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German Pages 368 Year 2003
B E I H E F T E
ZU
editio Herausgegeben v o n WINFRIED WOESLER
B a n d 19
Schrift — Text - Edition Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Christiane Henkes, Walter Hettche, Gabriele Radecke und Elke Senne
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-29519-8
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorwort
1
Martin Baisch Beaugenscheinung — Der Editor als Melancholiker Stephan Kammer Textur — Zum Status literarischer Handschriften
3 15
Jörn Henrich Modelle diachroner Wissenschaftstheorie und ihre editorischen Entsprechungen
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Alexandra Braun-Rau „Corruption somewhere is certain ..." — Zur Problematik des Variantenund Fehlerbegriffs bei Shakespeares King Lear
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Dietmar Pravida Bentleys Paradise Lost und Lachmanns DerNibelunge Not
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Matthias Janssen „Ueber Collegien und Collegienhefte" — Anmerkungen zur Textsorte Vorlesungsmitschrift
53
Marco Cipriani Textkritische Bemerkungen zu zwei Fragmenten von Caeciüus Statius im Terenz-Kommentar des Donat (34—35; 58-59 G.)
65
Kai Hilchenbach „Suspicabar enim, quod aliquid ioculariter loqueretur" — Witz und Humor bei Gregor von Tours?
77
Benedikt Konrad Vollmann Edition von Texten mit hoher Uberlieferungsdichte — Thomas' von Cantimpré De naturis rerum (Thomas III) als Musterfall
87
Thorsten Burkard, Oliver Huck Die Edition von mittelalterlicher Fachprosa als interdisziplinäre Aufgabe — Probleme der Autorschaft, Datierung und Methodik am Beispiel eines Traktats aus dem 14. Jahrhundert (CML cl. 12 nr. 97)
97
Norbert H. Ott Nonverbale Kommentare — Zur Kommentarfunktion von Illustrationen in mittelalterlichen Handschriften 113 Volker Zapf „Diß liet stet alleyn oder mangelt noch eins" — Beobachtungen zur Alment-Überlieferung und editorische Konsequenzen
127
Carmen Cardelle de Hartmann Die Roswitha-Edition des Humanisten Conrad Celtis
137
Elke Senne Überlieferung als Rezeption — Elisabeth von Schönau in der Wolhusener Handschrift
149
Petra Schierl Kanonbildung und fragmentarische Uberlieferung — Eine Bewertung von Ben Jonsons Erwähnung zweier römischer Tragiker
161
Annette Oppermann Die Geburt des Herausgebers aus dem Geist des Widerspruchs — Johann Nikolaus Forkel und die Oeuvres complettes de Jean Sebastien Bach
171
Konrad Feilchenfeldt Eine neuentdeckte Fassung/Textstufe von Clemens Brentanos Chronic/cka des/einesfahrenden Schülers?
181
Silke Schlichtmann „Sie kommen mir vor wie ein unversiegbarer Quell" — Caroline Barduas Briefe an Goethe
189
Thomas Richter Textkonstitution als Interpretation — Schillers Gedichtentwurf,Deutsche Größe' und seine Instrumentalisierung im Kaiserreich
201
Walter Hettche „Die erste Skizze wundervoll" — Zu einem Kapitel aus Theodor Fontanes Roman Vor dem Sturm
213
Gabriele Radecke „Leider nicht druckfertig" - Spuren der Unvollendetheit in Theodor Fontanes Mathilde Möhring
221
Inga Gerike Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Philologie - Die Quellenstudien Gabriel Monods
231
Annette Schütterle Vom Meer und vom Schreiben: Paul Valerys Nage
241
Davide Giuriato Kleine Randszene — Komische Marginalien in Franz Kafkas Beschreibung eines Kampfes
253
Philip Laubach-Kiani „Let us not speak" — Die Genese einer Konversationstragödie von Samuel Beckett vor dem Hintergrund seiner Joyce-Rezeption
265
Johannes John Back to oral poetry, oder: Wie ediert man einen performing artist? — Überlegungen zu einer Dokumentation des künsderischen Schaffens von Bob Dylan
273
Mike W. Malm „Reading the distorted text of history" — Irische Geschichte als koloniale Sprachgeschichte im Werk von John Montague und Tom Paulin
285
Roger Uideke Dramatische Zeit und historische Differenz in Tom Stoppards The Invention of Love
295
Egon Voss Fast die Quadratur des Kreises - Zur Edition der Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach BWV 1007-1012
305
Ernst Hellgardt, Harald Salier Notker digitalis — Kommentierung eines Kommentars im Medium Hypertext
313
Ulrike Wolfrum Thomas Kybbetts The teares of time — Überlegungen zur elektronischen Edition einer unbekannten Fragmenthandschrift aus der frühen Stuart-Zeit
331
Tobias Rascher Eine säurefreie elektronische Edition des Ulysses — Bestandsaufnahme und einige Vorschläge
339
Wolfhard Steppe Aus Fehlern lernen
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Vorwort
Die Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit über die engen Fächergrenzen hinweg wird an wenigen Orten so ernst genommen wie in den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs. Fachübergreifendes Denken und Arbeiten ist dort alltägliche Praxis der Zusammenarbeit zwischen Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsgebiete einerseits und verschiedenen Forschergenerationen andererseits. Ein zentrales Anliegen der Graduiertenkollegs ist das gemeinsame Lernen und Forschen von Dozenten und Kollegiaten. Das Münchner Graduiertenkolleg Textkritik als Grundlage und Methode historischer Wissenschaften ist ein gutes Beispiel für eine solche .fröhliche Wissenschaft'. Seit 1996 sind hier Editoren und Texttheoretiker aus den .klassischen' philologischen Fächern, aus der Geschichts-, Kunst- und Musikwissenschaft sowie der Philosophie zusammengekommen, um textwissenschaftliche Forschungsprojekte vorzustellen und zu besprechen, aber auch, um zentrale Begriffe der Editionswissenschaft zu diskutieren und gegebenenfalls neu zu definieren. Die enge Verbindung von Theoriebildung und editorischer Praxis spiegelt sich in den Dissertationen, die aus dem Kolleg hervorgegangen sind: Neben Texteditionen stehen texttheoretische und editionsgeschichtliche Arbeiten, von denen nicht wenige bereits in Buchform erschienen sind. Die vorliegende Aufsatzsammlung ist in ihrer Mischung aus Theorie und Praxis und in der Vielfalt der in ihr repräsentierten Fächer ein getreues Abbild der wissenschaftlichen Ausrichtung des Kollegs. Anders als das editio-Beiheft Text und Autor.; das die Ergebnisse eines vom Graduiertenkolleg Textkritik veranstalteten Symposions dokumentierte, verdankt dieser Band seine Entstehung einem anderen Anlaß. Der Initiator und Sprecher des Kollegs, der Münchner Anglist und Editionswissenschaftler Hans Walter Gabler, feiert am 21. Januar 2003 seinen 65. Geburtstag — ein guter Grund, ihm für sein langjähriges Engagement in der Lehre, der Seminardiskussion und -Organisation und nicht zuletzt in der Betreuung der Doktoranden ein herzliches Wort des Dankes zu sagen. Die Beiträgerinnen und Beiträger zu diesem Buch tun dies, indem sie Hans Walter Gabler zeigen, was sie im Kolleg gelernt und gelehrt haben: theoriegeleitetes textwissenschaftliches Denken ebenso wie reflektierte editorische Praxis, die
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Vorwort
Fälligkeit zur Abstraktion ebenso wie die gegenstandsadäquate Gestaltung von Apparaten und Kommentaren. In einem Brief an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius vom 7. Januar 1815 denkt Goethe über die Anordnung des Variantenapparats in einer Neuausgabe der Werke Johann Georg Hamanns nach: „Ferner entsteht die Frage, wie man es mit den Schriften halten wolle, wozu er selbst Randglossen geschrieben, ja hinein corrigirt? Es fragt sich, druckt man die Schrift ab wie sie stand und bringt die Correctur als Varianten unten an, oder umgekehrt? wo setzt man die Randglossen hin? schaltet man sie in den Text, oder bringt man sie gleichfalls unten? Dergleichen Dinge giebt es noch mehr, die mit Geschmack, dem Auge gefällig, mit Ernst und Heiterkeit zu besorgen wären." Ernst und Heiterkeit: Das ist eine Formel, die aufs glücklichste die Stimmung beschreibt, die in den zwölf Semestern seines Bestehens im Graduiertenkolleg Textkritik gewaltet hat und die auch in den Aufsätzen dieser Festgabe spürbar ist. Hans Walter Gabler hat einen wesentlichen Anteil an dieser seltenen Form freundschaftlich-wissenschaftlicher Arbeitsatmosphäre. Seine Aufgeschlossenheit gegenüber verschiedensten methodischen Ansätzen und Forschungsdisziplinen, seine Integrationsfähigkeit und seine beharrliche wissenschaftliche Neugier haben das Graduiertenkolleg von der ersten Konzeption bis zu seinem Abschluß im Sommersemester 2002 getragen und beflügelt. Wir sind ihm dankbar dafür. Christiane Henkes Walter Hettche Gabriele Radecke Elke Senne
Martin Maisch
Beaugenscheinung Der Editor als Melancholiker
Für den entschlossenen Blick ist so gut wie alles entbehrlich, für den melancholischen so gut wie nichts.1
I ,Unsittlichkeit' und Melancholie Ich muß gestehn, die guten Erzähler unter unsem alten Poeten [...] langweilen mich sammt und sonders. Den weichlichen und unsittlichen Gottfried kann ich kaum lesen, wiewohl ich nicht behaupte, die Sage von Tristan sei ursprünglich unsittlich.2
Das Ich, das hier in einem Brief an Jacob Grimm vom 11./12. Dezember 1819 spricht, ist kein geringeres als jenes Karl Lachmanns, der als Editor von Texten der Antike, des Mittelalters, der Bibelüberlieferung und mit den Werken Gotthold Ephraim Lessings auch von Texten der damals zeitgenössischen deutschen Literatur die wissenschaftliche Germanistik im 19. Jahrhundert mitbegründete. Lachmanns .Langeweile' bei der Lektüre mittelalterlicher epischer Texte steigerte sich — so das Zeugnis — hinsichtlich des Fragment gebliebenen Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg zu purer Ablehnung: als „weichlich" und „unsittlich" bezeichnet der Inhaber einer Berliner Doppelprofessur für Deutsche und Klassische Philologie den Autor bzw. seinen Text.1 Doch worauf fußt Lachmanns Rezeptionsverweigerung eigentlich? Besteht die konstatierte ,Unsittlichkeit' tatsächlich in „der auf ehbruch und fälschung eines gottesurteils mitbegründeten fabel", wie Jacob Grimm in seiner berühmten Rede auf Lachmann mutmaßt?4 Ließe sich nicht auch annehmen, daß in der besonderen Konzeptionalisierung des Stoffes in Gottfrieds Fragment, die einen skeptisch1 2
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Adolf Muschg: Sutters Glück. Roman. Frankfurt am Main 2001, S. 212. Brief Karl Lachmanns an Jacob Grimm vom 11./12. Dezember 1819. In: Albert Leitzmann (Hrsg.): Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Mit einer Einleitung von Konrad Burdach. Bd. I.Jena 1927, S. 3-17, hier S. 15f. Angesichts der Auffassungen Lachmanns zur Philologie und Textkritik ist durchaus denkbar, daß Lachmanns Äußerungen ad personam gerichtet sind. Vgl- Jacob Grimm: Rede auf Lachmann. Gehalten in der Öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1851. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 1. Berlin 1864, S. 145-162, hier S. 157.
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Martin Baisch
melancholischen Entwurf höfischer Gesellschaft und Kultur liefert, der Grund für Lachmanns ablehnende Haltung besteht? In der Erzählung über das höfische Wunderkind Tristan, das sich — reich an Begabungen und Fertigkeiten — zum schillernden Repräsentanten einer Kultur entwickelt, die zwischen Sein und Schein nur schwer zu unterscheiden vermag, offenbaren sich Ambivalenzen, die das gesamte Werte- und Normensystem der geschilderten Romanwelt betreffen: While writing a story about a perfect hero, a perfect pair of lovers, a story so beautifully told and so revolutionary that he has to create his own audience for it, Gottfried subverts and undermines it: It is, after all, nothing but the story of a precocious child who flees all responsibility and ends in a muddle, as children are prone to do. This is the fundamental ambivalence Gottfried has created in his narrative [.. .].5
Des weiteren könnte man anführen, daß Gottfrieds Neukonzeption der sogenannten Minnegrotten-Episode, die von der zeitweiligen Entrückung von Tristan und Isolde an den wunderbaren Ort einer Liebesgrotte erzählt, weniger als „Vision des Glücks" denn als eine „Feier der Resignation" aufzufassen ist.6 Die Verbannung des Liebespaares aus der (ihnen) problematisch gewordenen höfischen Welt ist eine Flucht an einen utopischen Ort, der jedoch den Strukturen der gegebenen Gesellschaft verhaftet bleibt. Die Utopie, die sich in der allegorischen Darstellung der Minnegrotte abzeichnet, ist beschädigt: Bei Gotfrid von Straßburg [...] danken Vernunft wie Glücksbild vor der Entschlossenheit zur ,swaere', zum Schmerz ab, dessen Resignation der verlassenen, aber noch in der letzten Zeile des Gedichts zurückersehnten höfischen ,vröude' gilt. Von dieser Resignation ist auch seine Utopie des Glücks gezeichnet. 7
Der ästhetischen Erfahrung von Melancholie und Ambivalenz scheint sich Lachmann als Leser nach seinen überlieferten Kommentaren zu Gottfrieds Roman verschlossen zu haben. Der Ausschluß von Melancholie und Ambivalenz aber auch aus dem wissenschaftlichen Umgang mit der Literatur, welche die sich im 18. und 19. Jahrhundert etablierende Philologie kennzeichnet, soll im folgenden beschrieben werden. Es wird sich zeigen, daß die Philologie — so affektneutral sie sich als wissenschaftliche Methode gibt — strukturell mit der Melancholie verbunden bleibt. Unter Melancholie soll hier zunächst in Anschluß an Freud „die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw." verstanden werden.8 5
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Matthias Meyer: Early blossoms and the frost of care. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten auf dem 1st German-American Colloquium. Ann Arbor, Michigan, Oktober 2000, S. 1-12, hier S. 12. Karl Bertau: Deutsche Literatur im Europäischen Mittelalter. Bd. 2. München 1973, S. 956. Ebd., S. 957. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. Studienausgabe. Bd. 3. Frankfurt am Main 1975, S. 197-212, hier S. 197.
Beaugenscheinung
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Freud unterscheidet in seinem berühmten Aufsatz zwischen den Verlustreaktionen Trauer und Melancholie, wobei die Melancholie als „Störform der Trauer" 9 beschrieben wird.1" Bei dieser nämlich verweigert das Ich die „Trauerarbeit" 11 , mit Hilfe derer die Lösung der Bindung zum verlorenen Anderen gelingen soll, und identifiziert sich mit dem verlorenen Objekt. Wenn die melancholische Reaktion sich einstellt bei einer Verlusterfahrung des Subjekts, ist es notwendig, zunächst die ,Verluste', die philologisches Arbeiten nach sich zieht, näher zu charakterisieren.
II Verluste der Philologie Sich Stimmungen hinzugeben, wie jener der Melancholie, dazu hat der Editor — zumal jener des 19. Jahrhunderts — im Grunde keine Zeit. Er arbeitet. Und er arbeitet entsprechend einer Berufsethik, welche von den Gründungsvätern der Germanistik ,gelebt' bzw. an ihnen exemplifiziert wurde: Lachmann und Haupt, später Karl Müllenhoff und Gustav Roethe [...] vertreten auf den renommiertesten Lehrstühlen Deutschlands das von Franz Schultz resümierte .philologische Ethos: die zurückhaltende Selbstverantwortlichkeit, Treue im Kleinen, Andacht zum Unbedeutenden, eingezogene Lebensführung, Scheu vor subjektivistischen Vorläufigkeiten und bloßen Impressionen, der Verzicht in jeder Hinsicht, die Idiosynkrasie vor dem Journalismus' und .Feuilletonismus', das stolze Sichabgrenzen.' Dieser Merkmalskatalog beschreibt das Selbstverständnis von Germanisten bis in die Gegenwart hinein, wobei die für das 19. Jahrhundert angenommene Dominanz zurückgeht. 12 Ausdauer, Fleiß, Beharrlichkeit, Konzentration, Askese, Anpassung, Pflichtbewußtsein: Diese Sammlung von Sekundärtugenden beschreibt Eigenschaften der Physiognomie des philologischen Charakters, dem die Leidensbereitschaft, auch w o ein Kokettieren mit dem Arbeitsethos nicht ausgeschlossen werden kann, eingeschrieben ist:
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Judith Buder: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main 2001, S. 157. Die neuere psychoanalytische Forschung kritisiert hingegen Freuds Pathologisierung der Melancholie (vgl. hierzu Claudia Frank: Die Trauer und ihr melancholischer Kern bei Veränderungserfahrungen. Trauerarbeit als Chance für gelebte Humanität. In: ZDFnachtstudio [Hrsg.]: Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens. Frankfurt am Main 2000, S. 101-120). Freud 1975 [wie Anm. 8], S. 198. Rainer Kolk: Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: IASL 14 (1989), S. 50-73, hier S. 53.
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Martin Baiscb [...] Opfer zu bringen, stärkt das moralische Bewußtsein der professionellen Philologen [...]. Wer ohne persönliche Opfer nach philologischen Weihen strebt, verfällt ebenso dem moralischen Urteil wie der wissenschaftlichen Kritik. 13
Asketisch-disziplinierte Lebens- und Arbeitsfüihrung scheint angesichts begrenzter Lebens- und Arbeitszeit und unbegrenzter Möglichkeiten, editorisch tätig zu sein, notwendige Voraussetzung. Sie — oder ihre entsprechende Stilisierung — hat darüber hinaus auch die ideologische Funktion, das an den Universitäten des 19. Jahrhunderts noch nicht etablierte Fach zu legitimieren, wo es sich theoretisch-methodischen Diskussionen verschließt. Freilich läßt sich hier anmerken, daß noch die heutige Wissenschaftsauffassung von diesem philologischen Ethos „mit den dazugehörigen Konnotationen der Begriffe ^Arbeit' und ^Leistung' und inkludierend die weitgehende Freistellung von jeglicher Form reproduzierender Arbeit"14 geprägt ist. Um es deutlich zu sagen: Es kann hier kaum um eine Schelte der Biographie und Charaktere einzelner Philologen gehen; vielmehr steht die Wirkung der spezifischen Tätigkeit des Philologen auf seine Lebensform in Frage. Diese knappe Charakterisierung der philologischen Lebensform' wäre aber wesentlich unvollständig und unverständlich, wenn nicht die Auswirkungen der bestimmten Beschränkungen unterworfenen philologischen Methode auf den Lebensvollzug ihrer Verfechter erläutert würden. Die Geschichte der philologischen Methode erzählt — dies hat Heinz Schlaffer in Poesie und Wissen aufgezeigt — als Ergebnis ihrer Verwissenschaftlichung von Verlusten und Einschränkungen der unterschiedlichsten Art. So nähert sie sich dem Objekt ihrer Erkenntnis, indem sie von den den Text begleitenden Bedingungen, seinem ursprünglichen Sitz im Leben, der durchaus historischem Wandel unterworfen ist, absieht: Damit der Philologe sich auf den Text als philologisches Problem konzentrieren kann, müssen die Erregungen der von den Musen hervorgebrachten Feststimmung abgeklungen sein. Höchstens imaginär darf er sich das Fest, die Musik, den Tanz, die Sänger und die Teilnehmer vorstellen, um Zeit, Gattung und Herkunft des Textes besser bestimmen zu können. 15
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Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt am Main 1990, S. 222. Vgl. hierzu auch Jan-Dirk Müller: Moriz Haupt und die Anfänge der .Zeitschrift für deutsches Altertum'. In: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Vosskamp (Hrsg.): Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München 1991, S. 141—164, hier S. 160ff. Ingrid Bennewitz: Alte „Neue" Philologie? Zur Tradition eines Diskurses. In: Helmut Tervooren, Horst Wenzel (Hrsg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. ZfdPh 116 (1997) Sonderheft, S. 46-61, hier S. 48. Schlaffer 1990 [wie Anm. 13], S. 160.
beaugenscheinung
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Was Lebenszusammenhang des Textes war, ist in der philologischen Betrachtung reduziert zu bloßem Kontext. Doch geht dem Philologen bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit seinem Text noch mehr verloren: Sein Text ist Text ohne Inhalt. Der wissenschaftliche Anspruch philologischer Erkenntnis hat zur Bedingung, daß sie sich auf das philologisch Erkennbare bescheidet. Das schließt aus, daß der Interpret in vollem Emst den Inhalten und Appellen der Texte folgt. Was immer sie an religiösen, philosophischen oder lebenspraktischen Zielen enthalten mögen — der Philologe wird sie verstehen, aber nicht in seine eigene Denkweise oder Lebensführung übernehmen wollen. Zu seinen Fragen gehört nicht die Wahrheitsfrage. 16
Professionalisierung und Spezialisierung der philologischen Disziplin im Gefolge vor allem der Bemühungen Karl Lachmanns und seiner Schüler bewirken eine Einseitigkeit in der Wissenschaftsauffassung des jungen Universitätsfaches, die sich in „der Aufgabe des Inhalts zugunsten der Form, der Reduktion von Literatur auf das sprachliche Gerüst des Textes, der Nichtbeachtung von literaturgeschichtlichen Zusammenhängen [und] der Unterdrückung von literaturtheoretisch-methodologischen Diskussionen" nur allzu deutlich zeigte.17 Ansätze wie jene Karl Rosenkranz', der — wie problematisch auch immer — Literaturwissenschaft und Philosophie miteinander zu verbinden suchte, stießen auf große Ablehnung.18 Trotz des selbstauferlegten asketischen Positivismus philologischer Erkenntnis, der dazu führte, daß die poetischen Sinndimensionen der Texte nicht mehr wahrgenommen bzw. verdrängt wurden, kann nicht übersehen werden, daß „in der streng historisch-philologischen Behandlung religiöser oder philosophischer Themen ein antimetaphysischer, skeptischer und destruktiver Zug" zu beobachten ist.19 Trickreich bemüht sich der Philologe vom Werk, um das es geht, stets wegzublicken; seine Abkehr vom Text zielt paradoxerweise dennoch auf ein besseres Verständnis desselben: Obgleich philologische Interpretation sich auf die Besonderheit des Werkes einlassen muß, gewinnt sie Erkenntnis, indem sie seiner unmittelbaren Wirkung widersteht. [...] Der Philologe jedoch muß den Text hintergehen, um ihn besser zu verstehen. Dies geschieht, indem er ihn zu anderen Texten in Beziehung setzt. [...] Philologisches Wissen ist Wissen von anderen Texten. Der Nachweis von Zitaten (im weiteren Sinne
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Ebd., S. 183. Ulrich Hunger: Romantische Germanistik und Textphilologie: Konzepte zur Erforschung mittelalterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Vosskamp (Hrsg.): Von der gelehrten zur disziplinaren Gemeinschaft. DVjs 61 (1987) Sonderheft, S. 42-68, hier S. 62f. Vgl. Werner Röcke: Karl Rosenkranz. In: Christoph König [u.a.] (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Portraits. Berlin 2000, S. 33-40. Schlaffer 1990 [wie Anm. 13], S. 184.
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Martin Baisch genommen: von Formen, Stilhöhen, Haltungen, Motiven, Topoi) relativiert den Schein des Authentischen, den die Werke verbreiten. Auflösend dringt die philologische Analyse in den Text ein und erklärt ihn zum Resultat komplexer literarischer Relationen.20
Schließlich kennzeichnet die philologische Methode, daß sie dem Schreibfehler mehr Beachtung und größere Bedeutung zuerkennen muß als dem korrekten Text. Binde- und Trennfehler nämlich liefern Hinweise, die einzelne Textzeugen zueinander hin- oder voneinander wegfuhren. Nur auf diese Weise ist Licht in das Dunkel des Uberlieferungsprozesses eines Textes zu bringen: „Ein Leser liest am Text das Richtige, der Philologe das Falsche. Sein Blick stößt immer auf Skandale."21 Die Verlusterfahrung aber, die den Philologen in radikaler Weise zu prägen scheint, liegt in der „elementaren Aufgabe der Philologie" begründet, den ursprünglichen Wortlaut eines Textes gegen die ,Verderbnisse' wiederherzustellen, die sich im Laufe der Zeit festgesetzt haben. Mit dem Mißtrauen gegen das Vorliegende und Überlieferte, gegen die früheren Abschreiber und Bearbeiter des Textes beginnt die Arbeit des Philologen; mit Recht heißt sie .Kritik'. [...] Hinter den .Verderbnissen' entdeckt der Kritiker den Verderber, liederlich, unaufmerksam, willkürlich, halbgelehrt.22
Der Verlust des Autortextes ist das ebenso grundlegende wie schmerzliche Ereignis, dem sich der Editor bei der Beschäftigung mit der Überlieferung eines Werkes zu stellen hat. Der Ursprung des Textes ist verloren; der Philologe ist mit dem Phänomen der Varianz konfrontiert. Ziel philologischer Erkenntnis vor allem des 19. Jahrhunderts ist aber überraschenderweise „nicht etwa (nur) der historisch .richtige', sondern der ,ächte', von allen Korruptelen [...] gereinigte Text"23 des Autors. Hinter dem Bemühen, die Echtheit und Authentizität der Texte wiederherzustellen, steht die „quasi-religiöse Ursprungssuche und -Verehrung"24, welche die Editionsprinzipien der damaligen Zeit vielfach bestimmt. Der Editor verdrängt den Verlust des Autortextes, indem er die überlieferte Varianz durch das „Korrektionssystem der Edition"25 aufzuheben versucht.
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Ebd., S. 191. Ebd., S. 228. Ebd., S. 227. Vgl. hierzu auch Hunger 1987 [wie Anm. 17], S. 65. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 226. Ebd., S. 227. Harald Weigel: .Nur was du nie gesehn wird ewig dauern.' Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition. Freiburg 1989, S. 158.
Heaugenscheinung
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III Philologie und Melancholie Einen ersten Hinweis auf das strukturelle Verhaftetsein der Philologie, des philologischen Ethos' mit der Melancholie ergibt sich aus der Rede des Philologen über die Melancholie: Nicht nur hat der Editor nämlich keine Zeit, sich der Melancholie hinzugeben, vielmehr verdammt er sie, indem er zumal in Rezensionen von Editionen anderer Philologen selbstgenügsames Resignieren attackiert. Die Beispiele sind Legion, die belegen können, daß der Begriff der .Resignation' als polemische Kampfvokabel im editorischen Diskurs Verwendung findet. Wer einem Editor im Umgang mit seinem Text Resignation attestiert, konstatiert (s)ein Scheitern, das kaum weiterer Argumente bedarf. Mag ein Herausgeber auch noch so gute Gründe anzugeben wissen, warum in seinem Fall das Verharren bei einem leithandschriftlich belegten Text oder beim diplomatischen Abdruck eines Textzeugen angezeigt war, wird er, falls ihm sein Editionskonzept als resignativ ausgelegt wird, charakterlich getroffen, wird sein moralisches Versagen herausgehoben, wie ein Brief Karl Lachmanns an Jacob Grimm vom 25. Mai 1823 zu belegen vermag: Beim Tristan furchten Sie [seil. Jacob Grimm] nichts von Hagens vorschneller Willfährigkeit. Ihre Regeln sind nicht so leicht eingeübt, als seine plötzlichen Einfälle durchgeführt. Sie sollen sehn, daß er weiter Eine Handschrift ,in sich folgerecht' macht: es wird, unter dem Schein der Treue, wieder nichts werden als Faulheit und vages Rathen, Dilettantenwerk für Dilettanten. Er hat sich lange so sehr verdorben, daß er nichts Gutes mehr machen wird.26
Solche Vorstellungen finden sich auch noch gegenwärtig — beispielsweise in der Rede Werner Schröders von der „Enteignung der mittelhochdeutschen Dichter zugunsten von Schreibern" durch den hinsichtlich der Wiedergewinnung des Autortextes skeptischen Editor, dessen methodische Vorsicht als „Kapitulation des Philologen" bzw. als „Resignation" vor der mittelalterlichen Überlieferung begriffen wird.27 Spricht der Editor von Melancholie und Resignation, so nur im Modus der Fremdzuschreibung.28 Dabei liegen die Gründe allzu oft offen auf der Hand, weshalb der eine oder andere Editor verzweifeln könnte: Philologisches Wissen begnügt sich nicht mit Überblicken, vielmehr widmet es sich den Einzelheiten, bis zur Größenordnung von Buchstaben. Gesetzmäßigkeiten und
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Grimm 1927 [wie Anm. 2], S. 397. Vgl. zu Lachmanns Gleichsetzung von Mängeln in der wissenschaftlichen Arbeit und Charaktermängeln Weigel 1989 [wie Anm. 25], S. 147; Uwe Meves: Karl Lachmann. In: König 2000 [wie Anm. 18], S. 20-32, hier S. 25. Werner Schröder: Bumkes Muster-Edition. In: Mittellateinisches Jahrbuch 35 (2000), S. 345-349, hier S. 345. Freilich: Selbstverständnis entsteht durch Fremdzuschreibung.
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Martin Baisch Abstraktionen, womit andere Wissenschaften die Endlosigkeit des Konkreten meistern, nützen in der Philologie wenig; sie hat sich dem Besonderen verschrieben. 29
Seine Arbeit ist mühsam, kleinteilig, mechanisch, nur mit Sorgfalt und Perfektionismus zu erfüllen und auf Jahre berechnet. Der transkribierende und kollationierende Editor — ein Sisyphos, sein Tun Kärrnerarbeit!30 In der Verdammung der Resignation, ein banaler Sachverhalt, fallt die (berechtigte) Verzweiflung über die quälende editorische Tätigkeit der Verdrängung anheim. Von der Wiederkehr des Verdrängten zeugt dann die Affektgeladenheit vieler editorischer Texte. Selbstüberschätzung, Verachtung der Kollegen, Streidust und Polemik kennzeichnen den Philologen, seitdem die Bewahrung von Texten als kulturelle Notwendigkeit begriffen wird.31 Ein weiterer Grund, welche die Verzweiflung des Philologen strukturell bedingt, ist schnell bei der Hand: „Ediere so, als erlösche mit deiner Tat die Schrift. Motiv der Rettung."32 In diesen kategorischen Imperativ faßt der Kafka-Herausgeber Roland Reuß das katastrophische Bewußtsein des Textkritikers. Bibliotheksbrände, Kriege, das zuweilen nachlassende Interesse an kulturellen Gütern, die für unbestimmte Zeit einfach vergessen werden können,33 oder gar der zerstörerische Kampf gegen Kulturen und ihre Erzeugnisse bedrohen auf vielfältige Weise die Objekte, die das kulturelle Gedächtnis konstituieren: „Der Untergang der Kunstwerke ist die Regel. Auf ein Werk, das noch da ist, kommen tausend verlorene."34 Unbetrauert bleibt in der Philologie des 19. Jahrhunderts — so die These — der Verlust des Autors bzw. des Autortextes. Die Verweigerung der Trauerarbeit offenbart der Philologe in den Attacken gegen vermeintlich resignierte Kollegen. Die textkritischen Bemühungen zeigen sich — und dies könnte man als melancholische Reaktionsweise bezeichnen — verhaftet mit dem verlorenen Objekt ihrer Begierde, dem Autortext. Um deutlich zu konturieren, wie eine Philologie beschaffen sein könnte, die um ihre melancholische Veranlagung weiß, ist es notwendig, das Phänomen der Melancholie näher zu bestimmen. Dies soll hier im Rückgriff auf Walter Benjamin geschehen.
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Schlaffer 1990 [wie Anm. 13], S. 224. Die Versuche von Philologen, ihre eigene Tätigkeit zu stilisieren, fuhren bis zur Sakralisierung des textkritischen Bemühens. Darin kann man eine Kompensation der Folgenlosigkeit philologischen Tuns erblicken (vgl. Schlaffer 1990 [wie Anm. 13], S. 227). Roland Reuß: ,genug Achtung vor der Schrift'? Zu: Franz Kafka, Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. In: TextKritische Beiträge 1 (1995), S. 107-126, hier S. 126. Für die Werke Wolframs von Eschenbach zeichnet Max Wehrli diesen Prozeß nach: Ders.: Im Schatten der Überlieferung. In: PBB 107 (1985), S. 82-91. Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte. Bern 4 1969, S. 608.
Beaugenscheinung
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IV Benjamins Melancholiker: „Grübler über Zeichen" Melancholie muß ein Reflexionsprozeß sein. 35
Reflexe der Rezeption von Freuds Trauer und Melancholie-Aufsatz finden sich in Benjamins Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels von 1925. Doch ist die Melancholie-Konzeption, die hier in engem Bezug zur barocken Allegorie entworfen wird, keinesfalls als psychologisch orientierter Entwurf zu verstehen, sondern funktional als Darstellungstheorem: Melancholie nach Benjamin ist [...] das relationale Produkt einer Wahrnehmungsbeziehung, eines Blicks, der seinen Gegenstand und in diesem sich selbst erst im Vorgang der Wahrnehmung konstituiert. 36
Dem Melancholiker, der aus der .Ordnung der Dinge' herausgefallen ist, zerfallt die Erfahrung des Geschichtlichen in eine nicht als Ganzes zu übersehende Reihe von Geschehnissen, die in trostloser Kontingenz ungesichert liegen. Melancholie zielt bei Benjamin somit auf den Erweis der Substanzlosigkeit aller Bewahrensversuche und auf die Disparatheit, in der die Dauer die Dinge zurückläßt: „Diese sind in einer Geschichte ohne heilsgeschichtliche Dimension als Stationen des Heilsweges nicht mehr zu verstehen, ein bloß Materialisches, unerbittlich geschieden von jeglicher Bedeutung, jeglichem Sinn."37 Unter dem Blick des Melancholikers verwandeln sich die Objekte aber — so Benjamin — auf überraschende Weise: Sie werden zu Rätseln, zu Chiffren: Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen, bleibt er als toter, doch in Ewigkeit gesicherter zurück; so liegt er vor dem Allegoriker, auf Gnade und Ungnade ihm ausgeliefert. 38
Denn der Melancholiker ist nicht einfach nur ein Grübler über Welt, sondern genauer noch ein „Grübler über Zeichen", der die konsequente „Morüfikation der Werke"39, der kulturellen Zeichen betreibt.40 „In dieser Perspektive wird das 35
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Karl Heinz Bohrer: Der Lauf des Freitag. Die lädierte Utopie und die Dichter. München 1973, S. 41. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur: Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997, S. 180. Bettine Menke: Sprachfiguren. Name - Allegorie — Bild nach Benjamin. München 1991 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste; 81; N.F. Reihe A Hermeneutik - Semiotik - Rhetorik; 5), S. 165f. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1,1. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1972, S. 359. Ebd, S. 357. Es hat sich in der editorischen Praxis eingebürgert, daß in Editionen verderbte und wohl nicht korrigierbare Stellen mit dem diakritischen Zeichen der Crux markiert werden,
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Fragment gleichsam zum künstlichen Zeichen, dessen Konvention verlorenging."41 Der melancholischen Irritation über die Sinnlosigkeit von Welt korrespondiert auf semiotischer Ebene der Sinnentzug der Zeichen. Die Erfahrung der Melancholie läßt sich bei Benjamin somit in einen engen Bezug mit der Erfahrung des Lesens 42 und der Ermöglichung einer Lesbarkeit von Texten überhaupt bringen. Benjamin hat die Figur dieses fragmentarisierenden Lesers sowohl seiner Darstellung des .deutschen Trauerspiels' eingeschrieben, wie auch ihn selbst deutlich gemacht als einen Typ des Lesers, dem das Lesen zur Lebensform und zur höchsten Form der Erfahrung wird. Der innehaltende Leser par excellence, dem der Text zum Bruchstück zerfällt, ist der Leser im Zeichen der Melancholie. Der Melancholiker bleibt bei sich selbst und zieht alles Wahrgenommene in den Sog seiner Betrachtung. Indem er aber das einzelne aus dem Zusammenhang löst, wird dieses selbst rätselhaft, bedeutungsoffen, verweisend auf unendliche Hintergründe und Zusammenhänge.43 Benjamin deutet schließlich in seiner Melancholie-Konzeption eine ,Rettung' an, die den Sinnentzug der melancholischen Erfahrung aufhebt. Diese drückt sich in der merkwürdigen Formel der „maskenhaften Neubelebung" aus: Das Doppelte, worin die Melancholie bestimmt ist, ist in der Formel der maskenhaften Neubelebung aufgenommen: Die .Neubelebung' der Dinge durch den Melancholiker ist eine .maskenhafte' darum, weil ihnen nicht der Atem des lebendigen Lebens eingehaucht wird, sondern das (hinzugefügt wird, was den Melancholiker ,ein rätselhaftes Genügen' finden läßt am Anblick des Toten: die allegorische Bedeutung als Totes. .Maskenhaft neubelebt' sind die Dinge, indem sie unterm melancholischen Blick eine .allegorische Physiognomie' gewinnen, indem sie zu Chiffren werden [.. ,]. H Melancholisch zu lesen, hieße, die grundlegende und irreduzible Andersheit eines Textes anzuerkennen, die sich damit nicht auf die Intention(en) eines Autors zurückführen läßt, und die Alterität von Schrift und Uberlieferung zu respektieren. Benjamins Melancholie-Konzeption plädiert damit für eine Vielfalt der Lektüremöglichkeiten eines zum Fremdkörper gewordenen Textes. Es stellt sich abschließend die Frage, inwieweit die Benjaminsche Konzeption von ,Melancholie' Aufschlüsse über den Modus philologischer Erkenntnis erlaubt.
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d.h. der Editor .mortifiziert' — hierin dem Benjaminschen Melancholiker ähnlich - den Text, wo er ihm keinen Sinn abzugewinnen vermag, wo er ihm unlesbar geworden ist. Karlheinz Stierle: Walter Benjamin: Der innehaltende Leser. In: Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg): Fragment und Totalität. Frankfurt am Main 1984, S. 337-349; hier S. 341. Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997 [wie Anm. 36], S. 181: „Der melancholische Blick ist ein Leseblick, da er an die Dinglichkeit der Zeichen verwiesen ist und sich nicht mehr an vorgegebenen Bedeutungen zu orientieren vermag." Stierle 1984 [wie Anm. 41], S. 338. Menke 1997 [wie Anm. 37], S. 169.
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V Der Editor als Melancholiker Der innere Zusammenhang, der Melancholie, Allegorie und Fragment zu einer unauflöslichen Erfahrung zusammenschließt, ist von esoterischer Art, er ist in keiner Tradition oder Gewohnheit des Denkens begründet, aber dennoch nicht ohne einen verborgenen, untergründigen Traditionszusammenhang, der freilich nie ausdrücklich wurde.45 In einem Brief Benjamins an Adorno vom 9. Dezember 1938, der sich mit Adornos Kritik an der Baudelaire-Studie auseinandersetzt, findet sich eine vielleicht überraschende Verteidigung der Philologie: Die Philologie ist diejenige an den Einzelheiten vorrückende Beaugenscheinung eines Textes, die den Leser magisch an ihn fixiert. Fausts schwarz auf weiß nach Haus Getragenes und Grimms Andacht zum Kleinen sind eng verwandt. Sie haben das magische Element gemeinsam, das zu exorzieren der Philosophie [...] vorbehalten ist. [...] Der Schein der geschlossnen Faktizität, der an der philologischen Untersuchung haftet und den Forscher in seinen Bann schlägt, schwindet in dem Grade, in dem der Gegenstand in der historischen Perspektive konstruiert wird.46 Benjamins Plädoyer für das Detail, für das scheinbar Unbedeutende, dessen Sinnangebot auf den ersten Blick nicht auszumachen ist, scheut sich nicht, der philologischen Methode magische Qualitäten zuzuschreiben. Mit Blick auf die mögliche Relevanz selbst noch des einzelnen Buchstabens „gewinnt auch der umständliche Begriff der Beaugenscheinung den keineswegs kontemplativen Sinn eines fokussierenden, die Gegenstände singulär beleuchtenden Scheinwerfers" 47 . Benjamins Bestimmung des Melancholikers als „Grübler über Zeichen" offenbart von hier aus seine Affinität zum Begriff des Editors, der seine Handschriften nicht anders als ,beaugenscheinend' behandelt. Die Konzeption einer melancholischen Lektüre, als die hier die editorische Tätigkeit begriffen wird, gilt es schließlich von dem Verdacht frei zu sprechen, sie rede einem poststrukturalistischen Begriff des Textes das Wort, wie er beispielsweise von Vertretern der New Philologe postuliert wird. Keineswegs nämlich kann die melancholische „Beaugenscheinung" der Texte mit der Beliebigkeit produzierenden variance mittelalterlicher Texte gleichgesetzt werden. 48 Benjamins Melancholiker behauptet kein ungeregeltes Oszillieren von Sinn. Textkritik im Zeichen der Trauer übernimmt eine kulturelle Funktion: sie stiftet — im Rekurs auf ein eso-
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Stierle 1984 [wie A m 41], S. 338. Brief Walter Benjamins an Theodor W. Adorno vom 9. Dezember 1938. In: Benjamin 1972 [wie Anm. 38], Bd. I, 3, S. 1103f. Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000, S. 21. Vgl. zur Beschreibung mittelalterlicher Textualität als variance Bernard Cerquiglini: Eloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989.
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terisches Wissen — kulturellen Sinn. ,Beaugenscheinende' Philologie ist in dieser Perspektive als kulturelle Tätigkeit aufzufassen, die mittels der Aktualisierung von Sinn das Funktionieren von Zivilisation bewirkt. Mittels textkritischer und hermeneutischer Operationen wird damit der „Text als eine Bedeutungen insinuierende und zugleich Bedeutungen fortgesetzt verwandelnde Praxis, ein dynamisches kommunikatives Geschehen" 49 begriffen. Die melancholische Lektüre des Editors greift die Zeichen an, sie unterläuft die überkommene Ordnung der Zeichensysteme, zersetzt die Texte, um sie neu zu konstituieren.
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Gerhard Neumann: Schreiben und Edieren. In: Heinrich Bosse, Ursula Renner (Hrsg.): Literaturwissenschaft — Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau 1999 (Rombach Reihe Grundkurs; 3), S. 401-426, hier S. 403.
Stephan Kammer Textur Z u m Status literarischer Handschriften
I Über den Umstand, daß literarische Handschriften zu den im Wortsinn grundlegenden Gegenständen textkritischen und editionswissenschaftlichen Arbeitens gehören, brauchen, zumal im Rahmen dieser Festschrift, kaum Worte verloren zu werden. Ebenso klar scheint der Status zu sein, den Manuskripte für ein derart gelagertes Erkenntnisinteresse einnehmen: Jenseits der Kontingenzen — oder Regelmäßigkeiten — ihrer Überlieferung enthalten sie Spuren eines schriftstellerischen Arbeitsprozesses, stellen sie philologisch zu deutende Materialien zu einem (editorisch zu konstituierenden) Text dar, repräsentieren sie dadurch die Genese von Texten und bieten eine Kontroll- und Legitimationsinstanz zur Rekonstruktion je individueller Textgeschichten. Diesem bei allen methodischen Debatten und Abgrenzungsbemühungen kaum angezweifelten Fundament des textphilologischen Selbstverständnisses entspricht ein Ensemble von Begrifflichkeiten, das — bei allen konzeptuellen Differenzen — eine weitere und etwas abstraktere Gemeinsamkeit auszeichnet: die einer sich mit der Nüchternheit technischer Verfahrens- und Gegenstandsbeschreibung gelierenden, aber ein problematisches metaphorisches Potential mit sich tragenden Begriffssprache inhärente Zeitdimension. Sie versieht Termini wie ,Entwurf, ,Textstufe' oder ,Fassung', ,Genese' oder ,Textwachstum', ,avant-texte' oder ,Entstehungsdokumente' mit einem temporalen Index, der die Reflexion ihrer Verwendung, und damit die textwissenschaftliche Modellbildung, nicht unbeeinträchtigt lassen kann. Temporale Szenen, ja Phantasmen lassen sich denn in der textkritischen Forschungsliteratur beinahe an beliebiger Stelle entdecken. Siegfried Scheibe etwa faßt die Erkenntnisbedingungen des Editors folgendermaßen: Die Fähigkeit des Editors zeigt sich darin (und es ist gleichzeitig seine Aufgabe), ein mit Korrekturen übersätes Manuskript zunächst in unberührtem Zustand sehen zu können, als unbeschriebenes Blatt Papier, um dann möglichst weitgehend erkennen und ermitteln zu können, wie dieses Blatt in einzelnen Arbeitsschritten mit ,Text', mit Buchstaben und Zeichen, bedeckt wurde, wie sich Teile dieses .Textes' veränderten, andere konstant blieben, und warum das so war. Der Editor muß also den konkreten
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Stephan Kammer Entwicklungsprozeß sehen, d.h. nachvollziehen können, und er muß ihn beschreiben und darstellen, d.h. deuten können.1
Mit der Verlockung neuerer, multimedialer Darstellungssysteme scheinen die Filme aus Editorenköpfen mehr und mehr auf die programmatischen Bildschirme hypertextueller Aufbereitungsarten von avant-textes 2u wandern. Almuth Gresillon erhofft sich davon einen „schlagenden Beweis" für die editorische Simulation von Textgenesen: Gewisse mit Streichungen und Uberschreibungen übersäte Passagen der Handschrift können in Realzeit [sie!] chronologisch über den Bildschirm laufen; wie im Film zieht sich zunächst die erste Schreibspur über die Bildfläche, sodann erscheint die Streichung, der sich dann der neue Schriftzug anschließt, und dies so lange, bis das Schriftknäuel gänzlich aufgelöst ist.2 Das Gespenst des Autors, das die Verfahren und Begrifflichkeiten der Editionswissenschaft allen literaturtheoretischen Debatten zum Trotz bevorzugt heimsucht, soll, so steht zu befürchten, im neuen Medium durch das Gespenst des Schreibakts ausgetrieben werden. Nun scheint, v o m common sense des Einblicks in die Dichterwerkstatt bis hin zu den elaborierteren Theoriebildungen zum Text als Prozeß, eine solche Programmatik nicht nur dem Gegenstand angemessen, sondern darüber hinaus auch von einer allgemeineren Theorie der ,Schrift' gedeckt zu sein. Zweifellos ist in Handschriften die Schreibarbeitszeit des Schriftstellers aufgehoben, zweifellos wird bereits die Mikroszenerie des Schreibakts von einer unhintergehbaren zeitlichen Bahnung strukturiert, zweifellos ist die Aufgabe der Philologie — als Rekonstruktion dieser Schreibarbeit und Beschreibung der Spuren dieser Bahnung — nicht anders als in Metaphern der Zeitlichkeit zu fassen. Zur Debatte gestellt werden können, das ist einleuchtend, daher allein Modalitäten und Implikationen dieser Zeitlichkeit.
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Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: ZfdPh 101 (1982) Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 12-29, hier S. 14 [Hervorhebung S.K.]. - Aus Platzgrunden muß hier die Darstellung an Beispielen ebenso entfallen wie eine intensivere Diskussion des Forschungsstandes. Folgt daraus, wie ich furchte, der gelegentliche Eindruck eines apodiktischen Gestus, so bitte ich dafür an dieser Stelle um Nachsicht. Almuth Gresillon: Literarische Handschriften im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Von der Mimesis zur Simulation. In: Andreas Kablitz, Gerhard Neumann (Hrsg.): Mimesis und Simulation. Freiburg 1998, S. 255-275, hier S. 272 [Hervorhebung S.K.].
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In die Kritik geraten ist dabei zunächst eine Form der Übertragung, wodurch die rekonstruierten Zeitindices mit Qualitätsindices versehen werden: das Verständnis der Schreibarbeit als Annäherung an ein Werkideal. Gerade einer reflektierteren Auseinandersetzung mit und der damit zusammenhängenden Aufwertung von Dokumenten schriftstellerischer Arbeitsweisen muß jene traditionsreiche ästhetische Maxime zweifelhaft werden, die den dispersen Arbeitsschritten die ,Idee' beziehungsweise die ,ideale Gestalt' des vollendeten Werks immer schon voranstellt — sie geradezu zur Voraussetzung macht. Es ist keine neue Einsicht, daß der Konjunktur dieser teleologischen Konzeption eine historisch zu situierende und keineswegs invariable Auffassung von Autorschaft zugrundeliegt, die das ästhetische Objekt emphatisch und ausschließlich an die Maßgabe ,genialer' Subjektivität bindet. Der bekannte Kurzschluß zweier Goethe-Zitate, durch den Friedrich Beißner das teleologische Modell als Verpflichtung und Legitimationsinstanz für seine Hölderlin-Edition gesetzt hat,1 verweist auf die geistesgeschichtliche Tradition, der dieses Autorschaftskonzept geschuldet ist. Daß die in Goethes Äußerung über Wieland anempfohlene Analyse des „in stufenweisen Korrekturen [...] unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers"4 zunächst einmal nicht einem autorzentrierten Werkideal — und schon gar nicht einer subjektivistischen Produktionsästhetik — verpflichtet ist, sondern im Dienst nationalliterarischer Stilkritik und Geschmackslehre stehen soll, fällt dabei wenig in Betracht. Vergleichbares gilt für den zweiten Bestandteil des Kurzschlusses: die Wendung vom Aufhaschen' „im Entstehen", das erst das Verstehen von „Natur- und Kunstwerke[n]" 5 garantieren soll. Roland Reuß hat darauf hingewiesen, daß gerade Goethes Konzept der ,Genese' schlecht zur Begründung teleologischer Modelle der ästhetischen Produktion taugt, ist es doch „nicht etwa vorwärts-, sondern rückwärtsgerichtet"6. .Genealogie', nicht ,Textwachstum', böte sich als zutreffende epistemologische Metaphorisierung der von Beißner — überdies ohne Rücksicht auf die Differenz zwischen
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Vgl. Friedrich Beißner: Aus der Werkstatt der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. In: Hölderlin. Reden und Aufsätze. Weimar 1961, S. 251-265. Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sanscülottismus. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771-1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt am Main 1998, S. 319-324, hier S. 322. Johann Wolfgang von Goethe an Karl Friedrich Zelter, 4. August 1803. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 32: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805. Hrsg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1999, S. 368f., hier S. 368. Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur ,Textgenese'. In: TextKritische Beiträge 5 (1999), S. 1-25, hier S. 9.
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Hölderlins Schreibweise und dem strategisch postulierten Produktionsideal einer Werkästhetik — als Autoritätszitate verwendeten Goethe-Stellen an. In der teleologisch begründeten Vorstellung der Textentstehung ist bei genauem Hinsehen ein komplexeres Modell von Zeitlichkeit angelegt, als die organische Metaphorik des naturhaften Wachsens vom ersten ,Keim' bis zur vollendeten Gestalt7 vermuten ließe. Daß im strengen Sinn ausgehend von einem Standpunkt der Nachträglichkeit argumentiert wird, der das Telos jeder Rekonstruktion der Entstehung immer schon vorausgesetzt haben muß, ist impliziter Bestandteil der Denkfigur; die herkömmliche editorische Trennung von Textund Apparatbänden, in der die Repräsentation des Telos von der Darstellung seiner Erarbeitung auch materiell geschieden werden soll, läßt, im Wortsinn, handgreiflich werden, daß das teleologische Modell des ,Textwachstums' nicht nur auf die Vollendung des literarischen Arbeitsprozesses hin orientiert ist, sondern diesen unweigerlich auch vom Ende her denkt. Zu fragen wäre nun, inwiefern mit der — nicht zuletzt ausgehend von der Kritik an den Implikationen dieses Modells entworfenen — Erweiterung des editorischen Textbegriffs, wie sie pointiert vor allem von Gunter Martens, Siegfried Scheibe und Hans Zeller vertreten worden ist, auch eine Veränderung der immanenten Vorstellung textgenetischer Zeitlichkeit einhergeht. Diese Erweiterung hat die Vorstellung, das Telos der dichterischen Arbeit sei identisch mit dem Text und die in den Dokumenten dieser Arbeit aufgehobenen Varianten seien als Abweichungen von diesem Text (in anderen Texten) zu bestimmen, bekanntlich ersetzt durch ein Konzept, das die rekonstruierbare Abfolge der einzelnen Arbeitsschritte einer — wenn auch dynamisch und prozessual gefaßten - TextIdentität unterstellt; in ihr figurieren die vorliegenden oder textkritisch konstruierbaren Textzustände als „Fassungen eines Textes"; die Identitätsfigur des Textes soll selbst den Charakter eines „komplexen Zeichen [s]" erhalten, dessen „dynamischer Strukturzusammenhang" von der Editionswissenschaft wie von anderen Möglichkeiten des hermeneutischen Zugangs immer nur punktuell und im Bewußtsein des ihm immanenten Wechsels „von Textfixierung und Zeichenauflösung" suspendiert werden kann.8 Das teleologisch geprägte Modell eines — dem Autor möglicherweise unbewußten, dem Editor grundsätzlich zugänglichen — ,Schöpfungsplans' wird ersetzt durch eine ,genetische' Prozessualität, in der 7
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Vgl. als vielleicht konsequenteste Übertragung der Naturmetaphorik auf den künstlerischen Schaffensprozeß Klaus Conrad: Das Problem der Vorgestaltung. In: J.A. Schmoll gen. Eisenwerth (Hrsg.): Das Unvollendete als künstlerische Form. Ein Symposion. Bern, München 1959, S. 35-45. Gunter Martens: Was ist — aus editorischer Sicht - ein Text? Überlegungen zur Bestimmung eines Zentralbegriffs der Editionsphilologie. In: Siegfried Scheibe, Christel Laufer (Hrsg.): Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Berlin 1991, S. 135-156, hier S. 137, 142 und 148.
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Zäsuren (die ,Fassungen' und ,Textstufen', aber auch Interpretationen, Aufführungen usw.) ebenso wie ihre Agenten (der ,Autor',,Editor', .Interpret' usw.) beschreibbar werden, in der diesen Zäsuren aber keineswegs mehr der Anspruch einer endgültigen Schließung zugesprochen werden kann. An die Stelle der editorisch zu wiederholenden Nachträglichkeit, die ,Textwachstum' als (Un-)Einholbarkeit eines von Anfang an anwesenden Endpunktes setzt, tritt die Progression einer ,genetischen', das heißt auch: einer mitunter zu Verzweigungen, Sackgassen, ,Mutationen' fuhrenden, potentiell mehrschichtigen Zeitlichkeit — ein säkularisiertes Evolutionsmodell scheint die schöpferische Geniereligion abgelöst zu haben. Der damit erreichte Paradigmenwechsel ist für die Methodenreflexion, vor allem aber für die Darstellungspraxis der Editionswissenschaft ohne Zweifel von größter Bedeutung. Mit der kategorialen Aufwertung des schriftstellerischen Arbeitsprozesses, die in der propagierten Gleichwertigkeit der Fixierungsstufen — das heißt: in der Entkoppelung von Zeit- und Qualitätsindices — zum Ausdruck kommt, sind Modi der editorischen Präsentation möglich geworden, die aufgrund der (implizit) normativen Ästhetik des teleologischen Modells nicht in Betracht kamen. Die Lesbarmachung von Schreibprozessen und ihrer keineswegs stets .zielgerichteten' Bewegungen und damit die Rekonstruierbarkeit schriftstellerischer Arbeitsweisen durch textgenetische Editionen ermöglichen die Entwicklung von Fragestellungen textkritischer Art, die — grundsätzlich kongruent mit den Auswirkungen anderer methodischer Innovationen der Literaturund Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten — eher an der Faktur ästhetischer Objekte interessiert sind als an ihrer gleichsam monadischen Existenz.
III Die Gleichwertigkeit der Zäsuren in der genetischen Prozessualität des Textes, deren begriffliche Bestimmung im übrigen nichts weniger als unproblematisch ist,9 verstellt indes Differenzen, ja Heteronomien, die diesen Zäsuren eigen sind. Es schiene wohl wenig sinnvoll, zu behaupten, eine edierte ,Textfassung' habe per se denselben Status wie eine ,Textinterpretation' — was selbstverständlich nicht heißen soll, daß eine Edition nicht das Ergebnis eines Interpretationsakts präsentiert. Strenggenommen aber dürfte deren Status im Sinne des Martensschen Modells kategorial nicht anders sein als der von einzelnen ,Fassungen' eines Textes, deren Gleichwertigkeit, so die editionswissenschaftliche Maxime, durch gleichberechtigte Darstellung Rechnung zu tragen ist. Die strukturelle 9
Vgl. Louis Hay: „Le texte n'existe pas." Réflexions sur la critique génétique. In: Poétique 62 (1985), S. 1 4 6 - 1 5 8 , und ReuB 1 9 9 9 [wie A n m . 6], S. 13f.
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Unabschließbarkeit eines dynamischen Zeichen- und Textmodells, das aus strategischen Gründen in die editorische Methodenreflexion importiert worden ist, macht vor konventionellen Ordnungskategorien wie ,Werk', Interpretation' und ,Autor', die diesen Import dort unangefochten überlebt zu haben scheinen, eben nicht halt. Das Beharren auf der prinzipiellen Gleichwertigkeit der einzelnen ,Textzustände', so notwendig es zur Kritik des teleologischen ,Wachstums'Modells ist, verdeckt qualitative Differenzen1" des Befunds; schlimmer noch: Es amalgamiert, da als Kritik nicht konsequent genug, das neue epistemologische Modell mit einer Begrifflichkeit, deren Eigenlogik noch der Vorstellungswelt des Kritisierten angehört. Termini wie ,Entwurf, ,Fassung', aber auch im Zug der Perspektivenverschiebung erst entstandene Konzepte wie das des ,avant-texte' tragen, wie zu befurchten ist, nicht nur semantische Reste der teleologischen Auffassung von Textentstehung und eines letztlich idealistischen ,Werk'-Begriffs mit sich. Die Frage, die sich aus dieser Problemlage stellt, ist damit die folgende: Wie müßte ein Modell aussehen, das die qualitativen Differenzen zwischen heterogenen ,Textzuständen' — von Aufzeichnungen und Notizen bis zu .Reinschrift' und Druck — jenseits einer normativen Wertigkeit beschreibbar zu machen erlaubt? Daß nämlich auf Handschriften der Status des ,Textes' nicht ohne weiteres übertragbar ist, geht aus dem minimalen Kriterienkatalog für die Verwendung des Begriffs hervor, den Roland Reuß in seiner bereits zitierten Kritik an ,textgenetischen' Konzeptionen entworfen hat: Wenn man die Minimalbedingungen auflistet, die erfüllt sein müssen, um ein literarisches Gebilde als einen poetischen Text anzusprechen, so gehören dazu vor allem die strikte Linearität der zugrundeliegenden Zeichen- und Buchstabenfolgen, die Existenz eines bestimmten Anfangs, einer bestimmten Mitte und eines bestimmten Endes, und, damit zusammenhängend, daß alles, was in einem poetischen Text gesetzt ist, an seiner Stelle steht und nicht ersetzt werden kann (Ausschluß der paradigmatischen Kombinatorik). [...] Texte, die sich zu den genannten Minimalbedingungen kritisch verhalten, ja gerade sie, verlören ihren Witz, wenn sie sie nicht zugleich stillschweigend anerkennten.11
Es wird deutlich, daß unter diesen Bedingungen das Kriterium der Linearität das ausschlaggebende ist; Gliederung und Unverrückbarkeit der Textelemente verhalten sich dazu als ästhetischer Uberbau mit (historisch) variabler Normativität. Das heißt aber, daß Handschriften — hier und im folgenden soll diese Bezeichnung weniger einer medialen Differenz als eben dieser Differenz in bezug auf die
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Selbstverständlich wird der Begriff der .Qualität' hier und im weiteren nicht im normativästhetischen Sinn verwendet. Reuß 1999 [wie Anm. 6], S. 14f.
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Linearität Rechnung tragen12 — strukturell nicht nur ,diachron' im genetischen Prozeß, sondern auch ,synchron' als Ereignisse in ihrer Alinearität erfaßt werden müssen. Handschriften sind keine Texte, sie enthalten auch im strengen Sinn des Begriffs keinen Text. Sieht man von den materiell-semiotischen Aspekten von Hand- und Druckschrift einmal ab, auf deren Diskussion ich hier verzichten muß, ist der Dimension der ,synchronen' Zeitlichkeit von Handschriften zweifellos der Rang einer epistemologischen Schlüsselstelle zuzurechnen, deren Bedeutsamkeit weit über die Probleme der Darstellbarkeit von inneren Chronologien hinausreicht. An diesem Punkt soll der folgende Vorschlag einsetzen mit dem Ziel, einige Bausteine zu einer Statusbeschreibung literarischer Handschriften anhand eines streng relationalen Modells, des Begriffs der Textur, zu entwerfen. IV Die Antwort, die Louis Hay im Hinblick auf die Problematik des traditionsreichen Textbegriffs unter der neuen Perspektive einer prozeßorientierten Schreibforschung gegeben hat: daß es für sie ,den Text' nicht gibt, sondern nur Texte im Plural,1-1 verdeutlicht das Dilemma der Qualifizierung sogenannter ,avant-textes' resp. .Entstehungsdokumente'. Faßt man sie unter den Begriff des .Textes', stehen sie unter dem Identitätspostulat einer (zielgerichteten Bewegung, das sie strukturell zur ,Varianz' werden läßt; faßt man sie als ,Texte', wird zwar ihr je singulärer Status situativ benenn- und die Kombinatorik ihrer Sukzessionen beschreibbar — der Umstand aber, daß diesen singulären Zäsuren in einem historischen Prozeß und dem ,Produkt' dieses Prozesses dieselbe Bezeichnung verliehen wird, führt zu Konfusionen, die nur zu oft durch die Wiederbelebung nicht minder unscharfer Begriffe wie etwa den des ,Werks' behoben werden sollen.14
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Denn selbstverständlich können z.B. auch Typoskripte von dieser strikten Linearität abweichen, Handschriften ihr gehorchen. Vgl. Reuß 1999 [wie Anm. 6], S. 14, dessen begrifflicher Unterscheidung zwischen ,Text' und .Entwurf ich allerdings aus naheliegenden Gründen nicht folgen will. Vgl. Hay 1985 [wie Anm. 9]. Vgl. zu derartigen Problemen textkritischer Begriffssprache schon Hans Zeller: Braucht die Editionswissenschaft eine Fachsprache? Für eine Verständigung. In: Louis Hay, Winfried Woesler (Hrsg.): Die Nachlaßedition. La publication des manuscrits inedits. Akten des vom Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorienkolloquiums Paris 1977. Bern [u.a.] 1979, S. 31-41.
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Bedenkt man diese Aporie und versucht man, der Problembehaftetheit herkömmlicher textkritischer Begriffe wie .Fassung' und ,Entwurf Rechnung zu tragen, bietet sich zur Profilierung des analytischen Instrumentariums im Umgang mit den .Entstehungsdokumenten' literarischer Texte ein Konzept an, das in der Literaturwissenschaft seit einigen Jahren gelegentlich Verwendung findet und das mit Gewinn im Hinblick auf die erwähnte Problem- und Fragestellung erweitert werden könnte: das der Textur. In Abgrenzung zu einem repräsentationslogischen Text-Verständnis bestimmt als gewissermaßen .technische' Bezeichnung für das „sprachliche Material in seiner spezifischen Verknüpfung"15, erlaubt der Begriff, textkritisch gewendet, zweierlei: Er bezeichnet zum einen die Perspektivierung auf die Verknüpfungseffekte, die von den Zeichenkonstellationen der singulären Dokumente, der .Ereignisse' einer Textgeschichte, provoziert werden. Zum andern gestattet er es, diese ,Ereignisse' nicht einem Repräsentationsverhältnis zu einer übergeordneten kategorialen Einheit zu unterwerfen. Das heuristische Paradigma strenger Relationalität ermöglicht zunächst eine immanente Kategorisierung, die Differenzen vom linearen Textkonzept nicht normativ an diesem mißt, sondern deren spezifischem Status mit einer ausbauund verfeinerbaren Typologisierung Rechnung trägt. Phänomene wie, um Beißners Bezeichnung zu nennen, Hölderlins „Keimworte" oder Celans Wortaufzeichnungen wären so beispielsweise als .lemmatische Texturen' zu beschreiben, Versansätze als ,metrische Texturen', Dispositionen als .strukturelle Texturen' etc. Auch Änderungsvorgänge in Manuskripten ließen sich, um dem impliziten Identitätspostulat des Variantenbegriffs zu begegnen, anhand funktionaler Parameter ausdifferenzieren. Zu denken ist dabei etwa an syntagmatische resp. paradigmatische Formen von Änderung, an die rhetorischen Änderungskategorien der Weglassung, Hinzufügung, Umstellung und Ersetzung, aber auch an verschiedene Praktiken der Markierung von Änderungen wie Überschreibung, Streichung, Setzung von Einfügemarken usw. Die Nachteile eines solchen Vorschlags scheinen schnell ausgemacht: Droht nicht eine hypertrophe, überkomplexe Beschreibungssprache zu entstehen, die bisher so selbstverständliche wie eingängige Phänomene wie ,Entwurf oder ,Notiz' und vertraute Vorgänge wie .Korrektur' oder ,Überarbeitung' — die sich
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Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne. Tübingen 1994 (Studien zur deutschen Literatur; 134), S. 13. - Eher als ein Rekurs auf die literaturwissenschaftliche, schwach definierte Verwendung des Begriffs bietet sich zur hier vorgenommenen Übertragung der Verweis auf die geologische Fachsprache an. Darin wird als .Textur' die (räumliche) Anordnung und Verteilung der Mineralien bezeichnet, aus denen das Gemenge einer Gesteinsformation gebildet wird.
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allesamt nicht per se der weiteren Ausdifferenzierung sperren16 — mit den Wucherungen einer uneleganten, umständlichen und schwer vermittelbaren Terminologie überzöge? Dagegen wäre zunächst zu halten, daß gerade aus einer gewissen Verfremdung von Pseudoevidenzen des schriftstellerischen Arbeitens, die allemal eher von kulturellen Konventionen über das Ästhetische und die Kreativität ausgehen als von der materiellen Zeichenhaftigkeit der Objekte, ein epistemologischer Zugewinn resultiert. Er erwüchse bei der Konzentration auf Verknüpfungsregeln — das heißt auf textuelle Funktionszusammenhänge, die (zumindest vorwiegend) an das Medium der Schrift gebunden sind — vor allem in der dezidierten Abgrenzung von der immer wieder hartnäckig bestrittenen, aber sich nicht zuletzt aufgrund der nach wie vor intakten Auratisierung der Handschrift ebenso hartnäckig haltenden Vorstellung, Interpretation und Darstellung von Manuskripten erlaubten einen Einblick in den ,Kopf des Autors' bei seiner Arbeit oder auch nur den berühmten ,Blick in die Werkstatt'. Abstrakte Distanzierung ist dazu zweifellos hilfreicher als falsche Unmittelbarkeit. Ein weiterer Vorteil bietet sich, im Hinblick auf die Differenzierung verschiedener Aggregatszustände schriftlicher Textualität, in der Prämisse der Nichtnpräsentativität von Texturen. Manuskripte sind nicht .Fassungen' eines Textes oder .Entwürfe' zu ihm, sondern singulare ästhetische (zumindest vorwiegend) Schrift-Objekte — mit Eigengesetzlichkeiten, die es zu beschreiben gilt; dies gerade dann, wenn die Aufhebung ihrer Singularität in einen Arbeitsprozeß für die Auseinandersetzung mit ihnen programmatisch werden soll. Auszugehen wäre dabei von einer Diskontinuität der Objekte, die sich gegen jedes ,metaobjektive' Identitätsgebot sperrt. Das streng relationale Modell der Textur bringt auch hier die epistemologische Präzisierung mit sich, daß Verknüpfungen zwischen den einzelnen ,Schriftereignissen' sowie ihre Regelhaftigkeit kritisch begründet werden müssen und nicht einfach vorausgesetzt werden können, wie das beim Konzept der,Genese' der Fall ist.
V Die temporalen Implikationen der textkritischen Terminologie standen am Ausgangspunkt dieser Überlegungen. Darauf soll zum Schluß dieser knappen Skizze nun noch einmal näher eingegangen werden. Welche Vorteile resp. Möglichkeiten böte der Begriff der Textur angesichts des ,diachronen' Wechselspiels von
16
Vgl- etwa die terminologischen Vorschläge im „Glossaire de critique génétique" bei Almuth Grésillon: Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994, S. 241-246.
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Stephan Kammer
(zu konstruierender) Dynamis und Stasis von ,Textzuständen', das dem Editor im Umgang mit den Dokumenten literarischer Arbeit aufgegeben ist? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage erfordert, über die oben vorgeschlagene Wendung zu den Fragestellungen textkritischer Arbeit hinaus, eine Spezifizierung des Begriffs. Denn der Zeitlichkeitscharakter dieses relationalen Modells, das sich dezidiert auf die Machart der mit ihm zu fassenden Objekte konzentriert, bleibt durch die Perspektive auf Verknüpfungseffekte — die bei Handschriften ja aus räumlichen, graphischen und erst in der interpretierenden Transformation durch den Textkritiker temporalisierten Zeichen zu erschließen sind — unterbestimmt, genauer: eine Möglichkeit argumentativer Erschließung unter anderen; damit ist die notwendige Abgrenzung vom Begriff des Textes — verstanden im Rahmen der zitierten Minimaldefinition — noch nicht erschöpfend erfaßt. Denn die Bezeichnung ,Textur' müßte über die synchrone hinaus auch die diachron-prozessuale Alinearität von Handschriften beschreiben; das, was noch nicht Text, aber immer schon — über die Schrift — im Register des Textuellen eingetragen ist, muß definitorisch von Termini wie .Entwurf oder ,Vorstufe' geschieden werden. Die Form der Zeitlichkeit, die damit in den Begriff eingeht, ist die einer chiastischen Verschränkung von Vorausweisung und Nachträglichkeit, futurum perfectum. Sie postuliert nicht den Vorgang einer allmählichen, gelingenden oder scheiternden Annäherung an die Idealgestalt (also ein Nachträglichkeitsverhältnis, das sich zur unabdingbaren Voraussetzung erhebt), sondern beschreibt eine Serie differenter Ereignisse, deren Bedingungsgefuge allenfalls ex post, durch die genealogisch-archäologische Arbeit des Textkritikers, herzustellen ist. Sie wertet die Abfolge dieser Ereignisse nicht als Gradus ad Parnassum, sondern weist darauf hin, daß erst das neue Schriftereignis mit seiner Differenz zum vorangehenden etwas anzeigt, was die Arbeit in Gang gehalten hat. Sie läßt aber, und das wäre vielleicht die wichtigste Voraussetzung für die kritische Arbeit mit .Entstehungsdokumenten' von Texten überhaupt, sichtbar werden, daß der Akt des Schreibens nicht allein aufgrund fehlender Zeugnisse editorisch nicht wiederzugeben ist, sondern deshalb, weil er auch da immer schon vorbei ist, wo Texturen bleiben. Diese Nachträglichkeit, die kein Grund für mehr oder minder melancholische Uberformungen durch Modelle der Vergegenwärtigung sein sollte, ist die Voraussetzung für die Beschäftigung mit Textgeschichten überhaupt. Wer bei einer Entstehung zuschauen will, kommt — ob Editor oder nicht — immer schon zu spät. Daß es deswegen in Texturen nichts zu sehen gäbe, heißt dies allerdings nicht. Textphilologie, verstanden als Grundlagenforschung, aber nicht mit dem Anspruch auftretend, ihres Gegenstands wegen näher am Phantom der Textent-
Textur
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stehung zu sein, leistet ihren Beitrag zur Erforschung jener ,Schreibszenen',17 auf denen Texte und Texturen auftreten. Deren Geschichte setzt nicht mit dem ersten Schriftzug auf dem ersten Blatt ein und ist mit der ,Fassung letzter Hand' nicht zu Ende. Im Dispositiv der Schreibszene ist Textkritik eine Praxis der Spurensicherung unter anderen; sie erzählt von Schriftereignissen, denen auch sie keine Form der Präsenz wiedergeben kann, die auch sie strenggenommen nicht repräsentieren, sondern immer nur — begründend — darstellen kann. Gerade weil sie aber nicht nur Grundlagenforschung betreibt, sondern in der editorischen Praxis die Grundlage für weitere Spurensicherungen zur Verfügung stellt, ist die Textkritik gehalten, das Ensemble ihrer Begrifflichkeiten und Techniken so strukturnah wie möglich anzusetzen, wenigstens aber dessen eigenes Bedingungsgefüge so transparent wie möglich werden zu lassen.
17
Vgl. dazu Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt am Main 1991, S. 759—772.
Jörn Henrich Modelle diachroner Wissenschaftstheorie und ihre editorischen Entsprechungen
Eine der zentralen Einsichten der Editionswissenschaft ist, daß Texte nicht als statische Gebilde zu handhaben sind, sondern in vielerlei Hinsicht Dynamiken aufweisen. Diese betreffen zum Beispiel die Entstehung, die Überarbeitung, die Überlieferung und auch die Rezeption von Texten. In der Erarbeitung dieser Bereiche waren insbesondere die Literaturwissenschaften wegweisend. Daß der Impuls zu einem weniger starren Textbegriff nicht primär seitens der Philosophie gekommen ist, liegt sicherlich nicht nur an der Jahrtausende andauernden Tradition philosophischer Editionen. Der bedeutendere Grund ist, daß sich seit der Vorsokratik, genauer seit Pythagoras, Heraklit und Parmenides, der Glaube an die Ewigkeit philosophischer Wahrheit etabliert hat. Wahre Sätze sind gemäß der vorherrschenden Wahrheitstheorien nicht modifikationsbedürftig; Wahrheit ist statisch. Das Wichtige der philosophischen Tätigkeit ist somit weniger der Weg als das Resultat, das als wahre Theorie in Textform fixiert und schließlich ediert wird. Demgemäß bestand nach traditioneller Auffassung ein Wissenschaftsfortschritt insbesondere in der „Mehrung des Wissens hinsichtlich der Eindringtiefe und der Reichweite".1 Damit geht ein gewisser Konservativismus konform, der sich bereits bei Piaton nachweisen läßt und seine Begründung im Respekt vor den Leistungen der Vorgänger hat. So sagt Sokrates zu Phaidros: Eine Sage wenigstens habe ich darüber zu erzählen von den Alten, das Wahre aber wissen nur jene selbst. Könnten wir aber dieses finden, würden wir uns dann noch irgend um menschliche Urteile kümmern? (274 c; Übersetzung: Schleiermacher) 2
Die dargelegten Aspekte scheinen mir im Kontext der Philosophie maßgeblich dafür verantwortlich zu sein, warum sich die traditionelle Textauffassung und die entsprechende teleologische Editionsform über Jahrtausende haben halten können. Die Auffassung des kumulativen Wissenschaftsfortschritts hat sich im 20. Jahrhundert durch die Wissenschaftstheorie und die analytische Philosophie grundlegend geändert. Karl Popper hat durch die Logik der Forschung die Fokus1 2
Hans Poser: Wissenschaftstheorie. Stuttgart 2001, S. 136. Piaton: Werke. Bd. 5. Phaidros. Hrsg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1990.
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sierung der diachronen Wissenschaftstheorie vorbereitet. Die Diskussion brach aber erst in den sechziger Jahren mit Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen aus.3 Ich möchte im Folgenden die Grundzüge von Poppers Theorien- und Kuhns Wissenschaftsdynamik vorstellen und anhand dreier Beispiele zeigen, daß verschiedene und bereits praktizierte Editionskonzepte sich nicht nur füir die Darstellung bestimmter wissenschaftshistorischer Konstellationen besonders gut eignen, sondern daß sie ihrerseits eine editorische Intuition widerspiegeln, die erst in der diachronen Wissenschaftstheorie ihre theoretische Formulierung erhalten hat. Poppers Wissenschaftstheorie und die textgenetische Edition Der zentrale Punkt von Poppers Wissenschaftstheorie ist sein Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts durch Falsifikation. Bei einer Theorie muß stets angegeben werden, unter welchen Bedingungen die Falschheit der Theorie anzuerkennen ist. Der Wahrheitsanspruch wird zur asymptotischen Annäherung an die Wahrheit abgeschwächt und jede Theorie hat lediglich einen hypothetischen Status; ihre Widerlegung ist das Ziel der wissenschaftlichen Bemühung: Die Methode der kritischen Nachprüfung, der Auslese der Theorien, ist nach unserer Auffassung immer die folgende: Aus der vorläufig unbegründeten Antizipation, dem Einfall, der Hypothese, dem theoretischen System, werden auf logisch-deduktivem Weg Folgerungen abgeleitet; diese werden untereinander und mit anderen Sätzen verglichen, indem man feststellt, welche logischen Beziehungen (zum Beispiel Äquivalenz, Ableitbarkeit, Vereinbarkeit, Widerspruch) zwischen ihnen besteht.4
Neben der Auslese durch Falsifikation wird hier noch ein zweiter Aspekt thematisiert: das Auffinden wissenschaftlicher Theorien. Dieses scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, daß jemandem etwas Neues einfällt — sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie —, hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik.5
Gesetzmäßigkeiten der Innovation sind bis heute nicht bekannt, so daß vielmehr gilt: am Anfang jeder Theorie steht das Chaos. In einer späteren Vorlesung zum Thema der Rationalität der wissenschaftlichen Revolution vergleicht Popper den wissenschaftlichen Fortschritt mit biologisch-evolutiven Prozessen: es gebe Mutationen, Variationen oder Fehler, deren Folgeresultate sich bewähren oder 3
4 5
Einen guten Überblick über die Theorien zur Wissenschaftsgeschichte gibt Poser 2001 [wie Anm. 1], S. 135-207. Karl Popper: Logik der Forschung. Tübingen 10 1994, S. 7. Ebd., S. 6.
Modelle äachromr Wissenschaftstheorie und ihre editorischen 'Entsprechungen
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ausselektiert werden.6 Insgesamt läßt sich Poppers Wissenschaftstheorie auf zwei Prinzipien bringen: Freiheit in der Auffindung, Strenge in der Kritik. Popper beschreibt diesen Prozeß unabhängig von konkreten Personenkonstellationen. Daß man ihn bei einer Personengruppe entdeckt, die zu verschiedenen Zeiten an derselben Fragestellung arbeiten, entspricht dem gängigen Bild vom Fortgang der Wissenschaftsgeschichte; man kann ihn aber auch bei Einzelpersonen wiederfinden. Der Prozeß spielt sich bei Einzelpersonen insbesondere dann ab, wenn eine Theorie noch nicht im Stadium der Veröffentlichung ist. Die materiellen Zeugen solcher Entwicklungsphasen sind vielgestaltig und in der Philosophiegeschichtsschreibung weitgehend unbeachtet: Skizzen, Entwürfe, Arbeitshefte, Schmierzettel etc. Ein sehr anschauliches Beispiel ist die Entwicklung des arithmetischen Kalküls von Leibniz (April 1679). Seine Leitidee war, daß sich begriffliche Zusammenhänge mathematisch darstellen und behandeln lassen. Dem Kalkül liegt die Auffassung zugrunde, daß komplexe aus elementaren Begriffen zusammengesetzt sind. Als Repräsentanten der elementaren Begriffe verwendet Leibniz Primzahlen, die durch ganzzahlige Multiplikation nicht generiert werden können. Das Nachweisverfahren des Enthalten- und des Nichtenthalten-Seins der elementaren in den komplexen Begriffen ist der erwähnte arithmetische Kalkül. Es gibt insgesamt neun Texte, die man für den Kalkül heranziehen kann; sechs sind von Leibniz datiert. In den späteren Entwürfen verwendet er eine Zahlenpaardarstellung, auf die er im letzten Entwurf („numeri characteristici latine graece hebraice expressi"7) den Kalkül anwendet. Er überprüft den ungültigen Schluß AOO der dritten Figur der scholastischen Logik; der Kalkül weist den Schluß jedoch als gültig aus. In der Sichtweise Poppers stellt sich dies wie folgt dar: P 1
Der Kalkül weist den Schluß A O O der dritten Figur als gültig aus.
P2
Wenn der Kalkül einen Schluß als gültig ausweist, dann ist der Schluß auch gültig.
P3
Der Schluß A O O der dritten Figur ist ungültig.
P4
Also weist der Kalkül diesen Schluß nicht als gültig aus.
6
7
Karl Popper: Evolutionäre Erkenntnistheorie. Erstveröffentlichung in: Rom Harté (Hrsg.): Problems of Scientific Revolution. Oxford 1975, S. 60-69. (Deutsche Erstveröffentlichung in: Ders.: Lesebuch. Tübingen 1995.) Vgl. Stephen Toulmin: Die evolutionäre Entwicklung der Naturwissenschaft. In: Werner Diederich: Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie. Frankfurt am Main 1974, S. 249-275. Das entsprechende Manuskript wurde mir in Kopie von der Leibniz-Forschungsstelle Münster zur Verfügung gestellt. An dieser Stelle möchte ich Frau und Herrn Biller herzlichst danken.
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J ö r n Henrich
P 1 und P 4 erzeugen den Widerspruch. Leibniz streicht deshalb einige Passagen der Rechnung und dann die Rechnung komplett durch. Zwei Seiten später auf Blatt 17 wird ein Gültigkeitskriterium formuliert, nach dem ein Satz nicht mit seinem kontradiktorischen Gegenteil vereinbar sein dürfe. Die zwei wichtigsten Editoren zur Logik Leibnizens sind folgendermaßen vorgegangen: Couturat hat die Streichung in eckige Klammern gesetzt und fährt mit dem selben Blatt verso fort.8 Schmidt läßt in seiner Übersetzung die Streichung unkommentiert weg und schließt das Blatt verso unmittelbar an ein früheres Rechenbeispiel an.9 Zahlreiche Kommentatoren haben in der Folge von Couturats Interpretation der Streichung die Ungültigkeit des Kalküls behauptet,10 Christian Thiel hat dagegen die Gültigkeit des Kalküls bewiesen und aufgrund der Autopsie der Manuskripte zeigen können, daß das eingeführte Gültigkeitskriterium eine Reaktion auf die dargelegte Streichung der vorausgehenden Blätter ist. Dieser Zusammenhang war bis zur textgenetischen Edition der Akademie-Ausgabe, bearbeitet von Heinrich Schepers und anderen (1999), nicht zugänglich.11 Was zeigt das Beispiel der Edition des arithmetischen Kalküls für die Editorik? Es zeigt, daß im Kontext der rationalistischen Philosophie die textgenetische Edition einen theoriendynamischen Prozeß dokumentiert. Poppers Wissenschaftstheorie beschreibt sehr gut, welche Struktur zwischen Streichungen und beibehaltenen Sätzen besteht: wenn es nicht um Formulierungen oder Präzisierungen geht, dann ist die Streichung eine Falsifikation. Die Rezeptionsgeschichte des arithmetischen Kalküls macht auch für die Philosophie deutlich, daß in manchen Fällen durch eine Rekonstruktion des Entstehungsprozesses eines Textes der Text selbst besser verstanden werden kann — eine Binsenweisheit der literarischen Editionswissenschaft, die bis jetzt in der Philosophie nicht verwertet wird; gerade letzteres wird ebenfalls aus der Rezeptionsgeschichte deutlich. Daß einige Streichungen als Falsifikationen zu bewerten sind, führt zu unterschiedlichen Beurteilungen von Textstufen. In den Literaturwissenschaften ist gelegentlich die Auffassung anzutreffen, daß alle Textstufen gleichwertige dichterische Leistungen darstellen, wodurch
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10
11
Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Opuscules et Fragments inédits de Leibniz. Paris 1903. Unveränd. Nachdruck Hildesheim 1966, S. 246. Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Fragmente zur Logik. Übersetzt und hrsg. von Franz Schmid. Berlin i960, S. 227-240. Siehe zur Beurteilungsgeschichte des Kalküls Christian Thiel: Leibnizens Definition der logischen Allgemeingültigkeit und der .arithmetische Kalkül'. In: Studia Leibnitiana. Supplementa. Vol. XXI, Bd. III. Wiesbaden 1980, S. 18-20. Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Akademie-Ausgabe. 6. Reihe, 4. Bd., Teil A. Berlin 1999.
Modelle diachrtmer Wissenschaftstheorie und ihre editorischen Entsprechungen
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textgenetische Editionen oder Paralleleditonen legitimiert werden.12 Dies ist nicht nur allgemein höchst problematisch, sondern gilt auch nicht für die exakten Wissenschaften: der Begriff der Gleichheit ist nur unter der Voraussetzung der Quantifizierbarkeit des Vergleichsmaßstabs objektivierbar. Ferner verpflichtet jede nicht-platonische Philosophie dazu, nicht den Begriff der Bewertung, sondern den metaphysisch neutraleren der Beurteilung zu verwenden. In der theoretischen Philosophie bleibt dagegen zwar kein teleologisches, aber doch ein teleonomisches Textverständnis bestehen. Wenn zum Beispiel Leibniz sich bemüht, einen Kalkül zu entwickeln, dessen Inkorrektheit entdeckt und einen Fehler korrigiert, dann unterscheiden sich die verschiedenen Versionen des Kalküls offensichtlich in genau dem Punkt, der die conditio sine qua non jedes klassischen logischen Kalküls ist: die Korrektheit. Für Leibnizens Zweck einer arithmetischen Handhabbarkeit logischer Strukturen ist sowohl theoretisch als auch praktisch nur ein korrekter Kalkül tauglich; offensichtlich beurteilt er frühe Entwürfe des Kalküls als den späteren unterlegen. Mit der Beurteilung einer Textstufe ist freilich genau die Variable aufgezeigt, an der unterschiedliche philosophische Positionen zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Interpretation der textgenetischen Edition führen können. Kuhns Theorie des wissenschaftlichen Paradigmas und die Textkompilation Die Historiker haben gegen eine Pauschalierung von Poppers Auffassung des Fortschritts durch Falsifikation geltend gemacht, daß die wissenschaftliche Praxis keineswegs so klar verlaufe, wie jener es vermuten lasse. Das wird an der logischen Struktur einer Erklärung unmittelbar einsichtig: wenn aus den Prämissen Ai-A„ die Konklusion C und ihre Negation ableitbar sind, dann ist keineswegs bekannt, welche der Prämissen Ai—An zu negieren ist, um zu einer konsistenten Prämissenmenge zu gelangen. Daß darunter für lange Zeit umstrittene Sätze und solche sind, die eine Forschergemeinschaft nicht aufzugeben bereit ist, hat Thomas Kuhn neben anderem in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen dargelegt. Der zentrale Begriff von Kuhns Auffassung der Wissenschaftsgeschichte ist der des Paradigmas. Unter Paradigma „verstehe ich allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern."13 Newtons prinäpia 12
13
Vergleiche das Kapitel X: Die Genese literarischer Texte und die datin vorkommenden Beispiele in: Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S. 141-161. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main '51999, S. 20.
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mathematica philosophiae naturalis sind beispielsweise ein Paradigma der klassischen Mechanik. Kuhn kennt eine vorparadigmatische Phase, in der die wissenschaftliche Praxis nicht durch ein Leitbild normiert ist; es gibt weder einen deutlich abgegrenzten Themenbereich noch eine akzeptierte Methodologie; eine Phase der normalen Wissenschaft, die als .Rätsel Lösen' unter dem Leitbild des Paradigmas näher bestimmt ist; eine Phase des Aufkommens von Anomalien, die die theoretischen oder methodologischen Vorgaben des Paradigmas problematisch erscheinen lassen; eine Phase der Krise, in der zum Paradigma alternative Theorien entwickelt werden; -
eine Phase der Revolution, in der das Paradigma schließlich gestürzt und ersetzt wird.
Die dargestellten Phasen können Zeitspannen unterschiedlicher Dauer einnehmen und sind nicht auf isolierte Individuen bezogen, auch wenn sich vielleicht bei einzelnen Wissenschafdern Parallelen aufweisen lassen. Kuhns Werk blieb freilich nicht ohne Kritik und Weiterentwicklungen, auf die es hier jedoch nicht ankommt.14 Sein Verdienst ist zweifellos, in der Wissenschaftstheorie für eine stärkere Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte gesorgt zu haben. Nun hat die Wissenschaftsgeschichte ihre eigene editorische Praxis, wobei nicht an Werkausgaben, sondern an Textkompilationen verschiedener Autoren erinnert sei. Die Variation der Textkompilationen deckt alle gegenwärtig vorstellbaren Zeitspannen ab: es gibt sowohl Textkompilationen, deren Texte von der Vorsokratik bis zur Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts reichen, etwa Edgar Hungers Von Demokrit bis Heisenberg,15 als auch welche, deren Texte aus weniger als einem Jahrzehnt stammen, zum Beispiel: Joachim Schulte und Brian McGuiness Einheitswissenschaft16; das Buch beinhaltet Texte von 1933 bis 1938. Wenn man sich die genannten Zusammenstellungen genauer ansieht, so gibt es erstaunliche Übereinstimmungen mit der Theorie Kuhns: Von Demokrit bis Heisenberg von Hunger umfaßt allein aufgrund seines zeitlichen Umfangs Elemente aller Kuhnschen Phasen. Der letzte Abschnitt beispielsweise ist dem „Atom" gewidmet und verfügt über Texte von Lukrez bis Pascual Jordan, also eines Zeitraums von ca. 2000 Jahren. Hier wird gezeigt, daß die unterschiedlichen Atomvorstellungen vom kleinsten unteilbaren Körper (Paradigma des Atomismus Demokrits; in die Kompilation aufgenommene
14 15
16
Siehe zur Anschlußdiskussion z.B. Diederich 1974 [wie Anm. 6]. Edgar Hunger: Von Demokrit bis Heisenberg — Quellen und Betrachtungen zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Braunschweig 1963. Joachim Schulte, Brian McGuiness: Einheitswissenschaft. Frankfurt am Main 1992.
Modelle äachroner Wissemchaftstheorie und ihn editorischen Entsprechungen
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Anhänger: Lukrez, Galen, Plutarch) bis zur Quantenmechanik (Revolutionärer Bruch mit der klassischen Materievorstellung; Anhänger: De Broglie, Heisenberg, Pascual Jordan) reichen. Es sind Texte versammelt, die unter der Herrschaft verschiedener Paradigmata entstanden sind, zwischen denen die teilweise ebenfalls dokumentierten Phasen der Anomalie, Krise und Revolution liegen. Einheitswissenschaft von Schulte und McGuiness ist nicht zeitlich, sondern auch personell enger gefaßt; in ihr sind Texte der Protagonisten des Wiener Kreises zusammengestellt. Den Editoren geht es darum, die vielgestaltigen Betätigungsfelder einer Personengruppe vorzustellen, die durch die theoretische Identität des logischen Empirismus bestimmt ist. Eine solche Textsammlung repräsentiert einen Prozeß in der traditionellen Auffassung des Wissenschaftsfortschritts: es gibt eine akzeptierte Menge von Theoremen, die auf zahlreiche Fragestellungen angewandt wird, was einer Erweiterung des Wissensbestandes entspricht. In Einheitswissenschaft sind dies: Psychologie (Otto Neurath), Erkenntnistheorie (Hans Hahn), Wissenschaftstheorie (Rudolf Carnap, Richard von Mises), Ökonomie (Otto Neurath), Naturphilosophie (Philipp Frank) und Hermeneutik (Heinrich Gomperz). Im Kuhnschen Schema handelt es sich um die Phase der normalen Wissenschaft, die Phase des Rätsellösens unter einem Leitgedanken oder einem Leitbild.
Fazit Die vorausgegangene Untersuchung hat gezeigt, daß konkrete Theorien diachroner Wissenschaftstheorie sich in verschiedenen editorischen Modellen wiederfinden lassen. Es ist interessant zu sehen, daß es unabhängig von und vor der Diskussion der letzten vier Jahrzehnte bereits Editionen gegeben hat, die in ihrer Anlage vergleichbare Konzepte voraussetzen; die Editionen gehen zeitlich der diachronen Wissenschaftstheorie voraus. Die Editoren der textgenetischen Akademie-Ausgabe der Schriften Leibnizens und die der oben exemplifizierten Kompilationen haben folglich das gemacht, was die Wissenschaftstheorie heute nahelegt: sie geben Prozesse wieder. Da die diachrone Wissenschaftstheorie noch relativ jung ist und demgemäß ihre Konsequenzen noch lange nicht in anderen wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldern wie Editorik umgesetzt sind, bleibt abzuwarten, ob neue Auffassungen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte eine veränderte editorische Praxis etablieren werden. Es liegt auf der Hand, daß Veränderungen der Wahrnehmung und der Behandlung von wissenschaftlichen Theorien eingeleitet sind. Daß in den letzten Jahren verstärkt historisch-systematische Textsammlungen veröffentlicht werden, zum Beispiel die Philosophischen Arbeitsbücher, herausgegeben von Willi Oelmüller und Ruth Dölle-
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Jörn Henrich
Oelmüller (UTB), oder die Alber-Texte Philosophie, herausgegeben von Karl-Heinz Lembeck, und daß die Textgenese in philosophische Editionen Eingang gefunden hat und eine zweieinhalb Jahrtausende andauernde Tradition ablöst, sind dafür erste Indizien.
Alexandra
Braun-Rau
„Corruption somewhere is certain ..." Zur Problematik des Varianten- und Fehlerbegriffs bei Shakespeares King Lear
Wie Shakespeares Hamlet gehört auch King Lear zu den Stücken des literarischen Kanons, deren Rezeption sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend wandelte. Bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts galt als gesichert, daß Shakespeare nur einen Text des Dramas geschrieben habe, den die Frühdrucke im Quart- und Folioformat in verderbter Form überliefern. In der Überzeugung, den textuell divergierenden Zeugen der ersten Quarto- und der ersten Folioausgabe liege ein gemeinsamer Ur-Text zugrunde, wurden in der Editionspraxis die Drucke nach den Prinzipien der anglo-amerikanischen Copy-Text-Edition zu einem eklektischen Text konflationiert.1 Grundlage für dieses Verfahren bildete die buchkundlich-isolierte Beurteilung der Quelltexte, deren Varianz mit Hilfe druckanalytischer Kategorien zu erklären versucht wurde. Die These von der Existenz eines archetypischen Urtexts wurde erst in Frage gestellt, als Forscher um 1970 herausfanden, daß die erste Folioausgabe aus einer Revision des Quartodrucks hervorgeht und die überlieferten Frühdrucke zwei Fassungen des Werks King Lear darstellen.2 Im Gegensatz zur single-text-theory stützt sich die Revisionsthese (tbeory of revisioti) auf eine hermeneutische Perspektivierung der Quelltexte, die die makroskopischen Relationen der Varianten in ihren Fassungskontexten berücksichtigt. Die zunehmende Akzeptanz der theoiy of revision schlug sich auch in der Editionspraxis nieder und bewirkte, daß die als substantiell geltenden Textzeugen der ersten Quarto- und der ersten Folioausgabe getrennt voneinander ediert wurden.3 Grundlage für die editorische Um1
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Vgl. William Shakespeare: King Lear. Hrsg. von Kenneth Muir. London 1985 (The Arden Shakespeare; 3), S. xvii: „The present text of the play, therefore, is based on F; but since the F texts of other plays contain numerous errors and .sophistications' (i.e. unauthorized .improvements'), we shall accept Q readings not only where the F readings are manifesdy corrupt, but also where Q seems palpably superior." Vgl. auch William Shakespeare: King Lear. Hrsg. von Reginald A. Foakes. Walton-on-Thames 1997 (The Arden Shakespeare; 3). Vgl. Gary Taylor, Michael Warren (Hrsg.): The Division of the Kingdoms: Shakespeares Two Versions of King Lear. Oxford 1983. Vgl. William Shakespeare: The Complete Works. Hrsg. von Stanley Wells und Gary Taylor. Oxford 1986; William Shakespeare: The History of King Lear. Hrsg. von Stanley Wells. Oxford 2000 (The Oxford Shakespeare); William Shakespeare: King Lear: A
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Alexandra Braun-Rau
setzung der Revisionsthese bildete die Prämisse der Fassungstrennung, die — im Gegensatz zum Copy-Text-Verfahren — Rückgriffe auf das Material der anderen Fassung verbot. Unabhängig von ihrer buchkundlichen Bewertung in der Editionstradition waren somit in ihrem Kontext als sinnvoll erkannte Lesungen bei der Textkonstitution beizubehalten. Die Betrachtung des editorischen Verfahrens in den bisher erschienenen Editionen der Liar-Fassungen zeigt allerdings, daß die bei der Revisionsthese geforderte hermeneutische Bewertung der Quelltexte nach dem Sinnkriterium stellenweise von einer buchkundlich orientierten Vorgehensweise überlagert wurde. So wurden unter Berufung auf druckanalytische Aspekte wie bei der Copy-TextEdition weiterhin Uberlieferungsfehler angesetzt, wo die Fassungslesarten durchaus als sinnvoll zu bewerten sind. Ein Beispiel hierfür ist die editorische Behandlung der Quartolesung spirituall (Trecherers by spirituall / predominance, [Q, Z. 403^]). In konflationierenden Editionen wurde spirituall grundsätzlich als Verlesung der Foliovariante Sphericall (Treachers by Sphericall predominance. [F, Z. 452]) eingestuft mit der Begründung, die Foliolesung sei die kontextuell passendere Variante („because a particular planet was most powerful at the hour of our birth"4). Anknüpfend an die Editionstradition klassifizierten Editionen der Quartofassung spirituall wiederum als Uberlieferungsfehler,5 obwohl die Variante in ihrer im Oxford English Dictionary verzeichneten Bedeutung „of or pertaining to [...] spirit"6 eine im Kontext sinntragende Lesung darstellt. Auf vornehmlich buchkundliche Argumente stützt sich auch das Verfahren der Editionen bei der Quartolesung heeles (Horses are tide by the heeler, Q, Z. 1092), die analog zu spirituall überwiegend als Verlesung der Foliovariante heads (Horses are / tide by the heads; F, Z. 1282—83) eingestuft wurde.7 Auch heeles ist jedoch im Kontext der Quartofassung sinnvoll interpretierbar (heeler, „the two hind feet. Also the hoof or whole foot"8) und somit in einer Edition des Quartodrucks als
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Parallel-Text Edition. Hrsg. von René Weis. London 1993 (Longman Annotated Texts); William Shakespeare: The First Quarto of King Lear. Hrsg. von Jay L. Halio. Cambridge 1994 (The New Cambridge Shakespeare: The Early Quartos); William Shakespeare: The Tragedy of King Lear. Hrsg. von Jay L. Halio. Cambridge 1992 (The New Cambridge Shakespeare); William Shakespeare: King Lear. The 1608 Quarto and 1623 Folio Texts. Hrsg. von Stephen Orgel. New York 2000 (The Pelican Shakespeare). Muir 1985 [wie Anm. 1], 1.2.120 und Foakes 1997 [wie Anm. 1], 1.2.123. Vgl. auch William Shakespeare: King Lear: A Critical Edition. Hrsg. von George Ian Duthie. Oxford 1949, I.ii.119. Vgl. Wells, Taylor 1986 [wie Anm. 3], 2.118; Wells 2000 [wie Anm. 3], 2.115 und Orgel 2000 [wie Anm. 3], 1.2.117. The Oxford English Dictionary, a (4.a.). Vgl. Wells, Taylor 1986 [wie Anm. 3], 7.194; Wells 2000 [wie Anm. 3], 7.193; Orgel 2000 [wie Anm. 3], 2.4.6-7 und Weis 1993 [wie Anm. 3], 2.4.7. The Oxford English Dictionary, n ' (2.b.[b.]).
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Fassungsspezifikum beizubehalten. Da die semantische Validität der Variante anerkannt wurde („Q is not nonsense, but F seems closer to normal practice."9), scheint der Eingriff vor allem durch einen Vergleich mit der Foliofassung motiviert. Das Verfahren bei spirituall und heeles zeigt, daß bisher bei der editionspraktischen Umsetzung der Revisionsthese weder der hermeneutischen Perspektivierung der Quelltexte nach der Prämisse „we have retained Q wherever we could make defensible sense of it" lu noch dem Grundsatz der Fassungstrennung hinreichend Rechnung getragen wurde. Zurückzuführen ist die Diskrepanz zwischen Editionstheorie und -praxis vornehmlich auf die in den Ausgaben angesetzte Definition des Varianten- und Fehlerbegriffs. Grundlage für die Kategorisierung von Textvarianz bildet die Differenzierung von Autor- (authorial variants) und Fremdvarianten (transmissional variants). Während Autorvarianten als funktionale Relationen auf thematischer, dramatisch-szenischer und struktureller Ebene definiert sind, werden fehlerhafte Stellen mit den druckanalytischen Kategorien „Lesefehler", „Auslassung", „Substitution" und „Transposition" erfaßt.11 Die ausschließlich buchkundliche Orientierung des Fehlerbegriffs bedingt, daß Textfehler mit Uberlieferungsverderbnis („textual error": „mechanical errors" und „non-authorial revisions"12) gleichgesetzt werden. Bei der Übertragung dieses aus der Tradition des Copy-text-editing stammenden Textfehlerkonzepts auf die Edition der Liar-Fassungen wurde allerdings nicht berücksichtigt, daß die autorzentriert-analytische Variantenklassifikation mit der in der Revisionsthese angelegten hermeneutischen Perspektivierung der Fassungen nicht vereinbar ist. Eine Unterscheidung von Autor- und Fremdvarianten13 rekurriert auf ein produktionsbezogenes Autormodell und setzt die faktische Nachweisbarkeit auktorialer Textbestandteile im überlieferten Material voraus. Von Shakespeares King l^ear sind jedoch — wie auch vom Gesamtwerk des Dichters — weder Manuskripte noch Korrekturfahnen erhalten.14 Da nach dem jetzigen Stand der Forschung 9 10 11 12
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Wells 2000 [wie Anm. 3], 7.193. Stanley Wells [u.a.]: William Shakespeare. A Textual Companion. Oxford 1987, S. 510. Vgl. auch ebd. G. Thomas Tanselle: Textual Scholarship. In: Joseph Gibaldi (Hrsg.): Introduction to Scholarship in Modern Languages and Literatures. New York 1981, S. 29-52, hier S. 29. Vgl. dazu auch Beißners Unterscheidung von Entstehungs- und Uberlieferungsvarianz in Friedrich Beißner: Aus der Werkstatt der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. In: Ders.: Hölderlin. Reden und Aufsätze. Köln 2 1969, S. 251-265, hier S. 256. Zur Definition von Autor- und Fremdvarianten vgl. Klaus Kanzog: Einfuhrung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 140. Vgl. dazu auch Herbert Kraft: Lesarten, Varianten und Überlieferungsfehler: Die Konstituierung des Textes. In: Ders.: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S. 39-58, hier S. 46. Zur Textüberlieferung bei Shakespeare vgl. Alfred W. Pollard: Shakespeare's Hand in the Play of Sir Thomas More. Cambridge 1932; ders.: The Foundations of Shakespeare's
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davon auszugehen ist, daß Shakespeare am Druck seiner Stücke nicht beteiligt war, handelt es sich bei den Druckfassungen um mittelbar autorisierte Produkte, die in sozialer Interaktion von Setzern, Druckern und Korrektoren entstanden. Aus Zeugnissen über den Druckprozeß der frühen Neuzeit geht hervor, daß es die Setzer und Preßkorrektoren als ihre Aufgabe ansahen, korrigierend in die Druckvorlage einzugreifen.15 Ob diese Eingriffe sich ausschließlich auf die Korrektur der Akzidenz beschränkten oder sich bei einer unleserlichen Druckvorlage, wie sie bei King Lear anzunehmen ist, auch in den substantiellen Wortbestandteilen niederschlugen, ist nicht mehr eindeutig nachzuweisen. Selbst wenn also nach buchkundlichen Erkenntnissen bei den Texten Shakespeares grundsätzlich mit nicht autorisierten Eingriffen zu rechnen ist,16 kann aufgrund der defizitären Uberlieferungssituation eine definitive Trennung von auktorialen und Textbestandteilen fremder Hand nicht mehr durchgeführt werden. Erfolgt nun die Evaluation der Quelltexte wie in den bisher erschienenen Fassungseditionen nach einem autorzentrierten Verfahren, wird die soziohistorische Dimension der Quelltexte vernachlässigt. Da der Parameter Autor bei Shakespeare zwar als Bezugsgröße für den Werkbegriff, nicht aber als Leitprinzip für die Textkonstitution dienen kann, hat sich die Ermittlung von fassungsspezifischen Varianten und Textfehlern letztlich auf die textinhärente Struktur des historisch überlieferten Materials zu stützen. Um der Relativität des Autoraxioms bei der Textkonstitution Rechnung zu tragen, sind für die Edition der Liar-Fassungen die bisher applizierten Definitionen von Varianten- und Textfehlerbegriff sowohl terminologisch als auch konzeptuell durch hermeneutisch orientierte Definitionen zu ersetzen. Dabei wird zur Bezeichnung fassungsspezifischer Varianz die Einführung des Terminus Fassungsvariante vorgeschlagen. Im Sprachsystem des Fassungstexts zeichnet sich eine Fassungsvariante dadurch aus, daß sie unter Berücksichtigung der sprachlichen Qualität der Shakespeare-Uberlieferung eine sinnvolle Lesung konstituiert, unabhängig davon, ob diese nach buchkundlichen Kriterien die ,autoritative' Manuskriptlesart darstellen kann. Da Fassungsvarianten ausschließlich über die semantische Dimension der Textstruktur definiert werden, umfassen sie sowohl
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Texts. London 1932, und Hans Walter Gabler: Der Text. In: Ina Schabert (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit - Der Mensch - Das Werk - Die Nachwelt. Stuttgart 4 2000, S. 196-242. Vgl. The Typothetae of the City of New-York (Hrsg.): Moxon's Mechanick Exercises or the Doctrine of Handy-Works Applied to the Art of Printing. A Literal Reprint in Two Volumes of the First Edition Published in the Year 1683. With Preface and Notes by Theo. L. de Vinne. 2 Bde. New York 1896. Vgl. auch Philip Gaskell: A New Introduction to Bibliography. Oxford 1972. Vgl. Walter W. Greg: The Rationale of Copy-Text. In: James C. Maxwell (Hrsg.): W.W. Greg. Collected Papers. Oxford 1966, S. 374-391.
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Autor- als auch Fremdeingriffe. Lesungen wie spirituall und heeles sind somit grundsätzlich der Kategorie Fassungsvariante zuzuordnen, auch wenn ihre buchkundliche Bewertung einen Setzerfehler nahelegt. Die Akzeptanz von Fremdeingriffen als Bestandteil fassungsspezifischer Varianz setzt allerdings auch eine Differenzierung der Kategorien Textfehler und Textverderbnis voraus. Aufgrund der Autorzentrierung des editorischen Vorgehens bei der Edition der hear-Fassungen wurde die Notwendigkeit eines semantisch orientierten Textfehlerbegriffs bisher nicht reflektiert. Die Gleichsetzung von Textfehlern mit Fremdeingriffen ist dabei kein auf die Shakespeare-Edition beschränktes Phänomen. Auch in historisch orientierten Editionen neuzeitlicher Textfassungen, wie bei Shillingsburgs Thackeray-Edition, wird unter kritischem Edieren die Säuberung des vom Autor geschriebenen Textes von Fremdeingriffen verstanden: This edition of Thackeray's works attempts to present the author's form of expression at the time he first gave it publication, but free from unintended readings. Its primary purpose is, therefore, historical (establishing what the author wrote at particular points in time) and yet also critical (correcting scribal errors and weeding out unwanted or unnecessary editorial intervention).17
Da zudem nicht zwischen dem vom Autor geschriebenen und dem vom Autor intendierten Text differenziert wird, stellen Fremdeingriffe grundsätzlich nichtintendierte Lesungen dar. Während sich also im anglo-amerikanischen Bereich noch kein systematischer und vom eklektischen Copy-Text-Verfahren unabhängiger Fehlerbegriff fiir die Fassungsedition herausgebildet hat, liegt in anderen Editionsdisziplinen wie der neueren Germanistik eine vom Parameter Autor unabhängige Konzepüonalisierung des Textfehlerbegriffs bereits vor. So stellt nach neugermanistischer Definition „nicht jede Textverderbnis (Druckfehler, Schreibversehen)" auch einen Textfehler dar.18 Ein Textfehler sei nur dann anzusetzen, wenn eine Stelle in ihrem Kontext keinen Sinn zulasse.19 Da die Beurteilung des Textes nach dem Sinnkriterium der Urteilsfähigkeit des Editors obliegt, wird eine .objektive', vom Textverständnis des Editors unabhängige Bestimmung von Textfehlern, wie sie die analytische Buchkunde anstrebt, ausgeschlossen.
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William Makepeace Thackeray: The History of Pendennis. Hrsg. von Peter L. Shillingsburg. With commentary by Nicholas Pickwoad. New York 1991, S. 409. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Gunter Martens, Hans Zeller (Hrsg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München 1971, S. 45—90, hier S. 72. Ebd., S. 70. Vgl. auch Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historischkritischen Ausgabe. In: Martens, Zeller 1971 [wie Anm. 18], S. 1—44, hier S. 43.
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O b w o h l der neugermanistische Textfehlerbegriff aufgrund seiner hermeneutischen Ausrichtung durchaus als Grundlage f ü r die Formulierung des Fehlerbegriffs bei King Lear dienen kann, ist er im Hinblick auf die spezifische Überlieferungssituation v o n Renaissance-Texten zu differenzieren. 2 0 In Korrespondenz mit den Überlieferungsbedingungen neuzeitlicher Texte basiert die neugermanistische Definition des Textfehlerbegriffs auf einer normativen Festlegung des Sinnkriteriums. Die dabei angesetzte Definition v o n Sinn als „textspezifische Logik" oder „textinterne Struktur" 21 ist auf die frühneuzeitliche Überlieferung jedoch nur teilweise übertragbar. S o konnten aufgrund der in elisabethanischer Zeit noch nicht vollzogenen Standardisierung v o n Orthographie, Interpunktion und Grammatik 2 2 innerhalb eines Satzes durchaus unterschiedliche Formen gebraucht werden. 2 3 Darüber hinaus begegnen im Wortschatz der Zeit, der 1 6 2 3 rund 4 4 . 0 0 0 W ö r t e r umfaßte, allein zwischen den Jahren 1 5 9 8 und 1 6 2 3 etwa 1 1 . 0 0 0 Erstbelege. 2 4 Wenngleich dabei nicht jedes bei Shakespeare erstmals auftretende W o r t eine Eigenprägung darstellen muß, wird dem Dichter generell die höchste Innovationsrate im Vergleich zu seinen Zeitgenossen zugesprochen. 2 5
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Vgl. auch die Forderung Scheibes nach einer eigenen Fehlerdefinition für jede Epoche in Zeller 1971 [wie Anm. 18], S. 71, Anm. 61. Ebd., S. 70. Vgl. auch Margreta DeGrazia, Peter Stallybrass: The Materiality of the Shakespearean Text. In: Shakespeare Quarterly 44 (1993), S. 155-285, hier S. 263: „Yet identifying an accident can be difficult when dealing with materials produced prior to the establishments of standards of correctness". Zur Varietät des Frühneuenglischen siehe auch Dieter Stein: Grammatik und Variation von Flexions formen in der Sprache des Shakespeare Corpus. München 1974, und Dolores M. Burton: Shakespeare's Grammatical Style. A ComputerAssisted Analysis of Richard II and Anthony and Cleopatra. Austin 1973. Vgl. auch Margreta DeGrazia: Shakespeare and the Craft of Language. In: Dies.: Stanley Wells: The Cambridge Companion to Shakespeare. Cambridge 2001, S. 49-64, sowie Russ McDonald: Shakespeare and the Arts of Language. Oxford Shakespeare Topics. New York 2001. Marvin Spevack: Shakespeare's Language. In: John F. Andrews (Hrsg.): William Shakespeare: His World, His Work, and His Influence. New York 1985, S. 343-361, hier S. 344. Vgl. Jürgen Schäfer: Documentation in the O.E.D.: Shakespeare and Nashe as Test Cases. Oxford 1980, S. 61-64. Zum Wortschatz vgl. auch Manfred Scheler: Shakespeares Englisch. Eine sprachwissenschaftliche Einfuhrung. Berlin 1982 (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik; 12), S. 89-90. Zu den Wortbildungsprinzipien vgl. Herbert Void: Neubildungswert und Stilistik der Komposita bei Shakespeare. Diss. Freiburg im Breisgau 1954; Karl Friedrich Veuhoff: Shakespeares Funktionsverschiebungen. Ein Beitrag zur Erforschung der sprachlichen Neuprägungen Shakespeares. Diss. Münster 1954; Friedhelm Kilian: Shakespeare's Nominalkomposita. Ein Beitrag zur Erforschung seiner Neuprägungen. Diss. Münster 1953.
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Da sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatikalischer Ebene frühestens ab Mitte des 17. Jahrhunderts Standardisierungstendenzen im Sprachgebrauch des Frühneuenglischen erkennbar sind, ist nicht definitiv bestimmbar, wodurch sich ein vom damaligen Rezipienten als ,korrekt' empfundener Sprachgebrauch auszeichnete.26 Die Kategorie der sprachlichen Korrektheit beruhte in elisabethanischer Zeit nicht zuletzt auf einem individuellen Empfinden der Sprecher, das von soziolinguistischen Faktoren determiniert war.27 Wie der linguistische Hintergrund verdeutlicht, ermittelt sich der Sinn einer Lesung bei Shakespeares King Lear somit grundsätzlich aus der Bewertung ihrer lexikalischen, syntaktischen und kontextuellen Qualität nach Anwendung der aus dem Sprachgebrauch der Zeit bekannten Parameter. Kann ausgeschlossen werden, daß eine Lesung in schriftlicher oder mündlicher Verwendung sinntragend war, ist sie demnach als Textfehler einzustufen. Daß die Relativität linguistischer Normen bei der Klassifikation von Varianten zu Abgrenzungsproblemen führen kann, verdeutlicht die Quartolesung accent (Q, Z. 699). Während accent im Kontext der Quartofassung adjektivisch verwendet wird (accent teares), sind in Referenzquellen und Wörterbüchern der Zeit nur Beispiele in substantivischer und verbaler Verwendung belegt. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts ist aber ein figurativer Gebrauch des Verbums to accent verzeichnet, dessen Bedeutung „To mark emphatically or distincdy; to heighten, sharpen, or intensify, to make conspicuous"28 im Kontext der Quartofassung Sinn ergibt. Wie am Beispiel anderer Lexeme nachgewiesen werden konnte,29 läßt die schriftliche Verzeichnung einer Wortbedeutung keine eindeutigen Rückschlüsse auf ihre mündliche Verbreitung zu. War der figurative Gebrauch des Verbums accent bereits zur Zeit der Quartoniederschrift geläufig, könnte die Lesung auch als ein aus einer Konversion von Verb zu Adjektiv hervorgehendes hapax legomenon bewertet werden. Da Shakespeares Wortschatz zahlreiche hapax legomena aufweist, kann folglich trotz des negativen Lexikalisierungsbefundes nicht ausgeschlossen werden, daß accent eine Fassungsvariante darstellt. Für die Editionspraxis stellt sich nun die Frage, wie mit derartigen Abgrenzungsproblemen bei der Variantenklassifikation in Fassungseditionen der LearDrucke umzugehen ist. Grundlage für die Diskussion textkritisch problematischer Stellen wie accent ist zunächst die Trennung von textkritischem Befund
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Vgl. Scheler 1982 [wie Anm. 25], S. 85. Vgl. dazu Vivian Salmon, Edwina Burness (Hrsg.): A Reader in the Language of Shakespearean Drama. Amsterdam 1987 (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science; 35). The Oxford English Dictionary, v (4.fig.). Vgl. Schäfer 1980 [wie Anm. 25], S. 21-28.
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und emendatorischem Vorgehen. Aufgrund der buchkundlichen Orientierung des editorischen Vorgehens wurde in anglo-amerikanischen Laar-Ausgaben bisher allerdings keine Notwendigkeit gesehen, die Variantenklassifikation gesondert nachzuweisen. Gemäß der Prämisse „An editor, in emending, decides that a text is diseased"30 kann der Leser somit nur anhand der vorgenommenen Emendationen die Annahme von Textverderbnis nachvollziehen. Da die editorischen Eingriffe nicht immer begründet werden, bleibt häufig offen, warum überhaupt ein Überlieferungs fehler angesetzt wurde. Werden die Fassungstexte nicht nach buchkundlichen Kriterien, sondern auf Grundlage der oben eingeführten Definitionen von Varianten- und Fehlerbegriff beurteilt, erfordert die Relativität des Sinnkriteriums eine Begründung der Variantenklassifikation. Neben der reinen Dokumentation des textkritischen Befundes ist bei Lesungen wie accent zudem die Kategorisierung der Varianten unter Einbeziehung linguistischer Aspekte zu diskutieren.31 Selbst wenn nach den hier vorgeschlagenen Konzepten von Varianten- und Fehlerbegriff Textvarianz ausschließlich auf der Grundlage hermeneutischer Kriterien bewertet wird, sind auch die Ergebnisse druckanalytischer Studien im Rahmen der Textfehlerdiskussion zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu den bisher praktizierten Verfahren dienen sie jedoch nicht als Leitprinzip für die Textkonstitution, sondern können im Anschluß an die Evaluation der Fassungstexte nach den hier vorgestellten Kriterien als Instrument zur Ermüdung von Herkunft und Ursache fehlerhafter Stellen herangezogen werden.
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Wells 1987 [wie Anm. 10], S. 60. Die Verwendung des Begriffs Befund ist - in modifizierter Form — angelehnt an Zellers Differenzierung von deskriptiver und interpretierender Information bei der Bearbeitung von Handschriften: „Der volle Befund ist - in seiner Einmaligkeit als Handschrift - freilich nicht mittelbar, aber es sind Informationen über den Befund möglich. Diese bezeichne ich als Dokumentation." (Zeller 1971 [wie Anm. 18], S. 80.)
Dietmar Pravida Bentleys Paradise Lost und Lachmanns DerNibelunge Not
Despoil others, but keep hands off Hector. (Richard Bentley, nach IHas, XXII, 206) Interferenzen merkwürdiger Art entstehen, wenn ein Editor sich nicht dazu verstehen kann, seine eigenen Auffassungen den ästhetischen und semantischen Vorgaben des von ihm zu bearbeitenden Werkes zu akkommodieren. Der einfachere Fall ergibt sich etwa bei Herausgebern, die den Text gemäß der je üblichen Verfahrensweisen behandeln, ohne zu merken, daß sie ihm dabei semantische Unterstellungen beigeben, die im glatten Widerspruch zu den in ihm vertretenen Aussagen stehen. So hat Thomas Hutchinson im siebten Gesang von Shelleys Queen Mab die atheistischen Auslassungen des Dichters mit ehrerbietigen Majuskeln versehen, wo immer vom Herrn die Rede ist, selbst dann, wenn er als „Fiend", „Tyrant" oder „Foe" bezeichnet wird: Thus the modern reader is treated to the ironic spectacle of Shelley, in the text of his most outspokenly anti-Christian poem, paying court through his reverent orthography to the god whose objective existence he denies and whose myth he is denouncing.1 Interessanter wird es, wenn ein bedeutender Herausgeber am Werk ist, der sich gleichwohl wider alle Evidenz gegen seinen Text behauptet. Wie im Brennglas lassen sich die Maßstäbe und die Prinzipien erkennen, deren Anwendung bei anderer Gelegenheit zu brauchbaren Ergebnissen führte, die in den beiden hier zu betrachtenden Fällen aber bis zur Kenntlichkeit entstellt sind. Im Jahr 1730 bat Queen Caroline den größten Philologen seiner Zeit, Richard Bendey, darum, er möge eine Ausgabe von Miltons Paradise Lost nach seinen Prinzipien herstellen, damit auch die gewöhnlichen Leser in einer ihnen vertrauten Sprache von Bendeys Scharfsinn und seinen philologischen Fähigkeiten pro-
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Donald H. Reiman: Romantic Texts and Contexts. Columbia 1987, S. 49 und 91. Vgl. Percy Bysshe Shelley: Poetical Works. Edited by Thomas Hutchinson. Corrected by G.M. Mattews. Oxford 1971 ('1905), S. 762-800; im siebten Gesang, S. 787ff., gibt es 39 Fälle dieser Art, die zitierten Stellen in den Versen 97,199 und 248.
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fitieren könnten.2 Eine Rolle für das Zustandekommen dieses editorischen Unternehmens, für das Bentley vergleichsweise hoch bezahlt wurde, mag auch der Umstand gespielt haben, daß das Copyright des Verlegers Jacob Tonson (des zweiten, der diesen Namen trug) im Jahr 1731 ablief und der Name des bekannten Gelehrten auch zur Profilierung gegenüber den Ausgaben der Konkurrenz dienen sollte. Indessen erfüllte die 1732 in London erschienene Edition Milton's Paradise Lost. A. New Edition, By Richard Bentley, D. D. keine dieser Erwartungen, sie löste vielmehr einen öffentlichen Skandal aus, der in die Annalen eingehen sollte. Bentley nahm an, Milton sei seiner Blindheit wegen weder dazu in der Lage gewesen, sein Werk nach einem widerspruchsfreien Plan auszuführen, noch habe er die Entstehung des Manuskripts und des Druckes überwachen können. Deswegen glaubte Bendey davon ausgehen zu dürfen, daß die beiden zu Lebzeiten des Verfassers erschienenen Ausgaben des Epos korrupt und ohne Autorität seien. Der Schreiber Miltons habe weder auf Orthographie und Interpunktion, noch auf Metrik oder auf den Wortbestand geachtet. Ärger noch, Milton habe einen Freund mit der Korrektur der Druckfahnen beauftragt, der dieser Aufgabe nicht gewachsen gewesen sei, for the Friend or Acquaintance, whoever he was, to whom Milton committed his Copy and the Overseeing of the Press, did so vilely execute that Trust, that Paradise under his Ignorance and Audaciousness may be said to be twice lost}
Doch war dies noch nicht das Schlimmste: For, this suppos'd Friend, (call'd in these Notes the Editor) knowing Milton's bad Circumstances [...] thougt he had a fit Opportunity to foist into the Book several of his own Verses, without the blind Poet's Discovery.
Bei so bewandten Umständen sah Bendey Anlaß zu erheblichen Eingriffen in den Wortbestand, zu metrischer Regulierung und zahlreichen Konjekturen sowie zur Athetese von 340 von 10565 Versen, die er im Text kursiv setzte und mit eckigen Klammern versah, wie er überhaupt von den orthographischen Verände-
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James Henry Monk: The Life of Richard Bendey, D. D. With an Account of his Writings, Anecdotes of many Distinguished Characters during the Period in which he flourished. Second edition, revised & corrected. 2 Bde. London, Cambridge 1833 (Nachdruck Osnabrück 1969), Bd. 2, S. 309f.; John Walter Good: Studies in the Milton Tradition. Urbana, Illinois 1915 (University of Illinois Studies in Language and Literature; 1/3-4), S. 176f.; das folgende nach R.G. Moyles: The Text of Paradise Lost. A Study in Editorial Procedure. Toronto 1985, S. 72. Milton's Paradise Lost. A New Edition. By Richard Bendey. D. D. London 1732. Nachdruck Hildesheim, New York 1976 (Anglistica & Americana; 175), [S. 2 des unpaginierten Vorwortes]. Zur öffentlichen Kritik an der Ausgabe vgl. Monk 1833 [wie Anm. 2], Bd. 2, S. 318ff.; Good 1915 [wie Anm. 2], S. 177f.; James T. Hillhouse: The Grub-Street Journal. Boston 1928 (Nachdruck New York 1967), S. 84ff.; Moyles 1985 [wie Anm. 2], S. 67ff.
Bentleys,Paradise Lost' und Lachmanns ,Der Nibe/unge Not'
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rungen abgesehen den Text der Ausgabe selbst nicht änderte und nur in den Anmerkungen seine Emendationen vorschlug.4 Einzig intakt blieb das zwölfte und letzte Buch, von dem der Herausgeber behauptete, Miltons „Freund" habe es mit seinen Interpolationen verschont; „now weary and fatigu'd", mußte Bentley mit dem Werk fertig werden, damit es — wie seine übrigen Ausgaben auch — noch rechtzeitig vor einem der zahlreichen Gerichtsprozesse erscheinen konnte, in denen die Fellows des Trinity College wegen absolutistischer Amtsführung und angeblichen Veruntreuungen seine Absetzung als Master durchsetzen wollten.5 Von der Nachwelt wurde Bentleys Ausgabe meist als unbegreifliche Fehlleistung angesehen, auf die noch dazu der Verdacht der Unredlichkeit fiel. Samuel Johnson schrieb in seiner Lebensbeschreibung Miltons, Bendeys Unterstellung eines interpolierenden Revisors sei nicht sowohl falsch — was sich schon aus den Angaben in der Biographie von Miltons Neffen Edward Phillips aus dem Jahr 1694 ergibt — als vielmehr unaufrichtig, da er „in private allowed it to be false".6 Diese Behauptung fand unterschiedliche Aufnahme: J.H. Monk glaubte, Bendey habe zu einem Vorwand gegriffen, um dem Publikum mit seiner Ausgabe nicht zu viel zuzumuten, ohne es eigentlich täuschen zu wollen, der andere Biograph Bentleys hingegen, Richard Claverhouse Jebb, hielt wegen einiger Passagen des Vorwortes, in denen der Herausgeber mit Pathos von Miltons 4
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Milton 1732 [wie Anm. 3], [S. 4]. Vgl. hingegen P. Terentii Afri Comoediae, Phaedri Fabulae & Aesopiae, Pubiii Syri et aliorum Veterum Sententü, ex recensione et cum notis Richardi Bentleii. Cantabrigiae MDCCXVI, praefatio, o. S.: „Textum autem mille, opinor, locis immutavi, nusquam tarnen, nisi cum in Nota modum mutationes causamque retulerim." In den Text des Terenz fugt Bentley seine Emendationen ein und gibt die Lemmata mit dem Text von Michele Faerno, in Paradise Lost behält er den Textus receptus bei, gibt aber seine Emendationen in den Noten. Vgl. Gottfried Hermann: De R. Bendeio eiusque editione Terentii dissertatio. In: Godofredi Hermanni Opuscula. Volumen secundum. Lipsiae 1827, S. 263-287. Milton 1732 [wie Anm. 3], S. 380, Anmerkung zu XII, 42. Vgl. Monk 1833 [wie Anm. 2], Bd. 2, S. 317. Zu Bentleys Auseinandersetzungen mit dem Trinity College vgl. außer der Darstellung bei Monk Thomas De Quincey: Richard Bendey. In: The Collected Writings of Thomas De Quincey. New and enlarged edition by David Manson. Edinburgh 1890 (Nachdruck New York 1968). Bd. 4: Biographies and Biographic Sketches, S. 118—236, hier S. 145 ff. (der Essay entstand 1830 als Rezension zur ersten Auflage der Biographie von Monk). Samuel Johnson: John Milton 1608-1674. In: Ders.: Lives of the English Poets. Edited by George Birkbeck Hill. Oxford 1905. Bd. 1, S. 84-200, hier S. 181. Johnson machte diese Behauptung nicht als erster; vgl. Edward Dowden: Milton in the Eighteenth Century (1701-1750). In: Proceedings of the British Academy 1907-1908, S. 275-293, hier S. 284ff. - Edward Phillips: The Life of Mr. John Milton. In: The Early Lives of Milton. Edited with an Introduction by Helen Darbishire. London 1932, S. 49-82, hier S. 72f. über Miltons Schreiber und über Phillips' Korrekturarbeiten.
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Größe spricht, an Bentleys Aufrichtigkeit fest.7 Helen Darbishire, die im Jahr 1931 das allein erhaltene Manuskript des ersten Buches von Miltons Epos veröffentlichte, wies aber darauf hin, daß Korrekturen mit dem Vermerk „MS" in einem von Bendeys Handexemplaren anscheinend zweifelsfrei auf eine Kollation der Handschrift deuten, womit die Behauptung in seinem Vorwort, es gebe keine, der Lüge überfuhrt wäre.8 Sofern noch Einwände erlaubt sein sollten, ließen sich diese auf einen ebenfalls von Darbishire veröffentlichten Brief stützen, in welchem Jacob Tonson (der erste) seinem gleichnamigen Neffen (dem zweiten) ablehnend über Bendeys Ausgabe schreibt und die in seinem Besitz befindliche Handschrift beilegt, ohne daß davon die Rede wäre, daß Bendey sie eingesehen hätte. Von seinen übrigen Editionen unterscheidet sich Bendeys Paradise Lost auf den ersten Blick nicht: Wie in den lateinischen Kommentaren zu Horaz, zu Terenz und zu Manilius findet sich bei der Begründung seiner Konjekturen auch in den englischsprachigen Anmerkungen derselbe lebhafte und eristische Stil, für den etwa die zahlreichen rhetorischen Fragen charakteristisch sind und der Wilamowitz nicht zu Unrecht an Lessing erinnerte.9 Die Annahme liegt nahe, der Milton sei eine Art Alterswerk, in dem Bendey die Kontrolle über seine Konjekturen abhanden gekommen sei.1" In der Tat kann man bei Bendeys Athetesen beobachten, daß ihre Zahl von Ausgabe zu Ausgabe zunimmt: Findet sich in der Horazausgabe nur eine Stelle, die Bendey definitiv verwirft — Lachmann hat ausgehend von dieser Interpolation weitere interpolierte Verse aus der Ode Donarem pateras entfernt und dies als den ersten wahrhaften Fortschritt bezeichnet, den die
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Monk 1833 [wie Anm. 2], Bd. 2, S. 313; R.C.Jebb: Bendey. London 2 1889 (Nachdruck New York 1968), S. 188; dieselbe Auffassung vertrat Ants Oras: Milton's Editors and Commentators from Patrick Hume to John Henry Todd (1695—1801). A Study in Critical Views and Methods. Revised Edition. New York 1967, S. 52, in den ersten beiden Auflagen, nicht mehr dagegen im Postscript der zitierten dritten, deren Text sonst unverändert blieb. — Zu Jebb vgl. den Artikel von Roger D. Dawe: Richard Claverhouse Jebb (1841 bis 1905). In: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia. Edited by Ward W. Briggs and William M. Calder III. New York, London 1990, S. 239-259. Helen Darbishire: Milton's Paradise host. The James Bryce Memorial Lecture. Delivered at Somerville College 10 May 1951. Oxford 1951 (Nachdruck 1969), S. 31f.; Milton 1732 [wie Anm. 3], [S. 4]. Zustimmend auch Moyles 1985 [wie Anm. 2], S. 62. Zum folgenden vgl. The Manuscript of Milton's Paradise Lost Book I. Edited by Helen Darbishire. Oxford 1931, S. ix—xlvii, hier S. xi-xv. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie. Leipzig 3 1927 (Nachdruck 1959), S. 36. Die Behauptung von Wilamowitz (S. 37), Lessing habe Bendey nicht gelesen, ist nicht zutreffend. Vgl. Lachmanns Urteil über Gottfried Hermann, dem wie Bendey im Alter jedes Maß verlorengegangen sei; Karl Lachmann: Briefe an Moritz Haupt. Hrsg. von Johannes Vahlen. Berlin 1892, S. 85.
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Kritik des Horaz seit Bentley gemacht habe11 — so hat Bendey in dem Astronomicon des Manilius, der letzten der von ihm erstellten Ausgaben, 170 von 4220 Versen entfernt, anteilig also noch mehr als bei Paradise Lost. A.E. Housman, der vielleicht größte Verehrer Bentleys und der bedeutendste Textkritiker nach ihm, schreibt: His buoyant mind, elated by the exercise of its powers, too often forgot the nature of its business, and turned from work to play; and many a time when he feigned and half fancied that he was correcting the scribe, he knew in his heart (and of his Paradise Lost they tell us he confessed it) that he was revising the author. [...] The best price that Bentley missed, and the richest province left for his successors, is the correction of those verses of Manilius which he precipitately and despotically expelled. 12
Daß Bendey auf Miltons Werk nicht nur die textkritischen Verfahren anwandte, die ihm schon früh seinen Ruf als neuer Aristarch eintrugen, sondern auch die ästhetischen Maßstäbe, die er an der lateinischen Literatur gewonnen hatte, wäre unschwer zu zeigen. Wenn Bendey am Schluß seiner Predigten über The Foily of Atheism and (what is now called) Deism zur Illustration des physikotheologischen Gottesbeweises, gerade die A.eneis als Analogon für die wohleingerichtete Ordnung der Schöpfung einfallt, so läßt dies Rückschlüsse auf Bendeys ästhetische Vorstellungen zu, die er auch am ungeeigneten Objekt zur Geltung brachte.13 In der Milton-Forschung sind Bendeys Kommentare als Beispiele einer ästhetischen Analyse gewertet worden, deren absprechendes Urteil über Miltons Versbau, seine Syntax und Bildersprache zwar verfehlt ist, die aber wie im Negativbild
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Q. Horatius Flaccus, ex recensione & cum notis atque emendationibus Richardi Bendeii. Editio altera. Amstelaedami MDCCXIII, S. 170, Anm. zu carm. IV.viii.17; Karl Lachmann: Horatiana. In: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. 2: Zur classischen Philologie. Hrsg. von Johannes Vahlen. Berlin 1876, S. 84—96, hier S. 95. Vgl. auch Christian Belger: Moritz Haupt als academischer Lehrer. Mit Bemerkungen Haupts und einer biographischen Einleitung. Berlin 1879, S. 137ff.; Q. Horati Flacci Opera. Edidit D.R. Shackleton Bailey. Stutgardiae MCMLXXXV (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), S. 124; D.R. Shackleton Bailey: Bendey and Horace. In: Ders.: Profile of Horace. Cambridge, Mass. 1982, S. 104-120. M. Manilii Astronomicon liber primus. Recensuit et enarravit A.E. Housman. Londini MDCCCCIII (Nachdruck Hildesheim, New York 1972), praefatio, S. vii-lxxv, hier S. xvii f. M. Manili Astronomicon. Ex recensione et cum notis Richardi Bendeii. Londini MDCCXXXIX.
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The Works of Richard Bendey. Collected and edited by Alexander Dyce. 3 Bde. [mehr nicht erschienen]. London 1836-1838 (Nachdruck New York 1966), Bd. 3, S. 1-200, hier S. 200. Auf diese Stelle hat Rudolf Pfeiffer aufmerksam gemacht; R. P.: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München 1982, S. 183 und 197.
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Dietmar Pravida
gerade die eigentümlichen Züge von Miltons Dichtung profiliert und in den kleinsten Details deutlich erkennbar werden läßt. 14 Legt man Bentleys Paradise Lost und die zweite Ausgabe von DerNibelunge Not und die Klage aus dem Jahr 1841 nebeneinander, so wird man feststellen, daß diese Ausgaben schon v o m typographischen Aussehen her verwandt sind. 15 Wie Bentley hat Lachmann in seinem Text diejenigen Passagen kursiviert, die seiner Auffassung v o m authentischen Charakter des Werkes zuwiderlaufen. Auch der Vergleich der editorischen Verfahrensweisen stößt rasch auf Analogien, gerade bei diesen beiden Ausgaben, die bei Bendey wie bei Lachmann am ehesten dazu geeignet sind, Ärgernis zu erregen. Während Bendey, der auch sonst dazu neigte, die Schreiber der v o n ihm rezensierten Handschriften zu behandeln wie die Fellows des Trinity College, 16 einen „Editor" erfand, der Miltons Text korrumpiert habe, greift Lachmann zur Theorie der Ordner und Diaskeuasten, die ihm die Möglichkeit gab, unter Anwendung innerer Kriterien zu einem fiktiven Originaltext zu gelangen, einer Sammlung aus zwanzig „romanzenartigen Liedern", die noch jenseits des letzten erreichbaren, nicht überlieferten Textzustandes liegt. 17 Der Skandal, den diese Ausgabe lieferte, war eher noch größer
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William Empson: Milton and Bentley. The Pastoral of the Innocence of Man and Nature. In: Ders.: Some Versions of the Pastoral. A Study of the Pastoral Form in Literature. Harmondsworth 1966 (