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German Pages 278 [280] Year 2021
Christoph Parry Schreiben jenseits der Nation
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte
Band 162
Christoph Parry
Schreiben jenseits der Nation Europäische Identitätsgestaltung in der deutschsprachigen Literatur seit 1918
ISBN 978-3-11-070627-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070633-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070635-2 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2021936055 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dem Andenken meiner Eltern Irmel und John
Vorwort Das Nationale war mir schon als Kind einer Mischehe im frühen Nachkriegseuropa suspekt, bevor ich den Begriff überhaupt kannte. Beim späteren Literaturstudium ist mir dann auch immer wieder aufgefallen, dass es vielen Autorinnen und Autoren genau so geht. Das Thema hat mich persönlich und beruflich während meiner ganzen Karriere als „Auslandsgermanist“ beschäftigt. Das schlicht als „deutsche Literatur“ bezeichnete Fachgebiet musste immer rechtfertigt werden, wobei die Frage, was darunter zu verstehen sei, in welchem Sinne die Literatur „deutsch“ sei oder ob Literatur überhaupt eine Nationalität haben könne, sich allmählich von einer scheinbaren Banalität in ein vielseitiges Arbeitsfeld verwandelte. Während die Literatur zweifellos mit zur Befestigung eines kollektiven Bewusstseins auf nationaler Ebene beiträgt, sind mit dem nationalen Gedanken Exklusivitätsansprüche verbunden, die mit weltoffener literarischer Kreativität nicht unbedingt vereinbar sind. Auch sonst hängt das Verhältnis der einzelnen Autorinnen und Autoren zum Kollektiv von sehr verschiedenen Faktoren ab. Bedingt durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist die Diversität der Erfahrungsgrundlagen in der deutschsprachigen Literatur besonders groß. Den Werken, die in diesem Buch behandelt werden, liegen sehr unterschiedliche Lebensläufe und Erfahrungen zugrunde. Die Idee zu diesem Buch hat sich über viele Jahre entwickelt. Den einzelnen Kapiteln liegen oft Arbeiten zugrunde, die bereits früher als Artikel veröffentlicht oder in Vorträgen ausgearbeitet wurden. Sie sind für das vorliegende Buch grundlegend überarbeitet worden. Der Abschnitt zu Hilde Spiel ist früher in der Komparistik erschienen, das Kapitel zu den Enklaven basiert auf einem Beitrag in Gegenwartsliteratur und dem zu Peter Handke liegt ein Beitrag im Sonderheft von Text + Kritik zur österreichischen Literatur zugrunde. In allen Fällen danke ich den Verlagen und Herausgebern für die Genehmigung zur Wiederverwertung des Materials. Der Abschnitt zu Paul Celan entstand parallel zu einem Vortrag für die von den Universitäten Flensburg und Bukarest im Jahre 2020 veranstalteten Tagung Wohin mit der „Gabe der Ubiquität“? Paul Celans europäische Dimension. Er erscheint hier in etwas veränderter Form. Besonders wichtig für den Entstehungsprozess dieser Studie waren verschiedene Arbeitskreise, deren regelmäßige Treffen ein Forum bildeten, bei denen Zusammenhänge erhellt wurden und Gedanken ausgereift werden konnten. Dazu gehören die von Paul Michael Lützeler geleiteten Europa-Sektionen bei den Weltkongressen der IVG (1995 – 2005), das von Beatrice Sandberg gegründete NordForsk-Projekt zum autobiographischen Schreiben in der deutschsprachigen https://doi.org/10.1515/9783110706338-002
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Vorwort
Gegenwartsliteratur (2004– 2008), die von Edgar Platen in Göteborg eingerichtete Tagungsserie zur Darstellung von Zeitgeschichte sowie der von Michael Braun bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin organisierte Arbeitskreis zu Literatur und Europa. Für die vielen Anregungen aus diesen Kreisen sei allen Beteiligten gedankt. Weitere Anregungen und Unterstützung für dieses Vorhaben habe ich ansonsten von so vielen Kolleginnen und Kollegen, Freunden, und Studierenden erhalten, dass ich sie hier nicht alle nennen und nur hoffen kann, dass sie sich in dem einen oder anderen Fall angesprochen fühlen. Für ständige Hilfe bei der Materialsuche bin ich der Deutschen Bibliothek in Helsinki sehr dankbar. Besonders herzlich danke ich Gabriele Schrey-Vasara für die aufmerksame und gründliche Durchsicht des Manuskripts. Schließlich braucht nicht gesondert hervorgehoben zu werden, dass dieses Buch ohne den Beistand meiner Familie nicht zustande gekommen wäre. Korpilahti im Februar 2021 Christoph Parry
Inhalt I
Nationalliteratur und andere Missverständnisse 1 Heimat 2 Identitäten erzählen, Gemeinschaften erfinden 4 Vorgestellte Gemeinschaft 8 10 Nationalliteratur oder literarische Weltrepublik? Europa erfinden 16 Deutsch in der Mitte Europas. Sprache der Nation oder europäische Kultursprache? 23 Zur Methode: Textinterne Erfindung von Gemeinschaft und 28 multikulturelle Lebensläufe
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33 Die Welt von Gestern und ihr gewaltsames Ende Europakonzepte der 20er Jahre 34 Thomas Mann: Der Zauberberg 36 40 Ödön von Horváth: Der ewige Spießer Stefan Zweigs Die Welt von Gestern und der Habsburger Mythos 44 46 Joseph Roth Jean Améry und die Ausgrenzung 52
III
Exilgeschichten 61 62 Das Europäische Exil Exilland USA 63 Thomas Manns Weg vom „unpolitischen“ Deutschen über Amerika zum Europäer 68 Ein Roman unter Emigranten. Hilde Spiel: Lisas Zimmer 74 Der Roman 78 Der Europadiskurs im Roman 80 Die unzuverlässige Erzählerin 84
IV
Wege aus der Isolation 91 Schritte zur Wiederherstellung der Zivilgesellschaft Remigrationsfragen 93 Publizistik 96 Alfred Andersch als Publizist 99 Deutsche Literatur in der Entscheidung 101 Europäische Avantgarde 103
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X
Inhalt
Fiktionen der Freiheit 106 111 Sansibar oder der letzte Grund Efraim 113 Exkurs: Reisebilder im Kontext beginnender Integration Irisches Tagebuch 126 V
Zwischen Peripherie und Metropole 129 129 Zuhause in der Weltsprache der Poesie Paul Celans Meridiane 132 Die Blechtrommel als europäischer Roman? 142
VI
Exklaven und Relikte Herta Müller 157 164 Joseph Zoderer
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Ausgewanderte 171 171 W. G. Sebald Unheimliche Heimat 172 Sebalds Poetik 176 Die Ausgewanderten 179 184 Austerlitz Die Ringe des Saturn: Welteroberung zu Fuß in Suffolk Enge Heimat, weite Welt: Peter Handke 191 194 Eine Langsame Heimkehr Volk und Nation 199 Enklaven und Ahnen 202
119
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Eingewanderte 208 Migration und „Migrationsliteratur“ 208 Spracheroberung 210 Thematische Typologie 213 Yadé Kara: Selam Berlin 215 Terézia Mora: Alle Tage 217 Yoko Tawada: Das nackte Auge 220
IX
Jüdische Geschichten 225 Robert Menasse: Die Hauptstadt 225 Ein negativer Gründungsmythos 226 Robert Schindel: Gebürtig 230 Gila Lustiger: So sind wir 234
187
Inhalt
Barbara Honigmann: Damals, dann und danach 241 Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther Schlussbetrachtung
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253 Bibliographie Quellen 253 Forschungsliteratur Index
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XI
I Nationalliteratur und andere Missverständnisse Die Drewenz ist ein Nebenfluß in Polen. Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich: Also war dein Großvater ein Pole. Und da sage ich: Nein, er war es nicht. Da sind, wie man sieht, schon Mißverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang. Also einen neuen ersten Satz.¹ Johannes Bobrowski
Dass nationale Zuordnungen leicht Missverständnisse verursachen, wusste bereits Ernest Renan, als er seinen berühmten Vortrag in der Sorbonne Was ist eine Nation (1882) mit den Worten eröffnete: „Ich möchte mit Ihnen gemeinsam eine Idee untersuchen, die, obwohl sie dem Anschein nach klar zu sein scheint, zu den gefährlichsten Mißverständnissen Anlaß gibt.“² Wie gefährlich diese Missverständnisse über die nächsten hundert Jahre in Europa werden sollten, konnte Renan 1882 wohl kaum ahnen. Nach zwei Weltkriegen besteht darüber kein Zweifel mehr. Während für Renan die Schwierigkeit schon bei der Definition der Nation anfängt, sorgt sich Bobrowski mehr um die Auswirkungen des nationalen Denkens auf die Lebenspraxis. Die Schwierigkeit, mit der sich Bobrowskis Erzähler zu Beginn des Romans Levins Mühle konfrontiert sieht und die ihn veranlasst, seinen Satz zu revidieren, hat jedoch gleich mehrere Facetten. Zum einen ist die Schwierigkeit eines jeden Textanfangs gemeint. Inhaltlich geht es aber auch um die Schwierigkeit von Identitätszuschreibungen überhaupt, weil jede Aussage so viel mehr auslässt als sie erfasst. Drittens geht es ganz speziell um den Widerspruch zwischen der vereinfachenden Wirkung von Kartographie und der Komplexität der sozialen und historischen Verhältnisse, die von keiner Landkarte erfasst werden kann, in diesem Fall um das deutsch-polnische Verhältnis. Dabei spielt Bobrowski seinen Lesern in diesem Absatz einen Streich. Denn der erste Satz selbst ist vollkommen unverfänglich. Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans ist die Drewenz ohne jeden Zweifel ein Nebenfluss in Polen. Der Trugschluss, den der Erzähler vermeiden will, liegt in der Verbindung des ersten Satzes mit der lediglich impliziten, ihm voranzustellenden Information, dass der Großvater an der Drewenz geboren wurde. Dadurch wird der Kontrast
J. Bobrowski, Levins Mühle, Hamburg 1990, S. 5. E. Renan, Was ist eine Nation? Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882, http://www.dir-info. de/dokumente/def_nation_renan.shtml [abgerufen am 2.11. 2020]. https://doi.org/10.1515/9783110706338-003
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zwischen der Klarheit der Landkarte und den Verwicklungen der Geschichte, um die es im Roman gehen wird, gleich zu Beginn vorgeführt. Der Zweifel, der Johannes Bobrowski beim trügerisch eindeutigen ersten Satz seines Romans Levins Mühle befällt, kommt nicht von Ungefähr. Er ist Ausdruck einer Unsicherheit, die in der deutschsprachigen Literatur immer wieder als Störung des Verhältnisses von Identität und Nation zum Vorschein kommt und die in den folgenden Kapiteln an unterschiedlichen Beispielen untersucht werden soll. In Bobrowskis Roman geht es um eine Heimat, die den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt hat. Auch das trägt zur Ironie des kurzen imaginierten Dialogs mit dem Leser bei. Obwohl dem Heimatbegriff in nationalistischen Diskursen ein hoher Stellenwert zukommt, scheinen Heimat und Nation in der Praxis oft eher unverträglich zu sein. Das ist besonders dort der Fall gewesen, wo Völker, Sprachen und Kulturen in enger Nachbarschaft miteinander lebten und leben. Der moderne Nationalismus in Europa hat aus Räumen kultureller Begegnung Konfliktgebiete gemacht. Das ging an der Drewenz wie an der Drina und in zahlreichen anderen Grenzräumen immer auf Kosten der dort beheimateten Menschen.
Heimat Der Begriff Heimat mit allen Konnotationen ist sehr problematisch. So wie er auf Deutsch gebraucht wird, ist er auch sehr deutsch. Er lässt sich nicht leicht in andere Sprachen übersetzen. Das englische home bezeichnet nur die Intimität der Wohnung und des Familienkreises, während das russische Wort rodina die gefühlsmäßige Bindung an das eigene Land begreift, und ihm die im Deutschen mitimplizierte Gefühlsbindung zum Lokalen und Familiären fehlt.³ Die besondere Vertrautheit mit der Heimat, der Familie, der Nachbarschaft, der bekannten Landschaft und ihrer Bevölkerung spielt eine besondere Rolle im ideologischen Haushalt der Moderne, und zwar als Gegengewicht zur zunehmenden Komplexität des gesellschaftlichen Lebens. Heimat ist das, worauf man sich, nach abenteuerlichen Berührungen mit der weiten Welt, in die Geborgenheit zurückziehen kann. Heimat ist verbunden mit der Idee von Gemeinschaft, und Gemeinschaft ist ja in Ferdinand Tönnies berühmter Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft als das vertraute Überschaubare markiert. Auf diese Weise semantisiert, bildet die Heimat einen zentralen Topos konservativer Ideologie. Ge-
Bei der Wortdefinition im Duden Online heißt es unter dem Stichwort „Heimat“: Bedeutung a) „(oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend)“ https://www.duden.de/rechtschreibung/Heimat [abgerufen am 23. 5. 2020].
Heimat
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nau darin liegt jedoch die Problematik des Heimat-Begriffs, denn von nationalistischer Seite wird die im Wort implizierte mögliche Gefühlsbindung zu einem Gefühlszwang. Wer keine Heimat oder kein Heimatgefühl hat, gehört aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die ideologische Beanspruchung des Begriffs ist so penetrant, dass bereits ein Bedürfnis nach einer „Rehabilitation von Heimat“ empfunden wird.⁴ Das Grundbedürfnis nach heimatlicher Vertrautheit lässt sich allerdings keineswegs allein in Texten konservativer Herkunft nachweisen. Die Sehnsucht nach Heimat ist beispielsweise auch eine Grunderfahrung der Emigration. So findet man eine sehr genaue Analyse des Zusammenhangs von Heimat und Vertrautheit bei dem über jedem Verdacht konservativ verklärender Absicht stehenden Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne im Kapitel „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“. Heimatliche Vertrautheit schafft, wie der Emigrant Améry erklärt, eine Sicherheit, die sich daraus ergibt, dass man die Zeichen – nicht nur die sprachlichen – richtig zu deuten versteht: „Heimat ist Sicherheit, sage ich. In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen, Vertrauen“.⁵ Améry schrieb diese Worte nicht ohne bittere Ironie, denn ihm war durch den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich die „Heimat“ abrupt entzogen worden. Das war ein vollständiger Vertrauensbruch seitens derer, die jene Heimat zu vertreten vorgaben. Améry hätte, als er diese Worte in den 60er Jahren schrieb, in seine österreichische Heimat zurückkehren können, aber durch den ursächlichen Vertrauensbruch war sie ihm keine Heimat mehr. Auf diesen Riss in Amérys Biographie soll im weiteren Verlauf dieser Studie genauer eingegangen werden, denn sein betrogenes Heimatverständnis gehört zu den literarisch produktiven Missverständnissen, um die es hier gehen soll. Heimat ist aber nie allein ein Ort, sondern sie ist immer ein Ort in einem bestimmten sozialen und politischen Kontext. Der Zweite Weltkrieg hat über große Teile Mittel- und Osteuropas diesen Kontext bis zur Unkenntlichkeit verändert. Wäre Améry nach Bad Ischl zurückgekehrt, dem Ort seiner Jugend als Hanns Mayer,⁶ hätte er vieles unverändert vorfinden können. Für unzählige Holocaust-Überlebende, Emigranten und Flüchtlinge gilt dasselbe jedoch nicht: nicht für Paul Celan, dessen polyglotte Heimatstadt Czernowitz zur ukrainischen Provinzstadt geworden war, und nicht für Günter Grass und sein Danzig. Grass hat
S. z. B. Chr. Türcke, Heimat: Eine Rehabilitierung, Springe 2006. J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne (Werke 2, S. 95). Améry nahm nach dem Krieg das französisch klingende Anagramm seines Namens an.
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immerhin dem alten Danzig durch sein Werk zu einem literarischen Nachleben verholfen, das auch im heutigen Gdansk geschätzt wird.⁷ Obwohl im nationalistischen Diskurs quasi gleichgesetzt, sind Heimat und Nation keine Synonyme. Sie können es allein schon deshalb nicht sein, weil die Perspektive, aus der sie betrachtet werden, grundsätzlich eine andere ist. Handelt es sich bei der Nation um die Bezeichnung eines Kollektivs, so ist die Heimat letztendlich immer individuell und subjektiv bestimmt. Meistens wird unter Heimat konkret der Ort oder der Raum, wo sich das Individuum zuhause fühlt, verstanden. Diese räumliche Komponente ist jedoch nicht unbedingt erforderlich. So kann jemand zum Beispiel die Sprache, die Literatur oder die Musik als Heimat bezeichnen. Wichtig ist dabei nur der subjektive Aspekt, dass man sich damit identifiziert.
Identitäten erzählen, Gemeinschaften erfinden Wer bin ich und wer sind wir? Diese zwei Fragen stehen im Mittelpunkt jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens und stellen eine der wichtigsten rekurrierenden Themen der Literatur dar. Die Unsicherheit im Verhältnis zwischen Ich und Wir steht dementsprechend auch im Mittelpunkt der in dieser Untersuchung behandelten Werke. Es geht dabei um zwei Formen von Identität, der individuellen und der kollektiven, die sich in mancher Hinsicht ähneln, aber doch grundsätzlich sehr verschieden sind. Sie ähneln sich darin, dass sich beide grundsätzlich narrativ erfassen lassen und dass beide nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Umfeld bestehen können. Zu ihrer Befestigung sind beide auf Anerkennung durch andere angewiesen. Der fundamentale Unterschied ist, dass die mit einer Person verbundene individuelle oder Ich-Identität einen festen Bezug zu einem bestimmten Menschen, einem sterblichen Lebewesen, besitzt, während eine solche Festigkeit bei kollektiven Identitäten nicht existiert. Jürgen Straub zieht aus diesem Unterschied den Schluss, dass der Identitätsbegriff im personalen Falle von vornherein einen konkreten Bezug besitzt, während er im kollektiven Falle diesen erst selbst herstellt: Während sich der Begriff der personalen Identität auf ein nämliches, realiter als biophysische Einheit existierendes Subjekt bezieht, ist die Frage nach einer beliebigen kollektiven Identität zuallererst eine Frage nach der Konstitution des betreffenden Kollektivs selbst: Welche Personen werden von wem und auf welche Weise „aneinandergerückt“ und „zu-
Seit 2003 gibt es in Gdansk eine Günter Grass Gesellschaft. http://grass-gdansk.org/niemiecki/ index.html [abgerufen am 24.5. 2020].
Identitäten erzählen, Gemeinschaften erfinden
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sammengebunden“, unter bestimmten Gesichtspunkten als eine Einheit aufgefasst, indem ihnen bestimmte gemeinsame Merkmale und Bindungen zugeschrieben werden?⁸
Die Ähnlichkeiten beziehen sich auf die Art und Weise, wie Identitäten artikuliert werden, während der Unterschied ein ontologischer ist. Der Trugschluss bei der Analogie von personaler und kollektiver Identität besteht darin, dass vom Körper des Einzelnen auf die Idee eines „Volkskörpers“ geschlossen wird, ohne zu bedenken, dass es sich dabei um eine Metapher handelt. Die Ähnlichkeiten verleiten aber oft dazu, den Unterschied zu missachten, was zu Missverständnissen und ideologischem Missbrauch führen kann. Darauf soll später näher eingegangen werden. Davor soll ein näherer Blick auf die personale Identität geworfen werden. Bei der personalen oder Ich-Identität geht es zunächst um die Selbstwahrnehmung. Ulrike Prokop spricht vom „Ich-Bewusstsein“ und definiert dieses wie folgt: „Ich-Bewußtsein“ heißt das Gefühl „einzigartig“, „besonders“ zu sein, und zwar nicht im Sinn des Negativen, der Abweichung, sondern einer positiven Besonderheit. Zu dieser Imagination der Besonderheit gehört „der Andere“, der „mich in dieser Unverwechselbarkeit erkennt“.⁹
Prokop setzt diese Definition sehr gezielt auf einen bestimmten historischen Kontext ein. Es geht bei ihr um das weibliche Identitätsempfinden im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die aufgezählten Merkmale gelten aber auch generell für die Moderne. Es fällt dabei auf, dass diese Definition, obwohl sie von einem subjektiven Gefühl ausgeht, doch die Notwendigkeit der Anerkennung durch Andere betont. Das Subjekt braucht zur Stärkung des Ich-Bewusstseins das Wissen um die Anerkennung durch den Anderen. Hier ist also bereits die gesellschaftliche Interaktion gleich in die Bestimmung der Ich-Identität, bzw. ihrer Wahrnehmung, einbezogen. Ähnliches betont Charles Taylor, wenn er die eigene Identitätsarbeit beschreibt: Thus my discovering my own identity doesn’t mean that I work it out in isolation, but that I negotiate it through dialogue, partly overt, partly internal, with others. That is why the de-
J. Straub, Personale und kollektive Identität. In: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identitäten 3, hg.v. A. Assmann und H. Friese. Frankfurt/M. 1998, S. 73 – 104. Hier S. 98. U. Prokop, Die Funktion der Literatur für die Selbstthematisierung von Weiblichkeit im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identitäten 3, 1998, S. 166 – 180. Hier S. 166.
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velopment of an ideal of inwardly generated identity gives a new importance to recognition. My own identity crucially depends on my dialogical relations with others.¹⁰
Solche Identitätssuche impliziert so etwas wie ein Lebensprogramm, und der Raum, in dem sich die Fragen stellen, ist ein sozialer Raum. Für den klassischen Sozialforscher G. H. Mead stand das Prinzip der Anerkennung schon am Anfang jeder Identitätsbildung. Mead geht von einer Rollenspaltung des Selbst (Self) in „I“ und „me“ aus, wobei sich das Ich zunächst aus der Sicht der Anderen als „me“ wahrnimmt und erst in der Reflexion über das „me“ zum Subjekt „I“ wird.¹¹ Dieser Vorgang, den Jürgen Habermas als „Individuierung durch Vergesellschaftung“ bezeichnet,¹² hat zur Folge, dass das Individuum seine Identität von vornherein in Beziehung zu möglichen kollektiven Identitäten setzt. Grundlage jeder Identitätserfahrung ist die Selbstwahrnehmung als etwas, das eine gewisse Kontinuität in der Zeit besitzt. Die Zeit ist aber, wie Thomas Mann im Zauberberg schreibt, „das Element des Erzählens, wie sie das Element des Lebens ist – unlösbar damit verbunden, wie mit den Körpern im Raum.“¹³ Das Leben lässt sich kaum ohne Bezug auf den zeitlichen Wandel selbst erfassen, und die Zeitlichkeit selbst ist, wie auch Paul Ricoeur feststellt, nur narrativ erfassbar.¹⁴ Das Narrative ist aber nicht naturgegeben, sondern ist eine kulturelle Praxis, mit der Erfahrung organisiert wird, wobei ungeklärt bleibt, ob das Narrative erst bei der Erzählung oder bereits bei der kognitiven Erfassung der Welt eintritt. Nach Kenneth Gergen stellen Narrative ein Realitätsverständnis dar, das immer sozial ausgehandelt wird. Von der Übereinkunft der Narrative hängen die Werte der Gesellschaft und schließlich auch die Identität des Einzelnen, der sich in der Sozialisation diese Werte aneignet, ab. Anhand eines sehr einfachen Beispiels zeigt Gergen, wie nicht nur der Inhalt des Narrativs, sondern das Erzählen selbst als Vorgang an der Befestigung kollektiver Identitäten Anteil hat. Sein Beispiel ist das Kind, das zuhause von seinem Schultag berichtet und damit seine Zugehö-
Ch. Taylor, The Politics of Recognition. In: Multiculturalism, hg. von Amy Gutmann, Princeton NJ 1994, S. 34. G. H. Mead, Mind, Self and Society Chicago 1934. In der deutschen Übersetzung als „ich“ und „ICH“ wiedergegeben. G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973. Es fällt auf, dass der Begriff ‚Identity‛ im Original nicht erscheint. C. Emcke, Kollektive Identitäten, Frankfurt/M. 2000, S. 209. Th. Mann, Der Zauberberg, Berlin, Frankfurt/M. 1962, S. 494. „Indeed, I take temporality to be that structure of existence that reaches language in narrativity and narrativity to be the language structure that has temporality as its ultimate referent.“ (P. Ricoeur, Time and Narrative. Vol. 1. Chicago 1981, S. 165).
Identitäten erzählen, Gemeinschaften erfinden
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rigkeit zur Familie und die Familie selbst als Institution befestigt.¹⁵ In diesem Fall stärkt die Erzählung bzw. der Vorgang des Erzählens sowohl die Identität des Kindes als auch die der Familie als Kleinkollektiv und setzt diese in einen Bezug zur umgebenden Gesellschaft. Auch Gruppen bilden eine Wir-Identität, und auch Kollektive sind bei der Bestimmung ihrer Identität um Anerkennung bemüht. Das betrifft jede Art von Gruppe, von der Nation bis zum Schachverein. Familie, Schule, Sportverein oder Partei: alle diese Gruppen bilden ihre Identität weitgehend über gemeinsame Narrative. Zur Identität jedes Einzelnen gehört die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, die jeweils von ihren Identitätsnarrativen geprägt sind. Die Zugehörigkeit kann freiwillig oder erzwungen sein. Die narrative Selbsterfahrung sowie das Bedürfnis nach Anerkennung teilt die kollektive Identitätskonstruktion mit der Konstruktion von personalen Identitäten. Die jeweiligen Erzählungen überlappen sich. Diese Parallele verleitet oft dazu, den fundamentalen Unterschied zwischen beiden zu übersehen und Kollektive analog zu Individuen zu verstehen. Geht man im Sinne Meads von einer Bestimmung individueller Identität als die Eigenschaft aus, „sich selbst ein Objekt“ zu sein,¹⁶ dann ist eine genaue Parallelstellung zwischen individueller und kollektiver Identität nicht möglich, weil ein kollektives Subjekt, das seiner selbst als Subjekt bewusst wäre grundsätzlich undenkbar ist. Bei der Vielfalt von Gruppenansprüchen kommen zwangsläufig Interessenkonflikte auf. Im schlimmsten Fall werden bestimmte Gruppen aus der umgebenden Gemeinschaft ausgeschlossen. Das Gegenteil von Anerkennung ist für die Gruppe wie für das Individuum die Stigmatisierung. Dazu schreibt Michel Wieviorka: Erniedrigung, Herrschaft und Ausschließung lassen sich nicht nur auf Individuen als solche anwenden. Sie sind umso wirksamer und schrecklicher, wenn sie die Individuen in kollektive Kategorien einordnen, die sich offenbar besser als andere zur Stigmatisierung eignen, Kinder, Frauen, rassische Minderheiten, Behinderte, sogenannte „Risiko“-Gruppen, religiöse Minderheiten etc.¹⁷
Der deutsche Antisemitismus, der aus Deutschen jüdischer Abstammung ungeachtet ihrer eigenen Identitätsempfindung pauschal aus dem sogenannten „Volkskörper“ zu tilgende Fremde machte, ist der Extremfall solcher Fremdzu K. Gergen, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. Eine sozialkonstruktionistische Darstellung. In: Erzählung, Identität und Historisches Bewußtsein, hg. von J. Straub, Frankfurt/M. 1998, S. 188. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 178. M. Wieviorka, Kulturelle Differenzen und nationale Identitäten. Hamburg 2003, S. 48.
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ordnung. Im Falle der Stigmatisierung und der Verfolgung werden Menschen in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit und in ihrer Würde verletzt. Und zur Würde des Menschen gehört eben auch das Recht, die eigene Identität, wie man sie selbst empfindet, behaupten zu dürfen.
Vorgestellte Gemeinschaft Von allen kollektiven Identitätsformationen dürfte in der modernen Welt die nationale die grundlegendste und umfassendste sein. Wie Ernest Gellner feststellt: „national units are the preferred, favoured objects of identification […]“¹⁸ Das dürfte vor allem den praktischen Grund haben, dass der Staat in der Regel die oberste Instanz für die Verwaltung der Menschen ist und dass die meisten Staaten sich heute auf eine wie auch immer definierte und modifizierte Vorstellung von Nationalstaatlichkeit berufen. Nation und Staat sind aber nicht dasselbe. Verwirrung stiftet der Umstand, dass der Begriff der Nation und mit ihm die adjektivische Form national allgemeinsprachlich oft synonym für den Staat gebraucht werden, so etwa, wenn nationale Einrichtungen von kommunalen Einrichtungen differenziert werden. Um etwas terminologische Klarheit zu beschaffen, muss daher hier genauer zwischen den Begriffen Staat, Nation und Nationalstaat unterschieden werden. Von den drei Begriffen dürfte der des Staates am eindeutigsten, der der Nation am schwersten zu bestimmen sein. Der Staat mit seinen Steuern und Zöllen, Grenzen und Gefängnissen ist etwas sehr Reales. Als Staat kann man jedes souveräne politische Gebilde bezeichnen, das ein bestimmtes Territorium umfasst, auf dem seine offiziellen Organe (theoretisch) über das Gewaltmonopol verfügen. Die moderne umfassende Vorstellung von Nation als Grundlage eines real oder potentiell souveränen Staates geht auf die späte Aufklärung zurück und sieht sie als Stände und Klassen übergreifenden Zusammenhang ganzer Bevölkerungen, die durch gewisse weitere Gemeinsamkeiten, Ethnizität, Sprache Religion usw. verbunden sein können und ein bestimmtes Territorium bewohnen.¹⁹ Diese werden im Nationalismus als „Volk“ betrachtet, mit dem sich die einzelnen Menschen identifizieren sollen. Diesem Volk, oft als große Familie gedacht, wird in der Nation der Schein von Sicherheit und Vertrautheit geboten, wie sie in einer modernen Industriegesellschaft in Wirklichkeit kaum realisierbar ist. Indem der E. Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983, S. 54. Vgl. A. D. Smith, National Identity, Harmondsworth 1991, S. 143. Weiter zu den Begriffen Nation und Nationalismus s. J. Leerssen: National Thought in Europe. Amsterdam 2006, S. 14– 17.
Vorgestellte Gemeinschaft
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Nationalismus den Mitgliedern einer Nation als Volk bestimmte Gemeinsamkeiten, Verwandtschaft und Interessengleichheit unterstellt und diese von den Bewohnern anderer Gebiete abhebt, versucht er die Idee und das Gefühl von Gemeinschaft auf die abstrakte Menge zu übertragen. Die Nation ist, so gesehen, anders als der Nationalstaat, der sich unter Berufung auf sie legitimiert, grundsätzlich ein Konstrukt. Ein Konstrukt ist allerdings kein Phantom – er kann durchaus reale Auswirkungen haben, auch wenn sein nachträglich behaupteter Ursprung keinen Bestand in der Realität hat. Auf jeden Fall hat die Idee der Nation in das soziale Imaginäre Eingang gefunden. Der Nationalstaat ist wiederum ein Staat, der sich als Verkörperung einer Nation versteht. Das ist in der Praxis die Regel, und dort, wo sie sich nicht mit bestimmten homogenen ethnisch oder sprachlich definierten Gemeinschaften decken, versuchen sie mit wechselndem Erfolg aus ihren Einwohnern auf anderer Grundlage so etwas wie eine nationale Gemeinschaft herzustellen. Eine eigene Sprache, eine gemeinsame Religion und eine gemeinsame Geschichte sind günstige Bedingungen für die Bildung eines Nationalvolks, aber keine unbedingten Voraussetzungen. Wie bereits Ernest Renan 1882 feststellte, ist keine dieser Gemeinsamkeiten alleine unentbehrlich für die Nation. Die Hauptsache ist, dass sie sich als Gemeinschaft versteht, und wenn die Nation tatsächlich über staatliche Institutionen verfügt, dann sind es gerade diese Institutionen, die das Gemeinschaftsgefühl vermitteln und tradieren. Darum ist es meistens nicht leicht auszumachen, ob die Nation im Sinne einer kollektiven Empfindung von Volksgemeinschaft der staatlichen Organisation vorausgeht oder selbst erst ein Produkt der Institutionalisierung durch den Staat ist. Es ist in der Praxis, wie Hardt und Negri in ihrem Werk Empire konstatieren, erst der Nationalstaat, der aus der ungeformten Menge seiner Einwohner ein Volk macht.²⁰ Als vierter Begriff müsste schließlich der Nationalismus selbst definiert werden. Dieser ist die Ideologie, die grundsätzlich die Nation als einzige legitime Grundlage für den Staat betrachtet, und wo sie eine Nation erkennt, die noch keinen eigenen Staat hat, diesen fordert. In seiner nicht selten extremsten Ausformung, z. B. im Faschismus, bekommt der Nationalismus Züge einer Ersatzreligion, indem er die Nation vor alle anderen Werte stellt.
„Although „the people“ is posed as the originary basis of the nation, the modern perception of the people is in fact a product of the nation-state, and survives only within its specific ideological context.“ (M. Hardt, A. Negri, Empire, Cambridge MA 2000, S. 102).
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I Nationalliteratur und andere Missverständnisse
Nationalliteratur oder literarische Weltrepublik? Akzeptiert man die Prämisse von Benedict Anderson, dass es sich bei der Nation um eine „vorgestellte Gemeinschaft“²¹ handelt, so stellt sich die Frage nach dem Mechanismus, mit dem diese Vorstellung in das soziale Imaginäre, d. h. in die Köpfe der Leute Eingang findet. Darauf hat Ruth Wodak eine einleuchtende Antwort: Die Frage, wie diese imaginäre Vorstellung [Nation] in die Köpfe derer gelangt, die von ihr überzeugt sind, läßt sich leicht beantworten: Sie wird diskursiv konstruiert und in Diskursen vermittelt, und zwar in erster Linie in Erzählungen der Nationalkultur.²²
An der Verbreitung solcher Erzählungen ist die Literatur, gewiss mit Unterstützung anderer Gattungen, der Malerei, der Musik, der Architektur usw., maßgeblich beteiligt. Die Dichtung liefert, verfeinert und aktualisiert die Mythen und Legenden, die den kollektiven Phantasiebestand der Nation untermauern. In ihren Werken liefert die Literatur exemplarische Erzählungen, welche die gemeinsame moralische Basis der Gesellschaft bestätigen oder modernisieren. Aber der Zusammenhang von Literatur und Nation liegt nicht nur im Inhalt der Werke, sondern auch in den Organisationsformen des literarischen Lebens selbst, die mit zur Erfindung der Gemeinschaft beitragen. Dass das literarische Leben fast überall in Europa auch institutionell eine ganz entscheidende Rolle beim Aufbau der modernen Nationen gespielt hat, ist in der Nationalismusforschung eine weitgehend anerkannte These.²³ Es ist eben kein Zufall, dass das Aufkommen des modernen Nationalismus als Ideologie ungefähr zeitgleich mit der Entstehung einer literarischen Öffentlichkeit in den europäischen Metropolen stattfand. Zusammen mit dem Theater schufen Lesezirkel, Journale und Kaffeehäuser, in denen die Journale auslagen, die moderne Öffentlichkeit. Die aus dem von Jürgen Habermas (1962) beschriebenen Strukturwandel hervorgegangene bürgerliche Öffentlichkeit bildete einen Resonanzboden für die Literatur und stellte Anforderungen an sie, die über ihren reinen Unterhaltungswert hinausreichten.²⁴ Gesellschaftliche und moralische Themen wurden nicht nur in nicht-fiktionalen Gattungen der Essayistik oder der Reiseliteratur, sondern eben auch im Drama und im Roman abgehandelt. So bildet das litera-
B, Anderson, Imagined Communities. London, New York 2006 [1983]. R. Wodak, Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt/M. 1998, S. 61. E. Gellner 1983, B. Anderson 1983. Hobsbawm 1992. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1962.
Nationalliteratur oder literarische Weltrepublik?
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rische Leben mit seiner Wechselwirkung von Produzenten und Leserschaft seit der Aufklärung eine der Grundsäulen der Zivilgesellschaft, in der die Ziele und Werte der Nation artikuliert und verhandelt werden. In diesem Prozess spielt die neue Gattung des modernen Romans eine zentrale Rolle. Nach Franco Moretti bietet gerade der Roman das Instrument, das die Nation erst vorstellbar macht: Because human beings can directly grasp most of their habitats: they can embrace their village or valley with a single glance; the same with the court or the city (especially early on when cities are small and have walls): or even the universe, a starry sky after all is not a bad image of it. But the nation-state? ‘Where’ is it? What does it look like? How can on see it? Well, the nation state […] found the novel. And viceversa, the novel found the nation state. And being the only form that could represent it, it became an essential component of our modern culture.²⁵
So pauschal ausgedrückt ist diese Darstellung gewiss übertrieben. Tendenziell ist daran etwas Wahres. Auf den Roman – allerdings im Verein mit zahlreichen anderen Kulturprodukten – kam die öffentliche Rolle zu, Gemeinschaft zu imaginieren. Neben Dramen bieten vor allem Romane optimale Träger für die „Erzählungen der Nationalkultur“, von denen Ruth Wodak spricht. Der Roman beeinflusste aber nicht nur die Wahrnehmung der Gemeinschaft als Kollektiv, sondern auch in besonderem Maße die moderne Vorstellung des Individuums in seiner Einmaligkeit und dem Recht auf die Anerkennung seiner Einmaligkeit. In der Praxis trug der Roman somit nicht nur zur Erfindung der modernen Nation, sondern auch zur Erfindung ihrer Bürger bei. Romanfiguren boten gewisse Muster als Vorbild oder Abschreckung. Der Wandel in der Vorstellung vom Individuum, die relative Aufwertung des Individualismus und die moderne Auffassung von der Nation sind zeitgleiche Erscheinungen der beginnenden Industriegesellschaft.²⁶ Neu war im 19. Jahrhundert die politische und pädagogische Anerkennung des Nutzens der neueren Literatur. War bereits die Entwicklung der Zivilgesellschaft maßgeblich durch die Aktivität literarisch gebildeter Kreise geprägt, so wird diese Aktivität im 19. Jahrhundert allmählich auch politisch legitimiert. Einen symbolischen Ausdruck fand dieser Legitimierungsprozess darin, dass dem Lexikographen und Märchensammler Jacob Grimm 1848 bei der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ein Ehrenplatz zugewiesen wurde.²⁷ In F. Moretti, Atlas of the European Novel, London 1998, S. 17. Wie der Roman zur Konstituierung der modernen Vorstellung von individueller Identität beitrug, zeigte bereits Ian Watt in The Rise of the Novel (London 1957). Watt erkannte zugleich die Individuierung selbst als sozialen Prozess. S. Joep Leerssen, National thought in Europe, S. 183.
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Finnland, das als autonomes Großherzogtum im Russischen Reich sich als junge Nation zu profilieren begann, stellte die Gründung der Finnischen Literaturgesellschaft 1831 eine ähnliche symbolische Leistung dar. Zu ihren ersten Aufgaben gehörte die Förderung von Elias Lönnrots Sammlung und Edition der Runen des Kalevala. Es ist bezeichnend, dass sich Jacob Grimm auch für Lönnrots Arbeit interessierte. Der literarische Nationalismus des 19. Jahrhunderts war eben anfangs nicht isolationistisch. Es ging vielmehr darum, die eigene Nation kulturell in die Familie der etablierten europäischen Nationen einzugliedern.²⁸ Durch die allmähliche Aufnahme der neueren Literatur in das Schulcurriculum verschiedener europäischer Länder gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft staatlicherseits in einem gewissen Sinne institutionalisiert und die jeweils eigene Nationalliteratur in den Dienst der Propagierung und Festigung bürgerlicher Normen und des Nationalgefühls gestellt.²⁹ Die besondere Rolle der Literatur im Nationalisierungsprozess hat nicht zuletzt mit dem Aspekt der Sprachpflege und der allgemeinen Schulpflicht zu tun. Denn dass sich die europäischen Nationen gerne auf bestimmte Sprachgemeinschaften als Grundlage berufen, ist eher die Regel als die Ausnahme. Doch gerade in Bezug auf die Sprache sind Missverständnisse möglich, denn wenn hier von einer Volkssprache die Rede ist, so ist eben nicht die Sprache des Volks in ihren zahllosen Dialekten gemeint, sondern eine auf ihrer Basis gebildete, unbequeme Unterschiede nivellierende nationale Hochsprache. Im Interesse der Homogenität des Nationalvolks werden Dialekte diszipliniert und ganze Sprachminderheiten unterdrückt. Diese Norm wurde seit dem 19. Jahrhundert in den meisten europäischen Ländern von der nationalen Pädagogik forciert. Sie beruht aber, wie Ernest Gellner feststellt, auf einer Betrug und Selbstbetrug vereinenden Paradoxie: The basic deception and self-deception practiced by nationalism is this: nationalism is, essentially, the general imposition of a high culture on society, where previously low cultures had taken up the lives of the majority, and in some cases of the totality, of the population. It means that generalized diffusion of a school-mediated, academy-supervised idiom, codified for the requirements of reasonably precise bureaucratic and technological communication. It is the establishment of an anonymous, impersonal society, with mutually substitutable atomized individuals, held together above all by the shared culture of this kind, in place of a
Auch der Zugang zum Weltkanon sollte nicht sprachkundigen Lesern durch Übersetzungen ermöglicht werden. So zählt die Shakespeare-Übersetzung von Schlegel und Tieck zu den großen literarischen Leistungen der deutschen Romantik. S. dazu die Beiträge in Wissenschaft und Nation, hg. von J. Fohrmann, W. Voßkamp, München 1991. Vgl. für England T. Eagleton, Literary Theory, Oxford 2008, S. 23 ff.
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previous complex structure of local groups, sustained by folk cultures reproduced locally and idiosyncratically by the micro-groups themselves. That is what really happens. But this is the very opposite of what nationalism affirms and what nationalists fervently believe. Nationalism usually conquers in the name of a putative folk culture.³⁰
Der Nationalismus beruft sich zwar gerne auf die Volkskultur, doch in der Praxis der Nationenbildung wird diese zugunsten einer funktionsfähigen Verwaltung von einer zentralisierten Hochkultur verdrängt. Im Verlauf dieses Prozesses entfernt sich die Kultur immer mehr von den mannigfaltigen Wurzeln in dem Volk, das angeblich die Grundlage der Nation bildet. Modernisierung und Zentralisierung treten an die Stelle früherer nachbarschaftlicher Gemeinschaften, und die normierte Monoglossie tritt an die Stelle sprachlicher Vielfalt. Über diese europäische Eigenart schreibt der indische Germanist Anil Bhatti mit unverhohlener Verwunderung: Die Norm sei eben die homogene, einsprachige, monoreligiöse Kultur. Alles andere sei eine Abweichung. Somit wurde der Mythos von Babel zum Basistext der dominanten europäischen Sprachideologie. Der paradiesische Urzustand der Monoglossie bestimmt die europäische kulturelle Imagination als Idealzustand.³¹
Der Nivellierungseffekt der nationalen Erziehung erzeugt ein Spannungsfeld, in dem die Literatur mal in Übereinstimmung mit den großen Erzählungen der Nation, aber ebenso oft in eine Opposition zu den waltenden Normen und Vorstellungen gerät. Die ideologische Instrumentalisierung der Literatur geht in erster Linie nicht von den Produzenten aus, sondern von der Politik. Beim Prozess der nationalen Kanonisierung werden regelmäßig Autoren und Werke vereinnahmt, die selber in breiteren Kategorien gedacht und gewirkt haben. Man denke nur an die historischen Dramen von Friedrich Schiller, der sein großes Thema der Forderung nach Freiheit in der englischen, der niederländischen und der Schweizer Geschichte ansiedelte. Die Frage der nationalen Gesinnung hat sich in ihrer späteren Form den Dichtern der Weimarer Klassik noch nicht gestellt. Diese gehören mit gleicher Selbstverständlichkeit dem Kanon der deutschen wie der Weltliteratur an. Je stärker die nationale Idee in einem ethnischen Verständnis politisiert und zur umfassenden Ideologie herausgebildet wird, desto paradoxaler wird ihr Selbstverständnis. Denn auch die „neueren“ Nationalliteraturen stehen in einer
E. Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983, S. 53. A. Bhatti, Plurikulturalität. In: Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa, hg. von J. Feichtinger, H. Uhl, Wien 2016, S. 176.
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europäischen Tradition, die über die Jahrhunderte auf einen gemeinsamen Mythenbestand zurückblickt, und bestimmte, über viele Sprachräume verbreitete Gattungen hervorgebracht hat. Gewiss gibt es regionale Variationen, aber jeder einzelnen Nationalliteratur ein jeweils besonderes nationales Gepräge zuzugestehen, würde der Realität kaum entsprechen. Wenn es schwerfällt, abgesehen vom Gebrauch verschiedener Sprachen, die Existenz von Nationalliteraturen durch irgendwelche immanenten literarischen Besonderheiten nachzuweisen, so erscheint es sinnvoll, nicht im Gehalt der Literatur selbst, sondern in der Organisation des literarischen Lebens nach den nationalen Besonderheiten zu suchen. Der auf Pierre Bourdieu zurückgehende Begriff des literarischen Felds ist daher aufschlussreicher als die Rede von Nationen. Zwar fallen die Grenzen der einzelnen literarischen Felder oft mit nationalen Grenzen zusammen, aber das ist keineswegs immer der Fall. Ein wichtigeres Kriterium bildet die Sprache, aber auch sie ist nicht allein ausschlaggebend. So bildeten von den 50er bis zu den 80er Jahren die Literaturen der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz ein weitgehend gemeinsames literarisches Feld, von dem die DDR aus strukturellen und politischen Gründen ausgeschlossen war. Einen Versuch, die Interdependenz von Kanonisierungsprozessen auf nationaler und internationaler Ebene zu beschreiben, lieferte Pascale Casanova mit ihrem Buch La republique mondiale des lettres. ³² Casanovas Darstellung bietet ein Erklärungsmodell dafür, dass große literaturhistorische Umwälzungen wie das Aufkommen der Romantik oder des Naturalismus nicht auf einzelne Sprachen oder Nationalliteraturen beschränkt bleiben und dass bestimmte Autoren und Werke international kanonisiert werden, während andere, die womöglich im eigenen Land den Status eines Nationaldichters genießen mögen, international wenig wahrgenommen werden. Eine zentrale Rolle spielt für Casanova die Achse von Zentrum und Peripherie. Bei dieser Achse geht es um ein Relationsverhältnis, in dem unterschiedliche Orte relativ zu einem wechselnden Umland zeitweilig die Rolle eines Zentrums spielen können. Als Voraussetzungen für eine ernstzunehmende Literatur nennt Casanova die Anerkennung und Autonomie des literarischen Feldes. Unter Autonomie der Literatur versteht Casanova, dass sie sich keiner politischen, religiösen oder nationalen Agenda unterwirft. Jüngere Literaturen der Peripherie versuchen sich zu etablieren, indem sie sich nicht nur selbst am Maßstab der etablierten Literaturen des Zentrums messen, sondern auch durch
P. Casanova, La république mondiale des lettres, Paris 1999. Fortan zitiert in der englischen Übersetzung von M. D. DeBevoise, The World Republic of Letters, Cambridge MA 2004.
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einzelne Vertreter die Anerkennung des Zentrums holen. Für die Periode, die Casanova besonders interessiert, von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, spielte Paris nach ihrer Auffassung eine besonders herausragende Rolle für die europäischen Literaturen. In Pascale Casanovas literarischer Weltrepublik ist das Zentrum in auffallendem Maße bevölkert von Autoren, die entweder gemischter Herkunft sind oder das Land ihrer Herkunft verlassen haben, um anderswo zu wirken oder mindestens Impulse zu gewinnen. Das sind Autoren mit Werken, die nicht in die jeweiligen nationalen Felder hineinpassen oder Autoren, die sich in der jeweiligen Zuordnung nicht wohlfühlen. Sie nennt als Beispiel August Strindberg, der zuerst in Paris Anerkennung und einen Übersetzer fand, bevor er in Schweden richtig wahrgenommen wurde. Weitere Beispiele findet sie unter irischen Autoren. Die Emanzipation der irischen Literatur vom Sog Londons, womit die Literatur auch zur „Erfindung“ der irischen Nation beitrug, lief ebenfalls über Paris und den Kontinent. Becket schrieb sogar auf Französisch und auch Joyce schrieb seine Meisterwerke auf den Kontinent und fand den Verleger für seinen Ulysses in Paris. Das Beispiel Joyce ist im Kontext der Fragestellung dieser Studie besonders interessant. Als Ire vertrat er aus der Perspektive der englischsprachigen Literatur den Rand. Andererseits war er in Irland Zeuge der Herausbildung einer neuen Nationalliteratur. Wie sehr er um seine Unabhängigkeit bemüht war, zeigt seine autofiktionale Erzählung A Portrait of the Artist as a Young Man. Dort kehrt Joyce’ alter ego, Stephen Dedalus, zunächst der Vorbereitung auf das Priesteramt den Rücken und später widersetzt er sich den Bemühungen seiner Kommilitonen an der Universität, ihn für den irischen Nationalismus und die gälische Sprachbewegung zu gewinnen. Die Heilsversprechungen von Nation, Religion und (National)sprache sieht er gleichermaßen als Fangnetze: „When the soul of a man is born in this country there are nets flung at it to hold it back from flight. You talk to me of nationality, language, religion. I shall try to fly by those nets.“³³ Es geht dabei weniger um eine Distanzierung von der irischen Heimat, als um die Ablehnung ihrer ideologischen Instrumentalisierung. Schließlich endet die Geschichte für Dedalus wie für seinen Autor mit der Emigration aus Irland. Anders als noch Bernard Shaw einige Jahrzehnte früher, zog er nicht nach London, der Metropole des britischen Kulturraums, sondern gleich auf den Kontinent, zunächst nach Pola an der Adriaküste und später nach Triest, Paris und Zürich. Joyce schrieb sein Hauptwerk im freiwilligen Exil und fand für Ulysses zunächst in Paris einen Verleger. Paradoxerweise ist er damit von außerhalb Irlands, aber nahe dem Zentrum des europäischen Literaturbetriebs, zum meistgefeierten iri-
J. Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man, Harmondsworth 1975, S. 203.
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schen Autor geworden, dem alljährlich am sogenannten „Bloomsday“ gedacht wird. Aus der Distanz hat er seinen Beitrag zur irischen Nationalliteratur geleistet, und gerade durch diese Distanz konnte er der irischen Literatur zu der Autonomie verhelfen, die nach Pascale Casanova die Grundlage für ein starkes literarisches Feld bildet. Um die Position im Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie im nationalen wie im übernationalen Zusammenhang geht es bei den in der vorliegenden Untersuchung behandelten Werken und Autoren.
Europa erfinden Wie die Diskussion der literarischen Felder gezeigt hat, sind die europäischen Nationen bei aller Eigenart kulturell am stärksten von ihrer gemeinsamen Teilhabe am Kulturraum Europas geprägt. Auch wenn Casanova die Literatur lieber einer Weltrepublik als schlicht Europa zuordnet, so ist der gemeinsame Raum ihrer Republik letztlich durch Traditionen geformt, die entweder in Europa ihren Ursprung hatten oder von Europa durch Auswanderung und Kolonialismus vermittelt global verbreitet wurden. Selbst die Tatsache, dass sich in Europa der klassische Nationalstaat als politische Organisationsform im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mühsam durchgesetzt hat, ist ein paneuropäisches Phänomen, das allerdings zu einem Gemeinschaftsgefühl gar nichts beigetragen hat. Im Gegenteil, mit zunehmender Bürokratisierung erschwerte er den kosmopolitischen Lebensstil, den zumindest die oberen Gesellschaftsschichten im 19. Jahrhundert hatten pflegen dürfen. Der Nationalisierungsprozess mündete in zwei Weltkriege, aus denen die meisten europäischen Länder zunächst geschwächt hervorgingen und durch welche die Fragwürdigkeit der Nation als politische Organisationsgrundlage offenbar wurde. Als Ideologie erweist sich der Nationalismus dennoch auch ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg als erstaunlich widerständig. Tatsächlich wurde erst mit dem Zusammenbruch der alten Imperien im Osten Europas im Ersten Weltkrieg der Nationalstaat zur Norm auf dem ganzen Kontinent zementiert. Gleichzeitig mit der Zementierung kamen bereits erste Bemühungen von politischer und intellektueller Seite auf, die Nation durch eine engere europäische Zusammenarbeit zu überwinden. Die ersten konkreten Ergebnisse waren die Gründung des Völkerbunds und eine Reihe bilateraler Verträge in den 20er Jahren. Gleichzeitig entstanden mehrere Initiativen, die auf Einigung zielten, von denen Richard Coudenhove-Kalergis „Pan-Europa“ die bekannteste ist. Diese waren neben dem Wunsch nach Frieden zu einem nicht geringen Teil von der
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Sorge um den weiteren Erhalt der Vormachtstellung Europas in der Welt motiviert.³⁴ Was schnell deutlich wurde, war die Unklarheit des Zieles. Sollte Europa einfach als Art Übernation vereint oder etwas ganz Anderes werden? Es blieb vorerst bei einer folgenlosen Debatte, die neben anderen akuten gesellschaftlichen Richtungskämpfen, Sozialismus versus Parlamentarismus oder Faschismus vielleicht etwas utopisch, akademisch und weltfern wirkten. Allerdings, während die Kommunisten zunächst von einer Weltrevolution redeten, gab es innerhalb des Faschismus auch gewisse transnationale Bestrebungen, die Europa als Verein faschistisch und korporativ regierter Staaten vorsahen.³⁵ Noch 1941 wurde anlässlich des Dichtertreffens in Weimar eine Europäische Schriftsteller-Vereinigung (ESV) gegründet. Diese von Goebbels’ Propagandaministerium gelenkte Initiative vereinte antisemitische, antikommunistische sowie kollaborationsfreudige Schriftsteller von Portugal bis Finnland.³⁶ Das Europa, das diese Richtung vertrat, sah sich als Bollwerk des Abendlands gegen die politischen oder rassischen Bedrohungen aus dem Osten. Die Vorstellung einer „Festung Europa“ weicht allerdings nicht sehr von dem Bild ab, das andere Erdteile schon länger von Europa hatten. Das intern zersplitterte Europa zeigte sich, von außen betrachtet, schon immer als Einheit und in der Regel als einheitliche Bedrohung. Obgleich seit den Kreuzzügen nicht mehr als gemeinsames Projekt unternommen, schufen Jahrhunderte europäischer Expansionspolitik mit der Gründung von Kolonien und der wirtschaftlichen Unterwerfung anderer Kontinente ein recht homogenes Bild. Wie Gerard Delanty schreibt, beruhte die Einheit Europas nicht auf Frieden und Solidarität, sondern auf Kolonialismus und Eroberung.³⁷ Das Land des weißen Mannes wurde zuerst in Übersee als Einheit gesehen. Zunächst waren es die Kolonisierten, später aber auch die Kolonialisten selbst, die Europa von außen als Ganzheit betrachteten. Letzteres zeigt sich ganz deutlich an der Selbstverständlichkeit, mit der sich die Nachfahren europäischer Kolonisten in Nordamerika unter völliger Vernachlässigung der Überreste der dortigen Urbevölkerung als „Amerikaner“ bezeichnen und auf Europa als das inzwischen recht fremd gewordene Andere blicken. Nirgends zeigt sich ein Konflikt der Erzählungen deutlicher als in der Deutung der Kolonialgeschichte. Die europäischen Eroberer, die ihr Tun mit einer Zivilisierungsmission zu legitimieren versuchten, hatten natürlich eine ganz andere Sicht Weiteres dazu in Kapitel II. S. Gerard Delanty, Inventing Europe, Basingstoke/London 1995, S. 111– 119. S. dazu Frank-Rutger Hausmann, „Dichte, Dichter tage nicht!“ Die europäische SchriftstellerVereinigung in Weimar 1941 – 1948, Frankfurt/M. 2004. G. Delanty, Inventing Europe, S. 7.
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als die von ihnen zu unfreiwilligen Nutznießern ihrer Mission auserkorenen Bevölkerungen. Entscheidend ist, dass die europäische Identität, die in Übersee wahrgenommen wird, sowohl von ihren Trägern, als auch von den aus dieser Identität ausgeschlossen Anderen als eine „europäische“ gedacht wird, während der innereuropäische Identitätsdiskurs, wenn er einmal in Gange kommt, die außereuropäische Perspektive kaum wahrnimmt. Zugespitzt, aber zutreffend, schreibt Edgar Morin: Die Völker anderer Kontinente halten Europa deshalb zu dieser Zeit für den größten Aggressor der Neuzeit, eine Tatsache, die vielen Europäern sogar heute noch nicht ins Bewusstsein gedrungen ist.³⁸
Das Zeitalter des europäischen Imperialismus ist nach dem Zweiten Weltkrieg schnell zu Ende gegangen. Die ehemaligen europäischen Großmächte machten die Erfahrung, dass sie keine mehr waren und dass in der neu entstandenen Weltordnung des Kalten Krieges ihre eigene Souveränität sehr eingeschränkt war. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges war zumindest politisch und ökonomisch an eine Rückkehr zur vollen Selbstbestimmung der Nationen nicht mehr zu denken. Hans Magnus Enzensberger hat diesen Tatbestand, den bis heute viele nicht wahrhaben wollen, bereits 1964 kommentiert: Seitdem [seit dem Zweiten Weltkrieg CP] haben sich die produktiven (und destruktiven) Kräfte über welche die Menschheit verfügt, derart weiterentwickelt, daß die Nation als Form ihrer Organisation nicht nur obsolet, sondern zu einem lebensgefährlichen Hindernis geworden ist. Souveränität ist längst zur völkerrechtlichen Fiktion geschrumpft. Nur am Biertisch wird sie noch buchstäblich und ernst genommen.³⁹
Heute sind die Staaten Europas längst nicht mehr so autark, wie sie vielleicht vor hundert Jahren waren. Das liegt weitgehend an der globalen Verflechtung der Wirtschaft, die Strukturen geschaffen hat, die sich dem Machtbereich einzelner Staaten entziehen.⁴⁰ Als Reaktion darauf übertragen die Staaten viele Befugnisse auf internationale Organisationen wie die UNO, OECD und NATO und, in Europa, die EU. Innerhalb der Europäischen Union ist die Integration besonders sichtbar. Eine gemeinsame Währung und offene Grenzen, wenn nicht gerade eine Pande-
E. Morin, Europa denken. Frankfurt/M. 1988, S. 56 f. H. M. Enzensberger, Über die Schwierigkeit Inländer zu sein. In: Enzensberger: Deutschland, Frankfurt/M. 1967, S. 7– 13. (Hier S. 8). Zuerst auf Englisch in Encounter 127, 1964. J. Breuilly, Nationalism and the State, Chicago 1993, S. 395. Diese Realität versuchen M. Hardt und A. Negri (Empire 2000) mit dem Konzept des anonymen „Empire“ zu erfassen, das in seiner beispiellosen Anonymität kaum identitätsstiftendes Potenzial aufzuweisen vermag.
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mie wütet, sind besonders sichtbare Zeichen der Integration, die im postnationalen Alltag nahezu zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind also große Schritte auf dem Wege zur Einigung Europas getan worden. Doch die einzelnen Schritte haben nur mäßige Begeisterung erweckt. Die Antriebskräfte kamen aus Wirtschaft und Politik, weniger aus der Intelligenz. Eine europäische Zivilgesellschaft gibt es kaum. Dagegen haben neonationalistische Bewegungen den Einigungsprozess in letzter Zeit wiederum gebremst und teilweise sabotiert. Es ist offenbar, dass es schwerer fällt, Europa als Gemeinschaft zu imaginieren, als dies bei den einzelnen Nationenbildungen der Fall war. Auch wenn der moderne Nationalstaat als Modell in seiner klassischen Gestalt an das Ende seiner Geschichte geraten ist, so mindert das nicht das Bedürfnis nach Identifikationsraster. Wie Rudolf Speth feststellt, erfordert gerade die Integration einen Neuzugang zur Geschichte: „Europa braucht eine Vergangenheit, um eine Zukunft zu haben.“⁴¹ Europa hat eine Vergangenheit. Sie müsste nur anders erzählt werden. Ob eine kontinentale Geschichtsschreibung analog zur nationalen sinnvoll sein kann, ist eine Frage der Historiographie. Immerhin gibt es ein Gründungsmythos, doch kommt man mit dem namengebenden Mythos der Europa, jener asiatischen Schönheit, die Zeus in Gestalt eines Stiers nach Kreta entführte, nicht sehr weit. Es ist eine hübsche Geschichte, die mit den heutigen Europäern herzlich wenig zu tun hat. Man kann darin allenfalls mit Thomas Meyer den tieferen Sinn erkennen, dass sie von Vornherein die Abhängigkeit Europas von seinem Anderen, dem Orient, postuliert.⁴² Weniger erfreulich als der Mythos sind die historischen Erfahrungen des Erdteils. Als Gründungsmythos anderer Art dient die immer wieder in verschiedenen Varianten genannte Konfluenz der drei Grundströmungen, die zusammen Europas angebliche geistige Eigenart ausmachen, der antiken Kultur mit ihrem Rechtsverständnis, der judäo-christlichen Tradition mit ihrer Aufwertung des Individuums und der Dynamik der germanischen Stämme.⁴³ Nach diesem Verständnis würden die eigentlichen Anfänge Europas auf die Völkerwanderungszeit zurückgehen. Auch dieser Anfang liegt für den praktischen Zweck der Legitimierung der heutigen politischen und wirtschaftlichen Integration sehr weit zurück. Außerdem bedarf es zu einem richtigen Gründungsmythos einer gewissen Aktivität seitens des zu Gründenden. Dafür müsste zunächst Europa als histori R. Speth, Europäische Geschichtsbilder heute. In: Umkämpfte Vergangenheit, hg. von P. Bock u. E. Wolfrum, Göttingen 1999, S. 159 – 175. Hier S. 165. Th. Meyer, Die Identität Europas. Der EU eine Seele? Frankfurt/M. 2004, S. 34. S. z. B. H. Gollwitzer in Europabild und Europagedanke, München 1951, S. 13.
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sches Subjekt in Erscheinung treten. Das war in der Antike kaum der Fall. Dafür war die griechisch-hellenistische Zivilisation zu sehr nach Asien hin orientiert, und auch für das römische Reich bildete das europäische Festland eher die Peripherie, während sein Zentrum das Mittelmeer war. Es geht also darum, historische Anfänge dort zu suchen, wo die politischen Tätigkeitsfelder und ein gewisses kulturelles Selbstverständnis mit dem geographischen Raum des europäischen Kontinents korrelieren. Eine Korrelation des Bezugsraums mit dem europäischen Festland ergibt sich jedoch erst im Verlauf des Mittelalters und dann auch nicht geographisch, sondern religiös als Christentum verstanden. Diskursiv relevant wird Europa erst in der Aufklärung, als die gemeinsame zivilisatorische Basis nicht mehr allein religiös bestimmt wird.⁴⁴ Das bedeutet, dass zu den Fundamenten des heutigen Europas neben dem Christentum, das längst keine vornehmlich europäische Angelegenheit ist, in nicht geringem Maße auch die Säkularisierung gehört. Und die Säkularisierung geht Hand in Hand mit der Entwicklung der modernen literarischen Kultur. Die gemeinsame Vergangenheit ist unleugbar. Dazu gehören unbestrittene kulturelle und wissenschaftliche Leistungen. Politisch aber prägen Kriege und Eroberungen das Bild. Gemeinsames Leiden, aber eben nicht in gemeinsamer Sache. Daraus lässt sich schwer eine Geschichte konstruieren, die so wirksam wäre wie die vorgestellte Vergangenheit und Zukunft verbindende nationale Idee, die Renan folgendermaßen beschreibt: In der Vergangenheit ein gemeinschaftliches Erbe von Ruhm und von Reue, in der Zukunft ein gleiches Programm verwirklichen, gemeinsam gelitten, sich gefreut, gehofft haben – das ist mehr wert als gemeinsame Zölle und Grenzen, die strategischen Vorstellungen entsprechen.⁴⁵
Die Richtung, die ein europäisches Projekt einzuschlagen hat, um alle Europäer, gebürtige ebenso wie zugewanderte, einzuschließen, muss in einem entscheidenden Punkt von Renans nach wie vor überzeugendem Rezept der Nationenbildung abweichen. Das ist das Vergessen.⁴⁶ Wenn Renan die Rolle der erbrachten Opfer für die nationale Geschichte und die fortgesetzte Opferbereitschaft für die Zukunft betont, meint er nur die eigenen Opfer, Opfer die im Namen der wer-
Vgl. W. Schluchter, Rationalität – das Spezifikum Europas? In: Die kulturellen Werte Europas, hg. von H. Joas, Kl. Wiegandt, Frankfurt/M. 2005, S. 237– 264. Insbesondere S. 247 f. Renan wie Anm. 2. Dazu heißt es bei Renan gegen Ende des ersten Abschnitts: „Es macht jedoch das Wesen einer Nation aus, daß alle Individuen etwas miteinander gemein haben, auch, daß sie viele Dinge vergessen haben.“
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denden Nation erbracht wurden, nicht die Opfer des Prozesses selbst. Diese fallen wohlweislich dem Vergessen anheim. Was das impliziert, beschreibt Michel Wieviorka so: Wenn das Vergessene so oft für die Nation notwendig ist, dann auf Kosten der Erinnerung an Menschen, die für ihre Entstehung mit ihrem Blut bezahlt haben. Anders gesagt: Das Subjekt, das sich mit der Nation identifiziert, findet in ihr zugleich eine Identität und eine Erinnerung. Aber es hat auch, ob nun bewußt oder nicht, Anteil an den Prozessen der Produktion und Verbreitung einer Geschichte, die die Opfer, Verlierer und eventuelle Nachkommenschaft zu Amnesie, Vergessen und Verdrängung verdammt.⁴⁷
Das moderne Europa mit seinen gemeinsamen Institutionen ist aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs gewachsen. Zu seiner Identität gehören die Erinnerung an die Leiden und das Gedenken der Opfer. Die Erinnerungsarbeit und damit auch die Identitätsarbeit werden in großem Maße von der Literatur und verwandten Medien geleistet. Das im Prozess der Nationenbildung Verdrängte, Vergessene oder Stigmatisierte bemüht sich in der heutigen Gesellschaft zunehmend um Sichtbarkeit und Anerkennung. Indigene Völker und Sprachminderheiten wie Sámi und Sorben suchen im neuen Europa Gehör. Nicht zuletzt dank Interventionen der EU ist ihre Situation in den letzten Jahrzehnten besser geworden. Problematisch ist nur, dass die einzelnen Nationalregierungen oft ungerne von ihren Homogenisierungsbestrebungen absehen. Was das für eine mögliche europäische Geschichtsschreibung bedeutet, ist dass diese, anders als die großen Erzählungen der Nationalgeschichte, inklusiv sein müssen. Die Vorstellung, dass ein künftiges Europa sich analog zu den Nationalstaaten von gestern entwickeln muss, ist obsolet. Der Übertragung der Erfahrungen aus der Bildung der Nationen auf den Integrationsprozess sind Grenzen gesetzt. Doch die Frage nach den historisch gewachsenen Gemeinsamkeiten in Europa ist nicht nur von akademischem Interesse. Die Tatsache, dass sie immer wieder gestellt wird, zeugt immerhin von einem Bedürfnis nach Identifikation im kontinentalen Maßstab. Die Konsolidierung der Nation war in den gelungensten Fällen eng mit dem Ausbau des Bildungswesens verbunden. Die Alphabetisierung der Bevölkerung und die Befestigung der Nationalsprache, oft auf Kosten sprachlicher und kultureller Heterogenität, trugen im wörtlichen Sinne zur Bildung des Volks bei. Volk und Sprache wurden gemeinsam gebildet. Das kann heute nicht in derselben Weise wiederholt werden. Das europäische Volk ist bereits „gebildet“, und statt einer Kontinentalsprache gibt es eine Reihe hochfunktionsfähiger Nationalspra-
M. Wieviorka, Kulturelle Differenzen und nationale Identitäten, Hamburg 2003, S. 203.
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chen, die trotz der Rolle des Englischen als lingua franca kaum von Verdrängung bedroht sind. Weiterhin bedroht sind die kleinen Sprachen, die bereits im Nationalisierungsprozess überrumpelt wurden. Die Europäische Union hat seit ihren Anfängen wohlweislich nicht versucht, mit Pomp mit den Nationalstaaten zu konkurrieren. Zwar hat man sich auf eine Hymne geeinigt. Man bekommt sie aber bei offiziellen Anlässen kaum zu hören. Eine Fahne gibt es auch, aber diese hat in der Praxis lediglich die Funktion eines Logos. So bleibt die öffentliche Selbstdarstellung der Union vergleichsweise bescheiden. Ein europäisches Wir-Gefühl gibt es bestimmt, aber es ist den meisten so selbstverständlich, dass es nicht eigens artikuliert zu werden braucht. Das merkt man nicht zuletzt an den Ess- und Reisegewohnheiten der Europäer. Allerdings sind das eigentlich schon globale Erscheinungen. Die Möglichkeit, heimatliche Gefühle gegenüber Europa zu empfinden. hat nichts mit der Zustimmung oder Nichtzustimmung zur Institutionalisierung europäischer Belange zu tun. Unter den schärfsten Kritikern der europäischen Union befinden sich durchaus emphatisch „bekennende“ Europäer wie Hans Magnus Enzensberger.⁴⁸ Das Problem scheint zu sein, dass der reale Integrationsprozess und die öffentlichen Diskurse auseinanderdriften. Zwar können wohl gemeinte gezielte Maßnahmen wie der Erasmus-Austausch in einem kleineren Umfang zur Entwicklung eines Wir-Gefühls beitragen. Eine große kollektive Bildungsanstrengung, wie sie seit der Aufklärung im nationalen Rahmen stattfand, gibt es heute nicht. Europäische Diskurse finden in Wirtschaft und Wissenschaft und allen möglichen Teilbereichen statt, bleiben jedoch fragmentiert und ersetzen nicht die Art von Öffentlichkeit, die in geglückten demokratischen Nationalstaaten die Gemeinschaft befestigt. Das merkt man am Fehlen eines genuin europäischen Literaturfelds. So fehlt dem literarischen Leben der Einfluss, den es im 19. Jahrhundert bei den einzelnen Nationen gehabt haben mag, auch wenn sich Schriftsteller eifrig am politischen und kulturellen Diskurs über Europa beteiligen und, wie hier zu zeigen sein wird, Werke produzieren, die sich kaum in die Schranken der Nationalität einfassen lassen.
Die Nationalstaaten pflegen ihre Bürokratie mit Pomp zu überdecken.Wo der Pomp fehlt, fällt im öffentlichen Bewusstsein zunächst vor allem die Bürokratie auf. Das ist Enzensbergers Ausgangspunkt in Sanftes Monstrum Brüssel (Frankfurt/M. 2011). Die Bürokratiekritik wird dagegen von R. Menasse in Der europäische Landbote (Wien 2012) relativiert.
Deutsch in der Mitte Europas
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Deutsch in der Mitte Europas. Sprache der Nation oder europäische Kultursprache? Das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Hochsprache bedeutet natürlich nicht, dass es keine grenzüberschreitenden Sprachen in Europa gegeben hat und noch gibt. Im Mittelalter war die Stellung des Lateinischen, sorgsam von der Kirche gepflegt, unangefochten. Im achtzehnten Jahrhundert erreichte die Sprache der Großmacht Frankreich einen ähnlichen Status. Als Verkehrssprache war auch Deutsch im 18. und 19. Jahrhundert besonders in Nord- und Mittel- und Osteuropa weit verbreitet. Dort befinden sich die Ränder, um die es in dieser Untersuchung geht. Allerdings stand die deutsche Sprache in den vergangenen Jahrhunderten in einem besonders angespannten Verhältnis zur Nation. Statt die von der regionalen Großsprache gebotenen Möglichkeiten zu würdigen, setzte die nationalromantische Bewegung in Deutschland auf ethnische Exklusivität. Deutschland gehört zu den Ländern, deren nationales Selbstverständnis seit den Anfängen des modernen Nationalismus aufs Engste mit der Sprache verbunden ist. Grundlage der Idee der Sprachgemeinschaft als Grundstein einer Nation ist die von Herder propagierte und von der Romantik emphatisch betonte Vorstellung von einem Volksgeist, der sich in der Dichtung und den Sagen eines Volkes äußert. Solchen Vorstellungen gemäß, wurde schließlich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die volkssprachliche Dichtung in ihren erhabensten Werken zum gleichwertigen Bildungsgut neben den klassischen Kanon der Antike gehoben. Der übertriebene Anspruch ist Ausdruck des nationalen Enthusiasmus einer politisch impotenten intellektuellen Bewegung, die außer der Sprache nichts spezifisch Nationales vorzuweisen hatte. Aufschlussreich ist der Vergleich mit der Entwicklung im Verhältnis anderer europäischer Sprachen zu ihren jeweiligen Nationen. In Frankreich war zuerst die politische Einheit da, und das normierte Französisch wurde energisch durchgesetzt, um im Nachhinein dem vorhandenen Staat die nationale Einheit zu verschaffen.Was das Englische betrifft, so ist das Verhältnis zur nationalen Idee noch lockerer. Ohnehin eingegangen in ein Vereinigtes Königreich, das den Namen der Kernnation nicht einmal mehr trug, war der Nationalismus des 19. Jahrhunderts weniger ethnisch und sprachlich orientiert als es die Regel auf dem europäischen Festland war. Englisch war weder von den kleineren britischen Sprachen noch von den Nachbarsprachen auf dem europäischen Festland bedroht. Das „Rule Britannia“ war Ausdruck geographisch und historisch begründeter Zuversicht. Englisch war, wie die romanischen Sprachen Spanisch, Portugiesisch und Französisch, bereits im 19. Jahrhundert nicht mehr exklusiv eine europäische Sprache. Mit der Unabhängigkeit und dem raschen Wachstum der Vereinigten Staaten
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bekam das Englische ein zweites Zentrum, was einen entscheidenden Schritt zu seiner heutigen Stellung als polyzentrische Weltsprache darstellt. In Deutschland und Mitteleuropa war dagegen eine weit verbreitete Sprachgemeinschaft mit zahlreichen regionalen Variationen lange vorhanden, bevor überhaupt eine mehr als nur nominelle politische Einheit erzielt werden konnte. Auf diese Sprachgemeinschaft berief sich Ernst Moritz Arndt, als er fragte „was ist des Deutschen Vaterland?“⁴⁹, um als Antwort, wie nach ihm Hoffmann von Fallersleben, die abgelegensten Regionen aufzuzählen, wo deutsche Mundarten gerade noch gesprochen wurden. Spätestens in der Romantik wurde der ganze Sprachraum als Vaterland reklamiert, ungeachtet der Tatsache, dass die deutschen Dialekte zumindest an den Rändern dieses angeblich gemeinsamen Sprachraums gegenseitig unverständlich waren. Immerhin konnte man sich im ganzen Raum inzwischen hochsprachlich, schriftlich verständigen. Deutsch, das im 19. Jahrhundert einen großen Teil Europas als Verkehrs- und Bildungssprache deckte, war in Wirklichkeit viel mehr als nur das Bindemittel eines einzigen Volkes. Das nicht erkannt zu haben, ist der Kern dessen, was ich als nationalromantisches Missverständnis bezeichnen möchte. Es steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem tragischen Verlauf der europäischen Geschichte im vergangenen Jahrhundert und der verhängnisvollen Rolle, die das deutsche Nationalverständnis in dieser Geschichte gespielt hat. Was die Übereinstimmung des deutschen Sprachraums mit einem Nationalstaat auf klar abgegrenztem Gebiet von vornherein erschwerte, war das Fehlen einer klaren Grenze im Osten. Der deutsche Sprachraum in der Mitte Europas bildete über Jahrhunderte bis nach dem Ersten Weltkrieg einen eigenartigen Zwischenraum zwischen den westlichen Ländern, die jeweils seit dem Ausgang des Mittelalters erkennbare nationale Identitäten entwickelt hatten, und dem europäischen Osten mit seiner Völker- und Sprachenvielfalt und wechselnden Herrschaftsverhältnissen. Zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer lebten jahrhundertelang deutsch- und anderssprachige Gemeinschaften in engster Nachbarschaft. Verschiedene Kolonisationswellen aus dem bevölkerungsreichen westlichen Kerngebiet des deutschen Sprachraums – im Mittelalter im Schlepptau der Kreuzzüge ins Baltikum und in späteren Jahrhunderten nach Südosteuropa, an die Donau, in das Banat und bis an die Wolga – trugen zur sprachlichen Heterogenität Ostmitteleuropas bei.
In seinem Propagandagedicht aus den napoleonischen Kriegen zählte der Greifswalder Professor alle damaligen deutschsprachigen Regionen auf. E. M. Arndt: „Des Deutschen Vaterland“ 1813. Im Projekt Gutenberg. https://www.projekt-gutenberg.org/arndt/gedichte/chap029.html [abgerufen am 31.1. 2021].
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Am Ende des 19. Jahrhunderts war die westliche Hälfte Europas weitgehend klar aufgeteilt in ethnisch und sprachlich einigermaßen homogene Nationalstaaten, während die Imperien im östlichen Europa sprachlich und ethnisch gemischt waren. Preußen hatte eine relativ kleine polnische Minderheit, während Österreich-Ungarn dagegen sehr heterogen war und deutsche Muttersprachler nur eine Minderheit unter vielen waren. Die Ende des 18 Jahrhunderts eingeführte josephinische Sprachreform, die Deutsch gegenüber den anderen Sprachen des Reichs privilegieren sollte, war wenig erfolgreich und erstreckte sich in der Praxis vor allem auf die Verwaltung.⁵⁰ Dieser Tatbestand stand nicht zuletzt der Beteiligung der Habsburger Länder am nationalen Einigungsprozess im 19. Jahrhundert maßgeblich im Wege. Denn als infolge der Märzrevolution von 1848 bei der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche an einer Reichsverfassung für alle Deutschen zwischen Maas und Memel geschustert wurde, blieb für das riesige vielsprachige Österreich schließlich kein Platz. Bei der langwierig geführten Debatte, ob ein groß- oder kleindeutsches Reich anzustreben sei, ging es im Grunde darum, wie viel ethnische und sprachliche Heterogenität man im neuen Nationalstaat zulassen wollte. Anders ausgedrückt, es ging um den Gegensatz zwischen einer nationalen und einer imperialen Sicht, wobei die nationale Sicht ein emotionales Verhältnis zur Sprache impliziert, die imperiale dagegen eher ein administratives. Vom Ausschluss Österreichs versprach sich die kleindeutsche Partei im verbliebenen Deutschland eine deutlich größere ethnische und sprachliche Homogenität. Die vom Heiligen Römischen Reich geerbte imperiale Tradition wurde dagegen Österreich überlassen. Deutsch stand im neunzehnten Jahrhundert zwischen den beiden Polen. Gegenüber den slawischen Sprachen der Donaumonarchie spielte Deutsch im Osten die Rolle der imperialen Verkehrssprache, gegen die der Sprachnationalismus der einzelnen Völker aufbegehrte, während es im Westen schon seit den Bemühungen der Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert selbst Fokus eines sprachlichen Nationalismus war. Und der deutsche Nationalismus – auch der Sprachnationalismus – bemühte sich eifrig um den Ausschluss des Fremden. Die multikulturellen Räume der Donaumonarchie waren dem deutschen Nationalismus suspekt, und der zunehmende Antisemitismus sprach jüdischen Autoren nicht nur das Recht, sondern auch die Fähigkeit Deutsch zu schreiben ab. Um die Sprache als Grund, Menschen aus der deutschen Gemeinschaft auszuschließen, angeben zu können, bediente sich der Antisemitismus Argumente, die bis zur Absurdität hin und hergedreht wurden. In seiner nahezu als klassisch
W. M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, Wien, Köln, Graz 1974, S. 33.
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zu bezeichnenden Schmähschrift Über das Judentum in der Musik (1869) schrieb Richard Wagner: Der Jude spricht die Sprache der Nation, unter welcher er […] lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer […] in dieser Sprache kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich reden, dichten oder Kunstwerke schaffen.⁵¹
Der implizite Ausschluss von Juden und anderen Minderheiten aus dem Kern dessen, was als deutsche Kultur gelten durfte, stellt einen beachtlichen Teil der „deutschen Literatur“ der letzten anderthalb Jahrhunderte in ein sehr ambivalentes Verhältnis zur deutschen Nation. Es ist daher kaum zufällig, dass in der vorliegenden Studie auffallend viele jüdische Autoren vertreten sind. Das Verhältnis der Juden zur deutschen Sprache musste sich in dem Maße der Ethnisierungstendenz der nationalistischen Sprachpolitik widersetzen wie der Antisemitismus sie mit rassischen Argumenten aus dem deutschen Gemeinwesen auszugrenzen versuchte. Dabei war die Teilhabe jüdischer Autoren an der deutschsprachigen Hochkultur, wie Stephan Braese überzeugend ausgeführt hat, selbst erst ein Produkt der Aufklärung.⁵² Durch die Übernahme der deutschen Sprache für philosophische und theologische Schriften und für Übersetzungen aus dem Hebräischen verschafften sich jüdische Gelehrte der Generation Moses Mendelssohns den Anschluss an die europäische Öffentlichkeit – Braese spricht in diesem Zusammenhang von der damit errungenen „Europäizität“⁵³ des Deutschen. Aber kaum war dieser wesentliche Schritt in der Emanzipation des europäischen Judentums getan, schon drohten sprachnationalistische Besitzansprüche diesen wieder rückgängig zu machen: Die historische Zerstreuung der Juden über weite Teile Europas wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor neue Herausforderungen gestellt, als die sich formierenden europäischen Nationalbewegungen das Ideologem ethnisch homogener Völker politisch umzusetzen begannen und die relative Akzeptanz diasporischer Minoritäten durch die vor-nationalen Imperien außer Kraft setzten. In dem Maße, in dem die Sprache zu einem zentralen Kennzeichen ethnischer Zugehörigkeit ernannt, d. h.: ethnifiziert wurde, waren auch die
Zit. nach Paul Peters, Heinrich Heine „Dichterjude“. Die Geschichte einer Schmähung, Frankfurt/M. 1990, S. 71. An dieser Stelle will Wagner den Dichter Heinrich Heine diffamieren. Die Sprache des Dichters sei geschickt, aber nicht authentisch. Der jüdische Dichter parodiere geradezu die wahre Dichtung und usurpiere somit die deutsche Sprache, die nicht die seine sein kann, weil er als Vertreter eines heimatlosen Volkes auch keine sprachliche Heimat haben könne. St. Braese, Eine europäische Sprache: deutsche Sprachkultur von Juden 1760 – 1930, Göttingen 2010. St. Braese, Eine europäische Sprache, S. 20.
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deutschen Sprachkulturen tangiert. Schrieb Jacob Grimm der deutschen Sprache im Zeichen ihrer nationalistischen Funktionalisierung ausdrücklich die Aufgabe zu, „die grenze [zu] setzen“, erfüllte die deutsche Sprache für Juden in Riga und St. Petersburg, Czernowitz, Breslau, Posen, Triest, aber auch in Berlin, Prag und Wien weiterhin ihre traditionelle Rolle als die lingua franca aufgeklärter Juden: Sie zielte darauf, Kommunikation zu erleichtern und Teilhabe an der „Hochkultur“ zu ermöglichen, ohne ethnische, nationale oder politische Grenzen zu ziehen. Eine entscheidende Differenz zwischen der deutschen Sprachkultur von Juden und der von Deutschen begann sich zu entfalten.⁵⁴
Aus den polyglotten Nebenzentren des Habsburger Reichs stammten Autoren wie Kafka, Roth und Celan. Das Nebeneinander verschiedener Sprachen und Bevölkerungen in diesen Nebenzentren war nicht unbedingt immer harmonisch. Prag, das westlichste dieser Zentren und dem neu formierten Deutschen Reich nächstgelegen, erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nachdem die Mehrheitsverhältnisse in der Stadt sich umkehrt hatten und Deutsch zur Minderheitssprache wurde, einen vielgestaltigen Konflikt. Dabei ging es nicht nur um das Verhältnis zwischen Deutsch und Tschechisch, sondern auch um den Status des Prager Deutsch selbst. Nach Scott Spector hatten sich die Prager noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihres besonders reinen Deutsch gerühmt, das durch seine Sprachinselsituation von Einflüssen aus ländlichen Dialekten frei war.⁵⁵ Diese Meinung kehrte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte unter dem Einfluss des Sprachnationalismus in ihr Gegenteil. Dem Prager Deutsch fehle, wie prominente Autoren wie Fritz Mauthner meinten, die Verwurzelung im Volk.⁵⁶ Ob das tatsächlich gerade für Prager Juden, wie Mauthner einer war, nachteilig war, ist angesichts des zunehmenden Chauvinismus und Antisemitismus im deutschen Nationalismus fraglich. Franz Kafka zog aus der sprachlichen Situation der Stadt andere Schlussfolgerungen. Seine zwar ironischen Äußerungen zur jiddischen Sprache bzw. zum etwas weiter gefassten „jüdischen Jargon“⁵⁷ belegen, dass er keineswegs der Trennung von Sprache und Territorium abgeneigt war. Die Schwierigkeit des Schreibens als Jude in der Sprache der Prager Minderheit kommentierte er ambivalent 1921 in einem Brief an Max Brod, als er von den drei Unmöglichkeiten schrieb, der „Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, nicht deutsch zu schreiben, der
St. Braese, Eine europäische Sprache, S. 16 f. S. Spector, Prague Territories: National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafkas Fin de Siècle, Berkeley, CA 2000. S. 75. Spector 2000, S. 78 ff. So der Duktus von Kafkas ironischer „Rede über die jiddische Sprache“ vom 18. 2.1912. https:// www.oppisworld.de/zeit/judentum/jkafka.html [abgerufen am 31.1. 2021].
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Unmöglichkeit, anders zu schreiben“. Als kleinen Nachtrag erwähnt er gleich als vierte Unmöglichkeit, „die Unmöglichkeit zu schreiben“.⁵⁸ Der immanente Exklusivitätsanspruch des deutschen Sprachnationalismus verbunden mit der romantischen Mystifizierung der Nationalkultur war für die Entwicklung eines demokratischen nationalen Selbstverständnisses eher hinderlich. Infolge der Ethnisierung des Volksbegriffs fehlte in Deutschland der Universalismus, der dem französischen Citoyen-Begriff seit der Revolution zugrunde lag. Dieser Umstand, Teil des sogenannten „deutschen Sonderwegs“, dürfte wesentlich zu der weitverbreiteten verhängnisvollen politischen Abstinenz der deutschen Wissenschaftler und Kulturschaffenden am Ende des neunzehnten und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beigetragen haben.
Zur Methode: Textinterne Erfindung von Gemeinschaft und multikulturelle Lebensläufe Mehr noch als andere Kunstgattungen trägt die Literatur zur Gestaltung des jeweils waltenden Menschenbilds bei, und wenn ihr privilegierter Status in der Gesellschaft heute von anderen Medien und Gattungen angefochten wird, so liegt es daran, dass auch diese die Funktion der Generierung von identifikationsstiftenden Narrativen ausüben. Literatur stellt insbesondere mit dem Roman eine intime Möglichkeit des öffentlichen Diskurses dar, bei der regelmäßig individuelle Identitäten, ob real, leicht fiktionalisiert oder völlig frei erfunden, im Mittelpunkt stehen. In den einzelnen Texten werden in der Regel einzelne Lebensläufe dargestellt. Durch ihre Darstellung im Roman werden sie zu Bestandteilen des öffentlichen Diskurses und bekommen dadurch einen paradigmatischen Charakter, womit sie auch zur Konstituierung oder Modifizierung von kollektiven Identitäten beitragen können. Im Zusammenhang der Entwicklung von Identitätsmodellen ist die Literatur als Untersuchungsgegenstand in doppelter Hinsicht interessant, denn sie ist einerseits Zeuge der gesellschaftlichen Entwicklung, andererseits auch Teil dieser Entwicklung. Literarische Gestalten können vorbildlich oder abschreckend wirken. Die großen Bildungs- und Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts waren oft geradezu auf die Funktion des Gesellschaftskommentars hin konzipiert und wurden so gelesen. Die Allianz zwischen Literatur und Bildung im nationalen Projekt setzte quasi solche Lesarten voraus. Ob sie inzwischen obsolet geworden sind, nachdem die Literatur ihre privilegierte Stellung als leitende Kunstform
F. Kafka, Briefe 1902 – 1924. Frankfurt/M. [New York] 1958, S. 337 f.
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eingebüßt hat, wäre zu fragen. Der historische Wert von Romanen steht, wie etwa Edward Saids Überlegungen zu Jane Austen oder Joseph Conrad zeigen, außer Frage.⁵⁹ Wie aus dem Vorangegangenen deutlich geworden sein dürfte, zielt die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung über die Grenzen einer traditionell aufgefassten Literaturwissenschaft hinaus. Sie fällt methodisch in dem Sinne in den Bereich der Literatursoziologie, als es um die gegenseitige Interaktion von Literatur und Gesellschaft geht, wobei sowohl die Stellung von Literatur in der Gesellschaft als auch unterschiedliche Abbilder und Entwürfe der Gesellschaft in der Literatur im Blickfeld stehen. Aus einzelnen literarischen Werken selbst wie aus den Umständen ihrer Produktion sollen Hinweise auf Identitätskonzeptionen und soziale Befindlichkeiten gewonnen werden. Erkenntnisse aus literarischen Werken sind in verschiedenen Wissenschaftszweigen nutzbar gemacht worden. Rückgriffe auf die Literatur gibt es regelmäßig in der Anthropologie und der Soziologie. In der Psychiatrie hat bekanntlich Sigmund Freud nachhaltige Anregungen aus der Literatur und der überlieferten Mythologie gewonnen. Mit der Frage des Erkenntniswertes literarischer Beispiele für soziologische Fragestellungen setzen sich Helmut Kuzmics und Gerald Mozetič in ihrer Studie Literatur als Soziologie systematisch auseinander. Sie gehen davon aus, dass literarische Beispiele in drei verschiedenen Rollen auftreten, als Illustration, als Quelle und schließlich auch als eigenständige Analysen gewisser sozialer Sachverhalte.⁶⁰ In Anlehnung an Leo Löwenthal betrachten sie literarische Texte als ergiebige Quellen für die Untersuchung der Interaktion von privatem Leben und gesellschaftlichem Klima.⁶¹ Während die Literatur keine quantitativen Erhebungen durchführen kann und somit nicht als exakte Wissenschaft gelten darf, kann sie sehr wohl repräsentative Modelle liefern, die qualitative Erkenntnisse ermöglichen. Zur wissenschaftlichen Aussage fehlt der Literatur, sofern sie fiktional ist, neben der Quantifizierbarkeit, die Überprüfbarkeit.⁶² Diese bleibt der Sozialwissenschaft selbst überlassen. Dennoch können literarische Fiktionen Sachverhalte in ihren psychologischen und sozialen Konsequenzen oft viel genauer, d. h. tiefgründiger, eruieren, als es die Wissenschaften mit ihrer genormten Begrifflichkeit zu tun vermögen. Ein Roman kann keine historische Darstellung ersetzen, aber in Bezug auf Zeitgeist, Stimmungen und Verhaltensweisen dürfte er in seinem Er E. Said, Culture and Imperialism. London 1993, S. 95 ff. H. Kuzmics, G. Mozetič, Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz 2003. S. 26 f. H. Kuzmics, G. Mozetič, Literatur als Soziologie, S. 30. H. Kuzmics, G. Mozetič, Literatur als Soziologie, S. 109.
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kenntniswert authentischen Dokumenten ebenbürtig sein. Das demonstrieren Kuzmics und Mozetič an verschiedenen Beispielen, angefangen mit Joseph Roths Radetzkymarsch, einem Werk, das eine bestimmte Sicht auf die letzten Jahre der K.-u.-K. Monarchie bietet: Die Stärke des Romans liegt in der Verdeutlichung dessen, was in wissenschaftlichen Werken meist mit bloßen Begriffen und Zahlen benannt wird, und von dem man daher nicht weiß, was es lebensweltlich bedeutet. Könnten wir etwa Max Webers Bürokratiekonzept so genau wiedergeben, wie das der Bezirkshauptmann Trotta im Hinblick auf die Subordination für unverzichtbar hält, hätten wir damit noch nicht „verstanden“, zu welchen Leistungen und Selbstzwängen die Menschen in einem bürokratischen Leben verpflichtet werden.⁶³
Das fiktive Modell liefert hier einen Eindruck von den Auswirkungen eines zeittypischen Rollenverständnisses für die interpersonale Dynamik in einer bestimmten historischen Situation. Benedict Anderson führt in der erweiterten Fassung seines Buches Imagined Communities sogar ein konkretes Beispiel dafür an, wie ein fiktionales literarisches Werk am Prozess der nationalen Bewusstseinsbildung teil hat. Anderson versteht die Nation als eine „vorgestellte Gemeinschaft“ von Menschen, die sich unmöglich alle persönlich kennen können. Ihr Gemeinschaftsgefühl müssen sie daher aus der Gleichzeitigkeit gewisser Erfahrungen, etwa der Zeitungslektüre beziehen. Am Beispiel des philippinischen Romans Noli me tangere von José Rizal versucht er nachzuweisen, wie dort in der einleitenden Szene, welche die Verbreitung eines Gerüchtes von Mund zu Mund auf den Straßen Manilas schildert, ein Gemeinschaftsgefühl unter Fremden konstituiert wird.⁶⁴ In einem weiteren Schritt versucht Anderson noch zu demonstrieren, wie durch die Einbeziehung der Leser als Adressaten in die vorgestellte Gemeinschaft des Romans dieser zur Bildung einer nationalen Identität beitragen kann. Auch wenn man mit Jonathan Culler die einzelnen Schritte seiner Beweisführung aus narratologischer Sicht kritisieren kann,⁶⁵ bleibt der Grundgedanke, dass fiktive Gemeinschaften im Roman konstituiert werden, die auch Auskunft über das Identitätsempfinden realer Gemeinschaften geben können, bestehen. Da der Dialog zwischen Werk und Leser bei sehr unterschiedlichen narrativen Mustern zustande kommen kann, und die Erfindungen des Autors unabhängig
H. Kuzmics, G. Mozetič, Literatur als Soziologie. 120 f. B. Anderson, Imagined Communities. (revised ed.) London, New York 1999, S. 26 ff. J. Culler, Anderson and the Novel. In: Diacritics 29 (1999), H. 4, 20 – 39. Culler stellt insbesondere Andersons Übertragung der Vorstellung von Lesergemeinde vom Zeitungsbereich auf den Roman in Frage, da die Romanlektüre deutlich weniger zeit- und raumgebunden ist wie die der Zeitung.
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von der gewählten Erzählsituation von den Lesern in einen Bezug zu ihren eigenen jeweiligen Erfahrungen gesetzt werden, kommen in den folgenden Untersuchungen sehr unterschiedliche Fiktionalisierungsstrategien vor. Die Autoren, die in den folgenden Kapiteln behandelt werden, haben sich in Essays, autobiographischen Äußerungen, Romanen und Gedichten mit der Problematik von Heimat und Identität und mit dem Verhältnis der persönlichen Identität zu den jeweiligen Vorgaben öffentlicher Identitätsoptionen beschäftigt. Als öffentliche Aussagen Einzelner agieren ihre Texte im Zwischenbereich zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen und können als Versuche gedeutet werden, vorhandene Möglichkeiten zu sondieren. Die Annahme dürfte gerechtfertigt sein, dass am ehesten solche Autoren über grenzüberschreitende Identität nachdenken, die selber in verschiedenen Ländern gelebt haben. Thomas Keller spricht in diesem Zusammenhang von „multikultureller Biographie“ als einer spezifischen Form von Hybridität.⁶⁶ Multikulturelle Lebensläufe können Kinder von Mischehen, Vertreter ethnischer Minderheiten sowie freiwillige und unfreiwillige Migranten aller Art haben. Das Material der Untersuchung lässt sich grob nach dem Hintergrund der behandelten Autoren einteilen. Diese fallen ungefähr in vier Kategorien: 1. Autoren mit unfreiwilligen „multikulturellen Lebensläufen“: Überlebende des Holocaust, Emigranten, usw. (Jean Améry, Thomas Mann, Hilde Spiel) 2. Freiwillige Migranten der Nachkriegsgeneration (Peter Handke, W. G. Sebald) 3. Autoren, die ohne besonderen internationalen Hintergrund wandelnde Identitätskonstruktionen reflektieren.⁶⁷ 4. Migranten nichtdeutscher Herkunft, die im deutschen Sprachraum leben und auf Deutsch schreiben. Allen gemeinsam ist der Umstand, dass sie sich einem homogenen Nationalitätsverständnis kaum unterordnen lassen. Darum kann man auch die Literatur, die in der Untersuchung behandelt wird, auch wenn die untersuchten Werke auf Deutsch geschrieben wurden,⁶⁸ nur mit erheblichen Einschränkungen als „deutsche“ Literatur bezeichnen. Sie kann man am Ehesten als exonational bezeichnen.⁶⁹ Es handelt sich um Literatur aus Deutschland und Österreich, Literatur von
Th. Keller, Einleitung. In: Interkulturelle Lebensläufe, hg. von B. Thum, Th. Keller, Tübingen 1998. Zu dieser Gruppe zähle ich Alfred Andersch trotz seines späteren Wohnsitzes im Tessin Hilde Spiels Lisas Zimmer erschien zunächst auf Englisch als The Darkened Room. Das Wort ist bewusst gewählt, um damit den ganzen Kontroversen um Begriffe wie Deterritorialisierung‚ Trans- Inter- oder Multikulturalität aus dem Weg zu gehen. Das Präfix exo- soll nur zum Ausdruck bringen, dass sie außerhalb des nationalen Kontextes zu betrachten ist.
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Emigranten, die außerhalb des deutschen Sprachraums wirkten, und nicht zuletzt von Immigranten, die aus der multikulturellen Realität des heutigen Europas nicht wegzudenken sind.
II Die Welt von Gestern und ihr gewaltsames Ende Den Begriff „Nation“ haben westeuropäische Gelehrte erfunden und zu erklären versucht. Die alte österreichischungarische Monarchie lieferte den scheinbar praktischen Beweis für die Nationalitäten-Theorie. Das heißt, sie hätte den Beweis für das Gegenteil dieser Theorie liefern können, wenn sie gut regiert worden wäre. Die Unfähigkeit ihrer Regierungen lieferte den praktischen Beweis für eine Theorie, die also durch einen Irrtum erhärtet wurde und sich durchgesetzt hat, dank den Irrtümern.¹ Joseph Roth
Die in diesem Kapitel behandelten Werke weisen Spuren eines kosmopolitischen Denkens auf, das auf eine Tradition zurückblickt, die älter ist als der extreme Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts und doch einen Aspekt der Lebensrealität der Zeit reflektiert. Auch das Kapital floss in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg relativ frei über die europäischen Grenzen, die erst mit der Zuspitzung der politischen Gegensätze und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges grundsätzlich undurchlässiger wurden. Bis dahin wurde in gewissen privilegierten Gesellschaftsschichten ein gesamteuropäischer Lebensstil gepflegt. Für einen Elias Canetti oder einen Harry Graf Kessler war es relativ selbstverständlich, zwischen verschiedenen europäischen Ländern und Regionen umzuziehen. Ebenso selbstverständlich war es in vielen Familien, mehrere Sprachen nebeneinander zu benutzen.² Solche Lebensläufe sind wohl nicht im späteren Sinne als multikulturell zu bezeichnen. Sie sind verspätete Erscheinungen einer gemeinsamen und im weitesten Sinne aristokratischen, transnationalen und mehrsprachigen Kultur, für die Mobilität zwischen europäischen Metropolen und Kurorten noch eine Selbstverständlichkeit war. Die aristokratische Gesellschaft war mit Hermann Broch „noch immer ‚die‛ Gesellschaft und eben darum international.“³ Dieses Kosmopolitentum gehörte noch der von Stefan Zweig beschriebenen „Welt von Gestern“ an, deren Nachleben bis in die frühen Jahre der antifaschistischen
J. Roth, Juden auf Wanderschaft, in: Werke, hg. von H. Kesten, Köln, Berlin 1956, Bd.3 S. 635. St. Zweig, Die Welt von Gestern, Frankfurt/M. 1952, S. 21; Elias Canetti: Die gerettete Zunge, München, Wien 1980. H. Broch, Hofmannsthal und seine Zeit. München 1964, S. 75. https://doi.org/10.1515/9783110706338-004
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Emigration hineinragt. Überreste eines adligen Kosmopolitentums pflegten zusammen mit Kaufleuten und Künstlern einer internationalen Boheme einen Lebensstil, der die Schranken der einzelnen Nation kaum wahrnahm. Bestimmte Zentren – allen voran Paris⁴ – zogen Künstler und Schriftsteller aus ganz Europa an. In den feineren internationalen Kurorten bewegte sich ein Publikum, dessen ständische Gemeinsamkeit mögliche ethnische Differenzen nivellierte. Gerade diesem Publikum setzte Thomas Mann mit seinem paradigmatischen Europaroman Der Zauberberg ein Denkmal.
Europakonzepte der 20er Jahre Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass der auf übernationale Zusammenarbeit zielende Europa-Diskurs der Zwanziger Jahre in starkem Maße von Aristokraten getragen wurde. Am prominentesten trat Richard Coudenhove-Kalergi mit der Gründung der Paneuropa-Bewegung hervor, aber auch andere Aristokraten wie der Österreicher Karl Anton Rohan⁵ und der Deutsch-Balte Hermann Graf Keyserling beteiligten sich an der Europa-Diskussion. Auf dem Familiengut im damals zum russischen Reich gehörenden Estland geboren, wuchs Keyserling am Rande der deutschen kulturellen Einflusssphäre auf. Wie Hermann Hesse interessierte er sich für asiatische Philosophie. Auf einer Weltreise 1911– 1912 sammelte er Eindrücke u. a. aus Indien, China und Japan, die er im Reisetagebuch eines Philosophen veröffentlichte. 1920 gründete er in Darmstadt eine „Schule der Weisheit“. 1928 veröffentlichte er in Das Spektrum Europas einen Überblick über die europäischen Verhältnisse, in welchem er zunächst die Eigenschaften der verschiedenen Völker Europas, eingeteilt nach Nationen oder, im Falle des Baltikums und des Balkans, nach Regionen zu bestimmen sucht. Darin bekennt er sich explizit als Adliger zur übernationalen Identität: Jeder Fürst steht innerlich oberhalb der Nationen, jeder Aristokrat fühlt sich Standesgenossen anderer Nation verwandter als Volksgenossen anderen Niveaus. […] – als was finde ich mich? An erster Stelle als mich selbst, an zweiter als Aristokraten […] an fünfter als Europäer, an sechster als Balten, an siebenter als Deutschen, an achter als Russen [usw.]⁶
S. dazu P. Casanova, The World Republic of Letters, insbesondere S. 68 ff. Rohan, Gründer des Europäischen Kulturbundes und des Journals Europäische Revue, war an einer Einheit Europas im paneuropäischen Sinne nicht interessiert, aber er identifizierte sich kulturell soweit mit Europa, dass seinen Memoiren 1954 als Heimat Europa betitelte. H. Keyserling, Das Spektrum Europas. Heidelberg 1928, S. 450.
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Teilweise psychologisierend, baut Keyserling in seinem Buch aus einer Mischung von Beobachtung und Klischees einen Argumentationsstrang auf, der vor abenteuerlichen Verallgemeinerungen nicht zurückscheut. Im letzten Kapitel gipfelt das Argument in einer Synthese, bei der, nach der Darstellung der innereuropäischen Unterschiede, angesichts des wachsendenden Einflusses der anderen Erdteile nunmehr das grundsätzlich Ähnliche betont wird: Früher konnte der Unterschied zwischen deutschem und französischem Wesen als primär bedeutsam gelten. Heute wiegt das Unterschiedsbewußtsein gegenüber dem russischen und erst recht dem asiatischen Wesen vor und dies wird immer mehr der Fall werden, je mehr die Stimmungen und Verstimmungen des Weltkriegs abklingen. Und ebenso akzentuiert sich das Unterschiedsbewußtsein gegenüber der Neuen Welt. Vor nicht gar langer Zeit gehörten noch gebildete Nordamerikaner selbstverständlich zu uns. Heute verkörpert zum mindesten die jüngere Generation buchstäblich eine neue Welt. Der Ur-Geist der amerikanischen Erde und der Negergeist ringen schon als Dominanten mit den aus Europa eingewanderten um die Vorherrschaft und wie das Ergebnis auch ausfalle: die Endsynthese wird spezifisch amerikanisch sein, von Europa vielleicht nicht weniger verschieden, wie es die griechische Kultur war von der minoischen und phönizischen und ägyptischen, von denen sie abstammte.⁷
Die Abgrenzung von den anderen Erdteilen und das künftige Verhältnis zu ihnen bilden auch ein zentrales Motiv im Paneuropäischem Manifest, mit dem Coudenhove-Kalergi 1923 seine Bewegung lanciert. Er begründet die Notwendigkeit der Einigung Europas mit einer düsteren Prognose, die er wie folgt zusammenfasst: „Das zersplitterte Europa geht somit einer dreifachen Katastrophe entgegen: dem Vernichtungskrieg; der Unterwerfung durch Rußland; dem wirtschaftlichen Ruin.“⁸ Beim letzten Punkt steht insbesondere die Konkurrenzfähigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten im Vordergrund. Das Manifest präsentiert Paneuropa einerseits als Friedensprojekt, andererseits macht Coudenhove-Kalergi keinen Hehl daraus, dass es ihm vor allem um die Bewahrung der privilegierten Stellung des Erdteils geht. So wird deutlich, dass das anvisierte Europa eine Weltmacht auf gleichem Stand wie Amerika, ein erholtes Russland und der Ferne Osten bleiben soll. Auffällig ist die Überlegung, dass aus diesem vorgestellten Europa Großbritannien wegen seiner zu engen Verbindungen mit den „Dominions“ in Übersee, Kanada, Australien usw., ausgeschlossen bleiben soll, während dagegen Europa selbst die eigenen Kolonien vor allem in Afrika beibehalten soll, um wirtschaftlichen Nutzen aus diesen zu ziehen. H. Keyserling, Das Spektrum Europas. S. 443 f. R. Coudenhove-Kalergi, Das paneuropäische Manifest. Zitiert nach Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union (1923 – 2004) von Anton Schäfer 1. elektronische Auflage. http://verfassungsvertrag.eu/II-01.PDF [abgerufen am 20.1. 2021]
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Kalergis schlimmste Befürchtungen mussten sich erfüllen, bevor nach dem Zweiten Weltkrieg Teile seines Programms verwirklicht werden konnten. In mancher Hinsicht ähnelt die heutige Europäische Union seinem Konzept aus den 20er Jahren. Auch die Bedenken gegen eine Beteiligung Großbritanniens haben sich inzwischen als begründet erwiesen. Was die Angst vor Unterwerfung durch Russland betrifft, ist das Manifest weniger als Prophezeiung des kommenden Kalten Krieges, denn als Produkt des in den führenden europäischen Mächten prävalenten zeittypischen weltpolitischen Diskurses zu verstehen. Dazu gehört sowohl die Selbstverständlichkeit, mit der die Kolonialherrschaft über Afrika vorausgesetzt wurde, als auch die Angst vor dem großen Unbekannten aus dem Osten – Russland als Vorhut des ganz Anderen, Asiens. Letzteres sollte den Europa-Diskurs insbesondere in seiner faschistischen Variante bis zum Zweiten Weltkrieg beherrschen.⁹ Doch während Asien geopolitisch als Bedrohung empfunden wurde, bot es zugleich in abstrahierter und idealisierter Form ein intellektuelles Faszinosum besonderer Art, indem die ‚östliche‛ Mystik der ‚westlichen‛ Rationalität entgegengestellt wurde. Hermann Graf Keyserling, Hermann Hesse und zahllose andere Intellektuelle sprangen auf diesen „kulturellen Orientexpress“ – so Paul Michael Lützeler¹⁰ – auf. Die West-Ost Dichotomie von Rationalität und Demokratie auf der einen Seite und autoritärer, mystisch untermauerter Irrationalität auf der anderen, findet einen einmaligen literarischen Ausdruck in Thomas Manns Roman Der Zauberberg.
Thomas Mann: Der Zauberberg Paul Michael Lützeler nennt den Zauberberg einen „Zeitroman“, dem es um „Epochenrepräsentanz“ geht und der sich dadurch auszeichnet, dass die Romanfiguren Zeittypisches verkörpern, für ideologische Strömungen stehen und charakteristische Anschauungen unterschiedlicher sozialer Gruppen bzw. Schichten ausdrücken.¹¹ Der besondere Reiz des Romans liegt allerdings darin, dass die Figuren mit Humor und Respekt gezeichnet werden und Zeitströmungen repräsentieren ohne eindimensional zu wirken. Ein Zeitroman ist Der Zauberberg auch in einem ganz anderen Sinne, denn es wird darin auch viel über das Wesen
S. dazu G. Delanty, Inventing Europe, Basingstoke, London 1995, S. 111– 119 und Carl Wege: „Das Neue Europa“ Deutsche Denkmuster des Europäischen, Stuttgart 2016. P. M. Lützeler, Die Schriftsteller und Europa, München 1992, S. 207. P. M. Lützeler, Kontinentalisierung, Bielefeld 2007, S. 187.
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Zeit an sich nachgedacht.¹² Aber die in der Forschung prominenteste Lesart konzentriert sich auf das Epochenbild vom Vorabend des Ersten Weltkriegs und die sehr ausführlich ausgetragenen ideologischen Gegensätze im kulturphilosophischen Streitgespräch zwischen dem Aufklärer, Demokraten und Freimaurer Lodovico Settembrini und dem ,jenseits von Gut und Böse‛ stehenden Jesuiten Leo Naphta. Werkgeschichtlich gesehen ist Der Zauberberg der erste Roman, den Thomas Mann nach dem Ersten Weltkrieg und der erste nach seinen politisch-polemischen Betrachtungen eines Unpolitischen verfasste. Im Roman weicht die Polemik der Betrachtungen, von der sich der Autor bis zur Fertigstellung des neuen Werks bereits distanziert hatte, einer gewissen ironischen Ambivalenz. Nach Wolf Lepenies hatten die Betrachtungen für Mann die Bedeutung, den Zauberberg „vor zu viel politischem Ballast zu bewahren.“¹³ Da ähnlich wie in den Betrachtungen auch im Roman ein östlich-vitalistisches Prinzip dem vernunftbetonten westlichdemokratischen entgegengesetzt wird, ist die Versuchung dennoch groß, den Roman auf die frühere Polemik zu beziehen und das Hauptgewicht auf den gelehrten Disput der um die „Seele“ des Protagonisten Hans Castorf wetteifernden Streithähne Settembrini und Naphta zu legen.¹⁴ Ausgetragen wird der große intellektuelle Konflikt, der „pädagogischerweise“¹⁵ um das seelische Heil Castorps geführt wird, vor dem Hintergrund eines Sanatoriums, dessen Patienten jahrelang mit wenig Aussicht auf Heilung einer rigorosen Ordnung unterworfen sind. Das Sanatorium liefert ideale Laborbedingungen für den großen soziologischen Versuch, der sehr bewusst vom Autor intendiert ist. Die Kranken bilden eine internationale Gemeinschaft, zu der neben Deutschen wie Hans Castorp und seinem Vetter Joachim auch Russen und Holländer zählen. Auch der Italiener Settembrini ist anfangs Patient des Sanatoriums. Die internationale Atmosphäre wird im Roman nicht zuletzt dadurch betont, dass neben der deutschen Sprache der Text auch kurze Sätze auf Italienisch und längere Passagen auf Französisch enthält. Settembrini spricht italienisch, wenn er aufgeregt ist. Castorp spricht in der Faschingsnacht die von ihm begehrte Frau Chauchat aus lauter Schüchternheit auf Französisch an. Den erotischen Höhepunkt des Romans bildet die über fünf Seiten geführte französische Unterhaltung der beiden.
Mit längeren Überlegungen zum Wesen der Zeit fangen die Hauptkapitel 6 und 7 an. Th. Mann, Der Zauberberg, Frankfurt/M. 1962, S. 316 und 494 f. W. Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, Frankfurt/M. 2008, S. 75. Zum Verhältnis des Zauberbergs zu den Betrachtungen eines Unpolitischen s. Kurt Sontheimer: Thomas Mann und die Deutschen, München 1962. Insbesondere S. 69 f. Th. Mann, Der Zauberberg, Berlin, Frankfurt/M. 1962, S. 427.
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Nach dieser Faschingsnacht zieht Settembrini aus dem Sanatorium aus und nimmt ein Zimmer im Ort. Danach tritt auch Naphta ins Bild, und die hitzigen Debatten der beiden rücken in den Mittelpunkt der Handlung. Für Thomas Mann bieten die Debatten die Gelegenheit, seine Gedankengänge aus den Betrachtungen wiederaufzunehmen und zu relativieren. Für die Gäste des Sanatoriums, die zur Untätigkeit verdammt sind, haben die Debatten von Settembrini und Naphta, sofern sie dabei sind, einen gewissen Unterhaltungswert, denn: ein Streit, der geführt wird, als ob es ums Leben ginge, außerdem aber mit einem Witz und Schliff, als ob es nicht ums Leben, sondern nur um ein elegantes Wettspiel ginge – und so wurden alle Dispute zwischen Settembrini und Naphta geführt –, ein solcher Streit ist selbstverständlich und an und für sich unterhaltsam anzuhören, auch für den, der wenig davon versteht und seine Tragweite nur undeutlich absieht.¹⁶
Was hier über den Unterhaltungswert des Streitgesprächs für das anwesende Publikum gesagt wird, ist zugleich poetologische Begründung für den ausgeprägten Stellenwert dieses ideologischen Konflikts im Roman selbst. Doch soll an dieser Stelle kurz inhaltlich auf die Gegensätze und ihre Beziehung zum oben dargestellten Europadiskurs der 20er Jahre eingegangen werden: Settembrini vertritt die Tradition der Aufklärung und damit auch das Literatentum, gegen welches Thomas Mann seine Betrachtungen gerichtet hatte, und Naphta dagegen das mystische, asiatische Prinzip, das im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts im intellektuellen Leben Europas Mode war. Naphta fasst den Unterschied zwischen ihren Weltbildern so zusammen: Das Entscheidende in seinem [Settembrinis] Weltbilde sei, daß er Gott und den Teufel zu zwei verschiedene Personen oder Prinzipien mache und „das Leben“, übrigens nach streng mittelalterlichem Vorbilde, als Streitobjekt zwischen sie lege. In Wirklichkeit seien sie eins und einig dem Leben entgegengesetzt, der Lebensbürgerlichkeit, der Ethik, der Vernunft, der Tugend – als das religiöse Prinzip, das sie gemeinsam darstellen.¹⁷
Vor diesem religiösen Prinzip¹⁸, das die Grundfeste bürgerlicher Ethik (in ihrer idealen eher als ihrer praktischen Gestalt) zu unterminieren scheint, hat Settembrini tatsächlich Angst, so wie ihm, als Freimaurer, die Religion überhaupt suspekt ist. Dieses Misstrauen nimmt absurde Züge an, wenn Settembrini Martin
Th. Mann, Zauberberg, S. 474. Th. Mann, Zauberberg, S. 423. Dasselbe Prinzip von der Einheit von Gut und Böse wird ähnlich in Hermann Hesses Aufsatz Die Brüder Karamasoff oder der Untergang Europas von 1919 präsentiert. In: Hoffnung Europa, hg. von P. M. Lützeler, Frankfurt/M. 1994. S. 243 – 257.
Thomas Mann: Der Zauberberg
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Luther asiatische Backenknochen zuschreibt.¹⁹ Manns eigener Standpunkt tritt bei der Darstellung der Streitgespräche immer zurück, obwohl es kleine selbstkritische Einwürfe des inzwischen zum engagierten Demokraten konvertierten Autors gibt. Als ein solcher selbstkritischer Seitenhieb ist etwa Settembrinis Behauptung, es gäbe keine „Nichtpolitik“, zu verstehen,²⁰ womit schon der Titel der Betrachtungen widerlegt wird. Der Zauberberg ist aber ein Roman und kein Traktat, und so werden die Kontrahenten aus ähnlich ironischer Distanz dargestellt wie Castorp selbst, der naive und ziemlich schüchterne junge Ingenieur aus Hamburg, der das Herz zwar am rechten Platz hat, intellektuell jedoch noch ein leeres Blatt darstellt. Als Leser mag man vielleicht eher mit dem Aufklärer Settembrini sympathisieren als mit dem strengen und nie um ein Argument verlegenen Jesuiten Naphta. Menschlich erscheint aber auch Settembrini in keinem allzu guten Licht, denn er ist sehr eifersüchtig, und zwar nicht nur auf Naphta, sondern eben auch früher schon auf Clawdia Chauchat, die verführerische russische „Asiatin“, auf die Castorp ein Auge hat. Castorp, der nicht alles versteht, doch als neutraler Zuhörer für beide Kontrahenten gleich unentbehrlich ist, fühlt sich manchmal verpflichtet, schlichtend, oder vielmehr moderierend, einzugreifen, was den Erzähler wieder zu ironischen Kommentaren veranlasst. So etwa bei einer heftigen Diskussion, in der es um die Rechtfertigung von Folter geht: „Hans Castorp versuchte darüber hinwegzuhelfen, indem er selbstherrlich und als könne es seine Sache sein, ein solches Gespräch zu lenken, das Problem der Todesstrafe in die Debatte warf.“²¹ Gegen Ende des Romans lässt sich die nahende Katastrophe des Weltkriegs als dumpfe Ahnung spüren. Das vorletzte Kapitel trägt die Überschrift „Die große Gereiztheit“. Der Streit zwischen Settembrini und Naphta verliert seinen Unterhaltungswert und wird persönlich. Am Ende geht es wirklich um Leben und Tod. Er mündet in ein Duell, dessen überraschender Ausgang die Sturheit des Irrationalen unterstreicht. Im letzten Kapitel bricht der Krieg „diese betäubende Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit“²² aus. Castorp bricht auf, um im „Flachland“ zu kämpfen. Den rührseligen, für den Hanseaten fast peinlichen Abschied von Settembrini schildert der Erzähler kurz, aber nicht ohne eine letzte ironische Stichelei gegen den russophoben Italiener: „er schloß ihn in seine Arme und küßte ihn wie ein Südländer (oder auch wie ein Russe) auf
Th. Mann, Zauberberg, S. 472. Th. Mann, Zauberberg, S. 470. Th. Mann, Zauberberg, S. 420 (Hervorhebung CP). Th. Mann, Zauberberg, S. 651.
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beide Wangen […]“.²³ Schließlich verliert der Erzähler Castorp auf dem Schlachtfeld des Weltkrieges aus den Augen.
Ödön von Horváth: Der ewige Spießer Einen vollkommenen Kontrast zum Zauberberg bietet Ödön von Horváth mit seinem ersten Roman Der ewige Spießer. Der aus Fiume gebürtige Horváth war ein später Vertreter des Kosmopolitentums der „Welt von gestern“. Zu den Wohnorten seiner Kindheit und Jugend zählen u. a. Belgrad, Budapest, Bratislava, Wien und München. 1929 stellte er sich in der Zeitschrift Querschnitt so vor: „,Heimat‛? Kenn ich nicht, ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch – mein Name ist magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch.“²⁴ Somit könnte man bei Horváth eine gewisse Prädisposition für die europäische Idee annehmen. Die soziale Welt, die er in seinem Werk darstellt, ist aber sehr anders als die großbürgerliche von Thomas Mann und das Milieu, in welchem der intellektuelle Europadiskurs der 20er Jahre geführt wurde. Horváth ist am besten für seine Theaterstücke bekannt, in denen er den Anschluss an die Tradition des Volksstücks suchte. Seine Dramen spielen im Arbeiter- und Kleinbürgermilieu. Dort werden die großen politischen Fragen der Zeit weniger diskutiert als direkt am eigenen Leib erfahren. Aus diesem Milieu stammen auch die Hauptfiguren seines ersten Romans. Der ewige Spießer spielt Ende der 20er Jahre im präfaschistischen Klima der beginnenden Depression. Der Roman besteht aus drei ungleich langen und nur sehr locker zusammenhängenden novellenartigen Kapiteln, die jeweils von einer Bewusstseinstransformation handeln. Das erste und längste Kapitel, das hier genauer betrachtet werden soll, heißt „Herr Kobler wird Paneuropäer“. Die weiteren sind „Fräulein Pollinger wird praktisch“, in der es um eine junge Arbeitslose geht, die aus Not sich prostituieren muss. Im letzten Kapitel, „Herr Reithofer wird selbstlos“ geht es um den spontanen Versuch eines mittellosen potentiellen Freiers für Fräulein Pollinger eine Arbeitsstelle zu beschaffen. Der Grundton des Romans ist vom gleichen fröhlichen Zynismus geprägt, den Brecht in derselben Zeit mit dem berühmten Satz formulierte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“
Th. Mann, Zauberberg, S. 654. Ödön von Horváth, Gesammelte Werke Bd. III Frankfurt/M. 1970, S. 9.
Ödön von Horváth: Der ewige Spießer
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Aus der Tradition des Volksstücks stammt wiederum die Logik der Handlung, bei der Fortuna bzw. dem Zufall eine besondere Rolle zukommt. Dass Herr Kobler im ersten Kapitel zum Paneuropäer wird, ist ebenfalls einer Reihe von Zufällen zu verdanken, denn Kobler, ein kleiner Gauner, der durch ein betrügerisches Geschäft mit einem Gebrauchtwagen zu etwas Geld gekommen ist, hat zu Beginn des Romans noch nie von Paneuropa gehört. Er ist überhaupt sehr unwissend und kennt nur seine allernächste Umgebung. Seine Interessen beschränken sich auf Frauen und auf die Suche nach leichten Wegen zum finanziellen Vorteil. Er ist und bleibt, wie Peter Hanenberg meint, ein „Panopportunist“.²⁵ Mit seinem neuerworbenen Geld will er eine Auslandsreise machen – seine erste – und seine Vermieterin schlägt als Reiseziel die Weltausstellung in Barcelona vor. Dort gäbe es massenhaft reiche Frauen, denen man sich anbändeln könne, um in bessere Verhältnisse aufzusteigen. Die Vermieterin hat von jemandem gehört, der auf diese Weise eine reiche Ägypterin gefunden hat. Unterwegs nach Barcelona macht er die Bekanntschaft eines österreichischen Journalisten, Rudolf Schmitz, der für mehrere Zeitungen in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie schreibt. Später steigt eine elegante junge Frau hinzu. Kobler und der ältere Schmitz machen sich beide Hoffnungen auf ein Techtelmechtel. Für Kobler könnte sie bereits die ersehnte Ägypterin werden, doch ihm fehlen die Sprachkenntnisse, die Hans Castorp über seine Unbeholfenheit gegenüber Mme Chauchat hinweggeholfen hatten, also schätzt er seine Chancen in Konkurrenz mit dem polyglotten Schmitz schlecht ein. Die „Ägypterin“ erweist sich jedoch als weltgewandte Industriellentochter aus Duisburg und interessiert sich nicht für die Avancen des Journalisten. Für Kobler läuft zunächst alles nach Plan, doch der von ihm erhoffte soziale Aufstieg bleibt aus, da die Beziehung nach einer Liebesnacht in Barcelona abrupt abbricht, als die Frau unerwartet von ihrem amerikanischen Verlobten vorzeitig abgeholt wird. Was Kobler zum Paneuropäer macht, sind erstens die Reise selbst mit ihren vielen Grenzübertritten – Kobler fährt über Österreich, Italien und Frankreich –, zweitens die Unterhaltungen mit dem Journalisten Schmitz und drittens die Enttäuschung am Ende des Aufenthalts in Barcelona. Obwohl der Roman keinesfalls als Ideenroman bezeichnet werden kann, sind die Unterhaltungen mit Herrn Schmitz aufschlussreich. Schmitz ist Koblers Settembrini, wenn auch auf einem weit niedrigeren intellektuellen und rhetorischen Niveau. Trotzdem geht vieles einfach an Kobler vorbei, denn Kobler ist eben kein Castorp – ihm fehlt die
P. Hanenberg: Europa. Gestalten, Frankfurt/M. 2004, S. 92.
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ruhige Intelligenz, die Kurt Sontheimer Hans Castorp zugute hält²⁶ – und er hat wegen mangelnder Bildung die meiste Zeit nicht die geringste Ahnung, wovon sein Reisegefährte spricht. Horváths besonderes Talent als Autor besteht nicht nur in diesem Roman in der Fähigkeit, sich plausibel in das Bewusstsein von Menschen mit einem relativ restringierten Weltblick hineinzuversetzen, ihre gewisse Abhängigkeit von waltenden Klischees darzustellen und die Denkprozesse nachzuvollziehen, mit denen ihr Denken sich ganz allmählich verselbstständigt.²⁷ Kobler ist ungebildet, aber nicht dumm. Er ist es, der in der Bahnhofsgaststätte in Milano bei der dritten Flasche Chianti das Gespräch auf den kommenden großen Krieg bringt. Er weiß, dass es in Deutschland viele Leute gibt, die den Verlust der Kolonien nicht überwinden können, wobei er als Beispiel einen Bekannten anführt, der die deutschen Kolonialbriefmarken in seinem Album schwarz umrandet und die Briefmarken aus den Kolonien anderer europäischer Mächte vernichtet hat. Schmitz gibt sich optimistisch und meint, dass es diesen Krieg nicht geben wird. Dabei tut auch der Chianti seine Wirkung. Schmitz glaubt an europäische Zusammenarbeit und argumentiert zunächst mit historischen Vergleichen, die Kobler, wie nicht anders zu erwarten, über den Kopf gehen: […] ich sage nur eines: Heilige Allianz ist gleich Völkerbund. Napoleon ist gleich Stalin! „Das weiß ich noch nicht“ antwortete Kobler skeptisch, weil er nicht wusste, was Heilige Allianz bedeuten sollte. „Wer ist denn Stalin?“, fragte er.²⁸
Schmitz’ weitere Begründung ist dem Kaufmann Kobler dann doch ganz verständlich, denn nach Schmitz kann es zwischen den bürgerlichen Großmächten zu keinem Krieg mehr kommen, „weil man heutzutag eine Nation auf kaufmännisch-friedliche Art bedeutend billiger ausbeuten kann.“²⁹ Schmitz führt anschließend noch Amerika an und meint, die USA wollen Europa zur Kolonie degradieren. Im Kern dieser von Schmitz vertretenen europäischen Idee spielen drei Elemente eine zentrale Rolle: der wirtschaftliche Vorteil der Zusammenarbeit, die Bedrohung durch außereuropäische Großmächte, und die gemeinsamen Interessen der Europäer an der Ausbeutung der Kolonien in Übersee. Diese stimmen
K. Sontheimer 1961, S. 68. Thomas Mann selbst nennt Castorp auf der letzten Seite des Romans „simpel“ und spricht von seiner „Einfachheit“ (Zauberberg, S. 657). Das ist besonders evident in Horváths drittem Roman Ein Kind unserer Zeit, der aus dem Monolog eines einfachen Soldaten besteht, der ganz allmählich angesichts vieler Erfahrungen mit sozialer Ungerechtigkeit die eigene militaristische Gehirnwäsche überwindet. Ö. v. Horváth, Der Ewige Spießer., Werke III S. 200. Ö. v. Horváth, Spießer, Werke III, S. 200.
Ödön von Horváth: Der ewige Spießer
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weitestgehend mit den von Coudenhove-Kalergi 1923 im Paneuropäischen Manifest angeführten Argumenten überein. Die Übereinstimmungen reichen bis hin zur Emphase, mit der Schmitz den Ausschluss Großbritanniens aus Paneuropa fordert.³⁰ Von etwaiger ethnischer oder kultureller Gemeinschaft ist bei dieser Unterhaltung in Milano keine Rede. Einen quasiessentialistischen Hinweis auf eine solche grundsätzliche Gemeinschaft gibt es im Roman nur an einer Stelle und zwar bei einem Bordellbesuch in Marseille. Dort treffen Kobler und Schmitz auf Prostituierte aus allen europäischen Ländern sowie auf eine schwarze Afrikanerin, die sich als einzige von der Menge unterscheidet Sie hatte einen grellroten Turban und einen ganz anderen Gang als ihre weißen Kolleginnen, und dies gab dem Schmitz wieder Gelegenheit, sich über die gemeinsame Note der Europäerinnen zu äußern und darüber hinaus zu bedauern, daß man das typisch Europäische bisher nur oberflächlich formuliert hat.³¹
Die Ankunft in Barcelona bietet Horváth noch einmal die Gelegenheit zu weiteren politischen Pointen. Der Besuch des Missionspalasts auf der Weltausstellung veranlasst einen kleinen Exkurs über die Beteiligung der Kirche an der Ausbeutung der Kolonien.³² Auch ein Stierkampf wird besucht und recht ausführlich beschrieben.³³ Den Journalisten Schmitz versetzt das Gesehene in Rage, er bezeichnet die Veranstaltung als „Lustmord“ und meint, dass der Völkerbund einschreiten müsse. Kobler ist auch nicht begeistert, aber eher neidisch auf die offenbare Anerkennung die die Toreros genießen, und auf die „Ägypterin“ hat die ganze Spannung eine erotisierende Wirkung, von der Kobler in der nachfolgenden Nacht profitert. Doch der folgende Morgen bringt mit der Ankunft des amerikanischen Verlobten die große Enttäuschung und die Bestätigung, dass die Europäer angesichts der Übermacht Amerikas zusammenhalten müssten. So treffen sich Gefühl und Verstand und machen Kobler zum ‚überzeugten‛ Paneuropäer. Nun sucht er auf der Rückfahrt nach München vergeblich weitere Mitreisende, mit denen er den Gedankenaustausch fortsetzen könnte. War er bereits auf der Hinfahrt nach Barcelona wenig geneigt, auf ein Gespräch mit einem Nationalgesinnten einzugehen, der gemeint hatte, man dürfe sein Geld nicht aus Deutschland hinaustragen,³⁴ so reagiert er bei der Rückfahrt geradezu allergisch auf den
Ö. v. Horváth, Spießer, Werke III, S. 201. Ö. v. Horváth, Spießer, Werke III, S. 214. Ö. v. Horváth, Spießer, Werke III, S. 227. Ö. v. Horváth, Spießer, Werke III, S. 229 – 231. Ö. v. Horváth, Spießer, Werke III, S. 173.
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„nationalistischen Schlamm“,³⁵ den er zu hören bekommt – eine Allergie, die er wohl mit dem Autor teilte. Als Beitrag zur damaligen Europadebatte ist der Roman insofern interessant, als hier der idealistische Europadiskurs in der eifrigen Rede des angetrunken Journalisten Schmitz in eine Handlung eingebettet ist, die kenntlich macht, welche praktischen Hindernisse, von den vielen Grenzen bis zu den banalsten Kommunikationsprobleme, auf dem Wege zur Einheit Europas liegen.³⁶
Stefan Zweigs Die Welt von Gestern und der Habsburger Mythos Dem kosmopolitischen Europäertum setzte, wie es Der Zauberberg in seinem letzten Kapitel zeigt, der Erste Weltkrieg, die Gewaltorgie des modernen Nationalismus, ein Ende. Paris blieb zwar auch (und vielleicht erst recht) nach dem Ersten Weltkrieg Zentrum der „Republik der Weltliteratur“,³⁷ doch war die Metropole diesbezüglich ein Sonderfall in einem Europa, das nunmehr eher schlecht als recht gemäß der 14 Punkte Woodrow Wilsons reorganisiert wurde. Vor allem wurden infolge des Ersten Weltkrieges große Teile des mittleren und östlichen Europas nach einer recht groben und ungenauen Anwendung des Nationalitätenprinzips neuen Nationalstaaten zugeordnet. Das kosmopolitische Europa blieb in den folgenden Jahrzehnten vornehmlich in Form von nostalgischer Literatur dem kollektiven Gedächtnis erhalten und nahm Züge einer Utopie an. Das ist vor allem im ehemaligen Einflussbereich des untergegangenen Habsburgerreichs der Fall. Nachträglich wird die Donaumonarchie, in Verkennung der historischen Realität, als Modell eines friedlichen europäischen Zusammenlebens gesehen. Das alte Österreich lebte in den Zwischenkriegsjahren im Werk Joseph Roths oder in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften in idealisierter Gestalt weiter. Musil zollte der Monarchie mit der Zuschreibung eines unvollendeten „Möglichkeitssinns“ einen einmaligen Tribut als potentielle aber nie verwirklichte Utopie. Gerade das prekäre Zusammenleben der Nationalitäten barg ein unverwirklichtes Potenzial für die Zukunft: Sie [die nationalen Konflikte] waren so heftig, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre. Und es war nichts
Ö. v. Horváth, Spießer, Werke III, S. 237. P. Hanenberg 2004, Europa. Gestalten. Frankfurt/M., S. 85. P. Casanova, The World Republic of Letters, S. 29.
Stefan Zweigs Die Welt von Gestern und der Habsburger Mythos
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Wirkliches gewesen. Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon früh, und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet, das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht vor der Zeit unterbrochen worden wäre.³⁸
Als bewusstes und dynamisches Konzept war das Habsburger Reich nie Realität. Es war schon Vergangenheit, bevor es als Möglichkeit überhaupt wahrgenommen wurde. Die „Übernationalität“ der Donaumonarchie mit ihrer Symbiose von deutschsprachiger Kultur und ethnischer Vielfalt bildet den Kern dessen, was Claudio Magris als „Habsburgischen Mythos“ bezeichnet.³⁹ Besonders hervorgehoben wird diese Komponente bei Autoren wie Franz Werfel und Stefan Zweig, dem „klassische[n] Vertreter jenes vagen, humanistischen Kosmopolitentums, das aus der Habsburger Kultur hervorging“.⁴⁰ Stefan Zweigs Die Welt von Gestern ist für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung insofern besonders wichtig, als hier eine einmalige Kombination von Zeitbild und Autobiographie vorliegt. In diesem Werk aus Zweigs letzten Lebensjahren fallen kulturgeschichtlicher und autobiographischer Diskurs zusammen. Mit der Bestimmung der eigenen Identität als Europäer im Untertitel gibt Zweig mehr als nur einen politischen Standort zu erkennen. Die Sehnsucht nach einer untergegangenen Welt ist auch ein Ausdruck von Heimweh nach einer europäischen Heimat, die zwar auch vor dem ersten Weltkrieg keine politische Realität, aber doch für viele eine Lebensrealität war. Hier ist also ein Buch, das deutlich zeigt, wie ein Einzelner aus der genauen Wahrnehmung der Umwelt auch seinen eigenen Standort präzisiert. Von einer modernen Zerrissenheit des Ichs kann bei Zweig hier kaum die Rede sein. Geschichte und Autobiographie bekommen, zumindest im Rückblick, einen zusammenhängenden Sinn. An eine klare Verflechtung zwischen individuellem Lebensweg und dem allgemeinen Zustand der Gesellschaft scheint Zweig generell zu glauben. Das wird beispielsweise gleich am Anfang des Buches deutlich, wenn Zweig schreibt, wie es den im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die Wiener Metropole zugezogenen galizischen Juden, zu denen seine eigene Familie gehörte, erging: Wenn sie aus ihrer Heimat nach Wien übersiedelten, passten sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der höheren Kultursphäre an, und ihr persönlicher Aufstieg verband sich organisch dem allgemeinen Aufschwung der Zeit.⁴¹
R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1952. S. 34. Cl. Magris, Der Habsburger Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966, S. 13. Cl. Magris, Der Habsburger Mythos, S. 271. St. Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/M. 1952, S. 17.
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Gerade diese organische Verbindung des Individuellen und des Allgemeinen macht die besondere Aussagekraft des Buches aus. Zweig sieht im Wien der Jahrhundertwende nahezu die Verkörperung des europäischen Ideals: Denn das Genie Wiens – ein spezifisch musikalisches – war von je gewesen, dass es alle volkhaften, alle sprachlichen Gegensätze in sich harmonisierte, seine Kultur eine Synthese aller abendländischen Kulturen; wer dort lebte und wirkte, fühlte sich frei von Enge und Vorurteil. Nirgends war es leichter, Europäer zu sein, und ich weiß, dass ich es zum guten Teil dieser Stadt zu danken habe, die schon zu Marc Aurels Zeiten den römischen, den universalen Geist verteidigt, dass ich frühzeitig gelernt, die Idee der Gemeinschaft als die höchste meines Herzens zu lieben.⁴²
Dieses Wien wird in Zweigs Erinnerungen nur noch von Paris, wo keiner auf Stand oder Herkunft schaute, übertroffen.⁴³ Gewiss ist das Bild der Toleranz, das Stefan Zweig malt, reichlich verschönert. Die Jahre in denen nach Zweig die Juden in Wien „einem leichtlebigen, zur Konzilianz geneigten Volke [begegneten]“⁴⁴ waren ja gerade dieselben, in denen Adolf Hitler im dort grassierenden Antisemitismus den Nährboden seines Rassenwahns fand. Dennoch war die einmalige Wiener Kulturblüte der Jahrhundertwende, von der der jüdische Anteil nicht wegzudenken ist, Realität. Selten schienen die Bedingungen im Großen und Ganzen für das assimilierte Judentum so günstig wie in der damaligen Donaumetropole.⁴⁵ Dass das kulturelle Leben vieler Provinzen des weiten Habsburgerreiches eine gewisse Symbiose von deutschsprachiger Kultur und ethnischer Vielfalt kannte, entspricht der historischen Realität. Dass sich daraus der Kern einer sich gegen die Ansprüche der einzelnen Nationalitäten stemmenden gemeinsamen österreichischen Identität ergeben hätte, ist eher Mythos und, wie Magris argumentiert, das Produkt einer nachträglichen literarischen Rekonstruktion.
Joseph Roth Der Journalist und Schriftsteller Joseph Roth entzieht sich jeder festen Identitätszuschreibung. Geboren wurde er in der galizischen Stadt Brody, einem österreichischen Verwaltungssitz mit polnischem Umland und einem der Zentren des St. Zweig, Die Welt von Gestern, S. 33. St. Zweig, Die Welt von Gestern, S. 124. St. Zweig, Die Welt von Gestern, S. 30. Schaut man auf Einzelbiographien von anderen prominenten Zeitgenossen (Mahler, Freud) so waren dennoch beruflich und gesellschaftlich gewisse Grenzen gesetzt.
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osteuropäischen Judentums. Die Hybridität eines an der europäischen Peripherie in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsenden Juden teilt Roth mit vielen. Was ihn aber besonders auszeichnet, ist die positive Einstellung zur Hybridität im Allgemeinen. Er sah kein Problem darin, das Judentum leidenschaftlich zu verteidigen und gleichzeitig die Vorzüge des Habsburger Staates zu preisen. Schon als Schüler hielt er Distanz zum Zionismus einiger Mitschüler mit der Behauptung er sei „Assimilant“, aber eben kein polnischer, sondern österreichischer.⁴⁶ In der Donaumonarchie sah er ein Staatsgebilde, in welchem verschiedene Nationen einhellig nebeneinander leben konnten. Was er konsequent verabscheute war der Nationalismus als selbstgenügsame Ideologie. So schrieb er 1934 in einem Beitrag für die Exilzeitschrift Die Wahrheit: Ist es denn nicht ehrenvoller, ein Mensch […] zu sein als ein Deutscher, ein Franzose, ein Engländer? Zwischen den Rassen zu stehen, erscheint mir angenehmer, als in einer von ihnen zu wurzeln […]. Der Mensch ist kein Baum. ⁴⁷
Als Jude polemisierte er gegen den Antisemitismus, aber auch gegen den Zionismus. Als Österreicher polemisierte er nach dem Sturz der Donaumonarchie gegen die Unterwerfung des Landes durch Deutschland. Kurz vor seinem Tod ließ er sich katholisch taufen, was er jedoch nicht als eigentliche Abkehr vom Judentum verstand, denn das Entweder-oder passte nicht zu seinem Charakter. Er suchte vielmehr immer das Sowohl-als-auch. In den Zwischenkriegsjahren gehörte die Stadt Brody dem jungen polnischen Staat an. Heute ist sie ukrainisch. Der wiederholte Staatswechsel geschah sehr zum Leidwesen der Bevölkerung, insbesondere der jüdischen. Das Schicksal solcher Städte im Osten Europas unterstreicht die Problematik der Verknüpfung des Heimatbegriffes mit nationalen Zuschreibungen. Das Potenzial, das solche Orte als kulturelle Knotenpunkte aufwiesen, wurde von keinem Staat gebührend wahrgenommen, auch nicht von Österreich-Ungarn selbst, wo kulturelle Unterschiede zwar besser geduldet, aber nicht als kraftspendende Ressourcen geschätzt wurden. Es blieb eben bei dem von Musil getauften und niemals produktiv genutzten österreichischen „Möglichkeitssinn“. Die galizische Heimat blieb ein Bezugspunkt, obwohl Roth nach dem Untergang der Monarchie nie mehr dort lebte. In den Jahren der ersten Republik gab Roth Berlin vor Wien den Vorzug und in seinen letzten Jahren war er, wie Otto Forst de Battaglia sich ausdrückt, „dankbarer Gast“ in Frankreich, aber eben nur
David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie. Köln 1974, S. 82. J. Roth, Der Segen des ewigen Juden. In: Werke 3. Das journalistische Werk 1929 – 1939, hg. Von Klaus Westermann, Köln 1991, S.532.
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Gast.⁴⁸ Und in diesen letzten Jahren wandte er sich in seinem Werk erneut dem versäumten Potenzial der Donaumonarchie zu. Als Erzähler ist Joseph Roth im Bewusstsein der Nachwelt gleichermaßen als Porträtist des Schtetls und als nostalgischer Verehrer des Habsburger Kaisers bekannt. Der Bogen, den Roths Prosa schlägt, ist noch weiter als der seines eigenen Lebenslaufs und erstreckt sich von Sibirien (Die Flucht ohne Ende, 1927) nach New York (Hiob 1930). Die Klammer zwischen diesen beiden Werken bildet die Wanderschaft. Im Erscheinungsjahr seines Romans Radezkymarsch schrieb Roth in der Frankfurter Zeitung so etwas wie einen Nachruf auf das alte Österreich: Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland, die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlands geliebt, und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen. Deren hatte es viele. Es hat sie durch seinen Tod gebüßt. Es ist fast unmittelbar aus der Operettenvorstellung in das schaurige Theater des Weltkriegs gegangen.⁴⁹
Dieses alte Vaterland, das im historischen Widerspruch zu jedem ethnischen Nationalismus stand, erlaubte es seinen Angehörigen sich zu pluralen Identitäten zu bekennen. So konnte ein galizischer Jude sich als Österreicher (was zunächst die Staatsangehörigkeit meinte) und als Deutscher (in kultureller Hinsicht) empfinden. In seiner Würdigung Roths von 1952 betont Otto Forst de Battaglia das einmalige kulturelle Potenzial Brodys, wo die gemeinsame übernationale deutsche Sprache und Literatur im multikulturellen Umfeld gepflegt werden: Der Gast aus dem Reich hätte sich in den „aufgeklärten“ Israeliten, die da am Gymnasium für Lessing und Schiller begeistert wurden, kaum wiedererkannt. […] Es war weniger das deutsche Wesen, an dem die sich Weltleute Dünkenden hier zu genesen suchten, denn das österreichische schwarzgelbe, kaiserliche, habsburgische, für das die deutsche Sprache ein verbindendes Glied zwischen einem Dutzend Nationen bedeutete, und dem die deutsche Kultur ein Kleid sein mochte, in das gehüllt man Einlaß in den vornehmen Kreis der europäischen Völkerfamilie fand.⁵⁰
Otto Forst de Battaglia, Wanderer zwischen drei Welten. In: Joseph Roth und die Tradition, hg. von David Bronsen, Darmstadt 1975 [urspünglich Frankfurter Hefte 7, 1952], S. 77– 86. Hier S. 77. Frankfurter Zeitung vom 17. April 1932. Abgedruckt in Bronsen 1974, S. 400. O. Forst de Battaglia, wie Anm. 48, S. 77.
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Dass bei dieser Kulturpflege der jüdische Bevölkerungsteil in besonderem Maße beteiligt war, gilt nicht nur für Brody, sondern überhaupt für die ehemalige österreichische Peripherie⁵¹. Claudio Magris erhebt, wie Wendelin Schmidt-Dengler feststellt,⁵² Roth geradezu zum „Kronzeugen“ seiner These. Magris widmet Roth nicht nur einen längeren Abschnitt, sondern lässt ihn gleich im Vorwort mit mehreren Zitaten aus dem Radetzkymarsch zu Wort kommen, wodurch er ihn quasi zum Urheber des Mythos macht.⁵³ Magris’ Auffassung ist nicht nur durch Roths bevorzugte Thematik berechtigt, sondern auch schon durch seinen überschwänglichen Stil, denn bei Roth selbst verwischen sich in seinem Schreiben über die untergegangene Donaumonarchie oft die Grenzen zwischen Geschichte, Meinung und Legende. Diese wird, nicht sehr anders als etwa bei Robert Musil, zu einem Idealentwurf Europas im Kleinen. So stellt Roth in seiner in der Emigration entstandenen Novelle Die Büste des Kaisers einen polnischen (galizischen) Adligen als prototypischen Europäer dar. Der von einem ursprünglich italienischen Geschlecht abstammende Graf „betrachtete sich weder als einen Polen noch als einen Italiener“, sondern: Wie so viele seiner Standesgenossen in den früheren Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie war er einer der edelsten und reinsten Typen des Österreichers schlechthin, das heißt also: ein übernationaler Mensch und also ein Adliger echter Art. Hätte man ihn zum Beispiel gefragt – aber wem wäre eine so sinnlose Frage eingefallen? –, welcher „Nation“ oder welchem Volke er sich zugehörig fühle, der Graf wäre ziemlich verständnislos, sogar verblüfft vor dem Frager geblieben und wahrscheinlich auch gelangweilt und etwas indigniert.⁵⁴
Dieser in verschiedenen Ländern und Sprachen sich souverän fühlender Aristokrat vertritt nun gerade den aristokratischen Kosmopolitismus, der spätestens zwischen den Weltkriegen in den letzten Zügen lag. Der kosmopolitische Lebensstil solcher Aristokraten ist angeboren und somit etwas ganz anderes als die quasi erzwungene Weltbürgerschaft des standesmäßig gar nicht vergleichbaren
Dasselbe gilt zum Beispiel für das kulturelle Leben in der Bukowina bis in die Jahre von Paul Celans Jugend hinein. Vgl. z. B. Israel Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt/M. 1983. W. Schmidt-Dengler, Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten. In: Helen Chambers (Hg.): Co-existent condradictions. Joseph Roth in Retrospect. Riverside CA 1991: S. 15 – 34, Hier S. 23. Cl. Magris, Habsburger Mythos, S. 255 – 265 u. passim. J. Roth, Werke (1989) Bd. 5, S. 655.
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heimatlosen Autors. Es mag verwundern, dass der ehemalige „Gefühlssozialist“⁵⁵ solchermaßen für den alten Adel schwärmt, aber hier wird bewusst ein historisierendes Gegenbild zum ideologisch verdorbenen Europa am Vorabend des Krieges entworfen. Das idealisierte Bild der Ständegesellschaft der K.u.K.-Monarchie hat zudem auch einen aktuellen Bezug als hier der Anspruch des austrofaschistischen Ständestaats das wirkliche Österreich zu repräsentieren negiert wird. Die Rückbesinnung auf das imperiale Österreich der Monarchie ist somit ein Versuch der Abwehr gegen den bevorstehenden Anschluss und gegen den völkisch verstandenen Nationalismus. In dem Zusammenhang zitiert David Bronsen einen aufschlussreichen Brief von 1935, den Roth an die Redaktion der Wochenschrift Der christliche Ständestaat aus Anlass einer Kritik seines Romans Radetzkymarsch schrieb. Im Brief versucht Roth gleichzeitig österreichisch und übernational zu argumentieren. Hier heißt es: Wir sind dennoch nicht das kleine Alpenländchen, in dem zu leben wir gezwungen sind, wir sind immer noch jener große Gedanke, ohne den nicht einmal unser ,kleines Ländchen‛ eine Woche Bestand haben könnte. Der ,österreichische Gedanke‛ ist kein ,patriotischer‛, sondern beinahe ein religiöser. Wir sind nicht der ,zweite deutsche Staat‛, sondern der erste, sozusagen: der allererste deutsche und übernationale und christliche Staat. ⁵⁶
Roths Betonung des „Christlichen“ in diesem Brief dürfte zum einen als höfliche Rücksichtnahme auf den Adressaten verstanden werden. Zum anderen ist sie symptomatisch für seine eigene Annäherung an den Katholizismus, die wiederum im Zusammenhang mit seiner Habsburgerverehrung zu sehen ist. Aber, so unzeitgemäß es klingt, wird hier auch die tatsächliche Legitimation das Heiligen Römischen Reichs, des bei aller Schwäche wirklich „tausendjährigen“, beschworen. Damit wäre Roth eine doppelte Spitze gegen die gottlosen Nationalsozialisten gelungen. Joseph Roth ist öfters der Vorwurf gemacht worden, er habe sich vom Sozialisten der Jahre in der Weimarer Republik zu einem reaktionären Monarchisten gewandelt. Trotz seiner Umarmung des Katholizismus in seinen letzten Lebensjahren stand Roths Solidarität mit allen verfolgten Juden außer Zweifel. Er war, wie Bronsen nachweist, kompromisslos in seiner Auffassung, dass mit den Nazis kein Handel zu machen sei.⁵⁷ Für Roth war die Heimat allerdings nicht erst durch den Nationalsozialismus, sondern schon im Ersten Weltkrieg unwiederbringlich Fr. Hackert, Kaddisch und Misere. In: Joseph Roth. Werk und Wirkung, hg. von Bernd M. Kaske. Bonn 1988. S. 72. D. Bronsen, Joseph Roth, S. 444f. D. Bronsen, Joseph Roth, S. 422.
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verloren gegangen. Sein Exil in den dreißiger Jahren, das ihm die Möglichkeit nahm, sich im Deutschen Reich und später auch in Österreich aufzuhalten, konnte er nicht in demselben Sinne als abrupten Heimatverlust empfinden, wie es für so viele seiner Zeitgenossen war. Die Identitätsentwürfe, die Roth in seine Schreiben und im Leben durchspielte, hatten immer etwas Utopisches oder Märchenhaftes und vertragen daher, wie das Märchen, innere Widersprüche. Was Roth vor allem mit dem Schicksal des Judentums verbindet, ist die Erfahrung von Diaspora, Wanderschaft und Exil in allen Variationen. Diese prägt seinen Lebenslauf wie auch einzelne Werke wie die Erzählung Das falsche Gewicht und den Roman Hiob. Die Diaspora empfand er nicht als besonders bedauernswerten Zustand. Das Leben zusammen mit anderen Völkern und Kulturen kam ihm eher natürlich und vorteilhaft vor. Die Idee eines jüdischen Volkes bzw. einer jüdischen Nation lehnte er zwar nicht ab, aber als grundsätzlicher Gegner von Nationalismus als Ideologie stand er dem Zionismus besonders skeptisch gegenüber.Wie David Bronsen konstatiert, hatten die Juden in Galizien und anderen Kronländern, anders als die meisten Nationalitäten, allen Grund zur Loyalität, denn auch wenn sie nicht direkt gefördert wurden, so war es um ihre Rechte und Lebensbedingen wesentlich besser gestellt als jenseits der Grenze im Russischen Reich.⁵⁸ Über Europa verteilt, mit einer transnationalen Religion und Kultur gerieten sie in eine Situation des Widerspruchs zur zunehmenden Parzellierung des Kontinents durch nationale Grenzen. Dem Nationalismus und Grenzfetischismus der Nachbarn konnte erst in den letzten Jahrzehnten des Habsburgerreichs die extraterritoriale Utopie des Zionismus entgegengehalten werden. Doch der Vorschlag eines ‚nationalisierten‛ Judentums wurde von der jüdischen Bevölkerung des Habsburgerreichs bei weitem nicht einhellig begrüßt. Mit seinem Ziel der Errichtung eines jüdischen Nationalstaates stellte der Zionismus die Kapitulation vor den nationalistischen Ideologien dar, die das Leben der ausgegrenzten Juden zunehmend bedrückten. Roths wichtigster Beitrag zur Thematik des Judentums in der Diaspora ist der lange Essay Juden auf Wanderschaft erschienen 1927. Das Buch bietet Einblicke in die Lebensform und Traditionen des sogenannten Ostjudentums und behandelt die Verhältnisse, die Auswanderer in Westeuropa, den USA und der Sowjetunion erwarten. In Westeuropa können sie mit Diskriminierung auch seitens der bereits sesshaften und assimilierten Westjuden rechnen. Gleich zu Beginn bedauert der Autor, dass die Juden aus dem Osten überhaupt auswandern wollen: „Der Ostjude sieht die Schönheit des Ostens nicht.“⁵⁹ Auch wenn in diesem einleitenden Kapitel
D. Bronsen, Joseph Roth, S. 107. J. Roth, Werke III (1956), S. 629.
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reichlich mit Ironie gearbeitet wird, so kommen Roths zentrale Anliegen auch hier schon zum Vorschein, die Bejahung kultureller Vielfalt und die Ablehnung des Nationalismus: Ja, Zionismus und Nationalitätsbegriff sind im Wesen westeuropäisch, wenn auch nicht im Ziel. Nur im Orient gibt es noch Menschen, die sich um ihre „Nationalität“, das heißt Zugehörigkeit zu einer „Nation“ nach westeuropäischen Begriffen nicht kümmern. Sie sprechen mehrere Sprachen und sind ein Produkt mehrerer Rassenmischungen und ihr Vaterland ist dort, wo man sie zwangsweise in eine militärische Formation einreiht.⁶⁰
Wenig später folgt ein weiterer Seitenhieb auf den Zionismus, wenn es heißt, dass ein künftige „gerechte Geschichte“ es den Juden hoch anrechnen werde, „daß sie die Vernunft bewahren durften, weil sie kein „Vaterland“ besaßen in einer Zeit, in der die ganze Welt sich dem patriotischen Wahnsinn hingab.“⁶¹ Keine zehn Jahre nach Erscheinen dieses Essays hatten sich die Verhältnisse für die Juden in Deutschland so maßgeblich verschlechtert, dass Roth für eine geplante Neuauflage des Essays im Exilverlag Allert de Lange ein neues Vorwort verfasste. Darin stellt er fest, dass die Frage der Wanderschaft nunmehr alle Juden aus West und Ost beträfe und dass letztendlich der nationalsozialistische Angriff auf das Judentum am Ende auch die christliche Religion in ihren Grundfesten treffe. Die wenig später erfolgte erzwungene Massenwanderung in die Todeslager des Dritten Reichs hat Roth nicht mehr erleben müssen.
Jean Améry und die Ausgrenzung Der Extremfall von nationalem Identitätsverlust ist der von außen erzwungene, wie er sich in der anwachsenden völkischen Polemik in den letzten Jahren der Weimarer Republik ankündigte und im Dritten Reich institutionalisierte. Der gewaltsame Identitätsentzug, der unmittelbar jüdische Staatsbürger betraf, berührte mittelbar auch jeden, der mit den völkischen Werten nicht einverstanden war. Als fiktionale Dokumentation der wachsenden Entfremdung bis hin zur Infragestellung der eigenen Identität ließe sich etwa Ödön von Horvaths Roman Jugend ohne Gott anführen, der schon im Untertitel „Wie ich zum Neger wurde“ den Vorgang problematisiert. Horváths Roman ist gerade als unmittelbares Zeitzeugnis von Bedeutung. Er registriert die Stimmung der Zeit ohne vom nachträglichen Wissen J. Roth, Werke III (1956), S. 634 f. J. Roth, Werke III (1956), S. 637. Gegen den Zionismus spricht ferner auch Roths realistische Einsicht, dass jüdische Einwanderer in Palästina praktisch als europäische Kolonialisten wahrgenommen würden (Ebd.).
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über den weiteren Verlauf der Geschichte mitbestimmt zu sein.Wie Joseph Roth ist auch Horváth vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in der Pariser Emigration gestorben und hat das volle Ausmaß der von ihm vorausgeahnten nationalsozialistischen Verbrechen nicht erleben können. Immerhin haben beide die unerträgliche Eskalation des deutschen Antisemitismus und die Stigmatisierung aller Oppositionellen miterlebt. Da beide der nationalen Idee ohnehin sehr skeptisch gegenüberstanden und für beide die nationale Identität keinen Wert an sich bedeutete, blieb ihnen der traumatische Verlust des eigenen Selbstverständnisses weitgehend erspart. Wer sich dagegen von der Ausgrenzung im eigenen Selbstverständnis besonders schwer betroffen fühlte, waren Leute, die sich sehr bewusst mit den Bildungswerten deutscher Kultur identifiziert und sich gerade deshalb als Deutsche empfunden hatten, was gerade im assimilierten jüdischen Bürgertum recht häufig der Fall war. Oft war ihr Deutschsein das Ergebnis generationenlanger Bemühungen um Assimilation, und die plötzliche Erkenntnis von der Vergeblichkeit der ganzen Mühe, auf die sich oft der Stolz der Familie aufgebaut hatte, war entsprechend traumatisch. Joseph Roth war, wie er zugab, Assimilant mit einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber den Ansprüchen einer jeden Nation. Da ihm bereits durch die Auflösung der Donaumonarchie nach dem Ersten Weltkrieg die Grundlage seines Selbstverständnisses entzogen wurde, war er wohl besser gerüstet, sich mit den Folgen der Machtergreifung einzurichten als viele assimilierte Juden, die sich fraglos mit der deutschen Nation identifiziert hatten. Die Ausgrenzung der Juden traf auch viele assimilierte Juden, die sich über ihre jüdische Abstammung bis dahin keine Gedanken gemacht und ihre nationale und kulturelle Zugehörigkeit zu Deutschland oder Österreich niemals in Frage gestellt hatten. Einer, der diese Erfahrung besonders artikulierte, war der spätere Publizist und Holocaustüberlebende Jean Améry alias Hanns Mayer⁶². Jean Améry, der sich als Hanns Mayer in eben jenem von Roth belächelten „Alpenländchen“ durchaus heimisch gefühlt hatte, stand 1938 vor der Erkenntnis, dass er nicht mehr als Österreicher, sondern nur noch als Jude wahrgenommen wurde. Er emigrierte nach Belgien und wurde schließlich doch von der Gewaltherrschaft der Nazis eingeholt. Im berüchtigten Fort Breendonk gefoltert, musste er den Identitätsentzug buchstäblich und in besonders grausamer Weise am eigenen Leib erfahren. Améry traf sowohl das Schicksal des heimatlosen Emigranten als auch das des Folteropfers und KZ-Häftlings. Schließlich wurde er als Überlebender einer der bekanntesten Zeugen der Konzentrationslager. Seine
Zur dokumentarischen Unsicherheit der genauen Schreibweise seines Namens s. Heidelberger-Leonard 2004, S. 359 Anm. 1.
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Stimme, die sich erst in den 60er Jahren in der deutschsprachigen Öffentlichkeit erhob – dann aber mit auffallender Vehemenz – hat in einer empfindlichen Phase des gesellschaftlichen Umbruchs in Europa dazu beigetragen, die Erinnerung an den faschistischen Terror wach zu halten. In einer Folge von Aufsatzbänden, die seine Erfahrungen aus verschiedenen Blickwinkeln schildern, legte er eine Art Autobiographie, die zugleich ein Panorama seiner Zeit darstellte, vor. Der erste seiner drei autobiographisch geprägten Essaybände, Jenseits von Schuld und Sühne, machte einen besonders großen Eindruck und trug zusammen mit Peter Weiss’ Die Ermittlung dazu bei, das lange Schweigen über den Holocaust in der Bundesrepublik zu brechen. Weniger bekannt sind seine Romanversuche, die ebenfalls der Problematik selbst gewählter und aufgesetzter Identität in stärker fiktionalisierter Form gewidmet sind.⁶³ Hanns Mayer hatte sich in seiner Jugend wenig Gedanken über seine Zugehörigkeit zum Judentum gemacht. Er hatte sich nach eigenen Angaben vielmehr mit der monokulturellen deutschsprachigen katholischen Gemeinschaft, in die er hineinerzogen wurde, identifiziert und wurde umso abrupter von der Realität des Nationalsozialismus überrumpelt. Er gehört also zu den Menschen, die durch die Geschichte zum Juden gemacht wurden. Im Kapitel „Wieviel Heimat braucht der Mensch“ in Jenseits von Schuld und Sühne schreibt er: Wenn Jude sein heißt mit anderen Juden das religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischen Kultur- und Familientraditionen, ein jüdisches Nationalideal zu pflegen, dann befinde ich mich in aussichtsloser Lage. […] Ich sehe mich, einen Knaben, Weihnachten zur Mitternachtsmette durch ein verschneites Dorf stapfen; ich sehe mich in keiner Synagoge. Ich höre meine Mutter Jesus, Maria und Josef anrufen, wenn kleines häusliches Unglück sich ereignete, ich höre keine hebräische Beschwörung des Herrn. Das Bild des Vaters – den ich kaum gekannt habe, denn er blieb dort, wo sein Kaiser ihn geschickt hatte und sein Vaterland ihn am sichersten aufgehoben wusste – zeigte mir keinen bärtigen jüdischen Weisen, sondern einen Tiroler Kaiserjäger in der Uniform des ersten Weltkriegs.⁶⁴
War eine solche Einstellung für den Schüler Mayer in den frühen zwanziger Jahren möglich und verständlich, so wurde sie zehn Jahre später für den jungen Erwachsenen unhaltbar. Die Verhältnisse im großen Nachbarland konnten dem Österreicher in den dreißiger Jahren nicht verborgen bleiben. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und spätestens nach der Verabschiedung der Rassengesetze 1935 musste ihm klar werden, dass die jüdische Abstammung keine
Das noch vor der Emigration verfasste Jugendwerk Die Schiffbrüchigen wurde erst posthum in der Werkausgabe von 2007 veröffentlicht. Der Roman-Essay Lefeu oder der Abbruch erschien 1974. J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne (Werke 2), Stuttgart 2002, S. 150.
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Angelegenheit war, die einen nur selber etwas anging, und zwar nur in dem Maße, wie man sich dafür interessierte. Im sich verschlechternden gesellschaftlichen Klima in Österreich und bedrückt durch die Vorahnung des immer wahrscheinlicher erscheinenden Anschlusses wurde der jüdische Bestandteil seiner Identität, zu dem er zunächst kein eigentliches inneres Verhältnis hatte, existentiell ausschlaggebend. Mit der Zeit und aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen wird ihm das „Judesein“ zur Identität, aber nicht zur Heimat. Die Heimat war ihm, wie anderen jüdischen Bürgern, durch den Faschismus regelrecht entrissen worden. Das war eine andere Erfahrung als die von Joseph Roth, bei dem durch den Untergang des Staates das ganze galizische Milieu seiner Kindheit von der Geschichte überrollt wurde. Roth sah das als Teil eines historischen Unfalls. Für Améry hingegen war der abrupte Heimatentzug so etwas wie ein persönlicher Affront: Was mich betraf, war ich aber sehr wohl ein Jude, wie mir 1935 nach Kundmachung der Nürnberger Gesetze bewusst geworden war, und darum hatte und habe ich auch Heimweh, ein übles und zehrendes Weh, das gar keinen volksliedhaft-traulichen, ja überhaupt keinen durch Gefühlskonventionen geheiligten Charakter hat und von dem man nicht sprechen kann im Eichendorff-Tonfall. […]“mein, unser Heimweh war Selbstentfremdung. Die Vergangenheit war urplötzlich verschüttet, und man wusste nicht mehr wer man war.“⁶⁵
Die Ausgrenzung meinte auch die Ausgrenzung aus jener Kultur, die seit der Romantik den Heimatbegriff übermäßig sentimentalisierte. Das Stigma und das Leiden bildeten für Améry die Grundlagen seiner späteren Identität, konnten aber keine Heimat sein. Dass ihm die jüdische Identität zunächst sehr fremd war, ist nicht erst eine Rekonstruktion, die Améry in Jenseits von Schuld und Sühne nachträglich entwickelte. Schon in seinem um 1934– 35 verfassten ersten Roman, dem erst posthum erschienen Werk Die Schiffbrüchigen, stellt sein Erzähler ähnliche Überlegungen an: Nichts band ihn an das Volk, zu dem er nun gehören musste, oder: nichts wusste er von Bindungen an es. Nicht fühlte er sie lebendig ihn halten, nicht ihn ketten an die vielen seiner Rasse, die ihr kleines Leben lebten, wie die anderen das ihre.Wenn er manchmal von kleinen Unterscheidungen, albernen Reibungen gehört hatte, hatte er nie bedacht, dass es auch ihn einmal hineinziehen könnte, zwingen in ein Kollektiv. Wie konnte seine Seele das Unheimliche, das nun da war, fassen und einordnen in ihren täglichen Lauf? In Frage gestellt schien plötzlich das ganze Wertsystem, nach dem bisher Menschen und Dinge gedacht worden waren. Denn vielleicht galt wirklich jene andere Wahrheit, (auch
J. Améry, Jenseits… Werke 2, S. 89. [Hervorhebung CP].
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sie war eine), die von Millionen geglaubt wurde, die ihn verstieß, ihn vogelfrei und heimatlos machte.⁶⁶
Das bezeichnet die Schwierigkeit, vor welcher der junge Hanns Mayer selber 1935 stand. Ganz so abrupt und unerwartet wie nachträglich dargestellt kam der Ausschluss aus dem heimatlich-kulturellen Umfeld Österreichs für ihn demnach nicht, denn die waltende Pogromstimmung der frühen dreißiger Jahre, vor allem unter den Wiener Studenten, überschattet den ganzen Roman. 1938 emigrierte Améry zunächst nach Belgien. Nach Kriegsausbruch wurde er als „enemy Alien“ von Belgien nach Frankreich deportiert, wo er im Lager Gurs inhaftiert war. Von dort gelang ihm die Flucht und er gelangte auf abenteuerlichem Wege zurück in das inzwischen okkupierte Belgien. Dort schloss er sich dem Widerstand an, wurde von der Gestapo gefasst und im berüchtigten Fort Breendonk gefoltert, bevor er schließlich nach Auschwitz verschickt wurde. Nach der Befreiung ließ er sich permanent in Belgien nieder, legte sich das „französierende Anagramm“ seines Namens zu und arbeitete als Korrespondent für die belgische und französische Presse. Améry hat sich, vor allem aufgrund der Folter und der anschließenden Lagererfahrung mit der ihm ursprünglich fremd erscheinenden Identitätszuschreibung arrangiert. Da ist nichts gemütlich Heimatliches mehr in seinem Lebenslauf, wohl aber durchaus eine eindeutige Identifikation mit dem Erlebten. Amérys Identität als Jude und Emigrant gewinnt durch seine Erfahrungen jene jenseits des Gegensatzes von Essenz und Konstruktion befindliche „Schwerkraft“ von der Carolin Emcke im Zusammenhang mit den Identitäten, die auf der Diskriminierungserfahrungen beruhen, spricht.⁶⁷ Der „Eichendorff-Tonfall“ kommt für den stigmatisierten Juden allerspätestens nach der Inhaftierung in Auschwitz keineswegs mehr in Frage, denn zum Heimatentzug, der sich infolge der Nürnberger Rassengesetze für die deutschen und später österreichischen Juden einstellt, gehört auch die Verweigerung ihrer Teilhabe an der deutschen Kultur. Als Intellektueller im Konzentrationslager macht Améry zwei nachteilige Erfahrungen, die er im ersten Kapitel von Jenseits von Schuld und Sühne ausführlich behandelt. Die eine ist eher physischer Natur und wird von allen Häftlingen geteilt, insbesondere von jenen, die keinen praktischen Beruf haben und es nicht gewohnt sind, schwere physische Arbeit zu leisten. Die zu leistende Zwangsarbeit ist zermürbend und entmenschlichend und in den meisten Fällen tödlich. Die zweite Erfahrung ist die, dass er als Jude keinen Anspruch auf seine
J. Améry, Die Schiffbrüchigen. Werke 1, Stuttgart 2007, S. 21 f. C. Emcke, Kollektive Identitäten, S. 229.
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angeeignete Bildung erheben darf, denn das deutsche Kulturerbe wurde vom nationalsozialistischen System beschlagnahmt. Damit wird ihm wieder ein ganz wichtiges Stück Heimat genommen: „Was immer er anzurufen suchte, gehörte nicht ihm, sondern dem Feind.“⁶⁸ Das Stück Heimat, das in Freiheit lebende Emigranten in Form von Sprache, Literatur und Konversation mit ins Exil genommen hatten, ist ihm verwehrt. Er zitiert die bekannte Behauptung Thomas Manns, „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur“ und schreibt dazu: Der deutsch-jüdische Auschwitzhäftling hätte eine solch kühne Behauptung nicht aufstellen können, selbst wenn er zufällig ein Thomas Mann gewesen wär Er konnte die deutsche Kultur nicht als seinen Besitz reklamieren, weil sein Anspruch keinerlei soziale Rechtfertigung fand. […] In Auschwitz aber mußte der isolierte Einzelne noch dem letzten SS-Mann die gesamte deutsche Kultur samt Dürer und Reger, Gryphius und Trakl überlassen.⁶⁹
Dass den Juden ihre ganz wesentliche Teilhabe an der deutschen Kultur von den Nazis ganz einfach aberkannt wurde, war ein besonders wunder Punkt, der auch in der Emigration empfunden wurde. Darauf kam auch Stefan Zweig bei seiner Grabrede für Joseph Roth zu sprechen: Aber von all ihren [der Nazis, CP] Lügen ist vielleicht keine verlogener, gemeiner und wahrheitswidriger als die, dass die Juden in Deutschland jemals Haß oder Feindseligkeit geäußert hätten wider die deutsche Kultur. Im Gegenteil, gerade in Österreich konnte man unwidersprechlich gewahren, dass in all jenen Randgebieten, wo der Bestand der deutschen Sprache bedroht war, die Pflege der deutschen Kultur einzig und allein von Juden aufrechterhalten wurde.⁷⁰
Es waren aber nicht nur unverbesserliche Nazis, für die die Bindung der deutschen Juden an die deutsche Kultur keine Selbstverständlichkeit war. Wolf Lepenies zitiert den prominenten Romanisten E. R. Curtius, der in Deutscher Geist in Gefahr (1932) als einer unerfüllten Hoffnung aussprach: „Möchte der Bluts- und Geistesadel des deutschsprechenden Judentums sich zu aristokratischer, deutscher Kulturgesinnung bekennen“. Wie Lepenies dazu treffend bemerkt, war dies gar kein jüdisches Problem, sondern „Das Problem des Deutschen war es, den Juden dieses Bekenntnis zu untersagen.“⁷¹ Jean Améry setzte sich erst in den sechziger Jahren öffentlich mit seinen Erfahrungen auseinander. Damit fand er seinen eigenen Platz im deutschsprachigen Kulturleben, aber an einer Rücksiedlung in den deutschsprachigen Raum dachte
J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Werke 2, S. 33. J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Werke 2, S. 34. St. Zweig, Europäisches Erbe, Frankfurt/M. 1994, S. 269. W. Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, Frankfurt/M. 2008, S. 387.
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er trotz längerer Aufenthalte nie.⁷² Dass Améry sich für einen Essayband lieber als für Memoiren oder eine Autobiographie entschied, ist bezeichnend. So konnte er den subjektiven Akzent seines Berichts etwas zurückstellen. Die Erfahrungen von Exil, Folter und Lagerhaft werden unter einem thematischen Aspekt behandelt. Damit erhöht sich der Eindruck von der Zufälligkeit des Erlebten, und die Leser werden mit den schreckhaften zentralen Erlebnissen des Verfassers konfrontiert ohne dass irgendeine versöhnliche Sinngebung erlaubt ist. Der wirkliche Bruch in Amérys Leben ist die Folter in Breendonk. An ihr scheitert auch jeder Versuch das Leben zu einem sinnvollen Narrativ zurechtzubiegen. Das ist es, „was alles ändert“. Diese körperliche Erfahrung bestimmt fortan Amérys Identität. Das unvergessliche Jetzt der Folter überlagert jedes Zeitgefühl. W. G. Sebald, der sich mehrfach mit Améry beschäftigte und dessen Foltererfahrung in seinen Roman Austerlitz inkorporierte,⁷³ hebt in einem Aufsatz von 1988 die Konsequenz einer derartigen Erfahrung für den Erinnerungshaushalt und damit für die Identität hervor: Um wie viel irrealer, weiter zurück und schwerer zu erinnern war für ihn nicht die Kindheit in Ischl und Gmunden, als es der bloße Verlauf der Zeit rechtfertigte; um wie viel näher und unvergänglicher mussten die Julitage des Jahres 1943, während der er von der Gestapo in Fort Breendonk gefoltert wurde, ihm stets wieder vorkommen.⁷⁴
In der Praxis wurde Améry zu einem unfreiwilligen Kosmopoliten. Zeitweilig bot ihm der Existentialismus Sartres eine geistige Heimat. Paris, als intellektuelles Zentrum wird ihm so auch zur Metropole, zum Orientierungspunkt. Dass er weiterhin in Brüssel wohnen blieb, spielt dabei keine Rolle, bzw. ist nur konsequent in Anbetracht der Tatsache, dass zum Kosmopolitentum die Unabhängigkeit vom Standort eben gehört. Améry kann als aufmerksamer Beobachter und Kommentator der Nachkriegszeit gesehen werden, und man spürt in seinen Aufsätzen und Stellungnahmen die zunehmende Selbstverständlichkeit, mit der innereuropäische Grenzen überschritten werden. Sein einziger zu Lebzeiten veröffentlichter Roman, Lefeu, spielt in einem verfallenen und zum Abbruch längst bestimmten Haus in Paris. Seine Essaybände Unmeisterliche Wanderjahre und Örtlichkeiten zeugen von der näheren Bekanntschaft nicht nur mit Wien und
Eine gewisse ironische Symbolik ist darin zu sehen, dass Améry als Ort seines Freitodes ein Hotelzimmer in Salzburg nahm. Ein traumatischer Kindheitsverlust ist auch das Thema von Sebalds Roman Austerlitz, auf den ich später näher eingehen werde. W. G. Sebald, Mit den Augen des Nachtvogels. In: Sebald, Campo Santo, München 2003, S. 153.
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Brüssel, sondern auch mit Zürich, Paris, London und Köln. Der Aktionsraum, der sich in diesem Werk zeigt, ist ein europäischer und einer, der deutlich von den Bedingungen der Nachkriegszeit geprägt ist. Ist die enge oberösterreichische Heimat für den Erwachsenen und in Jean Améry verwandelten Hanns Mayer unwiederbringlich verloren, so stellt doch das räumlich zwar deutlich diffusere westliche Europa faktisch sein Lebensumfeld dar. Hinzu kommt, dass hier einer mit belgischem Wohnsitz und starker Hinwendung zum intellektuellen Diskurs der französischen Gegenwart nach anfänglichem Zögern mit Auftritten im Rundfunk und Fernsehen immer stärker auch zur Figur der westdeutschen Öffentlichkeit wird. Der intellektuelle Zusammenhang zwischen den Entwicklungen in Frankreich und dem deutschsprachigen Raum scheint Améry, insbesondere nach den Jahren der Studentenrevolte, teils bewusster gewesen zu sein als er ihren Hauptakteuren war. In diesem Sinne war Améry im Europa der Nachkriegszeit zuhause. Aber als Heimat will er die neue Lebenswelt nicht anerkennen. Er war und blieb Emigrant, und das ihm von den Antisemiten zugewiesene Judentum verstand er nicht nur als Identität, sondern mehr als Aufgabe und „Thema“. Améry hat nach dem Krieg die österreichische Staatsangehörigkeit zurückerhalten, aber das Zugehörigkeitsgefühl, das er vielleicht einmal gehabt hatte, war ihm vollends abhanden gekommen, und es fällt auf, dass auch Belgien ihm kein Ersatz war. Seine Identität ist als Holocaust-Opfer rein negativ bestimmt. Charakteristisch ist die lakonische Selbstdarstellung aus dem Jahr 1976, wo Améry sich selbst als weiterhin zwischen den Nationen baumelnden Emigranten bezeichnet. Ist einmal die Mitgliedschaft des Individuums in einer Nation in ihrer Selbstverständlichkeit zerrissen, so werden plötzlich kritische Anforderungen gestellt. Staatsangehörigkeit, einmal als kontingent wahrgenommen, kann zur Frage der Wahl werden. Belgien hat Améry freundlich aufgenommen, aber erfüllt als Nation nicht die qualitativen Bedingungen, die die belgische zur unbedingt erstrebenwerten Staatsangehörigkeit machen würde. Auch Österreich erfüllt diese Bedingungen nicht. So schreibt er in einem Beitrag unter dem Titel „Aspekte des Österreichischen“ (1976): Ich bin Österreicher, Jahrgang 1912, abstämmig aus Vorarlberg, aber geboren in Wien, und habe den größeren Teil meines österreichischen Lebens in der Provinz, Ober-und-Niederösterreich verbracht. Ich verließ das Land 1938 aus politischen wie „rassischen“ Gründen. Seit 1946 habe ich es regelmäßig besucht, ohne den Gedanken daran, mich wieder dort niederzulassen. Immerhin ist mein Reisepapier der österreichische Pass: mein Gastland Belgien, dem ich in Dankbarkeit verbunden bin, ist leider in seiner nationalen Zerrissenheit
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nicht so geartet, dass man Lust haben könnte, sich dort naturalisieren zu lassen. Es ist also weit über meiner Person hinaus, der Emigrant, der hier spricht … ⁷⁵
Einmal Emigrant, immer Emigrant: Améry artikuliert hier eine Erfahrung, die für seine Exilgeneration in der Nachkriegszeit nicht untypisch ist und die auch keineswegs auf Österreich beschränkt ist. Améry macht aber im Verlauf desselben Aufsatzes zwei Beobachtungen, die den Abschluss des schmerzlichen Übergangs vom Österreich der Donaumonarchie zur heutigen Zweiten Republik markieren. Bei der ersten Beobachtung geht es explizit um den Generationenwechsel. Die Zwischenkriegsgeneration lebte in einem Staat, den keiner so recht wollte. Die einen schielten nach Deutschland, die anderen liebäugelten mit der sozialistischen Internationale. Inzwischen aber, stellt Améry in diesem Beitrag von 1976 fest, gibt es eine Generation, die sich mit völliger Selbstverständlichkeit zur Republik Österreich bekennt.⁷⁶ Andererseits, so die zweite Beobachtung, könne sich die Zweite Republik kulturell und wissenschaftlich gar nicht an der ersten messen. Denn Wien habe noch in den 20er Jahren dank des Zustroms aus Galizien, Mähren und anderen habsburgischen Ländern als europäische Kulturmetropole auf gleicher Höhe mit Paris oder Berlin gestanden. Améry führt dazu eine lange Liste von Namen von Freud bis Kokoschka und Webern an. Dieses Potenzial sei der kleinen Nachkriegsrepublik, von ihrem alten Hinterland durch den Eisernen Vorhang abgetrennt, trotz beachtlicher eigener Leistungen abhanden gekommen.⁷⁷
J. Améry, Aspekte des Österreichischen Werke 7, 2005, S. 555. J. Améry, Aspekte des Österreichischen Werke 7, S. 556. J. Améry, Aspekte des Österreichischen Werke 7, S. 558.
III Exilgeschichten Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Das heißt doch Auswanderer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss Wählend ein anderes Land.¹ Bertolt Brecht
Schriftsteller waren immer schon ein reiselustiges Volk. Und die europäischen Literaturen waren immer in starkem Maße von den Reiseerfahrungen und den auswertigen Kontakten der Autoren mitgeprägt. So liegt die paradigmatische Bedeutung von Goethes italienischer Reise nicht darin, dass sie etwa einmalig gewesen wäre, sondern gerade darin, dass sie einerseits für ihre Zeit repräsentativ war und andererseits maßgeblich zu Goethes Weltbild und Ich-Verständnis beitrug. Bei der Emigration aus dem Dritten Reich handelt es sich dagegen nicht um freiwillige Bildungsreisen und auch nicht, wie Brecht in seinem bekannten Gedicht „Über die Bezeichnung Emigranten“ zu Recht bemerkt, um eine Auswanderung im eigentlichen Sinne. Es ging in den meisten Fällen unmittelbar ums Überleben. Dabei stand die Dauer des Exils zunächst nicht fest. Anfangs bestand noch die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr. Doch je länger der Auslandsaufenthalt dauerte und je weiter man sich von Deutschland entfernte, desto mehr musste man sich auf das Leben in der Diaspora einstellen. In der Emigration bilden sich kleine transitorische Gemeinschaften auf lokaler Ebene, deren Bedeutung in der Anfangszeit von großer praktischer und psychischer Bedeutung ist. Das ist besonders der Fall, wenn es sich um ein erzwungenes Exil handelt. Durch den Umgang mit der jeweiligen transitorischen Gemeinschaft kommt dem Migranten eine neue Teilidentität zu. Für die Dauer des Exils aus Deutschland und Österreich kam so zu der Frage, ob man sich als Deutscher, Österreicher, Jude, deutscher Jude oder jüdischer Deutscher empfand, als weiterer, nivellierender Aspekt die Identität als Exilant hinzu – eine Identität, die mit Verfolgten aus anderen Gebieten geteilt wurde. Solche Gemeinschaften bilden sich, wie Homi K. Bhabha beobachtet, in einem Prozess des Sammelns:
B. Brecht, Über die Bezeichnung Emigranten. Gesammelte Gedichte, Bd 2, Frankfurt/M. 1976, S. 718. https://doi.org/10.1515/9783110706338-005
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Ich habe jenen Augenblick des Zerstreuens von Menschen durchlebt, der zu anderen Zeiten und an anderen Orten, in den Nationen anderer zu einer Zeit des Sammelns wird. Des Sammelns von Emigrierten und émigrés und Flüchtlingen; des Sammelns am Rand von „fremden Kulturen“; des Sammelns an den Grenzen; des Sammelns in den Ghettos oder Cafés der Innenstädte; des Sammelns in der fragmentarischen Existenz und im Halbdunkel fremder Sprachen oder im unbehaglichen Fluß der Sprache eines anderen; des Sammelns der Zeichen von Anerkennung und Akzeptanz, Diplomen, Diskursen, Disziplinen; des Sammelns der Erinnerungen an Unterentwicklung, an andere Welten, die nun retroaktiv gelebt werden; des Sammelns der Vergangenheit in einem Wiederbelebungsritual; des Sammelns der Gegenwart.²
Das Europäische Exil Das Sammeln geschah in den ersten Jahren des antifaschistischen Exils weitgehend in den europäischen Nachbarländern Deutschlands, im französischen Sanary, Marseille und Paris, in Prag und Amsterdam. Dieses Sammeln wird in Autobiographien und Romanen des Exils wie Klaus Manns autobiographischem Wendepunkt oder Lion Feuchtwangers Exil dargestellt. Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung des endlosen Hin und Her zwischen Konsulaten und Cafés in Anna Seghers’ Roman Transit. Wichtig war vielen Autoren während der Zeit des Exils die publizistische Tätigkeit, bei der die Aktualität bewahrt werden und ein lebendiger Dialog unter den Emigranten über nationale und politische Grenzen hinweg geführt werden konnte. Exilzeitschriften erschienen von Moskau bis Südamerika, wobei Autoren generell als Herausgeber oder in den Redaktionskomitees wirkten. Sie vertraten recht unterschiedliche politische Standpunkte, auch wenn sie das gemeinsame Ziel der Überwindung des Faschismus teilten. Die zwangsläufig pluralistische Gemeinschaft propagierte mit ihrer regen Publizistik unterschiedliche Gesellschaftsmodelle für ein künftig befreites Deutschland. So entstand eine breite Diskussion, die zwar politisch kaum etwas bewirken konnte, dafür aber einen Beitrag zur Schaffung des Fundaments für ein reges und offeneres zivilgesellschaftliches Engagement in der Nachkriegszeit leistete. In der Praxis bildete die zerstreute Gemeinschaft des Exils somit ein „anderes Deutschland“, das ganz im Gegensatz zum Dritten Reich durch sein internationales Netzwerk erst recht „europäisch“ war. Solange Exil auf dem europäischen Festland möglich war, unterhielten Exilanten aus Deutschland ein enges Netzwerk mit Knoten in Wien, Paris, Amsterdam, Prag und Zürich. Für die politisch aktiven Emigranten blieb der Bezug zu H. K. Bhabha, DissemiNation. In: ders. Die Verortung der Kultur. Tübingen 2011 [2000], S. 207.
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Deutschland relativ stark. Exilautoren schrieben noch in der Hoffnung, dass ihre Werke nach Deutschland gelangen würden. Viele versuchten über Kontakte im deutschen Untergrund eine gewisse Präsenz in Deutschland zu erhalten. Es war auch von vorherein klar, dass die Macht der Nazis keine rein innerdeutsche Angelegenheit sei. Dass ein Krieg in Vorbereitung war, war zumindest den aus Deutschland Geflohenen bewusst und machte den Faschismus zu einer real empfundenen Gefahr für den ganzen Kontinent. Die gesamteuropäische Dimension des Konflikts mit dem Faschismus wurde spätestens beim Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs sichtbar. So blieben politische Unternehmungen der Emigrantenkreise wie die Versuche, eine Volksfront zu bilden, nicht auf diese beschränkt, sondern waren Teil einer europaweiten Bewegung.³ Das setzte die Sympathie und Kooperation seitens der lokalen Bevölkerung voraus, wobei bestehende intellektuelle Verbindungen, oder im politischen Bereich auch Parteikontakte eine große Rolle spielten. Mit dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich und der bald darauf erfolgten Besetzung der Tschechoslowakei schrumpfte das europäische Netz merklich.
Exilland USA Beim Kriegsausbruch wurden die Emigranten aus Deutschland und Österreich in ihren Aufenthaltsländern zusammen mit ihren nicht exilierten Landsleuten zu feindlichen Ausländern abgestempelt, wodurch es für sehr viele zur wiederholten Flucht – diesmal auch als Flucht aus Europa kam. Eine sichere Überlebenschance bot nur die Emigration nach Übersee, wobei das vielleicht natürlichste und attraktivste Ziel die Vereinigten Staaten von Amerika waren.⁴ Die Vereinigten Staaten hatten sich als Einwanderungsland seit Jahrhunderten Flüchtlingen und anderen Europamüden angeboten. Die Gründung der Vereinigten Staaten durch europäische Einwanderer war auf das Bedürfnis zurückgegangen, auf dem grenzenlos weit erscheinenden neuen Kontinent freie und demokratische Verhältnisse zu schaffen, wie sie in der Enge der meisten europäischen Staaten vielleicht gedacht, aber nicht verwirklicht werden konnten. Mit der Unabhängigkeitserklärung und der amerikanischen Verfassung wurden so die Es war eine Bewegung unter den Exilierten an verschiedenen Orten Europas, aber es war zumindest in Frankreich auch koordiniert mit der entsprechenden Bewegung des Gastlands. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Düsseldorf 1974, S. 386 ff. Dass auch Großbritannien, wo u. a. Hilde Spiel im Exil lebte, „sicher“ war, war auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges den Inselbewohnern selbst keineswegs selbstverständlich.
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Bedürfnisse europäischer Auswanderer bedient, aber bekanntlich nur auf Kosten der ursprünglichen Bevölkerung des Erdteils wie auch der zur Umsiedlung gezwungenen Afrikaner. So ist das Amerika, das sich in den dreißiger und vierziger Jahren als Exilland anbietet, ein grundsätzlich europäisches Gebilde. Kulturell und politisch definieren sich die Vereinigten Staaten bis weit in das 20. Jahrhundert hinein unter Bezugnahme auf Europa. Aus amerikanischer Sicht beschrieb Daniel Boorstin 1960 das Verhältnis in seinem Buch America and the Image of Europe. Dort konstatiert er: At different periods and in several parts of the United States […] non-European Nations have entered our thinking about ourselves. But all these variants have been transient, local and insignificant, compared with our tendency to discover ourselves as a kind of non-Europe.⁵
In dieses „non-Europe“ kamen die Flüchtlinge aus dem von den Nazis überrollten Europa. Damit setzten sie den traditionellen Zustrom von Neuankömmlingen aus Europa fort. In der Folge lag für sie die Option auf eine permanente Umsiedlung sehr viel näher als für Emigranten in vielen anderen Ländern. Nach dem Kriegsbeginn in Europa erweiterten sich die Kreise der Exilanten in den USA. Zu den Emigranten aus deutschsprachigen Ländern kamen jetzt weitere Flüchtlinge aus den faschistisch okkupierten Ländern hinzu, was vorübergehend die Entstehung einer gemeinsamen Exilidentität der verschiedenen Gruppen begünstigte. Der Wartezustand und die Entfernung von der Heimat stellten viele vor die Entscheidung, ob sie in einer deutschen bzw. europäischen Blase ausharren wollten oder die Assimilierung an das Gastland anstreben sollten. Ob sie die Absicht hatten, sich auf Dauer in den Staaten niederzulassen, oder weiterhin den Aufenthalt dort, wie bereits in vorangegangenen Jahren in den noch nicht überrollten europäischen Nachbarländern als „Wartesaal“ betrachteten, war individuell sehr verschieden und hing nicht zuletzt von den jeweiligen Sprachfertigkeiten ab. So oder so fanden die europäischen Exilanten auf dem amerikanischen Kontinent eine ganz andere Situation vor als in den europäischen Gastländern, die sie früher beherbergt hatten. Das Grenzen überschreitende Netzwerk, das sie in den dreißiger Jahren aufgebaut hatten und durch die Vielzahl an Zeitschriften aufrecht hielten, fiel weitgehend weg. Die Exilanten wurden als potentielle Zuwanderer gesehen, und die politischen Verhältnisse, denen sie entflohen waren, interessierten die aufnehmende Bevölkerung deutlich weniger als es in Europa der Fall gewesen war. Für bestimmte Gruppen, insbesondere für die jüdischen Emigranten, wurde der Wunsch nach Rückkehr entsprechend schwächer. Dafür war das Integrationsangebot der amerikanischen Gesellschaft größer. Arbeits D. J. Boorstin, America and the Image of Europe, New York 1960, S. 20.
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möglichkeiten im akademischen und kulturellen Bereich boten sich an. Dazu gehören die Universitäten der Ostküste und die Filmindustrie Hollywood. So übernahm die Columbia Universität in New York das Frankfurter Institut für Sozialwissenschaft unter Max Horckheimer, und in den Vororten von Los Angeles entstand eine Emigrantenkolonie mit Schriftstellern wie Brecht, Feuchtwanger und den Manns, Komponisten wie Schönberg und Eisler sowie professionellen Filmleuten. Für eine dauerhafte Integration waren allerdings gute Fertigkeiten im Englischen und eine proamerikanische Gesinnung unentbehrlich. Wurde eine linke Gesinnung während der Kriegsjahre gerade noch geduldet, so wurde sie bald nach dem Krieg im Zuge der Arbeit des McCarthy-Komitees zum Verhängnis.⁶ Noch bevor sich der radikale Umschwung der McCarthy-Jahre abzuzeichnen begann, war die Umstellung auf die Lebensverhältnisse in den USA für viele Exilanten mit einem recht großen Kulturschock verbunden. Für Brecht waren Alltag, Arbeitsleben und Sprache in Amerika gleichermaßen befremdlich. Man bekam kein anständiges Brot, die Häuser seien nur als Anhang der Garagen konstruiert, und das blühende Kalifornien verdanke sich der künstlichen Irrigation, ohne die es eine Wüste wäre.⁷ In der Filmindustrie und im Theater konnte Brecht bekanntlich nicht richtig Fuß fassen, da sie für seinen Geschmack zu kommerzialisiert waren. Ähnliches empfand auch Theodor Adorno, der zwar in Amerika seine Theorie zur Konsumgesellschaft und zur Kulturindustrie entwickeln konnte, aber weder in der amerikanischen Wissenschaft noch in der amerikanischen Kultur heimisch wurde. Der Musiker Adorno konnte den Jazz als soziales Phänomen analysieren, ohne ein rechtes Verständnis für seine eigentliche musikalische Qualität aufzubringen.⁸ In der Wissenschaft vermisste er wiederum, wie er sich später nach seiner Rückkehr nach Europa erinnerte, die ihm aus Deutschland vertraute theoretische Hypothesenbildung: Tatsächlich begegnete mir das Argument, daß man, wenn man vor empirischen Untersuchungen gar zuviel Gedanken als Hypothesen entwickle, möglicherweise einem ‚bias‛ verfalle, einem Vorurteil, das die Objektivität der Befunde gefährde.⁹
S. dazu A. Stephan, Im Visier des FBI. Deutsche Exilschriftsteller in den Akten amerikanischer Geheimdienste, Stuttgart 1995. S. J. K. Lion, Bertolt Brecht in America, Princeton NJ 1980, S. 30 f. S. Stephan Braese, „It doesn’t mean a thing“. In: Literatur und Exil hg. von D. Bischoff u. S. Komfort-Hein, Berlin 2013, S. 83 – 96. Th. W. Adorno, Was ist Deutsch? In: Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 714.
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An anderer Stelle findet Adorno Webers Ansicht vom „Niedergang des gebildeten Menschen im europäischen Sinn, der freilich als sozialer Typus in Amerika nie mag voll etabliert gewesen sein“ bestätigt.¹⁰ Immerhin versucht sich Adorno nach den Gräueln von Weltkrieg und Shoah von der in Deutschland überlieferten Zivilisationskritik, die weiterhin gewisse transatlantische Vorurteile bestimmte, zu distanzieren: Nach einer zivilisationsfeindlichen Tradition, die älter ist als Spengler, glaubt man sich dem anderen Kontinent überlegen, weil er nichts als Eisschränke und Autos hervorgebracht hätte und Deutschland die Geisteskultur. Indem jedoch diese fixiert, sich zum Selbstzweck wird, hat sie auch die Tendenz, von realer Humanität sich zu entbinden und sich selbst zu genügen.¹¹
Die aus der Zeit des ersten Weltkriegs und Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen bekannte Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur überlebte den Zweiten Weltkrieg, auch wenn ein neuer elegischer Ton zu vernehmen ist – gewissermaßen der Tonfall eines Nachrufs. Ein gutes Beispiel liefert Eugen Gürster 1951 in der Neuen Rundschau: Das Wesentliche an der amerikanischen Zivilisation versteht man erst, wenn man erkannt hat, wie viele geistige Impulse, die auf dem alten Kontinent in Religion, Philosophie und Kunst ihren Ausdruck gefunden haben, in Amerika in der Sphäre der Politik und des sozialen Lebens aufgefangen und vorübergehend befriedigt werden. In den europäischen Kathedralen, der klassischen Musik, in der großen Dramatik spricht sich ein tragisches Europäerbild vom Menschen aus, das am Treffendsten durch jenes Nietzsche-Wort beschrieben wird, demzufolge der Mensch etwas ist, „das überwunden werden muß“. Die Erdenwirklichkeit ist für die Amerikaner das wahre, eigentliche und im Grunde einzige Zuhause des Menschen, und auf Wissenschaft und Technik blickt er als auf das alltaugliche Instrument, mittels dessen dieses Zuhause mit jeder Generation wohnlicher gemacht werden kann. Die europäische Kultur hat sich als lange Reihe immer neuer Variationen über das Thema des Todes entfaltet.¹²
Objektiv gelesen, spricht hier alles für die amerikanische Zivilisation, die auf eine kontinuierliche Verbesserung des irdischen Daseins getrimmt ist. Amerika vertritt das Lebensprinzip, während es in Europa in immer neuen Variationen um den Tod geht. Und doch sprechen die Konnotationen eine andere Sprache. Wo Amerika allenfalls alltägliche Werte und Güter, Politik, soziales Leben, Wissenschaft und Technik aufzubieten hat, trumpft Europa mit seinen Kathedralen, klassischer Ebd., S. 715. Ebd., S. 697. E. Gürster, Geistige Aspekte der amerikanischen Zivilisation, Teil 2. In: Die Neue Rundschau 1951, H. 3, S. 24– 74. Hier S. 25 f.
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Musik und klassischer Dramatik auf. Tragisch ist jedoch, dass dieser kulturelle Reichtum dem Tod geweiht ist. Doch liefert gerade diese dem Europäischen innewohnende Tragik der Alten Welt den nicht einzuholenden Vorsprung vor den USA. Trotz der oft erst nach großen Anstrengungen erreichten Sicherheit, die in den USA den Exilanten zumindest das Überleben ermöglicht hat, ist daher für viele die weitere Arbeit von einem Gefühl des Kulturverlusts überschattet. Für die deutschsprachige Exilliteratur bedeutet der Umzug nach Amerika darüber hinaus auch eine große strukturelle Veränderung. Mit der Hoffnung auf eine baldige Niederlage des Faschismus ließ der Zusammenhalt unter den Emigranten nach. Hinzu kam mit dem Zusammenbruch des zuvor in Europa international funktionierenden Netzwerks von Zeitschriften und Verlagen ein großer Einbruch im Absatz. Alexander Stephan schreibt dazu zusammenfassend: Die Besetzung der deutschsprachigen Gebiete durch die Faschisten und der Ausbruch des Krieges ließen nicht nur die wichtigsten Absatzgebiete für Exilliteratur ausfallen, sie trieben neben den Verlegern und ihren Autoren auch die exilierte Leserschaft auf eine unstete Wanderung von Land zu Land. Gleichzeitig verlor die jüdische Massenemigration, die durchweg der Schicht des lesenden Bürgertums entstammte, im Zuge der Akkulturation immer mehr das Interesse an deutschem Schrifttum.¹³
Das nachlassende Interesse der deutschjüdischen Leserschaft am Exilschrifttum betraf auch die redaktionelle Ausrichtung der größten in den USA tätigen Exilzeitschrift Aufbau, die die unterschiedlichen Interessen ihrer weitgehend bürgerlichen Leserschaft mit denen ihrer prominenten, oft sozialistisch orientierten Autoren auszugleichen suchte.¹⁴ Je größer die geographischen Kreise der Emigration, je weiter ihre Zentren sich von Deutschland verlagern und je internationaler die Kreise der Emigranten werden, desto mehr vermischen sich die Empfindungen und desto unspezifischer wird auch die Vorstellung von der zurückgebliebenen Heimat. Von Amerika aus betrachtet wird Europa zwangsläufig kleiner. Die alte Dichotomie von (deutscher) Heimat und Fremde verwandelt sich in das Gegensatzpaar Europa und Amerika. Der Aufenthalt in den Staaten fordert daher allen europäischen Flüchtlingen die Reflexion über Europa als Ganzes und nicht nur über die einzelnen Heimatländer ab. Aus der Distanz Amerikas verloren so manche innereuropäischen Unterschiede an Gewicht, und wer in der Situation Heimweh hatte, konnte sich nicht nach der Realität von Faschismus und Krieg zurücksehnen, der er gerade glück-
A. Stephan, Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945. München 1971, S. 85. S. dazu D. Azuelos in: Refuge and reality hg. von Ó Dochartaigh u. Stephan, Amsterdam 2005, S. 71– 84.
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lich entkommen war, sondern musste zwangsläufig ein anderes, ideales Europa als Heimat erfinden. Die alte Schmelztiegelmetapher, die eigentlich schon immer nur auf Einwanderer europäischer Herkunft zutraf, scheint bis zu einem gewissen Grade auch auf die transitorischen Gemeinschaften der Exilanten zu zuzutreffen. Darum geht es unter anderem in Hilde Spiels Roman The Darkened Room/Lisas Zimmer, der im letzten Teil dieses Kapitels behandelt wird. Zunächst soll es aber um Thomas Mann gehen, der wegen seiner sehr privilegierten Stellung als international angesehener Nobel-Preisträger in den Jahren des Exils zwar keineswegs typisch ist, für den aber das amerikanische Exil geradezu als Katalysator für die Überwindung nationalen Denkens wirkte.
Thomas Manns Weg vom „unpolitischen“ Deutschen über Amerika zum Europäer Blickt man auf die frühen politischen Schriften Manns zurück, so scheint er nicht unbedingt für die Rolle des Mustereuropäers prädestiniert gewesen zu sein. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder, Heinrich, der sich schon als junger Mann mit seiner unverhohlenen Frankophilie für Europa engagierte, war Thomas Mann bekanntlich kein geborener Kosmopolit. Im Gegenteil, seine Essayistik vor und während des Ersten Weltkriegs betonte die nationale Eigenart Deutschlands. In seinen hochpolitischen Betrachtungen eines Unpolitischen verfocht er die verhängnisvolle Position, dass die deutsche „Kultur“ einen höheren Wert darstelle als die westliche von Politik und Kommerz durchdrungene „Zivilisation“. Mit dieser weit verbreiteten Position ließ sich die politische Abstinenz der deutschen Intelligenz scheinideologisch rechtfertigen. Dass diesem Kulturbegriff gerade das Zivile bzw. zivilgesellschaftliche Element fehlte und Deutschland daher für autoritäre Regierungsformen anfällig machte, ist Mann erst allmählich nach dem Ersten Weltkrieg klar geworden. Einige Jahre nach seinen Betrachtungen 1922 distanzierte er sich mit dem Aufsatz Von deutscher Republik von seinen früher vertretenen Ansichten. Die zunehmende Polemik der letzten Jahre der Republik trugen dazu bei, seine inzwischen eindeutige demokratische Grundüberzeugung zu befestigen. Dennoch war sein Weg in die Emigration zunächst sehr zögerlich. Die Übersiedlung nach Zürich geschah zwar gleich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933. Zunächst ließ er sich jedoch durch die Verbindung zum Verlag eine Hintertür offen und hielt sich sehr zum Verdruss seiner Kinder Erika und Klaus, die 1933 politisch deutlich exponierter waren als er selber, mit deutlichen politischen Stellungnahmen zurück. Zum endgültigen Bruch mit dem Dritten Reich, der ihn auch vom deutschen Buchmarkt trennte, entschloss er sich erst 1936. Nach Amerika zog er 1939, wo er zunächst einen Lehrauftrag in
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Princeton wahrnahm. 1942 zog er schließlich nach Los Angeles, in die Nachbarschaft der prominenten Emigrantengemeinschaft, die sich dort im Sog der Filmindustrie gebildet hatte. War Thomas Mann bereits in den 20er Jahren eine anerkannte Respektfigur, so wuchs er über die Jahre des Exils in die Rolle des Weltbürgers hinein. Unter den Emigranten der literarischen Welt war Thomas Mann der prominenteste und in Amerika auch der privilegierteste, dessen Beziehungen bis zum Weißen Haus reichten. Besonders wertvoll war für ihn die Protektion von Agnes Meyer, der Gattin des Herausgebers der Washington Post, die ihm auch einen Sonderposten beim Library of Congress verschaffte. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit, die weiterhin an eine deutschsprachige Leserschaft gerichtet war, machte sich Mann dem amerikanischen Publikum als Redner bekannt. Reden verfasste er auch auf Deutsch, die während des Krieges im Auslandsprogramm des BBC nach Deutschland ausgestrahlt wurden. So bestätigte sich Manns Stellung als öffentliche Figur. Mit nunmehr reiferen Betrachtungen kommentierte er das Verhältnis von Deutschland und der Welt. Das dichotome Raster, das den Argumenten der Betrachtungen zugrunde lag und noch im Zauberberg erzählerisch verarbeitet wird, verschwindet bei Mann auch später nie ganz, sondern wird eher umgepolt. In seiner wichtigen, ursprünglich auf Englisch für ein amerikanisches Publikum abgefassten Rede Deutschland und die Deutschen kehrt der Gedanke der Unverträglichkeit von Demokratie und deutscher Kultur in abgewandelter Form wieder. Jetzt ist es aber nicht mehr seine Absicht, diese Kultur vor der Verfremdung durch den möglichen Einfluss demokratischen Gedankenguts oder eines demokratischen öffentlichen Umgangs zu schützen, sondern er will, in Umkehr der Zielrichtung, dem demokratisch erzogenen amerikanischen Publikum Gründe für das deutsche Demokratiedefizit liefern, indem er Eigenarten der kulturellen Tradition des Landes aufzeigt und verständlich macht. In einer Präzisierung der alten Dichotomie heißt der eine Pol nicht mehr pauschal „Kultur“, sondern „Innerlichkeit“, wodurch eine bestimmte Besonderheit der kulturellen Tradition Deutschlands hervorgehoben wird und gleichzeitig der Kulturbegriff selbst, im Vergleich zu seinem Gebrauch in den Betrachtungen, entnationalisiert wird. Tatsächlich wird in dieser Rede das Werturteil der Betrachtungen revidiert, denn diese Rede ist ein Bekenntnis zum „Politischen“ im westlich-demokratischen Sinne und ein Versuch, die politische Entwicklung Deutschlands historisch zu erklären. Im Kern läuft seine Erklärung auf die unter Historikern verbreitete These des „deutschen Sonderwegs“ hinaus: Warum muss immer der deutsche Freiheitsdrang auf innere Unfreiheit hinauslaufen? Warum musste er endlich gar zum Attentat auf die Freiheit aller anderen, auf die Freiheit selbst
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werden? Der Grund ist, daß Deutschland nie eine Revolution gehabt und gelernt hat, den Begriff der Nation mit dem der Freiheit zu vereinigen. Die ,Nation‛ wurde in der Französischen Revolution geboren, sie ist ein revolutionärer und freiheitlicher Begriff, der das Menschheitliche einschließt und innerpolitisch Freiheit, außenpolitisch Europa meint. Alles Gewinnende des französischen politischen Geistes beruht auf dieser glücklichen Einheit; alles Verengende und Deprimierende des deutschen patriotischen Enthusiasmus beruht darauf, daß diese Einheit sich niemals bilden konnte. Man kann sagen, daß der Begriff der ,Nation‛ selbst, in seiner geschichtlichen Verbundenheit mit dem der Freiheit, in Deutschland landfremd ist.¹⁵
Der deutsche Nationalismus nimmt demnach krankhafte Formen an, weil Deutschland keine wirkliche Nation sei. Denn eine wirkliche Nation müsste aus der Empörung des Volkes gegen die Herrschaft und aus dem Willen zur kollektiven Gestaltung des Staatswesens entstehen. So verstanden ist der Begriff der Nation immanent demokratisch, wofür Frankreich begriffsgeschichtlich das paradigmatische Beispiel liefert. Einem ähnlichen demokratischen Impuls unter den Kolonisten verdanken natürlich auch die Vereinigten Staaten ihre Entstehung. Dass Deutschland dagegen eine solche Legitimation als Nation fehle, ist eine Ansicht, die Thomas Mann mit anderen in Amerika teilt.¹⁶ In der Rede Deutschland und die Deutschen schreibt Mann als Amerikaner für Amerikaner, wobei er sich vehement zu seiner neuen Heimat und Staatsbürgerschaft bekennt, ohne jedoch sein Deutschtum ablegen zu wollen. Wie er für sich das Deutsche und das Amerikanische zu verbinden sucht, ist bemerkenswert. Während er in Bezug auf Amerika gerade die Staatsbürgerschaft, d. h. seine eigene Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft der USA unterstreicht, macht er aus seinem Deutschtum ein kulturelles Abstraktum ohne Verbindung mit einem real existierenden Staat. So heißt es im einleitenden Teil der Deutschland-Rede: Wie heute alles liegt, ist meine Art von Deutschtum in der gastfreien Kosmopolis, dem rassischen und nationalen Universum, das Amerika heißt, am passendsten aufgehoben.[… ] Als Amerikaner bin ich Weltbürger – was von Natur aus der Deutsche ist, ungeachtet der Weltscheu, die zugleich damit sein Teil ist…„¹⁷
Mit dem Possessivum „Meine Art von Deutschtum“ macht er das Deutsche zu einem Teil seiner Privatsphäre, während er als politisches Wesen Amerikaner ist. Die aus den Betrachtungen bekannte Gegenüberstellung des unpolitischen deutschen Wesens und des politischen Wesens der westlichen Demokratien lebt hier
Th. Mann, Gesammelte Werke Bd. XI, Frankfurt/M. 1974, S. 1137. S. dazu die Stellungnahme von John McCormick in Kapitel IV, S. 92. Th. Mann, Gesammelte Werke Bd. XI, S. 1127.
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in abgewandelter Form fort. Mann präsentiert diese Dichotomie nun nicht mehr als pauschale Verallgemeinerung und Kritik des Politischen, sondern als zwei Aspekte der eigenen Persönlichkeit. Diese Rollenverteilung hatte sich aus seiner öffentlichen Rolle in den USA ergeben. Die innere Freiheit, die ein demokratischer Staat allen seinen Bürgern gewährt, erscheint Mann nach dem Krieg als beste Voraussetzung seiner Arbeit als deutscher Schriftsteller. So wurde nach Wolf Lepenies Amerika „der Ort […], an dem der Graben zwischen Kultur und Politik überbrückt worden war.“¹⁸ Die ideale Verbindung von amerikanischem Staatsbürger und deutschem Schriftsteller war Thomas Mann möglich, weil er berühmt und vermögend war. Für die meisten Emigranten war eine solche Perspektive, die effektiv einen dritten Weg zwischen Heimkehr und Assimilierung darstellte, von vornherein ausgeschlossen. Doch auch Thomas Mann sollte wenig später in seinem „Kosmopolis“ eine herbe Enttäuschung erleben. Der amerikanische „Schmelztiegel“ mag in seiner Zusammensetzung kosmopolitisch sein, stellt jedoch auf Dauer ganz eigene nationale Anforderungen an seine Bewohner. Mann meinte noch 1945 auf das Kalifornien setzen zu können, das ihm erlaubte, als amerikanischer „Weltbürger“ deutscher Schriftsteller zu bleiben. In Kalifornien, schrieb er damals „habe ich mir an dieser herrlichen, zukunftatmenden Küste mein Haus errichtet, in dessen Schutz ich mein Lebenswerk zuende führen möchte – teilhaft einer Atmosphäre von Macht, Vernunft, Überfluß und Frieden.“¹⁹ Dazu sollte es nicht mehr kommen. Seine optimistischen Worte über Kalifornien hatte Mann in einem offenen Brief in der Neuen Schweizer Rundschau an Walter von Molo gerichtet, der ihn kurz nach Kriegsende, ebenfalls in einem offenen Brief, zur Rückkehr nach Deutschland aufgefordert hatte. Bei seiner negativen Antwort unter der Überschrift Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe ging es Mann allerdings weniger um das Private, als um den moralischen Zustand des befreiten Landes, das die Befreiung nicht als solche wahrnahm und in welchem weiterhin die allgemeine Mitschuld an den Verbrechen des NS-Regimes geleugnet wurde. Schwerer als der Wunsch, seinen Lebensabend in Kalifornien zu genießen, wog sein Urteil über die Frage der deutschen Kollektivschuld. Der öffentliche Briefwechsel löste eine kleine Flut von Reaktionen aus, die in die Kulturgeschichte der deutschen Nachkriegszeit als „große Kontroverse“ einging.²⁰ Besonders übel wurde Thomas
Vgl. W. Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. Frankfurt/M. 2008, S. 140. Th. Mann,Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe. Gesammelte Werke Bd. XII, S. 956. So der Titel der von J.F.G. Grosser 1963 herausgegebenen Dokumentation: Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hamburg 1963.
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Mann die Behauptung genommen, dass „Bücher die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos“ seien. Ihnen hafte „ein Geruch von Blut und Schande“ an, und sie sollten alle eingestampft werden.²¹ Es war diese Bemerkung, die den Konflikt zwischen der realen und der sogenannten ,inneren‛ Emigration auslöste, der das öffentliche literarische Klima über längere Zeit in West-Deutschland vergiftete. Manns Antwort ließ zweifellos einen gewissen Mangel an Feinfühligkeit spüren, doch bewiesen die zum Teil sehr gehässigen Reaktionen aus Deutschland, dass seine Bedenken nicht unbegründet waren. Diese legten ein allgemein verbreitetes Ressentiment gegen die Emigranten, die das deutsche Schicksal „nur“ von außen beobachtet hatten, an den Tag. Frank Thieß, dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus bestenfalls als ambivalent eingestuft werden kann und der zum Hauptkontrahenten Manns wurde, sprach vom „Logenplatz“, von dem aus die Emigranten das Schicksal Deutschlands hatten beobachten können. Das empfand Thomas Mann wiederum als sehr verletzend.²² Dass solche Vorwürfe seitens der vom Bombenkrieg und Hunger gerüttelten in der Heimat gebliebenen Deutschen gemacht wurden, ist jedoch nicht ganz unverständlich. Auch wenn man von dem feindseligen Ressentiment eines Frank Thieß absieht, bleibt die Tatsache der Erfahrungsdifferenz bestehen, die einer Integration der Emigranten in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft im Wege stand. Erst 1949, anlässlich des 200. Goethe-Jubiläums folgte Mann Einladungen nach Deutschland. Hier fühlte er sich als Repräsentant geschmeichelt. Wer, wenn nicht der Verfasser von Lotte in Weimar sollte berufener sein, das Erbe Goethes im finsteren 20. Jahrhundert zu vertreten? Dieser erste Besuch im Nachkriegsdeutschland erwies sich als nicht weniger kontrovers als Manns frühere Weigerung, das zerstörte Land überhaupt aufzusuchen. Anlass zur Kritik war jetzt weniger sein Verhalten als Emigrant in den zurückliegenden Kriegsjahren, als seine ostentative Neutralität zwischen den Fronten des sich jetzt anbahnenden Kalten Kriegs. Mann sprach in Frankfurt, Weimar und München, wobei der Empfang in Weimar auffallend feierlicher ausfiel. Inzwischen hatten sich die Verhältnisse in den USA verändert. Als Stimme des „besseren Deutschlands“ war Thomas Mann während der Kriegsjahre, wenn nicht einhellig von seinen „deutschen Hörern“, so doch von amerikanischer und britischer Seite eine gewisse moralische Autorität zugestanden worden. Diese hatte
Zit. nach Grosser 1963. Zur „großen Kontroverse“ s. auch K. Sontheimer Thomas Mann und die Deutschen, München 1961. S. 145 – 151.
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im Anzug des neuen Konflikts keine vier Jahre nach Beendigung des Weltkrieges auf der einen wie auf der anderen Seite des Atlantiks kaum noch Bedeutung. Was Thomas Mann den Deutschen noch zu sagen hatte, erregte zwar Diskussionen und zum Teil noch erbitterten Widerspruch, war aber von keiner nachhaltigen Bedeutung. Auch in den USA schrumpfte sein gesellschaftlicher Einfluss zusehends und die Familie Mann bekam das allseits um sich greifende Misstrauen der McCarthy-Ära gegen alles Fremde und alles Linke immer mehr zu spüren. In den letzten Jahren seines kalifornischen Aufenthalts wurde er sich einer wachsenden Distanz zur Identität als Amerikaner gewahr. Gleichzeitig hatten sich die anfänglichen Bedenken gegen eine Rückkehr nach Deutschland mehr als bestätigt. Im April 1952 schrieb Mann in einem Brief an Theodor Adorno „Aber merkwürdig, je miserabler es um Europa steht, desto mehr fühle ich mich als Europäer, […] es zieht mich zu der Erde ‚von der ich gekommen bin‛. Deutschland kommt nicht in Betracht – es ist mir zu unheimlich …“.²³ So zog er in die Schweiz. Aus dem geplanten Lebensabend unter Palmen umgeben von seinen englischsprechenden Enkelkindern wurde nichts. Es war Thomas Mann nicht gegönnt, als Amerikaner Weltbürger zu sein. Er musste sich damit bescheiden in der kleinen Schweiz europäischer Weltbürger zu sein. Nach Europa kehrte er bewusst als Europäer und nicht als Deutscher heim. Darum freute es ihn besonders, dass er 1953 mit dem Offizierskreuz der Légion d’honneur ausgezeichnet wurde. Das sei, wie er Agnes Meyer schrieb, „ein schönes Zeugnis und der schönste Willkommensgruß, den mir Europa bei meiner Rückkehr bieten konnte“²⁴. So ist Thomas Mann über den Umweg Amerikas zum Europäer geworden. Anders als sein Sohn Klaus mit seinem Vulkan hat Thomas Mann keinen Roman „unter Emigranten“ geschrieben, obwohl er mit seinem umfangreichen Umgang mit den Emigranten in Santa Monica und Beverly Hills gewiss ergiebig Stoff dazu gefunden hätte. Stattdessen schrieb er in den Jahren des Zweiten Weltkriegs Doktor Faustus, den Roman, in welchem er aus dem großen räumlichen Abstand der Emigration ausführlicher als in allen anderen seiner Erzählwerke auf die deutschen Zustände in Geschichte und Gegenwart einging. Als hätte Mann schon beim Schreiben die Vorwürfe, denen er nach Kriegsende ausgesetzt sein würde, vorausgesehen, lässt er im Faustus-Roman die „Geschichte des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn“ von einem Freunde erzählen, der das Emigrantendasein des Autors nicht teilt. Dieser Freund, der biedere und politisch abstinente Gymnasiallehrer Serenus Zeitblom, bleibt wie selbstverständlich in
Th. W. Adorno, Thomas Mann, Briefwechsel 1943 – 1955, hg. von Chr. Gödde und Th. Sprecher, Frankfurt/M. 2002. Th. Mann, Briefe 1948 – 1955, S. 289.
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Deutschland, auch wenn er mit den Entwicklungen im Lande keineswegs einverstanden ist. Er vertritt, wie Hermann Kurzke anmerkt, die Position des „inneren Emigranten“.²⁵ Wie der Kontrast Europa-Amerika bei Emigranten als Katalysator unterschiedlicher Identitätskonstruktionen wirken kann, wird im folgenden Abschnitt anhand von Hilde Spiels Roman The Darkened Room/Lisas Zimmer behandelt.
Ein Roman unter Emigranten. Hilde Spiel: Lisas Zimmer Der Emigrantenroman, der in diesem Kapitel ausführlicher vorgestellt werden soll, wurde mehr als zehn Jahre nach dem Krieg von der österreichischen Emigrantin Hilde Spiel in London geschrieben und spielt in New York. In paradoxer Umkehr der Schreib- und Erzählsituation von Doktor Faustus, der in Kalifornien geschrieben wurde, aber auf der fiktiven Ebene als Niederschrift des Erzählers Serenus Zeitblom in Bayern präsentiert wird, lässt Hilde Spiel ihre Erzählerin ihre Erlebnisse an eben jener „zukunftatmenden Küste“ niederschreiben, wo Thomas Manns Roman tatsächlich entstand. Lisas Zimmer, ursprünglich auf Englisch geschrieben und als The Darkened Room erschienen, spielt einige Jahr nach dem Krieg. Der Roman ist deshalb von Interesse, weil in ihm verschiedene Einstellungen zu Exil und Emigration vorgestellt und unterschiedliche Szenarien durchgespielt werden. Zum Romanpersonal gehören politische Exilanten, denen die mögliche Rückkehr nach Europa vorschwebt, Opportunisten, die sich sehr gut im Zwischenraum der Emigration einzurichten verstehen, und schließlich „echte“ assimilierungsfreudige Emigranten. Hilde Spiel stand am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere als sie 1936 nach London emigrierte. Spiels Elternhaus kann man dem Wiener liberalen Bürgertum zuzählen, wobei sowohl das Liberale als auch das Bürgerliche zu betonen sind.²⁶ Beide Eltern waren jüdischer Abstammung, aber zum Katholizismus konvertiert. Spiel wuchs in einer weltoffenen und demokratischen Atmosphäre auf. Von der Orientierungslosigkeit, die Teile der österreichischen Gesellschaft nach dem Ende des Habsburger Reiches erfasste, war ihre Familie nicht betroffen. Vielmehr war sie der jungen Republik wohlgesonnen. Eine gewisse
H. Kurzke, Thomas Mann: Epoche – Werk – Wirkung. München 2006, S. 36. Nach Kurzke habe der fiktive Zeitblom die Bezeichnung eher verdient als Frank Thieß, der den Begriff gegen Th. Mann ins Feld führte. S. dazu Waltraud Strickhausens Bemerkung über den Lebensstil der Familie nach ihrer „relativen Verarmung“ durch den ersten Weltkrieg (Strickhausen, Die Erzählerin Hilde Spiel, New York 1996, S. 12.
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europäische Prädisposition hatte sie auch;²⁷ „Dass wir ein Kaiserreich verloren hatten, störte uns nicht, denn wir meinten in jenen Zwanzigerjahren, Europa dafür eingetauscht zu haben.“²⁸ Das war durchaus auch politisch gemeint. Schon als junges Mädchen hörte sie 1926 Coudenhove-Kalergi bei der ersten Pan-Europa Tagung in Wien.²⁹ Spiels literarisches Frühwerk ist ebenfalls geprägt von einem lockeren und natürlichen internationalen Umgang. Zum internationalen Personal des ersten Romans Kati auf der Brücke gehört der holländische Geliebte Piet Stuyvesant; in Verwirrung am Wolfgangsee sind die Protagonisten Belgier. Noch internationaler ist Spiels zweiter, unveröffentlicht gebliebener Roman Der Sonderzug,³⁰ der von einer Bahnfahrt nach Paris handelt, und im Roman Flöten und Trommeln verarbeitete sie ihre eigene Italienreise des Jahres 1935.³¹ Leben und Werk bewegten sich in jenen Jahren im europäischen Rahmen mit einer Selbstverständlichkeit, die in zunehmenden Widerspruch zu den sie umgebenden politischen Begebenheiten geriet. Die Bedrohung der Demokratie durch den wachsenden Einfluss der faschistoiden Heimwehr und ihres politischen Flügels, des Heimatblocks, veranlasste Hilde 1933 der Sozialdemokratischen Partei beizutreten, bei der sie noch einige Monate nach deren Auflösung im folgenden Jahr im Untergrund weiterarbeitete. Zu jenem Zeitpunkt studierte Spiel noch an der Wiener Universität, wo sie unter anderem den Wiener-Kreis-Philosophen Moritz Schlick hörte. Seine Ermordung im Jahre 1936 und insbesondere die leichtfertige Behandlung des Falls durch die Justiz und seine schamlose Darstellung in der Öffentlichkeit dürften mit zum Entschluss beigetragen haben, Wien zu verlassen bevor unmittelbare Lebensgefahr bestand.³² Im Sommer desselben Jahres emigrierte Spiel nach London, wo sie den zur gleichen Zeit emigrierten deutschen Schriftsteller Peter de Mendelssohn heiratete. 1938 gelang es ihr auch, ihre Eltern nach London zu holen. Spiel gehörte nicht zu jenen Emigranten, die das Exil als „Wartesaal“ betrachteten, sondern suchte aktiv den Anschluss an die englische Gesellschaft und ihr literarisches Leben. Darin wurde sie gewiss von ihrem Mann unterstützt, der von vornherein die Aufnahme in die britische Gesellschaft anstrebte. In einem Vortrag im Jahre 1941 unterschied de Mendelssohn zwischen dem ständig auf die
S. Didier Haberkorn, L’Autriche et l’Europe dans les écrits de Hilde Spiel. In: L’Autriche et l’idée d’Europe., Dijon 1997. H. Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911 – 1946, München 1989, S. 178. H. Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten, S. 56. W. Strickhausen 1996, S, 75 ff. Zunächst erschienen als Flute and Drums, London 1939. Auf Deutsch erschien der Roman erst 1947. H. Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten, S. 135.
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Möglichkeit zur Rückkehr wartenden „refugee“ und dem auf größere Permanenz abzielenden „emigré“, als welchen er sich selber sah.³³ Mit dieser Einstellung war der spätere Churchill-Biograph de Mendelssohn im Kreise der Emigranten keine ganz typische Erscheinung, denn, wie Paul Michael Lützeler bemerkt: „[…] längst nicht alle Autoren, die ins englische Exil gingen, betrachteten von nun an Europa aus britischer Sicht. Peter de Mendelssohn aber bekannte sich expressis verbis zur englischen Perspektive.“³⁴ Hilde Spiel gelang der Anschluss an die literarische Öffentlichkeit in England 1944 mit einem Artikel über Alain-Fourniers Le grand Meaulnes in der Labournahen Zeitschrift New Statesman, für die auch ihr Mann schrieb. Von nun an schrieb sie regelmäßig Rezensionen und Berichte für die Zeitschrift. Der damit verbundene Sprachwechsel scheint ihr keine besonderen Bedenken verursacht zu haben, denn sie wechselte gleichzeitig mit der Sprache ihrer publizistischen Beiträge auch die Sprache ihrer literarischen Prosa und verfasste bereits in den vierziger Jahren einen historischen Roman, The Fruits of Prosperity, der allerdings erst Jahrzehnte später in deutscher Fassung erschien. Auch Lisas Zimmer erschien zunächst im Jahre 1961 unter dem Titel The Darkened Room auf Englisch. Mit der Bereitschaft zur unbefangenen Arbeit in zwei Sprachen ging das Ehepaar de Mendelssohn dem von unzähligen anderen Schriftstellern im Exil als großes existentielles Problem empfundenen Verlust des sprachlichen Umfelds aus dem Wege. Wo andere die verhängnisvolle Alternative zwischen der Skylla des Publikumsverlusts und der Charybdis des Identitätsverlusts bei einem erzwungenen Sprachwechsel fürchteten, gingen sie von einem schlichten Werkzeugwechsel aus. Mit ihrer sehr pragmatischen Einstellung zur Sprache unterschied sich Spiel nicht nur von denjenigen Autoren, die noch im Exil mit schrumpfendem Absatz an ihrem Deutsch festhielten, sondern auch von solchen, die einen existentiellen Sprung in die neue Sprache machten, um damit auch die Bindung an die frühere Heimat endgültig zu tilgen. Aus diesem Unterschied lässt sich die Vehemenz erklären, mit der Spiel zwei Jahrzehnte nach dem Krieg der Meinung George Steiners widersprach, der in einem in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Artikel vom „Tod“ der deutschen Sprache gesprochen hatte.³⁵ Den Artikel hatte Walter Höllerer zusammen mit zwei weiteren Beiträgen amerikanischer Publizistik zum
W. Strickhausen, 1996, S. 50. P. M. Lützeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1997, S. 137. G. Steiner, The Hollow Miracle. In: George Steiner: Language and Silence, Essays 1958 – 1966, Harmondsworth 1969, 129 – 146.
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Stand der deutschen Nachkriegskultur an mehrere prominente Autoren und Publizisten des deutschen Sprachraums zur Stellungnahme verschickt.³⁶ In ihrer Erwiderung wirft Spiel Steiner eine nicht originelle „anthropomorphe Betrachtung eines bloßen Werkzeugs“ vor und stellt ihren eigenen, mit den Erkenntnissen der auf de Saussure gründenden modernen Linguistik übereinstimmenden Standpunkt in folgenden Worten vor: Ist man aber der Meinung, daß die Sprache nicht mehr ist als ein Geflecht von Symbolen und Relationen, dessen sich der soziale Mitteilungsdrang wie die kreative Intuition bedient, muß man Versuche, ihr Seele, Geist und Verantwortungsgefühl zuzuschreiben, als metaphysische Hirngespinste verwerfen.³⁷
Für Spiel als europäische Autorin, die sich ebenso zur Tradition der modernen englischen und französischen Literatur wie zur österreichischen bekannte, war es aber nach wie vor wichtig, die Option zur Mitwirkung sowohl in dem einen als auch in dem anderen Sprachraum offen zu halten. Trotz ihrer keineswegs selbstverständlichen Flexibilität in der Frage der Sprache und ihrer Vertrautheit mit der englischen Literatur waren der Integration in der englischen Gesellschaft Grenzen gesetzt. Als Exilierte war sie zwar gut behandelt worden und führte „Keine Klage über England“,³⁸ doch lag, wie Strickhausen konstatiert, ein „Widerspruch […] in den Blickpunkten der Exilantin, die in Großbritannien eine Zuflucht gefunden hat, und der Immigrantin, die sich hier eine neue Existenz aufbauen möchte“.³⁹ Ein langes Zögern zwischen dem weiteren Verbleib in England und der Rückkehr nach Österreich, das bereits im Titel des zweiten Teils ihrer Autobiographie Welche Welt ist meine Welt? zum Ausdruck kommt, war die Folge. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre boten Hilde und Peter de Mendelssohn jedoch eine Möglichkeit, sich der Frage der nationalen Zugehörigkeit im traditionellen Sinne zu entziehen und sich vorübergehend unbefangen auf das Chronotopos der neuen Realität Nachkriegseuropas einzustellen, indem sie im Dienst der britischen Besatzung Deutschland und Österreich bereisen durften. Bereits im Winter 1945/46 hielt sich Spiel in Wien auf, wo sie in britischer Uniform als Die Aktion wird ausführlich beschrieben in St. Braese, Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin, Wien 2001, S. 75 – 104). Zu Spiels Erwiderung s. insbesondere S. 91 f. H. Spiel, Für und wider die deutsche Literatur. In: Sprache im technischen Zeitalter 1963, H. 6, 450 – 452. Hier S. 451. So der Titel eines Aufsatzes in der von ihr mitherausgegeben Zeitschrift Ver sacrum. Neue Hefte für Kunst und Literatur, 1972, S.21– 25. W. Strickhausen 1995, 145.
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Kriegskorrespondentin über die ersten Friedensmonate in ihrer ehemaligen und zukünftigen Heimatstadt berichtete. Anschließend zog sie nach Berlin, wo Peter de Mendelssohn stationiert war, und blieb mit der Familie dort bis 1948. Das privilegierte Leben mit den alliierten Streitkräften in der zerstörten Stadt im beginnenden Kalten Krieg wird gewiss nicht ohne Reibungen abgelaufen sein, bot aber dem Ehepaar eine einmalige Perspektivenvielfalt, die sich im Roman Lisas Zimmer niederschlagen sollte. In Berlin wurden sie aus nächster Nähe Zeugen des paradoxen Prozesses der unmittelbaren Nachkriegsjahre, wo gleichzeitig die ersten Schritte zur europäischen Integration und zur Teilung des Erdteils getan wurden. Der Umgang mit Journalisten im Umkreis der alliierten Streitkräfte bot die Gelegenheit, neben dem britischen auch den amerikanischen Blick auf Europa kennen zu lernen. The Darkened Room/Lisas Zimmer wurde in den fünfziger Jahren in England, in dem von der Autorin als „grünes Grab“ bezeichneten Vorort Wimbledon verfasst.⁴⁰ Wenig später, zum Teil aus Frustration über die peripheren Lebensbedingungen im Londoner Vorort und infolge der Zerrüttung ihrer Ehe mit Peter de Mendelssohn, entschloss sich Spiel zur Rückkehr nach Österreich, wo sie von 1966 bis1972 im Vorstand des österreichischen PEN tätig war und bis zu ihrem Tod in den Worten Peter Pabischs als „Femme de Lettres“ wirkte.⁴¹
Der Roman Die Handlung des Romans spielt zum größten Teil Ende der vierziger Jahre in New York in der Wohnung von Lisa L. Curtis, geborene Leitner, einer Wiener Halbjüdin, die ein bewegtes Leben hinter sich hat, das sich in erster Linie als Folge von Männergeschichten gestaltete.Während des Zweiten Weltkrieges hatte sich Lisa in Italien versteckt gehalten, wo sie, wie gelegentlich im Roman angedeutet wird, vielleicht nicht alles unternommen hat, was sie hätte tun können, um ihre Eltern vor den Nazis zu retten. In Rom ist sie allmählich heruntergekommen und drogenabhängig geworden. Aus dieser Situation hat sie der Amerikaner Jeff Curtis gerettet, der sie nach New York gebracht und geheiratet hat. In New York, wo sich ihr aus dem amerikanischen Westen stammender Mann ebenfalls nicht sehr zu Hause fühlt, schließt sie sich einem bunten Kreis von Emigranten an, mit denen sie in vielen Fällen irgendeine Vorgeschichte verbindet.
H. Spiel, Welche Welt ist meine Welt, S. 102. P. Pabisch, Hilde Spiel – Femme de Lettres. In: Modern Austrian Literature 12, H. 3/4, 1979, 393 – 421.
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Lisa wird als faszinierende, anfangs schöne und krankhaft egozentrische Frau dargestellt. Zunehmend zieht sie sich in ihr dunkles Zimmer zurück, doch sie versucht immer wieder durch große Einladungen, ihren Bekanntenkreis bei sich zusammen zu halten. Allmählich verfällt sie in Depressionen, unterzieht sich einer Operation, greift erneut zum Rauschgift und stirbt nach immer hysterischeren und skandalöseren Auftritten in ihrem Bekanntenkreis. Das Ganze wird rückblickend von ihrer Bediensteten, Lele, erzählt, einer Lettin, die beide Eltern im Krieg verloren hat – die russische Mutter haben die Nazis, den lettischen Vater die Sowjetarmee umgebracht. In den Wirren des Krieges hat es sie von Lettland bis nach Kärnten verschlagen. Von einem englischen Auffanglager dort ist sie nach Kriegsende nach Amerika gekommen. Zum Erzählzeitpunkt lebt Lele schon nicht mehr in New York, sondern im sonnigen Kalifornien, ist verheiratet und erwartet ihr zweites Kind. Das erste Kind hatte sie bereits in Kärnten bekommen. Im ersten Kapitel erzählt Lele von sich und davon, wie es dazu gekommen ist, dass sie nach dem Krieg Europa verlassen hat und als alleinerziehende Mutter nach New York gekommen ist. Lele ist zunächst bei einem jüdischen Psychiaterehepaar aus Wien, den Langendorfs, untergekommen, fühlt sich dort ausgebeutet und findet bei Lisa eine neue Anstellung, die sie zunächst als Befreiung empfindet. Obwohl sich der Erzähldiskurs als Bericht über Lisa und nicht als Autobiographie der Erzählerin gestaltet, wird deutlich, dass Lele während der Zeit mit Lisa einen Wandel durchmacht. Während Lisa allmählich verfällt, scheint Lele immer mehr aufzublühen und wird in ihrem Auftritt immer selbstsicherer. Sie wird kaum als Bedienstete behandelt, sie erbt schöne Kleider von Lisa und hat ein Verhältnis mit Thomas Munk, einem der früheren Liebhaber Lisas, sowie ein kurzes Abenteuer mit einem anderen von deren „Ehemaligen“. Nach Lisas Tod zieht Lele mit Jeff, Lisas Ehemann, nach Westen, wo sie, anders als seinerzeit Lisa, von Jeffs Verwandtschaft freundlich aufgenommen wird. Diese überraschende Wendung am Ende des Romans wird kaum vorbereitet, obwohl sie nachträglich plausibel erscheint. Die diesbezügliche Diskretion der Erzählerin unterstreicht die vorgebliche Intention, nicht als die Hauptfigur aufzutreten. Tatsächlich tritt die Erzählerin über weite Strecken des Romans zurück und zwar insbesondere dann, wenn die um Lisa versammelten Emigranten über die Weltsituation reden. Diese Unterhaltungen machen den vielleicht interessantesten Teil des Romans aus, weil sie sich trotz ihrer Fiktionalität nahtlos in reale Diskurskonfigurationen der Nachkriegszeit einfügen. Erwähnt werden als Bekannte Lisas reale Personen wie Hermann Kesten und Ferenc Molnar. Diese nehmen allerdings nicht an den Debatten in Lisas Zimmer Teil. Die Figuren, die
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sich dort versammeln sind mehr oder weniger fiktiv, wobei in der Kritik dem Buch sein Charakter als „Schlüsselroman“ zum Vorwurf gemacht wurde.⁴² Es sind vor allem Männer, die in Lisas Zimmer zu Wort kommen. Darunter befinden sich drei Schriftsteller: Winterstein, dem Lisa als „Meister“ huldigt und dessen enthusiastisch amerikanisierte Frau für allgemeine Peinlichkeit sorgt, der „dicke“ Fleming aus Prag, und der bereits nach Europa zurückgekehrte Erfolgsautor Paul Bothe, der Lele anregt, ihre Erfahrungen mit Lisa zu einem Buch zu verarbeiten. Dann gibt es den Journalisten und ehemaligen Kommunisten Thomas Munk, der bei Voice of America arbeitet, und schließlich die gegen diesen konspirierenden rechtsorientierten Ungarn Halassy und Földvary. Unter den Frauen sind die eifrige und gutverdienende, aber unqualifizierte Psychiaterin, Katharina Langendorf, Norne und Rivalin Lisas und Renate Schaefer von der New School of Social Research zu nennen. Beide empfinden den Umzug nach Amerika als entscheidende Befreiung.
Der Europadiskurs im Roman Lisas verdunkeltes Zimmer erfüllt für die Emigranten im Roman genau die Sammlungsfunktion, von der bei Homi K. Bhabha die Rede ist. Wenn sich Lisas Freunde zu ihren Abendgesellschaften in ihrem Zimmer versammeln, ist immer wieder von Europa die Rede. Diese längeren Textabschnitte fallen im Roman dadurch auf, dass die Handlung zugunsten einer dialogisch essayistisch geführten Argumentation zurücktritt. Gewiss ist es für die narrative Struktur wichtig, ob und wie die Hauptfiguren des Romans, Lisa und die Erzählerin Lele, auf die einzelnen Nuancen der Diskussionen reagieren. Noch wichtiger sind jedoch diese Textabschnitte als synthetische Diskursfragmente, bei denen diskursive Formationen in Erscheinung treten, die keineswegs auf die Fiktion beschränkt sind. Es werden insgesamt drei dieser Abende beschrieben. Bei den ersten beiden ist Lisa noch die glänzende Gastgeberin. Der letzte Abend wird vor allem als Inszenierung ihres sich beschleunigenden Verfalls dargestellt und ist somit stärker in den Gang der Handlung integriert. Am ersten dieser Abende geht es vor allem um die Lage im Nachkriegseuropa zu Beginn des Kalten Krieges. Die Einladung erfolgt, weil ein amerikanischer Offizier europäischer Herkunft gerade aus Berlin auf Urlaub nach New York gekommen ist. Seine frischen Berichte aus dem tiefsten Europa und der Frontstadt des Kalten Krieges sollen den Höhepunkt des Abends bilden. Der Offizier erzählt
W. Strickhausen 1996, S. 327.
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Anekdoten aus dem Berlin der Luftbrücke, die wenig geeignet sind, ein klares politisches Urteil über die Lage zu ermöglichen. Statt zu sagen, wer die Schuld am Ende der Zusammenarbeit der Alliierten trägt, berichtet er, wie ein Konzert des russischen Alexandrow Chors auf dem Gendarmenmarkt die geteilte Stadt vorübergehend eint.⁴³ Diese rührende Anekdote besagt allenfalls, dass der potentielle Zusammenhalt Europas jenseits aller Politik zu finden wäre. Die Diskussion in Lisas Zimmer endet jedoch mit einer allgemeinen Verstimmung, als der Dichter Fleming das Gespräch auf die Massenvergewaltigungen durch die rote Armee am Ende des Krieges zu bringen versucht. Der Offizier erinnert in dem Zusammenhang lakonisch an das Schicksal seiner eigenen Verlobten, die von den Nazis vergast wurde. Die Spannungen, die in der versammelten Gesellschaft spürbar werden, reflektieren die ideologische Spaltung Europas, eine Kluft, die älter ist als die noch frische Teilung des Kontinents und den Emigranten in die Neue Welt gefolgt ist. Konservative Ansichten vertreten vor allem Winterstein und Fleming sowie die beiden Ungarn, während der ehemalige Kommunist Thomas Munk weiterhin den Sozialismus vertritt. Eine moderate Zwischenstellung nimmt der Verleger Talberg ein. Die Tatsache, dass alle Beteiligten sich genötigt fühlten, Europa zu verlassen, bedeutet also nicht, dass sie demselben politischen Lager entstammen. Sie haben vielmehr die für das Europa des 20. Jahrhunderts typischen politischen Dissonanzen mit nach Amerika geführt, wo sie jedoch einen besonderen Raum wie Lisas Zimmer brauchen, um zur Entfaltung zu kommen. Vielleicht tragen aber gerade die Dissonanzen besonders dazu bei, dort ein authentisches Heimatgefühl zu erzeugen, denn wie Gerald Delanty resigniert feststellt bildet „hartnäckige Uneinigkeit“ die Grundbedingung europäischer Identität.⁴⁴ In Lisas Zimmer kommt es zwar regelmäßig zu kleineren Skandalen oder Verstimmungen, aber nie zum offenen Konflikt. Dabei geht es meistens um ideologische und selten um nationale Gegensätze. Eine Ausnahme ist die Behauptung der Soziologin Renate Schaefer, dass seit 70 Jahren „das Gift“ ausschließlich aus Deutschland komme.⁴⁵ Doch sie lässt sich gleich von Talberg beschwichtigen, der meint, dass „außer in der Methodik“ Deutschland kein Monopol an Grausamkeit habe. Diese säße „im europäischen Blutkreislauf“. Trotz ihres Konversationscharakters in Lisas Gegenwart sind die Differenzen, wenn sie auch außerhalb ihres Zimmers ausgetragen werden, keineswegs harmlos. Das zeigt das Schicksal Munks, der, von dem Von diesem Chorbesuch war Hilde Spiel, die damals in Berlin war, offenbar selber sehr beeindruckt. (Spiel, Welche Welt ist meine Welt, 97 f.). „It may quite well transpire that intractable disunity is the condition for a European identity.“ Delanty: Inventing Europe. Idea, Identity, Reality, London 1995, S. viii. H. Spiel, Lisas Zimmer, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 87.
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Ungarn Földvary im Zuge der McCarthy-Säuberungsaktionen denunziert, am Ende des Romans verhaftet wird. Stand bei der ersten Abendgesellschaft der Kalte Krieg im Mittelpunkt der Europabetrachtung, so bildet an dem zweiten Abend vor allem der Gegensatz zwischen der alten, todgeweihten Kultur Europas und dem jungen, gar infantilen Amerika den Mittelpunkt des Gesprächs. In beiden Fällen greift Spiel dominante Themen des Europadiskurses auf, wie er sich in Europa selbst in den Nachkriegsjahren entfaltet. Was Lisas Gäste, die „Lemuren auf einem Friedhof“, wie Lele sie nennt, trotz allen politischen Gegensätzen, zumindest für die Dauer von Lisas Einladungen, zusammenhält, ist das Gefühl des Fremdseins in Amerika. Der Gegensatz zwischen Europa und Amerika steht somit in kontrapunktischem Verhältnis zu den inneren Differenzen der Gruppe. Dabei geht es hier eher um kulturelle als um ideologische Differenzen. Diese werden von allen Gästen empfunden, während eine politische Distanzierung von Amerika, wenn überhaupt, nur begrenzt und halb verdeckt zum Vorschein kommt. Der kulturelle Gegensatz zwischen den beiden Erdteilen wird indessen am zweiten geselligen Abend am deutlichsten artikuliert. Diese Abendgesellschaft wird zu Ehren des nach Europa zurückgekehrten und sich nun besuchsweise in New York aufhaltenden Bestseller-Autors Paul Bothe gegeben. Seine Anwesenheit regt das ausführlichste Gespräch über Europa und Amerika an. Es wird, so Lele: „Ein Gespräch, wie sich verstand, über das einzige Thema, das ihnen am Herzen lag: ihren Liebeshass auf Europa und ihre Hassliebe zu Amerika.“⁴⁶ Zurück nach Europa wollen sie größtenteils nicht. „Zurück zu diesem Misthaufen? […] Mich nach diesem Schlachthaus sehnen, dieser Grabstätte aller großen Ideen?“⁴⁷ sagt die Sozialforscherin Renate Schaefer und spricht für viele. Doch die Grabstätte der großen Ideen ist zugleich ihre Wiege, wie der Schriftsteller Bothe in seiner Replik andeutet, denn Folgen in der heutigen Welt haben nur die Philosophie, Kunst und Religion, die ihren Ausgangspunkt in Europa haben. Das hat wiederum nach den Worten der Psychiaterin Langendorf zu einer vielleicht gerade noch heilbaren „gigantischen Mutterbindung“ geführt. So ist also das Bild Europas, das an diesem Abend gemalt wird, zwar weitgehend negativ, aber zugleich von unverhohlener europäischer Überheblichkeit geprägt. Am krassesten erscheint die Überheblichkeit bei Winterstein, der die europäische Einheit wünscht und sogar bereit ist, Hitler zu bescheinigen, dass es bei aller Verwerflichkeit der Umsetzung bei ihm, wie schon bei Napoleon um „die gleiche gute Sache“ ging, die europäische
H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 85. H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 85.
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Einheit. Er sieht bezeichnenderweise Europa als großes Orchester, dem nur der richtige Dirigent fehlt.⁴⁸ Aus dem Gefühl kultureller Überlegenheit heraus klagen viele der Gesprächsteilnehmer, dass sie nicht in Amerika heimisch werden. Das Europa, das sie alle auf die eine oder andere Weise verstoßen hat, fehlt ihnen auf einer sinnlichen Ebene. Was Europa ihnen bei aller Unvollkommenheit bedeutet, spricht Paul Bothe schließlich so aus: Als Schriftsteller befasse ich mich mit der sinnlichen Realität. Und nach einem Leben voll italienischem Knoblauch und Weihrauch,von tropfenden Wachskerzen auf einem deutschen Weihnachtsbaum, nachdem man den Bois de Boulogne im Frühling gesehen hat und den Spessart im Herbst – wie kann man da in einer fremden Welt des Kaugummis und Popcorn und Baseball existieren?⁴⁹
Bei diesem Ausdruck des Heimwehs fällt auf, dass die idealisierte ferne Heimat Europa heißt und nicht den Namen eines seiner Bestandteile führt. Im Gegenteil, diese Heimat ist eine Synthese aus Deutschem, Französischem und Italienischem. Dennoch ist sie eine Synthese aus Klischees und Nationalstereotypen. Dazu gehören auf der europäischen Seite die stereotypisierte Weihnachtsstimmung, die Heinrich Böll in seiner Satire Nicht nur zur Weihnachtszeit verspottet, und auf der amerikanischen Seite der Kaugummi, den kein Geringerer als Theodor W. Adorno in einem Beitrag über Huxleys Brave New World als Sinnbild des auf Befriedigung trivialer materieller Bedürfnisse getrimmten amerikanischen Lebensstils zitiert: Es ist lächerlich, dem Kaugummi vorzuhalten, daß er den Hang zur Metaphysik beeinträchtige, aber es ließe sich wahrscheinlich zeigen, daß die Gewinne Wrigleys und sein Palast in Chicago in der gesellschaftlichen Funktion begründet waren, die Menschen mit den schlechten Verhältnissen zu versöhnen, sie von ihrer Kritik abzubringen. Nicht daß der Kaugummi der Metaphysik schadet, sondern daß er im Gegenteil selbst Metaphysik ist, gilt es klarzumachen.⁵⁰
Ein ästhetischer Vorbehalt gegen Kaugummi ist nichts Ungewöhnliches, aber in gewissen Kulturen ist der Vorbehalt gegen Knoblauch bestimmt nicht geringer. Adornos absurd anmutender Rationalisierungsversuch für seine Teilhabe am weit verbreiteten Vorurteil gegen Kaugummi demonstriert jedoch, dass es um einen tiefergehenden Vorurteilskomplex geht, um die Überzeugung von der kulturellen Überlegenheit der Alten Welt. Und mit diesen Konnotationen wird auch in Lisas
H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 86. H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 89. Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 10, Darmstadt 1998, S. 112.
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Zimmer operiert. Trotz des nur um wenige Jahre zurückliegenden Ausbruchs kaum vorstellbarer Barbarei mitten in Europa lebt das Vorurteil vom Vorrang Europas mit seiner organisch gewachsenen Kultur gegenüber den USA mit ihrer bloßen Zivilisation, die zwar einen technologisch hohen Grad erreicht hat, aber noch keine wahre Kultur entfaltet hat, weiter fort. Amerikanische Hilfe wird von Lisas Gästen individuell zwar genau so gerne in Anspruch genommen wie von den europäischen Nachkriegsregierungen, aber sie blicken mit größter Herablassung auf ihr Gastland. Diese Schizophrenie teilen Lisas Gäste mit dem realen transatlantischen Kulturdiskurs der frühen Nachkriegszeit. Ihre Unterhaltungen setzen die „lange Reihe immer neuer Variationen über das Thema des Todes“ von der Eugen Gürster in seinem Essay von 1951 sprach, fort. Die Tragik Europas lässt sich am Ehesten in der Bequemlichkeit des New Yorker Salons genießerisch auskosten. Der alte Kulturbestand ist jedoch ein rhetorischer Notbehelf. Schließlich haben Kathedralen und klassische Musik niemanden vor den Konzentrationslagern gerettet. Doch stehen sie, wie Paul Bothes Knoblauch und Weihnachtskerzen, stellvertretend für all das, was die Emigranten in den Jahren des Exils vermissten. Mit ihren Stellungnahmen greifen Lisas Besucher Topoi des transatlantischen Diskurses der frühen Nachkriegsjahre unmittelbar auf. Die europäische Kultur wird, je nach Einstellung, entweder positiv dargestellt – als reif verglichen mit der unreifen amerikanischen Kultur oder negativ – als todgeweiht, wobei ihr dann der lebenszugewandte Pragmatismus der Amerikaner entgegengehalten wird. Es handelt sich dabei um Konstanten der jeweiligen Heteroimages, die unabhängig davon, ob sie zutreffen oder nicht, intersubjektive Realität besitzen und daher mit dem Terminus von Daniel Pageaux als „kulturelle Tatsachen“ aufgefasst werden können.⁵¹
Die unzuverlässige Erzählerin Bei der bisherigen Diskussion des Romans standen Lisa und ihre Bekannten aus dem Kreis der New Yorker Exil-Gemeinde im Mittelpunkt. Das wird dem Roman insofern gerecht, als die Reihe der Abendgesellschaften, wo dieser Personenkreis am schärfsten porträtiert wird, seine narrativen Höhepunkte darstellen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass dieser Kreis aus wohlsituierten Intellektuellen nicht einmal innerhalb des Romans das ganze Spektrum europäischer Einwanderer in New York repräsentiert. Die Erzählerin Lele, eine Außenseiterin in diesem
D.-H. Pageaux, Image/Imaginaire. In: Europa und das nationale Selbstverständnis, hg. von H. Dyserinck, K. U. Syndram, Bonn 1988, 367– 379. Hier S. 368.
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Kreis, verkehrt auch mit anderen Einwanderern wie dem Deli-Händler Klotz und seiner Familie oder ihrer Vorgängerin Agnes, die einem völlig anderen sozialen Umfeld entstammen. Anders als Lisas Gäste, die in Europa der rassischen oder politischen Verfolgung ausgesetzt waren, sind diese Einwanderer keine Exilanten, sondern Immigranten, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die Staaten gekommen sind. Sie sind weit weniger auf Europa fixiert als der Kreis, der sich bei Lisa trifft. Ihr Interesse gilt dem eigenen Vorankommen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Auch wenn Klotz auf europäische Lebensmittel spezialisiert ist und in seinem Haus deutsche Weihnachten feiert, wird damit seine erfolgreiche Integration in der amerikanischen Gesellschaft nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Im Gegenteil, er nutzt als Unternehmer geradezu paradigmatisch die von der neuen Heimat gebotenen Möglichkeiten des wirtschaftlichen Vorankommens. Anders als Lisas Gäste, haben diese Figuren ihren Platz in Amerika gefunden. Wer alle anderen übertrumpft und von der ersten Seite des Romans auf ihrem gefundenen Platz in Amerika insistiert, ist Lele selbst. Tatsächlich ist Lele mehr als einfach eine Erzählerin. Sie bildet eine Kontrastfigur zu Lisa und ihrem Kreis. Leles Lebenslauf zeigt bereits die europäischen Verhältnisse der Kriegsjahre aus einem anderen Winkel, nämlich aus der Sicht der unpolitischen und von den Ereignissen überrollten Bewohnerin der europäischen Peripherie. Sie hat dafür als doppeltes Opfer sowohl des Faschismus als auch des Stalinismus allemal so viel gelitten wie die anderen im Roman. Dafür nimmt ihr Leben in Amerika einen anderen Verlauf als das Lisas und ihrer Freunde. Ihre im ersten und letzten Kapitel erzählte eigene Geschichte ist somit eine unverzichtbare Ergänzung zur Geschichte Lisas. Lele ist, wie Dagmar Lorenz konstatiert, eine unzuverlässige Erzählerin, und das gerade in Bezug auf die Hauptfigur.⁵² Lele nutzt die erste ihr sich bietende Gelegenheit aus und kehrt der Alten Welt den Rücken, nicht ohne beim Abflug aus Europa gewahr zu werden, dass sie trotz der Irrfahrt in den letzten Monaten des Krieges, die sie von ihrer lettischen Heimat bis nach Kärnten führt, keine „seiner großen Städte“ gesehen hat. So wird für sie New York nicht nur die erste größere Stadt, die sie kennen lernt, sondern es erweist sich auch als Ersatz für das Europa, das sie nicht kennt. Was sie dort in der Gesellschaft von Lisas Freunden lernt, hat viel mehr mit Europa zu tun als mit Amerika, und sie dürfte die einzige in der Gesellschaft sein, die Paul Bothes Behauptung, dass sie alle Amerika noch gar nicht kennen, vollkommen zustimmt.
D. Lorenz, Hilde Spiel: Lisas Zimmer – Frau, Jüdin,Verfolgte. In: Modern Austrian Literature 25 (1992), 2, S. 79 – 95. Hier S. 82.
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Das wirkliche Amerika ist in ihrem New Yorker Alltag nur durch Lisas Ehemann Jeff und das schwarze Hausmeisterehepaar Luke und Hatty vertreten. Aus der nachträglichen kalifornischen Perspektive, aus der heraus Lele ihre Erinnerungen aufschreibt, versinkt New York zusammen mit dem Europa des Krieges und der Vertreibung, die Lele hinter sich gelassen hat, im dunklen Nebel einer überwundenen Vergangenheit. Aus dem blendenden Sonnenschein Kaliforniens betrachtet, erscheint vor allem Lisas verdunkeltes Zimmer als Sinnbild dieser Vergangenheit. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der erste Auftritt Jeffs, nachdem Lele ihre Arbeit bei Lisa aufgenommen hat, wenn er morgens ins Zimmer schreitet und die Vorhänge aufreißt. Lange bevor man als Leser ahnt, dass sich Jeff und Lele zusammentun werden, zeigt sich Jeff als Vermittler des Sonnenscheins. Für Lisa, die im Verlauf der Handlung immer häufiger in Depressionen gerät, werden diese Augenblicke der Helligkeit immer seltener. So wird die Dunkelheit in ihrem Zimmer auch zum Symbol ihrer eigenen Krankheit, die wiederum das kranke alte Europa symbolisiert. Nach Lisas Beerdigung wird dieser Zusammenhang von der Erzählerin ausdrücklich verbalisiert: Mir, die ich in ihrer Mitte stand, war es, als fiele alles, was ich in diesem Zimmer erlebt hatte, von mir ab und verflüchtige sich. Europa mit seinen Lastern und hohen Zielen, seinen Schrecken und Schönheiten, seiner Grausamkeit und Verfeinerung, sank dahin wie die Abendsonne am Horizont. Endlich schüttelte ich das herrliche Untier ab, das meinen Vater und meine Mutter aufgefressen hatte und mir über das Meer nachgefolgt war, um mich zurückzulocken, mich zu umgarnen mit Hilfe einer verführerischen Gespensterschar. Und plötzlich wurde Lisa, die es vergöttert und unter ihm gelitten hatte, die es überall mit sich trug […] zu einem fürchterlichen Inbegriff Europas. Sie war das Weib, bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll Greuel und Unsauberkeit ihrer Hurerei. Sie war die große Hure Babylon. Ich wollte ihr Gesicht nie wieder erblicken.⁵³
Hier ist keine Spur von Trauer oder Dankbarkeit zu spüren. Hat Lele zu Beginn ihres Berichtes Lisa noch mit großer Sympathie dargestellt, so ist hier am Ende davon nichts übrig geblieben. Ob das eine plausible Entwicklung ist, sei dahingestellt. Immerhin soll der ganze Bericht von der ersten Seite an nachträglich in Kalifornien entstanden sein. Doch hier geht es nicht um die Glaubwürdigkeit der Erzählperspektive, sondern um den Übergang des Erzähldiskurses in eine nahezu groteske Symbolik. In diesem Augenblick schaut Lele nur noch nach vorn. Jetzt schüttelt sie Europa ab und ist gleich bereit, nach einem kurzen als „Filmdialog“ empfundenen lakonischen Heiratsantrag Jeffs, diesem in den amerikanischen
H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 191.
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Westen zu folgen.⁵⁴ Damit liefert Lele das Gerüst zu einer Interpretation der Geschichte, die darauf hinausläuft, dass ihre Lebenskraft den von Lisa und ihrem mitteleuropäischen Anhang verkörperten Todestrieb endlich überwindet. Dieses Sinnangebot wird ohne weiteres von manchen Lesern des Romans übernommen. Ganz im Sinne des eben Zitierten heißt es bei Peter Pabisch: Lisa verkörpert die „große Hure Babylon“, das alte Europa, die kulturgesättigte Dekadenz, den Intellekt im verfallenden Körper. Lele ist das unverbrauchte Leben und damit als Kulturerbin besser geeignet. Der Weg nach dem Westen, der Sonne nach, dem Lichte der Erkenntnis zu, gewinnt somit symbolischen Tiefsinn.⁵⁵
Das ist der scheinbare Sinn des Erzählerdiskurses in Lisas Zimmer. Er führt vom strahlenden Sonnenschein des Schreiborts an der kalifornischen Küste in die trüben Erinnerungen an die Kriegsjahre in Europa und in Lisas verdunkeltes Zimmer – „the darkened room“ des Titels der Erstausgabe – und zum Schluss wieder zurück in die Helligkeit des amerikanischen Westens. Doch bleiben bei dieser Deutung zu viele Fragen offen. Führt Leles Weg wirklich dem Licht der Erkenntnis zu? Oder ahnen wir das diskrete Augenzwinkern einer (impliziten) Autorin, die nicht bereit ist, ihrer Erzählerin bis zum Ende zu folgen? Leles Weg führt, soviel wissen wir, über Jeffs bigottes Elternhaus, wo sie zum „Glauben [ihrer] Kindheit“ zurückfindet,⁵⁶ in eine Welt, die anscheinend von den politischen Realitäten der Nachkriegszeit völlig unberührt ist. Er führt weit weg von den Konflikten des Kalten Krieges, der nicht nur eine europäische Angelegenheit, sondern durch den McCarthyismus durchaus auch innenpolitisch eine amerikanische Realität ist. Dennoch wird diese Realität von der neuen Lele im gleißenden Sonnenschein des goldenen Westens einfach ausgeblendet, und das Schicksal des denunzierten und abgeführten Thomas Munk, das Lele in New York noch nahe ging, verblasst aus der neuen Perspektive einfach zu einer weiteren unangenehmen Episode, die zur europäisch vergifteten Atmosphäre von Lisas Zimmer gehört. Leles Einstellung zu Amerika erscheint ein wenig zu enthusiastisch, als dass man sie ohne weiteres mit der Intention des Buches gleichsetzen könnte. Dennoch ist ihr Verhalten nicht unüblich. Der Typus des Emigranten, der sich überhaupt nicht von der alten Heimat loslöst, sich kaum Mühe mit der neuen Sprache gibt und sich nicht assimiliert, der im Kreis um Lisa gut vertreten ist, stellt nur eine
H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 192. Lele erinnert sich dabei an die Wort Lisas bei ihrem ersten Gespräch, dass Filmdialog die einzige Art sei, mit Amerikanern zu reden. P. Pabisch 1979, S. 406. H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 290.
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Verhaltensweise im Exil dar. Lele dagegen verkörpert das andere Extrem, das nicht weniger realen Vorbildern entspricht. Doch wie überzeugend ist der übermäßige Enthusiasmus für ihre neue Heimat, den Lele am Ende ihres Berichts zum Ausdruck bringt? Zu schön ist das happy end an der kalifornischen Küste, zu groß der Kontrast zwischen dem Familienglück Leles und dem Chaos der letzten Monate Lisas in Manhattan, um den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, es werde etwas Entscheidendes verdrängt. In einer gründlichen Dekonstruktion des Lele zugeschriebenen Textes spricht es Dagmar Lorenz aus. Es ist die Mitschuld an Lisas Tod: Die Protagonistin und die Tatbestände lassen sich nur indirekt erschließen, da Lele als unzuverlässige Erzählerin Lisa zum Objekt ihres Berichts macht, der vornehmlich der eigenen Rechtfertigung dient. Lisa ist dem Holocaust entgangen, nur um in New York an der Obhut zweier blonder, unbekümmerter Menschen zugrunde zu gehen. Diese aber, Jeff und Lele, lassen sich ihren Anteil an Lisas Tod nicht bewusst werden.⁵⁷
Lorenz sieht die ganze Hell-Dunkel-Symbolik des Romans in einem ominösen Zusammenhang mit dem Rassismus. Sie zitiert rassistische Äußerungen Jeffs und versucht auch Lele selbst als latente Rassistin und Antisemitin zu entlarven. So führt sie Jeffs Unlust an, Weihnachten „mit einem Haufen europäischer Versager und New Yorker Nigger“⁵⁸ zu verbringen, und zitiert unreflektierte Äußerungen der Erzählerin, wie etwa ihre Bemerkung vom „uralten verzweifelten, jüdischen Hyänenblick“.⁵⁹ Leles Verhältnis zu Lisa, ob von latentem Antisemitismus geprägt oder nicht, hat auf jeden Fall durchaus parasitäre Züge. Immerhin übernimmt sie von Lisa nach und nach zwei Liebhaber und einen Ehemann, von Kleidern und sozialem Glanz zu schweigen. Lorenz’ Argumentation läuft jedoch vor allem auf die Kontinuität zwischen dem europäischen Faschismus und dem amerikanischen Imperialismus der Nachkriegszeit hinaus, wobei die Emigranten in manchem an ihre europäischen Erfahrungen erinnert werden: Die Atmosphäre in Lisas Zimmer reflektiert den innen- und außenpolitischen Imperialismus der Vereinigten Staaten in den fünfziger Jahren mit seinen protofaschistischen Charakteristika, Rassismus, Marxistenphobie, eine Atmosphäre, in der sich nicht-entnazifizierte nationalsozialistische Spezialisten, z. B. Wernher von Braun, schnell einlebten.⁶⁰
D. Lorenz, 1992, S. 195. H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 97. H. Spiel, Lisas Zimmer, S. 183. D. Lorenz, 1992, S. 80.
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Ein so auffälliges Auseinanderklaffen der Lesarten, wie sie hier zwischen Pabisch und Lorenz zu Tage tritt, ist ungewöhnlich. Lorenz’ Grundthese von einer Art „translatio tertii imperii“ mag leicht überzogen sein, und ihr Urteil über Lele, die schließlich auch ein Opfer des Faschismus ist, dürfte etwas zu hart sein, doch erkennt sie die große schillernde Leerstelle, die wesentlich zur literarischen Qualität des Romans beiträgt. Ohne allzu sehr in Spekulationen über Autorintentionen geraten zu wollen, stellt sich die Frage, ob Hilde Spiel, die sich nach Jahren der Emigration und unter Emigranten nach Abschluss ihres Romans zur Rückkehr nach Wien entschloss, der kalifornischen Lele wirklich das letzte Wort im Roman lassen wollte. Das tat sie schließlich nicht. Das letzte Wort, ein kurzes „Herausgebernachwort“, legt Spiel dem längst nach Europa zurückgekehrten Schriftsteller Paul Bothe in die Feder, der mit ironischem Wohlwollen das von ihm selber angeregte Manuskript Leles überarbeitet haben will. Das ist eine direkte Aufforderung an den Leser, die Darstellung der Erzählerin cum grano salis zu nehmen. Die volle Raffinesse der Romanstruktur enthüllt sich erst auf den zweiten Blick. Ihr Clou ist der Identitätswandel der Erzählerin, der ihr erst den Abstand verleiht, aus dem sie den europäischen Mikrokosmos von Lisas Zimmer beschreiben kann. Lele präsentiert sich in doppelter Gestalt, als amerikanische Erzählerin nach dem vollzogenen Wandel und als europäische Figur. Der Wandel selbst findet allmählich während der Handlung statt, wo sie von einer mittellosen europäischen Einwanderin und alleinerziehenden Mutter, die für ihre Einstellung als Haushilfe dankbar ist, zur selbstsicheren amerikanischen Hausfrau wird, die ihr idyllisches aber potentiell langweiliges Vorortdasein durch eigenes Schreiben ergänzt. Das allein könnte schon der Inhalt eines Romans sein, aber das ist nicht der Roman, den Lele schreibt. Indem sie sich vorgeblich auf Lisa und ihre Umgebung konzentriert, lenkt sie konsequent von der eigenen Geschichte ab, die im Vergleich zum sorgfältig aufgebauten Bericht über Lisas allmählichen Verfall etliche Brüche und Überraschungen aufweist. Der Autorin scheint es hier weniger um die Frage der möglichen Kohärenz und Integrität der Figur Leles zu gehen als um die Konstruktion einer doppelten Fremdperspektive. Als Fazit lässt sich konstatieren, dass in Lisas Zimmer eine „vorgestellte Gemeinschaft“ konstruiert wird, die sowohl nach eigenem Selbstverständnis als auch nach außen hin als eine europäische identifizierbar ist. Die nationale Herkunft der einzelnen Mitglieder, ob ungarisch, deutsch oder italienisch, gerät weitgehend in den Hintergrund. Dass Hilde Spiel den Roman nicht in London, wo sie lebte, sondern in New York, wo sie sich nach eigenen Angaben nur zehn Tage
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III Exilgeschichten
aufgehalten hatte⁶¹ spielen lässt, ermöglicht ihr die Konstruktion einer eindeutig neutralen Außenperspektive. Die Gemeinschaft, die sie um Lisa herum entstehen lässt, reflektiert reale Gemeinschaften vor allem darin, dass ihre Mitglieder aus einer Mischung von Zufällen und Erfahrungen einen gemeinsamen Erfahrungshaushalt organisieren. Die in den Kontroversen und Grübeleien der versprengten Emigranten in Lisas Zimmer aufgeworfenen Fragen nach dem Wesen ihrer europäischen Identität bzw. nach irgendwelchen praktischen Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, bleiben durch den Tod Lisas und den Abgang Leles unbeantwortet. Das Abwägen nationaler und europäischer Identitäten, das in den vier Wänden von Lisas Zimmer modellhaft stattfindet, war im Zeitraum, in dem der Roman spielt, auch in Europa hochaktuell. Die Fragen, die im Roman letztlich unbeantwortet bleiben, wurden gerade im westlichen Deutschland unter Aufsicht der amerikanischen Besatzungsmacht diskutiert. Damit befasst sich das nächste Kapitel.
Hilde Spiel, S. 120.
IV Wege aus der Isolation Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte für den deutschen Sprachraum eine radikale Umstellung im Verhältnis von Zentrum und Peripherie mit sich, denn es gab zunächst kein Zentrum mehr. Nach Wien verlor jetzt auch Berlin seinen Glanz als Metropole. Politisch und moralisch hatte sich das deutsche Gemeinwesen im Dritten Reich an den Rand Europas gesetzt, und durch den Eisernen Vorhang wurde die junge Bundesrepublik nunmehr geopolitisch an seinen östlichen Rand versetzt. So wird es in diesem Kapitel weniger um Schreiben am Rande des Sprachgebiets als um Bemühungen aus dem Kern des Sprachgebiets, den Anschluss an das kulturelle Feld Europas, vornehmlich Westeuropas, zu gewinnen. Das Fehlen der Metropole führte zunächst dazu, dass die westdeutsche Literatur der nächsten Jahrzehnte als recht provinziell wahrgenommen wurde. Allerdings konnte das Provinzielle auch eine Stärke sein, dort wo große Themen mit einer starken örtlichen Bindung kombiniert wurden, wie es bei Heinrich Böll mit Köln und Günter Grass mit Danzig der Fall wurde. Als österreichisches Zentrum konnte sich Wien noch in den 50er Jahren halten, doch war es jetzt endgültig vom früheren „kakanischen“ Hinterland abgeschnitten und so konnten schon bald Nebenzentren wie Graz gleichberechtigter in Erscheinung treten. In Ost-Berlin konnte sich Brecht mit seinem Berliner Ensemble etablieren. Ansonsten war das kulturelle Umfeld im Osten im Sinne des sozialistischen Realismus stark reglementiert und blieb zumindest vom westlichen Ausland weitgehend isoliert. Neue Impulse im deutschsprachigen Theater kamen in den folgenden Jahrzehnten mit Frisch und Dürrenmatt aus der Schweiz. Die bedeutendsten Lyriker kamen vom äußersten Rande des Sprachgebiets, Johannes Bobrowski aus Ostpreußen, Paul Celan aus der Bukowina, Ingeborg Bachmann aus Kärnten. Manche emigrierte Lyriker wirkten im Ausland weiter, Nelly Sachs in Schweden, Erich Fried in England. Auch wenn es überall in Europa Kriegsschäden zu beheben gab und soziale Fragen, die auf innovative Antworten warteten, herrschte in Deutschland und Österreich insofern eine andere Situation als in den westlichen Nachbarländern vor, als eine Rückkehr zu den institutionellen Grundlagen wie sie vor dem Krieg gewaltet hatten weder möglich noch wünschenswert war. Dort stellte sich neben dem materiellen Wiederaufbau die kompliziertere Aufgabe des psychologischen und moralischen Aufbaus und der kompletten Neuorientierung der Gesellschaft.
https://doi.org/10.1515/9783110706338-006
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Schritte zur Wiederherstellung der Zivilgesellschaft Dass eine wesentliche Ursache für das Scheitern der Weimarer Republik in der mangelnden Wachsamkeit der Intellektuellen gelegen hatte, wurde nach dem Krieg von vielen in Deutschland schnell anerkannt. Der bekannte Gegensatz zwischen dem deutschen Kulturbegriff bzw. der sog. deutschen Innerlichkeit auf der einen und westlicher Zivilisation bzw. Sozietät auf der anderen Seite, der Thomas Mann, wie bereits ausgeführt, während beider Weltkriege aus entgegengesetzten Blickwinkeln beschäftigte, tritt hier erneut zum Vorschein. Das Defizit an zivilem Bewusstsein sollte bei der Einrichtung einer zweiten Republik von vornherein vermieden werden. So kam der Prozess einer Wiederherstellung der Zivilgesellschaft vor allem durch das Aufleben einer regen Publizistik schnell in Gange. Doch waren bereits im 19. Jahrhundert die Entwicklung von Nation und Zivilgesellschaft in Deutschland aus dem Takt geraten, und die Bedingungen für einen Gleichtakt waren nach 1945 auch nicht optimal. Wie die allmähliche Wiederherstellung einer gewissen staatlichen Ordnung, stand auch das Wiedererstarken des kulturellen Lebens unter der Aufsicht der Besatzungsmächte. Die westlichen Besatzungsmächte neigten, wie manche deutsche Intellektuelle auch, nicht selten dazu, den Ursprung des deutschen Faschismus nicht erst im Zerfall der Weimarer Republik, sondern in einer latenten Veranlagung des deutschen Volkes zu sehen. Noch 1960 schrieb der amerikanische Komparatist John McCormick in einer wohl absichtlich überspitzten Darstellung deutscher Zustände Folgendes: Germany lacks society altogether […] also owing to a lack of national identity throughout German history. German wars and abortive revolutions, and above all, Nazism have destroyed the rudiments of society as the term is understood in any other country in the West.¹
Anders als das Zitat von McCormick vermuten lässt, ging die Politik der amerikanischen Besatzung in der Praxis von einer optimistischen Auffassung der Möglichkeiten deutscher Sozietät aus. Die Umerziehungspolitik setzte auf Zusammenarbeit mit deutschen Akteuren und auf die Wiedererstärkung von traditionellen Elementen des deutschen Gemeinwesens, die in der NS-Diktatur unterdrückt wurden wie das Bewusstsein regionaler Identitäten. In einem Direktiv aus Washington zur Kulturarbeit der Militärregierung der amerikanischen Zone von Juni 1946 hieß es u. a.:
J. McCormick, The Frozen Country. In: The Kenyon Review XKI 1960, Nr. 1. S. 32– 59. Hier S. 36. Vgl. das Zitat von Thomas Mann in Kap. III, S. 69f.
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Your Government […] believes that there should be no forcible break in the cultural unity of Germany, but recognises the spiritual value of the regional traditions of Germany and wishes to foster them; […] You will encourage German initiative and responsible participation in this work of cultural reconstruction and you will expedite the establishment of these international cultural relations which will overcome the spiritual isolation of Germany imposed by National Socialism on Germany and further the assimilation of the German people into the world community of nations.²
Zwei zentrale Grundsätze der alliierten Umerziehungspolitik kommen hier zum Vorschein: die Einbeziehung der Deutschen selbst in die Entwicklungsarbeit und die Unterstützung föderalistischer Strukturen. Darin waren sich die vier Alliierten anfangs weitgehend einig. In der Praxis zeigten sich bald Unterschiede in der Umsetzung der Ziele. Ein Unterschied, der die spätere Entwicklung des Literaturlebens in beiden Teilen Deutschlands deutlich mitprägen würde, war die Rolle die den Rückkehrern aus der Emigration zugedacht war.
Remigrationsfragen Das deutsche Kulturleben hatte sich in den zwölf Jahren des „tausendjährigen Reichs“ in einer weit zerstreuten Diaspora eingerichtet und die unmittelbare Rückkehr nach dem Krieg war für viele Emigranten aus verschiedenen Gründen wenig attraktiv. Die Rückkehr der Emigranten nach Deutschland und Europa gestaltete sich in der Regel als schwierig. Wer Heimweh verspürt hatte, fand nicht mehr das vor, wonach er Sehnsucht empfunden hatte. Im Grunde kann man daher gar nicht erst von Rückkehr sprechen, denn nicht nur die deutsche Trümmerlandschaft, sondern Europa insgesamt hatte sich durch das Trauma des Zweiten Weltkriegs gewandelt. Wer geglaubt hatte, dort wieder ins öffentliche Leben einsteigen zu können, wo er vielleicht vor 1933 gestanden hatte, unterlag einer Täuschung, wie sich bald zeigen sollte. Nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Diktatur war eine direkte Anknüpfung an die Weimarer Republik mit ihrer schwachen Verfassung und ihrer chaotischen Parteienlandschaft unerwünscht. Nach der durch die nationalsozialistische Diktatur verursachten Zäsur war auch eine unmittelbare Wiederaufnahme des einst blühenden Kulturlebens unmöglich geworden. Insofern hat die Metapher des Kahlschlags eine gewisse Berechtigung.
Zit. nach Amy C. Beal, New Music, New Allies. American Experimental Music in West Germany from the Zero Hour to Reunification. Berkely/Los Angeles CA 2006, S. 19.
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Die sowjetische Besatzungsmacht war zwar grundsätzlich weniger bereit, den deutschen Absturz in den Nationalsozialismus auf irgendeine besondere nationale Veranlagung zurückzuführen und sah, zumindest gemäß der offiziellen Ideologie, Faschismus und Nationalsozialismus stattdessen als extreme Ausformung bürgerlicher Gesellschaftsverhältnisse, die im Kapitalismus und Imperialismus schon immer latent vorhanden war. Ohnehin passte die Vorstellung von im Volke sitzenden Veranlagungen schlecht zu einem wissenschaftlich verstandenen historischen Materialismus. Alle vier Besatzungsmächte waren sich jedoch darin einig, dass zur Verhinderung eines Rückfalls in den Nationalsozialismus eine politisch-moralische Umerziehung der deutschen Bürger bzw. des deutschen Volkes vonnöten sei. Diese müsse zwar von außen gelenkt werden, brauche aber die praktische Unterstützung von innen. Die Umsetzung dieser Forderung sah allerdings in den verschiedenen Zonen unterschiedlich aus. In der sowjetischen Besatzungszone war von Anfang an eine sozialistische Zielrichtung vorgegeben. Die sowjetische Besatzungsmacht setzte zumindest nominell auf eine Kontinuität der Arbeiterbewegung und konnte auf ideologisch geschulte Kader zurückgreifen, die, sofern sie das sowjetische Exil überhaupt heil überstanden hatten,³ bereits im Exil auf die mögliche Rückkehr vorbereitet wurden und gleich hohe Positionen in der Politik und im Kulturleben übernehmen konnten. Neben Politikern wie Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht bekamen auch Schriftsteller und andere „Kulturschaffende“ offizielle Posten in der SBZ/DDR. So wurde Johannes R. Becher nach seiner Rückkehr aus dem sowjetischen Exil Präsident des deutschen PEN-Klubs und 1954 Kulturminister der jungen DDR; Anna Seghers war 1952– 1978 Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. Heinrich Mann war für den Posten des Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin vorgesehen, als er kurz vor der geplanten Abreise aus Los Angeles starb. Entsprechendes gab es im Westen nicht, zumindest nicht in dieser systematischen Art. Anders als die Sowjetunion hatten die westlichen Besatzungsmächte keine Tradition staatlicher Intervention in kulturpolitische Angelegenheiten. Nach Frank Trommler trat „Von Anfang an […] der Widerspruch zwischen der Absicht, in Deutschland eine moralische und kulturelle Mission zu erfüllen, und dem traditionellen amerikanischen Mißtrauen gegen jede Form staatlicher Ein-
Trotz der relativ guten Arbeitsbedingungen (A. Stephan, Deutsche Exilliteratur 1979. Insbesondere S. 66 ff.) waren Emigranten in der SU den stalinistischen Säuberungen genauso ausgesetzt wie die Sowjetbürger selbst (D. Pike, Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933 – 1945, Frankfurt/M. 1981, Insbesondere Kap. 12), auch setzte ihnen die abrupte ideologische Kehrtwendung zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu.
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griffe auf dem Gebiet der Kultur zutage.“⁴ Ihr vorgebliches Ziel war ganz im Gegenteil, das deutsche Kulturleben nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Lenkung von jeder politischen Bevormundung zu befreien. Ihr Einfluss wurde daher eher indirekt über Kulturhäuser und diverse Fördermaßnahmen geübt. So flossen zum Beispiel bis in die 60er Jahre finanzielle Mittel der CIA über den Congress for Cultural Freedom in eher linksliberale, aber streng antikommunistische europäische Zeitschriften wie das englische Journal Encounter und das deutsche Der Monat. Unmittelbar nach Kriegsende wurden von den Besatzungsmächten vor allem im Nachrichtenwesen die Dienste von Exilanten in Anspruch genommen. Klaus Mann und Peter de Mendelssohn und viele andere im jeweiligen Exilland naturalisierte Emigranten kamen unmittelbar nach dem Krieg als Teil der Besatzungsarmeen nach Deutschland oder Österreich und konnten sich so am Entnazifizierungsprojekt beteiligen. Die Bereitschaft, Vermittlungstätigkeiten zu übernehmen erforderte vor allem von jüdischen Emigranten eine besondere Überwindung.⁵ Die Vermittler traten nicht öffentlich als Repräsentationsfiguren auf, wie es die namhaften Rückkehrer in der SBZ/DDR konnten, wo der kulturelle Wiederaufbau im Gleichschritt mit dem politischen lief. Im Westen Deutschlands und in Österreich wurde der politische Wiederaufbau zunächst personell weitgehend Leuten überlassen, die das Dritte Reich im Lande überstanden hatten ohne sich allzu sehr zu kompromittieren. In der Literatur waren die restaurativen Tendenzen am Ende der 40er Jahre auch deutlich. In Westdeutschland erlebten eher konservative und nationalkonservative Autoren, die im Lande geblieben waren, wie Gottfried Benn, Hans Carossa und sogar Ernst Jünger eine Renaissance. Wie problematisch die Bedingungen bezüglich der Aufnahme von Rückkehrern aus der Emigration in den Westzonen waren, zeigt die bereits behandelte „große Kontroverse“, die im ersten Jahr nach Kriegsende um Thomas Mann geführt wurde, nachdem der Schriftstellerkollege, Walter de Molo, ihn aufgefordert hatte, nach Deutschland zurückzukehren, um mit seiner kulturellen und moralischen Autorität dem Wiederaufbau beizuwohnen. Allein schon die Tatsache, dass es sich bei dieser Aufforderung um eine spontane private Initiative handelte, ist kennzeichnend für die unterschiedliche Ausgangslage in den verschiedenen Besatzungszonen. Literaturgeschichtlich war die Kontroverse insofern folgenreich, als durch sie der Begriff der „inneren Emigration“ fest etabliert wurde. Der
F. Trommler, Neuer Start und alte Vorurteile. In: Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945 – 1990. Ein Handbuch, hg. von D. Junker, Stuttgart, München 2001, S. 572: F. Trommler 2001, S. 575.
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inflationäre Gebrauch dieses Begriffs, mit dem fast jeder, der im Dritten Reich weitergewirkt hatte, sein Gewissen zu entlasten versuchte, hatte den verhängnisvollen Effekt, die deutsche „Innerlichkeit“ im Sinne der Abschottung des kulturellen Lebens gegen die Politik zu rechtfertigen. Das war im Kontext der Wiederherstellung einer gesunden Zivilgesellschaft eindeutig konterproduktiv. Noch in den 50er Jahren hielt sich das politische Engagement der westdeutschen Literatur in Grenzen. Zu einer selbstverständlichen Option für Künstler und Schriftsteller wurde das Engagement erst im Zuge der Verjüngung der Literaturszene in den 60er Jahren.
Publizistik So unerfreulich die sogenannte „große Kontroverse“ um die Rückkehr Thomas Manns auch war, so demonstrierte sie doch die Bedeutung einer lebhaften Publizistik. Tatsächlich wurde der Grundstein einer effektiven Zivilgesellschaft bereits im politisch-kulturellen Vakuum der unmittelbaren Nachkriegszeit gelegt, und zwar zunächst durch die überaus aktive politisch-kulturelle Publizistik. Dabei fand eine vorübergehende Verlagerung des Schwerpunkts geistiger Tätigkeit vom Buch auf das schnellere und aktuellere Medium der Zeitschrift statt.⁶ Kleine Zeitschriften kamen dem Bedürfnis einer Zeit raschen Wandels entgegen. Bücher mit ihren langen Produktionszeiten konnten den unmittelbaren Bedarf nicht befriedigen. Wie Walter Dirks, einer der Herausgeber der Frankfurter Hefte nachträglich feststellt: […] es war mir klar, daß im ersten Stadium der wiedergewonnenen Freiheit der Deutschen nicht Bücher helfen könnten, sich in der völlig veränderten Welt zurechtzufinden, man brauchte vielmehr zunächst Zeitschriften.⁷
Zwischen 1945 und 1947 sprossen neue Zeitschriften wie die Frankfurter Hefte, Die Gegenwart ⁸ oder auch Hans Werner Richters und Alfred Anderschs Der Ruf aus dem Boden, die unterschiedlichste gesellschaftspolitische Entwürfe und neue Richtungen in der Literatur vorstellten. Das war angesichts der waltenden Papierknappheit recht erstaunlich. Die Zeitschriften mussten zwar von den alliierten Behörden lizenziert werden und unterstanden der Zensur durch die Militärre-
Vgl. Ingrid Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945 – 1949. Frankfurt/M. 1991. W. Dirks, Sozialismus oder Restauration Zürich 1987, S. 6. Eine Zeitschrift gleichen Namens hatte es zwischen 1872 und 1931 gegeben.
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gierungen der jeweiligen Zonen. Sie vertraten dennoch ein breites Spektrum an Meinungen, nicht zuletzt weil die Meinungsunterschiede zwischen den Siegermächten einen gewissen Spielraum eröffneten. Sie vertraten verschiedene Meinungslagen und Generationen.⁹ Allen gemeinsam war die beabsichtigte erzieherische Einbindung in das Projekt der „Reeducation“ und der Entnazifizierung, was allerdings auch Voraussetzung der Lizenzvergabe war. Immerhin gab es Unterschiede in der Art und Weise, wie die angestrebte Aufklärungsarbeit betrieben wurde. Die Dringlichkeit neuer kollektiver Zielvorstellungen brachte Clemens Münster in der ersten Nummer der Frankfurter Hefte 1946 zum Ausdruck: Die Idee der Nation hat den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit überschritten, wenn sie auch nicht an zerstörerischer Kraft eingebüßt hat. So sind die Herzen und Gehirne der jungen Deutschen, die davon erfüllt waren bis zum Rand, wie entleert. Sie bedürfen der Ziele, der großen Ideen und Entwürfe, um leben zu können, – wie diese Entwürfe ja die politische Gestalt ihres Lebens zum Gegenstand haben.¹⁰
Ein solches Ziel lag in einer neuen postnationalen Gestaltung Europas. Intensive europäische Zusammenarbeit oder gar Einheit war nicht nur ein Anliegen der Herausgeber der Frankfurter Hefte, einige Zeitschriften führten Europa gleich im Titel wie Neues Europa oder der eher konservativ ausgerichtete Merkur, Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken. Die Förderung europäischer Einheit war vor allem ein zentrales Anliegen der Frankfurter Hefte. Eugen Kogon, einer der Mitherausgeber der Zeitschrift war Gründungsmitglied der Europäischen Föderalisten und wirkte maßgeblich an der Gestaltung der europäischen Integrationspolitik mit. Dass wie nach dem Ersten Weltkrieg auch nach dem Zweiten die Europadiskussion mit neuer Dringlichkeit wieder aufflammte, ist kaum überraschend. Europa galt vielen zunächst als diffuser Ersatz für die Nation, die als Ideal zumindest vorläufig ausgedient hatte, wie der bereits zitierte Clemens Münster in der ersten Nummer der Frankfurter Hefte klar erkannte, als er unter den „Zielen, großen Ideen und Entwürfen“, derer die jungen Deutschen bedürften, das Ziel der europäischen Einheit nannte.¹¹ Die meisten europäischen Nationalstaaten hatten in den zurückliegenden Jahren Niederlagen erlitten. Die einzigen Sieger des
I. Laurien (1991) gruppiert die Zeitschriften nach politischen Kategorien unter Katholizismus, Sozialdemokratie und liberales Bürgertum, während Mechtild Rahner (1993) stärker die Generationsunterschiede in den Vordergrund stellt. CM (Clemens Münster), Abbau der nationalen Souveränität“. In Frankfurter Hefte Jg. 1, 1946, H. 5, S. 1– 3. Ebd.
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Krieges waren die Großmächte USA und UdSSR. So überrascht es auch nicht wenn der Schweizer Denis de Rougemont, ein weiterer Mitbegründer der europäischen föderalistischen Bewegung, in einem Beitrag in den Frankfurter Heften 1949 politisch ähnlich argumentiert wie vor ihm Richard Coudenhove-Kalergi.¹² Nur die Einheit könne Europas Gewicht in der Welt garantieren und, mehr noch, vor der endgültigen Zerstörung in einem weiteren Weltkrieg retten. Im Unterschied zu Coudenhove-Kalergi wollte de Rougement Großbritannien nicht aus der anvisierten europäischen Föderation ausschließen. Ein weiterer, und für die Zukunft Europas doch entscheidendere Unterschied zu Coudenhove-Kalergi liegt in der Tatsache, dass de Rougemonts Bemühungen konkrete Ergebnisse zeigten. Er war bei den Verhandlungen, die zur Gründung des Europarats 1949 führten, unmittelbar beteiligt. In einem Punkt versucht de Rougement einem großen, seit Beginn des europäischen Integrationsprozesses immer wieder lautgewordenem Missverständnis vorzubeugen: nämlich, dass die europäische Einheit sich gegen die einzelnen Nationen richtet. Es geht ihm nicht um die Abschaffung der Nationen an sich, sondern um die Abkoppelung der Nation vom Staat. So könne Europa seine Diversität retten, die in der polarisierten Welt des Kalten Krieges sonst unweigerlich dem Autonomieverlust und der Kolonisierung anheimfallen würde. Ähnlich argumentierte zwei Jahre später ebenfalls in den Frankfurter Heften Jean-Paul Sartre in einem Beitrag mit der bezeichnenden Überschrift „Die Verteidigung der nationalen Kultur durch die europäische Kultur“.¹³ Sartre stand die Realität des Kalten Krieges vor Augen, in Anbetracht dessen die europäischen Nationen und ihre Nationalkulturen künftig nur wenig Einfluss haben würden. In der europäischen Gegenwartskultur der Nachkriegszeit entdeckte er übernationale Gemeinsamkeiten, die sich aus der gemeinsamen Situation der geschlagenen und verarmten Nationen ergaben. Einerseits gab es vor dem materiellen Hintergrund der Zerstörung die gemeinsame Herausforderung des Wiederaufbaus. Andererseits hatte der Krieg auch überall in Europa die Menschen vor extreme (existentielle) moralische Entscheidungen gestellt, wie etwa die Wahl zwischen Passivität oder Teilnahme am Widerstand. Folglich sei die „Moral, die sich dem heutigen Europa aufdrängt, nicht die optimistische und ‚jesuitische‛ der Amerikaner […], sondern die ,jansenistische‛ der ‚großen Umstände‛“. Infolge der gemeinsamen Situation auf politischer, sozialer, wirtschaftlich und metaphysischer Ebene stünde ein „französischer Student einem Berliner Studenten viel
D. de Rougement, Zuerst Europa. In: Frankfurter Hefte Jg. 4, 1949, S. 207– 305. J.-P. Sartre, Die Verteidigung der nationalen Kultur durch die europäische Kultur, Frankfurter Hefte Jg. 6, 1951 S. 311– 321.
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näher, als einem Studenten aus Boston oder Princeton.“¹⁴ Diese neue Gemeinsamkeit habe dazu geführt, so führt Sartre mit eher subjektiven Eindrücken weiter fort, dass eine neue Verständigung unter Europäern entstanden sei. Infolge der gemeinsamen Ausgangssituation interessiere man sich gleichermaßen für dieselben Probleme in der Literatur. Die Beispiele, die er anführt, sind allerdings nicht optimal gewählt, um seine These zu unterstützen: Ob man vom Krieg, von der amerikanischen Literatur, vom neuesten Buch spricht, – das Thema ist unmittelbar gegeben, man redet nicht in derselben Zunge und doch die gleiche Sprache. ‚Les jours de notre mort?‛ auch für die Deutschen ist dieses Buch lesenswert, und das letzte und schönste Buch von Erich Nossack kann von allen verstanden werden.¹⁵
Mit dem neuesten Buch Nossacks dürfte Interview mit dem Tode gemeint sein, das 1950 in französischer Übersetzung bei Gallimard erschien. Les jours de notre mort des KZ -Überlebenden David de Rousset hätte in der Tat deutsche Leser interessieren sollen, wurde jedoch bislang nicht ins Deutsche übersetzt, was symptomatisch ist für die von Sartre zum Zeitpunkt seines Artikels vielleicht noch nicht wahrgenommene einsetzende Restauration in der jungen Bundesrepublik, in der die Shoah mehr oder minder tabuisiert wurde.¹⁶ So hat die von ihm hervorgehobene „gleiche Sprache“ noch nicht die Trennung der einzelnen „Zungen“ überwinden können.
Alfred Andersch als Publizist Eine Zeitschrift, die sich besonders stark um eine neue politische Konzeption Europas und gleichzeitig den kulturellen Wiederanschluss Deutschlands an die neueren europäischen Kulturströmungen bemühte, war Der Ruf. Herausgegeben wurde sie von Alfred Andersch und Hans Werner Richter, die bereits in amerikanischer Kriegsgefangenschaft ihre „Reeducation“ erfolgreich durchgemacht hatten. Sie hatten dort auch bereits eine gleichnamige Zeitschrift für die Kriegsgefangenen herausgebracht. Schon in der ersten Nummer der in München wiederaufgenommenen Zeitschrift zeigte sich Anderschs Engagement für eine künftige europäische Zusammenarbeit in seinem Leitartikel „Das neue Europa formt sein Gesicht“. Allerdings nahmen die Herausgeber die Demokratie und Redefreiheit, die sie in Amerika kennengelernt hatten, beim Wort und schonten auch
J.-P. Sartre, Die Verteidigung der nationalen Kultur, S. 320. Ebd. Auch de Roussets zweites Werk Das KZ-Universum erschien erst 2020 auf Deutsch.
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die Besatzungsmächte nicht mit ihrer Kritik. 1947 wurde ihnen die Lizenz entzogen. Die Zeitschrift erschien noch kurze Zeit unter einer neuen Redaktion. Andersch und Richter verlagerten ihre publizistische Tätigkeit anderswohin. Die kurzlebige Zeitschrift ist vor allem wegen ihres entstehungsgeschichtlichen Zusammenhangs mit den Anfängen der Gruppe 47 für die Kulturgeschichte der Bundesrepublik bedeutend. Der Ruf war nicht die einzige Zeitschrift, die gegen Ende der 40er Jahre ihr Erscheinen einstellte. Die Blütezeit der kleinen politisch-kulturellen Zeitschriften ging mit der Währungsreform abrupt zu Ende, denn mit der Stabilisierung der Währung ging eine Normalisierung der Marktverhältnisse einher. Die intellektuellen Zeitschriften wurden schlagartig teurer, ihr Marktanteil fiel in Anbetracht der Neugründungen von Nachrichtenmagazinen usw. auf das bescheidene Normalmaß zurück, und sie verschwanden aus dem Sortiment des allgemeinen Zeitungshandels.¹⁷ Der damit verbundene Rückgang der Meinungsvielfalt war symptomatisch für die restaurative Atmosphäre, die mit dem Erfolg der Marktwirtschaft im westlichen Teil Deutschlands eintrat. Schon 1950 bezeichnete der als linkskatholisch einzustufende Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, Walter Dirks, die gesellschaftliche Situation der jungen Bundesrepublik als Restauration, was inzwischen zum Epochenbegriff geworden ist. Nach Einstellung des Ruf blieben H.W. Richter und Alfred Andersch weiterhin zentrale Gestalten im westdeutschen Kulturleben: Richter als Gründer der Gruppe 47 und Andersch als Publizist und als Rundfunkredakteur. Mit seiner neuen Zeitschrift Texte und Zeichen und vor allem mit seiner Arbeit beim Rundfunk in den 50er Jahren trug Andersch erheblich zur Vermittlung der neueren deutschen und europäischen Moderne in der Bundesrepublik bei, bevor er 1958 ins Tessin zog. Anderschs literarischer Durchbruch kam erst mit der autobiographischen Erzählung Die Kirschen der Freiheit (1952), in der das Thema der Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg aufgegriffen wird. Das Buch löste vor dem Hintergrund der Remilitarisierung eine heftige Debatte aus, die einen Meilenstein in der politischen Diskussionskultur der jungen Bundesrepublik darstellt. Doch bevor ich auf dieses kontroverse Werk eingehe, sollen zwei Beiträge aus den 40er Jahren unter die Lupe genommen werden, die den Umbruch nach Kriegsende und Anderschs Bestreben, den literarischen Horizont in Westdeutschland zu erweitern, signalisieren. Diese Beiträge weisen die Schwierigkeit auf, die nichtemigrierte Intellektuelle hatten, einen angemessenen Ton für das kritische Schreiben in der Demokratie zu finden.
I. Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften 1991, 46 f.
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Deutsche Literatur in der Entscheidung In diesem als selbstständige Publikation veröffentlichten Aufsatz von 1948¹⁸ unternahm Andersch eine Bestandsaufnahme der deutschen Gegenwartsliteratur, wie sie sich im Dritten Reich und in der Emigration entwickelt hatte und wie sie sich weiterhin gestalten könnte. Was die Literatur betrifft, die innerhalb Deutschlands unter nationalsozialistischer Herrschaft entstand, scheint Andersch zunächst das berühmte Urteil Thomas Manns zu teilen, wonach nichts Gutes im Dritten Reich hatte entstehen können, doch Andersch drückt sich deutlich sanfter aus. „Denn deutsche Literatur, soweit sie den Namen einer Literatur noch behaupten kann, war identisch mit Emigration, mit Distanz, mit Ferne von der Diktatur“.¹⁹ Das Einverständnis mit dem Urteil Manns war allerdings nur scheinbar, denn Andersch zeigt sich gleich darauf nur zu bereit, einzuräumen, dass eine solche Distanz in einzelnen Fällen und unter erschwerten Bedingungen auch innerhalb Deutschlands möglich war, wodurch er den Begriff der „Inneren Emigration“, zwar nicht ganz ohne Vorbehalt, akzeptiert. Er nennt jedoch anschließend so viele Autoren, denen er die rettende Distanz zuschreibt – sogar bereits in diesem frühen Aufsatz Ernst Jünger²⁰ –, dass dabei die ursprüngliche Behauptung auf den Kopf gestellt wird.²¹ Denn Emigration ist nun für Andersch nicht mehr wie bei Mann Voraussetzung für Literatur, sondern Literatur, die den Namen verdient, wird von ihm mit Emigration gleichgesetzt. Das Hauptkriterium, das er für die Dichtung erhebt, ist die Integrität des Schreibens, die letztlich nur Resultat der persönlichen Entscheidung des einzelnen Literaturschaffenden sein kann. Damit erklärt Andersch die Dichtung zur „existentiellen Angelegenheit der Dichter“.²² Die milde Haltung ist in Hinblick auf Anderschs eigenen Verzicht auf Emigration und seine Zuflucht in die Ästhetik nach 1933 verständlich und ist Ausdruck einer Ambivalenz, die sein Werk fortan weiterhin begleitet. Im Augenblick der „Entscheidung“, die Andersch 1948 gekommen sah, konnte die Literatur der „Inneren Emigration“ allerdings für ihn kein Vorbild für die Zukunft sein. Sie hatte im Versteckspiel, das sie treiben musste und das unter Ausschluss eines klaren Realismus zu den ausgefeilten Verschlüsselungen einer
A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung, Karlsruhe 1948. A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 7. Anderschs anhaltende Begeisterung für Jüngers Werke aus der Nazizeit, die zwar etwas aristokratischen Abstand von der NS-Propaganda nehmen, erscheint später als Störfaktor in seinem Briefwechsel mit Jean Améry. Vgl. E. Schütz, Alfred Andersch, München 1980, S. 26. A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. S. 7.
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eigenartigen „Kalligraphie“ führte,²³ ein wesentliches Handicap, das die wirklichen Emigranten nicht hatten. Diesen ist der zweite Teil des Aufsatzes gewidmet, der im Kontext der damaligen Kontroverse um Thomas Mann eine unmissverständliche Stellungnahme zugunsten der Emigranten darstellt: Es wird immer ein hohes Verdienst des deutschen Geistes bleiben, daß er sich gegen die Unterdrückung in einer Emigration zusammenfand […] Die Emigration war es, die das internationale Ansehen des deutschen Namens wenigstens teilweise retten konnte.²⁴
Eindringlich fordert nun auch Andersch Thomas Mann zur Rückkehr auf und lobt die Autoren, die er der Gruppe der „Proletarischen Schriftsteller“ zuordnet, Oskar Maria Graf, Willi Bredel, Anna Seghers und Theodor Plievier, die als erste zurückgekehrt waren. Dass sich gerade an diesen Beispielen die besondere kulturelle Situation der Sowjetzone zeigte, scheint Andersch in diesem Aufsatz, der noch knapp vor der Zementierung der deutschen Teilung geschrieben wurde, zu ignorieren.²⁵ Der letzte Teil des Aufsatzes liest sich wie ein Manifest der Gruppe 47. Hier spekuliert Andersch über einen möglichen neuen Weg für die deutsche Literatur, die nun in einer völlig neuen Situation stehe, in der die Schriftsteller „Angehörige der intellektuellen Schicht eines halbkolonialen Volkes“ seien,²⁶ deren besonderer Charakter allerdings in der „Selbstverschuldetheit“ liege. Angesichts dieser Situation würden die deutschen Schriftsteller auf doppelter Front einen Freiheitskampf zu führen haben: als Kampf gegen koloniale Erscheinungsformen und als Kampf gegen das Denken, das diesen Zustand letztendlich herbeigeführt habe. Die Diagnose ist einerseits hellsichtig, andererseits sieht sie nicht voraus, wie schnell sich eine neue westdeutsche politische Elite in einer veränderten weltpolitischen Situation mit den westlichen Siegern arrangieren wird. Immerhin weist der Weg, den Andersch der Literatur zu ihrer Modernisierung vorschlägt, eine Parallele zu dem von der neuen Intelligenz der Kolonien Frankreichs und Großbritanniens in den 50er Jahren beschrittenen, und zwar darin, dass sie von der Literatur der Metropole lernen solle: Der jungen Literatur kann es durchaus nicht schaden, wenn sie sich ihres internationalen Standortes bewußt wird, aus dem Vergleich mit fremden Literaturen Maßstäbe gewinnt und überdies daran ihr eigenes Selbstbewußtsein stärkt. Denn sie wird, beim Aneignen aus-
A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 11 f. A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 16. Th. Plievier siedelte allerdings noch im selben Jahr 1948 nach Westdeutschland über, bevor er Deutschland 1953 endgültig verließ und in die Schweiz zog. A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 26.
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ländischer Einflüsse zu ihrem Nutzen feststellen können, daß die neuen Schriftsteller etwa Amerikas, Frankreichs, Englands und Italiens, sich auf durchaus ähnlichen Pfaden bewegen, künstlerisch aber dank der freiheitlichen Tradition ihrer Länder eine Form erreicht haben, die verarbeitet werden will, wenn man den Wunsch hat, eine deutsche Literatur zu schaffen, die aus provinzieller Enge heraustritt.²⁷
Den Austritt aus der „provinziellen Enge“ hatten wohl die Emigranten, deren Rückkehr Andersch befürwortet, kaum nötig und von der älteren Generation der im Lande Gebliebenen war ein solcher Schritt kaum zu erwarten. Die Aufforderung richtet sich in erster Linie an die Generation, deren öffentlicher Durchbruch, wenn auch nicht unbedingt deren Anfänge, mit dem Ende des Krieges einsetzen sollte. Konsequent gibt Andersch im folgenden Jahr seine Anthologie Europäische Avantgarde heraus.
Europäische Avantgarde Mit der Anthologie Europäische Avantgarde ²⁸ legte Andersch 1949, ein Jahr nach dem Aufsatz Deutsche Literatur in der Entscheidung, eine Auswahl theoretischer Schriften namhafter europäischer Autoren vor, die einen Überblick über das intellektuelle Klima der Zeit geben sollte. Das war ein konkreter Schritt zur Öffnung des wiederentstehenden (west)deutschen literarischen Feldes zum Ausland hin. Das Schlagwort der „Entscheidung“ erscheint auch hier wieder, und zwar gleich im Motto von André Malraux, das dem Text vorangestellt ist. Die Anlage des Bandes ist, wie im Titel angekündigt, europäisch, wobei der Osten allerdings gänzlich fehlt. Mit Malraux, Camus, Sartre, de Beauvoir und anderen dominiert die französische Gegenwartsliteratur, aber auch England ist mit Stephen Spender und Italien mit Ignazio Silone vertreten. Mit Erich Kahler und Arthur Koestler kommen auch zwei deutsche Emigranten zu Wort. Mit dieser Anthologie wird dem deutschen Publikum ein Querschnitt dessen präsentiert, was ihm in den Jahren der Isolation vorenthalten wurde. Interessant ist darüber hinaus, dass die Anthologie deutlich macht, was sich außerhalb Deutschlands im Widerstand gegen die deutsche Okkupation hat entwickeln können, während es in Deutschland selbst einen solchen literarischen Widerstand nicht gegeben hatte. Die Schwachstelle der Anthologie stellt Anderschs Vorwort dar, das mit seinem unglaublichen Pathos eine nahezu schizophrene Kluft zwischen Inhalt und Stil aufweist. Mag das Inhaltverzeichnis den Nachweis führen, dass die Avant A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 26. Europäische Avantgarde, Frankfurt/M. 1949.
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garde bei Andersch angekommen ist, so ist im Vorwort stilistisch von ihr keine Spur zu finden. Den Anfang macht eine Reihe von rhetorischen Fragen, mit denen die europäische Thematik eingeführt wird: „Gibt es eine Hoffnung? Ich meine: eine Hoffnung für Europa? [… ] Wird Europa weiterleben?“²⁹ Danach wird das Europäische scheinlogisch definiert, wobei in einer durch nichts rechtfertigten Verallgemeinerung der „europäische Mensch“ auf die von Andersch neu entdeckte existentialistische Einstellung festgelegt wird: Der europäische Mensch ist der Mensch der sich zur Freiheit entscheidet. Der freie Mensch ist der Mensch, der sich dem Schicksal stellt. Der Mensch der handelt. Auch wenn er duldet. Er hat in jedem Falle gewählt.³⁰
Vielleicht soll dieser Pamphletstil die Leser darauf einstimmen, dass ihnen hier etwas Neues angeboten wird, das sie alle betrifft. Es sind jedoch Sentenzen wie sie jeder Propaganda-Apparat produzieren könnte. Es kommt aber noch schlimmer: Gibt es noch Menschen in Europa, welche die große Gebärde der Hoffnung vollziehen, indem sie handeln? Ritterliche Täter, die das Glasperlenspiel lachend und achtlos beiseite werfen, um durch ein dunkles, von schwelendem Rauch erfülltes Jahrhundert zu reiten, schlagen wider den Tod, – er ist diesmal ein Roboter, ein Automat, kein biederer Knochen- und Sensenmann, stechend wider den Teufel – er verspricht uns den Tod von Rezepten, wenn er die Seele erhält, Tod und Teufel, es muß die Ritter geben!³¹
Es ist heute schwer nachvollziehbar, wie eine so kämpferische Metaphorik im friedlichen Zusammenhang der Einführung neuer intellektueller Richtungen in der deutschen Trümmerlandschaft der ersten Nachkriegsjahre ankam. Sie ist eine Rhetorik, wie sie sonst nach Mechthild Rahner eher konservative Publikationen der Zeit charakterisiert: Die Verwendung existentieller und mythischer Metaphern weist auf das fatalistische Geschichtsbild hin, das der Interpretation des Erlebten als „apokalyptisches Verhängnis“ zugrundeliegt, deren politische oder soziale Bedingungen dagegen nicht in den Blick treten.³²
A. Andersch, Vorwort zu Europäische Avantgarde, S. 5. Ebd. A. Andersch, Vorwort zu Europäische Avantgarde, S. 5 f. M. Rahner „Tout est neuf ici, tout est à recommencer …“ Die Rezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945 – 1949). Würzburg 1993. S. 122: „Ähnliches stellt sie beim Vergleich von Anderschs Manifest Deutsche Literatur in der Entscheidung mit der präziseren Ausdrucksweise seines Vorbilds Jean-Paul Sartre fest (S. 298 f.).
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Von Avantgarde spürt man hier beim Lesen wenig und von einem „Kahlschlag“, als welche diese Epoche in der Literaturgeschichte nicht selten bezeichnet wurde, schon gar nichts. Anderschs Text vermittelt ungezieltes Gefühlspathos, aber keine Information. Mit der Textauswahl seiner Anthologie hat Andersch jedoch der zeitgenössischen deutschen Leserschaft tatsächlich einen Dienst erwiesen, und man muss ihm auch zugutehalten, dass sein Stil im weiteren Verlauf seiner Karriere als Kulturredakteur und -vermittler zunehmend sachlich wurde. Den Willen zu einem Neubeginn und zur Teilhabe an einer „europäischen Avantgarde“ kann man Andersch und den Autoren, die sich in der Gruppe 47 versammeln, nicht in Abrede stellen. Die sprachlichen Mittel waren diesem Willen jedoch nicht gewachsen. Die deklamatorische Literatur der ersten Nachkriegsjahre war von den überkommenen Ausdrucksmitteln zu sehr durchsetzt, als dass sie den proklamierten Neubeginn wirklich hätte vollenden können. Das Pochen auf „Freiheit“ und auf die Notwendigkeit der „Entscheidung“, wie es in den beiden hier behandelten Aufsätzen Anderschs in Erscheinung trat, war viel zu unkonkret, als dass es in einem realen Sinn politisch sein konnte. Erst musste sich das politische Umfeld mit konkreten Sachfragen beschäftigen, die ein Für oder Gegen erforderten, bevor sich eine Literatur etablieren konnte, die der Nachkriegsgesellschaft gemäß war.³³ Mit der Gründung der Bundesrepublik werden die Grundbedingungen für eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Kultur und Politik geschaffen. In den frühen 50er Jahren werden auch konkrete Entscheidungen gefällt, wie etwa die zur Wiederbewaffnung. Dabei fällt in der Aufbauphase der Demokratie der literarischen Öffentlichkeit eine Vorreiteraufgabe zu.Wie Jörg Lau meint, agiert sie „in Stellvertretung einer nicht vorhandenen Öffentlichkeit“.³⁴ Diese Aufgabe wurde weiterhin von Alfred Andersch wahrgenommen. Als Kulturvermittler zwischen Deutschland und dem westlichen Ausland engagierte er sich insbesondere durch seine neue Literaturzeitschrift Texte und Zeichen und seine Arbeit im Kulturressort öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten. 1955 stellte Andersch den jungen Dichter und Essayisten Hans Magnus Enzensberger als Redaktionsassistenten beim Süddeutschen Rundfunk ein. Der kosmopolitisch eingestellte und zeitwillig in Italien und Norwegen wohnhafte Enzensberger sollte als Übersetzer und Publizist diese Vermittlungsfunktion in den sechziger Jahren weiterführen. Seine provokativen Beiträge insbesondere ab 1965 in seiner Zeitschrift Kursbuch S. dazu Fritz Raddatz,Wir werden weiterdichten, wenn alles in Scherben fällt… Der Beginn der deutschen Nachkriegsliteratur. Die Zeit, 12.10.1979. https://www.zeit.de/1979/42/wir-werden-weit erdichten-wenn-alles [abgerufen am 23. 8. 2020]. J. Lau, Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Berlin 1999, S. 40.
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trugen, wie sich nachträglich konstatieren lässt, trotz revolutionärer Rhetorik zur Befestigung der westdeutsche Zivilgesellschaft bei. Doch hier wird zunächst der Blick auf die Belletristik Alfred Anderschs gerichtet. Diese weist eine zunehmende Distanzierung von nationalen Bindungen auf. Als Erstes wird ein autobiographisch angelegtes Werk vorgestellt, mit dem es dem Autor gelang, demonstrativ in die politische Diskussion der jungen Bundesrepublik einzugreifen.
Fiktionen der Freiheit Als Anderschs erstes belletristisches Werk, der schmale autobiographische Band Kirschen der Freiheit im Jahre 1952 erschien, hatte das gesellschaftliche und politische Umfeld in der neuen Bundesrepublik bereits festere Züge bekommen. Die Erzählung liefert nach, was in den oben behandelten essayistischen Schriften recht vage blieb, nämlich wie Anderschs Schlüsselbegriff der ‚Entscheidung‛ konkret mit Inhalt zu füllen sei. Zwei ganz bestimmte Entscheidungen werden im Buch thematisiert: die ausgebliebene Entscheidung der KPD 1933, aktiv Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten, und, wichtiger noch, die im zweiten Teil ausführlich beschriebene Entscheidung des Autors, von seiner Truppe zu desertieren. Der Kontrast zwischen dem Versagen der kollektiven Bewegung 1933 und dem vom Individuum geradezu als Epiphanie erfahrenen Augenblick der Freiheit beim Verlassen der Truppe beleuchtet nicht nur Anderschs Annäherung an den Existenzialismus, sondern trifft auch eine bestimmte in den letzten Kriegsjahren verbreitete mentalitätsgeschichtliche Stimmung. Mit seiner ausführlichen Darstellung der Umstände der Desertion und der Argumente, die Andersch zu ihrer Rechtfertigung anführt, lieferte das Buch zudem einen unmittelbaren Beitrag zur Militarisierungsdebatte der frühen 50er Jahre. Da dieser Beitrag die Form eines autobiographischen Berichts nimmt, dessen Wahrheitsgehalt 1993 von W. G. Sebald in einem Aufmerksamkeit erregenden Aufsatz³⁵ in Frage gestellt wurde, sollen hier die Eckdaten von Andersch Leben kurz rekapituliert werden. Alfred Andersch stammte aus ärmlichen kleinbürgerlichen Verhältnissen in München. Der im Ersten Weltkrieg schwerverletzte Vater blieb seiner nationalistischen Ideologie bis an sein Lebensende treu und starb qualvoll an den Folgen seiner Verletzung, als Alfred 16 Jahre alt war. Nach dem Tod des Vaters wurde Alfred im Kommunistischen Jugendverband aktiv. Wie er in
W. G. Sebald, Between the devil and the deep blue see. Alfred Andersch Das Verschwinden in der Vorsehung. In: lettre International 20, 1993, S. 80 – 84. Nachgedruckt in: Sebald Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien 1999.
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Kirschen der Freiheit berichtet, brachte ihn diese Aktivität 1933 für eine kurze Zeit in das gerade eingerichtete KZ Dachau.³⁶ Danach wandte er sich von jeder politischen Tätigkeit ab und widmete sich der Literatur. Damit antwortete er nach eigenen Worten „auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.“³⁷ Die politische Abstinenz dauerte bis zum Krieg. 1935 heiratete er die Halbjüdin Angelika Albert, von der er sich 1942 wieder trennte. 1944 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wo er zusammen mit Hans Werner Richter den Ruf als Zeitschrift für die Kriegsgefangenen herausgab. Die Kirschen der Freiheit ist Anderschs erster Versuch einer ausführlichen modellhaften Identitätskonstruktion, vorgenommen am eigenen Lebenslauf. Die ersten Kapitel des kleinen Buches geben ein scharfkonturiertes Zeitbild vom Ende der Weimarer Republik. Andersch stellt sich nicht allzu heroisch ins Rampenlicht. Seine Darstellung der Aktivitäten im Untergrund und der Angst, die er beim letzten Verhör unter der Gestapo hatte, vermitteln nicht nur ein Abbild der Zeit, sondern sind auch psychologisch überzeugend.³⁸ Während das erste Kapitel des Buches das Ende der Weimarer Republik aus der Sicht eines jungen Kommunisten darstellt und der letzte Teil sich auf die Beleuchtung der Beweggründe und die philosophische Deutung der Desertion konzentriert, stellt das ganz ins Private gewendete vierte Kapitel auch im Rahmen des Buches eine „Auszeit“ dar. Zudem fällt in dieses Kapitel die große Lücke, die W. G. Sebalds polemische Demontage Anderschs auslösen wird. Mit keinem Wort wird Anderschs erste Ehe erwähnt. Die Ehe mit der Halbjüdin Angelika Albert, die Andersch erstmals in enge Berührung mit großbürgerlichen Kreisen brachte, scheiterte nach wenigen Jahren, und die Umstände ihrer Auflösung im Jahre 1942 waren wenig rühmlich. Zwar war bereits die spätere zweite Frau Anderschs, die Künstlerin Gisela Groneuer, im Spiel, aber das war nicht das allein Ausschlaggebende. Nach Auffassung seines Biographen Stephan Reinhardt drängte es Andersch, seine Schriftstellerkarriere in Gang zu setzen, und beim dafür erforderlichen Antrag um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer war ihm die halbjüdische Frau eine Belastung.³⁹ Anders als die Schwiegermutter, die in Theresienstadt umkam, überlebten zwar Angelika und das gemeinsame Kind den Krieg, aber das war angesichts der sich immer weiter verschärfenden Rassenpo-
Die Darstellung der Haft übernahm Stephan Reinhardt in seiner Biographie (Alfred Andersch. Eine Biographie Zürich 1990). Ernsthafte Zweifel an Anderschs Inhaftierung im KZ äußert Rolf Seubert in Alfred Andersch ‘revisited’, hg. von Jörg Döring, u. Markus Joch, Berlin 2011, S. 139. A. Andersch, Die Kirschen der Freiheit, Zürich 2006 [1952], S. 36. Das meinte auch Sebald, der sich allerdings über die sehr kursorische Darstellung der Verhältnisse in Dachau wundert (Sebald 1999, S. 130). St. Reinhardt, Alfred Andersch Eine Biographie, Zürich 1990. S. 84.
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litik der Nazis nicht mehr etwas, worauf man sich 1942 irgendwie hätte verlassen können.⁴⁰ Angesichts dieser Lücke ist es umso erstaunlicher, dass Anderschs Schwager [Fritz] Albert dann doch als Freund und als Opfer der NS-Rassenpolitik in Anderschs Buch erwähnt wird. Die verdrängte Episode der ersten Ehe ist vielleicht der vom Autor sehr schwammig ausgedrückte hohe „Preis“, mit dem er seine „Emigration aus der Geschichte“ bezahlt haben will.⁴¹ Sebalds Demontage von Andersch beruht hauptsächlich auf gewissen Instanzen von Opportunismus in dessen Privatleben. Dazu gehört nicht nur die Scheidung von Angelika, sondern, moralisch vielleicht noch belastender, dass er noch nach der Scheidung die Ehe mit einem „Mischling“ anführte, um sich bei den amerikanischen Lagerbehörden anzubiedern. Sebald, der die erschreckende Dokumentation im Archiv aufgetrieben hat, ist besonders empört über den Ausdruck, den Andersch dort benutzt. Seine Frau, sagte Andersch, sei „a mongrel of Jewish descent“.⁴² Das Wort ‚mongrel‛ wird ja vornehmlich für Hunde benutzt. Dass Andersch 1944 die Nuancen der englischen Sprache nicht beherrschte, kann man ihm wohl eher verzeihen, als dass er sich durch den Verweis auf seine inzwischen bereits aufgelöste Ehe Vorteile zu verschaffen versuchte. Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr Einzelheiten aus dem Leben Anderschs, insbesondere in den Kriegsjahren, ans Licht gebracht, die das früher angenommene Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in seiner Selbstdarstellung und seine moralische Integrität in Frage stellen. Diese sind vor allem im Sammelband von Jörg Döring und Markus Joch Alfred Andersch ‘revisited’ versammelt.⁴³ Diese nachträglichen Erkenntnisse sind von großem philologischen Interesse, können aber nichts an der Stellung, die Andersch im Kulturbetrieb der ersten Nachkriegsjahrzehnte hatte, und an der Art und Weise wie Andersch damals in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, ändern. Sie können jedoch gewisse Diskrepanzen im Werk erhellen, die seinen Aufbruch in eine weltoffene Demokratie, wie bei vielen seiner Zeitgenossen, manchmal halbherzig und provinziell erscheinen lassen. Was Anderschs Erzählung seinerzeit zu einem „zeitgeschichtlichen Ereignis“⁴⁴ machte, war die offene Behandlung der Desertion. Auch hier gibt sich
Vgl. dazu Sebald 1999, 133. Kirschen der Freiheit, S 35. W. G. Sebald, Luftkrieg, 137. Auch Sebalds Schreiben ist nicht immer nach heutigem Maßstab ‚politisch korrekt’. So spricht er zum Beispiel in Schwindel, Gefühle an einer Stelle von „einer sehr schwarzen, […] Negerfrau …“ (Sebald 2001, S. 283). S. Anm. 36. Marcel Reich-Ranicki in seinem Nachruf auf Andersch (abgedruckt in Über Alfred Andersch, hg. von Gerd Haffmans, Zürich 1980), S. 273.
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Andersch nicht übermäßig heroisch, sondern gibt offen zu, dass die Flucht nicht allzu gefährlich war und dass er eben keine Lust auf einen Heldentod verspürte. Wie sich herausstellte, kapitulierte seine Einheit wenig später ohnehin. Doch im Vorfeld der Wiederbewaffnung war dies ein höchst brisantes Thema, und das Buch löste eine Kontroverse aus, bei der deutlich wurde, wie tief der Militarismus in vielen deutschen Köpfen saß.⁴⁵ Die Erkenntnis, dass die Gegner seiner Kameraden (implizit auch die Gegner des Führers) nicht seine Gegner waren,⁴⁶ ist ein erster gedanklicher Schritt aus der bedingungslosen Einbindung im national definierten Kollektiv. Dass der Feind der Nation nicht automatisch der Feind aller Angehörigen jener Nation sei, war bis 1952 den meisten Deutschen nach der Befreiung wohl in der Praxis klar geworden, aber mit der Artikulation dieses Gedankens und mit den Konsequenzen in Bezug auf die moralische Verantwortung, die jeder für sich zu tragen hat, taten sich viele Leser und Rezensenten noch schwer – genauso schwer wie mit dem Begriff der Befreiung selbst. Andererseits ist der Gedanke, dass der Soldat keinen persönlichen Groll gegen denjenigen hat, auf den er schießen soll, keineswegs mit der sogenannten traditionellen Soldatenehre unvereinbar. Im Gegenteil, Respekt vor dem Gegner gehörte (theoretisch) schon immer zum Verhaltenskodex der Kriegsführung, auch wenn die Kriegspropaganda selten davon Notiz nahm. Die vollzogene Desertion ist jedoch eine andere Sache. Sie impliziert den Bruch mit dem unmittelbaren Kollektiv, dem man zugeteilt ist. Zum Grundverständnis jeder Armee gehört Gehorsam. Das Einverständnis mit dem jeweiligen Kriegsziel wird nicht vorausgesetzt. Das galt für die Alliierten genau wie für die Reichswehr, und es galt im Koreakrieg zu Beginn der 50er Jahre genau wie im Zweiten Weltkrieg. Die Desertion stellt dieses Grundverständnis in Frage, hebt quasi das Individuum über das Kollektiv und unterminiert damit den Grundsatz des bedingungslosen Gehorsams und der Loyalität. Darin liegt der Kern der Kontroverse um Anderschs Buch. Der im Text aufgeworfene Zweifel an der Verbindlichkeit eines unter Gewaltandrohung erpressten Treue-Eides hat nicht alle überzeugt, denn er unterwanderte die Unschuldsbekundungen der Mehrheit der zum Kriegsdienst verpflichteten Männer, indem er das Rechtfertigungsargument, nur ihre Pflicht getan zu haben, zunichtemachte. Für noch größere Verärgerung sorgten einige geringschätzige Äußerungen über die Kameradschaft, die völlig aus dem Rahmen konventioneller Kriegsliteratur fielen. Denn die Erinnerung an die Kameradschaft war das einzig Positive, das die meisten heimkehrenden Soldaten aus ihrer Beteiligung an Hitlers Krieg
Eine Auswahl aus den Reaktionen brachten die Frankfurter Hefte 8 (9) 1953, S. 709 – 715. A. Andersch, Kirschen der Freiheit, S. 48 f.
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noch mit nachhause nehmen konnten. Der gute gemeinschaftliche Kern, der trotz des Einsatzes in einer schlechten Sache bestehen blieb, wurde zum Topos der konservativen Nachkriegsliteratur, der in der gehobenen Literatur von Peter Bamm ebenso aufscheint wie in den Unterhaltungsromanen von Hans Hellmut Kirst. Gegen diesen Topos und den ihm zugrundeliegenden Mythos verstieß Andersch mit seinem Buch. Besonderen Anstoß erregte die oft zitierte Stelle „Sie hingen mir meterlang zum Hals heraus, die sogenannten Kameraden. Sie kotzten mich regelrecht an. Das Schlimmste an ihnen war, daß sie immer da waren.“⁴⁷ Was Andersch hier in Wirklichkeit anprangert, sind weniger die Kameraden selbst, als vielmehr der ideologisch überhöhte Kameradschaftsmythos, der noch nach dem Krieg den öffentlichen Diskurs stark prägte. Über die eigenen Kameraden hat Andersch wenige Seiten später immerhin auch Freundliches zu sagen.⁴⁸ In der aktuellen Situation der frühen 50er Jahre in Deutschland nahm die Loyalitätsfrage im Zusammenhang der geplanten Wiederbewaffnung besonders schizophrene Züge an. Vorgesehen war die Aufrüstung zu einem möglichen Krieg an der Seite der ehemaligen Feinde, wobei als erste potentielle Gegner die ebenfalls aufzurüstenden Deutschen der Ostzone herhalten sollten. Hier wurden nun zu Beginn der 50er Jahre in der frisch gegründeten Republik politische Entscheidungen getroffen, deren mögliche Konsequenzen völlig unvorhersehbar waren. Marcel Reich-Ranicki mag auch mit seiner Einschätzung recht gehabt haben, wenn er meinte, dass die Veröffentlichung des kleinen Buches Andersch vielleicht mehr Mut abverlangt haben mochte als die Desertion selbst.⁴⁹ Auf das Thema der Desertion ist Andersch zwanzig Jahre später in seinem letzten Roman Winterspelt noch einmal zurückgekommen. In diesem Roman, der kurz vor Ende des Krieges spielt, geht es um die geplante Übergabe einer ganzen Einheit an die im Westen vorstoßenden Amerikaner. In der veränderten Situation der frühen 70er Jahre hat das fast schon als historischer Roman einzustufende Werk die Gemüter nicht mehr erregt. Der „Entscheidung zur Freiheit“, die Andersch in den Kirschen der Freiheit thematisiert, war in seinem realen Leben eine frühere versäumte Entscheidung vorausgegangen. 1936 bei einer Reise mit seiner ersten Frau in die Schweiz ließ er die Gelegenheit, sich ins Ausland abzusetzen, verstreichen, obwohl das junge Paar allen Grund dazu gehabt hätte. Die kosmopolitische Haltung, die Schriftstellern wie Joseph Roth, den Manns oder Hilde Spiel vor dem Zweiten Weltkrieg Grenzüberschreitungen selbstverständlich machten und daher einen Umzug ins A. Andersch, Kirschen der Freiheit, S. 48. A. Andersch, Kirschen der Freiheit, S. 53. Marcel Reich-Ranicki in seinem Nachruf auf Andersch (abgedruckt in Über Alfred Andersch, hg. von Gerd Haffmans, Zürich 1980), S. 273.
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Ausland grundsätzlich möglich erscheinen ließen, war im kleinbürgerlichen Milieu, dem Alfred Andersch entstammte, noch fast undenkbar. Das Versäumnis hat Andersch immer wieder beschäftigt. Vielleicht war sogar Anderschs späterer Umzug ins Tessin zum Teil dadurch motiviert, dass hier Versäumtes nachgeholt werden konnte. Darüber zu spekulieren hat jedoch wenig Sinn. Eindeutig ist aber, dass in seinem Werk bewusst alternative Lebensläufe modellhaft durchdacht werden. Bekanntlich sind neben den bereits erwähnten Kirschen der Freiheit mehrere Kurzgeschichten, vom Frühwerk bis zum erst 1980 vollendeten Vater eines Mörders, trotz der Umbenennung der jeweiligen Hauptfigur, nachweislich autobiographisch geprägt. Aber auch in den eindeutig fiktional konstruierten Romanen wie Sansibar oder der letzte Grund oder dem Spätwerk Winterspelt entdeckt man unschwer autobiographische Motive und Konstellationen, die einen Bezug zu der bereits in Kirschen der Freiheit gestellte Grundfrage nach der Fähigkeit, existentielle Entscheidungen zu treffen, aufweisen.
Sansibar oder der letzte Grund Der kleine Roman Sansibar oder der letzte Grund handelt von der Flucht einer Jüdin aus dem Dritten Reich. Die Schülerin Judith findet einen Fischer, der sie nach Schweden übersetzt. Außer Judith wird noch ein Kunstwerk, bei dem man wohl an Barlachs Schwebenden Engel denken darf, in Sicherheit gebracht. Bei diesem Roman handelt es sich um einen exemplarischen Fall der „Vergangenheitsbewältigung“ nach Art der 50er Jahre. Es gibt auf der einen Seite ganz normale Menschen, und auf der anderen gibt es Nazis als Spezies für sich. Die Hauptfiguren sind ordentliche Menschen, Kommunisten, Christen, eine Jüdin (allerdings aus gutem Hause und etwas verwöhnt). Auf die Hintergründe und darauf, was die Flucht und Begegnung mit dem anderen Land bedeutet hätten, geht der Roman kaum ein. Als leicht zugänglicher Roman mit moralisch vorbildlicher Handlung wurde Sansibar oder der letzte Grund bald Schullektüre. Wurde bereits bei den Überlegungen zu Anderschs Aufsätzen der 40er Jahre festgestellt, dass Anklänge an die Sprache des Dritten Reichs dieses überdauerten und auf die Rhetorik des demokratischen Gegners, dem man Andersch wohl zuzählen dürfte, abfärbten, so scheint es sich mit dem antisemitischen Habitus in Deutschland ähnlich zu verhalten, und das Werk von Andersch ist auch davon nicht frei. Selbst in einem so unverfänglichen Werk wie Sansibar oder der letzte Grund ist die Darstellung der Hauptfigur Judith von Klischees belastet. Der Kommunist Gregor, der die Rettungsaktion leiten wird, erkennt die fremde Judith sofort an ihren Gesichtszügen: „[…] es war eines jener jungen jüdischen Gesichter wie er sie im Jugendverband in Berlin, in Moskau oft gesehen hatte. Dieses hier
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war ein besonders schönes Exemplar eines solchen Gesichts.“⁵⁰ Sebald, der diese Textstelle in seiner bereits erwähnten Polemik zitiert, setzt nach dem Wort „Exemplar“ zurecht zwei Ausrufezeichen in Klammern. Aus der Beschreibung Judiths im Roman führt Sebald noch weitere Beispiele an, die dieselbe Tendenz aufweisen.⁵¹ Die Wendung „schönes Exemplar“ ist besonders peinlich, weil sie eindeutig dehumanisierend wirkt. Was Sebald in diesem Zusammenhang nicht anführt, obwohl er die Quelle nachweislich gekannt hat, ist die intertextuelle Resonanz dieses Ausdrucks.⁵² Ganz ähnlich heißt es in Joseph Conrads Heart of Darkness an einer berühmten Stelle vom Heizer des Flussdampfers, auf dem der Erzähler, der Schiffskapitän Marlow den Congo-Fluss herauffährt, er sei „[…] an improved specimen“.⁵³ Nun folgt der Ausdruck bei Conrad unmittelbar auf Marlows Schilderung der Angst vor den tanzenden Eingeborenen am Ufer und seiner Überlegung, ob diese wirklich der Menschheit zuzurechnen seien oder nicht. Bei Conrad geht es um Rassismus in Reinform.⁵⁴ Da es aber kaum in Anderschs Absicht gelegen sein kann, seinen Helden Gregor als Antisemiten darzustellen, scheint es mir plausibler, dass hier unreflektierte Sprach- und Denkgewohnheiten in den Text eingeschlichen sind. Gegen den Roman Sansibar oder der letzte Grund erhebt Ruth Angress [=Klüger] wiederum einen anderen Vorwurf, der mit Anderschs Lebenslauf nichts zu tun hat und der einen weiter verbreiteten Zug der deutschen Erzählliteratur der 50er Jahre trifft. Es geht um das Ausbleiben einer wirklichen Auseinandersetzung mit der Frage der deutschen Schuld. Wenn einmal Juden gerettet werden, dann diene dies, so Angress, der Bereinigung des deutschen Gewissens. Die Nazis seien in Anderschs Roman immer die „Anderen“.⁵⁵ Die Nazi-Diktatur erscheine somit wie eine Naturgewalt, die auf Deutschland unvorbereitet eingebrochen sei und keinen strukturellen Bezug zur deutschen Gesellschaft habe. Dass dieses nicht der Fall war, habe nach Angress erst Günter Grass mit seiner Blechtrommel aufgezeigt, doch auch er habe sich bei der Porträtierung des Spielzeughändlers, der einzigen
A. Andersch, Sansibar oder Der letzte Grund, Zürich 1970, S. 55. W. G. Sebald, Luftkrieg, S. 146. Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit Conrad und Heart of Darkness in Sebalds Bericht, Ringe des Saturn. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Harmondsworth 1994, S. 52. So wurde der Ausdruck, den Conrad seinem Erzähler in den Mund legt, vom nigerianischen Autor Chinua Achebe gelesen. S. Ch. Achebe, Home and Exile, New York 2000. S. 46 f. R. Angress, Gibt es ein „Judenproblem in der deutschen Literatur? In: Neue Sammlung, 26, H1, 1986, S. 22– 39. Hier S. 26.
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wichtigen jüdischen Figur im Roman, reichlich trivialer jüdischer Stereotypen bedient.⁵⁶ Auch der folgende Roman von Andersch, Die Rote, ist nicht frei von antisemitischen Stereotypen. Der Roman spielt in Venedig, das der auch als Reisebuchautor bekannte Andersch genussvoll schildert. Die „Rote“ des Titels ist eine rothaarige Fremdsprachensekretärin, die mit bestechender Selbstverständlichkeit ihr Heimatland wechselt, um sich von einer im Ruhrgebiet zurückgelassenen komplizierten Dreiecksbeziehung in Industriellenkreisen zu befreien. Anders als Judith in Sansibar ist Franziska kein Flüchtling im eigentlichen Sinne, und auch keine Kosmopolitin in der Tradition der Vorkriegszeit, sondern eher ein frühes Beispiel einer Nachkriegseuropäerin, die die Möglichkeiten der neuen Durchlässigkeit der Grenzen im beginnenden europäischen Integrationsprozess wahrnimmt. Anstoßerregend in diesem episodenhaften Roman ist eine Szene bei einem jüdischen Juwelier, dem Franziska, die Protagonistin, ihren Ring verpfänden will. Der eigentliche Bösewicht in der Szene ist ein früherer Gestapo-Mann, der sich in das Geschäft einmischt, doch bleibt die Szene mit ihren unüberhörbaren Anklängen an das Stereotyp des Kaufmanns von Venedig eine Peinlichkeit, die zu Recht von der Kritik moniert wurde.
Efraim Eine unbefangene Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus findet erst im Roman Efraim statt. Dort versucht Andersch mit der Wahl eines jüdischen Emigranten als Protagonisten und Ich-Erzähler, die noch zwei Jahrzehnte nach dem Krieg im Umgang seiner Landsleute mit Juden auftretende Ignoranz und Unempfindlichkeit aufmerksam darzustellen. Georg Efraim ist jüdischer Emigrant, der in England Journalist geworden ist und zum Zeitpunkt der Haupthandlung in Rom wohnt. Mit der Zeitungsarbeit möchte er aufhören und einen autobiographischen Roman schreiben. Als Emigrant ist er eher zufällig zum Kosmopoliten geworden, doch scheint er sich in dieser Rolle wohl zu fühlen. Die Handlung ist relativ dünn. Der Text, den wir zu lesen bekommen, ist nicht die Autobiographie selbst, sondern besteht aus Aufzeichnungen aus der Zeit des beginnenden Schreibprozesses. Als letzten Auftrag für seine Zeitung wird Efraim nach Berlin geschickt, um die dortigen Reaktionen Ebd., S. 31 f. Angress, heute unter ihrem Mädchennamen Klüger bekannt, legt die Darstellung dieser Figur bei Grass auch möglichst negativ aus. Wo ein unvoreingenommener Leser vielleicht echte Sympathie des Spielzeughändlers für Oskar und seine Mutter sehen könnte,vermutet sie bei Grass die Unterstellung einer rein sexuellen Intention.
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auf die Kuba-Krise zu ermitteln. Es ist sein erster Besuch in seiner Heimatstadt seit er als Kind in Sicherheit zu seinem Onkel nach London geschickt wurde. Die zurückgebliebenen Eltern sind der Shoah zum Opfer gefallen. In Berlin besucht er sein Kindheitszuhause, versucht ein Verhältnis zu einer jungen Kommunistin anzufangen und sucht im Auftrag seines Chefs nach Spuren dessen im Weltkrieg verschollener, halbjüdischer Tochter. Das alles tritt mehr oder weniger zurück zugunsten der reflexiven Identitätsarbeit, die geleistet werden muss, um eine kohärente Autobiographie schreiben zu können. Von der politischen Integration Europas ist im Buch mit keinem Wort die Rede. Was aber immer wieder spürbar wird, ist die Schicksalsgemeinschaft Europa. Das geht vor allem aus den Gesprächen hervor, die der britische Journalist Efraim, sei es in London, Rom oder Berlin, führt. Der Besuch in Berlin zur Zeit der Kuba-Krise macht die gemeinsame Ohnmacht der europäischen Bevölkerung im Spiel der Großmächte besonders deutlich. Die Schicksalsgemeinschaft ist jedoch auch, und vor allem, eine Schuldgemeinschaft, wobei die historische Katastrophe des Faschismus nicht nur das moralische Versagen einer Nation bedeutet, sondern sich in unzähligen Einzelfällen als biographische Katastrophe wiederholt, wobei die Gelegenheit, moralisch zu versagen, ohne Rücksicht auf Nationalität verteilt war. In Efraim ist es der englische Chefredakteur, der versagte, als er es wissentlich unterließ, seine uneheliche halbjüdische Tochter vor dem Krieg aus Deutschland fort zu holen. Die Wahl eines jüdischen Emigranten als Protagonisten stellt hohe Ansprüche an den Autor, wenn die Gestalt glaubwürdig sein soll. Mit Efraim als ErzählerIch wird der ganze Text als Denkprozess der Hauptfigur präsentiert und zwar eben nicht als unmittelbarer Bewusstseinsstrom, sondern als Reflexionsprozess eines an seiner Autobiographie arbeitenden Menschen. Mit der Wahl eines bewusst individualisierten und nicht mit dem Autor gleichzusetzenden Erzählers schließt Efraim an eine seit Grass’ Blechtrommel gepflegte Konvention des zeitkritischen deutschsprachigen Romans an, die nach Matthias Uecker „im isolierten, ausgegrenzten und sich selbst ausgrenzenden Außenseiter eine bevorzugte Beobachterposition gegenüber der deutschen Gesellschaft konstruiert hatte.“⁵⁷ Doch anders als Grass’ Oskar Matzerath, Bölls Hans Schnier oder Frischs Gantenbein stellt Efraim keine einmalig konzipierte Extravaganz dar, sondern er vertritt als rückkehrender Emigrant eine durchaus nicht ungewöhnliche Situation auf realistische Weise.
M. Uecker, „Das Verhältnis dieser Leute zu uns hat ja auch wirklich etwas Obszönes angenommen“. Juden und Deutsche in Alfred Anderschs Roman Efraim. In: Jews in German Literature since 1945, hg. von P. Ó Dochartaigh, Amsterdam, Atlanta 2000. S.491– 505. Hier S. 497.
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In Anderschs Roman, der eindeutig im Paradigma eines modernen, reflexiven Realismus bleiben will, geht es um die Erfindung eines alternativen Lebenslaufs von innen her. Der Test seines Gelingens ist, ob der Text als eigener Ausdruck der fiktiven Erzählerfigur plausibel bleibt. Bei der Darstellung der Eindrücke, die Deutschland auf den Protagonisten macht, gilt es, die Mischung von Neuheit und Vertrautheit einzufangen, die ein quasi-Zeitreisender nach dreißig Jahren Abwesenheit hätte empfinden können. Dazu gehört nicht zuletzt die Konfrontation mit einer veränderten Sprache. Durch Efraim zeigt Andersch ein Gespür für Empfindlichkeiten sprachlichen Umgangs, das sein früheres Werk nicht selten vermissen ließ. In den Jahrzehnten, in denen Efraim nicht mehr im deutschen Sprachraum gewesen ist, hat sich die Sprache entwickelt. Immer wieder kommentiert der Ich-Erzähler meist saloppe Ausdrücke, die er auf seiner ersten Reise in das Deutschland der Nachkriegszeit aufgeschnappt hat. Einen Höhepunkt der Handlung bildet ein Fest, auf dem Efraim einem ahnungslosen Gast einen Kinnhaken versetzt, nachdem dieser bezüglich seiner Ausdauer beim Feiern den Ausdruck „Bis zur Vergasung“ gebraucht.⁵⁸ Neben solcher Taktlosigkeit bei den deutschen Zeitgenossen bekommt Efraim auch die große Verlegenheit zu spüren, die Begegnungen mit Juden im Berlin der Nachkriegszeit verursachen konnte. Geschickt aufgebaut ist die Szene, in der Efraim sein Elternhaus in Wannsee aufsucht, das – im Gegensatz zu den Eltern selbst – vom Krieg verschont geblieben ist. Die Professorengattin, die ihn ins Haus, das jetzt ihre Wohnung ist, hereinlässt, ist zuvorkommend und defensiv zugleich. Sie fühlt sich quasi verpflichtet, sich persönlich für den Holocaust zu entschuldigen und ist fast beleidigt, als ihr Efraim mit einer nonchalanten Bemerkung ins Wort fällt. Efraim versucht der Frau klar zu machen, dass schon mal andere aus ihren Häusern vertrieben wurden und dass alles im Leben letztendlich Zufall sei. Darauf will die Hausbewohnerin nun gar nicht eingehen, da sie sich der kollektiven Schuld sehr bewusst ist. Was diese fiktive Figur irritiert, das scheinbar nonchalante Auftreten Efraims, hat auch in der Rezeption negative Gefühle ausgelöst. Ruth Angress sieht auch diesen Roman als Beleg für das „Judenproblem“ der deutschen Nachkriegsliteratur. Hatte sie in Sansibar die Abwesenheit von Nazis, bzw. die fehlende Auseinandersetzung mit der kollektiven Verantwortung der Deutschen für den Holocaust bemängelt, so setzt ihre Kritik von Efraim gerade an der Stelle an, wo ein solches Bewusstsein eindeutig zutage tritt. Angress bezichtigt den Autor desselben Relativismus, den er seiner Figur in den Mund legt. Was sie dem Roman, bzw. seinem Erzähler eigentlich vorwirft, ist Efraims Mangel
A. Andersch, Efraim, München 1970, S. 125.
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an Ressentiment.⁵⁹ Dabei scheint sie die psychologische Plausibilität von Efraims Verhalten zu übersehen. Efraims Zufallsphilosophie bietet ihm den Schutz, den er braucht, um mit dem Verlust der Eltern, der Heimat und schließlich auch mit neueren Rückschlägen im Leben fertig zu werden. Interessant im Zusammenhang mit Angress’ Kritik ist der Kontrast zu Jean Amérys überaus positiver Reaktion auf den Roman. Denn gerade Améry hatte in einem Kapitel von Jenseits von Schuld und Sühne – das Buch erschien 1966, ein Jahr vor Efraim – die Ressentiments eines Holocaust-Überlebenden einer deutschsprachigen Leserschaft näherzubringen versucht. Amérys Einstieg in das Kapitel „Ressentiments“ hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Eindrücken, die sich Efraim während seines Wiedersehens mit Deutschland und den Deutschen aufdrängen. Es sind Eindrücke, die mit den gemachten Erfahrungen von Antisemitismus und dem Wissen von den Todeslagern schwer zu vereinbaren sind. Neben der Sauberkeit des wiederaufgebauten Landes und der Auswahl von hochwertigen Produkten, die das Wirtschaftswunder den Konsumenten beschert hat, kommentiert Améry die Höflichkeit und scheinbare Aufgeschlossenheit seiner deutschen Gesprächspartner: Dann und wann habe ich mit Intellektuellen zu tun: Man kann sie sich nicht wohlerzogener, bescheidener, toleranter wünschen. Auch nicht moderner, und es wird mir jedesmal ganz traumhaft zu Sinne, denke ich daran, wie viele von ihnen, die meiner eigenen Generation angehören, noch gestern auf Blunck und Griese schwuren, denn in den Gesprächen über Adorno oder Saul Bellow oder Nathalie Sarraute ist keine Spur davon zu entdecken.⁶⁰
Das Ressentiment, das Améry anschließend beschreibt, lässt sich in einem fiktionalen Werk gar nicht erst darstellen. Das hat Améry offenbar von Andersch auch nicht erwartet.⁶¹ Dass Efraim das Berlin, in dem er sich bewegt, ganz im Sinne Amérys als unwirklich empfindet, und dass er auch keinen Bezug dazu findet, lässt sich dennoch sehr wohl spüren. Darum ist es wahrscheinlich mehr als nur höfliche Schmeichelei, wenn Améry in einem Brief an Andersch Efraim von Frischs zeitgleichem Mein Name sei Gantenbein und Martin Walsers Ehen in Philippsburg positiv abhebt: „Herr Gantenbein ist nur ein Schatten, Kristlein ist eine Konstruktion, Efraim ist ein Mensch.“⁶² Das mag zwar eine konservativ-mi-
R. Angress, Gibt es ein „Judenproblem…“, (wie Anm. 54), S.28 ff. J. Améry, Werke 2, S. 118 f. Die Schärfe von Ruth Angress’ [Klügers] Kritik dürfte zum Teil in ihrer eigenen Biographie begründet sein. Wie Améry ist sie KZ-Überlebende. Andersch hat seinem Efraim wohlweislich keine KZ-Erfahrung angedichtet. J. Améry, Werke 8, S. 254.
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metische Erwartungshaltung reflektieren, trifft jedoch wohl die Intention des Verfassers, der in Efraim gerade einen glaubwürdigen Menschen darstellen wollte. Das wiederum gefiel Marcel Reich-Ranicki nicht, der diesem wegen der Schwächen, die Andersch seinem Protagonisten insbesondere im sexuellen Bereich zuschreibt, „unnötigen Voyeurismus“ vorwarf und überhaupt meinte, dass sich der Autor mit dem Versuch seinen Protagonisten zu „judaisieren“ übernommen habe.⁶³ Dabei versuchte Andersch möglichen Fallen aus dem Weg zu gehen. So denkt Efraim auffallend wenig über seine Kindheit nach, was für einen, der eine Autobiographie zu schreiben beginnt, eigentlich naheliegend wäre. Diese Leerstelle zu füllen, wäre dem Autor kaum überzeugend gelungen, da Efraims Kindheitsmilieu so ganz anders war als sein eigenes und Anderschs Kenntnis des jüdisch-bürgerlichen Milieus sich auf die kurze Erfahrung mit der Familie seiner ersten Frau beschränkte. In die intellektuelle Auseinandersetzung Efraims mit der Entwurzelung im Europa des Kalten Krieges konnte sich Andersch deutlich eher einfühlen. Wie Améry ist der fiktive Journalist Efraim Kosmopolit wider Willen. Wenn bei ihm, abgesehen von seinem peinlichen Gewaltausbruch auf dem Fest in Berlin, wenig Ressentiment zutage tritt, so überwiegt doch die Resignation. Die Frage nach einer in Frage kommenden nationalen Zugehörigkeit wird an verschiedenen Stellen im Roman erörtert. Drei Länder kämen in Frage: Deutschland, England und für Efraim als Juden grundsätzlich auch Israel. Es ist völlig klar, dass eine Reintegration in die bundesdeutsche oder Westberliner Gesellschaft für Efraim ausgeschlossen ist. Dass er naturalisierter Engländer ist und als Journalist seinen Beitrag zum kollektiven Diskurs des Landes leistet, macht ihn noch nicht zum Engländer. Das verraten geschickte Andeutungen – etwa wenn sein Chef beim Telefonieren gleichzeitig das Kreuzworträtsel der Times löst und Efraim damit zu verstehen gibt, dass er wegen der fehlenden englischen Sozialisierung niemals in der Lage sein werde, solche Rätsel zu lösen. Es bleibt noch die Frage, ob Israel eine mögliche Heimat für Efraim sein könnte. Efraims Selbstverständnis als Jude – hierin wieder dem Lebenslauf Jean Amérys nachempfunden – ist ein Produkt der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Erst nachdem Efraim als Jude aus Deutschland auswandern musste, hat er sich überhaupt ganz bewusst als Jude empfunden.
M. Reich-Ranicki, Sentimentalität und Gewissensbisse. Alfred Anderschs neuer Roman Efraim. Die Zeit 3.11.1967, https://www.zeit.de/1967/44/sentimentalitaet-und-gewissensbisse [abgerufen am 22. 8. 2020]
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Efraims Verhältnis zum Judentum sowie die Frage, ob die Auswanderung nach Israel eine mögliche Option für ihn sein könnte, sind Gegenstand einer gründlichen und aufschlussreichen Reflexion in der Mitte des Romans: Israel übrigens kommt für mich überhaupt nicht in Frage; ich gedenke nicht, mich in dieses Super-Ghetto einsperren zu lassen, das wir uns da freiwillig einrichten. Wir schreibe ich, ohne recht zu wissen, ob ich einer von uns bin, weil ich mich in meiner Rolle als geborener Deutscher, naturalisierter Engländer und Angehöriger einer Minderheit eigentlich ganz wohl fühle, während ich mir, plötzlich aus einem Juden in einen Israeli verwandelt und womöglich zu nationalem Denken und Fühlen verpflichtet, eher komisch vorkäme.⁶⁴
Zwischen den Zeilen entdeckt man ein grundsätzliches Misstrauen gegen das Prinzip der Nationalität überhaupt, das der Autor Andersch mit seiner Figur geteilt haben dürfte. Es ist im geteilten Deutschland und in der geteilten Hauptstadt Berlin auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges leicht nachvollziehbar. Darum ist es auch kein großer Widerspruch, wenn Efraim sich zwar nicht als Israeli vorstellen kann, aber nicht ausschließt, dass er bereit sein könnte, für Israel in einer guten Sache zu kämpfen,⁶⁵ genau wie er für England in einer guten Sache gekämpft hat. In diesen Überlegungen leuchtet ein Funke des existentialistischen Enthusiasmus auf, der den Deserteur beim Kosten der ersten „Kirschen der Freiheit“ bewegte. Das Kämpfen für eine gute Sache und die Desertion aus dem Kampf in einer schlechten Sache sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Verantwortung trägt kein anderer als das Individuum selbst. Bei seinen Überlegungen zu Heimat und Zugehörigkeit dürfte Efraim stellvertretend für seinen Autor zum Zeitpunkt des Schreibens sprechen. In einem Brief an Jean Améry lobt Andersch dessen Überlegungen zur Heimat in Jenseits von Schuld und Sühne ⁶⁶ und gesteht ein, dass er selber zu einer solchen Analyse nicht in der Lage wäre: Bei Ihren Meditationen über die Heimat und das Jude-sein hat man das Gefühl, dass Sie an Dinge klopfen, mit denen Sie noch nicht fertig sind. Gerade das macht dieses Kapitel natürlich besonders wertvoll. […] Mein eigenes Heimatgefühl ist, vielleicht leider!, so wenig ausgebildet, dass ich Ihren Erwägungen kaum zu folgen vermag. […] Ich bewundere bei den modernen italienischen Schriftstellern, auch bei Faulkner oder Hamsun, den berühmten Regionalismus, sehe aber, dass die Mehrheit der heutigen Intellektuellen, gleich mir, heute strukturell heimatlos ist.⁶⁷
A. Andersch, Efraim, S. 160. Ebd. J. Améry, Wieviel Heimat braucht der Mensch? In Jenseits von Schuld und Sühne Werke Bd. 2, S. 86 – 117. A. Andersch an J. Améry datiert 24.7.1967. DLA Marbach.
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Die historische Zäsur des Zweiten Weltkriegs war der Ausformung eines unproblematischen Heimatgefühls in der westdeutschen Nachkriegsliteratur hinderlich. Gewiss gibt es Autoren, wie Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Martin Walser, bei denen der regionale Bezug eine Konstante im ganzen Werk bleibt. Für Andersch gab es einen solchen Bezugspunkt nicht mehr, und sein Rückzug ins Tessin, in die Nachbarschaft von Max Frisch, in letzten Jahren seines Lebens mag als Art verspätete Emigration oder einfach als Wahl einer politisch unbelasteten aber literarisch vertrauten Gegend bewertet werden.
Exkurs: Reisebilder im Kontext beginnender Integration In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Frage, ob die europäischen Nachbarländer in irgendeinem Sinne zur erweiterten „Heimat“ gezählt werden können, eine besondere Dringlichkeit – insbesondere für Autoren deutscher Sprache. Politisch war mit dem Ausgang des Krieges das Zeitalter der souveränen europäischen Nationen vorbei. Emotional dauert die Gewöhnung an ein postnationales Zeitalter heute noch an. Die Bereitschaft in postnationalen Kategorien zu denken, war gleich nach dem Krieg unterschiedlich stark. Dass eine solche Bereitschaft im besiegten Deutschland relativ früh aufkommen konnte, war zu erwarten. Das lag an den katastrophalen Folgen der auf die deutsche Nation fixierten Politik der vorangegangenen Epoche und an der Teilung des Landes. Mit dem „seltsamen Gebilde, das sich Deutschland nennt, ohne es zu sein“ (Friedrich Sieburg)⁶⁸ – gemeint war das Territorium der alten Bundesrepublik – konnte man sich in den ersten Jahrzehnten nicht unbedingt identifizieren. Darauf waren zwei Reaktionen möglich, die stärkere Besinnung auf die regionale Herkunft, oder auch der Blick auf den größeren europäischen Zusammenhang, wobei der eine Schwerpunkt den anderen nicht ausschloss. Vor diesem Hintergrund nahm das Interesse des deutschen Lesepublikums für das europäische Ausland stark zu. Reisebeschreibungen haben in der modernen Welt eine andere Funktion als in früheren Zeiten, wo sie den Lesern als Ersatz für eigenes, aus praktischen Gründen nicht in Frage kommendes Reisen dienten. Je bequemer, einfacher und billiger das Reisen geworden ist, desto weniger exotisch ist es. Die literarische Reisebeschreibung verliert damit sowohl ihre kompensatorische als auch ihre informative Funktion. Letztere wird von einer neuen Gattung des Sachbuchs, dem eigentlichen Reiseführer im Stil des Baedekers übernommen, deren Sinn es ist,
F. Sieburg, Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954.
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reale Reisende zu begleiten und ihnen eine Stütze zu bieten. Um nicht ganz überflüssig zu werden, musste der literarische Reisebericht eine andere Funktion übernehmen. Dazu meint Herbert Jost: Eine Reise allein ist nicht mehr genug, um Aufmerksamkeit zu erregen in einer Epoche, in der fast jeder reist. Demzufolge wird das literarische Motiv der Reise in letzter Zeit gern genutzt um die Bewegung durch die Außenwelt mit einer Bewegung durch die Innenwelt zu verbinden…⁶⁹
Das dürfte allgemein zutreffen, doch könnte man dann fragen, was die Innenwelt des Reisenden für den Leser jeweils interessant macht. Für die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg muss im Falle Deutschlands von einer besonderen Situation ausgegangen werden. Die Innenwelt des Reisenden wird insofern für den zeitgenössischen Leser wichtig, als in ihr infolge des zurückliegenden Krieges eine besondere Befangenheit mitspielt. Zur Innenwelt des real reisenden Autors wie des potentiell reisenden Lesers gehört unvermeidlich die Frage der angemessenen Einstellung gegenüber den bereisten Ländern angesichts der Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit. Das Reisen war im Dritten Reich nicht selbstverständlich und im Krieg wurde, wie es Andersch im Titel einer Kurzgeschichte so treffend ausdrückt, am häufigsten „auf deutsche Art“ gereist, im Zuge der Eroberung der Nachbarländer. Es besteht also ein Nachholbedarf besonderer Art. Die Erfahrungslücke wurde zwar innerhalb weniger Jahrzehnte ausgefüllt. Bekanntlich kamen die Westdeutschen in den sechziger Jahren in den Ruf, besonders reisefreudig zu sein – die DDR war natürlich ein Kapitel für sich. Dort behielt die Reiseliteratur bis zur Wende ihre ganz traditionelle Rolle des ReiseErsatzes für die Leser bei. Zunächst war jedoch das Verhältnis zum Reisen auch im Westen gestört: Einerseits übertraf der Reisewunsch anfangs die materiellen Möglichkeiten der meisten Bürger und andererseits wollte auch das unverfängliche, neugierige Reisen wieder gelernt werden. Dieser zweite Punkt hat bestimmte Auswirkungen auf Inhalt und Stil der Berichte, insbesondere wenn es um die Nachbarländer geht. Die Alterität des Anderen soll gerade nicht zu sehr betont werden, wenn es darum geht, bei aller Vielfalt der europäischen Kultur, zu zeigen, dass man als Deutscher nicht so grundsätzlich anders ist als die anderen Europäer. Darum ist zu viel Exotismus nicht gefragt. Anstelle des aus früheren Reiseberichten bekannten Bestaunens des völlig Anderen, wie es Jonathan Swift in
H. Jost, „Selbst-Verwirklichung und Seelensuche. Zur Bedeutung des Reiseberichts im Zeitalter des Massentourismus. In: Der Reisebericht, hg. von Peter Brenner, Frankfurt/M. 1989, S.490 – 507. Hier S. 504.
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Gullivers Reisen so schön parodierte, tritt eher das Moment des Wiedererkennens in den Vordergrund. Der Leser soll nicht nur überrascht werden, sondern auch Bekanntes wiederfinden. Zwei Strategien fallen in den Reisetexten der 50er Jahre besonders auf. Erstens, die beschriebenen Szenen und Sehenswürdigkeiten sind generell die im internationalen Allgemeinwissen bekannten und zweitens, der Umgang mit Menschen wird als freundlich und unkompliziert dargestellt. Zu den bekanntesten westdeutschen literarischen Reisetexten der 50er Jahre zählen die ursprünglich als Rundfunkreportagen verfassten Berichte von Wolfgang Koeppen, die später in Buchform in Nach Russland und anderswohin und Reisen in Frankreich erschienen. Koeppen hatte die Aufträge von Alfred Andersch erhalten, als dieser die Leitung des Ressorts Radio-Essay beim Süddeutschen Rundfunk hatte. Auch Andersch selbst hat, etwa mit seinem Römischen Winter, interessante Beiträge geliefert. Anderschs Reise-Interesse dürfte demselben Integrationsbedürfnis entstammen wie die Öffnung zu den Nachbarliteraturen, die schon seine Zeitschrift Texte und Zeichen kennzeichnete. Koeppens Reisen sind ausdrücklich Individualreisen. Das betonte er in einem kleinen Text von 1968 mit einer Anspielung auf die kriegerischen Unternehmungen der 40er Jahre und ihre friedenszeitlichen Äquivalente in Sport und Tourismus: „Nie fühlte ich mich versucht, erobernd und weltverbessernd in gewalttätigen Gruppen zu reisen, mit Gewehren nach Frankreich, in Panzern gen Ostland, mit Neckermann an die Adria, fahnenschwingend zum Länderspiel.“⁷⁰ Wie er im selben Beitrag berichtet, fing seine Reiselust mit den Leseabenteuern seiner Kindheit an. Die Intimität der Lektüre beeinflusste auch seine spätere Wahrnehmung und Berichterstattung. Koeppen reiste mit offenen Augen und berichtete von dem, was er sah – aber er bewegte sich dabei in einem konventionellen Rahmen, der den Erwartungen der Leserschaft entsprach. Dazu meint Almut Todorow: „Koeppen holt seine Hörer bzw. Leser zunächst da ab, wo sie ihn erwarten. Er legt ein dichtes Netz von Namen, Begriffen,Verweisen aus, die als räumliche, zeitliche und soziale Orientierung in gebräuchlicher Weise fungieren.“⁷¹ Mit diesem an Stereotypen und Klischees nicht armen Verfahren eröffnet Koeppen einen Dialog mit seinen Hörern und Lesern. In Rom besucht er das Kolosseum, in Paris die üblichen Sehenswürdigkeiten. In London vergisst er nicht die roten Omnibusse zu nennen. Sicherheitshalber erwähnt er sie gleich im Titel seines Beitrags. Auch das schlechte Essen darf nicht fehlen, wobei man konsta-
W. Koeppen, An Ariel und den Tod denken. Warum ich reise. In: Die Zeit 26.4.1968. (Nachgedruckt in: W. Koeppen, Gesammelte Werke 5, S. 279 f.). A. Todorow, Stilistische Reiseprosa als Kunstform: Wolfgang Koeppen In: DVjL, Bd. 60, 1986, Nr. 1, S. 136 – 165. Hier S. 146.
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tieren muss, dass Koeppen aus der kulinarischen Katastrophe einen unvergleichlichen Lesegenuss zu machen versteht: Ich suchte ein Restaurant, um zu Mittag zu essen, fand es auch und nach kurzem Anstehen einen freien Stuhl, doch was mir vorgesetzt wurde, bestätigte den schlechten Ruf der englischen Küche, den man nicht für eine Sage halten soll. Die Suppe war aus einem sonderbaren, vollkommen geschmacklosen Pulver hergestellt, dem Gemüse hatte man mit Fleiß das Aroma entzogen und es grellgrün gefärbt, das Roastbeef, von dem man doch annehmen durfte, es sei eine englische Nationalspeise, schien aus einer Gummilösung gebraten zu sein, und der Nachtisch war aus geheimnisvoll gelierter roter Tinte bereitet. Ich blickte mich um und sah zu meiner Verwunderung keine offenen Särge neben den Speisenden stehen, und von einer Entvölkerung der Stadt, wie zur Zeit der großen Pest, konnte erstaunlicherweise nicht die Rede sein. Ich erlebte es dann, daß ein ähnliches Essen im Speisesaal eines ersten, eines berühmten Hotels serviert wurde, zu dem sich die Herren und die Damen den Smoking oder ein schlicht wirkendes Abendkleid angezogen hatten, die kläglichen Speisen von mehreren Brigaden strenger Kellner in feierlichster Manier vorgelegt bekamen. und dazu entzückte Gesichter machten, als wollten sie sagen [und sagten es wohl auch]: Haben wir nicht ein wundervolles Dinner? ⁷²
Koeppens Texte sind genuine Reiseberichte in dem Sinne, dass er genaue Routen beschreibt, und alles nachvollziehbar bleibt. Aber seine Referenzobjekte sind zugleich imaginäre Orte, wie sie im kollektiven Bewusstsein durch unzählige Schichten von Literatur und Kunst entstanden sind.⁷³ Der Dialog mit den Hörern und Lesern wird durch die intertextuellen Verweise im Text unterstützt. So ist im Römischen Cicerone nicht nur das heutige Rom, sondern zugleich das von Künstlern verschiedener Zeitalter abgebildete und das von Goethe, Burckhardt und anderen beschriebene Rom anwesend. Im Rom-Text spürt man auch die Atmosphäre von Koeppens eigenem Roman Der Tod in Rom, insbesondere dort, wo die Öde der auf Massentourismus eingestellten Hotels beim Bahnhof Termini beschrieben wird und die netten Espressobars der Halbwelt dagegen gehalten werden: Zu beiden Seiten des Bahnhofs, zu beiden Seiten des Schienenstranges liegt das Viertel der billigen Pensionen, der Vertragshotels der Massentouristik mit den traurigen kranken Palmen der Halle in altersschwachen Kübeln, deren Erde ausgedrückte Zigaretten düngen. Das alte Gewerbe der Bauernfängerei lebt hier in Erwartung des Mannes vom Lande und des Pilgers aus Köln oder Wisconsin. Selbst zur Sommerzeit merkwürdig kalte, klebrig-kalte,
W. Koeppen, Zauberwald der roten Autobusse. In Nach Russland und anderswohin. Empfindsame Reisen, Gesammelte Werke Bd. 4, 1990, S. 214. Vgl. E. Platen, „Jedenfalls nicht um anzukommen“. Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Selbstauskunft Warum ich reise. In: Erfahrung der Fremde, hg. von Chr. Parry, Vaasa 2005, S. 247– 255.
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klebrig-schmutzige Eßlokale im Parterre und im Keller hoher Häuser bereiten zur Mittag- und Abendstunde die Abfütterungen vor; doch gemütlich und warm sind die kleinen Espressos der Taschendiebe und Koffertäuscher, die Weinschenken der Eisenbahnarbeiter und die Garküchen der Gepäckträger. ⁷⁴
Man findet in Koeppens Reisetexten auch bedenklichere Klischees. Was gerade in Koeppens Beschreibungen seiner Reisen nach Frankreich sehr stark auffällt, ist dass er immer wieder auf die Rassenvielfalt im Lande zu sprechen kommt, und diese nicht immer wohlwollend betrachtet: Auf dem Cours häuften sich die Austern und Muscheln; dünsteten dort in nicht eisgekühlten Körben, auf der Promenade begegnete, vermischte sich Afrika und Europa, in allen Cafés saßen malerisch gekleidete, etwas verkommene und sehr ängstliche Scheichs, vor den freundlichen Stuhlreihen wanderte europäisch-schäbig angezogen, arabisches Proletariat, schritt, mit Gott weiß was für Waffen im zerrissenen Jackett verborgen, der arabische Haß.⁷⁵
Dass die Menge der Araber und Afrikaner in Frankreich 1959 einem deutschen Reisenden auffiel, dürfte an sich nicht verwundern. Verglichen mit heute war das damalige Deutschland noch sehr homogen. Von Gastarbeitern und Einwanderern aus anderen Erdteilen war noch nichts zu sehen. Auch der Gebrauch des heute als anstößig empfunden Wortes „Neger“ bei Koeppen lässt sich unter Berücksichtigung der Entstehungszeit entschuldigen: „Neger standen mit unendlicher Geduld an die Häuser gelehnt, warteten und lugten wie das Wild in ihren Wäldern und Savannen […]“ Verwunderlicher ist jedoch, was hier nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. Die genannten Stellen spielen auf rassistische Klischees an, der Afrikaner als primitiver Jäger, der Araber mit seinem unberechenbaren Hass – aber es kann auch jedes Mal Ironie im Spiel sein. Doch was man recht eindeutig feststellen kann, ist dass Koeppen auch hier wieder seine Hörer und Leser da abholt, wo sie ihn erwarten. Warum erwarteten die deutschen Rezipienten eines Reiseberichts über Frankreich vom Berichterstatter Rassenklischees? Als intertextuelles Bezugsfeld schleichen sich hier alte Vorurteile über Frankreich und seine Armee ein, wie sie von der deutschen Propaganda im ersten Weltkrieg und noch in erhöhtem Maße während der Ruhrbesetzung eingesetzt wurden, als von der sog. „schwarzen Schmach“ geredet wurde. Ein weiterer Romanautor, der in den 50er und frühen 60er Jahren Reisebeschreibungen veröffentlichte, war Heinrich Böll. Das soeben geschilderte Verfahren der Familiarisierung durch Bezugnahme auf frühere literarische Texte und
W. Koeppen, Neuer römischer Cicerone, Gesammelte Werke Bd. 4, S. 242. W. Koeppen, Reisen in Frankreich. Gesammelte Werke 4, S. 516.
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Allgemeinwissen findet man auch bei Böll. Das ist explizit der Fall in seiner Beschreibung von Paris aus dem Jahre 1956: Paris liegt nicht allein auf dem Montmartre und an der Place Pigalle, es liegt zwischen Emile Zola und Marcel Proust, es liegt an der Seine und zwischen Sartre und Claudel, es liegt zwischen Renoir und Picasso, zwischen Abbé Pierre und irgendeinem Millionär, dessen Frühstück soviel kostet, wie Abbé Pierre brauchen würde, um zwei Familien einen Monat lang vor dem Hunger zu bewahren. Paris ist wie ein Mosaik, von dem niemand weiß, wer es zusammengestellt und zu dem Bild gemacht hat, das Paris heißt.⁷⁶
Wie Koeppen, fordert hier auch Böll seine Leser dazu auf, aus (angenommener) früherer Lektüre zu schöpfen, um das mentale Bild des Gegenstands aufzubauen. Ganz bezeichnend ist der letzte Satz im Zitat, der nicht nur die Stadt beschreibt, sondern zugleich das intertextuelle Verfahren des Autors erfasst. Dabei nimmt Böll mit dem Bild des Mosaiks die berühmte Metapher von Julia Kristeva vorweg, die sie in ihrem Aufsatz über Bachtin zur Charakterisierung der Intertextualität verwendet. „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“.⁷⁷ Wenn überhaupt, so geht Böll weiter in seiner Anwendung des intertextuellen Verfahrens, indem er das narrative Potenzial der von ihm genannten Namen oder Werke mitschwingen lässt. Die zitierte Passage geht weiter: Diese Stadt liegt zwischen zwei Kinderwagen; das bedeutet nicht, dass der eine Kinderwagen, neben dem eine gepflegte junge Dame im Park steht, der Anfang eines Lebens sein muß, das an dem anderen Kinderwagen endet, hinter dem eine ältere Frau auf dem Bordstein sitzt und auf Abfälle aus den Markthallen wartet: das Leben fängt nicht immer an wie ein Bild von Renoir, und endet dann, wie ein Roman von Zola; es kann anfangen wie Zola und enden wie Renoir, kann anfangen und enden wie Proust.⁷⁸
Hier findet mitten im Gewühl von literarischen und künstlerischen Assoziationen mit dem Bild der beiden Kinderwagen eine Akzentverschiebung statt, und der Blick wird auf die menschliche Gegenwart der Stadt gerichtet. Im Vergleich der Reisebeschreibungen Bölls und Koeppens kam Hans Mayer zu folgendem Schluss: Die Impulse zu Bölls Schaffen werden immer wieder durch Erlebnisse mit Menschen ausgelöst. Im gesamten Schaffen Wolfgang Koeppens hingegen läßt sich nur schwer die Grenze
H. Böll, Rom auf den ersten Blick, Reisen, Städte, Landschaften, Köln 1987, S. 88 f. J. Kristeva, Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik, hg. von Jens Ihwe, Frankfurt/M. 1972, S. 345 – 375, hier S. 346. H. Böll, Rom auf den ersten Blick, S. 88.
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ziehen zwischen dem, was durch Lebenstatsachen und was durch Büchertatsachen hervorgerufen wurde. ⁷⁹
Das Interesse am wirklichen Leben, in diesem Beispiel nur durch zwei Gegenstände, die Kinderwagen, die stellvertretend für die Menschen dahinter und darinnen sind, angedeutet wird, entfaltet sich auch viel direkter in Bölls Schreiben. Deutlich häufiger als Koeppen macht er seine Leser auch zu Teilhabern eines realen Dialogs mit den Einwohnern der Orte. Das ist ganz besonders der Fall im Irischen Tagebuch, aber es fällt auch in ganz kurzen Reisetexten auf, etwa dem kurzen Text „Rom auf den ersten Blick“, der fast zur Hälfte Beispielen römischer Hilfsbereitschaft gewidmet ist. Als Europareisender ist Böll überall schnell zuhause. Seine Anteilnahme beruht auf seinem christlichen Engagement katholischer Prägung, das ihm in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus seine anerkannte moralische Autorität verlieh. Er reist als Rheinländer, als kritischer Deutscher, und, vor allem, als kritischer Katholik. Das von Böll suggerierte Zusammengehörigkeitsgefühl wird dadurch erhöht, dass seine Reisen ihn in katholische Länder führen, was ihnen von vornherein, wenn schon keine „ultramontane“, so doch eine übernationale Dimension verleiht. Die Szenen, die er in Italien, Irland, Frankreich oder Polen schildert, sind auch aus dieser Warte zu betrachten. Familiarität entsteht dadurch, dass seine berichtende Instanz sich nicht als Fremder gebärt, sondern mitredet in Angelegenheiten des bereisten Landes, auch wenn er dies vor allem unter dem Aspekt des Vergleichs der jeweiligen Erscheinungsform des Katholizismus mit dem heimatlichen tut. Das Rom der reichen Kirchen: diese kalten Prachtkassettendecken, diese riesigen Marmorengel, die Weihwasserbecken von der Größe von Badewannen halten, das Wappen des Heiligen Stuhls an so vielen Portalen, die Eingänge zu fast unermeßlichen großen Gärten mit unermeßlichen kostbaren Palästen sind – und die Bettelmönche in schmuddeligen Kutten, die mit Sammelbüchsen von Café zu Café gehen, alles die eine, dieselbe Kirche; lauter erste Blicke auf irgend etwas, das römisch, nur römisch ist.⁸⁰
Dieselbe Empörung über das Gefälle zwischen dem Prunk der großen Kirchenbauten und dem Gehabe der kirchlichen Institutionen auf der einen Seite und der Armut und Bescheidenheit der einfachen Gläubigen, die man bereits aus den frühen Romanen wie Haus ohne Hüter kennt, durchzieht auch Bölls Reisetexte.
H. Mayer, Die umerzogene Literatur, Berlin 1988, S. 120. H. Böll, Rom auf den ersten Blick, S. 174 f.
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Irisches Tagebuch Zu den literarisch erfolgreichsten Reisetexten der 50er Jahre zählt zweifellos Heinrich Bölls Irisches Tagebuch. ⁸¹ Böll beschreibt darin Reisen an den westlichen Rand Europas. Die Eindrücke die er dort sammelt, stehen in starkem Kontrast zur Hektik der Bundesrepublik der Wirtschaftswunderzeit, und Böll macht keinen Hehl daraus, dass er sehr bewusst als deutscher Besucher das fremde Land kennenlernt. Der Titel ist irreführend, denn es handelt sich gar nicht um ein Tagebuch, sondern um eine Reihe von undatierten Eindrücken und Anekdoten, die vom Autor auf mehreren Reisen nach Irland gesammelt wurden. Das wird schon aus kleinen inhaltlichen Widersprüchen zwischen den ersten beiden Kapiteln „Ankunft 1“ und „Ankunft 2“ deutlich. Bis auf die Stellen, wo Erlebnisse des Autors und seiner Familie direkt erzählt werden, tritt die Tagebuchähnlichkeit des Buches ganz in den Hintergrund. Stattdessen werden Stimmungsbilder erzeugt, die ihren konkreten Ausgangspunkt im Erlebten, Gehörten, Gelesenen oder frei Erfundenen haben. Das von Böll erlebte Irland hat von vornherein völlig andere Ausgangsbedingungen als die junge Bundesrepublik. Es ist in seiner Randlage und wegen des schwierigen Verhältnisses zu Großbritannien vom Zweiten Weltkrieg verschont geblieben. Dennoch waltet eine allgemeine Armut im Lande, wie sie im Nachkriegsdeutschland bereits allmählich überwunden wurde. Neben Klischees wie dem ewigen Regen und dem massiven Teekonsum gibt es eine Reihe von Motiven, die das Buch durchziehen und die irische Realität implizit als Gegensatz zu den deutschen Verhältnissen der späten 50er Jahre darstellen. Dazu zählen vor allem die kontinuierliche Entvölkerung des Landes, das seinen Bürgern nicht genug Arbeit bieten kann, die Omnipräsenz der Kirche und der stoische Gleichmut der Bevölkerung. Was Böll vom ersten Kapitel an im Buch besonders beschäftigt, ist die Entvölkerung Irlands. Diese sieht Böll als spezifisch irisches Phänomen, denn er zieht an einer Stelle den Vergleich mit Polen, einem anderen katholischen Land, das historisch mindestens so schlechte Erfahrungen mit seinen Nachbarn gemacht hat wie Irland und dennoch nicht so stark unter Abwanderung leidet.⁸² Den Schwerpunkt auf die Auswanderung setzt Böll gleich im ersten Kapitel durch die ausführliche Wiedergabe einer Unterhaltung zwischen einem katholischen H. Böll, Irisches Tagebuch. Köln/Berlin 1957. Im Folgenden zitiert nach der Taschenbuchausgabe, München 1961. H. Böll, Irisches Tagebuch, 1961, S. 129. Bölls Blick ist natürlich zeitbezogen. Inzwischen haben sich u. a. durch die EU-Mitgliedschaft die Verhältnisse in beiden Ländern geändert.
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Geistlichen und einer in London arbeitenden Kellnerin, die auf Heimatbesuch unterwegs ist. Bezeichnenderweise „beichtet“ die Kellnerin dem fremden Priester, dass sie ihren Glauben verloren hat, was sie auf keinen Fall in ihrem Heimatdorf verraten würde. Typisch für Böll ist, dass er hier gleich das soziale Problem der Auswanderung auch in seiner intimsten Auswirkung als Prüfung für die Glaubensfestigkeit des Individuums erfasst. Das Thema der Entvölkerung kehrt in mehreren weiteren Kapiteln wieder. Versinnbildlicht wird es durch die verlassenen Dörfer der Westküste, deren Ruinen Folge einer langsamen organischen Entwicklung seien und so in starkem Kontrast zu den Böll innig bekannten Ruinen der vom Bombenkrieg verwüsteten Kölner Innenstadt stehen. Im Kapitel „Das neunte Kind der Mrs D.“ malt Böll das Leben eines neugeborenen Kindes aus, das vielleicht die Arbeit der Mutter bei der Post wird übernehmen können, während die meisten Geschwister auswandern müssen. Bölls Impressionen sind nicht immer faktentreu, aber die Schicksale, die er beschreibt, stehen für viele, von denen er immer wieder hört. In der kleinen Erzählung „Der tote Indianer in der Duke Street“, die ursprünglich den Titel des Buches abgeben sollte,⁸³ wird die Grenze zur Fiktion mehrfach überschritten, wobei unklar bleibt, was genau daran fiktiv ist und wer der eigentliche Urheber der Fiktion ist. Es geht dabei um eine Polizeikontrolle, die der Autor erlebt haben will, bei der nach etwas small talk über das Wetter dann die Legende vom toten Indianer erwähnt wird, und die damit endet, dass es dem Polizisten doch noch einfällt, nach den Fahrzeugpapieren zu fragen. Der Fahrer hat sie zwar nicht dabei, aber nach der netten Unterhaltung darf er unbesorgt weiterfahren. Ob überhaupt irgendetwas an der Geschichte des toten Indianers oder gar an der Polizeikontrolle selbst stimmt, spielt keine Rolle. Als Aussage über die gemütliche Gelassenheit, Freundlichkeit und Geduld, die Böll in Irland trotz aller Aussichtslosigkeit der wirtschaftlichen Lage kennengelernt hat, ist diese Geschichte besonders wirksam. Die implizite Deutschland-Kritik, mit keinem Wort explizit gemacht, lässt sich dabei kaum übersehen. Dieselbe stoische Geduld und Gelassenheit der Iren, die Böll, wenn nicht direkt als Tugend, so doch als sympathisches Exotikum registriert, vermitteln auch das Kapitel über den unpünktlichen Beginn einer ländlichen Kinovorführung und das Kapitel „Wenn Seamus einen trinken will“, das von den Schikanen Nach Thorsten Päplow sollte das Buch ursprünglich „Der tote Indianer von der Duke Street. Irische Impressionen“ heißen. Mit dem Titelwechsel sollte der autobiographisch-subjektive Charakter des Buches stärker betont werden. (Th. Päplow, Identität und Heimat. Heinrich Bölls Irisches Tagebuch. In: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Hg. von U. Breuer, B. Sandberg, München 2006. S. 49 – 59. Hier S. 52 f.
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IV Wege aus der Isolation
der irischen Ausschankregelungen handelt. Böll hütet sich grundsätzlich davor, als Besserwisser etwaige Erscheinungen von Ineffektivität zu kritisieren. Stoisch nimmt er es beispielsweise hin, dass er wochenlang sein Geld nicht wechseln kann. Einen wunden Punkt hat seine Erfahrung als Deutscher in Irland dennoch. Ein paarmal ist von peinlichen Unterhaltungen über den Krieg die Rede. Dass Böll als Deutscher besonders freundlich empfangen wird, ist nicht immer nur Zeichen angeborener Herzlichkeit bei den irischen Gesprächspartnern. Im Kapitel „Ambulanter politischer Zahnarzt“ begegnet er einem überaus freundlichen irischen Nationalisten, der ihm sein eher positives Bild von Hitler darlegt. Der Nationalist geht von der simplistischen Formel aus, dass der Feind seines Feindes ein Freund sein muss. Böll muss ihn über die Verbrechen der Nazis aufklären. Das ist der politische Zahn, den Böll seinem Gesprächspartner ziehen muss, auch wenn es diesen schmerzt, dass sein Weltbild in Frage gestellt wird.⁸⁴ Das Irische Tagebuch ist also nicht so unpolitisch, wie es zunächst den Anschein hat. Ihm liegen auch gründliche Kenntnisse der irischen Geschichte und Literatur zugrunde. So wie Paris im früheren Beispiel „zwischen Emile Zola und Marcel Proust“ liegt, so liegt auch Irland zwischen Jonathan Swift und James Joyce. Nicht von Ungefähr sucht der Autor in einem der letzten Kapitel des Buches das Grab W. B.Yeats’ bei Sligo auf. Eindeutige literarische Anspielungen auf Swifts Modest Proposal und Yeats hat Thorsten Päplow gleich am Anfang des Buches in der Rede der an sich garantiert wenig gebildeten Kellnerin aufgedeckt.⁸⁵ Der intertextuelle Vorrat des Irischen Tagebuchs erschöpft sich aber nicht in den direkten Anleihen. Das Ehepaar Böll war durch die Arbeit vor allem Annemarie Bölls als Übersetzerin mit der literarischen Moderne Irlands bestens vertraut und vieles von der Stimmung dieser Literatur, zum Beispiel was die Darstellung des verarmten Westens der Insel betrifft, ist aus der Literatur bekannt. Demnach wäre Hans Mayers Vergleich zwischen Koeppen und Böll zu revidieren, denn auch Böll schöpft aus Büchern. Aber es geht bei ihm nicht um „Büchertatsachen“, sondern eben um das von den Büchern vermittelte Leben, das mit den eigenen Reiseeindrücken harmonisiert. Die unterschwellige Präsenz irischer Literatur im Text trägt somit zu seiner Polyphonie bei und verleiht ihm, bei aller Subjektivität des Zugriffs, eine besondere Authentizität. Solche Intertextualität verleiht dem Text einen transnationalen Charakter und wirkt der viele Reiseberichte oft belastenden auktorialen Kolonisierungstendenz entgegen.
Wie Nazi-Sympathien einen braunen Fleck in der extremen Variante des irischen Nationalismus bilden, geht auch aus Werken wie der Autofiktion des deutsch-irischen Autors Hugo Hamilton The Speckled People (2003) hervor. S. Thorsten Päplow, „Faltenwürfe in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch, München 2008, S. 94 ff.
V Zwischen Peripherie und Metropole wie heißt es, dein Land hinterm Berg, hinterm Jahr? Paul Celan, Die Niemandsrose
Zuhause in der Weltsprache der Poesie Unter den Vermittlern, die in den 50er Jahren die kulturelle Annäherung der Bundesrepublik an die europäische Moderne betrieben, spielt Hans Magnus Enzensberger eine besonders wichtige Rolle, vor allem auf dem Gebiet der Lyrik. 1960 brachte er unter dem Titel Museum der modernen Poesie eine Anthologie heraus, die einen kompakten Überblick über die Moderne in der Lyrik des 20 Jahrhunderts bot.¹ Die einzelnen Gedichte wurden im Original und in deutscher Übersetzung von prominenten Übersetzern, darunter auch Enzensberger selbst, präsentiert. Neben europäischen Dichtern sind zwar auch nord- und lateinamerikanische Dichter und Leopold Sédar Senghor aus Westafrika vertreten, aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der europäischen, bzw. stark europäisch beeinflussten Literatur.² Auch deutschsprachige Dichter befinden sich unter den Autoren des Bandes. Zu ihnen gehören Rilke und Trakl, Brecht und Benn, LaskerSchüler und Sachs. Im Kontext der Anthologie fällt auf, wie viel mehr auch diese Dichterinnen und Dichter eine bestimmte Epoche und einen Stil vertreten als ein einziges Land oder Kulturkreis. Die Gedichte zeugen von der Aufbruchsstimmung der Moderne, die sich darin zeigt, dass sie in ihrer Form, ihrer Thematik, in ihren Bildern und ihrem Tonfall poetisches Neuland betreten. Im Vorwort schreibt Enzensberger: In den fünfunddreißig Jahren von 1910 – 1945 haben die Dichter, die in diesem Museum erscheinen, unter sich ein Einverständnis erreicht, das wie nie zuvor die nationalen Grenzen
H. M. Enzensberger, Museum der modernen Poesie eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt/M. 1960. Im Nachwort der Neuausgabe von 1980 gesteht Enzensberger ein, dass seine frühe Auswahl „von einem ahnungslosen Eurozentrismus geprägt“ war und dass die Poesie seit 1945 eher in einem „Atlas“ als in einem „Museum“ untergebracht werden sollte (Enzensberger 1980: 786 f.). Dieser Anregung ist inzwischen Joachim Sartorius mit einem Atlas der neueren Poesie (Reinbek bei Hamburg 1995) gefolgt. https://doi.org/10.1515/9783110706338-007
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V Zwischen Peripherie und Metropole
der Dichtung aufgehoben und dem Begriff der Weltliteratur zu einer Leuchtkraft verholfen hat, an die in anderen Zeiten nicht zu denken war.³
Dieses Einverständnis bezeichnet er als „Weltsprache der modernen Poesie“. Sie ist keine Sprache im herkömmlichen linguistischen Sinne, sondern vielmehr eine gemeinsame, über Sprachgrenzen hinweg geteilte Einstellung zur Sprache und zu ihrem poetischen Material. Diese Gemeinsamkeit wird durch die Übersetzung selbst unterstrichen. Sie bietet sogar die Voraussetzung für die Übersetzbarkeit der Texte, was aus konservativer Sicht ein gewisses subversives Potenzial darstellt, denn sie steht im Widerspruch zu der national-romantischen Vorstellung einer heiligen Ehe von Muttersprache und Dichtung. Die Erkenntnis, dass etwas wesentlich Neues seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in die Lyrik eingedrungen war und dass dieses Neue eine internationale Dimension besaß, war 1960 nicht neu. Schon Hugo Friedrich hatte den übernationalen Charakter der modernen Dichtung in seiner 1956 erschienenen Studie zur Struktur der modernen Lyrik tendenziell erkannt und eine Reihe formaler Gemeinsamkeiten identifiziert. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen nennt Friedrich „Dunkelheit“, „Wortzauber“ und „Geheimnishaftigkeit“ und zitiert SaintJohn Perse, der den Dichter als „Zweisprachiger unter zweifach spitzen Dingen […]“ bezeichnet.⁴ Diese „Zweisprachigkeit“ ist ebenso wenig im herkömmlichen wörtlichen Sinne gemeint wie Enzensbergers Begriff der „Weltsprache“. Auch Saint-John Perse geht es um eine doppelte Einstellung zur Sprache überhaupt. Aus dieser Einstellung ergibt sich das Grundverständnis, das Enzensberger mit dem Begriff der „Weltsprache der modernen Poesie“ zu erfassen versucht. Für die moderne Poesie ist die Einteilung nach Sprachen und Nationen daher, wie Enzensberger weiter ausführt, obsolet: Für ein Museum der modernen Poesie folgt daraus: Es ist nicht einzurichten nach der Art einer Weltausstellung, auf der ein jedes Land sich einen Pavillon vorbehält. Das Gedicht trägt nicht wie ein Olympia-Sieger die Landesfarben auf der Brust. Wer Lust am rubrizieren hat, mag immerhin versuchen, die Dichter seiner Nation zusammenzuklauben. Ohne Schwierigkeiten wird das nicht abgehen. Das lehrt ein Blick auf ihre Lebensläufe.⁵
Die moderne Poesie ist mythisch, urban und eklektisch zugleich. Nach mehreren Generationen nationalromantischer Selbstbezüglichkeit zeigt sich die Poesie der Moderne offen für neue Themen und Formen, die an nationalen, kulturellen und
H. M. Enzensberger, Museum, 1960, S. 13. H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956, S. 15 f. H. M. Enzensberger, Museum, S. 13.
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sprachlichen Grenzen nicht halt machen. Anstatt sich in Innerlichkeit und Natureinsamkeit zurückzuziehen, wirft sich das moderne Gedicht in das Stimmenwirrwarr einer universalen Großstadt. Seine topographischen Bezugspunkte sind unbestimmt und ubiquitär. Der Ort dieser Poesie heißt Waste Land (Eliot) oder Zone (Apollinaire). Erneut auf den gesamteuropäischen Fundus antiker Mythen zugrückgreifend, diese rücksichtslos erneuernd und in die moderne Welt des technologischen Fortschritts versetzend, überschreitet die moderne Poesie Grenzen von Zeit und Raum und nicht selten auch Sprachgrenzen – allein schon das Sprachmaterial, das für Gedichte in Frage kommt, erfährt in der modernen Welt eine enorme Erweiterung. Die moderne Poesie ist eine Lyrik von Kosmopoliten und solchen, die es werden wollen. Mit ihrer Mischung von Ernst und Humor, Hochkultur und Banalität ist in den Gedichten der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts immer wieder die Euphorie des Aufbruchs in eine neuartige Welt mit neuen Möglichkeiten zu spüren. Das gemeinsame Grundverständnis erleichtert die Überwindung von konkreten Sprachgrenzen. Man sieht das an der Art und Weise, wie sich die Dichter verschiedener Muttersprache gegenseitig beeinflussen und an der bedeutenden Rolle mehrsprachig sozialisierter Dichter. Enzensberger nennt als Beispiele u. a. Guillaume Apollinaire, Aimé Césaire, und Jean (Hans) Arp. Hätte er nicht 1945 als Zeitgrenze gesetzt, so hätte er bestimmt auch Paul Celan genannt, und dieser wäre dann nicht nur als Übersetzer, sondern auch mit eigenen Gedichten in der Anthologie vertreten, denn Celan ist der paradigmatische Fall eines international hochgeschätzten vielsprachigen Dichters, der keine Nationalliteratur vertritt und keiner nationalen Heimat zuzuordnen ist. Enzensbergers Anthologie schließt aber mit dem Jahr 1945. Hatten die Schrecken des Ersten Weltkriegs die Euphorie der jungen Dichter nicht vollends dämpfen können, sondern diese im Dadaismus, im italienischen Futurismus und in ähnlichen Bewegungen eher angefeuert, so brach sie, so Enzensberger in seinem Vorwort, spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg ab. Darum heißt die Anthologie wohl „Museum“. Die großen historischen Brüche erreichen aber auch den Vers. Faschismus und Krieg, der Zerfall der Welt in feindselige Blöcke, die Rüstung zum Untergang: dies alles hat auch das Einverständnis der modernen Poesie tief erschüttert. Ihre Weltsprache zeigt nach 1945 Spuren der Erschöpfung, des Alterns. Ihre großen Meister sind fast alle tot. Nur als konventionelles Spiel kann sie fortgesetzt werden, als gäbe es zu ihr keine historische Differenz. Die bedeutenden Geister haben längst begonnen, auf sie zu reflektieren. Poesie heute setzt nicht nur Kenntnis, sondern auch Kritik der modernen Poesie voraus.⁶
H. M. Enzensberger Museum, S. 14.
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Dass die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, Auschwitz und Hiroshima einen Einschnitt auch in die Poesie brachte und die fröhliche Unschuld, die noch manches Werk der Moderne vor 1945 geprägt haben mag, endgültig erschütterte, dürfte außer Frage stehen. Das Urteil Enzensbergers, dass die Moderne nach 1945 „Spuren der Erschöpfung und des Alterns“ aufweist, mag hingegen zwar noch auf die Generation der im Museum vertretenen Dichter zutreffen, ist jedoch angesichts der weltweiten Produktivität der Nachkriegslyrik, an der auch Enzensberger selbst seinen Anteil hat, doch etwas verfrüht. Allerdings steht die weitere Produktion von Lyrik, ob modern oder weniger modern, im Schatten der genannten Ereignisse und, wie Theodor Adorno in Bezug auf Gedichte nach Auschwitz meinte, grundsätzlich unter dem Verdacht der Barbarei.⁷ In der Lyrik der Nachkriegszeit bleibt also ein Kern des Kosmopolitischen bestehen, der nunmehr mit größerer moralischer Dringlichkeit betont wird.
Paul Celans Meridiane Das ist der Ausgangspunkt des lyrischen Werks von Paul Celan. Seine Gedichte stehen im Spanungsfeld zwischen der Weltsprache der modernen Poesie und der Unsagbarkeit der Erfahrung von Weltkrieg und Shoah. Sein lyrisches Idiom ist deutsch, aber es ist ein Deutsch, das durch die Vernichtung der deutsch-jüdischen Sprachgemeinschaft der Bukowina im Zweiten Weltkrieg seinen Wurzeln entrissen wurde. Von seinem Lebenslauf her betrachtet, gehört Celan zu den kosmopolitischsten Dichtern des 20. Jahrhunderts. Der im mehrsprachigen, damals rumänischen Czernowitz geborene Dichter schrieb seine frühesten Gedichte teils auf Deutsch, teils auf Rumänisch. Abgesehen von einigen Monaten in Wien nach der Emigration aus Rumänien lebte er nie im offiziellen deutschen Sprachraum, denn auch im Czernowitz seiner Kindheit und Jugend, wo Deutsch noch als Verkehrssprache vorherrschte, war es nicht Amtssprache. Den größten Teil seines lyrischen Werks schuf Celan in Paris, wo er auch als Übersetzer von Prosa und Lyrik aus verschiedenen Sprachen tätig war. Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, war mit Prag, Triest und Lemberg beispielhaft für den inneren Kosmopolitismus der verstreuten Habsburger Verwaltungszentren. Fünf Ethnien und Sprachen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten. Die Landbevölkerung der nördlichen Bukowina war vorwiegend
Th. W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1 Frankfurt/M. 1977, S. 30.
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ukrainisch (ruthenisch) und die des südlichen Teils rumänisch. Czernowitz lag geographisch im Grenzraum zwischen beiden. Im 18 Jahrhundert wurden auch deutsche Umsiedler für das dünnbevölkerte Gebiet angeworben und infolge der josephinischen Reformen am Ende de 18. Jahrhunderts kamen Juden aus Galizien in die Gegend. Sie waren größtenteils stark assimiliert, während zugleich eine sehr orthodoxe Richtung präsent war. Die Kleinstadt Sadagora in der unmittelbaren Nachbarschaft von Czernowitz bildete sogar das Zentrum der Chassidim. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Bevölkerungsstruktur also gründlich gemischt. Das städtische Bürgertum war vorwiegend jüdisch und deutschsprachig, obwohl auch jiddisch gebraucht wurde. Nach Claudio Magris ist es gerade eine solche Mischung, die das Spezifikum des habsburgischen Österreichs ausmachte und die seiner Literatur ein besonders österreichisches Gepräge verlieh: Die Literatur dieser Gebiete war dem Milieu und den Personen nach slawisch, der Sprache nach deutsch und dem Geist nach „österreichisch“. So wurde die Bukowina später die „österreichischste unter den österreichischen Provinzen“ genannt, […]⁸
Der erste Schriftsteller der Bukowina, der sich außerhalb der Provinz einen Namen machte und mit seinen Notizen Aus Halb-Asien die Gegend auf die literarische Landkarte setzte, war der als Herausgeber der Werke Georg Büchners bekannte Karl Emil Franzos. Mit dem Begriff Halb-Asien hat Franzos die Gegend effektiv in Edward Saids Sinne „orientalisiert“,⁹ wodurch der Gegensatz zwischen der Exotik der Habsburger Länder und dem sachlich-kühlen preußischen Norden¹⁰ wieder einmal suggestiv verstärkt wurde. Mit dem Ende des Habsburgerreichs fiel das Gebiet an Rumänien, das über die nächsten zwanzig Jahre mit unterschiedlichem Eifer eine Rumänisierungspolitik betrieb, von der vor allem die Bildungs- und Kulturpolitik betroffen waren. Dennoch blieb die vorherrschende Stellung des Deutschen als Umgangssprache in der Stadt bis zum Zweiten Weltkrieg bestehen. So schildert Israel Chalfen in seiner Jugendbiographie Paul Celans die Stadt in den Zwischenkriegsjahren: Offiziell war Czernowitz eine rumänische Provinzstadt geworden, in Wirklichkeit aber mußte man sie als eine jüdische Stadt deutscher Sprache ansehen. Rund 50 000 jüdische Ein-
Cl. Magris, Der habsburgische Mythos, 1966, S.158. In Orientalism beschreibt Edward Said den Prozess so: „…that Orientalism makes sense at all depends more on the West than on the Orient, and this sense is directly indebted to various Western techniques of representation that make the Orient visible, clear, „there“ in discourse about it.“ E. Said, Orientalism. Western conceptions of the Orient, London 1995, S. 22. Franzos, der seine Schulzeit in Czernowitz verbrachte und später in Wien als Journalist tätig war, verbrachte nach den Aufzeichnungen seine letzten Lebensjahre im norddeutschen Berlin.
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wohner unter einer Gesamtbevölkerung von 110 000 Seelen bestimmten ihren Charakter. Die Juden wohnten über die ganze Stadt verstreut, aber in der Stadtmitte nannten die Firmenschilder fast nur jüdische Namen. Läden, Büros, Kanzleien, Ordinationen wiesen als Inhaber jüdische Handwerker, Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Ärzte aus. Vom Bankier über die Vertreter freier Berufe bis hin zum Schneider und Friseur – alle waren sie Juden. Man konnte das mit österreichischer Lässigkeit und slawischer Breite gesprochene, von jiddischen Redewendungen durchflochtene Bukowiner Deutsch überall in der Stadt hören.¹¹
Das deutschsprachige jüdisch-bürgerliche Milieu in Czernowitz blieb während der zwei Jahrzehnte rumänischer Herrschaft weitgehend bestehen. Die Stadt, in der Celan aufwuchs, war also noch stark von ihrem Charakter als einstige Habsburger Provinzhauptstadt geprägt. Die Hauptbedrohung stellte die allmähliche Verdrängung der deutschen Sprache aus dem offiziellen Gebrauch dar. Der rumänische Nationalismus nahm allerdings, wie der deutsche, im Verlauf der dreißiger Jahre immer extremere Formen an, wobei die Atmosphäre zunehmend vom Antisemitismus seitens der rumänischen Behörden mit Entlassungen von Lehrern und Numerus Clausus für jüdische Studenten an der Universität vergiftet wurde. Die Beziehungen zwischen den beiden deutschsprachigen Glaubensgemeinschaften blieben von der Zunahme des Antisemitismus nicht verschont. Durch den Wegfall der toleranten Metropole Wien als Orientierungspunkt richtete sich der Blick vieler nichtjüdischer Deutschsprecher auf das Dritte Reich; man identifizierte sich mit dem Etikett des „Grenz- und Auslandsdeutschtums“.¹² Das Ende der multikulturellen rumänischen Nordbukowina kam in zwei Etappen. Im Sommer 1940 wurde die Nordbukowina im Sinne des geheimen Zusatzprotokolls des Molotow-Ribbentrop-Paktes durch die Sowjetunion besetzt. Die Rumänen verließen die Stadt, während die öffentlichen Einrichtungen russifiziert (oder ukrainisiert) wurden. 1941 wurde Czernowitz im Zusammenhang mit dem deutschen Großangriff auf die Sowjetunion von den rumänischen Bündnispartnern zurückerobert. Die Folge war nun eine massive Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung, die zunächst gettoisiert und nach und nach in KZs in Transnistrien verschleppt wurde. Bei der erneuten Eroberung der Stadt durch die Sowjetunion kam es weiterhin zu fadenscheinig politisch begründeten Deportationen und den wenigen verbliebenen Juden wurde die Aussiedlung nahegelegt. So wurde aus der einstigen multikulturellen mitteleuropäischen Regionalmetropole eine abgelegene ukrainische Provinzhauptstadt.
I. Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt/M. 1979, S. 19. Beispiele dieser ideologischen Ausrichtung bietet die von Alfred Klug herausgegebene Anthologie Buchenland deutsches Dichterbuch, Stuttgart 1939.
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Der heute als Paul Celan bekannte Paul Antschel wuchs in einer Familie auf, wo vor allem die Mutter deutschsprachiges Bildungsgut vermittelte. Solche Familien liefern den Beleg für Stefan Zweigs am Grabe Joseph Roths geäußerte Behauptung, wonach es an den Rändern des Habsburger Reichs gerade Juden waren, die das deutsche Kulturerbe pflegten.¹³ Der Vater neigte zum Zionismus und sorgte dafür, dass Paul auch etwas Hebräisch lernte. So wurde der zukünftige Dichter während seiner Schulzeit nacheinander auf Deutsch, Hebräisch und Rumänisch unterrichtet. Im ersten Kriegsjahr, als Czernowitz vorübergehend von der Sowjetunion besetzt wurde, studierte er in Czernowitz Romanistik. Für Antschel/Celan, der ortsübliche Kenntnisse des Ukrainischen schon besaß, bot das Studienjahr 1940 – 1941 an der russifizierten Universität die Gelegenheit, sich des Russischen zu bemächtigen, was ihm bald als Übersetzer sehr zugute kommen sollte. Die zweite Phase des Krieges mit der Rückeroberung durch Rumänien mit Unterstützung von SS-Einheiten brachte das lebenslange Trauma, das Celans gesamtes Oeuvre bestimmt. Seine Eltern wurden deportiert und starben in einem deutschen Lager in Transnistrien, während er selbst sich bei der entscheidenden Deportationsaktion versteckt halten konnte. Er überlebte den Höhepunkt der Kriegsjahre in einem rumänischen Arbeitslager. Nach Beendigung des Kriegs ging Paul Antschel nach Bukarest, wo ihm Alfred Margul-Sperber, der mit seinen Beziehungen zur internationalen Literatur prominenteste Vertreter der Bukowiner Literatur der Vorkriegszeit, eine Stelle beim Verlag Cartea Rusă beschaffen konnte.¹⁴ In dem auf russische Literatur spezialisierten Verlag arbeitete Celan als Lektor und Übersetzer. In Bukarest verkehrte er in deutsch- und rumänischsprachigen Intellektuellen- und Künstlerkreisen, insbesondere mit den dortigen Surrealisten, und schrieb Gedichte in beiden Sprachen. Einen Nachweis seines vielsprachigen Talents aus der Zeit lieferte seine Übersetzung von Michail Lermontows Ein Held unserer Zeit ins Rumänische. Dennoch blieb es sein vorderstes Ziel, als deutschsprachiger Dichter zu wirken und anerkannt zu werden.¹⁵ Als die relative Freizügigkeit der ersten Nachkriegsjahre einer stalinistischen Diktatur zu weichen begann, flüchtete er illegal nach Wien, wo er, in den Worten Milo Dors, „buchstäblich aus dem Nichts“ aufrauchte.¹⁶ Tatsächlich war die Kulturlandschaft der Bukowina mit ihrer Haupt-
S. Kap. II Anm. 70. W. Emmerich, Paul Celan, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 59. I. Chalfen, Paul Celan, S. 148. M. Dor, Paul Celan in Neues Forum 1970: Nachgedruckt in Über Paul Celan, hg. von Dietlind Meinecke, Frankfurt/M. 1970, S. 281– 285. Hier S. 281.
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stadt Czernowitz nunmehr zu einem „Nichts“ geworden, was wiederum zu einem zentralen Motiv von Celans späterer Dichtung werden sollte. Wien als ehemalige K.u.K. Hauptstadt war die deutschsprachige Großstadt, wo sich einer aus der bukowinischen Provinz vielleicht am ehesten zuhause fühlen konnte, doch spätestens nachdem die Stadt durch den Eisernen Vorhang endgültig vom früheren Hinterland losgerissen wurde, war auch dort nicht mehr viel vom früheren Glanz übriggeblieben. In Wien wurde Celan nicht sesshaft. So kam es, dass er bei seinem Durchbruch als deutschsprachiger Dichter mit dem Erfolg der Sammlung Mohn und Gedächtnis bereits in Paris lebte. Trotz der Übersiedlung von Millionen Deutscher aus den früheren Ostgebieten des Reichs am Ende des Weltkrieges galt der Dichter aus Czernowitz als ziemliches Exotikum, was aus frühen Stellungnahmen der Kritik sehr deutlich wurde. Die ersten Berührungen mit dem westdeutschen Literaturbetrieb verliefen ungünstig. 1952 wurde er zum Treffen der Gruppe 47 in Niendorf eingeladen. Es war sein erster Aufenthalt in Deutschland mit Ausnahme der Durchreise in Berlin am Tag nach den Novemberpogromen 1938. Der Auftritt in Niendorf wird wenig dazu beigetragen haben, den traumatischen Eindruck des ersten Kurzaufenthalts in Berlin zu beheben, denn die Lesung wurde, zumindest aus seiner Sicht, zum Fiasko, auch wenn er dafür den dritten Preis bekam. Doch ausgerechnet bei dieser ausdrücklich antifaschistischen Vereinigung stieß Celan auf eine ignorante Haltung, die er nur als antisemitisch empfinden konnte. Als er die „Todesfuge“ vorlas, verglich einer seinen Rezitationsstil mit Goebbels, während der Vorsitzende, H. W. Richter ihn dagegen mit dem „Singsang in der Synagoge“ verglich.¹⁷ Mag sein, dass Celans feierlicher, von einer osteuropäischen oder russischen Tradition beeinflusster Vortragsstil den Zuhörern fremd vorkam, aber so unüberlegte Vergleiche konnten ihn nur verletzen. Ähnliche Erfahrungen machte Celan auch mit der gedruckten Literaturkritik. 1954 eröffnete der Dichter und Literaturwissenschaftler Hans Egon Holthusen eine Darstellung der Lyrik Celans im Merkur mit den Worten: „In Paul Celan, der am östlichen Rande des deutschen Sprachgebiets, in Czernowitz, geboren wurde und seit vielen Jahren in Paris lebt, begegnet uns ein Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede.“¹⁸ Was Holthusen besonders zu befremden schien, war gerade Celans Handhabung seines lyrischen Ausdrucks, wie ich ihn hier in Übereinstimmung mit Enzensberger als „Weltsprache der modernen Poesie“ be-
So die Erinnerung von Walter Jens. S. dazu W. Emmerich 1999, S. 91 ff. S. dazu auch die Darstellung der Veranstaltung bei H. Böttiger, In der Todesmühle, Die Zeit 27.1. 2015. https://www. zeit.de/kultur/literatur/2015 - 01/thomas-gnielka-auschwitz [abgerufen am 9.9. 2020]. H. E. Holthusen, Fünf junge Lyriker II. Merkur Jg. 8, 1954, H. 74, S. 378 – 390. Hier S. 385.
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zeichne. Irritierend fand Holthusen, dass Celan in Mohn und Gedächtnis „gewisse Prinzipien der modernen französischen Lyrik auf die deutsche Sprache zu übertragen scheint.“¹⁹ Für die Todesfuge fand er zwar lobende Worte, doch als der SSVeteran Holthusen später anlässlich einer Rezension des Gedichtbandes Die Niemandsrose auf ein Gedicht aus Mohn und Gedächtnis zurückkam, sprach er von „in X-Beliebigkeiten schwelgende Metaphern“ und weigerte sich hartnäckig, irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Gedicht und den Vorgängen in Auschwitz zu erkennen.²⁰ Der in Paris lebende jüdische Dichter blieb in der deutschen Kritik weiterhin stigmatisiert. Noch 1959, als Celan kurz vor dem Zenit seines Ruhms war, erlaubte sich der prominente Literaturkritiker Günter Blöcker erneut das Argument des Außenseitertums als Erklärung für die Besonderheiten des Celanschen Ausdrucks anzubringen: Celan hat der deutschen Sprache gegenü ber eine größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade dadurch oftmals verführt, im Leeren zu agieren.²¹
Dabei verriet Blöcker ein grundsätzliches Missverständnis, denn es geht in Celans Lyrik um „Mehrdeutigkeit ohne Maske“²². Das bedeutet eben nicht, dass keine Kommunikation stattfindet. Im Gegenteil, Celans Gedichte sind ausgesprochen dialogisch, indem sie zwangsläufig den aufmerksamen Leser in den Sinngebungsprozess einbinden und indem sie gleichzeitig an einem Zeit und Raum übergreifenden intertextuellen Gespräch teilhaben.²³ 1960 wurde Celan mit dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geehrt. Die Rede, die er zu diesem Anlass verfasste, ist nichts Geringeres als eine ausformulierte Poetik, die den dialogischen Charakter
Ebd. Es ging u. a. um den Ausdruck „Mühlen des Todes“ aus dem Gedicht „Spät und tief“, der, wie Peter Szondi in einem Leserbrief anmerkte, auch im Frankfurter Auschwitz-Prozess gefallen war. Zur Kontroverse s. Emmerich 1999, S. 126 f. G. Blöcker, Gedichte als graphische Gebilde (Rezension zu Sprachgitter), Der Tagesspiegel 11.10.59, abgedruckt in: Paul Celan, Peter Szondi, Briefwechsel, Hg. v. Christoph König. Frankfurt/ M. 2005, S: 79 – 81. Hier S. 80. So Celan im Gespräch mit Hugo Huppert 1966 (H. Huppert: Sinnen und Trachten, Halle/Saale 1973, S. 32). Im selben Gespräch distanziert er sich von seiner „Todesfuge“, die in den zwei Jahrzehnten seit Erscheinen durch die Rezeption „lesebuchreif gedroschen“ sei. S. dazu Chr. Parry, Meridian und Flaschenpost. Intertextualität als Provokation des Lesers bei Paul Celan. In: Celan-Jahrbuch 6 (1995), S. 25 – 50.
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seines Lyrikverständnisses offenbart. In der Rede kombiniert er seinen Dank für den renommierten Preis mit Reflexionen über Georg Büchner und Hinweisen auf die Grundlagen seiner eigenen Dichtung und die Prinzipien ihrer Ausformung. Der Vortragsdiskurs ist so vielschichtig wie seine Gedichte. Celans Bemerkungen zum Werk Georg Büchners gehen weit über die bei derselben Veranstaltung üblichen Höflichkeiten hinaus. Die vorgestellte Lesart, bei der es um dessen Dantons Tod, Woyzeck und Lenz geht, beleuchtet Celans kombinatorischen Umgang mit Literatur und bietet somit das Muster für ein kritisches Verfahren, mit dem man seiner eigenen polysemen Lyrik begegnen kann. An dieser Stelle kann nicht im Einzelnen auf die Rede eingegangen werden, doch verdient die zentrale Metapher, der Meridian als eine gedachte Linie, die Disparates verbindet, genauere Betrachtung. Denn der Meridian, auf den die Rede zuläuft, verbindet reale Geographie mit Literaturgeschichte und Celans eigener Biographie. Büchners Erzählung Lenz, der den Aufenthalt des Dramatikers J. M. R. Lenz im Elsass im Jahre 1785 behandelt, fängt mit der Nennung eines Datums an: „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“ Auf Celans chronotopischem Meridian ruft das Datum die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, bei der die Deportation sämtlicher europäische Juden in die Vernichtungslager beschlossen wurde, in Erinnerung. Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben? Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?²⁴
Celans Meridian verbindet dazu auch rein geographisch die Heimat Lenz’ mit seiner eigenen in der Bukowina, dem „Nichts“, das nur noch auf einer „KinderLandkarte“ zu finden ist.²⁵ Zieht man die Linie von Lenz’ livländischer Herkunft bis zur Bukowina und weiter zum Schwarzen Meer, dann ist man bei den Koordinaten jener anderen literarischen Landschaft, der Celans Dichterkollege Johannes Bobrowski mit seinem poetischen Werk ein Denkmal setzte, Sarmatien. Celans Gedichte aus dem Zeitraum des Meridians, die im Band Die Niemandsrose versammelt sind, bewegen sich auf derselben Kinder-Landkarte und bleiben gleichermaßen des Schicksals der europäischen Juden eingedenk. Der Band zeichnet sich innerhalb von Celans Werk dadurch aus, dass er besonders viele Dichternamen nennt. Der Band ist dem Andenken des russischen Dichters Osip Mandelštam gewidmet, mit dessen Gedichten Celan sich in den Jahren davor P. Celan, Der Meridian, Gesammelte Werke, Bd. III, Frankfurt/M. 1983, S. 196. P. Celan, Der Meridian, Gesammelte Werke, Bd. III, S. 202.
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sehr intensiv als Übersetzer beschäftigt hatte und in dem er einen besonderen Seelenverwandten erblickte. Im Band gibt es nicht nur zahlreiche Anspielungen auf Mandelštam, sondern auch auf Märchen,Volkslieder und viele andere Dichter von Villon über Heine und Verlaine bis Zwetajewa und Nelly Sachs. Der Band ist auch durchsetzt von kleinen Zitaten, oft in anderen Sprachen als Deutsch und kann somit, trotz des von Celan selbst geäußerten Misstrauens gegen Mehrsprachigkeit in der Lyrik,²⁶ als beispielhaft für das produktive Potenzial der Weltsprache der Poesie“ bezeichnet werden. Mit dem Zitat „Все позты жиды (Alle Dichter sind Juden)“ von Marina Zwetajewa, das dem Gedicht „Und mit dem Buch aus Tarussa“ als Motto vorangestellt ist, werden das Dichterdasein und das Schicksal des europäischen Judentums zusammengeführt. Das Gedicht endet mit einem geographischen Namen aus mythischer Vorzeit, „Kolchis“, der Heimat der im Exil zugrunde gegangenen Medea. Die Identitätssuche des Dichters, wie sie in der Büchnerpreisrede angedeutet und in den Gedichten der Niemandsrose thematisiert wird, findet in einem intertextuellen Geflecht aus autobiographischen und literarischen Anspielungen statt. Im Gedicht „Es ist alles anders“, stellt sich die Frage nach Heimat als literarisches Rätsel: wie heißt es, dein Land hinterm Berg, hinterm Jahr? Ich weiß, wie es heißt. Wie das Wintermärchen, so heißt es, es heißt wie das Sommermärchen, das Dreijahreland deiner Mutter, das war es, das ists. es wandert überallhin, wie die Sprache, wirf sie weg, wirf sie weg, dann hast du sie wieder, […] ²⁷
Das Land heißt wie das Wintermärchen. Man denkt an Heine, bei dem das Wintermärchen explizit Deutschland heißt, aber man kann auch an Shakespeares The Winter’s Tale denken, das im kontrafaktischen „Böhmen am Meer“ spielt.²⁸
Auf die Umfrage der Pariser Buchhandlung Flinker zum „Problem der Zweisprachigkeit“ im Jahre 1961 schrieb er „An Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht. […] Dichtung – das ist schicksalhaft Einmaligkeit der Sprache. (Celan, Gesammelte Werke, Bd. III, S. 175). P. Celan, Die Niemandsrose, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 285. Das utopische Land „Böhmen am Meer“ ist zu einem Topos geworden, der u. a. von Ingeborg Bachmann und von Enzensberger in seinem Essayband Ach Europa (Frankfurt/M. 1987) aufgegriffen wird.
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Zwischen Heines Deutschland, ein Wintermärchen und der Niemandsrose bestehen Parallelen sowohl im politischen als auch im persönlichen Bereich. Im ersten Caput von Heines Wintermärchen hört der Dichter bekanntlich ein Harfenmädchen „mit wahrem Gefühle / und falscher Stimme: […] das alte Entsagungslied / Das Eyapopeya vom Himmel“ singen. Heines Dichter-Ich setzt dagegen ein utopisches „Gegenwort“, das Lied vom freien Europa: Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten! Die Jungfer Europa ist verlobt Mit dem schönen Geniusse Der Freiheit, sie liegen einander im Arm, Und schwelgen im ersten Kusse.²⁹
Auch im Ausdruck „das Dreijahreland deiner Mutter“ ist ein Nachhall von Heines Wintermärchen spürbar, denn bei Heine bildet die Mutter die wichtigste Bindung zur deutschen Heimat so wie Celan vor allem seine Mutter mit der deutschen Muttersprache verband. Sowohl im Wintermärchen als auch in den kürzeren, thematisch verwandten „Nachtgedanken“ ironisiert Heine sein „Heimweh“. „Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,/ wenn nicht die Mutter dorten wär“ heißt es in den „Nachtgedanken“. Dass bei Celan die Bezeichnung „Wintermärchen“ im folgenden Vers durch „Sommermärchen“ ersetzt wird, weist eine Ambiguität auf, die auch bei Heine vorgeprägt ist. Denn auch Heine kontrastiert das winterlich düstere Deutschland mit dem sommerlich hellen Frankreich.³⁰ Im Gedicht, das Die Niemandsrose abschließt, „In der Luft“,³¹ wird noch einmal die Frage der Heimat gestellt. Zugleich geht es um den Standort der Poesie überhaupt: Groß geht der Verbannte dort oben, der Verbrannte: ein Pommer, zuhause im Maikäferlied, das mütterlich blieb, sommerlich, hell-
H. Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von M. Windfuhr, Bd. 4, S. 91 ff. Die „Nachtgedanken“ beginnen den Versen „Denk ich an Deutschland in der Nacht/ Dann bin ich um den Schlaf gebracht“ und schließen mit der Strophe: „Gottlob! durch meine Fenster bricht/ Französisch heiteres Tageslicht;/ Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,/ Und lächelt fort die deutschen Sorgen.“ Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 129 f. P. Celan, Die Nemandsrose, GWI, S. 290 f.
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blütig am Rand aller schroffen, winterhart-kalten Silben.
Hier schließt sich der Kreis. Die Verbannung selbst ist die Heimat vieler der in der Niemandsrose zu Wort kommenden Dichter. Das Pommernland des Liedes ist bekanntlich abgebrannt. Es lebt aber literarisch fort wie das Czernowitz von Celans Jugend. In der folgenden Strophe wird erneut die Metapher des Meridians bemüht: Mit ihm wandern die Meridiane: angesogen von seinem sonnengesteuertem Schmerz, der die Länder verbrüdert nach dem Mittagsspruch einer liebenden Ferne. […]“
In den letzten Gedichten der Niemandsrose wird also die Frage nach Identität und Herkunft mit besonderer Dringlichkeit gestellt. Als Antwort auf diese Frage rücken immer wieder die Sprache und die Dichtung in den Vordergrund. Das jüdisch geprägte Czernowitz seiner Kindheit mag unwiederbringlich verloren sein, aber Sprache und Dichtung bieten eine sehr reale Identitätsgrundlage. Celans Gedichte artikulieren Verlust, Einsamkeit und die ganze Katastrophe des 20. Jahrhunderts mit einmaliger Kraft. Doch dem Dichter selbst fehlte diese Kraft. Für ihn waren die 60er Jahre mit längeren Aufenthalten in der Psychiatrie und der Trennung von der Familie sehr unglücklich. Den letzten, nicht immer sicheren Halt bot eben die Arbeit an Gedichten – den eigenen und Übersetzungen. Darum war Celan überaus empfindlich, wenn sein Werk angegriffen wurde, wie in der notorischen von Claire Goll ausgelösten Plagiatsaffäre. Lesereisen nach Deutschland trat er argwöhnisch an und war immer wieder enttäuscht von ihrem Ertrag. Einen Lichtblick in seinem letzten Lebensjahr bot eine lange hinausgezögerte Reise nach Israel. Dort wurde er gut empfangen und lernte andere Dichter kennen, die aus Mitteleuropa geflohen waren und teils ihre Dichtungssprache vom Deutschen zum Hebräischen gewechselt hatten. Vor allem begegnete er noch mehreren Bekannten aus seiner Czernowitzer Zeit. Dort flammte auch sein Verhältnis zur Jugendbekannten Ilana Shmueli auf, mit der er in seinen letzten Monaten einen intensiven Briefwechsel führen sollte. Zu einem Umzug nach Israel, der ihm vielleicht die Möglichkeit eines Neubeginns geboten hätte, konnte er sich
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jedoch nicht entschließen. Er kehrte zurück nach Europa in das herbstlich kalte Paris, da er nun einmal die Entscheidung getroffen hatte, das Schicksal der europäischen Juden bis zum bitteren Ende auszuleben.³² In Paris, der „bedornten Balme“, wie er die Stadt in einem Gedicht im späten Band Schneepart nannte,³³ holte ihn die ganze Schicksalslast wieder ein. Sehr im Sinne des genannten Gedichts schrieb er an Ilana Shmueli: „Jerusalem hat mich aufgerichtet und gestärkt. Paris drückt mich nieder und höhlt mich aus. Paris, durch dessen Straßen und Häuser ich soviel Wahnlast, soviel Wirklichkeitslast geschleppt habe all diese Jahre.“³⁴ Das Schicksal des Dichters und das weitere Schicksal seines Werkes klaffen weit auseinander. Von einer doppelten Randposition abseits der Nation und der Nationalliteratur aus konnte Celan seine deutsche Muttersprache in eine besonders ergiebige Synthese mit der „Weltsprache der modernen Poesie“ einbringen, und es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade seine Lyrik, trotz ihrer berüchtigten „Schwierigkeit“, wie kaum die eines anderen zeitgenössischen deutschsprachigen Dichters international anerkannt wurde und unzählige Übersetzungen, Vertonungen und Kunstwerke angeregt und befruchtet hat.³⁵
Die Blechtrommel als europäischer Roman? In Paris lernte Paul Celan 1956 einen jungen Künstler aus Danzig kennen, der gerade an seinem ersten Roman arbeitete.³⁶ Der Roman, Die Blechtrommel, sollte der erste große internationale Erfolg der deutschsprachigen Literatur seit dem Zweiten Weltkrieg werden.³⁷ Der Autor, Günter Grass, war im Danzig der 30er Jahre aufgewachsen und war am Ende des Zweiten Weltkriegs im Zuge der Massenflucht vor der heranziehenden Roten Armee nach Westdeutschland gezogen. Wie Celan verlor auch Grass die Heimat, in der er aufgewachsen war. Wie Czernowitz, machte auch Danzig eine totale Wandlung durch, vom mehrsprachigen multi-
J. Felstiner, Paul Celan, New Haven 1995, S. 267. P. Celan, Schneepart, Gesammelte Werke, Bd. II, S. 351. Die Gedichtstrophe lautet: „Eingejännert/ in der bedornten / Balme. (Betrink dich/ und nenn sie/ Paris.)“ Brief datiert 27. Oktober 1969. Paul Celan, Ilana Shmueli Briefwechsel, Frankfurt/M. 2004, S. 16. Vertonungen gibt es u. a. von A. Reimann, G. Kantscheli und H. Birtwistle. In der Malerei ragt die Auseinandersetzung Anselm Kiefers mit der Dichtung Pauls Celans heraus. Zur Bekanntschaft mit Celan s. G. Grass:, Beim Häuten der Zwiebel. München 2008, S. 474– 479. Julian Preece nennt Die Blechtrommel einen „Weltroman“. J. Preece, The Life and Works of Günter Grass. Basingstoke, New York 2001, S. 34.
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kulturellen Freistaat unter dem Schutz des Völkerbunds zum rein polnischen Gdansk. Allerdings wurde Danzig, anders als das exotische Czernowitz, noch nach dem Krieg in Deutschland mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, wenn nicht als deutsche so doch immerhin als ehemals deutsche Stadt empfunden. Es ist nicht zuletzt das Verdienst von Grass’ Blechtrommel, dass das Danzig der Zwischenkriegsjahre überhaupt im öffentlichen Gedächtnis lebendig geblieben ist. Anders als Celan, wurde Günter Grass in Deutschland auch nie als „Fremdling“ empfunden, auch wenn er im Roman und im Leben gerne seine Sympathie mit Polen und dem kaschubischen Element seiner Herkunft unterstrich. Während der Roman, wie auch die ihm folgenden zwei Teile der sogenannten Danziger Trilogie, Erfahrungen aus einem kulturellen Grenzraum verarbeitet und seinen Erfolg, wie zu zeigen sein wird, zum Teil seiner Anknüpfung an eine übernationale Erzähltradition verdankt, wurde Grass selbst von vornherein als deutscher Autor wahrgenommen. Bald wurde er nicht nur zu einem der namhaftesten westdeutschen Nachkriegsautoren, sondern zu einer prominenten Figur im öffentlichen Leben der Bundesrepublik. Sein unentwegtes politisches Engagement, zunächst im Wahlkampf für Willy Brandts SPD, trug nicht wenig zur mühsam errungenen Normalisierung des Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft in den sechziger Jahren bei. Die Blechtrommel erschien 1959, dem Jahr, das häufig als annus mirabilis der westdeutschen Nachkriegsliteratur bezeichnet worden ist, da neben Grass’ Roman auch weitere bemerkenswerte Neuerscheinungen wie Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob und Heinrich Bölls Billard um halbzehn den Buchmarkt erfrischten. Die größte Überraschung bzw. Provokation des Jahres dürfte jedoch Die Blechtrommel gewesen sein mit ihrem ungewöhnlichen Erzähler und Protagonisten Oskar Matzerath, der zum dritten Geburtstag eine Blechtrommel bekommt und beschließt, nicht weiter zu wachsen, gewesen sein. Dreijährig klein bleibt er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Sein weiteres Wachstum nach Kriegsende hinterlässt eine deutliche Deformation. Das kann man als Allegorie auf die deutsche Geschichte der 30er bis 50er Jahre lesen. Die satirische Pointe wird weiter dadurch erhöht, dass Oskar seinen bisherigen Lebenslauf dem Pfleger in einer Nervenheilanstalt beichtet. Die eigentliche Provokation ergab sich aus den zahlreichen Episoden mit obszönem, erotischem oder auch nahezu blasphemischem Gehalt, die dem waltenden christlich konservativen Geist der 50er Jahre entschieden widersprachen. Obwohl Oskar keineswegs als Porträt des Autors verstanden werden kann, so folgt der Roman weitgehend den Stationen von Grass’ eigenem Leben. Der Roman ist nach historischen Abschnitten in drei „Bücher“ unterteilt, von denen die ersten beiden – die Kindheit bis zu den Novemberpogromen 1938 und die Kriegsjahre –
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weitgehend in Danzig spielen, während der dritte Teil gewissermaßen ein Nachspiel in der jungen Bundesrepublik bildet. Es sind die ersten beiden Teile, die in der Rezeption den stärksten Eindruck hinterließen, während der dritte Teil mit seiner oft beißenden Satire auf die Restaurationsstimmung weniger kommentiert wurde. Bezeichnenderweise wurde dieser Teil bei der Verfilmung durch Volker Schlöndorff 1979 ganz ausgelassen. So ist das Buch in die Literaturgeschichte vor allem als Danzig-Roman und nicht als Roman über Düsseldorf eingegangen. Grass bemerkte später mit gespielter Bescheidenheit, wie überrascht er war, als der amerikanische Verleger Kurt Wolff den Roman in englischer Übersetzung herausbringen wollte. Auf Wolffs Frage, ob er denke, dass amerikanische Leser ihn verstehen würden, habe er gemeint, das Milieu sei zu provinziell, sei nicht einmal die ganze Stadt Danzig, sondern vor allem einer ihrer Vororte. Darauf habe Wolff geantwortet, dass jede große Literatur im Provinziellen wurzele.³⁸ Das mag zum Teil stimmen, dürfte aber als Verallgemeinerung ziemlich gewagt sein. Es erklärt auch nicht, weswegen unter zahllosen Romanen mit einem provinziellen Hintergrund ausgerechnet dieser Roman in den Kanon der Weltliteratur aufsteigen würde. Kurt Wolffs Zuversicht erwies sich jedoch als durchaus berechtigt. Mit der Blechtrommel hat Grass für das Danzig der Zwischenkriegsjahre das getan, was Joyce für Dublin erreicht hatte. In Wirklichkeit war Danzig zwischen den Weltkriegen gar nicht so provinziell. Wie Celans Geburtsort Czernowitz war auch Danzig mehrsprachig und multikulturell und darüber hinaus war es Hafenstadt. Gerade wegen der gemischten Bevölkerung wurde Danzig infolge des Versailler Vertrags als Mandatsgebiet des Völkerbundes verwaltet und weder Deutschland noch Polen zugeteilt. Es ist bezeichnend, dass Grass’ Roman von Anfang an die Völkermischung hervorhebt. Sein Protagonist, der kleingebliebene Trommler Oskar, Sohn einer kaschubischen Mutter, weiß nicht, ob sein biologischer Vater ihr Ehemann, der rheinländische Kleinkaufmann Alfred Matzerath, oder ihr Geliebter, der polnische Postbeamte Jan Bronski ist. Aus dieser Perspektive kann die ethnische Reinheitsideologie der Nazis nur vollkommen absurd wirken. Dass die Nazis und ihre ideologische Grundlage im Nationalismus nicht einfach verurteilt, sondern geradezu lächerlich gemacht werden, dürfte das entscheidend Neue an diesem Roman im Kontext seiner Entstehungszeit sein. Romane wie Bölls Billard um halbzehn vom selben Jahr oder Christian Geißlers Anfrage, 1960 erschienen, gingen sehr scharf mit dem Nationalsozialismus und seinem anhaltenden Nachhall in der jungen Bundesrepublik ins Gericht, aber ihr
Grass im Vorwort zur zweiten englischen Blechtrommel-Übersetzung von Breon Mitchell, The Tin Drum, London 2010, S. vii.
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moralisierender und geradezu didaktischer Tonfall war weit entfernt von Günter Grass’ karnevalistischem Zugang zum Thema. Ähnlich wie Anderschs Sansibar oder der letzte Grund boten diese Romane mit ihren ehrlichen Normalbürgern und bösen Nazis ein vereinfachtes schwarz-weißes Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse. Bölls Roman ist zum Beispiel mit seinem Gegensatz zwischen dem „Sakrament des Lammes“ und dem „Sakrament des Büffels“ und seinen drei Generationen von Architekten, die eine Abtei bauen, zerstören und wiederaufbauen, ausgesprochen allegorisch. Bei Grass kommt die Allegorie dagegen ohne moralisierende Verpackung aus. Mit der Unterbrechung von Oskars Wachstum an seinem dritten Geburtstag benutzt Grass in der Blechtrommel zwar einen ähnlichen Kunstgriff als Anspielung auf die Unterbrechung der Demokratie, doch lässt er ansonsten anstelle einer ostentativen „Vergangenheitsbewältigung“ seinem karnevalistischen Narrativ freien Lauf. Die groteske Gestalt Oskars erhebt keinen anklagenden Zeigefinger oder Trommelstock auf die ihn umgebende Erwachsenenwelt. Oskar registriert nur die Defekte dieser Welt und seine eigenen keineswegs unschuldigen Interventionen tragen weiter dazu bei, die protofaschistische Selbstzufriedenheit der Erwachsenenwelt zu entlarven. Mit seiner hartnäckigen Weigerung weiterzuwachsen bleibt er ein Kind in der Art und Weise, wie er die Welt beobachtet, ohne sie zu analysieren oder beurteilen. Oskar ist jedoch Kind nur soweit es von Vorteil bleibt. Seine sexuelle Reife als Jugendlicher steht im scharfen Kontrast zu seinem Wuchs, und die Aufmerksamkeit die Grass dieser Thematik schenkt, gehört zu den vielen menippeischen Aspekten des Romans. So wird in diesem Roman das moralische wie das politische Urteil weitgehend den Lesern überlassen. Sein Konzept erklärte Grass nachträglich gegenüber dem Westdeutschen Rundfunk so: Vielleicht gelang es dem Autor, einige neu anmutende Einsichten freizuschaufeln, schon wieder vermummtes Verhalten nackt zu legen, der Dämonisierung des Nationalsozialismus mit kaltem Gelächter den verlogenen Schauer regelrecht zu zersetzen und der bis dahin ängstlich zurückgepfiffenen Sprache Auslauf zu schaffen; Vergangenheit bewältigen konnte (wollte) er nicht.³⁹
Dadurch erreichte er einerseits einen größeren Unterhaltungseffekt, aber andererseits auch eine gewisse Verunsicherung der Leserschaft, indem er ihren noch vorhandenen ideologischen Gewissheiten in Bezug auf Patriotismus und bür-
G. Grass, Rückblick auf die Blechtrommel, ausgestrahlt vom Westdeutschen Rundfunk am 16.12.1973. Druckfassung in: Süddeutsche Zeitung 12.1974. Nachgedruckt in Günter Grass: Werkausgabe in zehn Bänden, Bd. 9, München 1987, S. 625.
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gerlichen Anstand einfach den Boden entzog. So kam es, dass der Roman in der deutschen Tageskritik sehr ambivalent aufgenommen wurde. Einige Kritiker wie Hans Magnus Enzensberger waren hell begeistert,⁴⁰ während andere im Literaturbetrieb schon länger etablierte Kritiker das Buch gleich ablehnten. Dabei bot die amoralische Gestalt des Protagonisten den Kritikern eine willkommene Gelegenheit, von der impliziten Gesellschaftskritik abzulenken. Lieber als in den Spiegel hineinzublicken, den Oskar ihnen vorhielt, um die politische Scheinmoral des Kleinbürgertums zu entlarven, empörten sie sich über Oskars Tabubrüche. Günter Blöcker nannte ihn in seiner Rezension „eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Abscheulichkeit“.⁴¹ Blöcker präzisierte seine Kritik an der Blechtrommel 1963 anlässlich einer Rezension von Grass’ nächstem großen Roman Hundejahre. Nun hieß es, dass die Fokalisierung durch die Oskar-Gestalt dem Ernst und der Wichtigkeit des zugrundeliegenden Themas nicht angemessen sei: Was ,Die Blechtrommel‘ zum Ärgernis machte, waren ja nicht so sehr die Auswüchse der Grass’schen Fäkalphantasie; es war das Verfehlen eines großen Themas. Daß der Erzähler das nur allzu berechtigte Aufbegehren gegen die depravierte Welt der Erwachsenen einem Wesen anvertraute, das aus dem Protest notwendigerweise eine Grimasse machen mußte – dieses „verfratzt schon aus der Wurzel“, das aus dem Balg des Trommlers tönte, war es, was Mißbehagen schuf.⁴²
Doch gerade in diesem „Ärgernis“ liegt der Schlüssel zum Erfolg des Romans. Angesichts des Ausmaßes der Naziverbrechen war ein drastischer Zugriff durch die Literatur notwendig. Die sanfte Allegorie von Werken wie Bölls Billard um halbzehn reichte eben nicht. Es bedurfte, wie Grass sagte, stärkerer Mittel, um „der Dämonisierung des Nationalsozialismus mit kaltem Gelächter den verlogenen Schauer regelrecht zu zersetzen“. Hinter den Vorbehalten der deutschen Literaturkritik auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders, das die Erinnerungen an die zurückliegenden Jahrzehnte zuzuschütten drohte, verbarg sich das schlechte Gewissen um jenen „verlogenen Schauer“. Außerhalb der verkrampften Atmosphäre der westdeutschen Feuilletons war die Kritik in der Regel aufgeschlossener. Im Nachhinein sieht es aus, als hätte
H. M. Enzensberger, Wilhelm Meister, auf Blech getrommelt (Besprechung im Süddeutschen Rundfunk am 18.11.1959, nachgedruckt in: Von Buch zu Buch. Günter Grass in der Kritik, hg. von Gert Loschütz, Neuwied, Berlin: 1968, S. 8 – 12. G. Blöcker, Rückkehr zur Nabelschnur, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1959. Abgedruckt in Loschütz (Hg.) 1968, S. 21– 24. hier S. 22. FAZ 14.9.1963, nachgedruckt in Günter Blöcker, Literatur als Teilhabe. Kritische Orientierungen zur literarischen Gegenwart, Berlin 1966, S. 24.
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gerade die doppelte Provokation der Blechtrommel, der Tabubruch bezüglich der Komplizenschaft der Bevölkerung am Faschismus und die amoralische Gestalt Oskars, den internationalen Erfolg bewirkt. Dass überhaupt ein solches Buch aus Deutschland kommen konnte, war geradezu eine Sensation, denn es widerlegte das eingefahrene Vorurteil über die Schwerfälligkeit der deutschen Literatur, das bis heute noch gelegentlich in Erscheinung tritt. Noch Ende der 90er Jahre konnte Pascale Casanova behaupten, dass für viele Leser das Adjektiv „deutsch“ mit Schwere, Humor- und Stillosigkeit verbunden sei.⁴³ Zum Teil liegt das an der relativen Unbekanntheit der modernen deutschen Literatur im Ausland. Nach Weltkrieg und Faschismus hatten deutsche Bücher im europäischen Ausland einen besonders schweren Stand. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war die moderne deutschsprachige Literatur im Ausland nur durch Autoren vertreten, die vor 1933 publiziert hatten oder im Exil schrieben. Geschätzt wurden etwa Franz Kafka, Thomas Mann, Bertolt Brecht und Stefan Zweig. Nun kam mit der Blechtrommel ein Buch auf den Markt, das zwar weitgehend in Paris entstanden war, aber eindeutig die deutsche Gegenwartsliteratur vertrat. Es war zwar etwas lang, doch Schwerfälligkeit konnte man ihm kaum vorwerfen. In der ersten Phase der Rezeption im europäischen Ausland wurden zwar wie in Deutschland selbst die Obszönitäten im Roman kontrovers diskutiert, doch die literarische Qualität des Werks wurde selten in Frage gestellt. Gewisse Aspekte, die in Deutschland die Gemüter erregt hatten, wie etwa die ganze Thematik der Heimatvertriebenen, wurden weniger notiert. Anderen Aspekten wurde wiederum punktuell mehr Aufmerksamkeit zugewandt. So wurde die Veröffentlichung einer Übersetzung sowohl in Italien als auch in Polen aus Rücksichtnahme auf die Gefühle einer katholischen Leserschaft hinausgezögert.⁴⁴ Im kommunistisch regierten Polen boten die religiösen Bedenken einen guten Vorwand, politische und ästhetische Zensur zu verdecken. In Frankreich wurde der Roman früh übersetzt und wohlwollend aufgenommen. Man erkannte darin den Anschluss an die vertraute menippeische Tradition des Pikaresken. Das stimmte mit den Angaben des Autors überein, der als Einflüsse Rabelais und Charles de Costers Bearbeitung der Legenden um Till Eulenspiegel nannte.⁴⁵ Durch die Betonung des Pikaresken wurde der Roman quasi entnationalisiert und in den Kontext einer großen europäischen Tradition
P. Casanova, The World Republic of Letters 2004, S. 167. S. dazu die Beiträge von Miroslaw Ossowski und Eva Banchelli in: The Echo of Die Blechtrommel in Europe, hg. von J. Joosten und Chr. Parry, Leiden, Boston 2016. Grass nennt de Costers Werk „Ein pralles Gemenge erzählter Zeitläufte, das meiner noch immer gehemmten Schreibwut zum Treibsatz werden sollte“. G. Grass, Beim Häuten der Zwiebel, München 2008, S. 436.
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gesetzt. So konnte die Zügellosigkeit des Romans gezähmt und den Lesern als gattungskonform präsentiert werden. Ähnlichkeiten mit der pikaresken Tradition wurden nicht nur in Frankreich erkannt. Sie wurden zum Beispiel auch in finnischen Rezensionen genannt, wobei sie häufig dazu dienten, den Roman in einem positiven Sinne als untypisch für die deutsche Literatur zu charakterisieren. Einige erklärten das Untypische mit der frivolen Bemerkung, dass der noch wenig bekannte Autor ja schließlich eher Pole als Deutscher sei.⁴⁶ Dass das Schelmenhafte in der deutschen Literatur relativ wenig vertreten ist, fiel auch in den USA auf. In einem Aufsatz von 1966 stellte Willy Schumann Die Blechtrommel neben Thomas Manns Felix Krull (1954) und Alois Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (1953) als Beispiel einer neuen Öffnung in der deutschen Gegenwartsliteratur vor, welche die Destabilisierung bürgerlicher Werte im 20. Jahrhundert registriere. Schumann arbeitete explizit den Gegensatz zwischen dem Schelmenroman und der urdeutschen Gattung des Bildungsromans heraus. Dabei kommt auf unterhaltsame Weise das Vorurteil von der schwerfälligen Ernsthaftigkeit der deutschen Literatur erneut zum Vorschein: Es erhebt sich die Frage nach Gründen für das verhältnismäßig seltene Auftreten des Picaro in der literarischen Landschaft des deutschen Sprachraums. Liegt dem Deutschen der Typ des flinken, schlauen Gauners nicht? Sind die Deutschen wirklich so ‘teutonisch’ unbeweglich, so schwerfällig und ‘tief’ wie man es manchen Ortes gern haben will, daß sie mit dem schnellfüßigen und -züngigen Schelm nichts anfangen können, der die aufgeblasene, hohle und unechte Welt an der Nase herumführt und sie immer wieder in überlegener Weise entlarvt und bloßstellt? Eine noch verwegenere Vermutung: sind die nordischen Sucher aus den großen deutschen Romanen, die Parzivals, Wilhelm Meisters, Heinrich Lees im grünen Anzug, Heinrich Drensdorfs im Rosenhaus, Hans Castorps vom verzauberten Berg auf ihren mühseligen und dornigen Bildungsfahrten dem schlauen, quecksilbrigen südländischen Helden zu fremd, als daß er in ihrer Gesellschaft heimisch werden könnte?⁴⁷
Eine grundsätzliche Ähnlichkeit lässt sich leicht zwischen Schelmenroman und Bildungsroman konstatieren. Sie liegt in der Dominanz der Hauptfigur, des Schelms bzw. des zu bildenden Individuums. Doch darin liegt auch der Unterschied, denn der Schelm bildet sich eben nicht, und wenn doch, dann nur zum Schein. Der Bildungsroman als Produkt der Aufklärung setzt eine Vorstellung von kohärenter Identität des Individuums voraus, die der pikaresken Tradition noch fremd ist. Die Episoden des Schelmenromans fügen sich nicht zu einer Entwick-
S. Chr. Parry, Reception of the First Translation of Günter Grass’s Die Blechtrommel in the Major Finnish Press. In: Joosten, Parry (Hg.), The Echo of Die Blechtrommel, 2016, S.172– 187. Hier S. 180 f. W. Schumann, Wiederkehr der Schelme. In: PMLA 81, H. 7. 1966, S. 467– 474. Hier S. 467.
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lung zusammen, während es im Bildungsroman gerade um die Entwicklung geht. Die Blechtrommel als Bildungsroman zu bezeichnen, käme einer ähnlichen Verzerrung wie der im Roman beschriebenen gleich. Oskar nennt zwar drei Quellen seiner Bildung, Goethe, Rasputin und Frau Greffe, die Frau des Gemüsehändlers, die ihn in die Geheimnisse der Sexualität einweiht. Doch das ist die Travestie von Bildung. Auch wird im Roman ausdrücklich die Bildung oder vielmehr Missbildung des Protagonisten behandelt. Doch geht es dabei, ganz menippeisch, um den Körper und eben nicht um den Geist. Auch das exemplifiziert das „kalte Gelächter“ mit dem Grass die Missbildung der deutschen Gesellschaft im Faschismus und ihre anschließende Verkrüppelung anprangert. Man kann, in Abwandlung von Adornos Diktum in Bezug auf Gedichte fragen, ob denn nicht das Lachen nach Auschwitz barbarisch sei. Nun hat Grass’ Tabubruch, mit dem er die Scheinheiligkeit der Erzählliteratur der 50er Jahre überwand, wesentlich zur Normalisierung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft beigetragen, indem er für die Literatur jene Autonomie zurückgewann, die nach Casanova ihre Stärke ausmacht. Die Wahl der zeitlosen und weltliterarisch bewährten Gattung des Schelmenromans trug bestimmt zum Erfolg der Blechtrommel bei, und der Erfolg des Autors wirkte sich wiederum positiv auf die internationale Stellung der deutschen Nachkriegsliteratur aus. Auf die Tradition des Schelmenromans sollte Grass später mit Das Treffen in Telgte zurückkommen, einem kleinen humoristischen Werk, dessen Witz, um voll ausgekostet werden zu können, gute Kenntnisse der deutschen Literaturgeschichte voraussetzt. Der internationale Erfolg des ersten Romans konnte damit nicht wiederholt werden. Aufgrund dieses ersten großen Erfolgs konnte sich Grass in die erste Reihe der deutschen Nachkriegsautoren stellen und wie kaum ein anderer Schriftsteller außer vielleicht Heinrich Böll in der westdeutschen Öffentlichkeit als Autorität positionieren. Diese Autorität nutzte er sehr bald parteipolitisch zugunsten der SPD Willy Brandts. Seine weiteren Werke und seine Stellungnahmen zu öffentlichen Fragen gingen Hand in Hand, und er fasste seine Autorenschaft in einem ungewöhnlichen Maße als öffentliche Aufgabe auf.⁴⁸ Der Kontrast zu Paul Celan, den inzwischen international anerkanntesten deutschsprachigen Lyriker der Nachkriegsjahrzehnte, wenn nicht des ganzen Jahrhunderts, könnte nicht größer sein.Während Grass in die Mitte des deutschen Literaturbetriebs preschte, hielt sich Celan noch als bereits renommierter Lyriker bis an sein Lebensende am Rande auf. Mit seinem Festhalten an der deutschen Sprache hatte er, abgesehen von seiner Mitarbeit an der Zeitschrift L’Éphémère
S. Rebecca Braun, Constructing Authorship in the Work of Günter Grass, Oxford 2008.
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zum literarischen Leben in Paris kaum Kontakt und am literarischen Leben der Bundesrepublik konnte und wollte er nicht teilnehmen. Seine Gedichte gab er bis zum Schluss als Flaschenpost auf, und sie werden heute noch weltweit von einzelnen Lesern mit Begeisterung aufgefischt
VI Exklaven und Relikte Ach Sprache, meine stumme Braut, sag mir, wo ich zuhause bin.¹ Werner Söllner
Das Europa der Nationen ist zwangsläufig auch ein Europa der En- und Exklaven. Keine Grenzziehung kann die geographische Verteilung der verschiedenen Ethnien und Sprachgruppen genau nachvollziehen. Die Entwicklung des modernen Nationalstaats und die Bestrebung, diese durch weitgehende ethnische und sprachliche Homogenität zu legitimieren, mussten immer wieder an historisch gewachsene Strukturen stoßen, die nicht in das gewollte Bild hineinpassten. Je intensiver sich die großen Nationen um Homogenität und klar umrissene nationale Identitäten bemühten, desto mehr mussten Gruppen, die sprachlich, ethnisch oder religiös nicht hineinpassten, zu Problemfällen werden. Das Ausmaß des Konfliktpotenzials aus dem Zusammenstoß des Bestrebens nach sauberen und klaren Landkarten und der diesen Hohn sprechenden „unordentlichen“ Verteilung der europäischen Ethnien und Sprachgemeinschaften wurde vor allem in den großen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts deutlich. Auf die gewaltsam vollzogene ethnische Flurbereinigung Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte mit der Integrationspolitik in der zweiten Jahrhunderthälfte eine gewisse ideologische Wende, bei der die Heterogenität Europas als mögliche Kraftquelle begriffen wurde. Doch noch nach sechs Jahrzehnten europäischer Integrationspolitik zeigt das Schicksal des ehemaligen Jugoslawiens, dass die Illusion der ethnisch homogenen Nation noch fortdauert und dass die Bemühung, diese zur alleinigen Grundlage des Staatswesens zu machen, letztlich vergeblich sein muss. Bei der Enklavenproblematik braucht es nicht einmal unbedingt um sprachliche Differenzen zu gehen, obwohl die Sprache durchaus politisch instrumentalisiert werden kann, wie das bewusste Entfernen des Bindestichs zwischen Serbisch und Kroatisch allzu deutlich veranschaulicht. Religiöse und kulturelle Differenzen können genau so hartnäckig Enklavenidentitäten begründen. Besonders schwierig kann die Situation für Mitglieder der Mehrheitskultur sein, die zufällig auf dem Gebiet der Minderheitsenklave leben. Als nicht gerade seltenen Extremfall mehrfacher Isolierung ließe sich zum Beispiel die Situation einer protestantischen Familie in einem katholischen Stadtteil in der protestantischen
W. Söllner, Der Schlaf des Trommlers. Gedichte. Zürich 1992, S. 78. https://doi.org/10.1515/9783110706338-008
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Exklave Großbritanniens auf der katholischen Insel Irland anführen. Dabei entsteht ein Geflecht von Identitäten und Bindungen von matrjoschka-artiger Komplexität. Zu einer unbeherrschten Vermehrung von Enklaven und Enklaven in der Enklave hat gerade der Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien geführt. In einer Gesellschaft in der Sprach- oder Glaubensgrenzen signifikant sind und die Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Kollektiv auch die Erreichbarkeit sozialen und wirtschaftlichen Wohlstands beeinflussen kann, ist das ständige Dazwischen bestenfalls belastend – im irischen oder jugoslawischen Fall oft tragisch. Unter Enklaven verstehe ich solche Gebiete, die sich sozial, religiös oder sprachlich von ihrem Umland unterscheiden.² Oft wird diesen Unterschieden in der einen oder anderen Form, etwa durch Gewährung einer gewissen Autonomie, politisch Rechnung getragen, doch ist das für die vorliegenden Überlegungen nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr die innere Kohärenz der betroffenen Gemeinschaft und ein internes Verhalten, das die Differenz zur umgebenden Gesellschaft betont. Es ist ein Verhalten, das sich oft an archaische Gesellschaftsund Bewusstseinsstrukturen klammert. Für den Enklavencharakter der Sprachinsel ist auch der territoriale Anspruch an sich wichtig. Anders als die Einwanderergemeinschaften in den größeren Städten Amerikas und Europas, deren Zustandekommen in der Regel neueren Datums ist und sich der Mobilität ihrer eigenen Mitglieder verdankt, sind Sprachinseln wie das schwäbische Banat das Ergebnis viel älterer Migrationsbewegungen, und der territoriale Anspruch hat sich über Jahrhunderte befestigt. Dabei braucht es sich nicht unbedingt um ein geschlossenes Gebiet zu handeln. Als Enklave kann die Sprachinsel porös sein, und es kann durchaus vorkommen, dass zwei oder mehr Sprachgemeinschaften dort in engerer Nachbarschaft beieinander wohnen. Trotzdem erheben die Bewohner der Sprachinsel einen Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet als ihre Heimat. Im Gegensatz etwa zum sorbischen Gebiet in Deutschland sind die fortwährend kleiner und seltener werdenden deutschen Sprachinseln in Europa Enklaven und Exklaven zugleich. Aus der Sicht des jeweiligen Nationalstaates sind es Enklaven, vom Standpunkt der deutschen Sprache aus gesehen Exklaven. Das hat Konsequenzen für das von der jeweiligen Minderheit propagierte Heimatgefühl. Die reale Heimat ist die Enklave innerhalb der anderen Nation. Doch durch die Exklavensituation gegenüber dem Kern des deutschen Sprachraums öffnet sich die Aussicht auf eine weitere nationale Heimat, das territorial ferne aber
Zu dieser sozialwissenschaftlichen Bestimmung des Begriffs vgl. E. Vinokurov A Theory of Enclaves, Lanham MD 2007, S. 10.
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sprachlich nahe Deutschland, oder, seltener, das etwas nähere Österreich.³ Die Bezugnahme auf eine solche extraterritoriale Heimat kann sehr leicht die Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn verschlechtern. Je stärker sich die vorwiegende Monoglossie in den einzelnen Ländern und Regionen durchsetzt, desto mehr kommt der latente Antagonismus zwischen Enklavenbewohnern und der umgebenden Gesellschaft zum Vorschein. Gleichzeitig erhöht sich nach Innen der Druck zur gesellschaftlichen Konformität. Die nationale oder regionale Mehrheit wird leicht als Bedrohung empfunden, auch wenn sie auf lokaler Ebene, wie etwa in Südtirol, die Minderheit bildet.⁴ Die Angst um den Erhalt der eigenen kollektiven Identität beeinträchtigt die Zusammenarbeit über die Enklavengrenzen hinaus und führt leicht zur Isolierung jener Individuen, die in der einen oder anderen Weise von der Norm abweichen oder die waltende Belagerungsstimmung nicht vollkommen teilen. In der Folge breitet sich leicht eine Untergangsstimmung aus, die für jede kulturelle Produktivität hinderlich wirkt und schließlich den Untergang selbst beschleunigt. Der Druck zur Konformität, der auf den individuellen Mitgliedern der Sprachgemeinschaften lastet, erklärt sich aus der besonderen Bewandtnis der kollektiven Identität kleinerer Kollektive, die, um bestehen zu können, der ständigen Bestätigung bedarf. Wie Jürgen Straub feststellt, konstituiert sich das Kollektiv nicht ein und für allemal, sondern kontinuierlich durch das Bekenntnis der Mitglieder und die Anerkennung der Nachbarn. Führt man diesen Gedanken weiter in Bezug auf die Enklavensituation, lässt sich erkennen, dass isolierte Gemeinschaften desto mehr Bekenntnis von ihren Mitgliedern verlangen, je mehr sie um äußere Anerkennung ringen müssen. Dieser Mechanismus beschränkt sich natürlich nicht auf kleine Enklaven – der Faschismus hat im 20. Jahrhundert mit ähnlichen Folgen für die Bürger ganze Nationen in die Isolation getrieben – aber er bietet eine Erklärung für die atmosphärischen Ähnlichkeiten zwischen so verschiedenen Regionen wie den hier behandelten Sprachinseln Banat und Südtirol, oder auch den Nachfolgestaaten des zerfleischten Jugoslawiens.⁵ Als Sprecher einer anderen Sprache werden die Mitglieder der Sprachminderheit zwangsläufig in einem gewissen Grade aus der Gemeinschaft der Mehrheit ausgeschlossen. Dagegen müssen sie sich individuell wie kollektiv behaupten, und die kollektive Selbstbehauptung neigt dazu, stark defensive Formen anzu-
Der aus der Bukowina stammende Paul Celan sagt in seiner Rede zur Entgegennahme des Bremer Literaturpreises, „Das Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende hieß Wien“ (Celan Gesammelte Werke III, S. 185). Vgl. S. Baur: Die Tücken der Nähe. Meran/Merano 2000, S. 55. Vgl. M. Mitrovic, „Chains of the Past“. http://www.inst.at/trans/9Nr/mitrovic9.htm [abgeufen am: 24.1. 2021).
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nehmen. Es bildet sich, wie in anderen Minderheitssituationen, eine Widerstandsidentität.⁶ Diese Form der kollektiven Identität duldet wiederum kaum Abweichungen. Der äußere Druck erzeugt einen Gegendruck, der sich im Innern als Konformitätszwang auf die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft richtet. Um den Bestand der Gemeinschaft zu sichern, nimmt die Sprachminderheit ihre Exklusion aus der umgebenden Mehrheitsgesellschaft nicht nur in Kauf, sondern ist selber bestrebt, die Isolation, die sie als Exklusivität ins Positive wendet, zu sichern. Das ist ein Sonderfall des von Charles Taylor beschriebenen Dilemmas des Multikulturalismus, das darin besteht, dass im kollektiven Interesse der Erhaltung einer Kulturgemeinschaft manchmal Abstriche an der Freiheit und den Rechten einzelner gemacht werden müssen. Als Beispiel nennt Taylor die Sprachgesetzgebung im kanadischen Quebec, wonach das Recht auf freie Schulwahl dadurch eingeschränkt wird, dass um den Erhalt der französischen Mehrheitssprache zu gewährleisten, frankophonen Schülern der Besuch englischsprachiger Schulen erschwert wird.⁷ Ist das Bekenntnis zum Kollektiv erzwungen, kommt es zur Erstarrung der Gesellschaft. Diese konstituiert sich nicht mehr im freien Austausch ihrer Mitglieder, sondern wird eingeschworen auf ein versteinertes Selbstbild, auf eine „Pseudoidentität“, für die nach Jürgen Straub kennzeichnend ist, „dass das Selbst- und Fremdbild extrem stereotyp, erfahrungsarm oder erfahrungsleer ist“⁸. Eine solche Gesellschaft ist äußerst schlecht für die Anforderungen der modernen Welt gerüstet, denn ihr Verhalten impliziert das Verdrängen jeglicher gesellschaftlichen Dynamik und somit einen Rückfall in vormoderne Verhältnisse.⁹ Eine Beschreibung dieses Sachverhalts aus sozialwissenschaftlicher Sicht bietet Vladimir Wakounig: Bei ethnischen Minderheiten ist zu beobachten, daß sie mit der Differenzierung von Interessen, mit der Pluralität von Weltanschauungen, mit verschiedenen Parteipräferenzen und mit der unterschiedlichen Gewichtung von Lebensbereichen kaum umgehen können. Minderheiten neigen dazu, den allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruch hin zur Vielfalt für ihre eigenen Strukturen zu unterbinden und die Bedeutung von Unterschieden für ihre Angehörigen zu leugnen. Besonders politische Eliten von Minderheiten, die ein nationalistisches Verständnis von Volksgruppe bzw. Ethnie propagieren, sehen in der zunehmenden Ver-
Manuel Castells spricht von „resistance identity. (Castells, The Information Age. Vol. II The Power of Identity, Oxford 1997, S. 8 f. Ch. Taylor, „The Politics of Recognition“, S. 52 ff. J. Straub, Personale und kollektive Identität, in Assmann, Friese (Hg.) 1998, S. 100. Nach M. Wieviorka (Kulturelle Differenzen und nationale Identitäten, S. 183 f.) setzt die Teilnahme am modernen Leben Flexibilität voraus und gerät so in Konflikt mit jedem Identitätsprinzip.
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selbständigung von Personen hinsichtlich des politischen Engagements ein für die Volksgruppe „schädliches Verhalten“.¹⁰
Interessant, wenn auch meistens nur von marginaler Bedeutung, ist das Nachleben der Sprachinseln im kollektiven Gedächtnis ihrer früheren Bewohner und ihrer unmittelbaren Nachfolger. Ähnlich wie die Heimatvertriebenenverbände der aus Schlesien oder dem Sudetenland umgesiedelten Deutschen betreiben auch die Landsmannschaften der Banatdeutschen und anderer früherer Exklaven eine ideologisch geladene Erinnerungsarbeit. Sie können, wie die Erfahrung Herta Müllers zeigt, genau so gehässig und aggressiv sein wie die stursten Heimatverteidiger in den Exklaven selbst. Dennoch sind die allmählich verschwindenden Exklaven und Sprachinseln Teil des europäischen Kulturerbes, die es verdienen, nicht ganz der Vergessenheit anheimzufallen. Vor allem liefert die Erinnerung an die jahrhundertealte Sprachenvielfalt in weiten Teilen Europas ein kräftiges Gegenargument gegen die oft propagierte populistische Meinung, dass Einsprachigkeit in den europäischen Ländern jemals wirklich die Norm gewesen wäre. Tatsächlich haben erst die modernen nationalstaatlichen Strukturen die Illusion von der Homogenität von Sprache und Kultur der europäischen Nationen erzeugt. Die Norm der dominanten Landessprachen und das Ideal der Monoglossie sind Produkte der Moderne. Sie sind mit der Befestigung der modernen Nationalsaaten entstanden und bleiben, trotz der Integrationspolitik auf europäischer Ebene, auch heute vorherrschend. Denn die europäische Union, die sich zwar mit ihren vielen Amtssprachen brüstet, ist im Grunde eben eine Union von Nationalstaaten. Dass die Union in ihrer heutigen Form die wirkliche sprachliche und kulturelle Vielfalt des Kontinents nur sehr ungenau und recht schematisch reflektiert, ist vielen der Europa grundsätzlich wohlgesonnenen Kritikern sehr bewusst. Einer, der das volle kulturelle Spektrum Europas viel breiter auffasst, als nur das von der EU offiziell vertretene ist Karl-Markus Gauß. In mehreren Büchern dokumentiert er Reisen zu abgelegenen Orten vornehmlich in Südost- und Mitteleuropa, um sich ein Bild verschiedenster Enklaven zu machen. Gauß’ Interesse richtet sich, in den Worten Edgar Platens, „auf das zugunsten einer scheinbaren europäischen Einheit und Homogenität an den Rand Gedrängte, Ausgerottete bzw. diejenigen Gruppen […], die dabei sind, dieses Schicksal zu erfahren.“¹¹ In V. Wakounig, Der Zwang zur Einigkeit. Wieviel Pluralität verträgt die Minderheit? In STIMME Zeitschrift der Initiative Minderheiten 25, IV 1997. E. Platen, „Definitionen sind unfruchtbar“. Der Essay, seine Beweglichkeit und die Landkarten Europas. In: Schreiben zwischen Sprachen, hg. von L. Laukkanen, Chr. Parry, München 2017. S. 105 – 118, hier S. 111.
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Werken wie Das europäische Alphabet, Die sterbenden Europäer oder Im Wald der Metropolen stellt Gauß die Hierarchie von Metropole und Provinz auf den Kopf und untersucht vor allem das Schicksal vernachlässigter Minderheiten. In seinem Reisebericht Die versprengten Deutschen ¹² sucht er Relikte deutscher Sprachinseln auf. In der Zips im Osten der Slowakei findet er ein paar Dörfer, wo Deutsch noch gesprochen wird. In Litauen und in der südwestlichen Ukraine findet er vereinzelte Spuren früherer Sprachinseln. Stärker als die heutige Präsenz der deutschen Sprache ist aber das Bewusstsein der Nachfahren ehemaliger Sprachinselbewohner, irgendwie deutsche Wurzeln zu haben. Dieses Bewusstsein sucht seinen Ausdruck in rivalisierenden Verbänden und läuft leer. Besonders interessant in dem Zusammenhang ist die politische Dimension der Minderheitenpolitik in der Ukraine. Dort versuchte die Regierung im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland die unter Stalin vor dem Zweiten Weltkrieg nach Zentralasien deportierte deutsche Minderheit zurückzuholen. Spätestens durch die Deportation hatten die Nachfahren der ursprünglich als freiwillige Kolonisten in das Gebiet um Odessa herum eingewanderten Kolonisten ihren Kontakt zur deutschen Sprache und Kultur verloren. Gauß besucht das „Bayrische Haus“, das mühselig versucht, den Rücksiedlern einen gewissen Kontakt zur verlorenen deutschen Sprache und Kultur zu vermitteln. Die von Gauß referierten Einzelschicksale veranschaulichen die fortdauernde Absurdität von Nationalitätenpolitik überhaupt. Ein halbes Jahrhundert nach den tragischen Deportationen unter Stalin wirken die Repatriierungsmaßnahmen der Ukraine und der Bundesrepublik auf der Grundlage historischer Volkszugehörigkeit bestenfalls anachronistisch. Allerdings trägt die Zuwanderung von inzwischen weitgehend russifizierten, rumänisierten oder polonisierten (usw.) Spätaussiedlern wesentlich zur kulturellen Vielfalt des heutigen Deutschlands bei. Das Ende der traditionellen territorial demarkierten Enklaven und Sprachinsel ist keineswegs nur eine Folge aggressiver Politik, sondern vielfach nur die unvermeidliche Folge von Strukturwandel, Industrialisierung und Urbanisierung. Derselbe Strukturwandel hat in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zur Entstehung neuartiger Enklaven, Migrantengemeinschaften verschiedener Herkunft, in den größeren Städten geführt. Auf die damit verbundene kulturelle Bereicherung wird in den letzten Kapiteln dieses Buches eingegangen. In diesem Kapitel soll mit Hertha Müller und Joseph Zoderer der Blick auf zwei Exklaven geworfen werden, die den Umwälzungen des 20 Jahrhunderts mehr oder
K.-M. Gauß, Die versprengten Deutschen. Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer. Wien 2005.
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weniger Stand gehalten haben: Südtirol, die Heimat Joseph Zoderers mehr, die banatschwäbische Heimat Herta Müllers eher weniger.
Herta Müller Im Jahre 2009 erhielt die rumänien-deutsche Autorin Herta Müller den Nobelpreis für Literatur. Mit der Preisverleihung wurde nicht allein eine bestimmte deutschsprachige Autorin gewürdigt, sondern, wie bereits im Falle Canettis, der 1981 den Preis erhalten hatte, die deutschsprachige Literatur in ihrer Vielfalt. Durch die Nobelpreisverleihung an Herta Müller wurde diese Vielfalt erneut ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Der nationale und nunmehr auch internationale Erfolg der Autorin ist durchaus im Kontext postnationaler Multikulturalität zu sehen. Ihre Werke bieten eine exotische Note, die Autoren mit binnendeutschem Lebenslauf nicht bieten können. Doch hat Herta Müllers Herkunft, aus dem kleinen banatschwäbischen Nitzkydorf, einer deutschen Sprachinsel in Rumänien, eher wenig mit postnationalen Verhältnissen zu tun. Das Leben in der Enklave, das Müller in ihren frühen Werken genau beschreibt, stellt vielmehr ein Relikt vornationaler Verhältnisse dar. Das Leben in der sprachlichen Enklave (oder, von Deutschland aus gesehen, Exklave) ist der Ausgangspunkt ihres Schreibens. Aus dem Konfliktpotenzial dieses Lebens bezieht die Autorin Herta Müller die Kraft ihres poetischen Ausdrucks. Was sie beschreibt sind Erfahrungen des gesellschaftlichen Drucks in der Gemeinde, die Idealisierung eines fernen Mutterlands sowie die Problematik, die sich aus der realen Begegnung mit dem idealisierten Land ergibt. Es sind Erfahrungen, die zwar, wie die Autorin selbst immer wieder betont, durch die rumänische Diktatur potenziert werden, aber keineswegs spezifisch für diese sind. Sie sind vielmehr durch die Enklavensituation des Lebens in der Isolation der Sprachinsel bedingt. Dafür prägte Müller in ihrem Erstlingswerk Niederungen das Bild des „deutschen Frosches“, das sie Jahre später genauer erklärt: Der deutsche Frosch aus den Niederungen ist der Versuch, eine Formulierung zu finden für ein Gefühl – das Gefühl, überwacht zu werden. Auf dem Land war der deutsche Frosch der Aufpasser, der Ethnozentrismus, die öffentliche Meinung. Der deutsche Frosch legitimierte diese Kontrolle des einzelnen mit einem Vorwand. Der Vorwand hieß: Bewahren der Identität. Im Sprachgebrauch der Minderheit hieß das „Deutschtum“.¹³
H. Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin 1991. S. 20 f.
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An derselben Stelle heißt es wenig später: „Der deutsche Frosch war der erste Diktator, den ich kannte“. Die zweite Diktatur war der rumänische Staat selbst und die ersten Werke der Autorin zeugen von einem Lavieren zwischen beiden Diktaturen. Der frühe Erfolg Herta Müllers auch außerhalb Rumäniens richtete die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Leserschaft erneut auf die deutschen Sprachinseln Rumäniens. Diese waren zu Beginn der 1980er Jahre nicht ganz unbekannt, kamen ja sehr erfolgreiche Dichter wie Paul Celan und Rose Ausländer aus der Bukowina. Die zwischen beiden Weltkriegen Rumänien zugeteilte Bukowina war die Heimat zweier getrennt und nicht eben harmonisch nebeneinander lebender deutschsprachiger Minderheiten, des jüdischen Bildungsbürgertums der Stadt Czernowitz, dem Celan und Rose Ausländer entstammten, und der sogenannten Buchenländerdeutschen gewesen. Mit dem Zweiten Weltkrieg, der Shoah und der Zwangsumsiedlung sowie der Annexion des Gebiets durch die Sowjetunion ist diese doppelte Sprachinsel verschwunden. Übrig blieben in Rumänien die sogenannten Siebenbürger Sachsen und die Banatschwaben, denen im kommunistischen Nachkriegsrumänien eine gewisse kulturelle Eigenständigkeit gewährt wurde. Dafür konnten sie zeitweilig als Aushängeschild für die angebliche Toleranz des Regimes herhalten. Das bis dahin weitgehend auf sozialistischer Aufbaulyrik und traditioneller Heimatliteratur beruhende literarische Leben dieser Sprachinseln¹⁴ erfuhr um 1980 eine Regenerierung durch eine junge Generation von Autoren, zu der neben Herta Müller Richard Wagner und die Autoren der 1983 wieder verbotenen „Aktionsgruppe Banat“ gehörten. Trotz der Aufmerksamkeit, die in der Bundesrepublik auf sie gerichtet wurde, spürten diese Autoren den doppelten Druck der Diktatur Ceaușescus und der Diktatur des „deutschen Frosches“. Sie mussten […] als „Minderheit in der Minderheit“ (Richard Wagner) einem doppelten Anpassungsdruck standhalten: einerseits dem Druck der Regierung, die herrschenden „Schablonen und Losungen“ (Bossert: „Erklärung“) zu übernehmen, andererseits dem Druck ihrer Landsleute, die fixe Idee von der deutschen „Schicksalsgemeinschaft“ auszumalen.¹⁵
Der kurze Aufschwung leitete allerdings auch den Anfang vom Ende dieser Literatur ein, denn die beteiligten Autoren siedelten nach und nach in die Bundesrepublik um. Zur gleichen Zeit begann infolge der west-deutschen Politik der
S. die von Heinrich Stiehler herausgegebene Anthologie Nachrichten aus Rumänien. Rumäniendeutsche Literatur, Hildesheim, New York 1976. W. Solms, Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur. In Nachrichten aus Rumänien, hg. von H. Stiehler, S. 16.
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Aufnahme von sogenannten Spätaussiedlern der Exodus der deutschsprachigen Bevölkerung, der nach dem Sturz des Ceauşescu-Regimes noch beschleunigt wurde.¹⁶ Schon 1988 konnte in Marburg an der Lahn eine Konferenz unter dem damals gerade kontroversen, heute eher resigniert wirkenden Titel: „Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur“ abgehalten werden.¹⁷ Herta Müller, um eine Generation jünger als Celan und Ausländer, ist in Nitzkydorf (Nițchidorf), einem der schwäbischen Dörfer aufgewachsen, wo die Insularität das Verhältnis zur Sprache und ein allgemeiner Konservatismus das sonstige gesellschaftliche Leben prägte. Die Enge des Dorflebens prangerte sie in ihrem ersten Erzählwerk Niederungen an, das ihr sowohl in Rumänien als auch kurz darauf in der Bundesrepublik Anerkennung als Schriftstellerin einbrachte. Was ihre Darstellung vor allem auszeichnet, sind, wie Josef Zierden in Text + Kritik zusammenfasst, … die zwangsweise Dressur zum unmündigen Untertanen […], die Verhinderung individueller Emanzipation schon in der ländlichen Familie; dazu die durch den Ethnozentrismus einer Minderheit noch verstärkte Bindung an eine fassadenhafte Wertewelt („Ordnung“, „Fleiß“, „Sauberkeit“), mit aggressiver Intoleranz nach innen und dünkelhafter Abgrenzung nach außen, bei Abwertung alles Fremden, Abweichenden.¹⁸
So machte sich Herta Müller, ähnlich wie ihre Nobelpreisvorgängerin Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, zunächst einen Namen als Verfasserin von sogenannter „Antiheimatliteratur“.¹⁹ Die Reaktionen auf das Erstlingswerk waren keineswegs einhellig zustimmend. Mit kleinen Erzählungen wie „Das schwäbische Bad“²⁰ oder „Der deutsche Scheitel und der deutsche Schnurrbart“²¹ stießen Herta Müllers Niederungen an die Toleranzgrenze ihrer heimatlichen Leserschaft. In der ersten Erzählung werden die beiden Tugenden der Sauberkeit und der Sparsamkeit auf groteske Weise verknüpft, indem die ganze Sippe nacheinander dasselbe Badewasser benutzt. Die zweite parodiert die bedingungslose Konfor-
Richard Wagner gibt die Zahl der um die Jahrtausendwende noch in Rumänien lebenden Rumäniendeutschen mit etwa 50.000 im Vergleich zu 800.000 vor und 400.000 nach dem Zweiten Weltkrieg an. (R. Wagner, Ethnic Germans in Romania. In: German Minorities in Europe, hg. von Stefan Wolff, New York 2000 S. 135). Vgl. Solms, Nachruf. Nach G. Prediou (Faszination und Provokation bei Herta Müller, S. 40) waren am Ende des Jahrhunderts nur noch etwa 20 deutschsprachige Schriftsteller in Rumänien tätig. J. Zierden „Deutsche Frösche. Zur Diktatur des Dorfes bei Herta Müller“, S. 35. Vgl. R. Köhnen, „Terror und Spiel. Der autofiktionale Impuls in frühen Texten Herta Müllers“ S. 21. H. Müller, Niederungen S. 13 – 14. H. Müller, Niederungen S. 129 – 131.
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mität des Dorfes. Die überzogene einheitliche Haartracht gibt ein geradezu paradigmatisches Beispiel der Erscheinung ab, die W.G. Sebald später im Kontext seiner Lektüre von Peter Handkes Die Wiederholung als das „Trachtlerische“ bezeichnen wird.²² An solchen Texten entzündete sich die bis zur Wut sich steigernde Kritik von Seiten ihrer Landsleute und deren selbsternannten Vertreter, der rumäniendeutschen Landsmannschaften in Deutschland. Was in breiteren Leserkreisen in Deutschland und Rumänien als literarisch gelungen aufgenommen wurde, wurde von den Verteidigern der banatschwäbischen Heimat vielfach als Nestbeschmutzung betrachtet. Schlimmer noch, Herta Müller wurde, wie Norbert Eke berichtet, subversive Absicht im Interesse des (rumänischen) „Feindes“ vorgeworfen: Von dem damit erhobenen Vorwurf der Nestbeschmutzung ist es nur ein Schritt zu der schließlich in der Weihnachtsausgabe des „Donauschwaben“ der Autorin unterstellten ideologisch-subversiven Tätigkeit im Dienste der Minderheitenpolitik des Ceaușescu-Regimes: „Man fördert den Abbau und Zerfall des Deutschtums aus seinem Innern heraus. Hätte H. Müller ähnlich über ihre rumänischen Mitbewohner geschrieben, man hätte sie in Rumänien gehenkt. […] H. Müller ist eine der wertvollsten Mitarbeiterinnen der Bukarester ZK-Propagandaabteilung und anderer Departements. Sie schädigt das Image des Auslandsdeutschen im Mutterland, dessen Hilfe und Unterstützung im Banat und in Siebenbürgen so nötig ist. Deshalb durfte sie ihr Erstlingswerk im westlichen Ausland veröffentlichen, ein Vorrecht, das in der Regel nur sehr bekannten, besonders linientreuen Literaten zusteht.“²³
Die Wirkung von Herta Müllers frühen Erzählungen ist paradox, denn anders als die konventionellen Huldigungen von Landschaft und Tradition, die für jede Heimatliteratur typisch sind und sich in ihrer strotzenden Heimatliebe alle gleichen, tragen sie auf ihre überhöhte Art dazu bei, der beschriebenen Gemeinschaft ein eigenes Gesicht zu geben. Und das ist längst nicht so schädlich, wie die erregten Kritiker meinen, denn um Anerkennung zu finden – und das ist die Voraussetzung jeder gelungen Identitätskonstruktion, ob individuell oder kollektiv – muss man in seiner Eigenart überhaupt erst einmal wahrgenommen werden. Dazu tragen auch satirische Bilder bei. Dennoch ist Herta Müller keine „Heimatautorin“. Aus ihrer kritischen Einstellung zur eigenen Herkunft wie auch zum Heimatbegriff selbst macht sie keinen Hehl. In ihrem Werk kritisiert sie gleichermaßen die bedrückende Atmosphäre der Dorfheimat wie auch das Regime Ceauşescus. Beides ist für die Autorin „Heimat“, was bei ihr ein negativ konno-
W. G. Sebald, Unheimliche Heimat, Frankfurt/M. 1995, S. 167. N. Eke, Die erfundene Wahrnehmung, Paderborn 1991, S. 115.
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tierter Begriff ist. Im kurzen autobiografischen Erzähltext „Der König verneigt sich und tötet“, dem Titeltext des gleichnamigen Buches, schreibt Herta Müller: Ich mag das Wort Heimat nicht, es wurde in Rumänien von zweierlei Heimatbesitzern in Anspruch genommen. Die einen waren die schwäbischen Polkaherren und Tugendexperten der Dörfer, die anderen die Funktionäre und Lakaien der Diktatur. Dorfheimat als Deutschtümelei und Staatsheimat als kritikloser Gehorsam und blinde Angst vor Repression.²⁴
Anders als von ihren vehementen Kritikern behauptet, wird in Müllers Frühwerk gerade nicht die Wahrheit über die banatschwäbische Heimat falsch repräsentiert – über Landschaften und ihre Bewohner gibt es keine definitiven Wahrheiten, die sich nachweisen oder widerlegen ließen. Was sich hingegen feststellen lässt, ist dass sich ihr Werk der Wiedergabe gängiger Wunschvorstellungen der rumäniendeutschen Sprachminderheit verweigert. Eine dieser Wunschvorstellungen ist die aus der volksdeutschen Ideologie der Zwischenkriegszeit übernommene Vorstellung von der rein deutschen Exklave, deren zufällige Lage in Rumänien zwischen rumänischen und ungarischen Mitbürgern ignoriert wird. Mit dieser Ideologie geht Müller scharf ins Gericht, etwa wenn sie in Der Teufel sitzt im Spiegel die Naziverbindungen ihrer Verwandtschaft aufzählt und ihrem Großvater den Satz „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, wäre hier Deutschland“²⁵ in den Mund legt. Darüber, wie ein solches Deutschland aussehen würde, macht sich dieser Großvater wie die anderen Figuren in Müllers Frühwerk natürlich keine Gedanken. Das Deutschland, das der Großvater meint, hat mit dem Deutschland, das aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist, nichts zu tun. Es ist vielmehr ein imaginärer Bezugspunkt für die Bewohner der Enklave. Diese bleiben paradoxerweise in der Vergangenheit gefangen, ohne diese Vergangenheit jedoch mit eigenen Erinnerungen in Beziehung zu setzen. Mit diesem Paradox beschäftigt sich Herta Müller in den beiden weiteren Prosabänden Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt und Barfüßiger Februar, die noch in der banatschwäbischen Dorfgemeinschaft spielen. Dort lenkt die Autorin nach Paola Bozzi „den Blick auf die ritualisierten Kollektiv-Traditionen, in denen Erinnerungen an die jüngste Geschichte systematisch wie instinktiv verdrängt werden.“²⁶ Wie das funktioniert, zeigt ein kleiner Text aus dem Band Barfüßiger Februar mit dem Titel „Das Lied vom Marschieren“. Der Text beschreibt ein allwöchentliches Festritual, bei dem die Männer des Dorfes sich besaufen und Kriegslieder singen, während ihre
H. Müller, Der König verneigt sich und tötet, S. 29. H. Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, S. 23. P. Bozzi, Der fremde Blick, Würzburg 2005, S. 47.
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Frauen miteinander tanzen. Nach und nach lichten sich die Reihen der Männer, bis am Ende nur noch ihre trauernden Frauen übrig bleiben, die zwar nun nicht mehr tanzen, aber trotzdem weiterhin jeden Sonntag das „Lied vom Marschieren“ vom Tonband abspielen.²⁷ Herta Müller zieht damit ein tristes Fazit über den Zustand der banatschwäbischen Sprachinsel. Die älteren Einwohner sterben aus und die jüngeren reisen aus. Während Müller in Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt die Mühen der Vorbereitung auf die Ausreise mit allen Hürden einer korrumpierten Bürokratie beschreibt, offenbart sie im folgenden Roman, Reisende auf einem Bein, die Enttäuschung, die auf die Ausreisenden im gelobten Land Deutschland wartet. Denn während diese sich sehr bewusst als Bewohner einer deutschen Exklave empfinden, die nun unterwegs in die Metropole sind, interessiert sich die Metropole herzlich wenig für ihre Exklave.Was die Beamten in Deutschland an Irene, der Protagonistin des Romans, am meisten interessiert, sind ihre Erfahrungen mit der rumänischen Securitate. Im Unterschied zu den Figuren, die sie in ihrem Frühwerk beschreibt, nimmt die Autorin Herta Müller sowohl die historischen Erfahrungen der heimatlichen Sprachinsel als auch ihre geographische und linguistische Lage innerhalb des rumänischen Staats und umgeben von der rumänischen Sprache durchaus zur Kenntnis. Die Realität ihrer Heimat würdigt sie, indem sie für die Sprache und Dichtung der rumänischen Nachbarn in ungewöhnlich sensibler Weise aufgeschlossen bleibt. Herta Müllers besondere Ausdrucksweise, die ohne Zweifel wesentlich zu ihrem literarischen Erfolg beiträgt, verkörpert aber auch Widerstand gegen das Selbstverständnis der Enklave. „Es tut keiner Muttersprache weh, wenn ihre Zufälligkeiten im Geschau anderer Sprachen sichtbar werden“ meinte die Autorin in dem ihr gewidmeten Heft von Text + Kritik. ²⁸ Die Frage, ob sie sich eher als Rumäniendeutsche oder deutschsprachige Rumänin einordnen lässt, entzieht sich einer genaueren Antwort. In ihrer oft lyrischen Prosa bedient sie sich einer Bilderwelt, die in der deutschen Sprache sonst eher selten ist. Müllers Sprache ist jedoch nicht das Idiom der Sprachinsel, auch wenn sie manche Besonderheit von ihm bezieht. Mit ihrer Sprache durchbricht die Autorin die Geschlossenheit und den Stillstand der Enklave und macht aus der Not der diasporischen Lage die Tugend einer multikulturellen Bereicherung, die sonst wenig wahrgenommen wird. Im bereits zitierten Aufsatz schreibt sie: Auch als ich längst fließend und fehlerfrei Rumänisch sprach, horchte ich immer noch mit Verblüffung den waghalsigen Bildern dieser Sprache hinterher. Die Worte gaben sich un-
H. Müller, Barfüßiger Februar, S. 45 – 47. H. Müller, „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm“, Text + Kritik 155, 2002, S. 12.
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scheinbar, versteckten jedoch treffsicher politische Haltungen. Es waren Geschichten in manch einem Wort, die sich erzählten, ohne gesagt werden zu müssen.²⁹
Im Rumänischen spürt sie eine Kreativität, die sie bei den Bewohnern der Sprachinsel vermisst. In einem Interview aus dem Jahre 1999 wirft Müller den Bewohnern der deutschen Sprachinseln in Rumänien ihre sprachliche und kulturelle Unbeweglichkeit vor: Die deutsche Minderheit aus Rumänien hat in ihrer Angst als Minderheit in einer Phobie gegen alles andere Äußere gelebt. In Angst, daß ihre Identität verloren geht, daß sich etwas verändert, daß etwas anderes hineinkommt. Das wurde absurd, daß die dreihundert Jahre lang, seit sie als Kolonisten in diese Orte kamen, alles immer wie ein Bündel Wegzehrung weitertransportiert und nichts anderes zugelassen haben. Von der Kleidung bis zum Essen, Volkslieder, Gebräuche und Alltag. Eine Mumifizierung mitten in jedem einzelnen Leben.³⁰
Die Musealisierung der Kultur und die Verleugnung der Geschichte gehören zusammen. Gegen beides kämpft Müller an. In dem besagten Interview wurde sie nach den eingestreuten volksliedhaften Versen im Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet gefragt und sie gibt zu, sie selber erfunden zu haben, denn Für mich ist der Gedanke unheimlich, daß Menschen vor dreihundert Jahren mit einem Repertoire in eine Gegend kamen, und dieses Repertoire nichts verloren und nichts dazugekriegt hat. Ein Leben in einer Konserve. Aber die Zeiten haben sich ständig geändert. Da war der Nationalsozialismus, dann war Stalinismus. Die waren plötzlich in einem sozialistischen Land. Wenn dreihundert Jahre lang bei einer Beerdigung immer die gleiche Melodie von den Dorfmusikanten gespielt wird, und die Todesursache – Krieg, Gefängnis, Nierensteine oder Suizid – keine Rolle spielt, dann wird die Abwesenheit einer Gemeinschaft von sich selbst so trostlos, daß sie mich in Schrecken versetzt.³¹
Im Rumänischen ist das nach Müller ganz anders. Die Kultur habe trotz der widrigen Umstände des Lebens unter einer Folge von Diktaturen nie ihre dynamische Lebenskraft eingebüßt: Ich mußte immer vergleichen mit der rumänischen Folklore, die so unglaublich schöne Lieder hat, die so poetisch und wahrhaftig sind. Es gibt Lieder über Alkoholismus, die verlassene Braut oder den verlassenen Mann oder über Armut, über Diebstahl, überhaupt über alles, was dem Einzelnen passiert, gibt es Lieder. Die Minderheitsdeutschen haben nichts.³²
H. Müller, Der König verneigt sich und tötet, S. 32. B. D. Eddy, „Die Schule der Angst“, The German Quarterly 72.4, 1999, S. 335. Ebd. B. D. Eddy, „Die Schule der Angst“ S. 336.
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Ob dieses insgesamt auffallend negative Urteil über die rumäniendeutsche Kultur gerecht ist, kann hier nicht beurteilt werden. Die Aussage zeugt aber für das Bestreben der Autorin, die Enge der Enklave zu überwinden, und sie verrät auch die Quelle ihrer eigenen besonderen sprachlichen Kreativität. Diese Kreativität, die sie mit ihrem verstorbenen Landsmann Oskar Pastior teilt, steht immer wieder in krassem Gegensatz zu der düsteren Thematik ihrer Bücher.
Joseph Zoderer Dass die von Herta Müller monierte unheilvolle Mischung aus Enge, Introspektion, Konservatismus und Xenophobie kein ausschließlich rumäniendeutsches Phänomen ist, wird aus folgendem Zitat ersichtlich: Das Dorf hat alle Solidarwerte verloren, die Grundwerte von Gemeinschaft sind zerfallen. […] Zusammengehalten wird diese Dorfwelt nur noch von der – zudem mit Nazi-Erbe durchsetzten – Heimatideologie, die ihrerseits aber wiederum einzig auf das Feindbild der Italiener gebaut ist.³³
Stünde hier „Rumänen“ statt „Italiener“ könnten diese Worte die Dorfgemeinschaft in Herta Müllers Niederungen beschreiben. Doch hier, in Joseph Zoderers Roman Die Walsche, handelt es sich um ein Dorf in Südtirol, in das die Protagonistin Olga, genannt „die Walsche“, zurückkehrt, um der Beerdigung ihres Vaters beizuwohnen. Olga ist eine Abtrünnige, die ihr deutschsprachiges Dorf verlassen hat und mit ihrem italienischen Freund in der zweisprachigen Stadt Bozen/Bolzano ein Café betreibt. Der Roman handelt von der deutlich spürbaren Feindseligkeit der Dorfleute, die lediglich durch die Pietät im Anbetracht des Todes gedämpft wird. Auch dieser Roman ließe sich der Gattung „Antiheimatliteratur“ zuordnen. Maria Luisa Roli bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt, dass darin „das propagandistische Motto ,Die Heimat ist in Gefahr‛ umgekehrt, und ,Heimat‛ als Gefahr dargestellt“ werden.³⁴ Aber wie gefährdet und wie gefährlich ist die Heimat Südtirol? Die heute autonome zweisprachige Provinz Südtirol, Alto Adige, gilt als besonders gelungenes Beispiel harmonischen Zusammenlebens zweier Bevölke-
B. A. Kruse, Literarische Arbeit an Identitätsproblemen in Europa am Beispiel von Literatur aus Südtirol. In:TRANS 17, 2010 http://www.inst.at/trans/17Nr/1-1/1-1_kruse17.htm [abgerufen am: 24.1. 2001). M. L. Roli, „Heimat“ und die Südtiroler Schriftsteller J. Zoderer und N. C. Kaser,. In: Heimatsuche, hg. von A. Passinato, Würzburg 2004, S. 292.
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rungen. Das war nicht immer der Fall. Südtirol wurde nach dem Ersten Weltkrieg ohne Rücksicht auf die 14 Punkte Woodrow Wilsons von seiner Verbindung zum österreichisch gebliebenen Resttirol losgerissen und Italien zugeschlagen. Das faschistische Regime Mussolinis bemühte sich um die Italienisierung der Provinz. Infolge der städtischen Industrialisierung wurden Arbeiter aus ganz Italien angeworben und es entstand neben den einheimischen deutschsprachigen und kleinen ladinischen Gemeinschaften eine größere italienische Minderheit. Die Italienisierung verschärfte sich noch nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich, denn aus Rücksicht auf den italienischen Verbündeten wollte Hitler gerade diese Sprachinsel nicht „heim ins Reich“ holen, sondern vereinbarte mit Mussolini stattdessen die sogenannte „Option“, wonach die Südtiroler, jeder für sich, entscheiden durften, ob sie Italiener werden oder Deutsche bleiben wollten. Optierten sie für Deutschland, sollten sie wegziehen und als Ersatz für das aufgegebene Eigentum in Südtirol anderswo, zum Beispiel im okkupierten Polen, kompensiert werden. Nach dem Krieg kehrten viele Optanten zurück, darunter auch Joseph Zoderer, der den großen Teil seiner Kindheit und Jugend in Graz und in einem Schweizer Internat verbracht hatte und sich, um den Stempel des Heimatautors abzuwehren, gerne als „von der österreichischen Kultur geprägten Autor mit italienischen Pass“ bezeichnet.³⁵ Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich allmählich die deutsche Sprachgruppe zur heute durch die Südtiroler Volkspartei vertretenen dominierenden Kraft in der Provinz. Anders als die Sprachinseln in Rumänien stehen die deutschsprachigen Gemeinschaften Südtirols heute in voller Blüte. Noch ist Deutsch die Sprache der Mehrheit in der autonomen Provinz Bozen–Südtirol/Bolzano–Alto Adige.³⁶ Um eine Sprachinsel handelt es sich bei Südtirol strenggenommen nicht. Eine grüne Grenze trennt die Südtiroler von ihren unmittelbar benachbarten Sprachgenossen in Österreich. Über mangelnden Einfluss kann auch nicht geklagt werden, dennoch kommen im Literaturleben der Provinz ähnliche Konflikte zum Vorschein wie anlässlich des Frühwerks von Herta Müller.Wie im Falle Herta Müllers können die Konflikte auf eine an kollektive Paranoia grenzende defensive Haltung der Sprachgemeinschaft zurückgeführt werden, denn auch die deutschsprachige Gemeinschaft in Südtirol ist um eine deutliche Abgrenzung von den anderssprachigen Nachbarn bemüht. Anders als im Banat waren radikalere Stimmen der Südtiroler Literatur niemals vom Verlust der Freiheit und der körperlichen Unversehrtheit bedroht. Seit der Überwindung des Faschismus hat sich keine Partei
Zit. nach S. Klettenhammer, Topographien des Fremden. In: Joseph Zoderer, hg. von G. A. Höfler und S. P. Scheichl, Graz 2010, S. 37. Als dritte offizielle Sprache ist auch Ladinisch (in zwei Varianten) anerkannt.
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und keine Geheimpolizei um das Treiben der Autoren deutscher Sprache gekümmert; doch sofern sie versuchten, der ständigen Wiederholung von Klischees in der Literatur der Sprach- und Volksgenossen entgegenzuwirken, waren auch Südtiroler Autoren ähnlichen Angriffen von Seiten der lokalen Kritik ausgesetzt. So löste der Dichter N. C. Kaser, als enfant terrible der Südtiroler Szene, im Sommer 1969 mit seiner „Brixner Rede“, in der er die bekanntesten Produzenten Südtiroler Literatur beschimpfte, erwartungsgemäß einen Skandal aus. Aber auch dem im Auftritt gemäßigten Joseph Zoderer wurde anlässlich seines kurzen Romans Die Walsche „Nestbeschmutzung“ vorgeworfen.³⁷ Mehr noch als das zweifellos wenig attraktive Bild der Bergdorfbewohner dürfte dabei das Verhalten der Protagonistin Olga, die eine positive Alternative zum Verharren in der Enklavenexistenz aufzeigt, konservativere Gemüter erregt haben. Denn die Gestalt der Olga rüttelt mit ihrem Kulturgrenzen überschreitenden Lebensstil an den selbsterrichteten Mauern der Südtiroler Sprachinsel. Dazu schreibt Hans-Georg Grüning: Natürlich lag der Hauptgrund der Ablehnung seines Romans [Die Walsche] in Zoderers Versuch, das Zusammenleben von Deutschen und Italienern in Südtirol objektiv zu zeichnen, als möglich, ja als eine Chance der Bereicherung beider, was der vorherrschenden Konfliktideologie widersprach, die in jeder Mischung eine Kontamination sah, ein „Durcheinander“, höchstens ein fein säuberlich getrenntes Nebeneinander duldete.³⁸
Diese Auslegung der negativen Rezeption des Romans deckt sich mit anderen Beobachtungen, die auf eine weit verbreitete Berührungsangst zwischen den Sprachgruppen in Südtirol hinweisen. Nur so ist etwa der Widerstand zu erklären, der sich gegen den Immersionsunterricht an Südtiroler Schulen regt, der sich merkwürdigerweise insbesondere gegen die Erweiterung des Deutschunterrichts für italienischsprachige Kinder richtet.³⁹ Von ähnlichen Reaktionen wusste auch der in zwei Sprachen schreibende Dichter Gerhard Kofler zu berichten, der meinte, dass es sehr ungern gesehen wurde, wenn deutschsprachige Autoren auch auf Italienisch schrieben.⁴⁰ Dass die Berührungsängste gerade die Sprache betreffen, kommt nicht von ungefähr. Die Sprache ist das differenzierende Merkmal, das es für die jeweilige Gemeinschaft zu erhalten gilt. So wird eine funktionierende zweisprachige Zi-
H.-G. Grüning, Die zeitgenössische Literatur Südtirols, Ancona 1992, S. 89 und R. Esterhammer, Joseph Zoderer im Spiegel der Literaturkritik, Wien, Berlin 2006, S. 11. H.-G. Grüning, Die zeitgenössische Literatur Südtirols, S. 89 f. Vgl. S. Baur, Die Tücken der Nähe S.104 und A. Schweigkofler, South Tyrol. Rethinking Ethnolinguistic Vitality. In: German Minorities in Europe, S. 69. G. Kofler, Realtà letteraria tra finzioni storiche. In: In: Heteroglossia 4, S. 443.
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vilgesellschaft als Bedrohung empfunden, denn mit der vollen Integration zerfällt die Partikularität und mit ihr die mühsam aufgebaute besondere Identität.⁴¹ Es geht in Südtirol, ähnlich wie in dem von Charles Taylor angeführten Beispiel Quebec, um den Erhalt des Partikularen, wobei ein unabwendbar erscheinender Integrations- oder gar, wie von Pessimisten befürchtet, Einverleibungsprozess aufgehalten werden soll. Beim Kampf um den Spracherhalt erscheint die Literatur einerseits als natürlicher Bündnispartner, denn gerade diese sorgt für den lebendigen Bezug zur Sprache und für ihre Regeneration, doch andererseits wird ihr kritisches Potenzial zugleich argwöhnisch betrachtet. Konservierung und Konservatismus sind gerade in Enklavensituationen schwer auseinanderzuhalten. An der polarisierten und gereizten Atmosphäre hat sich in Südtirol auch zu Beginn unseres Jahrhunderts nicht viel geändert. Zwar ist N. C. Kaser postum zu Ehren gekommen, aber Zoderer fühlt sich, wie er im Titelaufsatz der Sammlung Der Himmel über Meran betont, weiterhin mit der Stammtischmentalität beidseits der Sprachgrenze konfrontiert: Seit Jahren gehe ich nun schon über die Wege meiner Geburtsheimat unter einem meteorologisch und politisch geteilten Himmel und ärgere mich weniger über tagelangen Regen oder das Ausbleiben von Schneefall als über das nicht enden wollende Gekeife der Mussolini-Erben auf der einen, und dem Dröhnen der „Mir sein mir“ -Stammtischbrüder auf der anderen Seite.⁴²
Im „Gekeife“ der Stammtischbrüder regt sich dasselbe, was Herta Müller als „deutschen Frosch“ bezeichnet. Dieser „Frosch“ klammert sich an die alten Bräuche und Symbole. Aber gerade diese sind es, die „Heimat“ zur Gefahr machen können. Diese sind, wie Dietmar Larcher konstatiert, „in Südtirol, in Kärnten, im Baskenland, in Bosnien, im Kosovo und anderswo – Instrumente der Exklusion. Sie verdecken die Realität und schließen wichtige Teile der Bevölkerung aus.“⁴³ Gerade das bekommen Olga, die „Walsche“, und nach ihr Mara in Zoderers Roman Der Schmerz der Gewöhnung zu spüren. Während Herta Müller die Enklavensituation in einzelnen satirisch überzogenen Szenen aufzeigt, bietet Zoderer in seinem 2002 erschienen Roman Der Schmerz der Gewöhnung einen Einblick in die psychologischen Mechanismen, die zur ständigen Reproduktion der Enklavenmentalität mit ihren eingefahrenen Vorurteilsstrukturen beitragen. Protagonist und Ich-Erzähler ist Jul, ein Journalist, der mit einer halbitalienischen Frau, Mara, aus Bozen verheiratet ist. Sie hatten
Vgl. St. Wolff (Hg.), German Minorities in Europe. (Nachwort), New York, Oxford 2000, S. 223 f. J. Zoderer, Der Himmel über Meran S. 128 f. D. Larcher, Herkules und der Stall des Augias. In: Die Tücken der Nähe, S. 11 f.
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sich in radikalen Studentenkreisen der sechziger Jahre kennengelernt, wo beide in ihrem politischen Engagement fern von jeder Heimattümelei standen. Der Umstand, dass Maras Vater als faschistischer Funktionär maßgeblich an der Durchführung von Mussolinis Italienisierungspolitik beteiligt gewesen war, stört die Beziehung zunächst wenig – immerhin hatte auch der Vater eine deutschsprachige Südtirolerin geheiratet – wirft aber später einen wachsenden Schatten über die Ehe, die nach dem Unfalltod der jungen Tochter bald als zerrüttet gelten darf. Den Erzählrahmen bildet die letzte Reise Juls, der, an einem Hirntumor leidend, am Ende seines Lebens von seiner Südtiroler Heimat nach Agrigent in Sizilien aufbricht, um dort mehr über die väterlichen Wurzeln seiner Frau zu erfahren und zugleich über sein eigenes Verhältnis zu ihr nachzudenken. Wie Olga, „die Walsche“, versucht auch Jul zwischen den Kulturen zu leben. Aber bei ihm schlägt gelegentlich der Atavismus durch. Geht es ihm, und seiner Beziehung zur halbitalienischen Frau gut, dann ist er tolerant und fühlt sich als deutschsprachiger italienischer Bürger wohl. Geht es ihm schlechter, baut er entlang der sprachlich-kulturellen Grenze Trennwände auf. Dann empfindet er nicht nur die Verwandtschaft der Frau, sondern das Italienische überhaupt als zudringlich. Plötzliche Wutausbrüche in der Öffentlichkeit befremden die ihm wohlgesinnte Verwandtschaft seiner Frau und er entdeckt in sich, in selbstkritischer Reflexion, den inneren Faschisten.⁴⁴ Einmal erhebt er der größtenteils ebenfalls in Südtirol aufgewachsenen italienischen Verwandtschaft gegenüber besondere Besitzansprüche auf das Land. Ein anderes Mal gerät er mit wildfremden Touristen in einen Streit, bei dem er ebenfalls besitzergreifend gegen die vermeintlichen italienischen Eindringlinge aufbegehrt. Was den Roman aus psychologischer Sicht so interessant macht, ist dass er zeigt, wie es sich beim Fremd- beziehungsweise Feindbild um Projektionen handelt, die mit objektiven Tatsachen wenig zu tun haben, sondern diese, je nach Stimmung, geradezu zurechtbiegen. Mara ist für Jul mal mehr, mal weniger italienisch. Objektiv ist sie in Südtirol/Alto Adige genau so zu Hause wie Jul selbst. Beim Skifahren ist sie peinlicherweise viel geschickter als Jul. Folgt er ihr in die Täler, wo sie als Kind ihre Ferien verbracht hatte, geschieht eine kleine Verwandlung: Auf dem Weg nach Lamprechtsburg nahm er in winzigen Portionen Besitz von Maras zwiespältiger Heimat, und sie verwandelte sich allmählich, je öfter sie ihre Kindheitswege zusammen gingen, von einer italienischen Italienerin in eine deutsche Italienerin […] und
J. Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 178.
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von einer deutschen Italienerin in eine italienisch-deutsche Südtirolerin, in jedem Fall verwandelte sie sich in eine andere … ⁴⁵
Im Verlauf des Romans verwandelt sich Mara aus Juls Sicht jedoch immer mehr in die Italienerin, auf deren Fremdheit Jul schließlich die Entfremdung zwischen beiden zurückschieben kann. Das ist die Sichtweise Juls. Die personale Erzählsituation gibt Einblick in Juls Psyche, aber sie erschwert die Deutung gerade durch ihre Unzuverlässigkeit,⁴⁶ denn Jul schwankt zwischen der aufgeklärten Position des politisch bewussten Journalisten und der Einstellung des heimlichen Heimatpatrioten. Schließlich weiß der Leser ebenso wenig wie Jul selber, was der eigentliche Zweck der Reise nach Agrigent ist. Will Jul wirklich seine Frau besser verstehen, oder will er sich vielmehr von ihrer Fremdheit überzeugen? Einmal scheint die personale Perspektive von Jul zu Mara überzuwechseln, aber vielleicht rekonstruiert Jul in einem Augenblick seltener Einsicht die Wahrnehmungsweise seiner Frau. Es handelt sich um einen Festzug, den beide zusammen beobachtet haben: Sie zuckte zusammen, wenn die Blaskapelle einen vaterländischen Marsch über den Dorfplatz schmetterte […]. Und erst recht, wenn die jungen Schützen in ihrer Andreas-HoferUniform aufmarschierten. Irgendwie sah sie die nicht vorhandenen Gewehre südwärts gerichtet, also gegen die Italiener, und letztlich gegen sich selbst und ihren Vater. […]⁴⁷
Es handelt sich beim Festzug um eine Extremform des „Trachtlerischen“. Die sichtbaren Zeichen konnotieren unsichtbare Zeichen, die wiederum die eingefleischte Feindseligkeit gegen alles Fremde zum Ausdruck bringen. Das ist der „deutsche Frosch“, von dem bei Herta Müller die Rede war. Herta Müllers Frühwerk stellt, im Nachhinein betrachtet, den Schwanengesang einer untergehenden Welt dar. Sie zeigt diese aber als eine Welt, in die die Todesstarre bereits eingetreten ist. Der Fortgang aus dem Dorf, zumindest in die Stadt, wenn nur möglich ganz ins Ausland, ist die einzige Perspektive, die sich ihren Figuren auftut. Die Todesthematik und wiederkehrenden Inzestandeutungen untermauern den Eindruck, dass hier eine Gesellschaft die Fähigkeit zur Regeneration verloren hat. Müllers Thematik steht dabei in einem merkwürdigen Kontrast zu ihrem Sprachgebrauch, der mit seiner Aufnahmebereitschaft für die Bilderwelt der rumänischen Nachbarschaft geradezu nachweist, dass ein Rege-
J. Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 76 f. H. Korte, „Heimatkrallen“, In: TRANS 17, 2010, http://www.inst.at/trans/17Nr/1-1/1-1_korte17. htm, [Abgeufenam: 24.1. 2011). J. Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 169.
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nerieren, zumindest auf individueller Ebene, möglich ist. Es setzt aber die Überwindung der Isolation voraus. Bei Zoderer liegt der Fall anders. Das deutschsprachige Südtirol ist in seinem Überleben gegenwärtig kaum gefährdet. Durch die Öffnung der europäischen Grenzen ist es praktisch nicht mehr vom sonstigen deutschen Sprachraum abgeschnitten. Zoderers Sprache fehlt auch der exotische Einschlag, der Herta Müller auszeichnet. Die Gefahr, die in Zoderers Werk, insbesondere in den beiden Romanen Die Walsche und Der Schmerz der Gewöhnung, thematisiert wird, ist nicht die des Ablebens der Sprachinsel. Es ist die Gefahr, dass bereits erzielte Integrationserfolge dem Partikularismus zum Opfer fallen. Zoderers Schreiben ist dementsprechend analytischer. Er zeigt die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Begegnung zwischen Vertretern der verschiedenen Sprachgruppen, während die Begegnung in Herta Müllers Frühwerk weitgehend ausgeblendet bleibt. Die Vernachlässigung der Integration zugunsten des Partikularismus birgt langfristig auch eine Gefahr für Südtirol. Denn der Partikularismus der Enklave erhält sich vornehmlich durch das „Trachtlerische“, die symbolische Ausgrenzung des Anderen, die auf Dauer zur Erstarrung der Gesellschaft führt. Enklaven und Sprachinseln bereichern die kulturelle Landschaft Europas, aber sie sind anfällig für Intoleranz und Versteinerung. Mit ihrer Literatur tragen Autoren wie Herta Müller und Joseph Zoderer dazu bei, ihre jeweilige Heimat bekannt zu machen und den Minderheiten Anerkennung zu verschaffen, aber sie warnen auch vor den Gefahren von Isolation und introvertierter Pseudoidentität.
VII Ausgewanderte Es war für mich von Anfang an erstaunlich, wie Austerlitz seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie er sozusagen aus der Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte, und wie für ihn die erzählerische Vermittlung seiner Sachkenntnisse die schrittweise Annäherung an eine Art Metaphysik der Geschichte gewesen ist, in der das Erinnerte nochmal lebendig wurde. W. G. Sebald, Austerlitz ¹ Erzählung, nichts Weltlicheres als du, nichts Gerechteres, mein Allerheiligstes. Erzählung, Patronin des Fernkämpfers, meine Herrin. Erzählung geräumigstes aller Fahrzeuge, Himmelswagen. Peter Handke, Die Wiederholung ²
W. G. Sebald Bei W. G. Sebald (1944 – 2001), der im letzten Jahrzehnt seines kurzen Lebens zu internationalem literarischem Ruhm kam, haben wir es mit einem europäischen Autor zu tun, der sich sehr bewusst der ursprünglichen Heimat und jeder nationalen Zuordnung entzog. Der aus dem dicht an der österreichischen Grenze liegenden Wertach im Allgäu stammende Autor verbrachte seine zweite Lebenshälfte in England und war, wie es im leicht archaisierenden Titel seines zweiten großen Prosawerkes Die Ausgewanderten heißt, im wahrsten Sinne ein ‚Ausgewanderter‛. In diesem, an Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten anklingenden Titel schwingt etwas von der scheinbar unzeitgemäßen Tonlage des Autors mit, die jedoch, wie Sebalds internationaler Erfolg belegt, offenbar geradezu einem Bedürfnis unserer Zeit entgegenkommt. Anders als bei den vier „Ausgewanderten“ in Goethes Novellensammlung handelt es sich beim Autor Sebald nicht um ein politisches Exil, sondern um eine freiwillige Umsiedlung, die ursprünglich vielleicht gar nicht als dauerhaft und somit auch nicht im eigentlichen Sinne als Auswanderung geplant war. Die ungewöhnliche Form „Ausgewanderter“ klingt weniger absichtsbetont als das gängigere Wort ‚Auswanderer‛, denn die Partizipialform impliziert, dass das
W. G. Sebald, Austerlitz, Müchen 2001, S. 18 f. P. Handke, Die Wiederholung, Frankfurt/M. 1986, S. 333. https://doi.org/10.1515/9783110706338-009
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Ausgewandertsein als solches erst dann richtig wahrgenommen wird, wenn es schon geschehen ist. Bei Sebald steht das ‚Ausgewandertsein‛ in einem inneren Zusammenhang mit einer besonderen Sensibilität für die jüngere Geschichte Europas, in deren Verlauf der Begriff Heimat ideologisch überhöht und zugleich für Millionen faktisch unerreichbar gemacht wurde. Diese Sensibilität dürfte wiederum erst durch den räumlichen Abstand von der Heimat richtig geschärft worden sein. W. G. Sebald zog 1966 zunächst zum Studium der Germanistik nach Manchester und übernahm 1970 nach einem Aufenthalt in der Schweiz eine Dozentur in Germanistik in Norwich, wo er schließlich den Lehrstuhl für deutsche Literatur bekam. Seine Forschungsinteressen und der Tatbestand, dass er beruflich mit der Vermittlung deutschsprachiger Literatur im europäischen Ausland zu tun hatte, dürften zur Befestigung seiner kritischen Ablehnung der provinziellen Enge seiner eigenen Heimat und der sauber restaurierten Bundesrepublik insgesamt beigetragen haben. Uwe Schütte bezeichnet Sebalds wissenschaftliches Wirken als das eines „Partisans am Rande der Germanistik“.³ Die Dissertation über Alfred Döblin, eine Monographie über Carl Sternheim und zahlreiche kleinere Arbeiten über Schriftsteller, insbesondere des altösterreichischen Kulturraums, führten unausweichlich zur Auseinandersetzung mit den Themen Antisemitismus, Ausgrenzung und Emigration, die er in seinem literarischen Werk weiter ausbaute.
Unheimliche Heimat Mit Sebald wird in diesem Kapitel ein Bogen zur Erfahrungswelt von den bereits zu Beginn dieser Studie genannten Autoren Joseph Roth und Jean Améry gespannt. Über beide Autoren schrieb Sebald Aufsätze, die er später in seinen Sammelband Unheimliche Heimat aufnahm. Die Erfahrung, die Jean Améry als Opfer der Verfolgung und Überlebender des Holocaust mit seiner österreichischen Heimat machte, die besondere Art von Heimweh, die einsetzt, wenn die Heimat nicht nur verloren, sondern auch als Gegenstand der Sehnsucht entwertet ist, stellt hier einen Leitgedanken dar, der die einzelnen Beiträge zur österreichischen Literatur in dem Band zusammenhält. Heimat, so eine Grundthese der Aufsätze, wird immer mehr zum Thema und zum Gegenstand der Sehnsucht, je weniger sie sich mit einer echten sozialen Realität deckt. Das Motiv der Unerreichbarkeit von Heimat, deren realer Bezug sich immer
U. Schütte, W.G. Sebald. Liverpool 2018, S. 15. Zu Sebalds Forschungsarbeit s. Elena Agazzi, W. G. Sebald: i difesa dell’uomo, Milano 2012, Kap. 1.
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mehr in die Vergangenheit zurückzieht, bildet ein Bindeglied zwischen Sebalds Forschung und seinem literarischen Werk. In der Einleitung zu Unheimliche Heimat heißt es: Der Heimatbegriff ist verhältnismäßig neuen Datums. Er prägte sich eben in dem Grad aus, in dem in der Heimat kein Verweilen mehr war, in dem einzelne und ganze gesellschaftliche Gruppen sich gezwungen sahen, ihr den Rücken zu kehren und auszuwandern. Der Begriff steht somit, wie das ja nicht selten der Fall ist, in reziprokem Verhältnis zu dem worauf er sich bezieht.⁴
Genau dieses reziproke Verhältnis scheint auch Sebalds eigene Beschäftigung mit dem Thema Heimat zu motivieren. Zwei Arten von Heimatverlust werden in dieser retrospektiven Zusammenstellung von Aufsätzen zur Sprache gebracht. Zum einen geht es um die endgültig verlorene, weil mutwillig zerstörte Heimat des osteuropäischen Judentums. Zum anderen geht es um den durch verlogene Folklore und ideologischen Missbrauch verfälschten Heimatbegriff, der im Faschismus praktiziert wurde und der in allem „Trachtlerischen“, wie sich Sebald in Bezug auf eine Textstelle bei Handke ausdrückt, fortlebt: Das Trachtlerische ist […] keineswegs identisch mit einer auf die Bewahrung der Heimat ausgerichteten Einstellung; sondern es ist das untrügliche Indiz für einen Opportunismus, der die Propagierung des Heimatbegriffs ohne weiteres mit der Zerstörung der Heimat zu vereinbaren weiß. Darüber hinaus bedeutet das Trachtlerische in letzter Konsequenz auch die Negation jeden Auslands.⁵
Wenn, wie im Faschismus mit deutschen und österreichischen Juden geschehen, Menschen, die sich sonst in ihrer Heimat zuhause gefühlt haben, zu Fremden deklariert werden, kommt dies nicht nur der Zerstörung von Heimat gleich, sondern es unterminiert das fundamentale Grundvertrauen des Menschen. Um diesen Fall geht es in Unheimliche Heimat im Beitrag über Améry, und um die psychische Auswirkung des Heimatentzugs geht es dann auch in den vier Erzählungen in Sebalds Prosaband Die Ausgewanderten. Ein Land, das sich als Heimat so willkürlich entziehen lässt, ist schließlich auch für die verbliebenen, nicht ausgegrenzten Menschen, sofern sie überhaupt sensibel sind, als verlässliche Heimat letztlich nicht annehmbar, da in ihm ein menschenwürdiges Dasein nicht möglich ist. Darin liegt der logische Zusammenhang zwischen Werk und Lebenslauf Sebalds.
W.G. Sebald, Unheimliche Heimat, Frankfurt/M. 1995, S. 11 f. W.G. Sebald, Unheimliche Heimat, S. 167.
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Jean Améry spielt in Sebalds Werk eine Schlüsselrolle. In verschiedenen Interviews ging Sebald auf den außerordentlichen Eindruck ein, den die Lektüre Amérys bei ihm hinterließ. Die von Améry infolge seines erzwungenen Ausgegrenztseins geschilderte Erkenntnis vom wahren Charakter seiner bis dahin weithin unkritisch akzeptierten Heimat dürfte auch Sebald zur kritischen Einschätzung der eigenen Heimat angeregt haben. Dazu schreibt Irene HeidelbergerLeonard: Zu wirklichen Wahlverwandten werden Sebald und Améry allerdings erst in der Verwerfung ihrer einstigen landschaftsideologischen Zugehörigkeit, ja in ihrem retrospektiven Entsetzen über die einstige Provinzialität, wenn nicht gar Bodenständigkeit.⁶
Anders als Améry verließ Sebald seine Heimat nicht aus Zwang, und doch wirkt auch bei ihm die Ferne als Katalysator für eine Neueinschätzung der Selbstverständlichkeiten seiner heimatgebundenen Kindheit und Jugend: Bei dem Nachgeborenen Sebald, auch er erzogen zur Unmündigkeit, wie die meisten seiner Zeitgenossen, ist es allein der Ausbruch in die Fremde, der den Blick freigibt auf seine schuldig/unschuldige Kindheit.⁷
Eine „Erziehung zur Unmündigkeit“ ist für die erste Nachkriegsgeneration im Jahrzehnt des bedrückenden Schweigens über Krieg und Holocaust geradezu typisch. Davon zeugen zahlreiche autobiographisch gefärbte Familien- und Generationenromane; man denke an Werke von Uwe Timm, Hans-Ulrich Treichel, Ulla Hahn u.v.a. Dieselbe Problematik der ersten Nachkriegsgeneration ist auch in Österreich gegeben, wie Sebald in einem Aufsatz zur Grazer Literatur hervorhebt. Die junge Generation österreichischer Autoren, die im Zusammenhang mit dem Grazer „Forum Stadtpark“ bekannt wurde, hat auch ihre Erfahrungen mit der „unheimlichen“ Heimat gemacht. Diese fasst Sebald recht drastisch zusammen: Bevormundung, Unterdrückung, Knechtschaft, Gefangenschaft, Leibeigenschaft – in diese Reihe mußten fast zwangsläufig alle neueren österreichischen Autoren die von ihnen in der Heimat gemachten gesellschaftlichen Erfahrungen einordnen.⁸
I. Heidelberger-Leonard, Jean Amérys Werk. Urtext zu W. G. Sebalds Austerlitz? In: W. G. Sebald. Mémoires. Transferts. Images. Erinnerung. Übertragung. Bilder, hg. von R.Vogel-Klein, 2005, S. 117– 128. Hier S.118. Ebd. W. G. Sebald, Damals vor Graz. In: Heimat im Wort, hg. von R. Görner, München 1992, S. 131– 139. Hier S. 136.
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Diese Generationserfahrung teilt Sebald u. a. mit Gerhard Roth, den er im selben Aufsatz zitiert und kommentiert: „Die Elterngeneration hätte eigentlich aus Entsetzen über das Geschehene uns so erziehen und aufklären müssen, daß wir hellhörig und feinfühlig gegen jegliche Nazitendenz hätten werden müssen“, so indiziert der Konjunktiv, daß wir so eben nicht erzogen wurden. Daß man uns stattdessen, wie Roth weiter vermerkt, „wieder zu Gehorsam und Pflichterfüllung“ angehalten hat.⁹
Mit dem „wir“ im kommentierenden Satz bekennt Sebald, dass er selber ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Man geht auch bestimmt nicht zu weit mit der Behauptung, dass das ganze literarische Werk Sebalds aus solchem „Entsetzen über das Geschehene“ herausgeschrieben ist. Anders als viele Generationsgenossen, die ihre nachkriegsdeutsche oder -österreichische Kindheit aus gebührendem zeitlichem Abstand detailliert verarbeiten, gibt Sebald in seiner literarischen Prosa nur sehr spärlich Auskunft über die eigene Biographie, obwohl sich das Erzähler-Ich in allen seinen größeren Prosawerken in auffälliger Ermangelung jeglicher Fiktionalitätsmarkierung immer wieder als Stimme des Autors wahrnehmen lässt. Die Enge der eigenen Herkunft wird gelegentlich flüchtig angedeutet, während das Hauptaugenmerk immer auf das Leben und die Traumata anderer gerichtet wird. Die ausführlichste Darstellung der eigenen Heimat findet sich im ersten großen Prosawerk Schwindel, Gefühle im Kapitel mit dem befremdlichen Titel „Il Ritorno in Patria“. Der italienische Titel der Geschichte, der als Anspielung auf Monteverdis Ulysses-Oper und weiter auf die Heimkehrgesänge der Odyssee gelesen werden kann, drückt gleich die große Distanz aus, die der Verfasser zur ehemaligen Heimat nimmt. Die Abwehr ist durchweg spürbar. Sie betrifft nicht nur den Ort selbst, sondern auch die ganze Bundesrepublik, wie die Beschreibung der Landschaftseindrücke auf der Rückfahrt nach England deutlich macht. Der Reisende fährt […] durch das mir von jeher unbegreifliche, bis in den letzten Winkel aufgeräumte und begradigte deutsche Land. Auf eine ungute Weise befriedet und betäubt schien mir alles, und das Gefühl der Betäubung erfasste bald auch mich.¹⁰
Obgleich die Flurbereinigung keineswegs ein spezifisch deutsches Phänomen ist, drängt sich in Deutschland die historische Analogie zur Begradigung der Ge-
W. G. Sebald, Damals vor Graz, S. 133. Sebald zitiert eine Äußerung G. Roths aus einem Interview in profil 22, 1987. W. G. Sebald, Schwindel, Gefühle, Frankfurt/M. 2002, S. 276 f.
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schichte geradezu drastisch auf. Ein ähnliches Unbehagen befällt den Reisenden immer wieder auch in den späteren Werken, wenn er durch Deutschland fahren muss.
Sebalds Poetik Neben seinen Aufsatzsammlungen zu bekannten Werken der deutschen und vor allem der österreichischen Literatur und einem kontroversen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung in der Studie Luftkrieg und Literatur (1999) besteht Sebalds Oeuvre aus dem Poem Nach der Natur und vier Prosabänden, Schwindel, Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1992), Die Ringe des Saturn (1992) und Austerlitz (2001). Diese vier Bände stellen ein Werk von ungewöhnlicher innerer Kohärenz dar, und man kann Ruth Klüger nur zustimmen, wenn sie schreibt, „dass Sebald immer dasselbe Buch geschrieben hat; nur dass es immer besser wurde.“¹¹ In seiner literarischen Prosa wie in seiner Forschung beschäftigte Sebald sich mit Identitätssuche, Heimat und Heimatverlust sowie dem Verhältnis von Biographie und Geschichte. Seine Werke zeichnen sich grundsätzlich durch ihre ausgeprägte Melancholie aus. Sie sind, um den Titel einer seiner wissenschaftlichen Essay-Sammlungen zu zitieren, allesamt „Beschreibungen des Unglücks“.¹² Sebalds Figuren suchen immer wieder nach den Koordinaten ihrer Identität, wobei die ihnen von außen zugeteilte Rolle angesichts der erhaltenen und noch mehr der verschollenen und verdrängten Erinnerungen inhaltsleer erscheint. Mit ihren Erinnerungen wühlen sie die glatte Oberfläche der Gegenwart auf und verkrallen sich in die verhängnisvolle Geschichte Europas, die sich langsam entfaltende allgemeine Katastrophe, in der die individuellen Katastrophen ihren jeweiligen Platz haben. Das Unglück, das in ihnen beschrieben wird, ist in der Regel keines, das den Protagonisten von außen zustößt, sondern eher eine Anteilnahme am Leiden der Welt, die sich in einer ans Pathologische grenzenden Melancholie äußert. Sebald schreibt denn auch weniger darüber, was seinen Protagonisten geschieht, als über ihre Wahrnehmung der Welt und der Geschichte. Insofern stehen seine Bücher allesamt am Rande der Gattung Roman. Dazu meint erneut Ruth Klüger:
R. Klüger, Wanderer zwischen falschen Leben. Über W. G. Sebald. In: Text + Kritik 158, 2003, S. 95 – 102. Hier S. 100. W. G. Sebald, Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Frankfurt/M. 1994.
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Nicht nur Ehen und Liebesaffären sind abwesend oder nur kühl angedeutet, auch Eltern und Kinder leben nicht miteinander, und selbst Freundschaften sind als solche kaum erkennbar, obwohl es Menschen gibt, die einander viel erzählen und erklären, denn das ist ja der Duktus von Sebalds Fiktionen. Anders gesagt, es fehlen genau diejenigen Konstellationen, die wir vom Roman erwarten.¹³
Statt herkömmlicher Romane liefert Sebald ein wahres Kuriositätenkabinett. Denn das, was sich die Menschen dort erzählen und erklären, hat mit ihren Häusern, ihren Ahnen, diversen Produktionsverfahren usw. und eher selten mit ihnen selbst zu tun. Diese Zurückhaltung erklärt sich aus zweierlei Scheu. Zum einen erstreckt sich Sebalds für heutige Verhältnisse ungewöhnlicher Respekt vor der Intimsphäre auch auf erfundene Personen. Zum anderen liegt diese Zurückhaltung in Bezug auf die Entfaltung privater Geschichten auch in einem allgemeineren Vorbehalt gegen das Fiktive, dem für Sebald grundsätzlich immer der Ruch des Kolportagehaften anheftet. Als hohes Lob auf Joseph Roth ist es daher zu werten, wenn Sebald in seiner Aufsatzsammlung Unheimliche Heimat über dessen Radetzkymarsch bemerkt, „wie skeptisch Roth allen Fiktionalisierungen, auch seinen eigenen, gegenüberstand“.¹⁴ Der Vorbehalt gegen Fiktionen durchzieht die scharfe Kritik, die Sebald mehrfach gegen die deutsche Nachkriegsliteratur richtet. Statt den Opfern des Krieges angemessen zu gedenken, würden die Romane der frühen Nachkriegsjahre mit ihren Erfindungen reines Wunschdenken praktizieren. Mit Alfred Andersch und seinen Kirschen der Freiheit ging Sebald, wie gesehen, besonders scharf ins Gericht, aber seine Kritik des Wunschdenkens gilt auch pauschal für die Literatur der 50er Jahre und wird beispielsweise besonders deutlich im Vorspann eines Aufsatzes von 1983 über Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer. Dort heißt es unter Bezugnahme auf die Thesen Alexander und Margarete Mitscherlichs von der „Unfähigkeit zu trauern“: Das Defizit, um das es hier geht, läßt sich vielleicht besser als irgendwo sonst ablesen an der Literatur, die in den zehn, zwölf Jahren nach der Währungsreform entstanden ist und die kaum eine Einsicht in den Zusammenhang kollektiver Schuld und in die Notwendigkeit einer Beschreibung des angerichteten Unheils zu erkennen gibt. – Egozentrische Larmoyanz und eine eher zu kurz zielende Kritik der neuen Gesellschaft stellen zum Beispiel in vielen Romanen der fünfziger Jahre das Surrogat für die Beschäftigung mit dem, was anderen von uns widerfuhr.¹⁵
R. Klüger, Wanderer zwischen falschen Leben, S. 96. W. G. Sebald, Unheimliche Heimat, S. 116. W. G. Sebald, Konstruktionen der Trauer. Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer. In: Campo Santo München 2003, S. 101– S. 127. Hier S.103. (Erstdruck in Deutschuntericht 1983).
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Im selben Aufsatz führt Sebald weiter aus, dass man dem katastrophalen Verlauf der Geschichte in seinen Auswirkungen auf individuelle Menschen mit Fiktionen nicht gerecht werden kann, und nimmt als Beispiel sowohl eines richtigen als auch eines falschen Vorgehens Günter Grass’ Tagebuch einer Schnecke unter die Lupe. Nach Sebald habe Grass in diesem Buch das Schicksal der Danziger Juden zurecht gewürdigt, indem er sich auf die Forschungsergebnisse des Historikers Erwin Lichtenstein stützt. Dagegen werde von Grass durch die Einführung der idealisierten Gestalt des fiktiven Lehrers Ott, genannt Zweifel, die Wirkung des Buches wieder entschieden abgeschwächt.¹⁶ Einen noch expliziteren Ausdruck findet der Vorbehalt gegen die Fiktionalisierung schließlich im kontroversen Aufsatz Luftkrieg und Literatur, wo Sebald den relativ geringen literarischen Niederschlag der Zerstörung der deutschen Großstädte im Zweiten Weltkrieg behandelt. Dort fällt er ein vernichtendes Urteil über einen der wenigen Romane, die den Bombenkrieg thematisieren, Peter de Mendelssohns Die Kathedrale. Dem Roman wirft er „Laszivität und erzdeutschen Rassenkitsch“ vor.¹⁷ Eine grundsätzlich ähnliche, wenn auch weniger pointierte Kritik richtet er auch an Hermann Kasacks zum Expressionismus neigenden Roman Hinter dem Strom. Statt solcher Ästhetisierung betont Sebald die Vorzüge eines dokumentarischen Schreibens, für das er in Nossacks Der Untergang, der seinerzeit auch Jean Paul-Sartre stark imponierte, einen Vorläufer sieht.¹⁸ Doch geht es Sebald bei seiner Kritik an der Nachkriegsliteratur wohl nicht nur um die reine Faktizität, denn seine eigene Prosa ist auch nicht dokumentarisch in dem Sinne, wie es die Experimente der sechziger Jahre waren. Dafür schweift er zu gerne aus. Seinem Schreiben fehlt die ausschließliche Konzentration auf den jeweils behandelten Gegenstand, die man etwa von Günter Wallraff oder von der Protokollliteratur Erika Runges oder Maxie Wanders kennt. Sein Erzähler ist nicht einer, der nur registriert und aufschreibt, sondern einer, der sein Material ordnet, schichtet und deutet. Nicht ganz zu Unrecht bezeichnet Hugo Dittberner diese Prosa als „diskurshaft und sekundärliteraturmäßig“.¹⁹ Sekundärliteraturmäßig ist vor allem der Umgang mit fremden Werken, die er oft über lange Passagen referiert. In seinem literarischen Werk greift Sebald nicht selten dieselben Themen auf, die er in seinen wissenschaftlichen Aufsätzen behandelt. Es werden auch Werke anderer Autoren ausführlich referiert. Einzelne Passagen werden fast wörtlich exzerpiert, wobei intertextuelle Anleihen manchmal über Ebd., S. 115. W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München 1999, S. 68. W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, S. 70. H. Dittberner, Der Ausführlichste oder: ein starker Hauch Patina. W. G. Sebalds Schreiben. In: Text + Kritik 158, 2003, S. 6 – 14. Hier S. 12
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gangslos ineinander fließen.²⁰ Die Besonderheit von Sebalds Prosa erfasst Claudia Öhlschläger treffend, wenn sie Sebalds Texte mit Netzwerken vergleicht, „die weder Anfang noch Ende markieren, stattdessen aber aus Knotenpunkten bestehen, von denen immer wieder neue Spuren sich einen Weg bahnen […]“.²¹ Sebald neigt zum Assoziativen und Anekdotischen, und im Netzwerk seiner Prosa ergeben sich oft überraschende Zusammenhänge, bei denen sich immer neue Facetten europäischer Geschichte und Kulturgeschichte auftun. Das von Sebald erstellte Mosaik aus nicht immer fiktiven Fragmenten von Biographie und allgemeiner Geschichte wird in der Regel von einem Ich-Erzähler vermittelt, der mit dem Autor weitgehend übereinzustimmen scheint. Zusammen mit den eingelegten Photographien täuscht diese Schreibweise Faktizität vor und verleiht den Büchern den Charakter des Authentischen, besonders wenn sie, wie in den Ringen des Saturn, die Gestalt eines Reisetagebuches annehmen. Dennoch kann man mit Susan Sontag die Frage stellen, ob es sich beim Erzähler wirklich um den Autor selbst handelt oder Sebald nicht viel mehr einer fiktiven Figur seinen Namen und Grundzüge seiner Biographie geliehen hat.²² Der Gedanke liegt nahe, dass die Übereinstimmung des Erzählers mit dem Autor eine kalkulierte Funktion in Bezug auf das Rezeptionsangebot des Textes ausübt, wobei es weniger um die Glaubwürdigkeit als um die rhetorische Haltung geht.
Die Ausgewanderten Anders als in Schwindel, Gefühle wird im zweiten Erzählband Die Ausgewanderten kein eigentlicher Heimkehrversuch mehr unternommen. Die paar Reisen, die der Erzähler bei seinen Recherchen über die einzelnen „Ausgewanderten“ nach Deutschland unternimmt, verstärken noch das trübe Bild von dem von Amnesie befallenen Wirtschaftswunderland, das im vorigen Erzählband gemalt wurde. Dennoch rückt in den Ausgewanderten die Heimats- und Heimwehthematik insgesamt deutlicher in den Vordergrund. Die vier langen Erzählungen des Bandes wenden sich dem Schicksal von Menschen zu, die durch Faschismus und Weltkrieg oder auch nur durch Zufall deplatziert sind. Das wird später auch das
Man vergleiche Jean Amérys Darstellung der Folter Amery (Werke 2, S. 73) mit ihrer Zusammenfassung im Roman Austerlitz, S. 38. Sebald verbindet wörtliche Wendungen aus Amérys Bericht im selben Satz mit einem Zitat von Claude Simon. Claudia Öhlschläger, Unschärfe, Schwindel, Gefühle. W. G. Sebalds intermediale und intertextuelle Gedächtniskunst. In: Ruth Vogel-Klein (Hg.): W. G. Sebald, 2005, S. 11– 23. Hier S. 23. S. Sontag 2000, „A mind in mourning“ (Rezension zu Vertigo, der englischen Übersetzung von Schwindel. Gefühle). In: TLS 25. 2. 2000.
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zentrale Thema von Austerlitz. Zusammengehalten werden die Erzählungen durch die Gemeinsamkeiten im Schicksal der jeweils porträtierten Hauptfigur und der melancholischen Grundstimmung, die sie mit dem Erzähler selbst teilen. In der ersten Erzählung geht es um den gebürtigen Litauer Henry Selwyn, bei dem der Erzähler und seine Frau eine Wohnung mieten. Er war als Kind mit seinen Eltern auf der Überfahrt von Litauen nach Amerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts „versehentlich“ in England geblieben. Das ist ein Schicksal, das aus Versehen oder aus der betrügerischen Absicht der Schifffahrtsunternehmer wohl vielen Emigranten widerfahren ist.²³ In der zweiten Erzählung der Ausgewanderten berichtet der Erzähler von seinem Lehrer im süddeutschen S., dessen Leben er recherchiert, nachdem er von dessen Selbstmord erfahren hat. Der Lehrer, Paul Bereyter, wurde von den Nazis als „Dreiviertelarier“ eingestuft und mit Berufsverbot schikaniert. Er emigrierte zunächst nach Frankreich, hielt es aber in der Fremde nicht aus und kehrte dann noch vor dem Zweiten Weltkrieg ins Dritte Reich zurück. Die Heimat bleibt ihm mit der ständigen Erinnerung an die Erniedrigungen, die seine Familie in den dreißiger Jahren zu erleiden hatte, verbunden. Dennoch übt er, von Idealismus beflügelt, seinen Lehrerberuf nach dem Krieg weiter am selben Ort aus, und es zieht ihn noch nach seinem Ausscheiden aus dem Beruf bis zu seinem Tod immer wieder dahin zurück. Der Verwandtschaft des Erzähler-Ich in der dritten Erzählung ist, anders als Henry Selwyn, die Auswanderung nach Amerika weitgehend gelungen, doch die Titelgestalt, Ambros Adelwarth, geht dort nach dem Tod seines jungen Arbeitgebers und Freundes, Cosmo Solomon, mit dem er extravagante Weltreisen unternommen hat, in einer psychiatrischen Klinik zugrunde. Die letzte Erzählung handelt von dem Maler Max Aurach, der als Kind von seinen Eltern zu Verwandten in Großbritannien geschickt wurde und so dem Schicksal der Familie im Holocaust entkam. Als Vorbild für diese Figur ist der Londoner Maler Frank Auerbach zu erkennen, von dem in den ersten Auflagen des Buches auch ein Werk abgebildet war.²⁴ Die einzelnen Schicksale werden von einem Erzähler berichtet, den man versucht ist, dem Autor gleichzusetzen. So fängt die erste Erzählung mit der genauen Angabe an: „Ende September 1970, kurz vor Antritt meiner Stellung in der
Von einem ähnlichen Fall berichtet Jeremy Gavron in An Acre of Barren Ground (2005), das aus verschiedensten Blickwinkeln und in verschiedenen Genres Geschichte und Gegenwart des Londoner Viertels um Bick Lane behandelt. Um die Anonymität der Vorlage zu wahren, wechselte Sebald für die englische Übersetzung des Bandes den Namen des Malers zu Ferber und entfernte die Abbildung, die zu sehr den Stil Auerbachs erkennen ließ.
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ostenglischen Stadt Norwich, fuhr ich mit Clara auf Wohnungssuche nach Hingham hinaus“.²⁵ Ein solcher Textanfang erweckt Erwartungen auf eine viel aktivere diegetische Rolle des Erzählers als die tatsächlich eintretende, wo der Erzähler regelmäßig in seinen Recherchen über die von ihm entdeckten und beschriebenen Personen aufgeht. Die an Symbiose grenzende Einfühlung des Erzählers in die von ihm rekonstruierten Lebensläufe stellt das besondere Merkmal von Sebalds erzählerischer Prosa dar. Sie geht bis in die sprachliche Gestaltung hinein, bei der normalerweise kein spürbarer Unterschied zwischen Erzählerdiskurs und Figurendiskurs gemacht wird. Auch bei langen Passagen in der ersten Person muss man als Leser genau darauf achten, ob es sich um Erzählerdiskurs oder um Berichte seiner Informanten handelt, denn der leicht behäbige Duktus bleibt sich meistens gleich. Aber es gibt keine Regel ohne Ausnahmen. In den Ausgewanderten lassen plötzliche Einbrüche eines bestimmten Idioms, oft in einer Fremdsprache, eine flüchtige mimetische Vorstellung von der oralen Sprechsituation entstehen. Gelegentliche Durchbrüche des Englischen, seltener des Französischen, beleben den Text. Am häufigsten geschieht dies in der dritten Erzählung, wenn der Erzähler in Amerika recherchiert. Durch Einsprengsel wie „What a day to go for a drive!“ (Tante Fini in „Ambros Adelwarth“)²⁶ wird den Lesern vermittelt, dass zumindest einige der nach Amerika ausgewanderten Verwandten sich halbwegs akklimatisiert haben. So wird die für die Migrationssituation typische Mehrsprachigkeit des Alltags mimetisch in den Text eingeführt. An anderer Stelle in derselben Erzählung wird durch eine winzige syntaktische Nuance die Gegenwart des Jiddischen unter den Migranten in Amerika angedeutet. Dies geschieht, wenn der Erzähler den Bericht des Dachdeckers von dessen beruflichen Anfängen in der neuen Welt wiedergibt und dabei eine Frage des Arbeitgebers scheinbar im Originalton anführt: „Bist du schwindelfrei? Und falls ja, kannst du hingehen auf die neue Jeschiwa, wo sie brauchen Blechschmiede wie dich.“²⁷ Sebalds „Ausgewanderte“ haben in der Regel mit der Heimat gebrochen und wollen kaum etwas von ihr in die neue Umgebung hinüberretten. Dennoch fragt gleich Henry Selwyn, der Protagonist der ersten Erzählung, den offenbar noch recht frisch ausgewanderten Erzähler, ob dieser denn nie Heimweh verspüre. Dabei gesteht er, dass er im zunehmenden Alter selbst immer mehr Sehnsucht nach dem Ort seiner litauischen Kindheit habe. Mit diesem Geständnis leitet Selwyn den Bericht über seine Jugend ein, den der Erzähler dann referiert. Die W. G. Sebald, Die Ausgewanderten, Frankfurt/M. 1994, S. 7. Typisch für Sebalds Vexierspiel mit der Erzähleridentität hieß seine Frau nicht Clara, sondern Ute. W. G. Sebald, Die Ausgewanderten, S. 124 f. W. G. Sebald, Die Ausgewanderten, S. 123.
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Frage selbst überschattet aber sämtliche Erzählungen des Bandes wie auch das Sebaldsche Werk überhaupt. Das Heimweh kommt auch in den anderen Erzählungen zur Sprache. Bereyter hält es in der Fremde nicht aus, und kehrt ins Dritte Reich zurück, obwohl er seinen Beruf dort nicht ausüben kann. Tante Thresen in der dritten Erzählung leidet am meisten unter Heimweh und ist während ihrer Besuche in Deutschland immer untröstlich, weil der baldige Abschied wieder bevorsteht. Aber diese Nebenfigur ist wohl eher eine Ausnahme unter Sebalds „Ausgewanderten“, weil sie, zwar ohne ihre Besuche besonders genießen zu können, immerhin noch den besuchten Ort als ihre Heimat empfinden kann. In den meisten Fällen ist in diesen Erzählungen das Heimweh ein Leiden, das nicht etwa durch die Rückkehr zum Ort der Herkunft zu stillen ist, sondern im Gegenteil durch solche Besuche eher schlimmer wird, weil das, was diese Orte der jeweiligen Person einmal bedeutet haben, unwiederbringlich verloren ist. Die Fremde bleibt fremd, weil sie eben nicht Heimat ist, doch die Heimat selbst bleibt eine Chimäre. Wenn sie in spürbare Nähe rückt, dann verursacht sie ein noch größeres Unbehagen. Das ist bei den Reisen des Erzählers nach Deutschland in der zweiten Erzählung, wo er das Leben seines verstorbenen Lehrers recherchiert, und in der letzten Erzählung bei der Fahrt nach Bad Kissingen auf den Spuren von Aurach/Ferbers Mutter der Fall. Aurach/Ferber selbst erlebt eine Krise, wenn er eine Kindheitsreise in die Schweiz wiederholt. Andererseits bietet auch die Fremde keine neue Heimat, wenn einem das Gespenst der Herkunft nachreist. So ist für Aurach, der in Manchester seine endgültige Heimat gefunden hat, diese nicht erfrischend anders als das von der Shoah überschattete Mitteleuropa, der er nur knapp entkommen ist, und Adelwarth, in der Sicherheit seiner amerikanischen Wahlheimat, geht an den Folgen des Zweiten Weltkriegs ebenso sicher zugrunde, als wenn er in Europa geblieben wäre. Die Erzählungen sind außer durch ihre Grundthematik auch durch bestimmte Leitmotive miteinander verbunden. In jeder Erzählung haben die Protagonisten bestimmte Schlüsselerlebnisse in der Schweiz. Außerdem macht sich in jeder der vier Erzählungen die geisterhafte Anwesenheit eines fünften Ausgewanderten, des Schmetterlingssammlers Vladimir Nabokov bemerkbar. Bereits in der ersten Geschichte wird diese Gestalt eingeführt, als Selwyn dem Erzähler Reisedias aus vergangenen Jahren zeigt. Dem Erzähler fällt besonders eine Aufnahme auf, wo Selwyn
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in knielangen Shorts, mit Umhängetasche und Schmetterlingsnetz“ zu sehen ist und die bis in Einzelheiten einem in den Bergen oberhalb von Gstaad gemachten Foto von Nabokov, das ich ein paar Tage zuvor aus einer Schweizer Zeitschrift ausgeschnitten hatte [glich].²⁸
Diese Aufnahme ist auch im Buch abgebildet. Dabei handelt es sich tatsächlich um ein 1971 in der Nähe von Gstaad aufgenommenes Foto des bekanntlich leidenschaftlichen Schmetterlingssammlers Vladimir Nabokov.²⁹ Dabei ist der Einsatz dieses Fotos im Buch geradezu typisch für Sebalds zwischen Dokument und Fiktion schillernde den Leser vexierend Arbeitsweise. Eine intertextuelle Bezugnahme auf Nabokov gibt es auch in der zweiten Erzählung. Auch hier geht es um eine Begegnung in der Schweiz, aber diesmal nicht mit der Person Nabokovs, sondern mit der Leserin eines seiner Bücher. In den Erzählungen häufen sich flüchtige Anspielungen auf Nabokov, die jedoch trotz ihres jeweiligen ephemeren, geradezu schmetterlingshaften Charakters in ihrer Summe auffällig wirken und zu einer besonderen Interpretationsleistung herausfordern. Besonders verhängnisvoll sind die Auftritte des mysteriösen „Butterfly man“, der in der dritten Geschichte regelmäßig auf dem Gelände der Nervenheilanstalt auftritt, wo Ambros Adelwarth sich freiwillig der Schocktherapie ausliefert, die ihn um seine Erinnerungen und seinen Verstand bringt.³⁰ Es ist auch kein Zufall, dass diese Nervenheilanstalt in Ithaca liegt, einer nach der Heimat des Odysseus benannten amerikanischen Stadt, die zeitweilig auch der Wohnort von Nabokov war.³¹ Schließlich begegnet auch der Künstler Aurach/Ferber in der vierten Erzählung in einem Augenblick tiefster Verzweiflung auf einem Berggipfel in der Schweiz dem mysteriösen Schmetterlingssammler, der ihn in einem, wie es heißt, „geradeso vornehmen wie letztlich unidentifizierbaren Englisch“ ermuntert, den Abstieg zu beginnen.³² Bei der Rückkehr nach Manchester wird der Maler unter größter und, wie er meint, vergeblicher Mühe versuchen, ein Porträt dieses Mannes zu malen. Mit seinen vielen Hinweisen auf Nabokov lädt Sebald nachgerade zu einer intertextuellen Lektüre ein. Diese ist sowohl in Bezug auf die Erinnerungsproblematik als auch auf die Darstellung der Fremdheitserfahrung aufschlussreich. Neben den Protagonisten der vier Erzählungen tritt mit Nabokov ein fünfter W. G. Sebald, Die Ausgewanderten, S. 27. Das Bild befindet sich im Internet unter: http://www.brainpickings.org/2011/07/01/nabokovbutterflies/ [abgerufen am 29.1. 2021] W. G. Sebald, Die Ausgewanderten, S. 151 und S. 170. Dass Adelwarth seine Hotellehre ausgerechnet in Montreux, dem Todesort Nabokovs absolviert, dürfte auch kein Zufall sein. W. G. Sebald, Die Ausgewanderten, S. 259.
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„Ausgewanderter“ auf, zu dem allerdings die eigene Geschichte nicht geliefert wird. Einem weiteren ‚Ausgewanderten‛ widmet Sebald dagegen in Austerlitz ein ganzes Buch.
Austerlitz Austerlitz unterscheidet sich von Sebalds früheren Büchern dadurch, dass hier der Ansatz einer Romanhandlung vorhanden ist, auch wenn diese über große Teile des Textes nicht unmittelbar vorangetrieben wird. Der Protagonist, Jacques Austerlitz, ist als vierjähriges Kriegskind mit einem Sondertransport des Roten Kreuzes nach Großbritannien gekommen und verbrachte seine weitere Kindheit bei Pflegeltern, einem asketischen Methodistenprediger und dessen Frau in Wales. An seine früheste Kindheit kann er sich bald nicht mehr erinnern. Das einzige, was er meint, immer schon lebhaft gefühlt zu haben, ist die eigene Fremdheit. Erst im Internat erfährt er seinen eigentlichen Namen und damit die Tatsache, dass mit seiner Herkunft ein Geheimnis verbunden ist. Doch erst nach einer längeren Karriere als Kulturhistoriker, die mit einer nicht näher bezeichneten psychischen Krise endet, macht sich Austerlitz auf die Suche nach seiner Herkunft, die ihn über eine Reihe von Zufällen nach Prag führt, wo er erfährt, dass seine Mutter in Theresienstadt gestorben und sein Vater nach Frankreich ausgewandert und dort verschollen ist. Wie in den früheren Büchern Sebalds gibt es einen nicht näher identifizierten Erzähler, den man aufgrund der spärlichen Auskünfte über seine deutsche Herkunft und seinem akademischen Beruf dem Autor Sebald gleichzusetzen neigt. Dieser Erzähler lernt zu Beginn des Buches in den sechziger Jahren den Kulturhistoriker Jacques Austerlitz auf dem Hauptbahnhof von Antwerpen kennen. Die Unterhaltung dreht sich zunächst um den Bahnhof selbst, der als erster von mehreren großen Bahnhöfen im Buch ausführlich beschrieben wird. Beim Gespräch geht es vor allem um das Missverhältnis zwischen der Monumentalität des als Symbol des belgischen Kolonialstolzes konzipierten Baus und seiner heutigen realen Funktion. Auf Anraten von Austerlitz besucht der Erzähler bald darauf das Fort von Breendonk, das im Zweiten Weltkrieg der Gestapo als Gefängnis und Folterstätte diente und zu dessen namhaftesten Opfern Jean Améry zählt. Über die nächsten Monate häufen sich zufällige Begegnungen zwischen dem Erzähler und Austerlitz an verschiedenen Orten in Belgien, wobei sie sich weiterhin bevorzugt über baugeschichtliche Kuriositäten unterhalten. Als es sich herausstellt, dass beide in England leben, treffen sie sich noch einige Male in London, dann reißt der Kontakt ab. Seine Lebensgeschichte erzählt Austerlitz dem Erzähler jedoch erst nachdem sie sich nach einer Unterbrechung von mehreren Jahrzehnten zu-
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fällig auf dem Londoner Großbahnhof Liverpool Street wieder begegnen. Diese Lebensgeschichte gibt der Erzähler, die Worte von Austerlitz aus dem Gedächtnis zitierend oder rekonstruierend, weitgehend in der ersten Person wieder. Im Grunde werden im Roman zwei Lebensgeschichten erzählt. Zunächst erzählt Austerlitz, vermittelt durch den Erzähler, von seiner walisischen Kindheit und Jugend, dem Leben, an das er sich erinnern kann. Eine Wende tritt im Roman ein, nachdem Austerlitz seinen Beruf aufgegeben und zum Archäologen seiner eigenen Identität wird. Der Rest des Romans steht ganz im Zeichen des verschütteten Lebens, das er mühsam Stück für Stück rekonstruieren muss, wobei er dem Erzähler nunmehr regelmäßig von den Etappen seiner Forschung Bericht erstattet. Die Suche verläuft zunächst mit traumhafter, um nicht zu sagen romanhafter Leichtigkeit. Durch eine zufällig gehörte Rundfunksendung über die Kindertransporte aus Mitteleuropa im Zweiten Weltkrieg fällt ihm plötzlich ein, wie er überhaupt erst nach Großbritannien gekommen ist und dass er nach Prag fahren muss, um die Spuren seiner Eltern zu suchen. Die letzte Begegnung zwischen Austerlitz und seinem Erzähler findet in Paris statt. Sie endet damit, dass Austerlitz, der soeben eine mögliche Spur vom Schicksal seines Vaters gefunden hat, sich verabschiedet und dem Erzähler mit einer Geste der Endgültigkeit die Schlüssel zu seiner Londoner Wohnung überreicht, um vom Bahnhof Austerlitz aus in einen Ort in den Pyrenäen, wo sich im Krieg ein Internierungslager befunden hatte, zu fahren. Ob er dort Erfolg hat, wird nicht mehr berichtet. Austerlitz scheidet an dieser Stelle nach einem langen Exkurs über den gleichnamigen Pariser Bahnhof aus dem Roman aus. Dass der Protagonist Austerlitz auf dem gleichnamigen Pariser Bahnhof aus der Romanhandlung ausscheidet, ist natürlich alles andere als zufällig. Als Name des Protagonisten und als Buchtitel bildet der Name „Austerlitz“ einen jener Knotenpunkte, wo die Themen und Motive des Buches zusammenlaufen: Reisen und Abschied, Raum und Zeit und schließlich die für Sebalds Poetik ausschlaggebende Durchdringung der Gegenwart von oft vergessener oder nicht wahrgenommener Geschichte. Austerlitz ist kein gewöhnlicher Familienname.³³ Die Verwandtschaftsverhältnisse, auf die es hier ankommt, sind sprachlicher Art. Der Name verweist nicht allein auf die Person, sondern durch seine Konnotationen vor allem auf die räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Romans. Austerlitz ist zuallererst der tschechische Ort, wo bei der sogenannten Dreikaiserschlacht von 1805 Napoleons Armee einen ihrer größten Erfolge erzielte. Die Schlacht ist nach dem Ort und der Pariser Bahnhof nach der Schlacht benannt. Im Roman
Austerlitz‛ Recherchen, die ja authentische Recherchen des Autors sind, ergeben, dass der Tänzer Fred Astaire mit eigentlichem Namen Austerlitz hieß.
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wird eindrucksvoll beschrieben wie Austerlitz’ Geschichtslehrer die Schlacht im Unterricht behandelt.³⁴ Die Schlacht zu Austerlitz stellt ein frühes Beispiel der Einzelschicksale vernichtenden politischen und militärischen Umwälzungen dar, die das europäische Industriezeitalter überhaupt kennzeichnen und die im Zweiten Weltkrieg gipfeln. Der Zusammenhang von Logistik und Zerstörung ist ein zentrales Motiv in diesem Buch, das seiner inneren Struktur oder Architektur zugrunde liegt und seine vielen Ausflüge in die Architekturkritik motiviert. Damit hängt auch die ausführliche Beschreibung der Bahnhöfe im Buch zusammen. Außer dem Pariser Bahnhof Austerlitz werden der Antwerpener Hauptbahnhof, der Liverpool-StreetBahnhof in London, wo sich der Erzähler und Austerlitz gelegentlich treffen, und der Hauptbahnhof (vormals Wilson-Bahnhof) in Prag sehr genau beschrieben. Bahnhöfe bilden buchstäblich Knotenpunkte, wie sie Claudia Öhlschläger als charakteristisch für Sebalds Schreiben nennt.³⁵ Dort treffen und bündeln sich nicht nur Eisenbahnlinien, sondern auch Schicksale. Die auffällige Rolle der Eisenbahn im Buch dürfte auch damit zu tun haben, dass die Eisenbahn, wie Arthur Williams bereits im Zusammenhang mit den Ausgewanderten bemerkt, einen unentbehrlichen Teil der Vernichtungslogistik im Holocaust bildete.³⁶ Der Name Austerlitz hat auch klangliche Konnotationen, und wenn man verschiedene im Text vorkommende klangähnliche Ortsnamen mit einbezieht, wird das historische Assoziationsnetz noch dichter. Dazu bemerkt Ruth Klüger: Die gewagteste dieser Zusammenführungen von scheinbar Zusammenhanglosem, nur durch Wortspiel oder Gleichklang verbunden, ist die sachte und implizite Führung vom Namen Austerlitz über die Auschowitzer Quellen in Marienbad zu dem Bauschowitzer Kessel von Theresienstadt, wo im November 1943 eine Zählung der Insassen des Lagers stattfand, die Sebald anschaulich schildert […], bis hin zu dem ausgesparten Wort und Ort Auschwitz.³⁷
Sie sind alle Bestandteile einer Topographie des Schreckens, die allmählich im Buch entfaltet wird, in die das Leben des Protagonisten, und nicht nur das alleine, eingebettet ist. Diese europaweite Katastrophenlandschaft ist eine unheimliche Heimat für alle, und wenn die Biographie des Herrn Austerlitz besonders deutlich die gewaltsame Fragmentierung aufweist, die das Resultat einer gnadenlosen
W. G. Sebald, Austerlitz, München 2001, S. 103. Vgl. Anm. 21. Arthur Williams, The Elusive First Person Plural: Real Absences in Reiner Kunze, BernhardDieter Hüge, and W. G. Sebald. In: Ders. (Hg.): ‚Whose story?’ – Continuities in contemporary German-language literature. Bern u. a.. 1998: S. 85 – 113. Hier S. 109. R. Klüger, Wanderer zwischen falschen Leben, S. 100.
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Geschichte ist, so liegt dieselbe Geschichte der grundsätzlichen Melancholie auch des Erzählers zugrunde. Mit der Abreise zum ehemaligen Internierungslager ist wieder ein Berührungspunkt mit Jean Améry geschaffen, dessen Lebensgeschichte eine zentrale Inspirationsquelle für Sebalds Roman bildet. Der Kreis wird am Ende des Romans geschlossen, wenn der Erzähler zum zweiten Mal das Fort Breendonk bei Antwerpen besucht. Man kann Sebalds Roman geradezu als Würdigung Amérys lesen. Denn die fiktive Gestalt Austerlitz, dessen Bemühungen, die eigene vergessene Kindheit und Vorgeschichte zu rekonstruieren und somit seiner wahren Heimat und Identität habhaft zu werden, bildet so etwas wie eine Kontrastfigur zu Améry –vielleicht ein Positivabdruck, zu dem Améry das Negativoriginal bildet Während Austerlitz aus dem Zustand der Amnesie heraus einen Weg zurück zu seiner eigentlichen Kindheit findet, bleibt dieser Weg Améry versperrt. Sein Zustand ist das genaue Gegenteil, die Unfähigkeit zu vergessen. Zu bewusst bleibt ihm der Riss, der ihn von seiner Kindheit trennt. Trauma vergeht nicht. Für beide ist die Kindheit durch das traumatische Erlebnis ferngerückt.³⁸ Die Biographie von Austerlitz ist wie die von Anderschs Efraim erfunden. In beiden Fällen wird die Figur mit ihrem erfundenen, aber keinesfalls undenkbaren Leben als Modell benutzt, um bestimmte Aspekte der Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihren Auswirkungen auf die Voraussetzungen eines Lebens nach dem Holocaust zu beleuchten. Dass dies in Austerlitz in viel komplexerer und tiefgründiger Weise geschieht, braucht nicht eigens betont zu werden. Anderschs Erzähler-Protagonist ist trotz gewisser Selbstzweifel ein kohärentes, wenn auch fiktives Subjekt. Austerlitz lässt sich dagegen mit konventionellen Vorstellungen einer fiktiven Figur kaum erfassen. Die Durchlässigkeit zwischen der erfundenen Figur und dem Erzähler einerseits, der erzählten Biographie und der europäischen Geschichte andererseits lenkt das Interesse des Lesers von der Rekonstruktion der fiktiven Gestalt ab und auf den inhärenten Zusammenhang von Topographie und Geschichte.
Die Ringe des Saturn: Welteroberung zu Fuß in Suffolk Der inhärente Zusammenhang von Industrialisierung, Kolonialismus, Genozid und ihrem architektonischen und landschaftlichen Abdruck auf die Industrieländer wurde von Sebald bereits einige Jahre vor Austerlitz in Die Ringe des Saturn
W. G. Sebald, Mit den Augen des Nachtvogels. In: Campo Santo, München 2003, S. 153. S. Zitat in Kap. II, S. 58.
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behandelt. Hier steht nicht das Schicksal eines Einzelnen im Mittelpunkt, sondern als Ausgangspunkt dient eine mehrtägige Wanderung in der abgelegenen Küstenlandschaft der englischen Grafschaft Suffolk. Durch die Erkundung dieser Landschaft und die Ausbreitung endloser Assoziationsketten, die in den einzelnen besuchten Orten und Herrenhäusern ihren Ausgangspunkt haben, werden seit Jahrhunderten waltende globale Verflechtungen freigelegt. Das Buch ist Reisebericht und Sammelsurium historischer Anekdoten zugleich und geradezu enzyklopädisch in seiner Themenvielfalt. Das ist offenbar gewollt, wie aus den mehrfachen Anspielungen auf den englischen Universalgelehrten des 17. Jahrhunderts, Thomas Browne, hervorgeht. Zur Verunsicherung des Lesers dient auch eine ausführliche Zusammenfassung von Jorge Luis Borges Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertium, die von dem subtilen Vorgang berichtet, wonach eine Enzyklopädie anfängt, die Realität schrittweise zu ersetzen. Der Leser darf das als Aufforderung verstehen, den subjektiven Charakter jeder scheinbaren Faktizität in Betracht zu ziehen.³⁹ Sebalds Buch lässt sich auch vor der Folie der Gattungstradition des romantischen Reiseberichts lesen. Der Bezug zu dieser Tradition ist von elegisch gestimmter Ironie geprägt. Die Fußwanderung führt den Erzähler in ehemalige Herrenhäuser und die ihnen zugehörigen Ländereien und registriert dabei die Vergänglichkeit ihrer einstigen Pracht. Anders als beim souveränen Landschaftserlebnis des wohlsituierten Reisenden des 18. oder 19. Jahrhunderts, dessen Genuss nicht zuletzt darauf beruhte, dass alles aus der Sicht der besitzenden Klasse in einer klar hierarchisch bestimmten Ordnung seinen rechten Platz hatte,⁴⁰ ist für Sebalds reisenden Erzähler nichts mehr am Platz, nicht einmal die Menschen. Die Landschaft ist verarmt und verödet. Einst blühende Hotels und Landhäuser stehen leer oder sind in ominöser Weise zweckentfremdet – etwa als militärische Forschungsstationen. Ganze Industrien sind eingegangen, Städte entvölkert und in einem Fall, dem Einsturz der Felsenstadt Dunwich, als Folge von Erosion ganz verschwunden. Die wenigen Menschen, die der Erzähler bei seiner Wanderung trifft, führen ihn mit ihren eigenen Erzählungen in kaum noch bekannte Winkel der Vergangenheit. Die Anekdoten wiederum zeigen auf, wie die unscheinbaren Dörfer und Kleinstädte der abgelegenen Grafschaft mit der ganzen Welt und der Weltgeschichte seit langem vernetzt sind. Daraus ergibt sich ein weltumfassender Erzählprozess, der jedoch jede Unterordnung unter eine ‚große Erzählung‛ verwei W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn, Frankfurt/M. 1997, S. 89 ff. Vgl. dazu die inzwischen nahezu kanonisierte Interpretation von Thomas Gainsboroughs berühmtem Gemälde Mr and Mrs Andrews (um 1750) in John Berger, Ways of Seeing London 1972, S.106 – 108.
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gert. So willkürlich und zusammenhanglos die einzelnen Schritte der Erzählung erscheinen mögen, lassen sie dennoch ein immer wiederkehrendes Motiv erkennen, das in der Melancholie der postindustriellen Landschaft gründet. Die vielfachen einzelnen Geschichten vom Glanz des industriellen Aufbruchs, dessen Relikte allenthalben in der ostenglischen Landschaft zu finden sind, werden alle von ihrem kläglichen Untergang her erzählt. Die bereiste Gegend ist also eine Geisterlandschaft und das Todesmotiv, das in verschiedenen Naturkatastrophen und Todesfällen aufkommt, unterstreicht den melancholischen und geradezu barocken Eindruck. Mehrere Seiten widmet Sebald der Todesart der Heringe im Netz, aber auch der Untergang des Fischereigewerbes verdient seine Aufmerksamkeit. Dass der physische Verfall regelmäßig als gerechte Strafe für den moralischen Hochmut der Industrialisierung und den Kolonialismus erscheint, lässt sich als barocken Zug des Buches werten. Mit Exkursen über China und über den Kongo wird der menschliche Preis für die vormalige industrielle Herrlichkeit Europas, die auch die damalige Blüte der Küstenorte Suffolks ermöglichte, genannt. Das ganze moderne industrialisierte Europa stellt sich somit als Schuldgefüge dar, dessen Erfolg im neunzehnten Jahrhundert mit der Unterdrückung anderer Erdteile und dem Verlust eigener Würde teuer erkauft wurde. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang im fünften Teil des Buches, der einen großen Bogen weg von der ostenglischen Küste zieht und vom Leben Joseph Conrads alias Korzeniowski, von der Ausbeutung des Kongo und von Roger Casement handelt, der als erster öffentlich über die Missstände im Kongo klagte und später, im ersten Weltkrieg, als irischer „Terrorist“ hingerichtet wurde. Mit der Wanderung des Erzählers durch Suffolk hängen diese Themen an einem äußerst dünnen Faden zusammen. Auslöser dieser Folge von Exkursen ist eine Fernsehsendung über Casement, den der Erzähler an seinem zweiten Abend in Southwold fast ganz verschlafen haben will. Dass Conrads zeitweiliger Heimathafen in England gerade Lowestoft war, wo Sebalds Erzähler die erste Nacht seiner Reise verbringt, schafft eine zweite, eher nebensächliche Verbindung zum geographischen Rahmen des Buches. Thematisch dagegen ist das Kapitel, das so unterschiedliche Figuren wie Conrad und Casement zusammenführt, ganz zentral. Die Schuld Europas ist eine Erblast, an welcher der Sebaldsche Erzähler selbst seelisch zu tragen hat. So wie Conrads Erzähler in Heart of Darkness den finsteren Schatten des Kongo im Nebel der Themsemündung wiederfindet, so begegnet ihm Sebalds Erzähler gleichermaßen bei seinen Wanderungen in Suffolk wie auch bei seinen Besuchen in Belgien. Angekündigt wird bereits in diesem Kapitel die in Austerlitz weiter ausgeführte Kritik an der bombastischen Architektur, die Brüssel mit dem falschen Stolz der Kolonialmacht verunstaltet. So herrsche nach Sebald „eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden
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Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Hässlichkeit“ vor.⁴¹ Die allgegenwärtigen und unentrinnbaren Spuren der Verbrechen, auf denen die moderne Industriegesellschaft fußt, machen schließlich jede Landschaft und jede potenzielle Heimat unheimlich, so auch die ostenglische Wahlheimat des Autors. Kann man aber in Sebalds Fall von einem Heimatwechsel im eigentlichen Sinne überhaupt sprechen? Nach Elena Agazzi ging es Sebald bei seiner Emigration vor allem auch um die eigene Erfahrung der Entfremdung oder Deplatzierung. Demnach habe Sebald in England eben keine neue Heimat gefunden. Gerade die Reflektion über die eigene Deplatzierung dürfte ihm demnach die notwendige Einfühlung ermöglicht haben, die Werke wie Die Ausgewanderten und Austerlitz ermöglichten. Bekräftigt wird dieser Eindruck nach Agazzi ferner durch den Umstand, dass unter den vielen intertextuellen Verweisen in seinen Werken gerade die englische Literatur, mit Ausnahme der prominenten Stellung von Thomas Browne in den Ringen des Saturn, relativ schwach vertreten ist.⁴² Sebalds „Exil“ ist so gesehen kein wirkliches. Es ist vielmehr eine innere Haltung, die es ihm erlaubt, die verschiedensten Phänomene aus gleichmäßiger Distanz zu betrachten. Die Spuren, die sich von den einzelnen Stationen der Wanderung in Suffolk aus bahnen, führen in alle Welt und tragen den Nachweis, dass die Globalisierung nicht erst ein Phänomen der letzten Jahrzehnte ist, sondern ihren Anfang spätestens in der frühen Neuzeit mit den europäischen Entdeckungs- und Eroberungsreisen nach Übersee hat. Die unabwendbare Zunahme des Handels und anschließende Industrialisierung sind die Folge. Wie der im neunten Teil der Ringe des Saturn beschriebene Orkan fegt die Moderne durch die Welt und hinterlässt verödete Landschaften wie die ihren früheren Glanz kaum noch ahnen lassende Grafschaft Suffolk. Der landschaftlichen Zerstörung entspricht das menschliche Leiden, das immer wieder als Preis für den Fortschritt zu zahlen ist. Krieg und Shoah stehen in einem Zusammenhang mit der hemmungslosen Ausbeutung von Menschen und Natur in einer Welt, die von einer „negativen Dialektik“⁴³ beherrscht ist. Sebalds Werk lässt sich als negative Identifikation mit der europäischen Geschichte interpretieren. Weder die deutsche Herkunft noch der englische Standort geben den Ausschlag für das Verständnis seines Schreibens, sondern dieses verdankt sich geradezu dem Perspektivwechsel durch die Umsiedlung selbst, der zur Entstehung von Werken wie Die Ausgewanderten und Austerlitz führen konnte. Das W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn, S. 149. E. Agazzi, W. G. Sebald, 2012, S. 101. Zum Verhältnis von Sebalds Werk zu Frankfurter Schule s. die Untersuchung von Ben Hutchinson der Sebalds Werk als „ästhetische Fortsetzung“ von deren Geschichtsphilosophie versteht. B. Hutchinson, W.G. Sebald: Die dialektische Imagination, Berlin 2009, S. 33.
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distanzierte Verhältnis zum Standort seines Schreibens sowie seine europäische, ins Globale reichende Thematik verleihen ihm als europäischem Autor eine besondere Position, die durch die auffallend breite internationale Rezeption seiner Bücher Anerkennung gefunden hat.
Enge Heimat, weite Welt: Peter Handke Der zweite Fußwanderer in diesem Buch ist Peter Handke. Der Nobelpreisträger gehört ohne Zweifel zu den bekanntesten und meistübersetzten, aber auch kontroversesten österreichischen Autoren der Gegenwart. Auch bei ihm verwandeln sich lange Wanderungen in Narrative, die globale sowie ganz intime Stimmungen artikulieren.Wenn bei Sebald das Subjekt der jeweiligen Erzählung seine Identität in der Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte findet, ist der Fall bei Handke beinahe umgekehrt. Er geht in seinen Büchern vom eigenen Leben aus: von der Kindheit in einem zweisprachigen Dorf in Kärnten, seinen späteren Reisen und der allmählichen Verwurzelung in seiner „Niemandsbucht“ bei Paris. Und wo Sebald in der Landschaft überall Geschichte sieht, sieht Handke die Natur.⁴⁴ Auch Handke ist ein „Ausgewanderter“, vielleicht weniger vorsätzlich als Sebald, doch trotz literarisch genau aufgezeichneter Versuche einer Heimkehr hat sich sein Lebensmittelpunkt über die Jahrzehnte immer stärker von Österreich nach Paris verlagert. Sein Lebensweg scheint auf geradezu bestechende Weise Pascale Casanovas These zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie zu bestätigen. Nach dem Ausbruch aus der Enge der Kärntner Provinz distanzierte er sich auch vom österreichischen Literaturbetrieb, der „alle verschiedenen Einzelnen zu Exportartikeln, zu Botschaftern des Landes draußen in der Welt [formatiere], ohne sich um irgendeinen Inhalt zu scheren“.⁴⁵ Eine Kulturpolitik, die von den Autoren, wenn auch nur implizit, ständig nationale Repräsentation verlangt, steht einer genuinen literarischen Autonomie im Wege. Und Handke, der sich schon in den Jahren der Studentenrevolte demonstrativ zum „Elfenbeinturm“ bekannte,⁴⁶ hat wie nur wenige Autoren seiner Generation immer auf einer autonomen Literatur bestanden. Seine Bücher reflektieren den häufigen Ortswechsel der ersten Jahrzehnte und das allmähliche Sesshaftwerden in der Pariser Banlieue. Doch trotz
Zur Entwicklung von Handkes Landschaftspoetik s. Chr. Parry, Peter Handke’s Landscapes of Discourse, Riverside CA, 2003. M. Herwig, Meister der Dämmerung, München 2010, S. 210. P. Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt/M. 1972.
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der wechselnden Milieus seiner Bücher sind Anklänge an seine grenznahe Heimat und der familiäre Hintergrund nie sehr weit. Peter Handke ist nahe der jugoslawischen, heute slowenischen, Grenze im mütterlichen Elternhaus in Griffen geboren. Wie Sebalds Geburtsort Wertach liegt auch das gleichermaßen abgelegene Griffen in Grenznähe, aber im Falle von Griffen in Südkärnten handelt es sich eben nicht nur um eine Staatsgrenze, sondern auch um eine Sprachgrenze, wobei sich der zweisprachige Ort bis zum Zweiten Weltkrieg traditionell eher zum Slowenischen neigte. Zur multikulturellen Identität Handkes tritt noch der Umstand hinzu, dass seine faktische Emigration aus einer engen Provinzregion in die Metropole auch den Wechsel von der gespannten, aber vertrauten, bikulturell geprägten Situation eines Grenzgebiets in die nicht weniger, doch ganz anders gespannte multikulturelle Umgebung einer Weltstadt bedeutet. Im Großraum Paris ist die kulturelle Vielfalt infolge massiver Immigrationswellen viel größer. Zudem ist Paris auf dem kulturellen Feld nach wie vor eine eindeutig übernationale Metropole. Handkes Werke sind von seinen Erfahrungen mit beiden sehr unterschiedlichen Situationen geprägt. Sie spielen teils in kleinsten ländlichen Enklaven, teils in unüberschaubaren Metropolen, wobei einzuräumen ist, dass der Fußwanderer Handke in seinem Schreiben auch in den Metropolen eher die Randgebiete bevorzugt, die er auf seine Weise in poetische Enklaven zu verwandeln versteht.⁴⁷ Das Südkärntner Gebiet hatte bei einer Volksabstimmung 1920 gegen die Zugehörigkeit zum später Jugoslawien genannten „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ und für die Eingliederung in die junge Republik DeutschÖsterreich gestimmt. Der Nationalismus der Kärntner war, wie in der österreichischen Provinz weitgehend üblich, ein deutschnationaler und mit keiner besonderen Liebe zum jungen österreichischen Rumpfstaat verbunden. Dennoch fand sich in Kärnten, besonders in der slowenisch-sprachigen Bevölkerung, ein kleiner Hort des Widerstandes im Dritten Reich, der im Zweiten Weltkrieg seinen Ausdruck im Partisanenkampf fand. Gerade diese Aktivität trug am Ende des Krieges zur Bereitschaft der Alliierten bei, die Eigenstaatlichkeit Österreichs zu respektieren. Trotzdem hatte diese Minderheit nach dem Krieg einen schweren Stand. Handkes Elternhaus im zweisprachigen Griffen war von der Grenznähe geprägt. Handkes Mutter, eine geborene Siutz, war in Griffen aufgewachsen. Bis zum Weltkrieg wurde im Hause Siutz viel Slowenisch benutzt. Handkes leiblicher Vater, den er erst mit 18 Jahren kennen lernte, sowie sein Stiefvater, Bruno
S. Chr. Parry, Der Prophet der Randbezirke. Text + Kritik 24 (6. Auflage Neufassung), 1999, S. 51– 61.
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Handke, waren Deutsche. Handke verbrachte die frühesten Lebensjahre in OstBerlin bei der Familie des Stiefvaters, bis die junge Familie aus der SBZ flüchtete und den Weg zurück nach Griffen fand. Danach dominiert im Haus das Deutsche. Handke erwähnt in seinem großen Essay Die Lehre der Sainte-Victoire dennoch, dass er als Kind beim Friseur in Griffen Slowenisch gesprochen habe,⁴⁸ aber dass er sich jemals in Bezug auf Slowenisch als tatsächlich zweisprachig empfunden habe, behauptet er nie. Trotz etwas Slowenisch-Unterricht in der Schule⁴⁹ hat sich der Autor wohl erst im Erwachsenenalter wieder intensiver mit der Sprache beschäftigt. In das Französische hat er sich zwischenzeitlich stärker eingelebt.⁵⁰ Mit seinem deutschen Stiefvater und seinem Deutsch als Zweitsprache sprechenden Großvater mütterlicherseits gerät Peter Handke in seiner Jugend durch die häuslichen Verhältnisse „als Hochdeutsch sprechender Kleinhäuslersohn aus einer Kärntner Grenzgegend“ in eine sprachliche Isolation,⁵¹ die erst mit dem Studium in Graz endete. Nach dem Studium zog Handke zunächst nach Deutschland und anschließend nach Paris. Eine genauere Dokumentation seiner heimatlichen Verhältnisse bietet das wohl weltweit bekannteste Werk des Autors, Wunschloses Unglück. ⁵² Das nach dem Selbstmord der Mutter verfasste Buch ist eine Art Abrechnung mit den Verhältnissen, in denen diese den größten Teil ihres Lebens gelebt und der Autor seine Kindheit verbracht hat. Das eigentliche Unglück im Buch lässt sich so zusammenfassen, dass die Mutter, nach einem frühen Versuch, aus dem engen Milieu auszubrechen – der Arbeit in einem Hotel in Klagenfurt, die sie zeitweilig von der Familie finanziell und sozial unabhängig machte, der Liebschaft mit Handkes leiblichem Vater und einigen Jahren mit ihrem deutschen Ehemann im Ostteil Berlins – doch letztendlich mit Mann und Kind den Rückzug in die Heimat unternahm. Somit habe sie nie die Chance gehabt, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Resigniert schreibt Handke: „Als Frau in diese Umstände geboren zu werden, ist von vornherein schon tödlich gewesen. Man kann es aber auch beruhigend nennen: Jedenfalls keine Zukunftsangst.“⁵³ In Wunschloses Unglück spürt man zwar die Reue des Sohns, der sich in den zurückliegenden Jahren ungenügend um die Mutter gekümmert habe, aber man spürt zugleich, wie der Ausbruch des Sohns
P. Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt/M. 1980, S. 88. Fabjan Hafner, Peter Handke. Unterwegs ins neunte Land, Wien 2008, S. 55. So entstand z. B. der an Samuel Beckett anknüpfende Bühnenmonolog Bis daß der Tag Euch scheide, Frankfurt/M. 2009, zunächst 2007 auf Französisch. F. Hafner, Peter Handke, S. 55. P. Handke, Wunschloses Unglück, Salzburg 1972. P. Handke, Wunschloses Unglück, S. 17.
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aus der provinziellen Enge gewissermaßen das verwirklicht, was der Mutter durch ungünstige Umstände verwehrt war. Noch richtet sich Handkes Kritik in Wunschloses Unglück gegen die zermürbende Enge der Provinz. Dazu gehört auch, wie in Handkes Frühwerk überhaupt, eine deutliche Sprachkritik, die sich als Entlarvung der individualitätsvernichtenden Kraft sprachlicher Floskeln äußert. Spürbar wird die bedrückende Enge der dörflichen Heimat an aufschlussreichen sprachlichen Details wie etwa, dass das Wort „Individuum“ nur als Schimpfwort gebräuchlich war. Die slowenische Abstammung der mütterlichen Familie wird hier noch eher am Rande behandelt. Mit zunehmendem Abstand zu Handkes Jugendjahren rückt dieser Aspekt in den späteren Jahren immer mehr in den Vordergrund.
Eine Langsame Heimkehr Schauplätze der nächsten Bücher sind dann Paris, wo Handke nach der Trennung von seiner ersten Frau mit seiner kleinen Tochter allein lebte, und Nordamerika. Auf Die Stunde der wahren Empfindung, Handkes ‚urbansten‛ Roman, der ganz in der Innenstadt von Paris spielt, folgte Der kurz Brief zum langen Abschied, ein Straßenroman, der in der Art eines Road-Movie mit dem Ansatz einer KrimiHandlung die Vereinigten Staaten von Ost nach West durchquert. Beide Romane sind sehr stark vom Kino geprägt und Der kurze Brief endet sogar mit einem Treffen mit dem legendären Filmregisseur John Ford. Die feierlich angekündigte „langsame Heimkehr“ nach Österreich nach mehr als einem Jahrzehnt im Ausland 1979 ergab sich aus dem Bedürfnis, den Schulbesuch der Tochter im deutschsprachigen Raum zu ermöglichen. Zwischen 1979 und 1981 erschienen vier sehr unterschiedliche Werke, die Handkes damalige Überlegungen reflektierten: der Roman Langsame Heimkehr, die als autobiographische Essays angelegten Texte Die Lehre der Sainte-Victoire und Kindergeschichte sowie das dramatische Gedicht Über die Dörfer, das 1971 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde. Diese vier Texte wurden anschließend unter dem Gesamttitel Langsame Heimkehr auch als Tetralogie vermarktet. Im Roman geht es um die letzten Wochen des österreichischen Geologen Sorger in Amerika. Er bereitet die Heimkehr nach Europa nach seiner Feldforschung in Alaska vor. Der Roman läuft über drei nicht namentlich genannte Stationen, Alaska („der hohe Norden“), Kalifornien und New York („Stadt der Städte“). Der Roman stellt einen bewussten Kontrast zum Kurzen Brief dar. Statt der von großer Eile kennzeichneten Reise von Ost nach West wird hier die Langsamkeit sowohl im Erzähltempo als in der Entfaltung der minimalen Handlung betont. Die Übergänge zwischen den einzelnen Stationen der Reise
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werden nicht behandelt, stattdessen wird umso ausführlicher Sorgers Betrachtung der Landschaft registriert. Am Ende des Romans trifft sich der Protagonist nicht mit einem amerikanischen Filmregisseur, sondern mit einem europäischen Emigranten, dem zweifelhaften Herrn Esch aus Hermann Brochs Schlafwandlern. Der Roman endet mit dem Abflug über den Atlantik. Der zweite Teil von Handkes Tetralogie schließt direkt an den Romanschluss an mit dem Satz: „Nach Europa zurückgekehrt brauchte ich die tägliche Schrift und las vieles neu“. Dieser ausgedehnte Essay, in dem Handke die wohl ausführlichste Darstellung seiner Ästhetik präsentiert, sowie die darauffolgende Kindergeschichte, die mit der detaillierten Darstellung des Alleinversorgeralltags eigentlich auch „Vatergeschichte“ heißen könnte, haben zwar sehr viel mit Identität zu tun, aber eher wenig mit dem Thema der Heimkehr selbst. Erst im letzten Teil, dem dramatischen Gedicht Über die Dörfer, ist wieder explizit von einer Heimkehr nach Österreich die Rede, und auch da wird der eher unwillige Heimkehrer schnell wieder in die Fremde entlassen. Die Lehre der Sainte-Victoire zeigt den ästhetischen Bildungsweg des Autors in Zusammenhang mit seinem bisherigen Leben auf. Im Mittelpunkt steht die eigentliche „Lehre“, nämlich die am Beispiel von Cézannes wiederholten Darstellungen des Sainte-Victoire Massivs erarbeite Frage nach der Möglichkeit künstlerischer Umsetzung von Erfahrung.⁵⁴ Landschafts- und Kunstbetrachtung werden mit Erinnerungen an Erlebnisse aus dem eigenen Leben vermengt und zusammengeführt. Die Meditationen werden oft im Zusammenhang mit langen Fußwanderungen präsentiert – ein Verfahren, das geradezu zum Markenzeichen der späteren Prosa Handkes werden soll. Dabei häufen sich auch autobiographische Reflexionen. Rückblickend beschreibt der Autor seinen subjektiven Eindruck von den Ländern, in denen er gewohnt hat. Die Erleichterung beim Aufbruch aus der Heimat ist dabei unverkennbar: Später lebte ich fast ein Jahrzehnt lang an verschiedenen Orten der Bundesrepublik, die mir weiter und heller vorkam als mein Geburtsland; und konnte mich dort, anders als in Österreich, wo – es war eine Erfahrung – kaum jemand meine Sprache sprach, zuweilen sogar mit einer Leidenschaft einmischen (wenn ich auch oft dachte, dabei etwas anderes zu verraten).⁵⁵
Die empfundene Möglichkeit, sich einmischen zu können, ist in erster Linie auf den Zuwachs an gleichberechtigter Anonymität zurückzuführen, den der Wechsel
S. dazu Chr. Parry, Peter Handke’s Schriftlandschaften 1989, und Parry, Peter Handke’s Landscapes of Discourse 2003. P. Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt/M. 1980, S. 89.
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von der engen ländlichen Gemeinschaft zur Gesellschaft der Großstadt mit sich bringt. Gleich der nächste Absatz der zitierten Textstelle, der noch den Schritt nach Paris einführt, vollendet den Aufbruch des Autors in die Freiheit und entwertet sogleich die gerade zurückliegende positive Darstellung der Bundesrepublik: „Aber erst in Paris erlebte ich den Geist der Menge und verschwand im Getümmel. Aus der französischen Entfernung betrat ich dann eine, wie mir auffiel, immer bösere und wie versteinerte Bundesrepublik.“⁵⁶ Darauf folgt eine seitenlange Suada, in der auf einmal kein gutes Haar mehr an Deutschland gelassen wird. Österreich trifft es aber noch schlimmer: „Ich empfand einen Haß auf das Land, so enthusiastisch, wie ich ihn einst für den Stiefvater empfunden hatte, den in meiner Vorstellung oft ein Beilhieb traf.“⁵⁷ Nach diesen Bemerkungen wird verständlich, dass bei Handke die sogenannte „Heimkehr“ in den deutschen Sprachraum nicht von Dauer sein würde. Im letzten Teil der Heimkehr-Tetralogie, dem Drama Über die Dörfer, das die Ankunft des Heimkehrers in seiner ländlichen Heimat behandelt, ist eine ähnlich latente aggressive Grundstimmung spürbar. Aufgebaut als feierliches Drama nach Art der antiken Tragödie mit Maskenspiel und Chor (Arbeitskollegen vom Bau), irritiert das Stück bewusst durch den Kontrast zwischen der Erhabenheit seiner Form und Sprache einerseits und andererseits der Alltäglichkeit des Inhaltes. Der Heimkehrer ist erfolgreicher Schriftsteller, die daheim Gebliebenen dagegen Bauarbeiter und eine Verkäuferin. Der Anlass für den Konflikt ist eine Erbschaftsfrage, die sich allerdings zur Zufriedenheit der Beteiligten leicht lösen lässt. Das Dramatische ergibt sich aus der Spannung zwischen Fremdheit und Vertrautem sowie den aufgestauten Ressentiments der sehr verschiedenen Geschwister. Gregor, der heimgekehrte Bruder, wird im vierten und letzten Auftritt in bewusster Anspielung auf die Odyssee von einer „alten Frau“ erkannt, die „keine Narben zu suchen“ braucht⁵⁸. Die Nähe zur Odyssee wird auch im versöhnlichen Schlussmonolog der prophetischen Gestalt der Nova deutlich, die, wie Athene bei Homer, zum Beilegen und Vergessen des Zwists aufruft. Gregor ist aber nur ein halbherziger Odysseus. Die alte Frau erwartet von ihm zunächst, dass er die Missstände im Lande beheben wird, wobei sie in einer für Handkes Rhetorik besonders charakteristischen Manier Phänomene aneinanderreiht, die scheinbar wenig miteinander zu tun haben. Die groteske Steigerung fängt so an: Du gehörst zu uns. Bleib hier und räche uns. Verjag die Gamsbärte aus unseren Bergen. Entlarv den Trachtenschmuck als Unzeitspuk. Knöpf unseren Mördern die krachledernen
Ebd. P. Handke, Lehre der Sainte-Victoire, S. 91. P. Handke, Über die Dörfer, Frankfurt/M. 1981 S. 68.
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Hosenschlitze vor die zähledrigen Kriegsfratzen. Mach jedes ihrer Worte deutlich als Gebell und zeig im Inneren des Mundes den Stacheldraht.“⁵⁹
Doch später rät sie dem Heimkehrenden wieder in die Fremde zu ziehen: „Du bist in einem falschen Land, mein Lieber. Du bist in einem Land, das so klein ist wie bösartig […]. Kehr heim in die Fremde. Nur dort bist du hier; nur da ist die Freude erdnah. Such dir ein größeres Land. Zu einem Menschen gehört ein großes Land und die Verlassenheit.“⁶⁰
Die überspitzte Darstellung der Verhältnisse im Lande läuft auf den Vorwurf der Verdinglichung der Heimat als Ware für den Fremdenverkehr bei gleichzeitiger Verschleierung einer nach wie vor faschistischen Essenz hinter einer freundlichen, auch gastfreundlichen Fassade. Der zugrundeliegende Vorwurf ist aus den Darstellungen des österreichischen Hinterlandes bei Bernhard oder Jelinek bekannt. Es geht ausdrücklich um das Phänomen, das W. G. Sebald, anlässlich der Lektüre von Handkes Roman Die Wiederholung als das „Trachtlerische“ bezeichnet.⁶¹ Dieses „Trachtlerische“ exemplifiziert die von Ernest Gellner konstatierte Verlogenheit nationalistischer Ideologie, wonach oberflächliche Merkmale von Zusammengehörigkeit hervorgehoben werden, die von der eigentlichen Gestaltung einer durchstrukturierten modernen Gesellschaft ablenken.⁶² Was an die Stelle echter Volkskultur tritt, ist eben Folklorismus, ein musealisiertes Imitat, das sich im Falle Österreichs bereits in Äußerlichkeiten zeigt: Gamsbärte, Hirschhornknöpfe und Lodenanzüge, deren Fehlen im Straßenbild des Nachbarlandes Peter Handke später in Die Wiederholung mit Genugtuung registriert.⁶³ Der überscharfe Blick auf die fröhlich-falsche Fassade Österreichs der Nachkriegsjahrzehnte dürfte bei Handke wie bei Sebald ein entscheidender Beweggrund für die Wahl des neutralen, ausländischen Wohnorts sein. Soll man daraus verstehen, dass die Welt jenseits der Grenze, die sogenannte „weite“ Welt irgendwie „wirklicher“ ist als die als „unheimlich“ durchschaute Heimat? Diese Interpretation scheint einige Jahre später im Roman Die Wiederholung eine Bestätigung zu finden. Dort werden die Landschaften mit Namen genannt: Rinkenberg und Bleiburg in Südkärnten, Jesenice in Slowenien. Eine klare Grenze verläuft zwischen der Heimat und der Fremde. Für den Protagonisten
P. Handke, Über die Dörfer, S. 69. P. Handke, Über die Dörfer, S. 74. W. G. Sebald, Unheimliche Heimat 1995, S. 167. E. Gellner, Nations and Nationalism 1983, S. Zitat in Kap. I, S. 12 f. P. Handke, Die Wiederholung Frankfurt/M. 1986, S. 131.
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des Romans ist die lange Wanderung durch Slowenien die erste Auslandserfahrung. Für den Autor ist der Roman sowohl eine Verarbeitung eigener Reiseerfahrungen in der Jugend als auch eine Auseinandersetzung mit dem slowenischen Element der eigenen Abstammung. So sucht der Protagonist, Filip Kobal, Spuren seines verschollenen Bruders, Gregor, auf. Genau wie der im Krieg gefallene gleichnamige Onkel Handkes hat dieser Gregor im slowenischen Maribor Landwirtschaft studiert und zuhause einen Obstgarten angelegt. Er wird im Roman quasi zum Inbegriff des Friedfertigen und des slowenischen ,Anderen‛. Was dem Protagonisten des Romans, Filip Kobal, auf seinen Wanderungen in den slowenischen Städten und den Dörfern des Karsts auffällt, ist die scheinbar erhöhte Wirklichkeit von allem, was er sieht und wahrnimmt. Vor allem findet er die Menschen weniger prätentiös, ihre Bekleidung einfacher, sogar die Uniformen der Polizisten bescheiden. Außerdem scheint ihm die fremde Sprache ehrlicher und sachgerechter als das heimatliche Deutsch.⁶⁴ In der Sprache reizt ihn das Schlichte am Sozialismus, das sich in den Namen der Geschäfte zeigt. Brotgeschäfte heißen einfach „Brot“ und kommen somit ohne überflüssiges Gehabe zur Sache. Die Begegnung mit der fremden Sprache erinnert aber zugleich an frühkindliche Begegnungen mit Sprache und vermittelt somit ein zutiefst vertrautes Gefühl: An dem Milchladen stand so im Gegensatz zu der Marktschreierei im Norden oder Westen nichts als das Wort für die Milch, an dem Brotladen das bloße Wort für das Brot; und die Übersetzung der Wörter mleko und kruh war keine ins Anderssprachige, sie war eine zurück in die Bilder, in die Kindheit der Wörter, ins erste Bild von Milch und Brot.⁶⁵
Im letzten Teil des Romans unter dem Titel „Das neunte Land“ – eine Anspielung auf einen utopischen Mythos der slowenischen Folklore – kommt es zur poetischen Übersteigerung der durchwanderten Landschaft. Nach dieser eindeutigen Idealisierung des Fremden, womit nicht zuletzt auch das drohende Gefühl der Einsamkeit abgewehrt werden soll, kommt, wie nicht anders zu erwarten, der große Kulturschock bei der Rückkehr nach Österreich. Dort scheinen die Passanten Kobal mit Argwohn zu betrachten, jeder ein alter Nazi und potentieller Totschläger: „Ihr Kommando erwartete ihn, getarnt als Abendspaziergänger, die umgehängten Hundeleinen in Wahrheit Gewehrriemen, und ihr Pfeifen und Rufen an allen Straßenecken diente allein der Umzinge-
Denselben Gedanken setzt Handke später in Beziehung zu Hugo von Hofmannsthals „Briefe des Zurückgekehrten“. P. Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerungen an Slowenien, Frankfurt/M. 1991, S. 13. P. Handke, Die Wiederholung, S. 132 f.
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lung.“⁶⁶ Diese Textstelle erinnert nicht zufällig an die bereits zitierte Rede aus „Über die Dörfer“. Eine ähnliche Wut auf Österreich und die Österreicher bringt Handke in der kurzen Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers erneut auf, wenn er die bösen Blicke der Passanten auf der Haupteinkaufsstraße in Salzburg auf sich gerichtet fühlt.⁶⁷
Volk und Nation Was Handke immer wieder vor allem im eigenen Heimatland zu stören scheint, ist die ostentative Zurschaustellung patriotischer Selbstzufriedenheit. Handkes Die Wiederholung bietet nicht nur eine überzeugende psychologische Darstellung der Erfahrungen eines jungen Mannes auf seiner ersten Auslandsreise, sondern exemplifiziert am Gegensatz von Österreich und Jugoslawien Handkes Unbehagen in seinem Heimatland, das nicht zuletzt auf die gemischte Herkunft seiner Familie zurückzuführen ist. Das Gefühl der Zwangszugehörigkeit, das von einem Schulsystem gefördert wird, das für Grenzgebiete und Mehrsprachigkeit wenig übrig hat, ist Handke von vornherein zuwider. Einsam im fremden Land seiner Vorfahren, in dem von außen keine Ansprüche an ihn gestellt werden, entwirft Handkes alter ego Kobal eine private konfliktfreie Utopie. Diese Konstruktion gelingt im Roman, ist aber nicht übertragbar auf die geopolitische Realität. Diese Erfahrung musste Handke mit seiner ersten Stellungnahme zum Zerfall Jugoslawiens machen, dem Aufsatz Abschied des Träumers vom neunten Land, erschienen in der Süddeutschen Zeitung kurz nach dem Ausscheiden Sloweniens als erster Republik aus der jugoslawischen Föderation. Der Aufsatz löste in Deutschland und Österreich Befremden, in Slowenien sogar größte Verärgerung aus. Mit diesem Aufsatz stellte sich heraus, dass die Idealisierung Sloweniens als Gegenbild zu Österreich im früheren Roman zur Voraussetzung hatte, dass das slowenische Volk keine Ansprüche auf Nationalstaatlichkeit erhebe. Scheinbar ‚echt‛ wirkten die slowenischen Wörter und die Bekleidung der Menschen, weil sie eben nicht in Sebalds Sinne „trachtlerisch“ in den Dienst eines wie auch immer gearteten nationalen Projektes gestellt waren. Darum fragt Handke in dem späteren Essay: Ist es möglich, nein, notwendig, für ein Land und ein Volk, heutzutage, unvermittelt, sich zum Staatsgebilde zu erklären (samt Maschinerie, Wappen, Fahnen, Feiertag, Grenz-
P. Handke, Die Wiederholung, S. 324. P. Handke, Nachmittag eines Schriftstellers, Salzburg, Wien 1987, S. 41 f.
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schranken), wenn es nicht dazu aus eigenem gekommen ist, sondern ausschließlich als Reaktion gegen etwas, und dazu etwas von außen. ⁶⁸
Handkes Enttäuschung ist groß, weil er an die jugoslawische Idee geglaubt hat, wonach der jugoslawische Staat nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Grundstein des antifaschistischen Widerstands neu errichtet wurde. Auf dieser Grundlage hätten die Völker Jugoslawiens miteinander ein Auskommen gefunden und bräuchten keine eigenen Nationalstaaten zu gründen. Um die Geschichte „des großen widerständischen [sic] Jugoslawien“ habe er die Jugoslawen beneidet.⁶⁹ Der Zerfall Jugoslawiens rührt an das Selbstverständnis der Kärntner Slowenen und macht erneut die Frage ihrer Zugehörigkeit zu den Nachbarn im Dorf oder zu den Volksgenossen jenseits der Grenze aktuell. Sollte man für jede kleine Minderheit einen eigenen Staat errichten oder sie zu Exklaven verwandter Nachbarstaaten machen? Die Frage erscheint absurd, aber mit dem Zerfall Jugoslawiens wurde sie blutiger Ernst. Dass Handke seine Sympathien allmählich von dem bekannten und verwandten Slowenien auf Serbien übertragen hat, liegt wohl vereinfachend darin, dass Serbien als letzte jugoslawische Republik an den Namen des Landes festgehalten hat. Im Jahre 1996 unternahm Handke zwei Reisen nach Serbien, von denen er in der Süddeutschen Zeitung ausführlich berichtete. Dort polemisierte er gegen die einseitige Kriegsberichterstattung der westlichen Medien und versuchte dem negativen öffentlichen Image ein friedliches und freundliches Bild der serbischen Landschaft und des serbischen Volkes entgegenzustellen. Das friedliche Bild von Serbien, das er dabei zeichnet, ist jedoch ähnlich illusionär und archaisch wie das von seinem slowenischen „neunten Land“, das von den um ein modernes Staatswesen bemühten Slowenen so einhellig verworfen wurde. In Serbien war man dagegen für jedes bisschen Sympathie aus dem Westen dankbar, was in Handkes Fall zu einer verhängnisvollen Eskalation führte.⁷⁰ Dass die serbische Ethnisierungspolitik keinesfalls weniger als die von Kroaten oder Slowenen betriebene zum Zerfall der Föderation beigetragen hat und in völligem Gegensatz zu Handkes eigenem schriftstellerischem Ausgangspunkt steht, scheint er in seinen publizistischen Stellungnahmen aus dem Auge verloren zu haben. Vom Dichter Handke ist keine brauchbare politische Analyse der Verhältnisse auf dem Balkan oder sonst wo an der europäischen Peripherie zu erwarten. Doch auch wenn seine publizistischen Beiträge danebenliegen, so legt P. Handke, Abschied des Träumers, S. 41 f. P. Handke, Abschied des Träumers, S. 22. S. dazu Chr. Parry: Jugoslawien und Europa. In: W. Segebrecht u. a. (Hg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart. Frankfurt/M. 2003, S. 229 – 342.
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Handke in seinen Romanen und Bühnenwerken ein besonderes Gespür für die mit der Zersplitterung Jugoslawiens in Klein- und Kleinststaaten verbundene Zerrissenheit von Loyalitäten und Identitäten an den Tag. Missverständnisse verursacht bereits Handkes Gebrauch des Wortes Volk. Es gehört zu den Begriffen, die er von der zweifelhaften Aura, die ihnen seit ihrem inflationären Gebrauch im Dritten Reich anhaften, vergeblich zu befreien versucht. Das Volk versteht er eben nicht institutionell, sondern als Gemeinschaft, der man sich aus welchen Gründen auch immer zugehörig fühlen kann. Es braucht daher, wie Handke in Abschied des Träumers vom Neunten Land argumentiert, keine Nation zu bilden und erst recht keinen Nationalstaat. Bereits in Die Lehre der Sainte-Victoire schrieb er, dass er sich vorstellen konnte, in der Bundesrepublik Deutschland zu leben, „[…] denn ich weiß, daß es nirgends sonst so viele von jenen „Unentwegten“ gibt, die auf die tägliche Schrift aus sind; nirgends so viele von dem verstreuten, verborgenen Volk der Leser.“⁷¹ Mit einem solchen Volk ist allerdings kein Staat zu machen. Unter den Völkern, die auch außerhalb von Handkes Werk als Volk verstanden werden, hatte Handke zehn Jahre vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens in der Kindergeschichte zu verstehen gegeben, dass „das einzige tatsächliche Volk, dem der Erwachsene je anzugehören gewünscht hatte“ das jüdische sei.⁷² Handke vermeidet es allerdings geflissentlich, dieses Volk beim Namen zu nennen, doch das Gemeinte ist durch die Rede von der Jahrtausende dauernden Kontinuität ohne ausgeprägten Anspruch auf Nationalstaatlichkeit evident. Es sei, schreibt er, das Volk, „von dem schon lange vor seiner Zerstreuung in alle Länder der Erde gesagt worden ist, daß es auch ‚ohne Propheten‛ ,,ohne Könige‛ ‚ohne Prinzen‛, ‚ohne Opfer‛, ‚ohne Idole‛– und sogar ‚ohne Namen‛ ein ,Volk‛ bleiben werde […]“⁷³ So scheint es, dass, zumindest in dieser früheren Phase von Handkes Schaffen, das Fehlen nationalstaatlicher Merkmale geradezu die Bedingung für ein für akzeptables Zugehörigkeitsgefühl sei. Einem österreichischen, deutschen oder gar slowenischem Volk fühlt sich Handke jedenfalls nicht zugehörig. Dazu heiß es in Abschied des Träumers vom Neunten Land: Ein „Slowene“ jedoch wurde ich nie, nicht einmal, obwohl ich die Sprache inzwischen halbwegs lesen kann, ein „halber“; wenn ich mich heutzutage in so etwas wie einem Volk
P. Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, a.a.O., S. 89. (Hervorhebung CP.) Der Gedanke von einem „Volk der Leser“ wird später u. a. in „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und Die morawische Nacht. wieder aufgegriffen. P. Handke, Kindergeschichte, Frankfurt/M. 1981, S. 77. Ebd.
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sehe, dann in jenem der Niemande – was zeitweilig heilsam sein kann, zeitweise heillos ist […]⁷⁴
Diesem sehr abstrakt gedachten Volk konstruiert der Autor wenig später in Mein Jahr in der Niemandsbucht eine eigene Heimat.
Enklaven und Ahnen Die „Niemandsbucht“ im Roman ist eine poetische Enklave im Großraum Paris, einerseits räumlich genau identifizierbar als der Wohnort des Autors in Chaville, andererseits durchlässig für eine alternative Weltgeschichte. In dem beschrieben Jahr 1997, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (1994) noch in der Zukunft lag, beschleunigt sich der Klimawandel, erscheint ein zweiter Mond und es kehren sich die innereuropäischen Verhältnisse um. In Deutschland herrscht Krieg, in Jugoslawien Frieden. Die Enklave selbst ist in erster Linie als poetischer Raum zu denken. Sie ist jedoch topographisch so präzise situiert, dass die Realität ihrer Lage im Pariser Großraum immer mitgedacht werden muss.Von der französischen Umwelt bleibt sie ziemlich isoliert, weniger aber von der multikulturellen Realität der Banlieue. Der Erzähler hört Musik im Radio von einem nordafrikanischen Sender. Er unterhält sich regelmäßig mit einem als „Philosoph von Porchefontaine“ bezeichneten ägyptischen Gastwirt. Weitere Nachbarn sind russische und armenische Migranten. Die „Niemandsbucht“ erscheint regelmäßig namentlich oder unbenannt in späteren Werken des Autors, und in den Feuilletons ist seit dem Erscheinen dieses Romans der Enklavenname „Niemandsbucht“ zu einem Synonym für Handkes Wohnort und eine Metapher für die romantische Abgeschiedenheit des Schriftstellers geworden. Ist die „Niemandsbucht“ eine poetische Enklave abseits nationaler Ansprüche und politischer Realitäten, so sind die real entstandenen Enklaven im Balkan eine traurige Folge nationalistischer Exzesse. Die Geschichte des Balkans in diesen Jahren zeigt, dass der Versuch, den nationalen Ansprüchen immer kleinerer Völker gerecht zu werden, am Ende in einen Teufelskreis führt. Mit der Gründung neuer Nationalstaaten und der Ziehung neuer Grenzen werden ganze Gebiete von ehemaligen Nachbarn getrennt und finden sich in einem neuen Staat als Heimat potentiell benachteiligter Minderheiten wieder. Das ist im ehemaligen Jugoslawien gerade deshalb problematisch, weil sich, anders als der Vorgängerstaat, die jeweiligen Nachfolgestaaten in ihrer Staatsraison ausdrücklich auf
P. Handke, Abschied des Träumers, S.11.
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ethnische Differenzen berufen. Mit jedem neuen Nationalstaat auf dem Gebiet der alten Föderation sind neue Enklaven und Exklaven entstanden. Peter Handke hat sich mit dem Zerfall Jugoslawiens in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur polemisch, sondern auch wiederholt literarisch befasst – satirisch im Drama Zurüstungen für die Unsterblichkeit ⁷⁵, dokumentarisch im Bericht Die Kuckucke von Veliká Hoča ⁷⁶ und melancholisch im Roman Die morawische Nacht. Was ihn an den Enklaven fasziniert, ist der scheinbar starke innere Zusammenhalt der Gemeinschaft – die Illusion einer natürlichen und archaischen Solidarität, die der modernen Gesellschaft ansonsten abhandengekommen sei. Die Idee der Enklave beschäftigt Handke nicht nur im jugoslawischen Zusammenhang. Bei ihrer Reise durch die Sierra de Gredos entdeckt die Protagonistin im Roman „Der Bildverlust ⁷⁷ gleich drei Enklaven, in denen die Bevölkerung versucht, einen von der Umwelt abgesonderten Lebensstil aufrechtzuhalten. In der einen Enklave mit dem bezeichnenden Namen „Nuevo Bazar“, einer schnell wachsenden Großstadt aus Glaspalästen, wird der Raubkapitalismus in Reinform ausgelebt. In der zweiten Enklave kauert die vom Krieg eingeschüchterte aggressiv xenophobe Bevölkerung in erdnahen Behausungen, während man sich in der dritten Enklave vom Lebensstil des 21. Jahrhunderts ganz abwendet. Im nächsten größeren Erzählwerk, Die morawische Nacht geht es auch um Enklaven, oder um das, was in der Begriffswelt des Autors als Enklave aufgefasst werden kann. Der Protagonist hat Freunde auf sein Hausboot auf der Morawa in Serbien eingeladen, um ihnen von einer eben zurückgelegten Rundreise durch Europa zu berichten. Der Ausgangspunkt wird auch explizit als Enklave bezeichnet, obwohl auch hier eine bewusste Ambiguität entsteht, ob der Ort nur in der Vorstellung des Protagonisten oder auch von den Einwohnern als solche wahrgenommen wird: Als Enklave wollte er sein Bootshaus sehen, als autoproklamierte Exterritorialität? Wollte er nicht wahrhaben, daß es zu jener Zeit längst keine Enklaven mehr geben durfte? Daß etwas derartiges, und mit ihm jedes „Enklavendenken“, verpönt war?⁷⁸
Immerhin ist die Nähe zurückliegender Kampfhandlungen deutlich zu spüren. In einem sehr bewegenden Abschnitt wird die Busfahrt durch Feindesland beim Verlassen dieser Enklave beschrieben. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt
P. Handke, Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Ein Königsdrama, Frankfurt/M. 1997. P. Handke, Die Kuckucke von Velika Hoča, Frankfurt/M. 2009. P. Handke, Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, Frankfurt/M. 2002. P. Handke, Die morawische Nacht, Frankfurt/M. 2008, S. 35.
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auf einem Kriegsfriedhof erfolgt, aus dem Munde des Busfahrers, die wohl deutlichste politische Aussage des Romans: Sie sind ein Staatsvolk und, o endlich wahrgemachter großer Traum, ein Einvolkstaat und hassen uns Überbleibsel vom Zweitvolk, das kein Staatsvolk ist, hassen uns als seien wir Reste das Staatsvolk und nicht sie. […] Keinen Stolz bezieht Ihr aus eurem Staat, sondern die Legitimierung und Verewigung eures Hassens. Und insofern seid ihr der Beispielstaat für alle heutigen Staaten, seid ihr der moderne Staat, der neumoderne.⁷⁹
Dieser Aufschrei gilt erneut dem Prinzip der Staatengründung auf „völkischer“ Grundlage. Die Buchseiten, die diese erste Busfahrt beschreiben, sind von Trauer und Wut nach dem Zerfall Jugoslawiens geprägt und gehören zu dem literarisch Stärksten, das Handke diesem Thema gewidmet hat. Doch nach diesem trüben Aufbruch heitert sich das Buch zusehends auf. Die weitere Reise führt den als ExAutor bezeichneten namenlosen Protagonisten durch wichtige Stationen seines – und Handkes – Schaffens: vom Balkan nach Spanien und dann über Deutschland und Österreich zurück auf den Balkan. Die europäische Einigung hat in der Zwischenzeit weitere Fortschritte gemacht und mit ihr das globalisierte Einerlei. Unterwegs nimmt der Reisende an diversen obskuren Veranstaltungen teil: einem Symposion der Lärmbeschädigten in Numancia, einem Welttreffen der Maultrommler in den Donauauen bei Wien und schließlich einem geheimen „Balkangipfel“ mit drei Teilnehmern in einer Doline im Karst. Diese Veranstaltungen sind allesamt parodistische Verzerrungen des nur oberflächlichen Integrationsund Internationalisierungseifers unserer Zeit. Dass Handke, vor allem im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens, die Politik und die Institutionen der europäischen Union bekanntlich aufs Schärfste kritisiert hat, schließt eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber dem faktischen Integrationsprozess nicht aus. In Die morawische Nacht gibt es Passagen, in denen das neue durchlässigere Europa in einem sehr positiven Licht erscheint. Als markantes Beispiel wäre die Reflexion des Protagonisten bei der Landung in Schwechat zu nennen, wo die in früheren Werken Handkes oft heftig beschimpften Landsleute⁸⁰, nunmehr durch die Öffnung der Grenzen und Horizonte geläutert, in einem sehr milden Licht erscheinen. Von dem einst großen Reich [Österreich-Ungarn] war nur das Labyrinth in seinem Zentrum geblieben? Nein, mit dem, wie sagte man?, neugeordneten Europa schien etwas davon zurückgekehrt, zumindest bei manchen Landsleuten, vor allem den jüngeren. Das war kein
Ebd., S. 103 f. So bei der Rückkehr Filip Kobals aus Jugoslawien in Die Wiederholung oder beim Stadtspaziergang des Schriftstellers in Nachmittag eines Schriftstellers.
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Reichsgedanke mehr, wenn es den je gegeben hatte (er als Dorfmensch hatte kaum etwas davon mitgekriegt), vielmehr eben Weltoffenheit, eine, die man, selber Jugendlicher und fort aus dem verehrten Dorf, an den meisten Erwachsenen so vermisst hatte.⁸¹
Die neuartige Weltoffenheit erlebt der Reisende schließlich auch beim Besuch seines zur Unkenntlichkeit verwandelten Heimatdorfs. Das Dorf hat nun im Zuge vermehrter Einwanderung einen orientalischen Charakter gewonnen und ist somit ebenso Teil der Vision eines neuen multikulturellen Europas wie seinerzeit die von Armeniern, Ägyptern und anderen versprengten Weltbürgern bevölkerte „Niemandsbucht“. Dabei darf man nicht vergessen, dass die von Handke gemalte europäische Zukunft schon längst Realität ist. Handke, der seinen Protagonisten selbstironisch einen „gesamteuropäischen Autor nennt, stellt in Die morawische Nacht wohlwollend satirisch den Wandel in den europäischen Verhältnissen dar, an dem er selber teilhat. Die kleinste Enklave in Handkes Werk kommt im Drama Zurüstungen für die Unsterblichkeit vor. Das Land ist kaum größer als die Bühne auf der gespielt wird, und das „Volk“ wird von einem einzigen Schauspieler gespielt, dem ein „Idiot“ zur Seite steht. Die Hauptfiguren sind der bei einer Vergewaltigung gezeugte Königserbe, sein Vetter, ein erfolgloser Dichter, ihre Mütter und eine Wandererzählerin, die es sich zur Aufgabe macht, dem Enklavenvolk eine Geschichte zu geben, und zwar eine positivere als die, die es sich selber immer wieder erzählt vom Untergang der „verehrten und kümmerlichen Ahnen“⁸². Sie verlangt sogar Gesetze „welche solche Verliebtheit in die Volksleidensgeschichten von Amselbis zu Krähenfeld unter Strafe stellen⁸³.“ Mit dieser sarkastischen Anspielung auf das serbische Nationalmythos von der (verlorenen) Schlacht auf dem Amselfeld im Kosovo wird wieder einmal die Unangemessenheit der auf ethnischen Nationalismen beruhenden Kleinstaatsgründungen im ehemaligen Jugoslawien angespielt. Die Verarbeitung der Geschichte der Ahnen und Vorfahren, in Zurüstungen für die Unsterblichkeit noch auf einer allgemeinen, parabelhaften Ebene gehalten, wird von Handke in dem jüngeren Stück Immer noch Sturm ⁸⁴ ganz konkret auf seine eigene Familiengeschichte bezogen. Das Stück stellt die Begegnung des Autors mit seinen Ahnen dar. Es sind dies die junge Mutter Maria, ihre Eltern und Geschwister, d. h. die Schwester Ursula und drei Brüder. Der älteste Bruder trägt den wirklichen Namen von Handkes Taufpaten Gregor, der bereits das Vorbild für
P. Handke, Die morawische Nacht, S. 318. P. Handke, Zurüstungen für die Unsterblichkeit, Frankfurt/M. 1997, S. 82. Ebd., S. 83. P. Handke, Immer noch Sturm, Berlin 2012.
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Gregor Kobal in Die Wiederholung gewesen war. Die Namen der beiden jüngeren Brüder der Mutter Handkes weichen von der biographischen Realität ab. Im Stück heißen sie Valentin und Benjamin. Auch das Schicksal der Geschwister wird poetisch umgestaltet. Gregor hat, wie Handkes gleichnamiger Onkel, in Maribor Landwirtschaft studiert und zu Hause einen Obstgarten angebaut. In seiner Begeisterung für Obstbau wie auch in seinen Sympathien für alles Slowenische entspricht er seinem Vorbild. Anders als dieser, der ein Jahr nach der Geburt seines Neffen auf der Krim gefallen ist, geht der Gregor des Stückes zu den Partisanen, die bewaffneten Widerstand gegen die Naziherrschaft leisten. Auch die Tante, die trübselige Ursula, kämpft im Stück, anders als im wirklichen Leben, bei den Partisanen und überlebt den Krieg nicht. Die Umdichtung ist legitim, denn die mehr oder weniger latenten Konflikte, die das Leben dieser slowenischen Familie in Kärnten bestimmt haben, die Frage der Annäherung oder nicht Annäherung an die deutschsprachige Umwelt, vor allem die Frage der Loyalitäten gründen auf einer Grundstruktur, die im Drama nur etwas schärfer konturiert wird. Dadurch kommt das tragische Potenzial zum Tragen, das in der eigentlichen Familiengeschichte, wie Handke in Wunschloses Unglück berichtet hat, nur latent vorhanden war. Anders als in dem viel früheren dramatischen Gedicht Über die Dörfer, in dem Handke schon einmal andeutungsweise seine Herkunft behandelt hatte, sind hier die sprachlichen und stilistischen Register vielfältiger und die Charakterdarstellung dadurch überzeugender. Vom Leben der Partisanen wird viel berichtet. Gregor ist vom Krieg abwechselnd begeistert und erschrocken. Ursula verrät, dass die Partisaninnen nach wie vor die traditionellen Aufgaben der Frau übernehmen. Bei ihrem zweiten Auftritt berichtet Ursula von der unmenschlichen Disziplin unter den Partisanen und von einer Hinrichtung, die andeutungsweise vom Bruder durchgeführt wurde. Gregor weiß später zu berichten, dass die Schwester Ursula verhaftet wurde. Sie wird schließlich zu Tode gefoltert – ein Schicksal, das der realen Tante Handkes glücklicherweise erspart blieb. Der letzte Aufzug handelt zunächst vom Ende des Kriegs. Die Partisanen gehören für ganz kurze Zeit zu den Siegern. Gregor freut sich, dass von nun an die Slowenen in seiner Kärntner Heimat gleichberechtigte Behandlung erfahren werden. Die Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer, der Kalte Krieg fängt an und mit ihm die Restauration der alten Verhältnisse. Inzwischen hat die Realität den Spielraum für Widerstandsphantasien in Slowenien und auf dem Balkan wesentlich eingeengt. Die jugoslawische Föderation, die aus der Partisanenbewegung auf dem Balkan hervorging, ist kläglich gescheitert, was Handke sehr naheging und ihn bisweilen zu unbedachten Äußerungen und Handlungen bewogen hat.Was in Handkes Reiseberichten aus dem geächteten Serbien als einseitige Parteinahme rezipiert wurde, weicht jedoch in
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späteren Werken einer gleichmäßigeren Trauer. So wird in Immer noch Sturm der Idealismus der Partisanen zwar noch wahrgenommen, aber der hohe Preis an Menschlichkeit, den die gewalttätige Umsetzung eines solchen Idealismus fordert, und ihre letztendliche Vergeblichkeit kommen ebenfalls zum Ausdruck.
VIII Eingewanderte Aber erst in der deutschen Sprache wird mein eigenes Zuhause für mich selbst hörbar.¹ Marica Bodrožić
Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt wird die Sichtbarkeit von Autoren nicht deutscher Herkunft, die auf Deutsch schreiben oder in den deutschsprachigen Ländern leben, immer größer. Sie sind immer stärker im Literaturbetrieb integriert und werden regelmäßig für Buchpreise – nicht nur den auf diese Autorengruppe spezialisierten Chamisso-Preis – nominiert. So gewann Melinda Nadj Abonji 2010 gleich den deutschen und den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2013 ging der Deutsche Buchpreis an Terézia Mora und 2019 an Saša Stanišić. Der hohe Anteil an Migranten und Nomaden an der literarischen Produktion ist eben kein nationales Phänomen und erst recht kein deutsches, sondern, ganz im Gegenteil, global verbreitet. Autoren wie Salman Rushdie und Hanif Kureishi sind aus der englischen Gegenwartsliteratur nicht wegzudenken. In Frankreich haben Schriftsteller und Theoretiker außerfranzösischer Herkunft ihren festen Platz. Selbst in den nordischen Ländern ist die Präsenz von Autoren ausländischer Herkunft zunehmend sichtbar.
Migration und „Migrationsliteratur“ Literatur lebt von der Beweglichkeit von Menschen und der Beweglichkeit von Sprachen. Geriet diese Erkenntnis infolge des Herderschen Eifers, jedem Volk eine eigene Poesie zuzuschreiben, zeitweilig in den Hintergrund, so ist sie heute in der globalen Gesellschaft des postkolonialen Zeitalters kaum zu übersehen. Aber bei aller Aktualität der heutigen Völkerwanderungen darf nicht vergessen werden, dass die transkulturellen Erfahrungen von Migranten und Exilierten nicht erst seit gestern literarisch verarbeitet werden.Von Ovidius Naso und Dante Alighieri über Heinrich Heine bis in die Gegenwart haben Migranten und Exilierte die Literatur mit ihren Erfahrungen bereichert. Historisch auffällig ist eher die Verknüpfung von Literatur und Nation durch ihre Bindung an ein bestimmtes Territorium. Diese Auffassung von Literatur wurde zwar durch die Nationalphilologie gefördert, aber sie stieß bald an ästhetische Grenzen, da sie unweigerlich einen nostalgischen
M. Bodrožić, Sterne erben, Sterne färben – Meine Ankunft in Sprache, Frankfurt/M. 2007. https://doi.org/10.1515/9783110706338-010
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Konservatismus bevorzugte, der bereits im 19 Jahrhundert der Realität der Metropolen nicht gerecht wurde. Das deutsche Sprachgebiet hat noch in der Neuzeit immer wieder Migrationen erlebt – man denke an die Ansiedlung der Hugenotten oder den von Joseph Roth beschriebenen Zuzug von Juden aus Osteuropa in die deutschsprachigen Metropolen. Im kollektiven Bewusstsein blieb Deutschland jedoch eher ein Auswanderungsland, während im Österreich des 19. Jahrhunderts der Zuzug nach Wien aus dem Osten des Donaureichs eher als Binnenmigration betrachtet wurde. Als Binnenmigration galt nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Umsiedlung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vorwiegend in den westlichen Teil Deutschlands. Anlässe und Motive der Migration sind sehr vielfältig. Sie reichen von der Asylsuche bei Lebensgefahr bis zur schlichten Steuerflucht. Oft geht es um die Suche nach Arbeit, nach einem besseren oder auch freieren Leben. Von diesen Anlässen hängt ab, ob man sich als Exilierter oder Einwanderer empfindet und ob man das Bedürfnis hat, sich der umgebenden Gesellschaft anzupassen oder lieber unter seinesgleichen in einem mehr oder auch minder behaglichen Ghetto zu harren. In der deutschsprachigen Literatur spielt die Migration in Form von erzwungener Auswanderung eine besondere Rolle, als Vertreter der Moderne als „Juden und Bolschewisten“ verschrien und vertrieben wurden. Im Exil standen deutschsprachige Migranten vor der Alternative der Assimilierung oder des Abwartens besserer Zeiten und der übergangszeitlichen Pflege einer deutschen Exilkultur. Die Probleme, die in der Emigration auf sie zukamen, sind besonders im praktischen Bereich dieselben, mit denen Migranten konfrontiert sind, die heute nach Deutschland und Österreich und anderen europäischen Ländern einwandern. In beiden Fällen standen und stehen Autorinnen und Autoren in der Migration vor der Entscheidung, ob sie überhaupt schreiben sollen, was und für wen sie schreiben sollen und vor allem in welcher Sprache sie schreiben sollen. Die Entscheidungen werden zwar individuell getroffen, und die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, sind durchaus unterschiedlich. Gemeinsam sind aber beiden Gruppen die Erfahrung der Fremde und die Notwendigkeit, sich über unterschiedliche Optionen Gedanken zu machen. Unter diesem praktischen Aspekt macht es daher Sinn, freiwillige Migranten und Exilierte, Auswanderer und Einwanderer zusammenzufassen.² Die Rubriken, die sich in der jüngeren Germanistik etabliert haben, „Exilforschung“ und „Migrationsliteratur“, unter-
Diesem Ansatz folgt die Aufsatzsammlung Literatur und Exil – Neue Perspektiven, hg. von D. Bischoff und S. Komfort-Hein, Berlin 2013.
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scheiden sich vor allem darin, dass in einem Fall der Fokus auf die gemeinsame Herkunft der Migranten gelegt wird, während im anderen Fall das Land der Ankunft im Blickpunkt stest. Zu den gemeinsamen Erfahrungen gehört die Suche nach Unterkunft, die Bemühung um Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, der Aufbau eines sozialen Netzes und natürlich die Suche nach Arbeit und Unterhalt. Von Geldsorgen sind nur ganz renommierte Exilanten wie Thomas Mann oder Alexander Solschenizyn ausgenommen gewesen. Hinzu kommt in den meisten Fällen der Umgang mit einer neuen Sprache zumindest im Alltag.
Spracheroberung Sprach man in den 70er Jahren in Deutschland zunächst von „Gastarbeiterliteratur“, so war eine Nischenliteratur gemeint, die oft in türkischer oder italienischer Sprache geschrieben und vornehmlich an eine Lesegemeinde gerichtet war, die die Erfahrungswelt der Autoren teilte. Diese Literatur widerspiegelte die Erfahrungen einer ersten Einwanderergeneration. Bald erwies sich das vorgestellte Provisorium als Dauerzustand, und das Bedürfnis in der Landessprache zu schreiben und gelesen zu werden nahm schnell zu.³ Anfangs stießen die literarischen Bemühungen nicht muttersprachlicher Autoren im deutschen Sprachraum auf Widerstand. Noch 1991, als Emine Sevgi Özdamar für ihren Roman Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus den Ingeborg-Bachmann-Preis zuerkannt bekam, bezeichnete Jens Jessen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Buch als „den hilflosen Text einer deutsch schreibenden Türkin, der mit folkloristischen Elementen aus der Märchentradition ihrer Heimat spielt, die von den Juroren gutmütigerweise für Surrealismus gehalten wurden.“⁴ Das ähnelt den Vorwürfen, die Herta Müller gemacht wurden, als sie ihre Sprache durch Sprachbilder aus dem Rumänischen zu bereichern versuchte. Die besonders defensive Haltung in Bezug auf die Reinheit der deutschen Sprache ist seit den Bemühungen der Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert bekannt. Im 19. Jahrhundert ging es bei den Bemühungen, Juden das Recht auf die deutsche Sprache zu entziehen, nicht mehr allein um die sprachliche Reinheit, sondern regelrecht um ihre Reinrassigkeit. Durch die Kurzlebigkeit der deutschen
Zur historischen Entwicklung seit den 60er Jahren s. z. B. Interkulturelle Literatur in Deutschland, hg. von C. Chiellino, Stuttgart, 2007. J. Jessen, Lockruf der Eitelkeit: Klagenfurt wickelt sich ab FAZ, 2.7.1991.
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Beteiligung am Überseekolonialismus blieb die von den westlichen Nachbarländern gemachte Erfahrung, dass die eigene Sprache in ganz anderen Kulturen Fuß fassen konnte, aus. Während Englisch infolge der Kolonialgeschichte sich zur Weltsprache mit unzähligen Varianten entwickeln und zum Medium verschiedenster Literaturen werden konnte, blieb Deutsch in seinem mitteleuropäischen Rahmen weitgehend isoliert. Doch auch im postkolonialen Umfeld ist die Sprachwahl keine Selbstverständlichkeit, wie man folgender Bemerkung Salman Rushdies entnehmen kann: Those of us who do use English do so in spite of our ambiguity towards it, or perhaps because of that, perhaps because we can find in that linguistic struggle a reflection of other struggles taking place in the real world, struggles between cultures within ourselves and the influences at work upon our societies. To conquer English may be to complete the process of making ourselves free.⁵
Wenn Rushdie von einem Kampf spricht, dann meint er nicht die grundsätzliche Frage, ob er als gebürtiger Inder überhaupt das Recht habe, auf Englisch zu schreiben. Dieses Recht hat man ihm genau so wenig verweigert wie etwa Joseph Conrad oder Vladimir Nabokov, die immerhin außerhalb des britischen Imperiums aufgewachsen sind. Sein Kampf ist der um die Erweiterung der Sprache, um neue Erfahrungsräume zu erschließen. Eine Sprache zu erobern ist auch etwas anderes als sich der Sprache zu unterwerfen. Ein Schriftsteller muss die Sprache, in der er schreibt, gefügig machen, auch wenn sie nicht seine Muttersprache ist. Vielen in den deutschen Sprachraum Eingewanderten ist dies gelungen, und das Gelingen wird als eine Befreiung empfunden. Der aus dem Iran emigrierte Dichter SAID behauptet in einem Gedicht: „Meine eigentliche Heimstätte/ ist die deutsche Sprache,/ die mir Zuflucht geboten hat.“⁶ Auch der aus dem Irak gebürtige Autor Abbas Khider hat berichtet, dass ihm die deutsche Sprache eine Möglichkeit bot, so über die Zustände in Irak zu schreiben, wie er es in der arabischen Muttersprache nicht vermocht hätte.⁷ Nach Ilija Trojanow ist die deutsche Sprache sogar gastfreundlicher als das Volk: Ja, das Deutsche ist ausländerfreundlicher als die Deutschen. Ich fühle mich darin aufgehoben, weil ich die Freiheit und den Spielraum verspüre, es zu verändern, es einerseits meinen Bedürfnissen anzupassen, andererseits mich darin einzubringen.⁸
S. Rushdie, Imaginary Homelands, London 1991, S.19. SAID, Der lange Arm der Mullahs, München 1995, S. 136. Interview im Goethe-Institut mit Abderrahmane Ammar 2014. https://www.goethe.de/de/kul/ lit/20437059.html [abgerufen am 25.11. 2020] Zit. nach S. Waldow, Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. München 2013, S. 202.
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Marica Bodrožić, die als Kind zu ihren Gastarbeitereltern nach Deutschland zog, musste die Erfahrung machen, dass durch die Balkankriege auch ihre Muttersprache Serbokroatisch aufgelöst wurde. Mit ihrem Buch Sterne Erben, Sterne Färben. Meine Ankunft in Sprache legte sie so etwas wie eine Sprachautobiographie vor. Dort beschreibt sie nicht nur den Prozess der Aneignung einer neuen Muttersprache, sondern setzt dieses neue Medium ein, um das Verlorene als Heimat jenseits aller ideologischen Identitätsforderungen zu rekonstruieren.⁹ Eine echte Öffnung des deutschsprachigen Literaturraums in sprachlicher Hinsicht zeichnet sich jedoch erst seit wenigen Jahrzehnten ab. Seitdem Mobilität bzw. Nomadentum nicht mehr als Makel empfunden wird, werden solche Autoren geschätzt, deren Sprachbewusstsein durch den Umgang mit verschiedenen Sprachen geschärft wird. Die später erlernte Sprache lädt zu einem spielerischen Umgang ein und erlaubt eine unbefangenere Kombinatorik. Yoko Tawada, die Deutschland ohne äußeren Zwang zur Wahlheimat gemacht hat, demonstriert immer wieder, welche erstaunliche Erkenntnisse Lektüren aus mehrsprachiger Perspektive erschließen können. So entdeckt sie beim Versuch sich das deutsche Genus-System zu internalisieren, ein Personifizierungspotenzial, das dem Muttersprachler gar nicht bewusst ist. Sie schreibt: Wenn ich zum Beispiel einen Füller sah, versuchte ich ihn wirklich als ein männliches Wesen zu spüren und zwar nicht im Kopf, sondern mit meinem Gefühl. […] Das kleine Reich auf dem Schreibtisch wurde nach und nach sexualisiert: der Bleistift, der Kugelschreiber, der Füller – die männlichen Gegenstände lagen männlich da und standen wieder männlich auf, wenn ich sie in die Hand nahm.¹⁰
Dem Muttersprachler bleibt das geheimnisvolle Leben auf dem Schreibtisch verborgen, denn, wie Tawada weiter schreibt: „In der Muttersprache […] klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können.“¹¹ So entlarvt Tawada die mystische Vorstellung, dass der Dichter nur in seiner Muttersprache zaubern kann.
M. Bodrožić, Sterne Erben, Sterne Färben., Frankfurt/M. 2007. Y. Tawada, Talisman, Tübingen 1996, S. 12. Y. Tawada, Talisman, S. 15.
Thematische Typologie
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Thematische Typologie So vielfältig wie die Migrationsgründe sind auch die Motive für das Schreiben. Eine Typologie müsste nicht nur die jeweilige Thematik berücksichtigen, sondern auch das anvisierte Publikum, wobei die Sprachwahl immer eine ganz entscheidende Rolle spielt. Zu den häufigsten Themen gehört die Autobiographie, die in nicht seltenen Fällen als Leidensgeschichte erscheint. Es geht dabei um die Gründe der Migration und die Erfahrungen, die bei der Migration gemacht wurden. Anna Seghers hat im Roman Transit die Schikanen der Bürokratie beschrieben, die den Emigranten den Weg ins Exil erschwerten. Ähnliche Transitromane jüngeren Datums sind etwa Abbas Khiders Der falsche Inder und Ilija Trojanows Die Welt ist groß und Rettung lauert überall. Khider und Trojanow schreiben Deutsch für ein deutschsprachiges Publikum. Es geht einerseits darum, Verständnis beim Publikum der aufnehmenden Gesellschaft für den eigenen Hintergrund und Lebensweg zu gewinnen. Um Verständnis bei den neu gewonnenen Landsleuten werben auch Emine Sevgi Özdamar, Rafik Schami oder Selim Özdoğan, wenn sie Geschichten aus der alten Heimat für ein deutsches Publikum aufbereiten. Anderseits bietet das Schreiben auf Deutsch, wie bereits festgestellt, eine Möglichkeit Traumatisches zu verarbeiten. Für Zuwanderer aus Kriegsgebieten wie dem Irak (Khider) oder Bosnien-Herzegowina (Stanišić) bietet Deutsch als am Konflikt unbeteiligte Sprache des Asyls die erforderliche Distanz, um über die Zustände schreiben zu können. Schließlich kann die Distanz selbst zum Thema werden. Das ist der Fall bei Usama Al Shahmani. Sein Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch kontrastiert das gelungene Einleben des Protagonisten in der Schweiz mit den Verhältnissen im Irak und seiner Sorge um den dort verschollenen Bruder, für den er nichts tun kann.¹² Die Literatur von Migranten hat in den vergangenen Jahrzehnten in den deutschsprachigen Ländern den Wandel von einer marginalen Erscheinung zum Mainstream durchgemacht. Dass Deutschland, Österreich und die Schweiz später Anteil an der großen Migrationsbewegung infolge der Dekolonisierung haben würden, war noch in den 60er Jahren, als die ersten Arbeitskräfte aus Südeuropa angeworben wurden, nicht leicht vorauszusehen. Die in Politik und Gesellschaft vorherrschende Fiktion des nur provisorischen Aufenthalts ausländischer Arbeitskräfte spielte zunächst auf Seiten der Arbeiter wie der aufnehmenden Gesellschaft eine gewisse Rolle. Aus dem Provisorium ist inzwischen eine multikulturelle Gesellschaft geworden. Das Interesse für das Leben der anderen ist
U. Al Shahmani, In der Fremde sprechen die Bäume arabisch, Zürich 2018.
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gewachsen, und allmählich ist daraus auch ein echter Dialog zustande gekommen. Mit der nachwachsenden Generation von Menschen „mit Migrationshintergrund“ kommen verstärkt Reibungen innerhalb der Einwanderergruppen auf. Thematisiert werden beispielsweise Generationskonflikte sowie gegensätzliche Vorstellungen von Genderrollen. Das kulturelle Gefälle zwischen realem oder eingebildetem familiären Hintergrund und dem sozialen Umfeld wird zu einem Problem, das jeweils auf der individuellen Ebene bewältigt werden muss. Als Format eignet sich eine Art Bildungsroman. Ein Beispiel dafür, auf das im nächsten Abschnitt näher eingegangen werden soll, ist Yadé Karas Roman Selam Berlin. Die Problematik ist international. So haben Werke wie Monica Alis Brick Lane oder Hanif Kureishis The Buddha of Suburbia im englischsprachigen Raum nahezu kanonischen Status erreicht. Aus dieser Entwicklung ergeben sich ein weiteres Schreibmotiv und eine weitere Kategorie von Büchern. Die Neugier richtet sich nicht mehr nur auf die Herkunft der Einwanderer, von denen eine einheimische Leserschaft gerne eine Vertiefung oder vielleicht nur Bestätigung des eigenen touristischen Blicks wünscht, sondern auch der Blick des Migranten auf die aufnehmende Gesellschaft ist gefragt. Die Gesellschaftskritik kann sehr scharf sein, wie in den ersten Erfolgsbüchern von Feridun Zaimoglu, mit ihrem trostlosen Bild vom Leben im türkischen Ghetto. Von der Kritik ist es dann kein weiter Weg zur Satire und zur Selbstparodie. Aus dem Spiel mit nationalen Stereotypen ist ein regelrechtes Unterhaltungsgenre besonderer Art geworden, vertreten in Deutschland durch Werke wie Wladimir Kaminers Russendisko. Den Erfolg solcher Bücher bei der einheimischen Leserschaft führt Arnulf Kliems auf einen Zerrspiegeleffekt zurück: […] unter den Lupen sitzen diejenigen ohne „biographischen Standortvorteil“ und ohne „romantisch-exotischen“ Lebenslauf […]. Diese lesen dann wiederum mit Begeisterung über sich durch die (national gefärbte) Brille der Exotik.¹³
Exotik macht Spaß, Übertreibung ist die gefragte Spielart, aber zum Nachdenken sollen solche Bücher nicht unbedingt anregen. Für die letzte Kategorie, die in diese kleine Typologie aufgenommen werden soll, gilt eher das Gegenteil. Das sind Werke, welche die Begegnung der Kulturen und der Sprachen ernsthaft thematisieren, Stereotypie überwinden und die eigene Hybridität reflektieren. Dabei entsteht eine Literatur, die sich der Unter-
A. Kliems, Transterritorial – Translingual – Translokal. In: Bischoff, Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil, 2013, S. 168 – 182. Hier S. 171.
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ordnung unter vereinfachende Kategorien wie „Migrationsliteratur“ verweigert und nur noch als exonational bezeichnet werden kann. Im Folgenden sollen drei Romane behandelt werden, die in unterschiedlichem Grade solche Exonationalität erreichen. Zunächst wird der Berlin-Roman von Yadé Kara Selam Berlin behandelt. Dabei handelt es sich um einen recht konventionellen Initiationsroman mit einem einfallsreichen Plot und der Besonderheit, dass der Berliner Mauerfall aus der Perspektive eines jungen DeutschTürken erlebt wird. Dabei spielt der Roman ungeniert mit Klischees.
Yadé Kara: Selam Berlin Der Protagonist und Ich-Erzähler, Hasan ist ein junger deutsch-türkischer Abiturient, der im Roman seine ersten Erfahrungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und in der Liebe macht. Er ist in Berlin und Istanbul aufgewachsen, empfindet sich aber im Gegensatz zu seinen Eltern, die Wert auf eine traditionelle türkische Erziehung legen, als Berliner. Dass der Roman zur Zeit des Mauerfalls spielt, bringt nicht nur besondere Verwicklungen der Handlung mit sich, sondern ermöglicht es, neben der Konfrontation von deutschen und türkischen Gepflogenheiten – etwa in der Erziehung – auch die gegenseitige Befremdung der „Ossies“ und „Wessies“ und ihre unterschiedliche Einstellung gegenüber Ausländern zu thematisieren. Hasans Vater gehört zu den Verlierern der Wende, denn er hatte, da er als Türke sich immer frei in beiden Teilen der Stadt bewegen konnte, insgeheim eine zweite Familie in Ost-Berlin und Hasan dort einen Halbbruder, was nunmehr ans Licht kommt. Daran zerbricht die Familie im Verlauf des Romans. Hasan begegnet mit seinem türkischen Aussehen den üblichen Vorurteilen bei der Wohnungssuche, obwohl er perfekt berlinert. Sein Vetter wird in der U-Bahn von Nazis zusammengeschlagen. Hasans perfektes Deutsch ist nicht immer von Vorteil. Deutlich wird das in einer Schlüsselszene, bei der es um die Problematik von Vorurteil und Mimikry geht. Hasan wird von einem Film-Regisseur entdeckt, der ihn für die Rolle eines messerstechenden türkischen Junkies anheuern will. Beim Interview gibt sich der Regisseur empathisch und will Verständnis für die unterdrückte Minderheit zeigen. Doch mit seinen Fragen entlarvt der Regisseur Wolf nicht nur seine Ignoranz, sondern auch seine Unbelehrbarkeit, denn er kann einfach nicht akzeptieren, dass er eigentlich einen voll integrierten Berliner vor sich hat. Mit besonders einfühlsam klingenden Äußerungen kehrt er seine verlogene Ausländerfreundlichkeit hervor. „Das muß hart sein, andere Werte, Vorstellungen, Traditionen
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[…]“¹⁴ Auf die einschmeichelnde Annäherung des Regisseurs reagiert Hasan dagegen gereizt: Mir war dieser plötzlich verständnisvolle Ton in Wolfs Stimme zuwider. […] Was wollte er eigentlich? Einen Schauspieler, oder eine soziologische Studie? Ich hatte gleich gecheckt, was Wolf wollte. Er suchte so einen Spielotheken Türken mit Cowboystiefeln. Und den spielte ich ihm jetzt vor.¹⁵
In seinem arroganten Verhalten demonstriert der Regisseur die Macht des rassistischen Vorurteils, das ihn im Gespräch blind und taub für die Realität des Gesprächspartners macht. Als Berliner fühlt sich Hasan keiner unterdrückten Minderheitskultur zugehörig, auch wenn er aufgrund seines Aussehens nicht selten benachteiligt wird. Hasan bekommt schließlich die Rolle, auch wenn er dem Regisseur vor allem wegen seiner Sprache eigentlich nicht „türkisch“ genug ist.¹⁶ Falls ihre Leser die Botschaft dieser Auseinandersetzung nicht begriffen haben, lässt die Autorin ihren Ich-Erzähler diese anschließend ausdrücklich nennen: Wolf hatte die irrige Idee von zwei Kulturen, die aufeinanderprallen. Und einer wie ich mußte ja dazwischen zerrieben werden. Eigentlich hatte ich alles von beiden. Von Ost und West, und deutsch und türkisch, von hier und da. Aber das konnten Leute wie Wolf nicht verstehen oder wollten es nicht verstehen. Sie sahen in mir immer ein Problemfall. […] Die anderen versuchten mir Probleme einzureden, die ich nicht hatte. Sie konnten mit einem wie mir nicht umgehen. Ich paßte nicht in ihr Bild, und sie konnten mich nicht einordnen.¹⁷
Diesen Standpunkt könnte man mit einigem Recht als „Bhabha light“ bezeichnen, denn er impliziert Homi Bhabhas Verständnis von Hybridität, die eben keine Konfrontation von Kulturen und auch keine Verschmelzung meint, sondern eben etwas Drittes: Denn eine Bereitschaft, in jenes fremde Territorium hinabzusteigen, könnte den Blick dafür frei machen, daß die theoretische Anerkennung der Gespaltenheit des Äußerungsraums den
Y. Kara, Selam Berlin, Zürich 2003, S. 222. Ebd. Eine ähnliche Textstelle gibt es in Hanif Kureishis The Buddha of Suburbia, wenn der englisch sozialisierte halbindische Protagonist beim Theater von einem ähnlich verständnislosen Regisseur für die Rolle des Mowgli im Jungle Book interviewt wird. Er bekommt die Rolle unter der Bedingung, dass sein Gesicht mit Schuhkrem nachgeschwärzt wird. H. Kureishi, The Buddha of Suburbia, London 1990, S. 140 f. u. S. 146 f. Y. Kara, Selam Berlin, S. 223.
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Weg zur Konzeptualisierung einer internationalen Kultur weisen könnte, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht.¹⁸
Aber wo Hasan keine Probleme sieht, liegt vielleicht das Problem dieses Romans. Karas Buch liefert eine unterhaltsame und witzige Lektüre, die zwar pointiert Reibungsflächen in der Begegnung verschiedener kultureller Vorstellungen zum Vorschein bringt, aber es sind am Ende Versatzstücke aus einem Katalog alltäglicher Kulturkonflikte. Die auktoriale Hellsicht, mit der Hasan die Probleme erkennt, und die Leichtfertigkeit, mit der er über sie hinwegsieht, sind für einen jungen Mann an der Schwelle zum Erwachsenendasein nicht ganz plausibel. Identitätsoptionen bieten sich an, aber die Anstrengung echter Identitätsarbeit fehlt. Die beiden anderen Bücher, die hier behandelt werden sollen, handeln ebenfalls von Identitätssuche im Zwischenraum zwischen verschiedenen kulturellen Optionen. Sie lassen diese Suche jedoch als Arbeit erscheinen, wobei die Arbeit selbst vor allem vom Leser zu leisten ist.
Terézia Mora: Alle Tage Ein Buch, das sich schwer in die Rubrik Migrantenliteratur einordnen lässt und doch thematisch durchaus dazu gehört, ist Terézia Moras Alle Tage. ¹⁹ Im Unterschied zu vielen Romanen, die ein Migrantenschicksal darstellen, verzichtet die Erzählerin auf jede Andeutung von Betroffenheit. Da, wo Nadj Abonji, Bodrožić oder auch Trojanow teilweise Autobiographisches durchscheinen lassen oder zumindest eine gewisse psychologische Einfühlung in ihre Protagonisten ermöglichen, bleibt Moras Protagonist, Abel Nema, nahezu eine Leerstelle. Ihm passiert zwar vieles, aber er ist selten aktiv. Anders als Kara und Tawada, die aus der Sicht der ersten Person schreiben, richtet Mora in der Regel den Blick von außen auf Nema.²⁰ Das wird gleich zu Beginn des Romans evident, wenn mit der genauen Beschreibung der Szene, in der der bewusstlose, kopfüber an einem Klettergerüst baumelnde Nema von drei Frauen unterwegs in die Arbeit entdeckt wird. Nach diesem drastischen Einstieg geht die Autorin weiterhin sehr unsanft
H. K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2011, S. 58. T. Mora, Alle Tage, Berlin 2006. Eine Ausnahme bietet nur das vorletzte Kapitel, das als einziges nicht in Unterkapitel aufgeteilt ist, wo die Vorgänge in Nemas Kopf in einem rhapsodischen Monolog wiedergegeben werden. Doch da handelt es sich um Halluzinationen im Drogenrausch.
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mit ihrem Protagonisten um. Moras Erzählweise wurde treffend von der Rezensentin Verena Auffermann in der ZEIT erfasst: Terézia Mora schickt den „jungfräulichen“ Abel in eine miese, von Drogen, Dreck und Kriminellen durchsetzte Szenerie und benimmt sich wie ein Regisseur, der seine Schauspieler über dunkle Bühnen hetzt, „Pause!“, „Halt!“ oder „Weiter!“ ruft und sich selbst ins Wort fällt: „Korrektur: verwerfe den ganzen Satz“.²¹
Die Hauptfigur in Moras Roman ist der rätselhafte Abel Nema, ein homosexueller Flüchtling aus dem Balkan, der sich in der Großstadt B[erlin?] niederlässt und als schweigsames Sprachgenie erweist. Er lernt spielend zehn Sprachen, was ihn für die phonologische und neurologische Forschung interessant macht. Der Name spielt auf das slawische Wort nemoi (stumm) an. Nema bewegt sich in verschiedenen Milieus, versucht sich überall chamäleonartig anzupassen. Er ist jedoch alles andere als ein Chamäleon, da er mit seiner dürren Gestalt und schwarzen Bekleidung überall auffällt und die Menschen fasziniert. Seine Aktionskreise sind zum einen mit seinen verschiedenen billigen Unterkünften verbunden. Er kommt zunächst illegal beim Weltverbesserer Konstantin unter, später beim Metzger Carlo und nach einem Überfall auf sein dortiges Zimmer bei einem zweifelhaften Nachtklubbesitzer. Zum anderen gibt es den Kreis um den Linguistik-Professor Tibor, der ihm eine Forschungsaufgabe gibt, dessen Assistentin Mercedes, mit der Nema eine Scheinehe eingeht, und ihren einäugigen Sohn Omar. Einen weiteren Kreis bildet eine Gruppe seiner Landsleute: die extrovertierte manisch-depressive Kinga und die mit ihr befreundeten Musiker. Schließlich gerät Nema ins Visier einer Jugendbande, die ebenfalls aus seinen Landsleuten besteht. Von diesen wird er gequält und fast umgebracht. Bis auf die Wut dieser Bande scheint alles an ihm abzugleiten: die aufdringlichen Liebesbezeugungen Kingas ebenso wie der verzweifelte Versuch von Mercedes, aus der Scheinehe ein normales Familienleben zu machen. Sogar in Gesellschaft lässt er sich kaum auf Konversationen ein. Nur zu Omar, dem halbafrikanischen Sohn von Mercedes, dem er in Russisch und Französisch Unterricht erteilt, entwickelt sich spontan eine tiefe Freundschaft. Abel Nema ist keine Identifikationsfigur; dafür ist er zu labil und über die eigene Identität zu wenig im Klaren. Die distanzierte Erzählweise Moras lädt auch nicht zur Identifikation mit dem Protagonisten ein. Nemas Identitätsproblem ist zunächst praktischer Art. Sein Pass ist abgelaufen und kann nicht verlängert werden, denn, wie Nema im Roman erklärt: V. Auffermann, Terézia Mora gelingt ein Buch über die Vertreibung aus dem Paradies, Die Zeit 37, 02.09. 2004. Abrufbar unter https://www.zeit.de/2004/37/L-Mora [abgerufen am 16.05. 2020].
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Der Staat, in dem er geboren worden sei und den er vor fast zehn Jahren verlassen habe, sei in der Zwischenzeit in drei bis fünf neue Staaten gespalten worden. Und keiner dieser drei bis fünf sei der Meinung, jemandem wie ihm eine Staatsbürgerschaft schuldig zu sein.²²
Am abgelaufenen Pass scheitert die Scheidung aus der Scheinehe mit Mercedes, was sich wiederum nach dem Überfall als glückliche Wende erweist. Beides, der Überfall und Mercedes’ Scheidungswunsch, waren von seiner Homosexualität provoziert. Nach dem Überfall und dem totalen Verlust seines außerordentlichen Sprachtalents wird er von Mercedes wiederaufgenommen, deren Wunsch nach einem richtigen Familienleben schließlich doch noch erfüllt wird. Dass weder Jugoslawien, der Staat, den es nicht mehr gibt, noch Berlin namentlich genannt werden, hat damit zu tun, dass nicht nur genaue Ortsbezeichnungen, sondern auch Staaten und Nationen den Figuren im Roman, Nema wie Mercedes und wohl auch Kinga ziemlich egal sind. Sie waren auch dem abtrünnigen Vater Nemas, einem kakanisch-balkanischen Mischwesen, egal. Von ihm heißt es, er war: Ein halber Ungar, die andere Hälfte ungewiss, er sagte er trüge das Blut sämtlicher Minderheiten der Region in sich, ein Zugereister, ein Zigeuner, ein Stimmenimitator und Abenteurer, der auf zwei Flöten gleichzeitig und die Balalaika spielen konnte, und wer weiß was noch alles.²³
Das ist eine schöne Aufzählung von Klischees, mit denen das unstete, unbürgerliche Leben eines Amalgams aus lauter Randexistenzen erfasst wird, für die ein Begriff wie Heimat bedeutungslos ist. In der Großstadt sucht Nema nicht die Gesellschaft seiner Landsleute, auch wenn er sie im Umkreis Kingas, die er bei seiner Flucht im Zug kennengelernt hat, zwangsläufig findet. Kinga, von Beruf Lehrerin, ist durch die Migration und den Krieg im Balkan noch deutlicher deplatziert als Nema. Sie erklärt ihre Wohnung zur „Enklave“ mit dem Namen „Anarchia Kingania“, da neue Staaten gerade „groß in Mode sind“.²⁴ Nema wird einmal von Kingas Musikerfreunden engagiert, um eine längere Tour als Fahrer mitzumachen. Dass ihm die ständige Nähe von Landsleuten nicht ganz behaglich ist, geht aus kleinen Nebenbemerkungen hervor, wie die, wenn er die gute erwartungsvolle Atmosphäre vor einem Konzert mit der doppelten Einschränkung kommentiert. „[…] obwohl viel Muttersprachliches zu hören war – Das muss ja nichts Schlechtes sein – […]“.²⁵ Überhaupt lässt sich
T. Mora, Alle Tage, S. 269. T. Mora, Alle Tage, S. 61. T. Mora, Alle Tage, S. 145. T. Mora, Alle Tage, S. 233.
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Nema ungerne auf Bindungen ein, wobei die Angst vor Ghettoisierung eine besondere Rolle zu spielen scheint. Er ist fremd in die Stadt gekommen, aber auf die Fremdheit verzichtet er ungerne. Das Gefühl von Fremdheit erstreckt sich über den ganzen Roman. Die Stadt, in der er sich bewegt, ist ihm fremd, und er verläuft sich ständig. Seine Auftritte wirken auf die Mitmenschen faszinierend und befremdlich zugleich. Volker Weidemann trifft wohl den Kern des Romans in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Ja, das ist so ein Roman, in dem ein Mensch zum ersten Mal eine Maisdose öffnet. Obwohl er in einer nicht allzu fernen Vergangenheit spielt. Aber in einer fremden Welt. In unserer. Der westlichen. Mit den Augen Abel Nemas gesehen. Einem Helden der Abwesenheit, der Fremdheit und der Scham.²⁶
So ist die Fremdheit selbst das eigentliche Thema dieses Romans. Fremdheit ist auch ein zentrales Thema in Yoko Tawadas Das nackte Auge, das hier als nächstes behandelt wird, doch geht Tawada mit dem Thema ganz anders um.
Yoko Tawada: Das nackte Auge Die in zwei Sprachen schreibende Yoko Tawada gehört zu den Eingewanderten. Ihre Werke aber als Migrantenliteratur zu bezeichnen, würde gleich falsche Erwartungen erwecken. Zwar ist sie von Japan nach Deutschland gezogen, aber sie bewegt sich weiterhin frei und regelmäßig zwischen beiden Ländern, beiden Sprachen und beiden Literaturen. Tawada schreibt Bücher auf Deutsch und Japanisch. Oft handelt es sich um parallel entstandene Versionen desselben Buchs.²⁷ Ihr Verhältnis zu den beiden Sprachen und ihren Literaturen bleibt sehr persönlich. Doch während die Werke selbst deutlich von der Positionierung der Autorin zwischen den Sprachen und Kulturen zeugen, vermeiden sie jeden autobiographischen Bezug. Die Kulturüberschreitung zeigt sich bei ihr vor allem als Erfahrungserweiterung, wobei die Begegnung mit anderen Kulturen, Sprachen und Schriftzeichen immer wieder Anlass gibt zum kindlichen Staunen über zufällige Berührungspunkte, die sich dem erst zeigen, der sprachliche Konventionen entautomatisiert
V. Weidermann, Aus einer anderen Welt. Terézia Moras Alle Tage. FAZ, 13.08. 2004. https:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/terezia-moras-erster-roman-alle-tage-1171985.html [abgerufen am 24. 1.2021]. Darin vergleichbar mit Samuel Becket (S. dazu G Steiner, Extraterritorial, New York 1976, S. 5.)
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und entabstrahiert. Sogar scheinbar arbiträren Phänomenen der Grammatik haucht sie ein eigenes Leben ein, wie bereits am Beispiel des Genus gezeigt wurde. Die Sprachen stehen bei Tawada in einem Zustand ständiger gegenseitiger Verfremdung. Zufällige Kontraste oder Übereinstimmungen semantischer, phonetischer oder auch graphischer Art beflügeln ihre Phantasie. Aus dem freien Flug von Worten und Gedanken hat Tawada beispielsweise ein Interpretationsverfahren entwickelt, das sie u. a. erfolgreich an Gedichten Paul Celans angewandt hat.²⁸ Zufallszusammenhänge, denen sprachliche und kulturelle Missverständnisse und Fehldeutungen zugrunde liegen, die aber gleichzeitig bereichernd sein können, bestimmen die Handlung des Romans Das nackte Auge. ²⁹ Es ist die Lebensgeschichte einer unfreiwilligen papierlosen Migrantin, die weder legale Arbeit finden kann noch die jeweiligen Landessprachen Deutsch und Französisch beherrscht und daher von der Unterstützung durch Zufallsbekanntschaften abhängig ist. Die Ich-Erzählerin, eine Vorzeigeschülerin aus dem kommunistischen Vietnam, ist nach Ost-Berlin als Delegierte des Internationalen Jungendfests eingeladen, wo sie eine Grußrede auf Russisch halten soll. Doch gleich am ersten Abend lernt sie im Hotel einen Westdeutschen kennen, der sie betrunken macht, mit dem Auto nach Bochum entführt und vergewaltigt. Eine Zeitlang leben beide zusammen in Bochum bis die Erzählerin erfährt, dass es früher eine Bahnverbindung zwischen Paris und Moskau über Bochum gegeben hat. Eines Abends sucht sie die stillgelegte Strecke auf und besteigt auf mysteriöse Weise einen Geisterzug, von dem sie hofft, dass er sie nach Moskau bringen würde. Dort würde sie sich mit den Leuten verständigen können und käme leicht nachhause. Der Zug fährt jedoch in die Gegenrichtung, wie sie von einer mitreisenden vietnamesischen Emigrantin erfährt. In Paris kommt die papierlose und sprachunkundige Erzählerin zunächst bei einer Prostituierten, Marie, unter. Später wohnt sie bei ihrer Landsmännin Ai Van und ihrem Mann, danach bei einem vietnamesischen Chirurgen, der sie heiraten will, damit sie endlich eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung erhalten kann. Doch um zu heiraten müssen sie zunächst ins Ausland fliegen. Mit falschem Pass am Flughafen ertappt, kommt sie in Haft bzw. in psychiatrische Behandlung. Sie bricht aus und zieht zunächst zurück zu der Prostituierten Marie, die sie am Anfang ihres Pariser Aufenthaltes beherbergt hatte. Schließlich trifft sie per Zufall (ausgerechnet im Goethe-Institut) ihren westdeutschen Entführer wieder, mit dem sie über die inzwischen offenen europäischen Grenzen zurück nach Bochum
Y. Tawada, Die Krone aus Gras. Zu Paul Celans Die Niemandsrose. Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Tübingen 2007, S. 63 – 84, insbesondere S. 69 f. Y. Tawada, Das nackte Auge, Tübingen, 2004.
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zieht. Es stellt sich heraus, dass in all den Jahren in Paris die Protagonisten den Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kommunismus in Europa gar nicht mitbekommen hat. Mit dieser kurzen Zusammenfassung des Handlungsgerüsts ist das Wesen des Romans kaum erfasst. Auf der oberflächlichen Ebene dieses Handlungsgerüstes ließe sich das Buch gerade noch als Migrationsroman lesen. Der Roman stellt jedoch keinerlei Anspruch auf Realismus und ist erst recht kein Bekenntnisroman. Mit der Wahl einer vietnamesischen Kommunistin als Erzählerin und Protagonistin, die gegen ihren Willen in den kapitalistischen Westen, und dazu noch in die Metropole der ehemaligen Kolonialmacht Paris gerät, schafft die Autorin größtmögliche Distanz zwischen ihrem eigenen Hintergrund und dem der Romanfigur. Zugleich ermöglicht die Figurenwahl eine Steigerung der Fremderfahrung, denn die Erzählerin vergleicht zunächst alles was sie im Westen neu erlebt, mit dem, was sie von zuhause kennt und in der Schule gelernt hat. In den ersten Tagen und Wochen in Europa staunt sie über vieles: In Berlin gibt es scheinbar kaum was zu essen, dafür die riesige Statue einer Lotusblume (der Fernsehturm) – höher als der Eiffelturm. In Bochum findet wiederum kein Leben auf den Straßen statt. Auch wenn es mal wärmer ist, bleiben die Fenster geschlossen. Von ihrer Ahnungslosigkeit zeugen ihr Verhalten im Berliner Restaurant, ihre Reaktion auf die ersten durchaus nicht angenehmen sexuellen Erfahrungen und ihre erste Begegnung mit dem Phänomen der Prostitution bei der Ankunft in Paris – sie beobachtet die Verhandlung zwischen einer Prostituierten und einem Freier und glaubt, dass es sich dabei um die Vermietung eines Zimmers geht – eine Handlung die allerdings, wie sie meint, nach der Auffassung Ho Chi Minhs gegen die Menschenrechte verstößt. Konfuzius und Ho Chi Min sind und bleiben ihre Lehrer, und sie ist durchaus dazu fähig, zutreffende gesellschaftskritische Beobachtungen zu machen. Aus der unbedarften Begegnung der unwissenden Schülerin mit Realitäten, die sie nicht einordnen kann, gewinnt das Buch viel humoristisches Potenzial. Was die Erzählerin nicht ganz deuten kann, betrachtet sie mit einem „nackten Auge“. Daraus ließe sich eine mögliche Interpretation des Buchtitels ableiten. Das Auge ist für die Erzählerin auch sonst ihr wichtigstes Organ, denn nach der Ankunft in Paris lebt sie ein zweites Leben im Kino. Auch darauf spielt der Titel, der an eine Nahaufnahme in Roman Polanskis Film Repulsion (Ekel) erinnert, an. Schon am ersten Abend in Paris bei Marie entdeckt sie ein Werbezettel für einen Film mit Catherine Deneuve. Damit fängt eine anhaltende Obsession an: Die Erzählerin geht immer wieder ins Kino und schaut sich alle Filme mit Deneuve oft auch mehrfach an. Von Film zu Film entwickelt sie eine Schattenbiographie Deneuves, bei der die verschiedenen Rollen der Schauspielerin in ein lockeres Kontinuum eingewoben werden. Mit der Schauspielerin führt die Erzählerin all-
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mählich einen laufenden inneren Dialog, der im Text oft als Anrede in der Höflichkeitsform sichtbar wird. Die Filme vertreten völlig unterschiedliche Gattungen, Erotik, Horror, Film Noir und Drama. Alles trägt zur Komplexität der von der Erzählerin auf Catherine Deneuve projizierte Persona bei. Manche der Filme werden ausführlich und, wenn die Erzählerin mit der von Deneuve gespielten Rolle nicht ganz einverstanden ist, auch kritisch referiert. Die ausgewählten Filme mit Deneuve bestimmen sowohl den formalen Aufbau des Romans – jedes Kapitel ist nach einem ihrer Filme benannt, als auch inhaltliche Wendungen und Einzelheiten. Das erste Kapitel heißt nach Polanskis gleichnamigem Film Repulsion (Ekel). Dieser Film aus dem Jahr 1965 handelt vom sexuellen Abscheu einer jungen Frau. Vom Film selbst erzählt die Protagonistin nichts, denn sie hat ihn nicht gesehen, aber der Film ist als Subtext in dem Kapitel durchaus präsent. Als regelrechte Parodie des Films dürfte die überraschende Gewaltphantasie im Roman zu werten sein, bei der die Erzählerin ihren Entführer Jörg mit einer Schere ersticht und ihn mit einem Kerzenständer auf den Hinterkopf schlägt, wonach dieser, keineswegs verletzt, ihr Zahnbürste, Rasierapparat und weitere Gegenstände aus dem Bad in die Vagina stopft.³⁰ Unmittelbar im Anschluss an diese hyperbolische Szene stellt die Erzählerin nüchtern fest, dass sie „bald des sexuellen Verkehrs überdrüssig wurde“. Im zweiten Kapitel Zig zag widerspiegelt die Freundschaft mit der Prostituierten Marie die Freundschaft der Tänzerinnen im Film. Das Kapitel, in dem die Erzählerin sich in einer suspekten Klinik medizinischen Versuchen an ihrer Haut aussetzt, trägt den Titel des britischen Films The Hunger,³¹ in dem Deneuve zusammen mit David Bowie als Vampir auftritt. Ähnliche Verbindungen zwischen den im jeweiligen Titel genannten Filmen und der Romanhandlung gibt es in jedem Kapitel, Einen Drehpunkt stellt das fünfte Kapitel dar. Mit dem Film Indochine des französischen Regisseurs Régis Wargnier aus dem Jahr 1992 sieht sich die Erzählerin mit der eigenen Geschichte, oder vielmehr der kolonialen Geschichte Vietnams konfrontiert. Den Film besucht sie mehrfach und verhält sich sehr kritisch dazu. Gleichzeitig entsteht im Haushalt Ai Vans ein ähnliches Spannungsverhältnis wie zwischen den drei Hauptfiguren im Film. Die kritische Auseinandersetzung mit diesem historischen Film erweist sich für die Protagonistin des Romans als wichtiger emanzipatorischer Schritt. Danach tritt sie viel selbstständiger auf.
Y. Tawada, Das nackte Auge, S. 24 f. Regie Tony Scott, 1983.
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Im zehnten Kapitel probt die Erzählerin bei einer studentischen Theatertruppe. Dort soll sie die Rolle einer illegalen Migrantin spielen. Hier wird erneut die bereits aus Romanen Kureishis oder Karas bekannte Mimikry-Thematik aufgegriffen. Als es ernst wird und die Fremdenpolizei eine Razzia durchführt, muss sie sich verstecken.³² Die im Bühnenstück programmatisch vorgeführte Solidarität mit papierlosen Migranten, versagt im Ernstfall. Als Überschrift und Subtext zu diesem Kapitel dient der in der Theaterwelt spielende Résistance-Film von François Truffaut Le dernier métro. Das letzte Kapitel des Romans bildet einen Epilog, bei dem die Erzählsituation in die dritte Person wechselt und eine Begegnung zwischen einer Selma und der inzwischen gealterten und erblindeten Protagonistin in Berlin stattfindet. Die Blindheit bildet, neben dem Namen Selma, die Hauptverbindung zum titelgebenden Film Lars von Triers Dancer in the Dark aus dem Jahr 2000. Selma wundert sich, wieso die blinde Frau immer noch ins Kino geht, und diese sagt, dass sie sich dann auf die Stimmen und auf die Berührungen ihrer offenbar unsichtbaren Freundin Kathy (Catherine?) konzentrieren kann. Mit diesem Rätsel wird der Leser aus der Innenwelt der nun nicht mehr erzählenden Protagonistin entlassen. Wie verhält sich Das nackte Auge zur Migrationsliteratur? Vom Land ihrer Herkunft abgeschnitten, ist die Protagonistin im wahrsten Sinne eine „displaced person“. Das wird aber nicht als Heimweh thematisiert, denn nach den Anfangskapiteln unternimmt sie keine weiteren Versuche, nach Vietnam zurückzukommen. Obwohl die Handlung auf der Oberfläche alle Ingredienzen einer Migrationsgeschichte aufweist, lässt sich die Erzählung nicht auf die entsprechenden Erwartungen ein. Kulturunterschiede werden im Detail – vor allem in Gestalt humoristischer Fehldeutungen – notiert. Sie stellen aber kein Konfliktpotenzial dar. Die Protagonistin erlebt die Stationen ihrer Odyssee mit derselben Gleichmut wie sie das Kino erlebt. So wie Nema in Alle Tage und die namenlose Protagonistin von Das nackte Auge keiner Nation angehören, so lassen sich auch die zuletzt vorgestellten Romane keiner Nationalliteratur zuschreiben. Die jüngere multikulturelle Literatur auf Deutsch fügt sich in den literarischen Diskurs der deutschsprachigen Länder ein, aber von der Thematik und von der Perspektive her hat sie nichts Nationales. Zugleich braucht sie ihre Fremdheit nicht hervorzuheben. Sie unterscheidet sich nur durch die Sprache von den entsprechenden multikulturellen Literaturen der anderssprachigen Nachbarländer. Dort wie in den deutschsprachigen Ländern trägt kulturpluralistische und hybride Literatur dazu bei, den literarischen Diskurs zu entnationalisieren.
Y. Tawada, Das nackte Auge, S. 154.
IX Jüdische Geschichten […] wer im KZ war, darf auch in die EU Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther
Robert Menasse: Die Hauptstadt Im Jahre 2017 wurde Robert Menasses Roman Die Hauptstadt mit dem deutschen Buchpreis geehrt.¹ Von der ZEIT als der „weltweit erste EU-Roman“ apostrophiert,² spielt der Roman größtenteils in Brüssel im Umfeld der EU-Bürokratie. Wie die Europäische Union selbst als bewusst eingerichtete inter- und postnationale Organisation ist auch der Roman als bewusstes Konstrukt konzipiert. Er ist eine Fiktion parallel zu der institutionellen Realität. Der Roman umfasst so diverse Themen wie die europäische Agrarpolitik am Beispiel der Schweinezucht, die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Imagepflege der Europäischen Union sowie Probleme der Hierarchie und Konkurrenz in und zwischen den Kommissariaten. Zu den Verwicklungen der Handlung gehören ferner zwei Terroranschläge. Der erste fehlgeschlagene Anschlag zu Beginn des Buchs ist fiktiv und dient nur dazu, eine kriminalistische Nebenhandlung samt polizeilicher Aufklärungsversuche einzuführen. Dagegen sorgt der reale Anschlag auf die Metrostation Maalbek am Ende des Buches zusammen mit verstreuten Überlegungen zum Brexit und Seitenhieben auf den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán für Aktualität. Doch trotz der Ernsthaftigkeit mancher angesprochenen Ereignisse kann man den Roman insgesamt als eine wohlmeinende Satire bezeichnen, dessen Autor bei aller Einsicht in die menschlichen Schwächen seiner Protagonisten vom europäischen Projekt nachweislich überzeugt ist.³ Die geschickte Mischung von Spiel und Ernst prägt vor allem den Hauptstrang der Handlung. Dabei geht es um die Vorbereitung einer einmaligen Jubiläumsveranstaltung, die sich von allen üblichen Festakten deutlich unterscheiden soll. Mit der Entwicklung einer besonderen Idee für die Veranstaltung ist ein Mitarbeiter der Kulturkommission betraut. Bei seiner Suche nach einem übergreifenden Konzept für das europäische Jubiläum kommt er auf die Idee, Überlebende
R. Menasse, Die Hauptstadt, Berlin 2017. Andreas Isenschmidt, Herrliche Drittmittelgedanken (Rezension) Die Zeit 37, 2017. https://www. zeit.de/2017/37/robert-menasse-die-hauptstadt-roman [abgerufen am 25.1. 2021.] Vgl. R. Menasse, Der Europäische Landbote, Wien 2012. https://doi.org/10.1515/9783110706338-011
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IX Jüdische Geschichten
von Auschwitz zum Festakt einzuladen. Erwartungsgemäß dauert es eine Weile, bis er Unterstützung für die Idee findet, die letztlich aber angenommen wird. Das Projekt scheitert schließlich daran, dass der einzige in Brüssel auffindbare Überlebende dement ist und noch vor der Veranstaltung in einem Brüsseler Altersheim stirbt. Immerhin übernimmt die Union die Kosten für eine feierliche Beerdigung.
Ein negativer Gründungsmythos Die Verknüpfung des europäischen Projekts mit Auschwitz ist viel mehr als nur ein makabrer Scherz des Autors Menasse. Sie reiht sich in einen verbreiteten Diskurs ein, an dem sich neben der Belletristik auch die Historiographie beteiligt. Es geht dabei um den Gedanken, dass Auschwitz, als Synekdoche für den Holocaust, so etwas wie die Grundlage eines „negativen Gründungsmythos“ für das ganze Nachkriegseuropa bildet. Auf die kürzeste Formel bringt ihn Katja Petrowskaja in ihrem Roman Vielleicht Esther mit der Wendung, „wer im KZ war, darf auch in die EU“.⁴ Auf Petrowskajas Roman, der dem Schicksal der weit über Europa verstreuten Verwandtschaft der Autorin nachgeht, wird noch in diesem Kapitel ausführlich eingegangen. Der Gedanke, dass sich aus dem Holocaust eine Gründungsmythos für das neue Europa nach dem Zweiten Weltkrieg oder zumindest für Deutschland ableiten lässt, ist nicht neu. Der planmäßige Völkermord stellte einen völligen Bruch mit allen Werten dar, die sich die Europäer zugute zu halten gewohnt waren. Nach diesem Bruch war ein Neuanfang erforderlich und zu seiner Untermauerung eignete sich gerade ein abschreckender, negativer Gründungsmythos. Von der Wirkungsmacht dieser Vorstellung zeugen gerade auch Kommentare von konservativer Seite, denen ein unproblematischeres Verhältnis zur Vergangenheit lieber wäre. So spricht Botho Strauß in seinem ominösen Aufsatz „Der Bocksgesang“ im Spiegel 1993 explizit vom „Ursprung (in Hitler)“ der deutschen Nachkriegsintelligenz,⁵ und es ist der Schatten des Holocaust, der den von Ulrich Greiner als „Gesinnungsästhetik“ bezeichneten moralisch-politischen Konsens der Nachkriegsliteratur begründet hatte.⁶ Solche Äußerungen sind, wie der Historikerstreit der 80er Jahre oder die Walser-Bubis-Kontroverse von 1998, Ausdruck eines Unbehagens, das sich daraus ergibt, dass sich der Holocaust im öffentlichen Diskurs einem normalisierten Zugang zur nationalen Geschichte
K. Petrowskaja, Vielleicht Esther, Berlin 2004, S. 268. B. Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel, 8. 2.1993. U. Greiner, Die deutsche Gesinnungsästhetik, Die Zeit, 2.11.1990.
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versperrt und somit das Bekenntnis zur nationalen Identität beträchtlich stört. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass besonders zu Beginn der 1990er Jahre, als sich durch die Wiedervereinigung ein gesamtdeutscher Staat herausgebildet hatte, der alles Provisorische der ersten Nachkriegsjahrzehnte abwerfen und sich als Verkörperung der Nation verstehen konnte, das Verhältnis zur negativen Seite der deutschen Geschichte kontrovers diskutiert wurde. Inzwischen gehört das Gedenken des Holocaust europaweit zur kollektiven Bewusstseinsbildung. Dan Diner spricht von einer „negativen Ikone“, die spätestens seit den 1990er Jahren ins europäische Bewusstsein tritt, wobei er für Europa in den ersten Nachkriegsjahrzehnten insgesamt einen Gedächtnisschwund konstatiert.⁷ Voraussetzung für die neuerliche europäische Dimension des Holocaustdiskurses ist die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit auch in anderen europäischen Ländern, wodurch Deutschland nicht mehr ganz allein mit dem Stigma der Kollektivschuld belassen wurde. Claus Leggewie spricht explizit vom „negativen Gründungsmythos“ für ganz Europa: Der gemeinsame Rekurs auf das singuläre Menschheitsverbrechen des Mordes an den europäischen Juden ist das Angebot eines negativen Gründungsmythos für Europa. Die Europäisierung der deutschen Geschichtspolitik […] wirkt fürs Erste plausibel, insofern Antisemitismus und Faschismus in der Tat gesamteuropäische Erscheinungen waren und der Mord an den Juden ohne breite Kollaboration europäischer Regierungen und Menschen unmöglich gewesen wäre.⁸
Das Zugeständnis, dass andere europäische Länder entweder durch Kollaboration am Holocaust mitgewirkt oder wissentlich nichts dagegen unternommen haben, darf nicht als Entlastung Deutschlands begriffen werden. Dennoch, je mehr Akzeptanz ein solches Zugeständnis findet, desto einfacher wird es, die Gemeinsamkeit der europäischen Länder auch durch ein gemeinsames Geschichtsverständnis zu untermauern. Aus der „Entnationalisierung“ der jüngeren Geschichte ergibt sich ein ebeneres Terrain, auf dem die gemeinsame Verpflichtung zur Respektierung der Menschenrechte für die Zukunft an Glaubwürdigkeit gewinnt. Als weiteren Vorteil einer Geschichtsaufarbeitung auf kontinentaler Basis wäre die größere Neutralität zu nennen. Da Europa als Gesamtheit keinen dem Nationalstolz der einzelnen Länder entsprechenden Kontinentalstolz besitzt, fallen die Empfindlichkeiten etwas geringer aus. In der Praxis ist ein solches entnationali D. Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen 2007, S. 7 f. Cl. Leggewie Schlachtfeld Europa Transnationale Erinnerung und europäische Identität, 2009, https://www.eurozine.com/schlachtfeld-europa. Vgl. Peter Wagner, Hat Europa eine kulturelle Identität? In: Joas, Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, S. 508.
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siertes Geschichtsverständnis noch lange keine Selbstverständlichkeit. Die bloßen Tatsachen sind unumstritten, aber wie Dan Diner konstatiert, handelt es sich dabei um Statistik, die alleine für sich genommen nicht narrativfähig ist.⁹ Bei der Deutung des Ereignisses weichen die Narrative je nach Perspektive voneinander ab, und nationale Empfindlichkeiten spielen dabei sehr wohl eine Rolle. Es geht auch nicht nur um die Täter- und die Opferperspektive, sondern, in verschiedenen Teilen Europas unterschiedlich nuanciert, auch um die Frage, mit welchem Recht und mit welcher Identitätszuschreibung die jeweiligen Betroffenen sich als Opfer empfinden konnten. Peter Reichel et al. nennen als Beispiel die Kontroverse zwischen der jüdischen und der polnisch-nationalen Perspektive um die Gedenkstätte Oświȩcim (Auschwitz): In Polen befürchtet man, die Juden könnten das Symbol der national-polnischen ‚Katastrophe‛ judaisieren und Polen zusammen mit Deutschen auf die Täterseite rücken, Juden befürchten, Polen könnte den größten jüdischen Friedhof weiterhin für die polnische Leidensgeschichte vereinnahmen.¹⁰
Auffallend ist bei dieser Kontroverse wie die eingebürgerte, aber keineswegs selbstverständliche, Ausgliederung der Juden aus der nationalen Volkgemeinschaft von beiden Seiten ins Spiel gebracht wird. Zwar wird von beiden das Spezifikum des Genozids implizit anerkannt, aber der Stellenwert des Spezifikums im Rahmen des gesamten Leidens im Zweiten Weltkrieg wird durchaus unterschiedlich gewertet. Die Erinnerung an das Schicksal, das durch Geschichtsforschung und Denkmalpflege wachgehalten werden sollte, wird leicht zum Spielstein politischer Konkurrenz. Sie bleibt auch eine Abstraktion, solange sie nur von der Statistik ausgeht. Der Schicksalsschlag des Holocaust umfasst jedoch Millionen Einzelschicksale mit ihren eigenen Narrativen. Ist bereits das kollektive Gedächtnis mit Problemen der Anerkennung und der aufgezwungen Identitätszuschreibungen behaftet – auch Stigmatisierung ist eine Art negativer Anerkennung – so ist dies auf der individuellen Ebene der Überlebenden und Nachkommen der Opfergeneration nicht weniger der Fall. Wie gehen europäische Juden heute mit dem Faktum des Genozids, ihrer Zugehörigkeit zu den Opfern um, und wie gehen andere Europäer, deren Zugehörigkeit eher auf der Täterseite liegt, damit um? Das
D. Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust, University of California Press, 2000, 178. P. Reichel, H. Schmid, P. Steinbach, Nach dem Ende nationaler Nachkriegsmythen – eine europäische Erinnerungskultur? In: Dies. (Hg): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte, München 2009, S. 406.
Ein negativer Gründungsmythos
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sind Fragen, die in allen in diesem Kapitel behandelten Werken in der einen oder anderen Form gestellt werden. Dass die Assimilation der Juden in der deutschen und österreichischen Gesellschaft in dem Jahrhundert nach der Gewährung der zivilen Rechte gescheitert war, muss spätestens in den 20er Jahren klar geworden sein. Selbst die größten Optimisten wie Stefan Zweig mussten einsehen, dass der Traum von der Assimilation, wenn er überhaupt jemals annähernd Wirklichkeit hätte werden können, nunmehr der Vergangenheit, der Welt von Gestern angehörte. Die Assimilierung der Juden in die europäischen Mehrheitsgesellschaften wurde durch den Holocaust unmöglich gemacht und ist seitdem nur bedingt möglich. Mit dem Holocaust muss sich jeder auseinandersetzen. Das ist besonders in Deutschland und Österreich der Fall. Auch ohne Rassengesetze setzt das bloße historische Faktum des Holocaust alle Menschen jüdischer Abstammung, egal ob sie religiös sind oder nicht, unter den Zwang, über ihr Verhältnis zum Judentum und ihr Verhältnis zu Deutschland oder Österreich nachzudenken. Der aus Moskau über Prag mit seiner Familie nach Berlin eingewanderte Maxim Biller spricht für viele, wenn er behauptet: „In Deutschland erst wurde ich Jude, ich kam als Kind hierher, noch ohne den Sinn und das Gefühl fürs Anderssein.“¹¹ Die wenigen Juden, die in Deutschland und Österreich zufällig überlebten, genauso wie diejenigen, die aus dem Exil zurückkehrt oder gar neu zugereist sind, stehen folglich unter einem besonderen Rechtfertigungszwang. Wer nach der Shoah sich für ein Leben in Deutschland oder Österreich entscheidet, kann sich diesem Zwang nicht entziehen. Im Folgenden werden vier Bücher von Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft unter dem Aspekt ihrer narrativen Darstellung der bewussten Zugehörigkeit zur Generation der Nachgeborenen behandelt. Die Bücher sind zwar alle auf Deutsch geschrieben, doch da endet die Gemeinsamkeit. Die Herkunft der jeweiligen Autoren sowie ihr persönliches Verhältnis zu ihrem Judentum sind sehr unterschiedlich, nicht zuletzt in der Frage der religiösen Observanz, die am stärksten bei Honigmann ausgeprägt ist. Die Werke von Barbara Honigmann, Gila Lustiger und Katja Petrowskaja können im weitesten Sinne der Autofiktion zugerechnet werden. Bei Gebürtig von Robert Schindel handelt es sich um einen ausgeprägten Roman mit mehreren Handlungssträngen auf verschiedenen Ebenen und einem großen fiktiven Personal. Während dieselbe Problematik der Gestaltung der eigenen Identität unter dem nachhaltigen Druck der Geschichte in allen diesen Werken verhandelt wird, hält Robert Schindel mit seinem Roman den größten Abstand zu den Einzelheiten
M. Biller, Deutschbuch München 2001, S. 333.
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seines eigenen Lebens. Dafür verteilt er die Erfahrungen mit den verschiedensten Schattierungen von Antisemitismus, wie sie in Österreich und Deutschland gemacht werden können, modellhaft über eine breite Spanne von Figuren und Handlungssträngen. Darum soll zunächst dieses Werk behandelt werden.
Robert Schindel: Gebürtig Gebürtig, erschienen 1992, ist der erste Roman des zunächst als Lyriker namhaft gewordenen Robert Schindel.¹² Der Roman, der sich durch eine fast unüberschaubare Vielfalt an Personen, hauptsächlich Akademiker und Kulturschaffende, auszeichnet, lässt sich als Gesellschafts- oder gar Konversationsroman bezeichnen, da ein großer Teil seines Inhalts aus Gesprächen besteht, die von den verschiedenen Protagonisten in unterschiedlichen Konstellationen geführt werden. Der Autor selbst überlebte die Shoah als Kleinkind in Wien, während sein Vater in Dachau ermordet wurde und die Mutter Auschwitz und Ravensbrück überlebte. Im Glauben aufgewachsen, dass er die frühkindlichen Jahre vor der Wiedervereinigung mit der Mutter in der Volkswohlfahrt untergebracht war, hat Schindel erst im Erwachsenenalter die Einzelheiten seiner eigenen Rettung erfahren. Er wurde von der jüdischen Kulturgemeinde ins Wiener jüdische Kinderspital gebracht.¹³ Beide Eltern waren vor dem Zweiten Weltkrieg in der kommunistischen Partei aktiv gewesen und Robert Schindel selbst war ebenfalls in den späten sechziger Jahren in der studentischen Bewegung als Maoist aktiv. Zu einer engeren Beschäftigung mit Fragen der jüdischen Identität ist er erst später gekommen. Wie aus einem Gruppengespräch mit den Autorenkollegen Robert Menasse und Doron Rabinovici sowie dem Forscher Matthias Beilein hervorgeht, hat die Affäre um Kurt Waldheim, der trotz Enthüllungen über seine Vergangenheit bei der SS 1986 zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt wurde, entschieden dazu beigetragen, dass Schindel sich der Frage nach dem Verhältnis der Nachkriegsösterreicher zu den im Lande verbliebenen Juden zuwandte. Bei diesem Gespräch sagt der aus Israel gebürtige Rabinovici von sich selbst, dass erst die Waldheim-Affäre seinen kritischen Blick, der bis dahin eher der israelischen
R. Schindel, Gebürtig. Salzburg, Wien 2005 [1992]. S. dazu Schindels Interview mit Anita Pollak in Die Gemeinde. Offizielles Organ der israelitischen Kultusgemeinde Wien Nr. 683, Dezember 2010, S. 43 f. sowie ihren anschließenden Beitrag über die Tagebücher der jüdischen Kinderschwester „Mignon“ im selben Heft (S. 44). Abrufbar unter: https://www.ikg-wien.at/wp-content/uploads/2011/02/683_magazin_12.pdf. [abgerufen am 26.1. 2021].
Robert Schindel: Gebürtig
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Politik gegolten habe, auf die Verhältnisse in Österreich gelenkt habe. Während der neu aufflammende österreichische Antisemitismus Rabinovici stärker auf Österreich aufmerksam machte, richtete sich Schindels Aufmerksamkeit auf das Jüdische oder, in Rabinovicis Worten, „Wir beide haben einander eigentlich in dem Moment getroffen, wo er hineingekippt ist in den Judeozentrismus und ich hinaus.“¹⁴ Schindels Roman gehört, wie Peter Henischs Steins Paranoia, zu den literarischen Verarbeitungen der Begegnung mit dem im Wahlkampf nunmehr erneut sichtbar gewordenen Antisemitismus im österreichischen Leben. Schindels Verhältnis zum Judentum ähnelt dem, was Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne als sein „Judesein“ bezeichnet. Es hat mit Religion kaum etwas zu tun, denn diese hatte im kommunistischen Weltbild seiner Jugend ohnehin keinen Platz. Es hat vielmehr mit einer gespürten oder geahnten Feindseligkeit in der umgebenden Gesellschaft zu tun, eine Feindseligkeit, die gerade im Umfeld der Waldheim-Wahl erneut evident wurde. Der Antisemitismusverdacht auf der einen Seite und der übervorsichtige Umgang mit Juden auf der anderen Seite sind ein Produkt der Shoah, die als historisches Faktum existentiellen Ausmaßes auf die nachfolgenden Generationen identitätsstiftend wirkt. Das gespannte Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden bildet den Mittelpunkt des Romans und wird in verschiedenen Variationen durchgespielt. Mehr als um reale antisemitische Handlungen geht es im Roman um den naheliegenden Verdacht des Antisemitismus. Grundlage der Spannung ist, wie die Titelgestalt Hermann Gebirtig sagt, „Wir haben bloß eine prinzipiell unterschiedliche Vergangenheit als die Nichtjuden dort.“¹⁵ Die Konsequenzen dieses Unterschieds werden im Wiener Bekanntenkreis der Hauptprotagonisten, der jüdischen Zwillingsbrüder Alexander und Danny Demant, unentwegt ausgehandelt. Beide Brüder treten zeitweilig in die Erzählerrolle. Vor allem geht es dabei um instabile Paarbeziehungen und insbesondere um Empfindlichkeiten in den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. So wenig wie die Intellektuellen der Nachkriegsgeneration, die im Mittelpunkt des Romans stehen, selbst Erfahrung als Opfer gemacht haben, so wenig sind auch ihre nichtjüdischen Freunde selbst Täter. Und doch bleibt auf beiden Seiten ein unartikuliertes und kaum eingestandenes Zugehörigkeitsgefühl zu den Opfern oder den Tätern, das zwischen ihnen Unbehagen und Misstrauen schafft. Schindel gelingt es, das grundsätzliche Misstrauen spürbar werden zu lassen.
M. Beilein, 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008. S. 309. R. Schindel, Gebürtig, S. 159.
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Der Verlagslektor Danny hat eine mehrfach unterbrochene Beziehung zur nicht-jüdischen Ärztin Christiane Kalteisen, die ihn auch zeitweilig aus Wien in die österreichische Provinz lockt, wo er der Verheißung einer unbefangenen alpinösterreichischen Identität ausgesetzt ist. Doch nach einem letztlich unbefriedigenden Aufenthalt bei der Geliebten Christiane überlegt Danny, warum sie eigentlich bei ihm bleibt: „Als ich zwei Tage später den Zug bestieg, hatte sie mich satt. Sie kann mich eben nicht leiden. Sie hängt an mir, um den Widerwillen gegen meinesgleichen sich sinnlich erfahrbar zu machen.“¹⁶ Das ist allerdings eine nur flüchtig gedachte Unterstellung von einer Art, wie sie derselbe Danny seinen Freunden sonst generell auszureden versucht. Er ist es auch, der zu Beginn des Romans die gereizte Stimmung von Mascha, der paranoischen Freundin seines Bruders, mit den Worten zu beruhigen versucht: „Dürfen unsere Juden gelegentlich ein bißchen tot sein, oder müssen sie auch als Knochenmehl ständig gespitzt bleiben?“¹⁷ Die zur Anorexie neigende Soziologin Mascha fühlt sich dagegen hin und her gerissen zwischen Alexander Demant und einem steirischen Goi. Bei ihr ist die Last der Vergangenheit besonders präsent. Bereits im Prolog streitet sie sich mit einem Herrn, der die Taktlosigkeit besitzt, die Schönheit der Landschaft in seiner Heimat, Mauthausen, zu loben. Weiter gibt es den Schriftsteller Emanuel Katz, dessen Jugend weitgehend durch die Strenge und die Melancholie seiner Mutter, einer Auschwitz-Überlebenden, gedämpft wurde. Auch er begibt sich gerne auf vergebliche Abenteuer mit hünenhaften Arierinnen. Die im Roman etwas näher behandelte Annäherung an eine gewisse Käthe zerbricht an der Unempfindlichkeit und den stereotypen Einstellungen ihrer Familie. In diesem Wiener Intellektuellenzirkel ist das Verhältnis der einzelnen Figuren zu ihrer Gegenwart gemeinsam durch die Vergangenheit belastet, aber jeweils auf unterschiedliche Weise. Bei Mascha ist ihr ganzes Weltbild durch die Ungeheuerlichkeit der Shoah als Faktum geprägt, wodurch ihr Urvertrauen grundsätzlich gestört ist. Bei Emmanuel Katz ist die Freudlosigkeit der eigenen Kindheit als Sohn einer Shoah-Überlebenden das entscheidende Moment. Ganz andere Vergangenheiten werden im Roman ebenfalls bearbeitet. Ein Nebenschauplatz ist Hamburg, wo der Kulturregisseur Konrad Sachs, der Sohn des Generalgouverneurs von Polen, sich am Holocaust mitschuldig fühlt und daran psychisch erkrankt. Als „Prinz von Polen“ empfindet er sich als Erbe seines Vaters
R. Schindel, Gebürtig, S. 234. R. Schindel, Gebürtig, S. 15.
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und kann mit der Last kaum umgehen.¹⁸ Durch seine Geschichte wird neben dem Opfergedächtnis auch das Tätergedächtnis gestreift. Die Täter-Opfer-Dichotomie beschäftigt zwar alle im Roman, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Sie ist für Schindel nichts Festes. Interessant ist zum Beispiel der Fall des remigrierten jüdischen Hamburger Theaterregisseurs, der für sich die „Opferidentität“ schroff ablehnt. Da sein Vater im Dritten Reich aus Deutschland vertrieben wurde, kehrt er siegesbewusst aus der Emigration zurück: Auch Peter Adel hatte ein Geheimnis. Niemand wußte, daß er Jude war, außer Hitler und dessen Helferlingen. […] Was niemand wußte, blieb auch tief in Adels Seele. Sein Vater, ein angesehener hanseatischer Kaufmann, konnte die Schmach, plötzlich bloß ein Jude zu sein, nicht lange aushalten. Noch in England riss ihm das Herz, und darüber kam Peters Mutter nie mehr hinweg. […] Er [Peter, CP] fühlte sich durchaus nicht als Jude, er stellte im Gegenteil die verlorene Würde seines Vaters wieder her, denn da sein Vater als Jude das Land verlassen hatte, beschloß er, es als Deutscher wieder zu betreten, und dabei blieb es. Doch konnte er sich schwer verhehlen, dass etwas Dunkles in ihm ständig präsent blieb.¹⁹
Ganz anders ist die Einstellung von Herrmann Gebirtig, der Titelgestalt des Romans – der irritierende Unterschied in der Schreibweise zwischen dem Namen der Figur und dem Buchtitel ist wohl im Sinne eines Wortspiels zu verstehen. Der Handlungsstrang um Gebirtig, der erst im dritten Kapitel eingeführt wird, stellt so etwas wie einen Roman im Roman dar, da angedeutet wird, dass es sich um den Text handelt, den der Verlagslektor Danny Demant von Emanuel Katz zu lesen bekommen hat. Gebirtig ist Überlebender der Außenstelle des KZ Mauthausen in Ebensee. Nach der Befreiung in die USA emigriert, hat er sich vorgenommen, weder Österreich und Deutschland noch Polen jemals wieder zu betreten. Der „Roman im Roman“ handelt von den Bemühungen, ihn dazu zu bewegen, doch nach Wien zu kommen, um als Zeuge in einem Prozess gegen den in Mauthausen und Ebensee tätigen Nazi-Verbrecher Anton Egger auszusagen. Wer ihn dazu schließlich überredet, bzw. geradezu bezirzt, ist Susanne Ressel, die Tochter eines kommunistischen Widerstandskämpfers, der ebenfalls im Lager Ebensee inhaftiert war. Die erste Begegnung von Susanne und Hermann Gebirtig in New York verläuft nicht gut, denn was dabei stattfindet, ist ein Wettkampf der Opferdis-
Diese Gestalt beruht auf einem realen Vorbild, Niklas Frank, dem Sohn des bei den Nürnberger Prozessen zu Tode verurteilten Generalgouverneurs von Polen im Zweiten Weltkrieg, Hans Frank. S. dazu Moritz Aisslinger und Tanja Stelzer, Das erste Gericht, Die Zeit Nr. 44, 2020. https:// www.zeit.de/2020/44/nuernberger-prozesse-nazi-verbrechen-anklage-juden-zeitzeugen [abgerufen am28.1. 2021] R. Schindel, Gebürtig, S. 65 f.
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kurse. War nicht das Los der rassisch Verfolgten noch ungerechter als das der „Politischen“ die sich freiwillig in Gefahr gebracht hatten? Mit dieser grundsätzlichen Frage streitet Gebirtig Susanne Ressel das Recht ab, über den Holocaust mitzureden – die Frage entbehrt in Schindels Fall nicht einer gewissen Ironie, da seine Eltern sowohl wegen ihrer Politik als auch wegen ihrer Rasse verfolgt wurden. Nach diesem unsinnigen und unergiebigen Disput kehrt Susanne unverrichteter Dinge in ihr Hotel zurück. Doch unmittelbar vor ihrem Rückflug nach Europa willigt Gebirtig doch noch ein, allerdings unter der Bedingung, dass seine Reise nicht öffentlich bekannt gegeben wird und nur zum Zweck der Zeugenaussage stattfinden soll. Durch Indiskretionen wird jedoch der Besuch Gebirtigs in Österreich bekannt, was die Stadt Wien zum Anlass nehmen möchte, dem bekannten und verdienten Exilschriftsteller einen Preis zu verleihen. Dieses öffentliche Missgeschick bietet im Roman den Anlass für eine saftige Satire über den österreichischen Kulturbetrieb, deren Komik gleich bei den Namen der Akteure beginnt.²⁰ Nach der Ankunft in Österreich gewinnt Gebirtig zunehmend Vertrauen zu Susanne und freut sich am Wiedersehen mit der früheren Heimat. Schließlich empfindet er sogar die ungewollte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit trotz seiner Verärgerung auch als schmeichelhaft. Nach der Zeugenaussage fängt er an, sich auf ein Leben in Wien und mit Susanne einzurichten. Der Prozess endet jedoch mit Freispruch für den Kriegsverbrecher. Das langsam über mehrere Kapitel des Romans aufgebaute Verhältnis zum neuen Österreich zerbricht im Nu, und nach einer halben Textseite ist Gebirtig wieder in New York und hat alle Verbindungen nach Österreich abgebrochen. So kehrt diese Binnenerzählung zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Auf allen anderen Ebenen von Schindels Roman bleibt indessen ohnehin alles beim Alten. Der Freundeskreis um die Demants rotiert mit seinen halbherzigen Beziehungen und ewig wiederholten Debatten weiter, und der Roman endet, wo er angefangen hat, im Beisl.
Gila Lustiger: So sind wir Eine vielseitige Auseinandersetzung mit dem Leben als Nachgeborene der Opfergeneration liefert Gila Lustiger in ihrer als „Familienroman“ bezeichneten Autofiktion So sind wir (2005).²¹ Die in Paris wohnhafte Autorin ist die Tochter des Sind schon die Namen auf der Haupterzählebene, wie etwa Christiane Kalteisen, sehr bewusst gewählt, so steigert sich das Spiel mit den klingenden Namen bei den Nebenfiguren um Gebirtig herum wie Leibenfrost und Katzenbeißer ins Lächerliche. G. Lustiger, So sind wir, Ein Familienroman, Berlin 2007 [2005].
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Unternehmers und Privatgelehrten Arno Lustiger, der, nachdem er mehrere KZs und Todesmärsche gerade noch überlebt hatte, sich in Frankfurt am Main niederließ. Dort ist die Autorin geboren. Die Mutter wiederum ist Israeli der ersten Generation. Ihre Eltern waren in den 20er Jahren von Polen nach Palästina ausgewandert, wo der Vater sie bei einer Reise kennenlernte. Ein zentrales Motiv ist die narrative Unfassbarkeit der Gräuel der KZs und der Todesmärsche, denen der Vater ausgesetzt war. Obwohl er in seinen historischen Untersuchungen das Schicksal anderer Holocaustopfer behandelte, hat er zuhause niemals von seinen Erfahrungen geredet, und die Autorin/Erzählerin entdeckt erst im Erwachsenenalter zufällig durch einen Aufsatz ihres Vaters in einer Sammelveröffentlichung darüber Genaueres. Im Roman kommt auf der einen Seite die Aufregung und Verärgerung der Erzählerin über das langjährige Schweigen des Vaters zum Ausdruck. Auf der anderen Seite respektiert die Autorin dieses Schweigen, indem sie nur die rohen Fakten des Lagerlebens und der Todesmärsche wiedergibt und auf jeden Versuch, diese erzählerisch auszubauen, bewusst verzichtet. Mehr Freiheit beim Ausmalen von Details erlaubt sich die Autorin bei der Darstellung der vor der Staatengründung Israels in Palästina geborenen Mutter und deren Eltern, die aus zionistischem Idealismus nach Palästina ausgewandert waren. Das Buch stellt insgesamt ein Mosaik aus verschiedenen Schicksalswegen dar, das von vornherein jeden Versuch von Identitäts- oder Rollenzuschreibung absurd erscheinen lässt. Ihre eigene „deutsche“ Kindheit, die in vereinzelten Episoden präsentiert wird, steht in einem Spannungsverhältnis zum verschwiegenen Leidensweg des Vaters und zu den Erwartungen der israelischen Mutter. Die Familienkonstellation, wie sie im Buch dargestellt ist, ermöglicht verschiedene Zugänge zur Problematik der meistens unordentlichen Verflechtung von Biographie und Geschichte. Ein Ereignis aus der Schulzeit, das bezeichnenderweise erst sehr spät im Buch erzählt wird, ist der Versuch eines fortschrittlichen nach-68er Gemeinschaftskundelehrers, den Holocaust zu behandeln. Was der Lehrer vielleicht als wohlmeinenden Zugang zum Thema versteht, wird von den Schülern nicht respektiert und von der Erzählerin schlicht abgelehnt. Auf ihre Herkunft als Kind eines Überlebenden angesprochen, fühlt sich die Erzählerin für einen Augenblick als etwas Besonderes, das die Achtung ihrer Klasse auf sich zieht. Dieses Erfolgsgefühl verflüchtigt sich fast sofort und weicht der Verärgerung über die Unangemessenheit der Zuschreibung des „Überlebenden“. Wie jedes andere Attribut ist auch diese scheinbar objektive Feststellung, sobald sie im Sinne einer Zuschreibung benutzt wird, ein reduktiver Affront gegen die Persönlichkeit, d. h. gegen den realen Menschen.
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An dieser Stelle dürften sich die unartikulierten Empfindungen eines Kindes mit der Ratio der erwachsenen Autorin vermengen. Als Kind, so erinnert sich die Erzählerin, hätte sie sich einen weniger auffälligen Namen gewünscht, statt des biblischen Namens Gila, vielleicht Bettina, Bärbel oder Susi. Doch dieses Anpassungsbedürfnis scheint dem Kind gleichzeitig suspekt zu sein, da es offenbar den Erwartungen der Mutter zuwiderläuft: Als Kind habe ich gedacht, dass meine Mutter uns hasste, weil wir sie an ein Land banden, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. Heute weiß ich, die Mutter hasste uns nicht. Die Mutter ist nur an uns verzweifelt, weil wir deutsche Kinder waren. Mutter hasste uns nicht, sondern hasste alles Deutsche an uns.²²
Was die Autorin/Erzählerin aus der Verarbeitung ihrer Erinnerungen und der Geschichten ihrer Eltern und Großeltern gewinnt, ist die Erkenntnis, die gleich zu Beginn der Ausführungen artikuliert wird, dass Herkunft, Religion und Nationalität nichts als ein eingebildetes Gefängnis sind: Ja, warum sollte man sich überhaupt | irgendein Siegel aufdrücken lassen? In Wahrheit sind Herkunft, Religion, Nationalität nichts. […] In Wahrheit sind die meisten ihrer unmittelbaren Umgebung und Erziehung derart ausgeliefert, dass sie nichts als Herkunft, Religion und Nationalität sind. Sinnestäuschung und Betrug, in denen sie hausen wie in einem dunklen stinkenden Verlies.²³
Dennoch beziehen diese Dinge ihre Kraft daraus, dass Menschen an sie glauben, und der Glaube ist Lustiger, nicht nur im religiösen, sondern vor allem im ideologischen Sinne, suspekt. Auf diese Problematik geht die Autorin im weiteren Verlauf des Buchs weniger im Zusammenhang mit Deutschland und dem Holocaust als im Zusammenhang mit Israel und seinem Verhältnis zu den Arabern ein. Kann man denn ein anderes Volk fünfzig Jahre lang nicht sehen? Ja, man kann es, wenn man statt in der Realität im Glauben verankert ist. Oft frage ich mich: wie sind nur diese jüdischen Köpfe konstruiert, was geht in ihnen vor, dass sie, statt zu sehen, glauben. Zionisten, Bundisten, Trotzkisten, Kommunisten, Feministen, Pazifisten, Maoisten […] wo man hinschaut, Juden, die glauben.²⁴
Die nationalstaatliche Verwirklichung des Zionismus wurde gewiss durch die Shoah beschleunigt, aber viele andere Faktoren, nicht zuletzt der Abbau des britischen Imperiums, spielen eine Rolle.
G. Lustiger, So sind wir, S. 116. G. Lustiger, So sind wir, S. 33 f. G. Lustiger, So sind wir, S. 111.
Gila Lustiger: So sind wir
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Ein durchgehendes Motiv ist die Schwierigkeit, die eigene Biographie, die Familiengeschichte und die Geschichte erzählerisch in den Griff zu bekommen und aufeinander zu beziehen. Strukturell spiegelt sich dies darin, dass im Text an mehreren Stellen über die eigene Legitimation reflektiert wird. In den ersten Kapiteln werden die Erinnerungen und die Hintergründe den Lesern direkt mitgeteilt, was stellenweise durch direkte Anrede des Lesers unterstrichen wird. In der zweiten Hälfte des Romans wird die unmittelbare Kommunikation durch die Einführung eines Erzählrahmens und einer Zuhörerin als Adressatin und somit als Vertreterin des impliziten Lesers inszeniert. Die angetrunkene, ichzentrierte Lesbierin Dominique ist keine optimale Zuhörerin, denn sie interessiert sich nur begrenzt für das Erzählte. Das Fest, auf dem Dominique sich an die Erzählerin klammert, und die anschließende Wanderung durch die Straßen von Paris, einschließlich des Besuchs einer Bar in den frühen Morgenstunden, bieten auch keinen optimalen Rahmen für ein solches Gespräch. Aber diese erschwerte Kommunikationssituation ist Absicht. Als nur halb engagierte Hörerin verkörpert Dominique einen bestimmten Erwartungshorizont, den die Autofiktion im Gegensatz zur reinen Fiktion nie voll erfüllen kann. Trotz ihres relativ geringen Interesses für das Erzählte und ihres offenbar fehlenden Einfühlungsvermögens beschwert sich Dominique doch, wenn die Erzählung unvollendet bleibt. Sie hätte gerne eine allwissende Erzählerin, die vollkommene Auskunft über alle in ihrer Erzählung vorkommenden Figuren geben könnte und zugleich die eigene Geschichte lückenlos in das größere Narrativ der Weltgeschichte einzubetten verstünde. Das wird an zwei Beispielen besonders deutlich. Das erste Beispiel ist ein Foto vom Vater mit dem GI, der ihm das Leben gerettet hat. Das Foto spielt eine sehr wichtige Rolle in der Erzählung, weil es das wichtigste Ereignis im Leben des Vaters symbolisiert. Es zeigt zwar nicht den Augenblick der Rettung, aber zeigt den Geretteten zusammen mit seinem Retter. Nebenbei kann man argumentieren, dass es auch die Befreiung Deutschlands symbolisiert. Dominique würde gerne viel mehr über den GI erfahren, aber mehr weiß die Erzählerin nicht, und mehr zu erzählen würde eine weitere Steigerung der ohnehin unvermeidlichen Fiktionalisierung des Stoffes verlangen. Diese wäre zwangsläufig mit einer Sinngebung verbunden, die der Erzählerin bzw. Autorin nicht zustünde. Das zweite Beispiel ist ein Ereignis aus der Kindheit der Mutter und somit bereits eine Erzählung aus zweiter Hand. Die Mutter hat als eine Art Gute-NachtGeschichte öfter ihren Töchtern erzählt, wie sie als Kind auf den Schultern ihres Vaters der Verkündung der Staatengründung Israels beigewohnt habe. Innerhalb dieses Narrativs verschiebt sich der Fokus vom historischen Ereignis auf die Puppe, die das Kind damals bei sich trug.
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Lustiger stößt sehr bald in ihrem Text auf das Grundproblem, dass das Erinnerungsgerüst immer wieder durch Spekulation unterstützt werden muss. Um einen sinnvollen narrativen Fluss zu gewährleisten, muss vom Anspruch auf die letzte Sicherheit, die zweifelsfreie Wahrheit Abstand genommen werden. So schreibt sie schon im ersten Kapitel: „Ach ich merke schon, zu viele ‚vielleicht‛“.²⁵ Dasselbe „vielleicht“ erscheint sogar im Titel von Katja Petroswkajas Vielleicht Esther. Doch bevor auf Petrowskajas halb Europa umspannenden Roman näher eingegangen wird, soll noch, gewissermaßen als Gegengewicht zu Lustiger, Barbara Honigmann vorgestellt werden.
Barbara Honigmann: Damals, dann und danach Barbara Honigmann gehört wie Gila Lustiger zur Generation der Nachgeborenen. Auch sie ist von Deutschland nach Frankreich gezogen, aber die Motivation ist anders. Während Lustiger auf ihre Herkunft, die für sie in der Kindheit schon immer präsent war, mit einer gewissen kritischen Distanz blickt, macht sich Honigmann geradezu auf die Suche nach ihrer eigenen in der Kindheit kaum wahrgenommenen jüdischen Herkunft. Für Honigmann bildet die Beschäftigung mit dem Judentum und seiner kulturellen Vielfalt, trotz ihres frühen Umgangs mit österreichischer, ungarischer und jüdischer Verwandtschaft, eine Art Entdeckungsreise zu einer über mehrere Generationen immer ferner gerückten Herkunft. Diese Herkunftssuche bildet einen fortlaufenden Prozess, der sich in ihrem ganzen schriftstellerischen Werk, in Novellen wie in biographischen und autobiographischen Texten niederschlägt. Als eine Art Zwischenbilanz des Projekts lässt sich der Band Damals, dann und danach (1999),²⁶ der im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht, betrachten. Die Kindheit in einem atheistischen Staat, der DDR, der den Antifaschismus als Grundwert lautstark propagierte, stellte eine eigenartige Herausforderung für das Projekt der Zuwendung zum Judentum dar. Die „Zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus, d. h. seine Aufarbeitung im Erinnerungsdiskurs, verlief in der DDR anders als im Westen. Die Verbrechen der Nazis wurden nicht totgeschwiegen, wie es lange Zeit in West-Deutschland und Österreich der Fall war, dafür wurden sie jedoch pauschalisiert, so dass auch dort eine breitere Auseinandersetzung mit dem Spezifikum des an die Juden verübten Genozids ausblieb. Die
G. Lustiger, So sind wir, S. 25. B. Honigmann, Damals, dann und danach, München 2015 [1999].
Barbara Honigmann: Damals, dann und danach
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offizielle Ideologie kannte keine Rassen, sondern nur Klassen, und duldete Religion allenfalls als Privatangelegenheit. So passte das Schicksal der Juden als Anomalie nicht so recht in das wissenschaftliche Geschichtsbild, dessen Aufgabe es war, eine sozialistische Teleologie zu rechtfertigen. Honigmanns Eltern waren als Kommunisten areligiös, obwohl zeitweilig Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Kennengelernt hatten sich die Eltern im Londoner Exil. Nach dem Krieg zogen sie nach Ost-Berlin und genossen als vom Faschismus doppelt (politisch und rassisch) Verfolgte ein privilegiertes und vom allgemeinen DDR-Alltag einigermaßen abgehobenes Dasein. Sie hatten sich für die russische Zone entschieden. Eine Art Überlaufen war das, von den Engländern zu den Russen. Sie lebten weiterhin nur unter Emigranten. Die Emigranten, das war der Adel, und der Adel verkehrte nur unter seinesgleichen.²⁷
Besonders glücklich scheint dieser Adel indes nicht gewesen zu sein, denn wie Honigmann in ihrem Buch über die Mutter Ein Kapitel aus meinem Leben ²⁸ ausführt: Sie waren als Juden fremd geworden und waren nun mehr oder weniger privilegiert, weil sie zur Parteielite gehörten oder wenigstens eine höhere Stufe in der Kulturhierarchie einnahmen. Ihre Privilegien, ihr Kosmopolitismus und ihr Status als überlebende Juden und als Kommunisten waren ihre Stigmata.²⁹
Zuhause wurde kaum vom Judentum oder von der Shoah gesprochen. Höchstens „davon“.³⁰ Honigmann erinnert sich, dass die Isolation der Remigranten sich auch darin zeigte, dass ihre Vergangenheitsnarrative völlig von den Erzählungen der Mehrheit, die den Krieg in Deutschland erlebt hatten, abwichen. Wo die anderen „von Krieg, von Schlesien, von Ostpreußen, vom Treck, von den Bombardierungen der deutschen Städte und den Gräueltaten der roten Armee erzählten, schwiegen sie.“³¹ Damit ist in erster Linie das Schweigen über die Shoah gemeint. Wenn dann doch etwas erzählt wurde, dann waren es Geschichten aus der Emigration.
B. Honigmann, Damals, S. 13. B. Honigmann, Ein Kapitel aus meinem Leben, München 2006 [2004]. Die Mutter war vor ihrer Ehe mit Barbaras Vater mit dem später spektakulär als britischer und sowjetischer Doppelagent entlarvten Kim Philby verheiratet gewesen, was sie später als ein „Kapitel“ bezeichnete. B. Honigmann, Ein Kapitel, S. 7 B. Honigmann, Damals, S. 48. Ebd.
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Bei ihren Nachforschungen über ihre Vorfahren väterlicherseits entdeckt Honigmann, dass die Familie sich seit Generationen in Richtung Assimilierung und Säkularisierung bewegt hatte. Schon der Urgroßvater hatte die jiddische Sprache zugunsten des Deutschen abgelegt und sich als Jurist und Mitglied der liberalen „Fortschrittspartei“ stark für die Emanzipation der Juden eingesetzt. Er schrieb Romane und Artikel für die assimilationsfreudige Zeitschrift Der Israelit, worin er auch für eine Modernisierung des Judentums eintrat. Der Großvater ging noch weiter in der Assimilation und trat ganz aus dem Judentum aus.³² So hatte bereits Barbara Honigmanns Großvater kaum einen lebendigen Bezug zum Judentum und ihr Vater erst recht nicht: Mein Vater hat das Judentum nicht mehr verlassen müssen, es war ihm sowieso schon ganz entrückt und entfremdet. Er hatte es vielleicht schon fast „vergessen“, und tatsächlich geglaubt, daß Deutschland seine Heimat und er selbst ein Deutscher sei. Dieser Glaube war ihm zerbrochen, als er aus der deutschen Heimat in fremde Länder flüchten und sich dort verstecken mußte, […]³³
Die Familiengeschichte der Honigmanns illustriert somit gerade in der Abfolge dieser drei Generationen exemplarisch die langwierige und, wie bereits von Joseph Roth konstatiert, letztendlich vergebliche Bemühung der Juden um Assimilierung und Verbürgerlichung seit der Aufklärung. Das Paradoxe des modernen, rassisch argumentierenden Antisemitismus ist, dass er gerade dann aufkommt, nachdem die Emanzipationspolitik in Österreich und Preußen die Voraussetzungen, für eine vollwertige Teilhabe jüdischer Bürger am öffentlichen Leben geschaffen hatte. Doch in dem Maße wie jüdische Bürger in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft an Sichtbarkeit gewannen, nahm auch der Antisemitismus zu. Der Aufstieg aus dem Schtetl ins Bürgertum hat das gängige Feindbild nur verstärkt. Barbara Honigmanns intensive Beschäftigung mit dem Judentum begann bereits in Ost-Berlin. Seit 1984 lebt sie aber in Straßburg, wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, wo es eine größere jüdische Gemeinde gibt. Dort konnte sie die kulturelle Vielfalt des heutigen Judentums kennen lernen. Die Bekanntschaft mit französischen Juden und sephardischen Juden aus Nordafrika hat Honigmanns Blick dafür erweitert, dass es auch andere jüdische Geschichten gibt, die vom Verhängnis des deutsch-jüdischen Verhältnisses nur
B. Honigmann, Damals, S. 40 – 43. B. Honigmann, Damals S. 43 f.
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am Rande berührt sind. Die Begegnung mit dem sephardischen Judentum wird im Roman Soharas Reise produktiv genutzt.³⁴ Im autobiographischen Werk Damals, dann und danach wird deutlich, wie gerade der neutrale Boden Frankreichs es Honigmann ermöglicht, verschiedene Komponenten ihrer eigenen Identität zueinander in Beziehung zu setzen. Einzelne Kapitel sind verschiedenen Rollen, als Freundin, Künstlerin und Mutter gewidmet. Zwei Kapitel tragen das Wort Selbstporträt in der Überschrift: „Selbstporträt als Mutter“, und „Selbstporträt als Jüdin“. Letzteres endet mit einem kulturellen Bekenntnis zu Deutschland: „Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache, kehre ich immer wieder zurück.“³⁵ Dieses Bekenntnis erweckt stark den Eindruck, als wollte sie den von ihren Vorfahren mitgetragenen und tragisch gescheiterten Assimilierungsprozess wieder aufnehmen, nunmehr allerdings ohne demütige Unterwerfung, sondern selbstbewusst und in vollem Stolz auf das jüdische Erbe. Und dieses Erbe ist übernational: Wie so viele Juden habe ich meine Herkunft aus fast allen Ländern Europas, und ich bin darauf manchmal ein bißchen stolz, obwohl es dafür gar keinen Grund gibt, denn die meisten dieser Herkünfte sind ja längst verlöscht. Sie ragen in der Erinnerung auf, wie Inseln im Meer des Exils. Wanderungen, Vertreibungen, Entdeckerlust oder einfach Geschäftsinteresse haben meine Vorfahren von einer dieser Inseln zur nächsten gebracht, und dort ist es ihnen gut oder schlecht ergangen, solange, bis die Zeit auch auf dieser Insel des Exils abgelaufen war. […] Einige dieser Inseln aber ragen noch deutlich in die Gegenwart oder wenigstens in eine sehr nahe Vergangenheit, in die Lebensgeschichte meiner Eltern und in mein eigenes Leben.³⁶
Um die Erkundung solcher „Inseln im Meer des Exils“ geht es auch im letzten der im vorliegenden Kapitel vorzustellenden Romane, Katja Petrowskajas Vielleicht Esther.
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther Vielleicht Esther, das die schlichte Gattungsbezeichnung „Geschichten“ trägt, ist in dem Sinne vorbildlich als es grenzüberschreitende Erinnerungsarbeit leistet. Die in Kiew geborene Autorin recherchiert das Schicksal einer bis nach Amerika und Israel verstreuten Verwandtschaft.
B. B. Honigmann, Soharas Reise, Berlin 1996. B. Honigmann, Damals, S.18. B. Honigmann, Damals, S. 89 f.
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IX Jüdische Geschichten
Katja Petrowskaja, Jahrgang 1970, ist zwei Jahrzehnte jünger als Barbara Honigmann. Mit den Geschichten ihrer weiten Verwandtschaft spannt sie einen breiteren Bogen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart und von Russland und der Ukraine über Polen bis Wien mit Ausläufern bis nach Israel und in die USA. Über diesen Zeitraum, der zwei Weltkriege und mehrere Revolutionen umfasst, sind manche Fakten verloren gegangen. Petrowskajas Quellen sind die Erzählungen der Eltern und Großeltern, Archivforschungen in Polen und Österreich und im Internet. Der Abstand der Zeugen zu den Ereignissen, sofern sie aufgetrieben werden, ist groß. Folglich sind einige Geschichten Legenden geworden, während andere nur mit großer Mühe aufgetrieben werden können. Somit steht das Buch in Assmanns Sinne an der Schwelle vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, wo zusätzlich zur Erinnerung produktives Erzählen erforderlich wird. Im ersten Kapitel werden einige der wichtigsten Vorfahren und Verwandten, um die es bei den einzelnen „Geschichten“ gehen wird, aufgezählt. Darunter gibt es einen Revolutionär, der zu Beginn des Jahrhunderts den Familienamen von Krzewin zu Petrowskij wechselte, den Attentäter Judas Stern, der einen deutschen Gesandten 1930 in Moskau erschoss, sowjetische Geheimdienstler, Wissenschaftler, mehr und weniger enthusiastische Sowjetbürger, die ihren Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisteten. Ganz am Anfang der Familiengeschichte stehen die Betreiber einer Reihe von Taubstummenschulen, die nach der Gründung in Wien allmählich immer weiter nach Osten gezogen und schließlich in Kiew gelandet sind. Bezeichnenderweise ist das älteste Dokument, das Petrowskaja aus der Anfangszeit dieser Schulen auftreiben konnte, eine russische Übersetzung aus dem Jiddischen. Dieses Detail, womit am Anfang der Verweis auf einen früheren Anfang gesetzt wird, verleiht der sich entfaltenden Familiengeschichte eine beinahe archaische epische Dimension. Der Gedanke an die Taubstummen motiviert sie zum Geschichtenerzählen, wobei sie gleichzeitig darauf achtet, dass sie Abstand hält zwischen sich und ihrer Geschichte: Aus meiner kosmopolitischen Gegenwart dachte ich, sie hätten den Taubstummen in allen Sprachen der Welt das Sprechen beigebracht, als wäre Taubstummheit, wie auch der Waisenstand, ein leeres Blatt – die Freiheit jede Sprache und jede Geschichte zu seiner eigenen zu machen. Unser Judentum blieb für mich taubstumm und die Taubstummheit jüdisch. Das war meine Geschichte, meine Herkunft, doch das war nicht ich.³⁷
K. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S. 51.
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Die Taubstummheit und das Jüdische bzw. das Jiddische gehören unlöslich zu ihrer Familiengeschichte, nicht aber zur eigenen Gegenwart. Ein Zweig der Familie ist in Polen geblieben und dort im Holocaust ermordet worden. Einigen ist die Auswanderung geglückt. Mehrere Verwandte sind in Kiew beim Massaker von Babij Jar im Jahre 1941 ums Leben gekommen, darunter eine Urgroßmutter, die „vielleicht“ Esther hieß. Sie ist es, die dem Buch den Titel gibt, womit auch die unsichere Faktengrundlage der einzelnen Geschichten deutlich hervorgehoben wird. Die Mängel und Lücken im staatlich verordneten Antifaschismus waren in der Sowjetunion ähnlich, wenn nicht gravierender als in der DDR. Alle waren Opfer des Faschismus gewesen. Die Sowjetunion hatte 20 Millionen Tote zu beklagen und zelebrierte bis zum bitteren Ende des Staatswesens seine gefallenen Helden. Noch zu Petrowskajas Schulzeit in den späten 70er und 80er Jahren waren die 20 Millionen Tote im kollektiven Bewusstsein allgegenwärtig: Wir durften ihre Namen selbst nachts nicht vergessen, sie waren ja viele Jahre vor unserer Geburt gestorben, doch damals hatten wir kein Damals, sondern nur ein Jetzt, in dem die Verluste des Krieges einen unerschöpflichen Vorrat unseres eigenen Glückes bilden sollten, […]³⁸
Die permanente Betonung des sowjetischen Heldennarrativs kam einer Art Enthistorisierung gleich, denn sie schloss jede denkbare Nuancierung aus. Dass von den Opfern des Faschismus viele in einer doppelten Rolle Opfer geworden waren, nicht nur als Bürger eines befeindeten Staates, sondern auch als Juden, Zigeuner oder Behinderte, gehört zu den Nuancen, die gerne unterbetont blieben, denn sie wirft unangenehme Fragen auf wie die, inwieweit der Antisemitismus in der SU hausgemacht war, und die nach der Kollaboration durch Einheimische. Überhaupt störte jeder Zweifel an der Einigkeit der Sowjetunion in den Kriegsjahren den offiziellen Heldendiskurs. Zu den Ereignissen, deren ehrliche Behandlung gerade solche Fragen hätte aufwerfen können, gehört gerade das Massaker von Babij Jar, bei dem schätzungsweise 100,000 Menschen, hauptsächlich Juden, am Stadtrand von Kiew ermordet wurden. Trotz der Zeugenschaft eines Großteils der in Kiew überlebenden Bevölkerung wurde das Ereignis jahrzehntelang verschwiegen. Das öffentliche Schweigen darüber brach erst Jewgenij Jewtuschenko im Jahre 1961 mit seinem Gedicht Babij Jar in Literaturnaja Gazeta, das als eines der wichtigsten Kulturereignisse des sogenannten Tauwetters unter Chruschtschow
K. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S. 22 f.
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gilt. 1967 folgte der dokumentarische Roman des Augenzeugen Anatolij Kuznetsow. Jewtuschenkos Gedicht beginnt mit der anklagenden Feststellung „Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal“³⁹ und wurde damit selbst zum Denkmal, das durch die Vertonung durch Dmitrij Schostakowitsch in dessen 13. Sinfonie noch verstärkt wurde. Es folgten international weitere literarische und künstlerische Behandlungen des Themas, während man sich an Ort und Stelle weiterhin schwertat, den Opfern zu gedenken. Auch das schließlich 1976 errichtete Denkmal im konventionellen sowjetischen Stil erfasst nur sehr bedingt die Bedeutung des Ereignisses. Petrowskajas Kapitel setzt mit dieser Fragestellung an und kann, als eigentliche Achse des Romans, selbst als ein weiteres und ehrlicheres Denkmal betrachtet werden. In Babij Jar oder auf dem Wege dahin sind auch Verwandte gestorben, darunter die Urgroßmutter, die vielleicht Esther hieß. Das Kapitel ist nüchtern geschrieben mit einem Gespür nicht nur für den Horror der Vorgänge, sondern auch für ihre Absurdität. Der Zugang ist angesichts des großen zeitlichen Abstands anders als im „Roman-Dokument“ des Augenzeugen Anatolij Kuznetsow von 1967. Petrowskaja berücksichtigt das Fehlen von Dokumentation und erbringt zugleich den Nachweis, dass die Aussagekraft der Literatur eben nicht von lückenloser Dokumentation abhängt. Wo die Dokumentation im Einzelfall fehlt, muss die literarische Phantasie aushelfen. So beschreibt der Roman, wie die kaum gehfähige Urgroßmutter pflichtbewusst und unendlich langsam, dem Befehl der Besatzungsmacht folgend, sich auf den Weg nach Babij Jar macht. Unterwegs fragt sie höflich in einem gebrochenen jiddisch angehauchten Deutsch einen deutschen Offizier nach dem Weg und wird erschossen. Diese tragikomische Einzelheit versinnbildlicht vielleicht mehr noch als die horrenden Opferzahlen das Ausmaß und die Sinnlosigkeit des Terrors.⁴⁰ Die Mischung von Recherche, Ausfabulieren und Reflexion, die das ganze Buch charakterisiert, kommt besonders produktiv in diesem Kapitel zum Vorschein und es überrascht nicht, dass die Autorin aufgrund ihrer Lesung dieses Kapitels in Klagenfurt 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Petrowskajas Erzähltechnik ist selbstbewusst und reflexiv. Mitberücksichtigt wird immer wieder das eigene Verhältnis zu den Erlebnissen und zu den Ergebnissen ihrer Recherche. Was sie erzählen kann und will, hat auch Grenzen. Die Übersetzung Paul Celan Gesammelte Werke V Übertragungen II, S. 281. K. Petrowskaja sinniert über die Unfassbarkeit der Zahlen im Kapitel über Mauthausen. (S. 268 f.). Dabei stößt sie auf die auch von Dan Diner konstatierte fehlende Narrativfähigkeit der Statistik.
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Grenze des menschlichen Auffassungsvermögens wird in ihrer Banalität aufgezeigt, wenn die Erzählerin von ihrem ersten Besuch in Polen berichtet. Sie sei damals, lange bevor sie mit ihren Recherchen begonnen hat, noch von Kiew aus und mit anderen Touristen nach Polen gefahren und habe die Gedenkstätte Oświȩcim besucht. Das Einzige, woran sie sich von dem Ausflug erinnere, sei der Besuch im Souvenirladen. An den Besuch der Gedenkstätte selbst und ihre Empfindungen dabei erinnere sie sich gar nicht. Zur Aussprache über das Unaussprechliche hat sie somit nichts beizutragen. Auf den späteren Besuch in Polen, bei dem sie zielbewusst Spuren ihrer Vorfahren aufsucht, ist sie besser vorbereitet. Allerdings ist sie sich einer bleibenden Distanz zwischen sich selbst und ihrem Stoff bewusst, einer Distanz, die nicht zuletzt auch sprachlich begründet ist. Je deutlicher das Schicksal der einzelnen Figuren Gestalt gewinnt, desto deutlicher fügt sich das Familienschicksal in die tragische europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Infolge der Umwälzungen, die Petrowskajas Verwandtschaft in vollem Umfang mitgemacht hat, ist auch eine babylonische Sprachverwirrung eingetreten. Petrowskajas Sprachen Russisch und Deutsch trennen die Autorin von der jiddischen und polnischen Sprachwirklichkeit, in der ihrer Vorfahren lebten. Ich fuhr als Russin aus Deutschland in das jüdische Warschau meiner Verwandten, nach Polen, nach Polscha, es schien mir als machten mich meine beiden Sprachen zu einer Vertreterin der Besatzungsmächte. Als Nachkommin der Kämpfer gegen die Stummheit war ich einsatzbereit, aber sprachlos, ich beherrschte keine der Sprachen meiner Vorfahren, kein Polnisch, kein Jiddisch, kein Hebräisch, keine Gebärdensprache, […] Polen war taub, ich war stumm.⁴¹
An anderer Stelle heißt es mit leichtem Staunen, „Ich dachte auf Russisch, suchte meine jüdischen Verwandten und schrieb auf Deutsch“.⁴² Das ist Ausdruck einer kulturellen Beweglichkeit, die vor nationalen und sprachlichen Grenzen nicht Halt macht. Die Äußerung gehört zu den vielen spielerischen Bemerkungen, die den Erzählfluss lockerhalten. Vor dem Hintergrund der recherchierten und retuschierten Familiengeschichten mag die Leichtigkeit und scheinbare Selbstverständlichkeit dieser Aussage überraschen. Immerhin ist die Eroberung von Sprache ein zentrales Motiv in dieser Familiengeschichte, die so lange und so stark von den Bemühungen der Ahnen um die Taubsubstummenpädagogik geprägt wurde. Die Entscheidung, anstatt in der Muttersprache auf Deutsch zu
K. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S. 101. K. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S. 115.
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schreiben, ist im Umfeld des heutigen multikulturellen deutschen Literaturbetriebs nicht überraschend, und der Enthusiasmus für die Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache ist im Text durchaus spürbar. Dennoch bietet die Vorstellung des mehrsprachigen Herangehens an den Stoff, das Denken auf Russisch und das Schreiben auf Deutsch Anlass zur Spekulation. Angesichts des Ausgangspunkts der Familie in der Taubstummenpädagogik ist es fast unvermeidlich, an die nahe etymologische Verwandtschaft der russischen Wörter für stumm und für deutsch zu denken, auch wenn es sich in diesem Zusammenhang nur um einen vielsagenden Zufall handelt. Wichtiger scheint mir eine Bemerkung der Autorin in einem Interview mit dem Deutschlandfunk nach der Verleihung des Ingeborg-Bachmannpreises zu sein, wonach ihr die deutsche Sprache eine gewisse Distanz zum Stoff verleiht und somit die drohende Festlegung auf einen Opferdiskurs vermeidet: Und irgendwann habe ich auch Funktionen der Sprache verstanden. Also wenn ich meine Geschichte auf Russisch schreibe, es ist klar, wo man eine Geschichte platziert, das ist irgendwelche Geschichte wieder aus diesem Raum, wieder zum Thema, sozusagen meine Opferrolle ist in russischer Sprache impliziert. Wenn ich aber dasselbe auf Deutsch schreibe, ist es nicht ganz klar, wer ich bin, und es ist eine gewisse Entfremdung. Also Deutsch, das ist eine gewisse Entfremdung für mich, es bedeutet automatisch, dass die Geschichte meiner Familie ist nicht nur meine Geschichte.⁴³
Deutsch ist einerseits die Sprache, mit der das Schicksal Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unausweichlich, wenn auch nicht im positiven Sinne, zusammenhängt. Es ist aber auch, im Falle der von Petrowskaja erzählten Geschichten, mit Ausnahme der wohl frei gedichteten Begegnung „vielleicht Esthers“ mit dem deutschen Offizier, der sie erschießt, nicht die Sprache, in der diese Geschichten abliefen. Das letzte Kapitel, Deduska (Opa) betitelt, handelt vom Besuch der Autorin in Mauthausen, wo ihr Großvater kurz vor Kriegsende als Kriegsgefangener in der Nebenstelle Gunskirchen inhaftiert war. Dabei war gerade dieser KZ-Überlebende, Ironie des Schicksals, kein Jude. Anders als der frühe Besuch der Gedenkstätte Oświȩcim, der bei der Erzählerin keinen Eindruck und keine Erinnerung hinterlassen haben soll, nimmt sie die Mauthausen-Nebenstelle Gunskirchen mit großer Aufmerksamkeit wahr und lässt dort ihrer Phantasie freien Lauf. In einer Art Traumsequenz steht sie an der
Interview mit Ulrike Timm (anlässlich der Verleihung des Bachmann-Preises) https://www. deutschlandfunkkultur.de/es-gibt-keine-grenze-zwischen-literaturen.954.de.html?dram:article_ id=252300 [abgerufen am 28.1. 2021]
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Schwelle zur Baracke, wo der Großvater sein sollte, und blickt hinein auf die Häftlinge. Den Großvater sieht sie aber nicht. Am Beispiel von Mauthausen sinnt die Erzählerin über den internationalen Charakter der KZs nach und stellt fest: „Dreißig Nationen waren hier vertreten […], hier kann ich mir das Europaparlament besser vorstellen als in Brüssel, wer im KZ war, darf auch in die EU.“⁴⁴ Die Einsicht in die historische Engführung des europäischen Krieges und der Shoah ist nach den im Buch erzählten Geschichten nahezu unvermeidlich. Eine scheinbar harmlose Anekdote aus der Kindheit, die am Anfang des Buches berichtet wird, gewinnt in diesem Licht ein besonderes Gewicht: Es handelt sich um eine mehrdeutige Abkürzung, die von der Großmutter in einem Rezept für das traditionelle regionale Getränk Kwass benutzt wird: Lange Zeit verstand ich nicht, was EBP.KBAC bedeutete, so stand es ganz oben auf dem Zettel, ich starrte auf dieses EBP, denn die kyrillische Abkürzung hätte genauso gut als Европейский, JEWropejskij, europäischer, wie als Еврейский, JEWrejskij, jüdischer Kwas verstanden werden können – eine unschuldige Utopie der russischen Sprache und das Urbi et Orbi meiner Tante, als ob Europa und die Juden aus einer Wurzel stammten und hier in diesem Rezept und in dieser Abkürzung die erfrischende Hypothese steckte, dass alle Juden, auch die, die gar keine Juden mehr waren, sich zu den letzten Europäern zählen dürfen, schließlich haben sie alles gelesen, was Europa ausmacht. Oder wollte meine Tante das Wort jüdisch nicht ausschreiben, weil so das Unvollständige und Abgekürzte noch eine andere Option des Lesens offenließ, zum Beispiel, dass dieser Trank doch nicht so ganz jüdisch sei, sondern nur andeutungsweise, nur ein bisschen, trotz des Knoblauchs.⁴⁵
Typisch für Petrowskajas Humor ist, dass die im ersten Satz ausgeführten hochfliegende Gedanken im zweiten Satz durch eine bescheidenere, wenn nicht weniger abwegige Lesart relativiert werden. Was aber das Verhältnis von Juden zu Europa betrifft, so dürfte der Gedankengang weniger auf das Kwass-Rezept der Großmutter, als auf das Buch insgesamt zutreffen. So kommt Petrowskaja am Ende ihres Buches zu demselben Schluss wie Menasse in Hauptstadt, dass der Holocaust und Europa zusammen gedacht werden müssen. Die Verschränkung des Schicksals des Kontinents mit dem der europäischen Juden bildet die Grundlage des heutigen Europas. So sind die im vorliegenden Kapitel behandelten jüdischen Geschichten im wahrsten Sinne auch europäische Geschichten.
K. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S. 268. K. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S. 31.
Schlussbetrachtung jenseits der Stummvölkerzone Paul Celan, Die Niemandsrose
Die Geschichten, die Katja Petrowskaja in ihrem Roman erzählt, sind europäische Geschichten. Das Netzwerk der von Ihr dargestellten Personen umspannt ganz Europa und etwas mehr. Es sind Geschichten von Stigmatisierung, Pogrom, Migration, Flucht und Verbannung, aber auch von Solidarität, Abenteuer und Unternehmungslust. Das sind auch Themen, die im vorliegenden Buch immer wieder vorkamen, weil sie das Schicksal Europas über die letzten hundert Jahre mitbestimmten. Die Geschichte der deutschsprachigen Literatur, betrachtet man sie von ihren Rändern her, ist keine nationale, sondern eine europäische Geschichte. Das ist sie nicht nur wegen der gemeinsamen Wurzeln aller europäischen Literaturen, sondern auch weil der Kontext ihrer Entstehung und die von ihr zu bearbeitende Thematik eine europäische ist. Sie ist auch keine nationale Geschichte, weil sie nie recht zu einer Nation passte und die Nation selbst in dieser Literatur immer wieder zum Problem wurde. Die modernen europäischen Literaturen sind alle aus derselben Tradition hervorgegangen und sind Kinder einer Familie, deren Wurzeln in der Antike und in der jüdisch-christlichen Tradition liegen. Sie haben sich unter weitgehend ähnlichen Umständen, aber keineswegs zeitgleich zwischen Renaissance und Romantik in ihren jeweiligen Landessprachen emanzipiert und reflektieren in ihrer weiteren Entwicklung die gesellschaftliche Entwicklung des jeweiligen Landes. Wegen der Lage des deutschen Sprachraums in der Mitte Europas und der ungleichen Entwicklung der Nationalstaatlichkeit zu beiden Seiten des Sprachraums und des Fehlens einer zentralen Metropole setzte die Entwicklung einer modernen deutschen Literatur relativ spät ein und ihr Verhältnis zur Nation blieb ambivalent. Die Absicht dieses Buches war es, die grundsätzliche Ambivalenz im Verhältnis von Literatur, Sprache und Nation aufzuzeigen und Spuren des trotz allen Brüchen und Wenden der Geschichte fortbestehenden Kosmopolitismus der deutschsprachigen Literatur freizulegen. Kosmopolitisch ist eine Literatur, wenn sie für fremde Einflüsse offen ist und von Akteuren unterschiedlichster Herkunft mitgestaltet wird. Im Falle der deutschen und der deutschsprachigen Literatur hat das Kosmopolitische über die letzten zwei Jahrhunderte oft größere Widerstände überwinden müssen, die mit der Problematik des nationalen Selbstverständnishttps://doi.org/10.1515/9783110706338-012
Schlussbetrachtung
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ses zu tun hatten. Die bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehende unscharfe Grenze des deutschen Sprachraums im Osten stellte faktisch potenziell optimale Bedingungen für die Entfaltung kultureller Vielfalt in der deutschen Sprache dar. Die Entwicklung der deutschen Hochsprache ging der Entwicklung der modernen Nation voraus und Deutsch war Kultur-, Verkehrs- und Wissenschaftssprache in weiten Teilen Mitte und Osteuropas – im Baltikum bis St. Petersburg wie an der Peripherie des Habsburger Reichs und bis ans Schwarze Meer. Politisch wurde das Potenzial kaum wahrgenommen. Erst nach dem Zerfall der Donaumonarchie wurde das Versäumte in unterschiedlich nostalgischer Form in der Literatur registriert. Damit setzte diese Studie an. In seinem sehr treffend betitelten langen Essay Die kurze Geschichte der deutschen Literatur setzt Heinz Schlaffer sein Augenmerk auf den Umstand, dass der starke Aufstieg der deutschen Literatur nach der Mitte des 18. Jahrhunderts aus den Kreisen des Protestantismus hervorging. Indem sie den protestantischen Geist im Zuge der Aufklärung säkularisierte, machte sie die literarische Kultur für Katholiken und die erst seit kurzem emanzipierten Juden zugänglich. Der Zugang zur sich schnell entwickelnden literarischen Kultur in deutscher Sprache ermöglichte, wie auch Stephan Braese meint, den Aufstieg der Juden aus dem Ghetto. Diese Entwicklung wurde konterkariert vom zunehmenden Antisemitismus der modernen Nationalbewegungen. Symptomatisch dafür war die Rivalität der Sprachen in Prag, wo Deutsch mit Tschechisch konkurrierte und jüdische Autoren zunehmend vonseiten deutscher und tschechischer Antisemiten bedrängt wurden. Diese Situation hat Franz Kafka zu seiner berühmten Bemerkung über die vier Unmöglichkeiten des Schreibens veranlasst. Das Scheitern der Demokratie in Deutschland und Österreich und der vollständige Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben zwang sehr viele Menschen in die Emigration und machte sie zu mehr oder weniger unfreiwillige Kosmopoliten. Für die Dauer des Dritten Reichs fand das literarische Leben zum größten Teil jenseits der Nation statt. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft entstanden zwei konkurrierende Vorstellungen von deutscher Kultur: eine im Inland, die sich nach völkischen Vorgaben richten musste, und eine sehr vielfältige in der Diaspora. Am Beispiel Thomas Manns zeigte sich die besondere Gratwanderung, die erforderlich war für eine öffentliche Figur, die nicht nur die eigene Identität in einer deutsch-amerikanischen Symbiose neu entdecken musste, sondern sich auch verpflichtet fühlte, sich seinen Leser- und Zuhörerschaften auf beiden Seiten des Atlantiks verständlich zu machen. Von einem solchen selbstauferlegten Repräsentationsanspruch waren die meisten Emigranten weniger belastet. Der Alltag selbst in der neuen Umgebung war problematisch genug. Hilde Spiel, die selbst nach dem Krieg zwischen Assimilierung und Rückkehr schwankte, zeigt im Roman Lisas
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Schlussbetrachtung
Zimmer die ganze Skala an Optionen zwischen Negation des Gastlands und voller Assimilation auf. Auf den Ausnahmezustand des Exils folgte mit der deutschen Teilung ein zweiter Ausnahmezustand, der das Verhältnis von Literatur und Nation empfindlich störte, da sich die Gemeinschaft der jungen Bundesrepublik als Nation nicht recht imaginieren ließ. Solange die Literatur der DDR unter anderen Produktionsbedingungen und mit eigenen Themen eine besondere Richtung nahm, konnte auch von einer Nationalliteratur nicht die Rede sein. Eine gewisse Provinzialisierung einerseits und die Suche nach einer europäischen Orientierung andererseits waren die Folge. Als Beispiel für die besondere Situation der jungen Bundesrepublik wurde hier Alfred Andersch präsentiert, der als Publizist die kulturelle Eingliederung in den westeuropäischen Kontext propagierte und in seinem Erzählwerk, insbesondere in Efraim, modellhaft exonationale Identitäten konstruierte. In einem buchstäblichen Sinne jenseits der Nation sind das Frühwerk Herta Müllers und die Romane Joseph Zoderers entstanden. Bei Müller geht es um die gesellschaftliche Isolation und Rückständigkeit einer langsam verschwindenden Sprachinsel. Weniger isoliert als die deutschen Sprachinseln im Banat ist die Situation Südtirols, und die Romane Joseph Zoderers, bei denen es um den privaten Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen geht, sind entsprechend optimistischer. Ebenfalls jenseits der Nation sind die meisten Werke Peter Handkes und das literarische Werk W. G. Sebalds entstanden. Der freiwillige Abstand wirkt sich sowohl thematisch auf die Werke als auch ihre Stellung im öffentlichen Diskurs aus. Die Empörung, die Handke mit seinen Stellungnahmen zu Jugoslawien auslöste, war international verbreitet und nicht Teil einer innerdeutschen Kontroverse. Dabei gab es in den 90er Jahren im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands auf nationaler Ebene eine besonders heftige Kontroverse. Die Debatte, bei der die vorangegangene Literatur in beiden deutschen Staaten als Gesinnungsliteratur verschrien wurde, war im größeren Zusammenhang betrachtet anachronistisch. Was die westdeutsche Literatur der Jahre betraf, so war das gesellschaftliche Engagement nicht erzwungen, sondern erfüllte einen gesellschaftlichen Auftrag, dessen Vernachlässigung in der Weimarer Republik sich als verhängnisvoll erwiesen hatte. Auch wenn ihre Darstellung als Gesinnungsliteratur ästhetisch gesehen nicht ganz danebengriff, war es ungerecht, daraus einen Vorwurf zu machen. Schließlich war schon die Literatur der Aufklärung weitgehend gesinnungsästhetisch ausgerichtet. Anachronistisch war die Debatte in zweierlei Hinsicht: Sie ignorierte die Tatsache, dass der Zusammenbruch des DDR-Regimes Teil einer viel größeren kontinentalen Umwälzung war, und sie unterschätzte den demographischen Wandel, der seit einigen Jahrzehnten
Schlussbetrachtung
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in Westdeutschland und Westeuropa überhaupt im Gange war. Nach dem Ende der deutschen Teilung wurde diese Debatte weitgehend im Sinne einer Renationalisierung des literarischen Feldes und in Verkennung der inzwischen erreichten Multikulturalität des Landes geführt. Als Deutschland nach vier Jahrzehnten de jure seine volle Souveränität zurückerlangte, war es schon lange nicht mehr so deutsch wie früher und Europa nicht mehr so europäisch. An diesem Tatbestand ging die Folge von Literaturstreiten in den neunziger Jahren weitgehend vorbei. Die Introspektion der Literaturkritik entspricht allerdings nicht ohne Weiteres der literarischen Produktion. Ein „Wenderoman“, der diese Realität erfasst, ist Yadé Karas Selam Berlin. Die letzten Kapitel dieser Studie beschäftigen sich mit der kulturellen Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die in zunehmendem Maße eine „exonationale“ Literatur zu werden beginnt. Sie reflektiert eine neue postnationale Mobilität, bei der die Überschreitung von Grenzen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Nun gehörte die Mobilität zu den gemeinsamen Nennern bei allen Autoren in diesem Buch, aber sie war nicht immer freiwillig. Und auch wo sie freiwillig war, gehörte eine gewisse Grübelei über das Verhältnis zwischen alter und neuer Heimat und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile zum Themenvorrat ihrer Werke. Die Frage, die in unterschiedlicher Form immer wieder auftritt, lautet im Titel des zweiten Teils von Hilde Spiels: Welche Welt ist meine Welt? Joseph Roth fand auf die Frage eine utopische Antwort und verlegte schließlich die Welt seiner Werke in die Vergangenheit des Schtetls und der Habsburger Monarchie. Jean Améry fand gar keine Antwort darauf, während W. G. Sebald die Frage auf das Personal seiner Bücher übertrug. Sogar Yadé Karas Protagonist Hasan stellt sich im Wendejahr 1990 noch die Heimatfrage, wobei die Identitätsbestandteile, deutsch vs. türkisch, Ossie vs. Wessie, in einem recht konventionellen Rahmen bleiben. Dagegen werden die nationalen Identitätskriterien von Terezia Mora und Yoko Tawada gründlich dekonstruiert. Moras Nema ist in allem eine grundsätzlich unverbindliche Gestalt. Er hat keinen Pass, weil keines der Nachfolgestaaten seines Geburtslands meint, für ihn zuständig zu sein, und so fühlt er sich selbst keinem verpflichtet. Tawadas Protagonisten in Das nackte Auge bewegt sich traumhaft zwischen Vietnam, Deutschland und Frankreich und ist doch eigentlich nur im Kino zuhause. Dass in diesen zuletzt genannten Werken eine Literatur auf Deutsch entsteht, die nicht ethnisch gebunden ist, stellt eine heilsame Erweiterung dar. Ganz wichtig bei dieser Erweiterung ist auch der jüdische Anteil, denn damit wird an eine universal-humanistische Tradition angeknüpft, die vor einem knappen Jahrhundert abrupt gestört wurde. Die unentbehrliche Rolle jüdischer Intellektueller bei der Pflege der deutschen Sprachkultur hebt Heinz Schlaffer besonders hervor:
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Versteht man unter deutsch nicht eine ethnische Spezies, sondern eine kulturelle Prägung, so dürfen die emanzipierten Juden als die ernsthafteren Deutschen gelten. Mit ihrer Vertreibung und Vernichtung hat daher folgerichtig die deutsche Literatur ihren Rang eingebüßt und ihren Charakter verloren.¹
Die Juden hielten noch am universalistischen Gehalt des klassischen Bildungsbegriffs fest als dieser bereits von nationalistischen deutschen Pädagogen verfälscht wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Empörung Jean Amérys zu verstehen, als er die Kultur von SS-Schergen usurpiert sah. Vom starken jüdischen Engagement bei der Tradierung und Verteidigen der Bildungstradition zeugt auch der Werdegang Paul Celans, und es fällt auf, wie diese Tradition gerade an den Rändern des Sprachraums, von der Emigration ganz zu schweigen, gepflegt wurde. Damit erklärt sich auch die Hartnäckigkeit, mit der Celan an der deutschen Sprache als Ausdrucksmittel für sein verzweifeltes poetisches Gegenwort festhielt. Das konnte er allerdings nur, indem er sich außerhalb des Sprachraums aufhielt, denn Deutschland und Österreich waren in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch sehr homogen und sehr mit sich selbst beschäftigt, während seiner Dichtung das Nationale grundsätzlich fernliegt. Deswegen wird sie auch trotz ihrer Schwierigkeit so oft übersetzt. Die Geschichten des letzten Kapitels, bei denen jüdische Identität und das Gedenken der Shoah in der heutigen Welt im Mittelpunkt stehen, nehmen weitgehend einen übernationalen Standpunkt ein, der nicht allein auf Deutschland bzw. Österreich fokussiert bleibt. War das Dilemma für Emigranten der Zusammenbruch des Staates bzw. auch der Ausschluss aus der Nation, so ist die Frage der nationalen Zugehörigkeit in der Nachkriegsliteratur schon weniger dringlich und zum Schluss scheint sie kaum mehr als eine Nebenrolle zu spielen. Diese Literatur ist eine deutsche Literatur, insofern als die Werke meistens auf Deutsch geschrieben und in den deutschsprachigen Ländern zunächst erscheinen und somit im deutschen Literaturbetrieb verankert sind. Sie ist aber thematisch und von ihren vielen Ursprüngen her eine für das heutige Europa nicht untypische exonationale Literatur. Die „Europäizität“ der deutschen Sprache, von der Stephan Braese in Zusammenhang mit der Emanzipation der Juden im späten achtzehnten Jahrhundert spricht, ihr grenzüberschreitender Gebrauch als Verkehrs- und Kultursprache, hat die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht überlebt. Dafür ist aber etwas von demselben kosmopolitischen Geist in der kulturellen Pluralität der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wieder entstanden.
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Index Adorno, Theodor W. 65 f., 73, 83, 116, 132 Al Shahmani, Usama 213 Ali, Monica 214 Améry, Jean 3, 31, 52 – 60, 101, 116 – 118, 172 – 174, 184, 187, 231, 251 Andersch, Alfred 31, 96, 99 – 111, 113, 115 – 121, 145, 177, 250 Anderson, Benedict 10, 30 Apollinaire, Guillaume 131 Arndt, Ernst Moritz 24 Arp, Jean (Hans) 131 Astaire, Fred 185 Auerbach, Frank 180 Ausländer, Rose 158 f. Bachmann, Ingeborg 91, 139, 244, 246 Bamm, Peter 110 Becher, Johannes R. 94 Becket, Samuel 15 Benn, Gottfried 95, 129 Bernhard, Thomas 159, 197 Bhabha, Homi K. 61 f., 80, 216 Bhatti, Anil 13 Biller, Maxim 229 Blöcker, Günter 137, 146 Bobrowski, Johannes 1 f., 91, 138 Bodrožić, Marica 208, 212, 217 Böll, Annemarie 128 Böll, Heinrich 83, 91, 114, 119, 123 – 128, 144, 149 Boorstin, Daniel 64 Bourdieu, Pierre 14 Bowie, David 223 Braese, Stephan 26 f., 77, 249, 252 Brandt, Willy 143, 149 Brecht, Bertolt 40, 61, 65, 91, 129, 147 Bredel, Willi 102 Broch, Hermann 33, 195 Brod, Max 27 Bronsen, David 47 Browne, Thomas 188, 190 Büchner, Georg 138 Burckhardt, Jacob 122 https://doi.org/10.1515/9783110706338-014
Camus, Albert 103 Canetti, Elias 33 Carossa, Hans 95 Casanova, Pascale 14 – 16, 34, 44, 147, 149 Ceaușescu, Nicolae 158 – 160 Celan, Paul 3, 27, 49, 91, 129, 131 f., 134 – 143, 149, 153, 158 f., 221, 244, 252 Césaire, Aimé 131 Cézanne, Paul 195 Chalfen, Israel 49, 133, 135 Conrad, Joseph 29, 112, 189, 211 Coudenhove-Kalergi, Richard 34 f., 43, 75, 98 Culler, Jonathan 30 Curtius, Ernst Robert 57 Dante Alighieri 208 de Beauvoir, Simone 103 de Coster, Charles 147 de Mendelssohn, Peter 75 – 78, 95, 178 de Rougement, Denis 98 de Rougemont, Denis 98 de Rousset, David 99 Delanty, Gerard 17, 36, 81 Deneuve, Catherine 222 f. Diner, Dan 227 f., 244 Dirks, Walter 96, 100 Döblin, Alfred 172 Dor, Milo 135 Döring, Jörg 107 f. Dürrenmatt, Friedrich 91 Eagleton, Terry 12 Eisler, Hanns 65 Eke, Norbert 160 Eliot T[homas] S[tearns] 131 Emcke, Carolin 6, 56 Enzensberger, Hans Magnus 18, 22, 105, 129 – 132, 136, 139, 146 Feuchtwanger 65 Fohrmann, Jürgen 12 Ford, John 194
Index
Forst de Battaglia, Otto 48 Franzos, Karl Emil 133 Freud, Sigmund 29, 46, 60 Fried, Erich 91 Friedrich, Hugo 130 Frisch, Max 91, 114, 119 Gauß, Karl-Magnus 155 f. Geißler, Christian 144 Gellner, Ernest 8, 12 f., 197 Gergen, Kenneth 6 Goebbels, Joseph 17 Goethe, Johann Wolfgang v. 72, 122, 149 Graf, Oskar Maria 102 Graf Kessler, Harry 33 Grass, Günter 3 f., 91, 112, 114, 142 – 146, 148 f., 177 f. Grimm, Jacob 11 f., 27 Grüning, Hans-Georg 166 Gürster, Eugen 66 Habermas, Jürgen 6, 10 Hafner, Fabjan 193 Hahn, Ulla 174 Handke, Peter 31, 171, 173, 191 – 197, 199 – 201, 203 – 206, 250 Hardt, Michael 9, 18 Heidelberger-Leonard, Irene 53, 174 Heine, Heinrich 26, 139 f., 208 Henisch, Peter 231 Herder, Johann Gottfried 23 Herwig, Malte 191 Hesse, Hermann 34, 36 Hildesheimer, Wolfgang 177 Hitler, Adolf 46, 165 Höllerer, Walter 76 Holthusen, Hans Egon 136 Honigmann, Barbara 229, 238 – 242 Horckheimer, Max 65 Horváth, Ödön v. 40, 42 f., 53 Jelinek, Elfriede 159, 197 Jewtuschenko, Jewgenij 243 Joch, Markus 107 f. Johnston, William M. 25 Jost, Herbert 120
Joyce, James Jünger, Ernst
265
15, 128, 144 95, 101
Kafka, Franz 27 f., 147, 249 Kaminer, Wladimir 214 Kara, Yadé 215, 217, 224, 251 Kasack, Hermann 178 Kaser, N.C. 166 f. Keller, Thomas 31 Keyserling, Hermann 34 – 36 Khider, Abbas 211, 213 Kirst, Hans Hellmut 110 Klüger, Ruth (auch Angress) 112, 115 f., 176, 186 Koeppen, Wolfgang 121 – 125, 128 Koestler, Arthur 103 Kofler, Gerhard 166 Kogon, Eugen 97 Kokoschka, Oskar 60 Kristeva, Julia 124 Kureishi, Hanif 208, 216, 224 Kuzmics, Helmut 29 f. Kuznetsow, Anatolij 244 Lasker-Schüler, Else 129 Leggewie, Claus 227 Lenz, J. M. R. 138 Lenz, Siegfried 119 Lepenies, Wolf 37, 57, 71 Lermontow, Michail 135 Lönnrot, Elias 12 Lorenz, Dagmar 85, 88 f. Lustiger, Arno 235 Lustiger, Gila 229, 234, 236, 238 Lützeler, Paul Michael 36, 76 Magris, Claudio 45 f., 49, 133 Malraux, André 103 Mandelštam, Osip 138 f. Mann, Erika 68 Mann, Heinrich 63, 68 Mann, Klaus 62, 68, 73, 95 Mann, Thomas 6, 31, 34, 36 – 38, 57, 66, 68 – 73, 92, 95, 101, 147 f., 210 Margul-Sperber, Alfred 135 Mauthner, Fritz 27 Mayer, Hans 124
266
Index
McCarthy, Joseph 65, 73, 82 McCormick, John 70, 92 Mead, George Herbert 6 Menasse, Robert 22, 225 f., 230, 247 Mendelssohn, Moses 26 Meyer, Agnes 69, 73 Mitscherlich, A. und M. 177 Mora, Terézia 208, 217 f., 251 Moretti, Franco 11 Morin, Edgar 18 Mozetič, Gerald 29 f. Müller, Herta 155 – 165, 167, 169 f., 210, 250 Münster, Clemens 97 Musil, Robert 44, 47, 49 Mussolini, Benito 165, 167 Nabokov, Vladimir 182 f., 211 Nadj Abonji, Melinda 208 Negri, Antonio 9 Nossack, Hans Erich 99, 178 Öhlschläger, Claudia 179, 186 Orbán, Viktor 225 Ovidius Naso 208 Özdamar, Emine Sevgi 210, 213 Pabisch, Peter 78, 87, 89 Pastior, Oskar 164 Petrowskaja, Katja 225 f., 229, 241 f., 244, 246 – 248 Platen, Edgar 122, 155 Plievier, Theodor 102 Polanski, Roman 222 Prokop, Ulrike 5 Rabelais, François 147 Rabinovici, Doron 230 Reich-Ranicki, Marcel 108, 110, 117 Reichel, Peter 228 Reinhardt, Stephan 107 Renan, Ernest 1, 9, 20 Richter, Hans Werner 99 f., 107, 136 Ricoeur, Paul 6 Rilke, Rainer Maria 129 Rizal, José 30 Rohan, Karl Anton 34 Roth, Gerhard 175
Roth, Joseph 27, 30, 33, 44, 46 – 53, 55, 57, 110, 135, 172, 177, 209, 240, 251 Runge, Erika 178 Rushdie, Salman 208, 211 Sachs, Nelly 91, 129, 139 SAID 211 Said, Edward 29, 133 Sartre, Jean-Paul 98 f., 103 f., 124, 178 Schami, Rafik 213 Schiller, Friedrich 13 Schindel, Robert 229 – 231, 233 Schlick, Moritz 75 Schlöndorff, Volker 144 Schmidt-Dengler, Wendelin 49 Schönberg, Arnold 65 Schostakowitsch, Dmitrij 244 Schumann, Willy 148 Sebald, W.G. 31, 58, 106, 108, 112, 160, 171 – 179, 183 f., 186 f., 189 – 191, 197, 250 f. Seghers, Anna 62, 94, 102, 213 Senghor, Leopold Sédar 129 Shakespeare, William 139 Shaw, Bernard 15 Shmueli, Ilana 141 f. Sieburg, Friedrich 119 Silone, Ignazio 103 Söllner, Werner 151 Solschenizyn, Alexander 210 Sontag, Susan 179 Sontheimer, Kurt 37, 42, 72 Spector, Scott 27 Spender, Stephen 103 Speth, Rudolf 19 Spiel, Hilde 31, 63, 74 – 78, 82, 85, 89, 107, 110, 123, 159, 214, 225, 228, 249 Stalin, Joseph 156 Stanišić, Saša 208, 213 Steiner, George 76 f., 220 Stephan, Alexander 26, 65, 67, 94, 249, 252 Sternheim, Carl 172 Straub, Jürgen 4, 153 f. Strauß, Botho 226 Strickhausen, Waltraut 74 – 77, 80
Index
Strindberg, August 15 Swift, Jonathan 120, 128 Tawada, Yoko 212, 217, 220 f., 251 Taylor, Charles 5, 154, 167 Thelen, Alois Vigoleis 148 Thieß, Frank 72 Timm, Uwe 174 Todorow, Almut 121 Tönnies, Ferdinand 2 Trakl, Georg 129 Treichel, Hans-Ulrich 174 Trojanow, Ilija 211, 213, 217 Trommler, Frank 94 Truffaut, François 224
Wagner, Richard (Komponist) 26 Wakounig, Vladimir 154 Waldheim, Kurt 230 Wallraff, Günter 178 Walser, Martin 119, 226 Wander, Maxie 178 Wargnier, Régis 223 Webern, Anton 60 Weiss, Peter 54 Werfel, Franz 45 Wieviorka, Michel 7, 21, 154 Wilson, Woodrow 44, 165 Wodak, Ruth 10 f. Wolff, Kurt 144 Yeats, William Butler
Verlaine, Paul 139 Villon, François 139 von Molo, Walter 71 von Trier, Lars 224 Voßkamp, Wilhelm 12 Wagner, Richard (Dichter)
267
128
Zoderer, Joseph 156, 164 – 167, 170, 250 Zweig, Stefan 33, 44 – 46, 57, 135, 147, 229, 243 Zwetajewa, Marina 139 158