘“, 1. 10. 2013, Text nach: http://www.agwege.de/fileadmin/mediapool/ein richtungen/E_pfarramt_christen_juden/Texte_AG_und_Elkwue/25JahreErklaerungVer bundenheitJuedischemVolk.pdf. 23 Text nach Biermann-Rau, Synagogen, 305.

„Luther und die Juden“ in den kirchenpolitischen Entwicklungen

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3. Lassen sich Entwicklungen in den Erklärungen erkennen? Das Lutherjahr 1983 hätte die Gelegenheit einer Distanzierung von Luthers Judenfeindschaft und den Beginn einer kirchlichen – nicht nur wissenschaftlichen – Aufarbeitung geboten, verstrich jedoch in dieser Hinsicht ungenutzt. Insgesamt gesehen lässt sich jedoch feststellen, dass die Eindeutigkeit der Distanzierung von Luthers Antijudaismus zugenommen hat. Veröffentlichte der LWB im Jahr 1969 noch eine Erklärung, in der sich nur ein sehr zurückhaltender Hinweis auf die Angst um die Existenz der Kirche als Ursache für Luthers Judenfeindschaft findet, so wird die Erklärung von 1982 bereits deutlicher. Klarheit bringt die Erklärung der Vollversammlung des LWB von 1984, in der von „wüste[n] antijüdische[n] Schriften“ die Rede ist, die „weder zu billigen, noch zu entschuldigen“ seien. In dieser Erklärung wird explizit von den „Sünden von Luthers antijüdischen Äußerungen“ und der „Heftigkeit seiner Angriffe auf die Juden“ gesprochen. Auf der Ebene der internationalen Kirchen sticht die Erklärung der Amerikanischen Lutherischen Kirche von 1994 hervor, die in ihrer Distanzierung eindeutig ist und von verschiedenen anderen Kirchen rezipiert wurde. Besonderes Augenmerk verdient die Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ), die sich erstmals 1990 mit einer beachtlichen Erklärung zu Wort meldete und anschließend das Thema weiter bearbeitet hat. Im Jahr 2003 folgte eine Erklärung, die als Antwort auf das jüdische Votum „Dabru Emet“ vom 11. September 2000 (J.8‘) Bezug nimmt und daran erinnert, dass in der Erklärung von 1990 „die traditionellen christlichen Lehren von der Verachtung des Judentums […], insbesondere auch die judenfeindlichen Schriften Martin Luthers“ verworfen wurden, und in der gefordert wurde „dass diese Einsichten zukünftig die kirchliche Praxis bestimmen sollen.“24 Eine erneute Erinnerung an die Erklärung von Driebergen von 1990 erfolgte im Jahr 2004. Es wird bedauert, dass die darin formulierten „Erkenntnisse noch nicht von allen Kirchenmitgliedern geteilt werden.“25 Im Jahr 2011 tagte die LEKKJ in Helsinki. In der dort verabschiedeten Erklärung heißt es: „Unsere Kirchen können das Reformationsjubiläum nur angemessen würdigen, wenn sie sich auch den Schattenseiten des Reformators stellen.“26 Der Text verweist im Anschluss auf die Erklärung des LWB von 1984 24 Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ), 1. 6. 2003: „Eine Antwort auf dabru emet, Text nach: http://www.jcrelations.net/Search.720.0.html?L=2)&page=23. 25 Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ), 1. 6. 2004: „Erklärung zum Antisemitismus“, Text nach: http://www.jcrelations.net/Erkl%E4rung+zum+Antisemitis mus.1788.0.html?L=2. 26 Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ), 21. Mai 2011: „Martin Luther und das Judentum – Herausforderungen für die Lutherischen Kirchen heute“, Text nach: http://www.christenundjuden.org/stellungnahmen/kirchen/289-martin-luther-und-das-juden

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und die Erklärung der LEKKJ von 1990 und fordert, dass die „in der letzten Dekade“ erschienenen kirchlichen Erklärungen wie auch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zur „Judenfeindschaft in Martin Luthers Schriften“ nun endlich „in das Bewusstsein und die Diskussion der Kirchen und Kirchengemeinden“ eingeholt werden müssen. Die Studie der EKD „Christen und Juden“ von 1975 (E.III.19) enthält in Teil „II. Das Auseinandergehen der Wege“ im Abschnitt „5. Die Abgrenzung zwischen Judentum und Christentum“, wo dies Platz gehabt hätte, noch keine Äußerung zum Antijudaismus der Reformatoren. Die Studie von 1991 (E.III.24‘) enthält einen kurzen Hinweis auf den älteren Luther. Dass im Abschnitt „Auf dem Weg zu neuen Einsichten“ nicht mehr gesagt wird, mag dem Umstand geschuldet sein, dass die Diskussionslage um 1990 weitgehend von der Frage nach dem Verhältnis von Israel und Kirche als Volk Gottes bestimmt war. Die Studie von 2000 (E.III.72‘) enthält eine breite Ausführung zu Luther. Der Abschnitt ist primär historisch orientiert und enthält keine explizite Distanzierung von Luthers Judenfeindschaft. Nimmt man die einzelnen deutschen Landeskirchen in den Blick, so fällt auf, dass es bis 1988 keine expliziten Aussagen zu Luthers Judenschriften gibt. Seither äußern sich die Landeskirchen in unterschiedlicher Klarheit und Eindeutigkeit. Am weitesten geht wohl die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, und zwar sowohl vom Umfang her als auch mit ihrer Feststellung, Luther habe mit seinen späten Aussagen zu Juden und Judentum „seine eigene Theologie aufgegeben“. An diesen Ausführungen scheint auch bedeutsam, dass sie analog zur Evang. Kirche von Berlin-Brandenburg und zur Erklärung der LEKKJ den lutherischen Antijudaismus in den größeren Rahmen lutherischer Theologie stellt und nach deren antijüdischen Grundstrukturen fragt.

4. Jüngste Entwicklungen im Vorfeld des Reformationsjubiläums Luthers antijüdische Ausfälle sind im weltweiten Luthertum und in den deutschen Landeskirchen weithin bekannt. Die Verankerung von Luthers Judenfeindschaft im Zentrum seiner Theologie ist in den Kirchen allerdings noch nicht verbreitet. Ob die Evangelische Kirche in Deutschland – wie gefordert – im Rahmen der Reformationsdekade eine deutliche, die Probleme benennende und nicht nur historisch beschreibende, sondern theologisch wertende Erklärung abgeben soll, müssen die Gremien der EKD entscheiden.27 tum; Text auch in: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum 94 (2011) Heft 2 (hg. im Auftrag des Evangelisch-Lutherischen Zentralvereins für Begegnung von Christen und Juden), 32. 27 Biermann-Rau hat es in ihrer Veröffentlichung (s. Kap. 1, Fn. 6) energisch gefordert, Synagogen, 306 f.

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Der frühere Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Dr. Johannes Friedrich, schreibt im Vorwort des Bandes „Kirche und Synagoge – Ein lutherisches Votum“: „Für die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hat das Thema [scil. Antisemitismus und seine Wurzeln] so viel Gewicht, dass sie auf dem Weg zum Reformationsjubiläum eine Erklärung zum Verhältnis lutherischer Kirchen zu Israel anstrebt. Sie soll ein Schritt sein, sich auch den Fehlentwicklungen zu stellen, die aus Luthers Theologie resultieren, sich von Verirrungen loszusagen und aus der Geschichte zu lernen. Die Freiheit der evangelischen Kirchen, zumal derer in Deutschland, zeigt sich auch daran, dass sie ihre eigenen Gefährdungen erkennen und bekennen. Sie sind auf das Erbarmen Gottes angewiesen, von dem Paulus in seiner Reflexion über Israel und die Heiden und ihre letztendliche Errettung spricht: ,Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.‘ (Röm 11,32).“28

Im August 2014 veröffentlichte der Dietrich-Bonhoeffer-Verein (DBV) einen offenen Appell, gerichtet an alle Gemeinden und Mitchristen, insbesondere an den damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Nikolaus Schneider, und die Reformationsbotschafterin Margot Käßmann, in dem gefordert wird, dass sich „auch die EKD-Gremien anlässlich des Reformationsjubiläums deutlich von der Judenfeindschaft Martin Luthers distanzieren.“29 Positiv wird auf kritische Worte zu Luther, „die es in EKD-Studien und landeskirchlichen Erklärungen bereits gibt“ verwiesen. Es wird jedoch beklagt, dass diese „in der Öffentlichkeit, auch in der kirchlichen, weitgehend nicht bekannt“ seien. Positiv verweist der Appell auf den EKD-Ausschuss „Schrift und Verkündigung“, der sich im Jahr 2012 mit dem Thema befasst und gefordert habe, bei „geeigneter Gelegenheit“ sich von Luthers judenfeindlichen Äußerungen zu distanzieren. Verwiesen wird sodann auf die Erklärung des LWB von 198330 und auf die Erklärung der LEKKJ von Driebergen 199031, was in die Bitte mündet: „Wir bitten die Synode und den Rat der EKD, ein unüberhörbares und öffentlichkeitswirksames Wort zu dieser Frage zu beschließen. Zugleich rufen wir die protestantischen Gemeinden in Deutschland auf, sich mit diesem bitteren Erbe der Reformationszeit auseinander zu setzen und entsprechende Erklärungen zu verfassen oder zu unterzeichnen. Denn für uns gehört ein deutliches Wort der Distanzierung von Martin Luthers Judenfeindschaft unabdingbar zum Reformationsjubiläum. 28 Friedrich, Vorwort, 7 f. 29 Text nach: http://www.theology.de/themen/martin-luthers-judenfeindschaft–offener-appell. php. 30 Es handelt sich um jenen Text, der bei der Vollversammlung des LWB in Budapest 1984 angenommen wurde. 31 Im Text steht fälschlich 8. Mai 1989. Es handelt sich um den 8. Mai 1990.

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Ohne einen solchen Akt können wir uns im Dietrich-Bonhoeffer-Verein e.V. nicht vorstellen, das Jubiläum recht mitzufeiern.“

Der frühere Ratsvorsitzende der EKD Dr. h.c. Nikolaus Schneider hat in der Zeitschrift „Begegnungen“ 1/2014 einen Beitrag unter der Überschrift „Das Reformationsjubiläum im Licht des christlich-jüdischen Verhältnisses“ veröffentlicht,32 in dem er vier „Konkretionen“ nennt, die das Reformationsjubiläum bringen sollte: 1. „Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, die antijüdischen Äußerungen Martin Luthers und seine judenpolitischen Empfehlungen als dem Worte Gottes widersprechend zurückzuweisen.“ 2. „Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, alte hermeneutische Fragen neu zu bedenken: Die Fragen nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament, nach dem Christuszeugnis der Hebräischen Bibel, die Fragen nach der Bedeutung ihrer jüdischen Auslegung für uns Christinnen und Christen.“ 3. „Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, uns kraft des reformatorischen Schriftverständnisses mit Luther von Luthers Bibelauslegung in seinen Judenschriften zu distanzieren.“ 4. „Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, die jüdische Leseweise der Hebräischen Bibel als eine unaufgebbare Quelle reformatorischer Schrifterkenntnis anzuerkennen.“

Diese Äußerungen skizzieren ein weitreichendes Programm, das sich nicht kurzfristig umsetzen lässt. Positiv zu vermerken ist, dass es Nikolaus Schneider nicht nur um eine Distanzierung von Luthers Judenschriften geht, sondern dass er theologische Fragen von grundlegender Bedeutung bearbeitet wissen will. Im Oktober 2014 wurde eine im Auftrag des wissenschaftlichen Beirates für das Reformationsjubiläum erstellte Orientierungshilfe veröffentlicht, deren Text auf einen Entwurf von Prof. Dr. Dorothea Wendebourg zurückgeht: „Die Reformation und die Juden. Eine Orientierung“.33 Im ersten Satz der Schrift ist zu lesen: „Das Jubiläum von 2017 gilt nicht Martin Luther, sondern der Reformation.“ (3) Könnte man von diesem Auftakt und dem Titel der Schrift her eine breite Ausführung zum Thema erwarten, so beschränkt sich die Darstellung dann doch im Wesentlichen auf Martin Luther, und zwar auf lediglich zwei seiner Schriften „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ von 1523 und „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543. Ziel der Orientierungshilfe ist es zunächst, die Äußerungen 32 Schneider, Reformationsjubiläum, 4–11. 33 Der Text ist elektronisch zugänglich unter: http://www.luther2017.de/sites/default/files/down loads/lutherdekade_reformation_und_die_juden.pdf; Zum Redaktionsteam gehörten dann auch Ingolf U. Dalferth und Thomas Kaufmann.

„Luther und die Juden“ in den kirchenpolitischen Entwicklungen

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Luthers zu den Juden zu kontextualisieren und sie damit an ihrem historischen Ort zu würdigen (7–14). Zum andern geht die Orientierungshilfe auf die Rezeption seiner Aussagen ein (14–16). Die Orientierungshilfe verschweigt nicht das problematische Erbe, das den Kirchen der Reformation mit Luthers Judenschriften aufgegeben ist. Sie schließt mit dem Satz: „Ein Reformationsjubiläum, das die ganze Breite der Erbschaft bedenkt, kann diese Hypothek nicht verschweigen.“ (16) Gleichwohl hat die Orientierungshilfe trotz Würdigung ihrer erklärten Absicht auch inhaltliche Kritik erfahren. Am 20. November 2014 veröffentlichte das „Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen“ an der Augustana-Hochschule (Neuendettelsau) eine Stellungnahme,34 in der vier Kritikpunkte genannt werden: 1. Die Problematik der judenfeindlichen Äußerungen Luthers bleibe deswegen „unterbestimmt“, weil sie sich v. a. auf die Wirkungsgeschichte in der NS-Zeit beziehe, aber nicht die judenfeindlichen Äußerungen selbst als Hypothek bezeichne. 2. Luthers Judenbild werde deshalb vereinseitigt, weil versäumt werde, Luthers Äußerungen zu den Juden mit zentralen Aussagen seiner Theologie in Beziehung zu setzen. 3. Die Orientierungshilfe unterschätze die negativen Auswirkungen von Luthers Judenschriften, da sie davon ausgehe, diese seien vor der antisemitisch-völkischen Bewegung nicht rezipiert worden. 4. Die Orientierungshilfe rezipiere „die aktuelle Forschung nur zum Teil“ und nehme „die im christlich-jüdischen Gespräch errungenen Einsichten und Positionen nicht zur Kenntnis.“ Vergleicht man die Aussagen der Orientierungshilfe etwa mit der jüngsten Veröffentlichung zum Thema von Thomas Kaufmann35, so lassen sich völlig unterschiedliche Akzentsetzungen nicht übersehen: Der christlich-jüdische Dialog und dessen Ergebnisse spielt in der Orientierungshilfe in der Tat so gut wie keine Rolle. Am 21. November 2014 verabschiedete die Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) einen Beschluss zu Distanzierung von Luthers Judenschriften. Das vom Theologischen Ausschuss erarbeitete und von der Synode angenommene Votum nimmt explizit Bezug auf die Änderung des EKHN-Grundartikels von 1991 und das bevorstehende Reformationsjubiläum (2017). Es kommt zum Schluss, dass Luthers „Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Judentum nicht mit dem Zeugnis der Schrift von der bleibenden Erwählung Israels vereinbar“ sei. „Der Gedanke einer bleibenden Erwählung Israels und der Treue Gottes zu seinem Volk blieb Martin Luther unter Berufung auf alttestamentliche israelkritische Passagen verschlossen. In seinen späten ,Judenschriften‘ hat er dem Judentum den Status 34 Der Text ist zugänglich unter: http://bcj.de/pages/posts/stellungnahme-zur-bdquoorientie rungshilfe-sbquodie-reformation-und-die-judenlsquoldquo-des-wissenschaftlichen-beirateszum-reformationsjubilaeum-2017-86.php. 35 Vgl. Kaufmann, Juden.

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als Volk Gottes explizit abgesprochen, indem er auf den s. E. 1500 Jahre währenden Zorn Gottes über das jüdische Volk verweist. Dem widerspricht die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau mit ihrem 1991 erweiterten Grundartikel ihrer Kirchenordnung nachdrücklich: ,Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein‘.“

Der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat das Votum der EKHN am 16. Dezember 2014 ausdrücklich begrüßt. In einem Schreiben an den Präses der Kirchensynode der EKHN36 würdigt der Koordinierungsrat die „klare Kritik und Distanzierung“ von Luthers antijüdischen Aussagen und die Erkenntnis der Notwendigkeit einer kritischen Aufarbeitung „des dunklen Erbes der Reformation“. Zugleich gibt er der Hoffnung Ausdruck, dass „dieses Synodalvotum der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau einen guten Impuls für eine angemessene weitere Auseinandersetzung mit dem antijüdischen Erbe der Reformation auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017“ ergeben möge.

5. Ausblick Wenn sich die EKD im Rahmen der Vorbereitungen des Reformationsjubiläums entschließen sollte, eine Erklärung zum Problem „Luther und die Juden“ zu publizieren, so dürfte es nicht ausreichend sein, sich von Luthers Judenschriften zu distanzieren, es müssten darüber hinaus folgende Aspekte enthalten sein: 1. Nicht die Schriften Luthers, sondern die Schrift selbst ist norma normans in der evangelischen Theologie. Allerdings gibt es auch innerhalb der Schrift verschiedene Tendenzen und Aussagen im Blick auf das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk. Es genügt daher nicht, mit der Schrift gegen Luther zu argumentieren. Es müsste theologisch begründet werden, warum man bestimmten neutestamentlichen Aussagen folgt (z. B. Röm 9–11; 15,7–13) und andere zurückweist (z. B. Joh 8,44). 2. Die Judenfeindschaft, die sich in Luthers Judenschriften zeigt, stellt kein Randphänomen der Theologie Luthers dar, sondern führt ins Zentrum seiner Theologie. Die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis müssten gleicherweise reflektiert werden. 3. Eine Distanzierung von Aussagen Luthers in dessen Judenschriften allein ist nicht ausreichend. Luthers antijüdische Positionen wurden in der reformatorischen Theologie vielfach weitertradiert. Es müssten daher - analog zu den Ausführungen der LEKKJ und von Nikolaus Schneider - grundlegende 36 Der Text ist zugänglich unter: http://www.deutscher-koordinierungsrat.de/dkr-home-Presse mitteilung-Klare-Distanzierung-von-antijuedischen-Schriften-Martin-Luthers-2014.

„Luther und die Juden“ in den kirchenpolitischen Entwicklungen

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lutherische Paradigmata (Gesetz/Evangelium, Verheißung/Erfüllung, christologische Interpretation des AT) in die Überlegungen einbezogen und auf ihre Schrift- und Zeitgemäßheit hin befragt werden.37

Abkürzungsverzeichnis AcK BEKDDR EKD EKHN ELKB ELCA LEKKJ LWB SELK

= = = = = =

Die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche in Hessen und Nassau Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern Evangelical Lutheran Church in America (Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika) = Die Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum = Lutherischer Weltbund = Selbstständige Evangelisch-Lutherische Kirche

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Biermann-Rau, Sibylle: An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen. Stuttgart 2012. Friedrich, Johannes: Vorwort zu Folker Siegert (Hg.): Kirche und Synagoge. Ein lutherisches Votum. Göttingen 2011. Henrix, Hans Hermann / Kraus, Wolfgang (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. Bd. II: Dokumente von 1986–2000. Gütersloh / Paderborn 2001. Kaufmann, Thomas: Luthers Juden. Stuttgart 2014. Kremers, Heinz (Hg.): Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden. Neukirchen 21987. Leuenberger Texte, Heft 6: Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden. Im Auftrag des Exekutivausschusses der Leuenberger Kirchengemeinschaft hg. von H. Schwier. Frankfurt 2001. Rendtorff, Rolf / Henrix, Hans Hermann (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. Bd. I: Dokumente von 1945–1985. München / Paderborn 1987. Schneider, Nikolaus: Das Reformationsjubiläum im Licht des christlich-jüdischen Verhältnisses. In: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, 97 (2014), 37 Für Hinweise bei der Schlussredaktion danke ich Axel Töllner, Nürnberg.

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Heft 1 (hg. im Auftrag des Evangelisch-Lutherischen Zentralvereins für Begegnung von Christen und Juden), 4–11. Volkmann, Michael: Positionsbestimmungen lutherischer Landeskirchen gegenüber dem Judentum: Eine Übersicht. In: Folkert, Siegert (Hg.): Kirche und Synagoge. Ein lutherisches Votum. Göttingen 2011, 297–303.

II. Internetquellen http://www.agwege.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_pfarramt_chris ten_juden/Texte_AG_und_Elkwue/25JahreErklaerungVerbundenheitJuedischem Volk.pdf (18. 3. 2015). http://www.christenundjuden.org/stellungnahmen/kirchen/289-martin-luther-unddas-judentum (12. 10. 2014). http://www.deutscher-koordinierungsrat.de/dkr-home-Pressemitteilung-Klare-Dis tanzierung-von-antijuedischen-Schriften-Martin-Luthers-2014 (26. 12. 2014). http://www.ekd.de/aktuell_presse/pm88_2008_elkb_christen_juden.html (18. 3. 2015). http://www.jcrelations.net/Search.720.0.html?L=2)&page=23 (12. 10. 2014). http://www.jcrelations.net/Erkl%E4rung+zum+Antisemitismus.1788.0. html?L =2 (12. 10. 2014). http://www.luther2017.de/sites/default/files/downloads/lutherdekade_reformati on_und_die_juden.pdf (26. 12. 2014). http://bcj.de/pages/posts/stellungnahme-zur-bdquoorientierungshilfe-sbquodie-re formation-und-die-judenlsquoldquo-des-wissenschaftlichen-beirates-zum-refor mationsjubilaeum-2017-86.php (28. 12. 2014). http://www.theology.de/themen/martin-luthers-judenfeindschaft-offener-appell. php (12. 10. 2014).

Schlussbetrachtungen

Berndt Hamm

Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im 19. und 20. Jahrhundert Ein Kommentar zur Tagung Die folgenden acht Punkte sind teils Resümee, teils Weiterführung und Zuspitzung der Tagungsvorträge und -diskussionen: 1. Luthers Judenschriften sind im 19. und 20. Jahrhundert offensichtlich sowohl präsent als auch nicht präsent. Das gilt nicht nur für seine frühe Schrift von 1523 ,Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei‘, sondern insbesondere auch für seine Schrift ,Von den Juden und ihren Lügen‘ (1543) und die anderen massiv antijudaistischen und mit ihrer sozial ausgrenzenden Intention auch scharf ,antisemitischen‘ Spätschriften Luthers (zur Terminologie vgl. unten Punkt 5). Wie die Vortr äge gezeigt haben, wurde auf diese späten Judenschriften Luthers literarisch nicht in der Erweckungsbewegung, nicht im konfessionellen Neuluthertum und bemerkenswerter Weise auch nicht in jüdischen Lutherdeutungen des 19. Jahrhunderts eingegangen, auch so gut wie nicht in den akademischtheologischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, kaum im Schrifttum der Bekennenden Kirche und nur selten in den Lutherbiographien der beiden Jahrhunderte. Daraus zu folgern, diese Autoren unterschiedlichster Einstellungen hätten von den scharf antijüdischen Spätschriften Luthers nichts gewusst und sie nicht, zumindest auszugsweise, lesend rezipiert, wäre allerdings ein Fehlschluss. Wie präsent Luthers antijüdische Invektiven in der Öffentlichkeit waren, zeigen jedenfalls die katholisch-theologischen Luther-Publikationen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die – auch auf protestantischer Seite – intensiv rezipierten großen Luther-Biographien von Heinrich Denifle (1904/09) und Hartmann Grisar (1911/12) berücksichtigen eingehend den Antijudaismus von Luthers Spätschriften. Andererseits gab es katholische Reformationsforscher wie Johannes Janssen (1829–1891), die dieses Thema übergingen – vermutlich nicht deshalb, weil ihnen die Äußerungen Luthers unbekannt waren, sondern weil sie die tiefe, epochale Zäsur zwischen Vorreformationszeit und Reformation hervorheben und dagegen die starke antijudaistische Kontinuität zwischen einer reformorientierten spätmittelalterlichen Religiosität und Luther nicht thematisieren wollten. Analog gab es auf evangelischer Seite parallel zum weitgehenden Verschweigen der antijüdischen Aggressivität Luthers einzelne wissenschaftlich seriöse Autoren wie z. B. den – stark historistisch arbeitenden – Erlanger Lutherforscher Theodor Kolde, die sich mit diesem Thema

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Berndt Hamm

auseinandersetzten1. Man kann daraus den Schluss ziehen : Diejenigen protestantischen, katholischen und jüdischen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts, die Person und Werk Luthers darstellten und bewerteten und dabei auf Luthers Judenschriften überhaupt nicht oder nur auf die vergleichsweise moderate, meist als ,judenfreundlich‘ charakterisierte Frühschrift Luthers eingingen, verfuhren kaum in Unkenntnis dessen, dass der späte Luther alles Jüdische dämonisierte, vor den Juden als verstockten Agenten Satans warnte und zu ihrer Verfolgung aufrief. Offensichtlich hat man diese Seite Luthers bewusst ausgeblendet, wobei verschiedenartige Motive eine Rolle gespielt haben dürften : z. B. das volksmissionarische Interesse unter dem Einfluss der Erweckungsbewegung, das ein werbendes und gewinnendes Zugehen auf die jüdische Bevölkerung intendierte, oder der gesellschaftliche Prozess der Judenemanzipation und -integration im 19. Jahrhundert, den man bejahte und nicht durch ein Störfeuer Luther’scher Judenfeindschaft irritieren wollte, oder das verstärkte Aufkommen eines kulturellen, sozialen und rassischen Antisemitismus und der völkischen Gruppierungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, denen man durch eine Thematisierung des antisemitischen Luther nicht entgegenkommen wollte. Auch war sicher von Gewicht, dass sich die Lutherforschung des frühen 20. Jahrhunderts stark auf den Theologen Luther, und zwar insbesondere auf den jungen Luther der (gerade erst entdeckten) ersten Wittenberger Vorlesungen konzentrierte. Und nicht zuletzt dürfte der in seiner Aggressivität hemmungslose Luther vielen Lutherkennern peinlich gewesen und – verglichen mit dem, was man als sein reformatorisches Lebenswerk wahrnahm – auch marginal vorgekommen sein. So ist es bezeichnend, dass Gerhard Ebeling, einer der meistgelesenen Lutherforscher nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Problembereich des judenfeindlichen Luther auswich und etwa in seinem weit verbreiteten Buch ,Luther – Einführung in sein Denken‘ (Erstaufl. 1964) das Thema ,Luther und die Juden‘ mit keinem Wort berührte. 2. Parallel zur mehr oder weniger kalkulierten Nicht-Erwähnung der Judenschriften Luthers verlief, wie die Vorträge zeigten, ihre verfälschende Rezeption. Die Verfälschung der antijüdischen Invektiven Luthers trat besonders krass in der völkischen Bewegung, im Nationalsozialismus und bei den ,Deutschen Christen‘ zutage. Sie instrumentalisierten insbesondere Luthers agitatorische Schrift ,Von den Juden und ihren Lügen‘ im Sinne des Rasse-Antisemitismus und unterstellten dem jungen Luther noch Illusionen über das wahre Wesen des Judentums, das er erst nach eigenen Erfahrungen durchschaut habe. Zu Verfälschungen kam es aber auch da, wo man diesen Traktat und die zeitlich benachbarten anderen Judenschriften Luthers als 1 Vgl. insbesondere Kolde, Luther, 531–534; vgl. dazu den Beitrag von Anselm Schubert in diesem Band, Die Rezeption von ,Luther und die Juden‘ im Spiegel der Lutherbiographik des 19. und 20. Jh.

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emotionale Entgleisungen des alt gewordenen, kranken, durch Sorgen und ein Übermaß an Arbeit überreizten und wegen der ausbleibenden Erfolge der Judenmission enttäuschten und verbitterten Reformators deutete, der sich hier nicht mehr auf der Höhe seines reformatorischen Wirkens bewege. Die verharmlosende Fehlinterpretation beginnt bereits, indem man die antijüdische Aggressivität als Spezialproblem des älteren Luther deklariert und marginalisiert. Dagegen wurde in den Diskussionen der Tagung hervorgehoben, dass in der Auseinandersetzung Luthers mit dem Judentum eine Grundproblematik seines reformatorischen Wirkens, eine Lebenslinie von Polemik, Gewalt-Rhetorik und Aufrufen zu gewaltsamem Handeln seit den frühen zwanziger Jahren erkennbar ist: gegenüber den ,Papisten‘ und ,Romanisten‘ („Wenn wir Diebe mit dem Galgen, Räuber mit dem Schwert, Häretiker mit dem Feuer strafen, warum wehren wir uns nicht mit allen Waffen um so mehr gegen diese Drahtzieher des Verderbens, diese Kardinäle, diese Päpste, diesen ganzen Dreckhaufen des römischen Sodom, die unablässig die Kirche Gottes zerstören, und waschen unsere Hände in ihrem Blut […]“2), gegenüber den Bauern, ,Schwärmern‘, Türken und Juden (zur pauschalen Verteufelung der Letzteren, deren Verstockung es gebiete, gegen sie ohne Liebe und Erbarmen vorzugehen, vgl. bereits Luthers 1526 publizierte Auslegung von Ps. 1093 und im Kontrast dazu die Haltung der Straßburger Reformatoren Wolfgang Capito und Martin Bucer, die in einem Schreiben an Luther vom 26. April 1537 empfehlen, die Juden mit Milde und Barmherzigkeit zu behandeln4). Gegen sie alle, die antichristlichen Teufelsmächte, ist, wie Luther betont, in diesen letzten Tagen vor der Wiederkunft Christi der apokalyptische Glaubenskampf als Vielfrontenkrieg zu führen, und zwar stets auch zugleich durch den bußfertigen Kampf gegen die Macht Satans im eigenen Herzen und in der Gemeinde Christi. Diese metaphysische und eschatologische Diabolisierung der Glaubensgegner, der die Diabolisierung Luthers und seiner Anhänger von katholischer Seite entsprach, wurde mit ihrem Gewaltpotenzial prägend für die europäische Konfessionsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. 3. Die internationale protestantische Reformations- und Lutherforschung hat bis in die jüngste Zeit und z. T. noch bis heute die theologischen Zusammenhänge zwischen der aggressiven Erbitterung in Luthers späten Judenschriften und dem apokalyptisch-antisatanischen Grundcharakter seiner Theologie spätestens seit 1520 (seine Sicht des Papstes als Antichrist und die 2 „Si fures furca, si latrones gladio, si haereticos igne plectimus, cur non magis hos magistros perditionis, hos cardinales, hos papas et totam istam Romanae Zodomae colluviem, quae ecclesiam dei sine fine corrumpit, omnibus armis impetimus et manus nostras in sanguine istorum lavamus [vgl. Vulgata-Ps. 57,11], tanquam a communi et omnium periculosissimo incendio nos nostrosque liberaturi?“ WA 6, S. 347, 22–27 (Epitoma responsionis, 1520). 3 WA 19, S. 542–615. Vgl. dazu Bultmann, Betrachtung, 179–193. 4 WA.B 8, S. 76–78, Nr. 3152; deutsche Übersetzung des lateinischen Briefs bei Bultmann, ebd., 191–193.

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Bücherverbrennung vor dem Elstertor) nicht adäquat zur Sprache bringen können. Erst der niederländisch-reformierte Kirchenhistoriker Heiko A. Oberman hat seit 1981 auf diese Zusammenhänge im Werk Luthers vor dem Hintergrund der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Feindseligkeit gegen das Judentum aufmerksam gemacht5. Wenn ich recht sehe, war er so der erste Historiker, der eine hohe Wertschätzung der Person und Theologie Luthers mit einer kontextualisierenden Interpretation seiner späten Judenschriften verband; genauer gesagt war er der erste, der deren gewaltgesättigten Antisemitismus weder gegenüber dem theologischen Hauptwerk Luthers isolierte und relativierte noch ihn als ,nur‘ religiösen Antijudaismus entschärfte (als ob Gewalt dadurch weniger schlimm wird, dass sie durch religiösen Eifer motiviert ist) oder auf andere Weise den Skandal dieser Schriften verdrängte oder abmilderte – etwa mit dem oberflächlichen, nur eine Halbwahrheit formulierenden Argument, Luther sei in dieser Hinsicht ,nur ein Kind seiner Zeit‘ und das Spezifische seiner Judenfeindschaft im Grunde ,nur‘ ein Anwendungsfall seiner Rechtfertigungslehre gewesen. Durch Oberman hat die protestantische Lutherforschung, insbesondere in Deutschland und in den USA, Anschluss an die internationale kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus Luthers von jüdischer und katholischer Seite, aber auch an die Luther- und Reformationskritik eines Thomas Mann gefunden. 4. Zur Geschichte der verfälschenden Rezeption von Luthers Judenschriften gehört auch, dass man seine frühe Schrift von 1523 ,Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei‘ im 19. und 20. Jahrhundert vornehmlich als judenfreundlich und ,wohltemperiert‘ wahrnahm und im Vergleich mit Luthers späterer Tonlage auch heute noch so interpretiert. In der Tat hat sich der religionspolitische Umgang Luthers mit der jüdischen Seite im Laufe der Jahre eklatant verändert: von dem anfänglichen, aus der Feder eines Theologen ungewöhnlichen Aufruf zur gesellschaftlichen Judenduldung und -integration (ihnen zu gewähren, „untter uns tzu erbeythen, hantieren und andere menschliche gemeynschafft tzu haben“6) bis zum späteren Maßnahmenkatalog der völligen Entrechtung der Juden, der Konfiszierung ihres Schrifttums, der Zerstörung ihrer Wohnhäuser, des Verbrennens ihrer Synagogen und ihrer Vertreibung („weg mit ihnen“)7 – ein Maßnahmenbündel, das die reale Vertreibungspraxis seit dem frühen 15. Jahrhundert widerspiegelt und durch theologische Polemik zuspitzt. Doch ist zugleich die bemerkenswerte Kontinuität in der Haltung Luthers zum Judentum von seinen theologischen Anfängen bis in die Spätzeit zu beachten. Unter der Dominanz seiner christozentrischen Perspektive und seiner christologischen Auslegung des Alten Testaments war für ihn das Judentum stets eine Religion ohne Eigenwert und 5 Vgl. Oberman, Wurzeln; Ders., Luther, besonders Kap. X, 5; Ders., Beziehungen, 519–530 mit Anmerkungen in Bd. 2, 894–904. 6 WA 11, S. 336, 28 f. 7 WA 53, S. 526, 7–14; 536,23–537,17 (Von den Juden und ihren Lügen, 1543).

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Existenzrecht, eine Religion, die durch die christliche Wahrheit der Schriftauslegung zum Verschwinden gebracht werden muss. Im Unterschied zu Johannes Reuchlin und anderen christlichen Hebraisten billigt Luther daher auch dem jüdischen Schrifttum, dem Talmud, der Kabbala und den rabbinischen Auslegungen der hebräischen Bibel, keinerlei Wert zu. Indem er sich in seinen ersten Vorlesungen mehr und mehr vom vierfachen Schriftsinn der mittelalterlichen Bibelauslegung abwandte, um schließlich nur noch den buchstäblichen Schriftsinn gelten zu lassen, und indem er, gerade auch für das Alte Testament, diesen sensus litteralis exklusiv mit dem christologischen Sinn identifizierte, reklamierte er die hebräische Bibel ausschließlich für die Christenheit und konnte der jüdischen Seite keine, wenn auch noch so begrenzte, Auslegungskompetenz auf einer historischen Litteralebene der Bibelwissenschaft konzedieren. De facto war dies die konsequente bibelhermeneutische Entrechtung des Judentums und in dieser Hinsicht eine neuartige Zuspitzung des christlichen Antijudaismus. Auf dieser Grundlage schrieb Luther seine ,freundliche‘ Judenschrift von 1523. Ihr entgegenkommender und einladender Charakter erklärt sich nicht aus einer Wertschätzung des jüdischen Glaubens und jüdischer Menschen, sondern missionsstrategisch: Luther ist der Meinung, dass jetzt – anders als durch die unmenschlichen Zwangsmaßnahmen der römischen Kirche – zwar nicht alle, aber doch viele Juden durch das freigelegte Evangelium für den Christusglauben gewonnen werden können. Nicht nur die Kirche könne und müsse jetzt aus der ,babylonischen Gefangenschaft‘ der ,Papisten‘ befreit werden, sondern auch die Judenheit sei nun durch die Prediger des reinen Gotteswortes aus ihrer Verblendung zu befreien. Dass sich Luthers Hoffnung nicht erfüllte, verursachte schon bald seine veränderte Einstellung zum Judentum: Er nahm Juden nicht mehr in erster Linie als willkommene Adressaten christlicher Mission wahr, die durch das Evangelium beschenkt werden, sondern primär als „Teufelsbrut“, als Agenten Satans und des Antichrist, die sich verstockt in die Phalanx der widergöttlichen Mächte dieser Welt einreihen. 5. Noch ein Wort zur Sprachregelung ,Antijudaismus‘ und ,Antisemitismus‘. Der Begriff ,Antisemitismus‘ ist genau genommen unsinnig, weil er sich – auch in seiner rasseideologischen Anwendung – immer auf Angehörige des Judentums bzw. auf Menschen mit jüdischen Vorfahren bezieht und nicht allgemein auf die ,Semiten‘, d. h. – nach dem heutigen, nicht mehr rassisch konnotierten, sondern sprachkulturellen wissenschaftlichen Sprachgebrauch – auf die Angehörigen der semitischen Sprachfamilie. Antisemitismus ist also immer Antijudaismus, aggressive Judenfeindschaft. In der internationalen Forschung hat sich aber mittlerweile der Begriff ,Antisemitismus‘ in der Weise etabliert, dass er eine judenfeindliche Haltung bezeichnet, die Angehörige der jüdischen Religion bzw. ihre Nachfahren sozial ausgrenzt und rechtlich benachteiligt oder jedenfalls eine solche Ausgrenzung intendiert. Wie das Mittelalter zeigt, konnte eine solche Ausgrenzung bis hin zur physischen Vernichtung auch rein religiös begründet sein. In diesem Sinne gehören auch

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Luthers antijüdische Spätschriften mit ihrem Aufruf zur Entrechtung, Enteignung und Austreibung der Juden in die Geschichte des Antisemitismus, da sie auf eine Ausgrenzung, ja auf ein Verschwinden der jüdischen Menschen aus den christlichen Städten und Territorien zielten. Die Christenheit sollte ,judenfrei‘ werden. Dass dies – ebenso wenig wie die antike und mittelalterliche Judenfeindschaft – kein biologisch begründeter Rasseantisemitismus war, machte die Situation für die Menschen, die sich nicht taufen lassen, sondern Juden bleiben wollten, nicht weniger bedrohlich. Die Begründungen des diskriminierenden, verfolgenden und mörderischen Antisemitismus veränderten sich mit der Zeit und ihren weltanschaulichen Koordinaten; konstant aber blieb sein e-liminatorischer (aus-grenzender) Charakter. Angesichts dieser heutigen Sprachregelung der internationalen Antisemitismusforschung ist es daher eine terminologische Verharmlosung, wenn gelegentlich immer noch betont wird, die Judenfeindschaft von Luthers Spätschriften sei rein religiös und theologisch (antijudaistisch) motiviert gewesen und sei deshalb kein Zeugnis von Antisemitismus. Besser wäre es allerdings – leider ein unrealistischer Wunsch –, wenn man auf den sprachlich irreführenden Antisemitismus-Begriff völlig verzichten und ihn generell durch den Antijudaismus-Begriff ersetzen könnte. Als ,Antijudaismus‘ würde man dann alle (auch rasseideologisch agitierenden) Formen einer pauschal diskriminierenden und ausgrenzenden Judenfeindschaft bezeichnen, nicht aber eine legitime, begrenzte Kritik an bestimmten Phänomenen der jüdischen Religion oder der Politik des Staates Israel. 6. Die Tagung zeigte an vielen Beispielen: Man bediente sich der Judenschriften Luthers dann, wenn man sie zur Stärkung der eigenen Position brauchte, und man bediente sich ihrer in der Weise, wie sie den eigenen kirchlichen, theologischen, ideologischen oder gesellschaftspolitischen Interessen am besten dienen konnte – oder man ließ sie völlig beiseite, weil sie solchen Intentionen zuwiderliefen oder sie nicht argumentativ-legitimierend unterstützen konnten. Diese Beobachtung gilt für den gesamten Zeitraum zwischen der Abfassung der Schriften und der Gegenwart. So konnte man im frühneuzeitlichen Luthertum auf Luthers Traktat ,Von den Juden und ihren Lügen‘ zurückgreifen, um die Duldung von Juden durch Obrigkeiten zu bekämpfen; oder man konnte in Orthodoxie, Pietismus und Erweckungsbewegung die frühe Schrift Luthers zitieren, um das eigene missionarische Bemühen, Juden das Evangelium nahezubringen, mit Luthers Autorität zu untermauern. Besonders auffallend ist diese Instrumentalisierung von Luthers Judenschriften und seiner Autorität während des ,Dritten Reiches‘ im Gegenüber von Deutschen Christen und Bekennender Kirche, die sich geradezu spiegelbildlich jeweils auf ,ihren‘ Luther beriefen und ihn gegen ihre ideologischen Gegner ins Feld führten. Das bedeutet aber, dass die Wirkung Luthers innerhalb der Rezeptionsgeschichte seiner Judenschriften sehr begrenzt war : Sie wurden rezipiert, um bestimmten Interessen und Absichten das Gewicht des großen Reformators zu verleihen; aber diese Interessen-

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richtungen waren unabhängig von Luthers Judenschriften bereits vorhanden und wurden nicht erst durch sie hervorgebracht, und sie haben auch die Dynamik der Ereignisse nicht verändert oder wesentlich verstärkt, sondern argumentativ und autoritativ unterfüttert. 7. Diese These von der generell geringen Wirkung Luthers bei bisweilen starker Rezeption seiner Judenschriften ist vor allem und speziell auch auf die Instrumentalisierung seiner Judenfeindschaft durch den rasseideologischen Antisemitismus der Völkischen, der Nationalsozialisten und der ,Deutschen Christen‘ anzuwenden und im Blick auf die Novemberpogrome von 1938 und die nationalsozialistische Judenvernichtung weiterzuführen. Nachdem Luther im wilhelminischen Deutschland zum deutsch-nationalen Heros monumentalisiert worden war, ließen es sich die Völkischen nicht entgehen, auch den Judenfeind Luther in ihrem Sinne massiv zu rezipieren. Luthers Judenschriften haben aber diesen neuartigen rassebiologischen Antisemitismus nicht hervorgebracht, und die Nationalsozialisten hätten ihre Maßnahmen der Entrechtung und Eliminierung der deutschen und europäischen Juden auch ohne argumentative Unterstützung durch die Autorität Luthers geplant und durchgeführt. Für die Drahtzieher der Verbrechen waren Luthers Judenschriften nur ein völlig marginaler Aspekt. Insofern ist kein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen Luthers aggressiver und zur Gewalt aufrufender Judenfeindschaft und der antijüdischen Gewalt des NS-Staats nachzuweisen. Auch die brennenden Synagogen der Novemberpogrome 1938 können nicht kurzschlüssig als Effekt von Luthers agitatorischer Empfehlung, die Synagogen zu verbrennen, verstanden werden, obwohl die Parallelität bestürzend ist. 8. Allerdings ist dies nur eine oberflächliche Sicht, und die kausalen Zusammenhänge dürften komplizierter sein. Der mörderische Rasseantisemitismus der Völkischen entstand in Deutschland auf der Grundlage eines jahrhundertelangen christlichen Antisemitismus, der im ausgehenden 19. Jahrhundert eine stark nationalistische und kulturkritische Einfärbung erhielt. Im Milieu des deutschen Luthertums und darüber hinaus allgemein im deutschen Nationalprotestantismus verband sich dieser religiös-national-soziokulturelle Antisemitismus, besonders nach 1914, mit dem argumentativen Gewicht der judenfeindlichen Haltung Luthers. Und man kann vermuten, dass die monumentale Autorität Luthers eine Mitursache dafür war, dass der deutsche Protestantismus den antijüdischen Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten fast nichts entgegensetzte, auch 1938 weitgehend stumm blieb und dem Abtransport der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager (anders als den Euthanasieaktionen der Nationalsozialisten) klaglos zusah. Wo man im Sinne Luthers jahrhundertelang gehört hatte, dass das Judentum eine wertlose antichristliche Religion ist, die zum Leiden bestimmt ist und zum Verschwinden gebracht werden muss, empfand man das Leiden der Juden und ihr Verschwinden nicht als verstörend und empörend. Insofern war die massive Judenfeindschaft Luthers und sein verheerender Maßnahmenkatalog,

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der auf ein völliges Verschwinden jüdischen Lebens aus deutschen Landen drängte, zwar nicht die causa efficiens für die nationalsozialistische Judenvernichtung, doch gehörte sie zu den Voraussetzungen, den causae sine quibus non, ohne die eine derartige totalitäre, auf die völlige Vernichtung jüdischen Lebens zielende Gewalttätigkeit nicht möglich gewesen wäre. Die Rezeption der späten Judenschriften Luthers trug so, insbesondere durch die populartheologische Vermittlung von Universitätstheologen und Pfarrern, ihren Teil dazu bei, dass in der Bevölkerung die mentale Hemmschwelle gegenüber den Verbrechen der Nationalsozialisten abgebaut und die Toleranzbereitschaft, auch die Bereitschaft zum Wegsehen und die unbewusste ,Fähigkeit‘ des Nicht-Wahrnehmens, erhöht wurden.

Quellen- und Literaturverzeichnis Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Bultmann, Christoph: Luthers Betrachtungen der Juden nach Psalm 109 und der evangelische Anspruch auf Schriftgemäßheit. Ein Nachtrag zu einer Veröffentlichung der VELKD. In: Luther 85 (2014), 179–193. Kolde, Theodor : Martin Luther – eine Biographie. Bd. 2. Gotha 1889. Luther, Martin: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. WA 6. Weimar 1888. –, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. WA 19. Weimar 1897. –, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. WA 11. Weimar 1900. –, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. WA 53. Weimar 1920. –, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. WA.B 8. Weimar 1938. Oberman, Heiko A.: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation. Berlin 1981. –, Luther – Mensch zwischen Gott und Teufel. Berlin 1982. –, Luthers Beziehungen zu den Juden: Ahnen und Geahndete. In: Helmar Junghans (Hg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Bd. 1. Göttingen 1983, 519–530; und Bd. 2. Göttingen 1983, 894–904.

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Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im 19. und 20. Jahrhundert Ein Kommentar zur Tagung Die Erlanger Tagung zu den judenfeindlichen Schriften Luthers darf ungeachtet einiger anderer wichtiger Arbeiten zum Thema, die in jüngster Zeit vorgelegt wurden, als wesentlicher Schritt hin zu einem tieferen Verständnis des problematischen Verhältnisses von Luthertum und Judentum gelten. Denn im Vorfeld des anstehenden Reformationsjubiläums und als Impulsgeber dafür hat die vertiefte Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte von Luthers „Judenschriften“ einen Schlüssel für ein besseres Verständnis in der Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb der Kirchen1 geliefert und Akzente für die weitere Forschung gesetzt.2 Dem Kommentator, der von der Antisemitismusforschung und den Jüdischen Studien herkommend sozusagen den doppelten Blick aus beiden Querhausseiten auf die Diskussion inmitten des Raums einnahm, entspann sich ein so zuvor vielleicht noch kaum erreichtes, um vorbehaltlose und auf ernste Klärung zielendes Tableau von Perspektiven, die allesamt historisch gestützt über die Fachwissenschaft hinaus auf in Zukunft kirchlich und gesellschaftlich verantwortbare Positionen zum Thema zielten. Schon die einleitende Übersicht zur wechselvollen Stellung der Lutherschriften in der langen und wendungsreichen Editionsgeschichte (Leppin) ließ deutlich werden, in welchem Maße über die Jahrhunderte hinweg Zeitinteressen die Editionen und deren Rezeption bestimmten. Luthers Judenschriften waren kein statisches Traditionsgut, das der Vollständigkeit halber stets mitgegeben worden wäre. Nicht nur bei fremdsprachigen Ausgaben der Lutherschriften, sondern auch in den verschiedenen deutschsprachigen Ausgaben fallen Auslassungen bzw. nuancierende Positionierungen der Judenschriften auf und deuten an, dass diese teilweise schon früh, besonders im Pietismus, als problematisch empfunden wurden. Auf der anderen Seite zeigen 1 Erfreulich ist, dass der Öffentlichkeit für den raschen Zugriff ein gründlich kompilierter Artikel zu „Luther und die Juden“ mit Behandlung zahlreicher Einzelfragen bereitsteht, der bei näherem Hinsehen freilich neue Fragen aufwirft, die in der Anonymität des Mediums allerdings kaum angemessen ausgetragen werden können: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luthe r_und_die_Juden. 2 Als wesentliche neuere Arbeiten zum Verhältnis Luther und Judentum seien bei sehr unterschiedlichen fachlichen Ansätzen genannt: Osten-Sacken, Luther ; Kirn, Luther, 217–225; Bell / Burnett, Jews; Kaufmann, „Judenschriften“; Ders., Juden; Bering, Luther ; ferner für die englischsprachige kirchliche Rezeption: Gritsch, Anti-Semitism.

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gleich mehrere Hamburger und Frankfurter Sammelausgaben des 17. Jahrhunderts von Luthers Judenschriften zusammen mit einer ähnlichen Ausgabe durch den jungen sächsischen Theologen Georg Buchwald 1881 im Vorfeld der Antisemitenpetition an Reichskanzler Bismarck (Leppin), dass wiederholt ein eigenes judenfeindliches Interesse auf Luther zurückgriff und die völkischnationalsozialistische Lutherrezeption im 20. Jahrhundert schon früh vorbereitetet wurde. Im Grunde bildet die Editionsgeschichte von Luthers Judenschriften ganz unterschiedliche kirchliche und politische Bewegungen ab und dient damit als Spiegel von Haltungen gegenüber Juden und Judentum, die auf kirchlicher Seite dann im 20. Jahrhundert weitgehend in Spannung zur Behauptung des Alten Testaments als Teil christlicher Offenbarung gegen anderslautende Anfechtungen und Aneignungen verliefen. Nachhaltige Klärung erbrachte die Tagung gerade hinsichtlich der Stellung von Luthers Judenschriften in der kirchengeschichtlichen und – zumindest in Ansätzen – weiteren Luther- und Reformationsforschung. Demnach bedurfte es für einen kritischen Zugang auch nicht erst der von großer Sympathie für das Reformationswerk geleiteten und wie andere seiner Generation dem preußisch-protestantischen Lutherbild geradezu unentrinnbar verpflichteten (Wiese), aber Luthers Judenschriften als Anstoß markierenden Arbeit des 1942 ermordeten Rabbiners Reinhold Lewin von 19113 ; von anhaltender Wirkung und dennoch die folgende Rezeption nicht in andere Bahnen lenkend war schon 1893 der kritische – heute würde man sagen: kulturwissenschaftliche – Zugang des Luther-Biographen Theodor Kolde gewesen.4 Dagegen blendeten Hanns Liljes biographische Arbeiten zu Luther das Thema Judenfeindschaft auch nach 1945 noch völlig aus – und dennoch kam seine Luther-Biographie in der populären Rowolth-Reihe zuletzt 2008 noch einmal in Neuauflage heraus5 (Schubert). Der Abstand zwischen Kolde und Lilje belegt eindrücklich, welche Untergründe allen ernsten Anstrengungen und synodalen Bekenntnistexten zum Trotz auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch beim Blick auf das Verhältnis von Luther und Judentum mitschwingen (Oelke, Kraus, Anselm). Wichtig war die Erlanger Tagung gerade auch mit dem sich aus mehreren Beiträgen verdichtenden Befund, dass bei der Rezeption von Luthers Judenschriften stets nur in begrenztem Umfang theologische und kirchliche Momente bestimmend waren, ja außerkirchliche Zugriffe, die seit dem 19. Jahrhundert in Luther weniger den Reformator, sondern den Deutschen und erklärten Judenfeind fanden (Kaufmann)6, auch die innerkirchliche Bedeutung seiner Judenschriften noch steigerten. Die Kirchen sahen sich gezwun3 4 5 6

Lewin, Stellung. Kolde, Luther. Lilje, Luther. Der Tagungsbeitrag Thomas Kaufmann, Luther und die Juden in antisemitischen Lutherflorilegien, wurde auf Wunsch des Verfassers publiziert in: ZThK 112 (2015), 192–228.

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gen, Luther immer wieder neu gegen völkische Vereinnahmungen zu positionieren und sich selbst gegen den Vorwurf der anhaltenden Unterdrückung von Luthers Judenfeindschaft zu verteidigen (Brennecke, Arnhold). Beachtung verdient dabei die schlüssige These, dass die geschichtspolitische Hypostasierung Luthers im zweiten deutschen Kaiserreich erst den völkischnationalsozialistischen Zugriff auf den Antisemiten Luther ermöglicht habe (Kaufmann), denn hier zeigt sich in nuce, wie judenfeindliche Haltungen zu dem werden konnten, was Shulamit Volkov als „Antisemitismus als kulturellem Code“ der Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik beschrieben hat.7 Die Erlanger Beiträge machten auch deutlich, dass die Kirchen dabei gar nicht erst den Rückzug auf die mildere Position der 1523er Schrift „Dass Jesus ein geborener Jude sei“ versuchten, sondern ein apologetischer Überbietungsdiskurs in Gang kam, der immer mehr dezidiert antisemitisches Gedankengut in den Raum der Kirchen einfließen ließ. Besonders in den Beiträgen von Hermle und Wiese wurde erkennbar, wie bis hinein in die Bekennende Kirche mit den Mitteln des Antijudaismus der Antisemitismus zurückgewiesen werden sollte, eben um das AT für die Kirche gegen die Ideologien der Völkischen und des Nationalsozialismus zu retten, damit aber die Distanz zu den Juden nur noch steigernd.8 Schon lange vor 1933 ging es dabei nicht nur um die Verteidigung kirchlicher Lehre gegen die ideologische Vereinnahmung allein, sondern (wie im Fall des 1924 verstorbenen Rostocker Theologen Wilhelm Walter) explizit auch um die Frage, wie viel aus dem Antisemitismus in die kirchliche Lehre, im Grunde in den traditionellen Antijudaismus übernommen werden könne, um sich das Alte Testament und auch den Luther nicht entwinden zu lassen. Wo christliche, auch katholische Theologie politisch-apologetisch immer stärker zwischen dem jüdischen AT der Gesetzesreligion und dem christlichen AT der Prophetie unterschied, konnte nach 1933 Solidarität mit den Verfolgten kaum, nämlich nur als gegen den Strom gestellte Haltung einzelner, aufkommen (Schneider-Ludorff, Scherzberg). Wenn man nach alledem als Ertrag der Beiträge zur Zeit zwischen 1880 und 1933 festhalten muss, dass die protestantische Theologie und ihre Kirchen in der Behauptung der alttestamentlichen Grundlage ihres Verständnisses sich selbst immer weiter auf den späten Luther festlegen ließen, dann wird (auch) deutlich, was der simple Befund meint, dass die Kirchen nach 1933 versagt haben. Im Grunde verteidigten die Kirchen schon seit dem 19. Jahrhundert, seit 1933 aber bis hinein in die Bekennende Kirche, bestenfalls ihre Deutungshoheit über die Bibel und das Recht auf Judentaufe, nicht aber die Juden. Denn, so wurde konzis formuliert, es fehlte ihnen ein „theologisch gewonnenes Resistenzpotential“ (Wiese).

7 Vgl. Volkov, Antisemitismus, 13–36. 8 Vgl. dazu auch Probst, Jews.

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Aufklärung und Vermittlung tun – das machte die Erlanger Tagung fernerhin deutlich – auch in anderer Hinsicht Not. Gewiss, die einfache These einer Kontinuität „von Luther zu Hitler“ kann sich in der Forschung bestenfalls noch randständig halten.9 Dafür nehmen sich Journale, Blogs und Medien, die zum Erfolg ihres Informationsauftrags auch auf Effekt und Unterhaltung angewiesen sind, diese Linie nur zu gerne auf. So einen „Shitstorm“ in den Raum der Geschichte zu blasen, macht sich immer gut. Aber es wäre, wie während der Erlanger Tagung bemerkt wurde, geradezu absurd, wenn die Völkischen mit ihrem Ansinnen, die Kirchen auf die judenfeindlichen Schriften Luthers festzulegen, unter umgekehrten Vorzeichen auf lange Sicht noch einen Erfolg verbuchen könnten (Kaufmann). Unter diesen Umständen täte es gewiss nicht gut, ja verbietet es sich angesichts des öffentlichen Interesses, Luthers Judenschriften, wo sie doch theologisch als unverbindlich erkannt werden können, einseitig zu historisieren und den Band 53 der Weimarer Ausgabe sozusagen als Separatum in die Verantwortung der Antisemitismusforschung zu übergeben. Im Unterschied zu den USA, wo das Mainstream-Luthertum kaum einmal Ansätze unternahm, Luthers Judenschriften ins Zentrum zu rücken (Burnett), ist dem lutherischen Erbe in Deutschland anhaltend eine Doppelbödigkeit eingeschrieben, die nur durch vorbehaltlose Thematisierung der Spannungspunkte geschlossen werden kann. Das freilich ist nicht im Sinne einer erbsündig bleibenden Last zu verstehen, die angesichts der Praxis von „Cicero“ und „Spiegel“, immer aufs Neue das längst Bekannte zu skandalisieren, die Vorfreude auf das kommende Reformationsjubliäum vergällen sollte. Ebenso sollte es aber auch nicht, wie im Vorfeld des letzten Luther-Jubiläums 1983, bei großen Ankündigungen bleiben, die dann wenig Resonanz in der Universitätstheologie fanden und ansonsten zwischen Posaunenklängen und Markt der Möglichkeiten nur noch am Rande Wirkung taten. Das Thema Judenschriften gehört – und dafür hat die Erlanger Tagung kräftige Vorarbeit geleistet – ins Zentrum und bietet gewiss auch noch neue Ansätze für eine weitere Bestimmung dessen, was Luthertum heute ausmachen kann. Für die historische Forschung bleibt die Aufgabe, auch den jungen Luther und seine Zeitgenossen stärker in den Blick zu nehmen und auch zu fragen, welche Kontinuitäten neben den Weichenstellungen der frühen Jahre bei Luther und im Luthertum wirksam blieben. Angesichts des unbedingten Schriftbezugs für alle Bereiche des kirchlichen Lebens als wesentlicher Grundlage reformatorischen Verständnisses muss die Anknüpfung an althergebrachte Feindschemata und deren apokalyptische Aufladung bei den Reformatoren heute noch immer überraschen. Besieht man, was sich gerade in den Schriften aus Luthers letzten Lebensjahren sonst an Mittelalterlichem versammelt hatte, dann sind es neben den Juden noch einmal die Türken, der Koran und das vom Teufel gestiftete Papsttum, mithin der Antichrist; und 9 Vgl. Klemperer, Luther, 405 f; Kaufmann, Luther, 505.

Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ im 19. und 20. Jahrhundert 327

dann kann man heute ebensogut darauf verweisen, dass all diese für Luthers Weltwahrnehmung einst so elementaren Bezüge sich mittlerweile erledigt haben. An ihre Stelle sind Austausch, Akzeptanz und Ökumene getreten. So betrachtet kann die Unruhe, die die Inhalte von Luthers Judenschriften heute auslösen, auch als neuer Impuls zu interreligiöser Zusammenarbeit aufgenommen werden. Gerade mit geschärftem historischem Blick, der nichts beschönigt, kann sich das Luthertum theologisch und in der kirchlichen Praxis weiter von jenen Hinterlassenschaften befreien, die unhaltbar geworden sind, und Pfade begehen, die vom Mann Luther und seiner Zeit zweifellos wegführen.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Bell, Dean-Philipp/Burnett, Stephen G.: Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany (Studies in Central European Histories). Leiden 2006. Bering, Dietz: War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin 2014. Gritsch, Eric: Martin Luther’s Anti-Semitism. Against His Better Judgment. Grand Rapids 2012. Kaufmann, Thomas: Luthers Juden. Stuttgart 2014. –, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung. Tübingen 22013. –, Luther und die Juden in antisemitischen Lutherflorilegien. In: ZThK 112 (Juni 2015), 192–228. –, Martin Luther. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2,2. Berlin 2009. Kirn, Hans-Martin: Luther und die Juden. In: Beutel, Albrecht (Hg.): Luther Handbuch. Tübingen 2005, 217–225. Klemperer, Klemens von: Über Luther hinaus? Dietrich Bonhoeffer und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Hansen, Ernst Willi/Schreiber, Gerhard/Wegner, Bernd (Hg.): Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit. Beiträge zur neueren Geschichte Deutschlands und Frankreichs. Göttingen 1995. Kolde, Theodor : Martin Luther. Eine Biographie. 2 Bde. Gotha 1893/94. Lewin, Reinhold: Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche). Berlin 1911. Lilje, Johannes: Martin Luther. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 272008. Osten-Sacken, Peter von der : Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas ,Der gantz Jüdisch Glaub‘ (1530731). Stuttgart 2002.

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Johannes Heil

Probst, Christopher J.: Demonizing the Jews. Luther and the Protestant Church in Nazi Germany. Bloomington 2012. Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code. In: Ders.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, 13–36.

II. Internetquellen Luther und die Juden. https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_und_die_Ju den (26. 6. 2015)

Autorinnen und Autoren

Reiner Anselm Jg. 1965, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Oliver Arnhold Jg. 1967, Dr. phil., Studiendirektor für Mathematik und Evangelische Religionslehre am Christian-Dietrich-Grabbe-Gymnasium in Detmold, Fachleiter für Evangelische Religionslehre am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Detmold, Dozent für Religionspädagogik und kirchliche Zeitgeschichte an den Universitäten Bielefeld und Paderborn. Hanns Christof Brennecke Jg. 1947, Dr. theol., Professor em. für Ältere Kirchengeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Korrespondierendes Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Stephen G. Burnett Jg. 1956, Dr., Professor of Religious Studies at the University of NebraskaLincoln. Martin Friedrich Jg. 1957, Dr. theol., apl. Professor für Kirchengeschichte an der Ruhr-Universität und Studiensekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Berndt Hamm Jg. 1945, Dr. theol., Professor für Neuere Kirchengeschichte i. R. am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Johannes Heil Jg. 1961, Dr. phil., Professor auf dem Ignatz Bubis-Lehrstuhl für Geschichte, Religion und Kultur an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg mit

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Autorinnen und Autoren

Übernahme der kommissarischen Leitung der Hochschule 2008 und des Rektorats 2013. Siegfried Hermle Jg. 1955, Dr. theol., Professor für Theologie und ihre Didaktik / Historische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Universität zu Köln, Stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und Stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte. Wolfgang Kraus Jg. 1955, Dr. theol., Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes, Vorsitzender der Theologischen Arbeitsgemeinschaft bei Begegnung von Christen und Juden. Verein zur Förderung des christlich-jüdischen Gesprächs in der ELKB, Co-Direktor im Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen an der Augustana-Hochschule, Projektleiter Synagogen-Gedenkband Bayern. Volker Leppin Jg. 1966, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte und Leiter des Instituts für Spätmittelalter und Reformation an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen, ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Harry Oelke Jg. 1957, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Lucia Scherzberg Jg. 1957, Dr. theol., Professorin an der Universität des Saarlandes Fachrichtung Katholische Theologie, Leiterin der Ökumenischen Forschungsstelle für Kirchen- und Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts (gemeinsam mit M. Hüttenhoff). Gury Schneider-Ludorff Jg. 1965, Dr. theol., Professorin für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte der EKD, CoDirektorin des Instituts für christlich-jüdische Studien und Beziehungen der Augustana-Hochschule.

Autorinnen und Autoren

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Anselm Schubert Jg. 1969, Dr. theol., Professor für Neuere Kirchengeschichte an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Christian Wiese Jg. 1961, Dr. theol., Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Personenregister Adam, Karl 276, 278 f., 286 Adenauer, Konrad 216 Adler, Felix 108, 110, 222 Alber, Erasmus 257 Althaus, Paul 217, 220, 230, 243 f. Amsdorff, Nikolaus von 24, 30 Anselm, Reiner 14, 21, 235, 242, 324 Aring, Paul Gerhard 94 Arndt, Ernst Moritz 75, 111 Arnhold, Oliver 14, 156, 174, 191, 193, 206–208, 210, 325 Ascher, Saul 76 Asmussen, Hans 220 Augustin 244 Aurifaber, Johannes 45 f. Bach, Karl-Otto v. d. 34 f. Baeck, Leo 110, 112, 115–119, 135, 146, 150, 153 f. Bainton, Roland 46, 54, 58, 250 Barth, Karl 34, 55, 150 f., 161, 218–220, 222, 238, 240, 245 Bauer, Bruno 76 f., 108, 174, 277, 317 Bäumer, Remigius 282–284 Baumgarten, Otto 34, 151 Bea, Augustin 279 Becker, Carl Heinrich 74, 146 Berger, Arnold Erich 27, 50, 58 Bergmann, Juda 13, 71 f., 146, 228 f., 235 Bering, Dietz 12, 284, 323 Biermann-Rau, Sibylle 289 f., 304, 306 Bismarck, Otto von 238, 324 Blüher, Hans 238 Bluth, Gerhard Hugo 163, 176–178, 185 f. Böhmer, Heinrich 52, 58 Börne, Ludwig 76, 110 f.

Bornkamm, Heinrich 53, 109, 118, 133, 155, 194–196, 198 Borrhaus, Martin 298 Brecht, Martin 45, 56–59 Brennecke, Hanns Christof 14, 85, 87, 92, 96, 99, 325 Brenner, Oskar 27 Brosseder, Johannes 12 f., 19, 28 f., 32–36, 45 f., 48–51, 54, 85–87, 93 f., 98 f., 121, 129, 135, 155, 161 f., 166, 168, 171, 173, 176, 178, 180, 183, 202 f., 207, 217, 221 f., 224, 245, 250–252, 269, 281 f., 285 Brumlik, Micha 72, 75 Buber, Martin 146, 156, 243 Bucer, Martin 181, 227, 317 Buchholz, Friedrich 74 Buchwald, Georg 29, 32, 34–36, 48, 58, 250, 324 Bullinger, Heinrich 181, 227, 269, 298 Burnett, Stephen G. 12, 14, 218, 249, 256, 259, 323, 326 Calvin, Johannes 218, 298 Capito, Wolfgang 227, 298, 317 Caspari, Carl Paul 96, 98 Chamberlain, Houston Stewart 29, 33, 126, 192 Clemen, Otto 28 f., 35, 86 Cochlaeus, Johannes 277 Cohen, Hermann 109 f., 112–115, 119, 125 Cohn, Willy 153 Cohrs, Ferdinand 27 f. De le Roi, Johannes F. A. 94, 96, 102 Delitzsch, Franz 92, 94, 98, 100 f. Delitzsch, Friedrich 33, 127

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Personenregister

Denifle, Heinrich 272–275, 277, 285, 315 Detmer, Achim 33, 227, 229 Deutsch, Gotthard 121 Diem, Herman 219 Dilthey, Wilhelm 118 Dinter, Arthur 128, 217 Diwald, Helmut 53 Dohm, Christian Conrad Wilhelm von 71, 73 Döllinger, Ignaz von 269–271, 285 Drobinski, Matthias 284 Dubnow, Simon 121 f. Ebeling, Gerhard 22, 221, 243, 316 Eck, Johannes 74, 282 f. Edwards, Mark 254–256, 259 f. Eißfeldt, Otto 153 Elbogen, Ismar 122, 146, 150, 153 f., 282 Evers, Georg Gotthilf 48, 58 Ewald, Johann Ludwig 74 f., 77 Fagius, Paul 255 Falb, Alfred 19, 33 f., 127, 130, 147 f., 152 Fausel, Heinrich 54 f., 58, 163–167, 185, 187 Feuchtwanger, Lion 132 Feuchtwanger, Ludwig 132 f. Fichte, Johann Gottlieb 74 Fiebig, Paul 34, 153 Fischer, Ludwig 32, 78, 86, 89–91, 94, 96, 100 Forell, George 249–251 Fränkel, Wolfgang Bernhard 78 Frey, Christopher 229 Friedenthal, Richard 46, 54, 58 Friedländer, David 71, 74, 116 Friedman, Jerome 254–256, 260 Friedrich, Johannes 307 Friedrich, Martin 9, 14, 71, 74, 251 Fries, Heinrich 281 Fries, Jakob Friedrich 75

Fritsch, Theodor 33, 126 f., 147, 152, 192 Fronemann, Wilhelm 195 Gabriel, Walter 32, 36, 163, 171–173, 185 f. Gailus, Manfred 192 Geiger, Abraham 116, 146 Geiger, Ludwig 76, 120 Gerlach, Ernst Ludwig von 78 Gerlach, Leopold von 78 Gogarten, Friedrich 239 Goldscheider, Ludwig 29 Gollwitzer, Helmut 238 Graebner, Theodore 252 Graetz, Heinrich 76, 85, 101, 118, 120, 250, 282 Grattenauer, Karl Wilhelm Friedrich 71, 74 Greßmann, Hugo 146 Grisar, Hartmann 51 f., 58 f., 274–277, 285, 315 Grislis, Egil 253, 258 Gritsch, Eric W. 12, 26, 30, 33, 258 f., 323 Grundmann, Walter 182, 193 Gutteridge, Richard 249 Guttmann, Julius 146, 150 Guttmann, Michael 146 Hagen, Kenneth 23, 27, 256 f., 260 Hahn, Gerhard 191 f., 198–200, 206 Halfmann, Wilhelm 162, 241 f. Hallett, Raphael 253, 258, 260 Hamm, Berndt 15, 86, 315 Harleß, Gottlieb Christoph Adolf von 91 Harnack, Adolf von 115, 118 Harnack, Theodosius 99 Hauck, Albert 92 Hausmeister, J. August 94 Hausrath, Adolf 50 f., 58 Heckel, Johannes 87 Heer, Friedrich 222, 280, 285

Personenregister Hegemon, Petrus 257 Heil, Johannes 15, 95, 167, 176, 182, 184, 187, 229, 244 f., 275, 281, 302, 323 Heine, Heinrich 76, 89, 110 f. Heman, Karl Friedrich 94 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 78 f., 87, 91, 95 f., 100 Herder, Johann Gottfried 75, 111 Hergenröther, Joseph 269–271, 277, 285 Herlitz, Georg 146 Hermle, Siegfried 14, 55, 161, 168, 173 f., 176, 182, 194, 199, 325 Herrmann, Wilhelm 112 Herte, Adolf 276 f. Herzog, Johann Jakob 92, 94 Hieronymus 85 Hillerbrand, Hans J. 73, 258 Hinlicky, Paul 259 Hirsch, Emanuel 193, 217, 239 Hirsch, Emil G. 107 f., 110 Hirschland, Albert 168 Hitler, Adolf 129, 161, 194 f., 201, 205, 218 f., 222, 226, 237 f., 251 f., 279 f., 326 Hofmann, Johann Christian Konrad von 99 Holdheim, Samuel 120 Holmio, Amras 250–252 Holsten, Walter 34, 250 Hossenfelder, Joachim 194 f. Huch, Ricarda 29 Hug, Herbert 183–185, 187 f. Hundt-Radowsky, Hartwich von 75 f. Irmischer, Johann Konrad 26 f. Iserloh, Erwin 277, 282 f. Janssen, Johannes 48, 58, 315 Jedin, Hubert 272 f., 282 Johann Friedrich I. von Sachsen Jonas, Justus 30 Jost, Isaak Markus 120 Jules, Isaac 136

254

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Junghans, Helmar 45, 225 Jürgens, Carl Heinrich 48, 58 Kant, Immanuel 114, 220 Karrenberg, Friedrich 238 Käßmann, Margot 307 Katz, Steven 71 f., 258 f. Kaufmann, Thomas 9, 12, 22 f., 27, 30, 32 f., 35 f., 47, 53, 73, 89, 108, 155, 181, 203, 207, 215, 217 f., 227–229, 256, 269, 308 f., 323–326 Kawerau, Gustav 28, 51, 58, 123 Kerrl, Hanns 208 Kirschner, Bruno 146 Kittel, Gerhard 146, 153–156 Kleine, Richard 74, 276–279 Köberle, Adolf 238 Koffmanne, Gustav 27 Kolde, Theodor 49 f., 52, 54, 58 f., 99 f., 315 f., 324 Köstlin, Julius 45, 48, 51, 58, 92 Kraus, Daniela 32 Kraus, Wolfgang 9 f., 14, 289 f., 324 Krauss, Samuel 122, 125 Kremers, Heinz 108, 225, 289 Kupisch, Karl 221–223 Lagarde, Paul de 171 Lamparter, Eduard 33 f., 123 f., 134, 151 f. Lau, Franz 53, 58 Ledderhose, Karl-Friedrich 48, 58 Leffler, Siegfried 193 Leppin, Volker 12, 14, 19, 46, 86, 149, 155 f., 323 f. Leutheuser, Julius 193 Lewin, Reinhold 12, 28, 34, 51, 121, 125, 183 f., 197, 208, 217, 250, 324 Lilje, Hanns 46, 53, 58 f., 220, 324 Linck, Wenzel 23 Linden, Walther 19, 32, 36 Loewenich, Walther von 56, 58 f., 220 Löhe, Wilhelm 87, 96–98 Lohse, Bernhard 230

336

Personenregister

Lortz, Joseph 276–278 Ludendorff, Mathilde 19, 35, 86, 91, 101, 128, 151 f., 185, 197 Luther, Martin 9, 11–15, 19–37, 45–59, 61, 71–79, 85–92, 94–96, 98–101, 107–137, 145, 147–149, 151–153, 155–157, 161–187, 191–204, 206–210, 215, 217–230, 235–246, 249–261, 269–285, 289–310, 315–327 Maas, Hermann 90, 242 Maimonides 114 f. Major, Georg 21 f., 25, 257 Mann, Thomas 25, 73, 75 f., 108, 121, 129, 132, 168, 173, 195, 199, 204, 218 f., 271, 275, 318, 327 Marcard, Heinrich Eugen 78 Marcion 279 f. Margharita, Anton 50 Maron, Gottfried 283 f. Marx, Karl 220 Mathesius, Johannes 27, 45–49, 51 f., 58 f. Mattox, Mickey 257, 260 Maurer, Wilhelm 57, 221 f., 224, 255 McGovern, William Montgomery 218 Meier, Kurt 36, 192, 224 Meiser, Hans 86 Melanchthon, Philipp 21, 86, 101, 227 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 99 Meurer, Moritz 48, 58 Meyer-Erlach, Wolf 14, 193, 201–203, 205, 210 Meyer Wise, Isaac 107 Michaelis, Johann David 73 Miller, Gregory 258 Moellering, Ralph 250 f. Mühlbacher, Claudia 10 Müller, Ludwig 133, 194, 196 Münster, Sebastian 255 f., 276 Myers, David N. 112 Neumann, Konrad 31, 216 Niemöller, Martin 239

Nirenberg, David 258 f. Norkus, Herbert 199 Oberman, Heiko A. 22, 47, 55, 58 f., 124 f., 225, 229, 254, 282, 318 Oehler, Gustav Friedrich 93 f. Oelke, Harry 9–14, 53, 55, 86, 155, 215–217, 226, 230, 290, 324 Oesterreicher, Johannes 279 f., 285 Osiander, Andreas 227, 282, 298 Osten-Sacken, Peter von der 12, 20, 33, 47, 108, 133, 206, 227, 229, 323 Paalzow, Christian Ludwig 74 Pangritz, Andreas 72 f. Pannenberg, Wolfhart 245 Parisius, Hans Ludolf 35 f. Pauls, Theodor 19, 133, 183 f., 193, 206–208 Petersmann, Werner 19, 193, 206, 208 Pfeiffer, Christian 11, 72 f., 86 Pfisterer, Rudolf 237 Pfitzer, Gustav 48, 58 Philipp von Hessen 270 Philippi, Friedrich Adolf 96 Plato 114 Plitt, Gustav 49, 51, 58 Plitt, Gustav Leopold 92, 99 f. Pressel, Wilhelm 93 f. Preuss, Hans 53, 58 Probst, Christopher 12, 36, 73, 161 f., 164, 166, 168, 170 f., 175, 178, 180, 182, 258, 325 Rade, Martin 34, 48, 58, 112, 151 Ramge, Karl 162, 170 f., 185 f. Rau, Georg 23, 28, 164 f., 178 f., 221, 230, 325 f. Redeker, Martin 193 Reu, Johann Michael 250 f. Reuchlin, Johannes 255, 319 Reuter, Hermann 100 Riesser, Gabriel 76 Ritschl, Albrecht 114, 118

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Personenregister Ritter, Gerhard 46, 52 f., 58 f., 240, 276 Rörer, Georg 21 Rösel, Georg 32, 271 f. Rosenberg, Alfred 129, 155 f., 185, 201, 208, 217 Rosheim, Josel von 32, 109 Rückert, Hanns 155 Rühs, Friedrich 74–76 Rupp, Gordon 249–252 Salvador, Joseph 89 Sasse, Martin 15, 36, 129, 193, 201, 203 f. Scharf, Kurt 242 Scheel, Otto 52, 58 Scherzberg, Lucia 14, 269, 272, 276, 278 f., 325 Schilling, Hans 88, 162, 284 Schlatter, Adolf 146, 173 Schleiermacher, Friedrich 74, 117 Schmidt, Gerhard 99, 175 f., 186 Schneider, Carl 193 Schneider, Nikolaus 307 f., 310 Schneider-Ludorff, Gury 9 f., 14, 86, 145, 147, 155, 325 Schöttler, Hans 193 Schramm, Brooks 259 Schroth, Hansgeorg 163, 166–168, 178–180, 184–186 Schubert, Anselm 9 f., 14, 45 f., 57, 88, 92, 99, 149, 316, 324 Schuckmann, Friedrich von 74 Schulz, Johann Heinrich 74 Schwager, Johann Moritz 73 Schwarz, Reinhard 230 Schwieber, Ernest 252 Seeberg, Reinhold 192 Selnecker, Nikolaus 30, 77 Servetus, Michael 255, 257 Sherman, Franklin 252 f. Siebeck, Oskar 149 Siegmund-Schulze, Friedrich 151 Siirala, Aarne 224, 250, 253 Slotemaker, John 257, 260

Smid, Marijke 155 Spieker, Christian Wilhelm 74 Stahl, Friedrich Julius 71, 78, 87, 96, 120 Stang, Christian Franz Gottlieb 48, 58, 176 Steger, Benedict Stefan 87, 94, 96 f. Steinheim, Salomon Ludwig 111 Steinlein, Hermann 19, 86, 151 f., 163, 168 f., 185 f. Steinmetz, David 258, 260 Stern, Frank 216 Stern, Sigismund 76 Stjerna, Kirsi 259 Stoecker, Adolf 72, 145, 171, 192 Stöhr, Martin 53, 223 f., 227 Streicher, Julius 191, 205 f., 210, 235 Sturm, Paul 193 Tannenbaum, Marc 259 Tappert, Theodore 252 Taylor, George 51 Teller, Wilhelm Abraham 74 Tetzel, Johannes 107 Thiele, Ernst 27 Thielmann, Wolfgang 72 Tholuck, Friedrich August Gottreu 78, 91, 95 f. Tillich, Paul 34, 151 Treitschke, Heinrich 111–113, 192, 206 Troeltsch, Ernst 112, 118 Ukert, Georg Heinrich Albert

48, 58

Vermeil, Edmond 238 Vogelsang, Erich 19, 28, 35, 121, 133–135, 155–157, 183 f., 194, 196–198, 202, 250 Volz, Hans 25 f. Wallmann, Johannes 11, 19, 26–32, 36, 72 f., 75–79, 85 f., 100, 109, 161 f., 256 Walter, Wilhelm 325 Walther, Christoph 20

338

Personenregister

Walther, Wilhelm 33 f., 129–131, 147 f., 250 Weber, Ferdinand Wilhelm 97 Weidemann, Heinz 192 Weiß, Albert Maria 273 f. Wendebourg, Dorothea 72, 109 f., 308 Wendelin, Adolf 34 Wenz, Gunther 95 Werdermann, Hermann 193 Wessel, Horst 199 Whitford, David 258 Widmann, Richard 174 f., 186 Wiener, Peter F. 218, 250–252 Wiese, Christian 14, 28, 33 f., 76,

107–109, 111, 115, 127, 134, 136, 146, 149, 324 f. Witte, Karl 241 Wittenberg, Martin 20–26, 30, 32, 37, 97 f., 114, 156, 162, 284, 316 Wolf, Ernst 173, 219 Wolfart, Philipp Ludwig 78 Wolgast, Eike 20 f., 23, 25 f., 30 Wurm, Theophil 164, 170 Zimmermann, Ernst 88 Zuckschwerdt, Oskar 168, 199 Zunz, Leopold 111 Zwingli, Huldrych 73, 218, 227