203 38 8MB
German Pages 233 [236] Year 1995
Reihe Germanistische Linguistik
158
Herausgegeben von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand
Arne Wrobel
Schreiben als Handlung Überlegungen und Untersuchungen zur Theorie der Textproduktion
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Für Petra
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wrobel, Arne: Schreiben als Handlung : Überlegungen und Untersuchungen zur Theorie der Textproduktion / Arne Wrobel. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Reihe Germanistische Linguistik ; 158) NE: GT ISBN 3-484-31158-4
ISSN 0344-6778
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren
Inhaltsverzeichnis Vorwort
IX
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
XI
1.
Einleitung. Das Problem und sein Umfeld
1
1.1.
Die Kapitel im Überblick - Hinweis für den Leser
7
2.
Modelle der Textproduktion
8
2.1.
Modelle der Sprachproduktion
8
2.2. 2.2.1. 2.2.2.
2.2.4.
Modelle des Schreibens Schreiben als kognitives Verarbeiten - Hayes & Flower Schreiben als stufenweises, paralleles Verarbeiten Das parallel-stage Modell (de Beaugrande) Schreiben als Integration von Fähigkeiten. Das entwicklungspsychologische Modell (Bereiter) Schreiben als soziale Interaktion (Nystrand)
16 18
3.
Schreiben als Handlung - Der Rahmen der Untersuchung
21
3.1.
Textproduktives Handeln: Einige Grundbegriffe
24
3.2.
Theoretische und methodische Argumente für eine handlungsfundierte Theorie des Schreibens
29
3.3. 3.3.1.
Probleme und Prinzipien der empirischen Analyse Das Untersuchungsmaterial: Erhebung und Aufbereitung
34 38
4.
Realzeitverläufe beim Schreiben
41
4.1.
Temporale Aspekte des Sprechens
41
4.2.
Temporale Aspekte des Schreibens - Ein Forschungsüberblick
43
Der Realzeitverlauf beim Schreiben von Wegbeschreibungen, Zusammenfassungen, Geschäftsbriefen und persönlichen Briefen Korpus und Untersuchungsmethoden
49 50
2.2.3.
4.3. 4.3.1.
11 11 14
VI 4.3.2. 4.3.2.1. 4.3.2.2.
Ergebnisse Schreibgeschwindigkeit,-flüssigkeit und-quotient Der Einfluß deskriptiver und argumentativer Textsegmente auf Schreibgeschwindigkeit, -flüssigkeit und -quotient Pausenpositionen und Pausenlängen Der Einfluß des lauten Denkens auf den Realzeitverlauf Aufmerksamkeitsorientierungen in Pausen - Am Beispiel von Zusammenfassungen Typen der Aufmerksamkeitsorientierung Einfache und komplexe Pausen - Zur zeitlichen Struktur von Aufmerksamkeitsorientierungen im Schreibprozeß Komplexe Wortpausen: Frühstarts, Revisionen und Rahmen-Deskriptor-Wechsel
53 53
4.4.
Zusammenfassung
79
5.
Der Formulierungsprozeß
82
5.1.
Grundlagen einer Theorie des Formulierens - G. Antos
82
4.3.2.3. 4.3.2.4. 4.3.3. 4.3.3.1. 4.3.3.2. 4.3.3.3.
5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.2.1.
Revidieren - Ein Sonderfall des Formulierens Revidieren als Retranskription - Die traditionelle Sicht Textrevisionen im Schreibprozeß Theoretische und methodische Grundlagen einer prozeßorienüerten Analyse 5.2.2.2. Ergebnisse 5.2.2.2.1. Häufigkeiten von Revisionen 5.2.2.2.2. Zeitliche Anteile von Revisionen 5.2.2.3. Die Funktion von Textrevisionen im Formulierungsprozeß 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.2.1. 5.3.2.2. 5.3.3. 5.3.3.1.
57 59 63 66 68 70 73
87 88 92 93 97 97 98 100
Formulieren Revidieren und Textplanung - Ein erweitertes Modell Revidieren und die Formulierung von Prätexten Die Struktur von Prätexten Vorformulierungen als Prätexte Faktoren des Formulierungsprozesses Die Inkongruenz von Intentionen und Prätexten Konzeptuelle Revisionen Formulierungsbedingte Revisionen - Formulierungskontextualisierung Formulierungskotextualisierung - Zur Funktion des Nachlesens im Formulierungsprozeß
101 101 104 104 106 107
5.4.
Zusammenfassung - Ein Modell des Formulierens
123
6.
Makroplanung im Schreibprozeß
127
5.3.3.2. 5.3.3.3.
107 112 116
VII 6.1.
Planung als Voraussetzung des Formulierungsprozesses
127
6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.3.
Wissen und Schreiben Konzepte der Wissensrepräsentation Prinzipien der Suche und der Organisation von Wissen Fokus und Hintergrund - Makroplanung und Formulierungsprozesse Schreiben und die Erweiterung kognitiver Möglichkeiten
128 129 136
149 149 150 151 156 160
6.3.2.1. 6.3.2.2. 6.3.2.3. 6.3.2.4. 6.3.3.
Makroplanung beim Verfassen verschiedener Textarten Exothetisierte Planung: Zusammenfassungen Zur Funktion von "Zusammenfassungen" Produktionsphasen Zur Funktion von Unterstreichungen und Randnotizen Zur Funktion von Stichworten Globale Strategien: Datengeleitetes und schemageleitetes Zusammenfassen Makroplanung im Formulierungsprozeß: Wegbeschreibungen, Beschwerdebriefe und Reisebeschreibungen Zur Form von Reflexionen Reflexionen und konzeptuelle Planung Konzepte von Beschreibungen Konzepte von Geschäftsbriefen Makroplanung und die Struktur des Produktionsprozesses
6.4.
Zusammenfassung
195
7.
Schlußbemerkungen - Allgemeine Ergebnisse und einige Perspektiven der Schreibforschung
197
Literatur
201
6.2.4. 6.3. 6.3.1. 6.3.1.1. 6.3.1.2. 6.3.1.3. 6.3.1.4. 6.3.1.5. 6.3.2.
141 144
164 168 168 171 175 180 186
Vorwort
Vorworte sind für den Verfasser Nachworte: die Gelegenheit also, jenen nachträglich zu danken, die den Beginn dieser Arbeit ermöglicht und sie in den drei Jahren ihrer Entstehung gefördert haben. Mein besonderer Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Habilitationsstipendiums und dem Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Marburg für seine Kooperationsbereitschaft. Für ihre hilfreichen Anregungen und ihre Unterstützung danke ich Daniel O'Connell und der Loyola University Chicago, den vielen Kollegen vom Center for the Study of Writing der Universität Berkeley sowie Ann Matsuhashi und Martin Nystrand; für ihre Hilfe bei den Korrekturen Ulrike Wittmann, für die Schlußredaktion und die Vorbereitung des Textes für den Druck Christiane Schönfeldt. Schließlich seien die erwähnt, denen ich mehr als Dank abzustatten habe: Gisbert Keseling und Conny Rau, weil diese Arbeit in der Diskussion mit ihnen entstanden ist, und meiner Frau Petra und Piet, weil sie am meisten zu leiden hatten.
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abb. 2.1.
Das Sprachproduküonsmodell von Levelt
Abb. 2.2.
Das Sprachproduküonsmodell von Herrmann
10
Abb .2.3.
Das kognitive Modell des Schreibens (Hayes/Flower)
12
Die Übersetzungskomponente des kognitiven Modells (Hayes/Flower)
13
Das Modell des parallelen, stufenweisen Verarbeitens (de Beaugrande)
15
Das entwicklungspsychologische Schreibmodell (Bereiter)
17
Abb. 2.4. Abb. 2.5. Abb. 2.6.
Abb. 3.1.
9
Die sozial-kommunikative Funktion und Einbettung des Schreibprozesses
28
Abb. 3.2.
Stadien und Ebenen des Schreibhandlungsprozesses
33
Tab. 3.3.
Gesamtzahl, Texartspezifik und Erhebungsmethoden der dokumentierten Schreibprozesse
40
Tab. 4.1.
Anzahl der in die statistische Analyse eingegangenen Versuchspersonen, Wörter und Pausen
51
Technische Schreibgeschwindigkeit und reale Schreibgeschwindigkeit bei Geschäftsbriefen, persönl. Briefen, Zusammenfassungen und Wegbeschreibungen
54
Verhältnis von Schreibzeit und Gesamtproduktionszeit in %
55
Abb. 4.4
Einwirkung der Textart auf die Schreibflüssigkeit
56
Tab. 4.5.
Technische und reale Schreibgeschwindigkeit, Schreibflüssigkeit und Schreibquotient in einzelnen Textsegmenten der Textart Geschäftsbrief
58
Relative Häufigkeiten nicht-syntaktischer Pausen und ihre Zeitanteile in den einzelnen Textarten
59
Einwirkung der Textart auf die mittleren Pausenlängen
61
Tab. 4.2.
Abb. 4.3
Abb. 4.6. Abb. 4.7.
XII Abb. 4.8.
Einwirkung der Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen
61
Einwirkung von Textart und Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen
62
Einwirkungen der Variablen LD (mit lautem Denken) vs. OLD (ohne lautes Denken) auf die technische und reale Schreibgeschwindigkeit, Schreibflüssigkeit und den Schreibquotienten
64
Einwirkung der Erhebungsmethode und der Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen
64
Einwirkung der Erhebungsmethode, der Textart und der Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen
65
Klassifikationsschema der Aufmerksamkeitsorientierungen in Satzpausen
68
Zeitlicher Anteil von Aufmerksamkeitsorientierungen einzelnen Pausenpositionen
72
Abb. 5.1.
Revisionstypen (Faigley/Witte)
90
Abb. 5.2.
Schema einer prozeßorientierten Analyse von Revisionen (Matsuhashi)
94
Tab. 5.3.
Das Korpus der Analyse von Textrevisionen
95
Tab. 5.4.
Revisonsfaktor, durchschnittliche Pausenlängen und relativer Anteil von Revisionspausen in Wegbeschreibungen und Geschäftsbriefen
97
Relative und absolute Häufigkeiten von Revisionspositionen
97
Relative und absolute Häufigkeiten von Revisionshandlungen
98
Relative und absolute Häufigkeiten von Revisionsinhalten
98
Durchschnittliche Länge von Revisionspausen nach Revisionspositionen in Sekunden
99
Durchschnittliche Länge von Textrevisionen nach Revisionshandlungen in Sekunden
99
Tab. 4.9. Tab. 4.10
Abb. 4.11. Abb. 4.12. Abb. 4.13. Abb. 4.14.
Tab. 5.5. Tab. 5.6. Tab. 5.7. Tab. 5.8. Tab. 5.9. Tab. 5.10.
Durchschnittliche Länge von Textrevisionen nach Revisionsinhalten in Sekunden
99
Abb. 5.11.
Das kognitive Modell des Revidierens (Hayes/Flower) .... 102
Abb. 5.12.
Faktoren des Formulierungsprozesses
125
XIII Abb. 6.1. Abb. 6.2.
Produktionsphasen bei der Produktion von Zusammenfassungen
154
Unterstreichungen und Randnotizen ( nach Keseling 1984)
156
Abb. 6.3.
Relationen von Randnotizen und Unterstreichungen
159
Abb. 6.4.
Beispiel einer Illokutionshierarchie
172
Abb. 6.5.
Konzeptorganisation bei Weg-und Reisebeschreibungen ... 180
Abb. 6.6. Abb. 6.7.
Schema einer Beschwerde Lineare Konzeptorganisation bei Weg- und Reisebeschreibungen
182
Abb. 6.8.
Konzeptreorganisation bei Geschäftsbriefen
185
Abb. 6.9.
Wegskizze Bahnhof - Friedrichsplatz
189
Abb. 6.10.
Konzeptuelle Planung und Realzeitverlauf
193
185
1. Einleitung. Das Problem und sein Umfeld
Schreiben ist eine komplexe Handlung. Sie ist vielgestaltiger und disparater, als ihre Produkte - die Texte - es erscheinen lassen. Denn Texte zeichnen sich dadurch aus, daß die Spuren ihrer Entstehung an ihnen getilgt sind. Ihr sozialer Sinn besteht gerade darin, sie der allgemeinen Rezeption und Überlieferung zugänglich zu machen - und zwar unabhängig von den konkreten Bedingungen und Formen ihrer Entstehungssituation. Schreiben ist das Thema dieser Arbeit. Ihr Interesse gilt mithin Phänomenen, die beim Lesen von Texten normalerweise nicht interessieren und vielfach nur gering geschätzt werden: den Prozessen ihrer Produktion; dem, was oftmals nur als nachträglicher und technischer Vorgang der Übersetzung gedanklicher Gehalte in geschriebene Formen gilt. Das Interesse für die Produktion von Texten ist, zumal, wenn es in sprachwissenschaftlicher Perspektive angemeldet wird, erklärungsbedürftig. Es richtet sich auf Problemstellungen, die bis vor kurzem noch in doppelter Weise aus dem Blickfeld der Linguistik ausgeblendet waren. Die moderne Linguistik hat sich als eigenständige Disziplin durch die Hypostasierung eines abstrakten, von den konkreten Bedingungen seines Gebrauchs unabhängigen Sprachsystems allererst konstituiert. Sie hat sich zugleich von ihren philologischen Vorläuferund Nachbardisziplinen emanzipiert, indem sie die Beschreibung der Struktureigenschaften der gesprochenen Sprache zu ihrem genuinen Gegenstand machte. Zumindest die Klassiker der modernen Sprachwissenschaft, de Saussure und Bloomfield, waren sich, trotz aller Unterschiede vor allem der Differenziertheit ihrer Begründungen, in einem einig: daß die geschriebene Sprache eine lediglich sekundäre und zumeist noch schlechte Repräsentation von Sprache sei, auf die die linguistische Analyse getrost verzichten könne. Und daß Schreiben (ebenso wie Sprechen) als Form des Sprachgebrauchs dem engeren Bereich der Sprachwissenschaft ohnehin nicht angehöre. Seit etwa 10 Jahren hat sich diese Situation grundlegend geändert. Das Thema "Schrift, Schreiben, Schriftlichkeit" - so der Titel einer der vielen in diesem Zeitraum erschienenen Sammelbände (Günther/Günther 1983) - ist geradezu zu einem Modethema der Sprachwissenschaft geworden. Dies hat mehrere Gründe. Die Thematisierung der geschriebenen Sprache vollzog sich einerseits als Gegenreaktion auf das die 70er Jahre dominierende Interesse an Formen der unmittelbar mündlichen Kommunikation, das durch die pragmatische Wende der Linguistik eingeleitet und in Gesprächs-, Diskurs- und Konversationsanalyse weiterentwickelt wurde. Sie ist zum anderen eine Gegenbewegung gegen die "apodiktische Geringschätzung der geschriebenen Sprache in der Opinio communis der Sprachwissenschaftler'" (Feldbusch, 1985, 1). Sie ist schließlich auch durch neuere kultur- und sozialhistorische Erkenntnisse und Entwicklungen der (Kognitions)psychologie stark angeregt worden. Trotz dieser relativ kurzen Tradition ist die Diskussion um Probleme der "Schriftlichkeit",
2 wie Ludwig (1983b) das Themenfeld insgesamt zusammenfaßt, mittlerweile deshalb kaum noch zu überblicken, weil sie ausgesprochen facettenreich geführt wird. Deutlich wird dies etwa an der thematischen Heterogenität der Sammelbände, die im deutschen Sprachraum zum Thema erschienen sind:1 Probleme der Orthographie werden hier ebenso diskutiert wie der Status und die Entwicklung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Ansätze zu einer Theorie des Schreibens finden sich neben experimentellen Untersuchungen zum Lesen, historischen Studien zu spezifischen Schriftformen oder Vorschlägen zur Didaktik des Schreibunterrichts. Trotz dieser Vielfalt an Themen, ihrer Verankerung in verschiedenartigen theoretischen Hintergründen oder auch Disziplinen lassen sich doch drei Hauptlinien der Diskussion erkennen, in denen das Problem der Schriftlichkeit in verschiedenartigen Perspektiven in den Blick genommen wird und die insofern im Umfeld der hier behandelten Fragen stehen. Sie sollen hier knapp skizziert werden, um dem Leser eine erste und grobe Einordnung der in dieser Untersuchung verfolgten Problemstellungen in den Gesamtzusammenhang der Diskussion um "Schrift - Schreiben - Schriftlichkeit" zu erlauben.2 Im Mittelpunkt der sprachwissenschaftlichen Debatte zumindest im deutschen Sprachraum stand und steht die Frage nach dem Verhältnis von Sprachsystem und geschriebener und gesprochener Sprache. Diese Debatte um das Problem der Autonomie oder der Dependenz der geschriebenen Sprache (vgl. z.B. Günther 1983; Feldbusch 1985; Glück 1987) hat zum einen Fragestellungen nach der historischen Entwicklung und der Funktion von Schrift und schriftlicher Sprache (wieder)eröffnet (z.B. Ehlich 1983), sie hat zugleich zu einer Wiederentdeckung der in der Geschichte der Sprachwissenschaft weitgehend in Verges1
2
Z.B. Grosse (Hrsg.) (1983); Günther/Günther (Hrsg.) (1983); Coulmas/Ehlich (Hrsg.) (1983); Boueke/Hopster (Hrsg.) (1985); Nerius/Augst (Hrsg.) (1988); Antos/Krings (Hrsg.) (1989); Krings/Antos (Hrsg.) (1992); Kohit/Wrobel (Hrsg.) (1993). Die wichtigsten Reader innerhalb des anglo-amerikani sehen Sprachraums sind: Gregg/Steinberg (eds.) (1980); Frederiksen/Dominic (eds.) (1981); Whiteman (ed.) (1981); Nystrand (ed.) (1982); Taimen (ed.) (1982); Olson/Torrance/Hildiyard (eds.) (1985); Cooper/Greenbaum (eds.) (1986); Couture (ed.) (1986); Horowitz/Samuels (eds.) (1987); Matsuhashi (ed.) (1987a); Rosenberg (ed.) (1987). Für aktuelle Entwicklungen insbesondere der europäischen, psychologisch orientierten Forschung vgl. Boscolo (ed.) (1989), der eher textwissenschaftlichen Ansätze Stein (ed.) (1992). Trotz unterschiedlicher Schwerpunkte facettenreich sind auch die zum Thema erschienenen Themenhefte verschiedener Zeitschriften; z.B. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik ("Schriftlichkeit": 1985, 59); Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie ("Produktion schriftlicher Texte": 1987, 36); Der Deutschunterricht ("Theorie des Schreibens": 1988, 3); Unterrichtwissenschaft ("Schreiben und Kognition": 1985, 4; "Schreiben als Forschungsgegenstand": 1987, 4); TEXT ("Studies of orality and literacy: Critical issues for the practice of schooling": 1991, 11). Jeder Versuch einer knappen und orientierenden Systematisierung ist problematisch. Er führt notwendig zu Verkürzungen, Vereinfachungen oder auch Einordnungen, über die sich streiten ließe; gerade dann, wenn es sich um ein relativ neues und deshalb heterogenes Forschungsfeld handelt, wie es die Schreibforschung zur Zeit ist. "Schubladen" sind insofern nicht immer der Weisheit letzter Schluß, sondern zunächst nur praktisch: sie erlauben eine vorläufige Ordnung und erleichtern die Orientierung. Und wer mag, der kann sie neu und auf andere Weise füllen. Zu einem Uberblick insbesondere über die amerikanische Schreibforschung vgl. Freedman/Dyson/Flower/Chafe (1987).
3 senheit geratenen Theoretiker der geschriebenen Sprache, etwa Vachek, Uldall u.a., geführt. 3 Im Zusammenhang dieser systemorientierten Diskussion stehen auch die neuere Orthographieforschung (vgl. Äugst (ed.) 1985, 1986); Eisenberg/Günther (Hrsg.) 1989; Stetter (Hrsg.) 1990), die Beiträge zur Deskription und Differenzierung geschriebener und gesprochener Sprachformen (z.B. Tannen (ed.) 1982; Biber 1988) sowie die methodologische Reflexion der Rolle der geschriebenen Sprache für die linguistische Theoriebildung (Linell 1988). Die sprachwissenschaftliche Debatte insbesondere um das AutonomieDependenz-Problem ist entscheidend angeregt worden durch die zumeist von Historikern, Kultursoziologen und Ethnologen vorangetriebenen Forschungen zur Rolle von Schrift und Schriftlichkeit in verschiedenen Kulturen. Im Mittelpunkt der kulturhistorischen Literalitätsdebatte stehen dabei Fragen nach den sozio-kulturellen und psychosozialen Bedingungen und Konsequenzen der Literalität (Havelock 1963, 1976; Goody (Hrsg.) 1981; Goody 1990; Scribner/Cole 1981) und der Entwicklung und des Verhältnisses von Oralität und Literalität (Ong 1987). Wohl vor allem, weil die Tendenzen zur Ablösung der Schrift und des Schreibens als primäre Medien gesellschaftlicher Kommunikation in der entwickelten Gesellschaft Nordamerikas eher absehbar waren als im traditionell schriftfixierten Mitteleuropa, 4 wurde die Literalitätsdebatte in ihren Anfängen von amerikanischen Forschern dominiert. Mittlerweile sind auch im deutschen bzw. europäischen Sprachraum eine Reihe von Untersuchungen erschienen, die sich in diesen Diskussionszusammenhang einordnen lassen (vgl. z.B. Assmann/Assmann/Hardmeier (Hrsg.) 1983; Glück 1986; Grimberg 1988; Säljö (ed.) 1988; Raible (Hrsg.) 1988). Die von vielen konstatierte Krise der Schriftlichkeit hat nicht nur die kulturhistorische Reflexion der Entstehung, Entwicklung und Folgen von Literalität angeregt, sie ist als praktisch-pädagogisches Problem des zunehmenden Verlustes von Schreibfähigkeiten und -fertigkeiten auch der Grund dafür, daß der Prozeß des Schreibens selbst thematisch werden konnte. Aus dieser Problematik des Schreibens erklärt sich einerseits die im Rahmen der Schreibforschung dominante theoretische Modellierung des Schreibprozesses als Problemlöseprozeß, andererseits auch der praktisch-pädagogische Impetus, der die Schreibprozeßforschung insgesamt kennzeichnet. Dies gilt natürlich insbesondere für jene Forschungsrichtungen, die sich mit Fragen des Schriftsprachenerwerbs und der Schreibentwicklung befassen (Britton/Burgess/Martin/McLeod/Rosen 1975; Bereiter 1980; Martlew (ed.) 1983; Andresen 1985; Freedmann (ed.) 1985; Äugst/ Faigel 1986). Schreiben wird - im Normalfall - in der Schule erlernt; die 3
4
Vgl. hierzu die ausführlichen Darstellungen bei Feldbusch (1985) und Glück (1987). Speziell zur Geschichte des Graphembegriffs Kohrt (1985). Im Rahmen ihrer Analyse der Maxime "Schreibe, wie du sprichst!" gibt Müller (1990) einen umfassenden Überblick über die gesamte Diskussion. So die Argumentation von Schlaffer (1986, 7ff.), der die historischen Bedingungen der Erkenntnis über Schriftkultur als "Zusammenhang von Krise und Reflexion" rekonstruiert. Als ein Hinweis auf die Andersartigkeit der amerikanischen Erkenntnisbedingungen lassen sich auch die frühen Medienutopien McLuhans (z.B. 1962) auffassen. Zum Buchdruck und seinen Konsequenzen vgl. ausführlich Giesecke (1991); zur Geschichte der Schrift z.B. Haarmann (1990).
4 Entwicklung kognitiver, sprachlicher und interaktiver Schreibfahigkeiten ist insofern eng an den Kontext schulischen Lernens gebunden. Es gilt aber auch für die Ansätze, die sich unter dem Begriff "Schreibgebrauch" oder auch "Schreiben im sozialen Kontext" zusammenfassen lassen. Gegenstand dieser relativ neuen Richtung der Schreibforschung, die als Reaktion auf die eher an allgemeinen kognitiven Prinzipien des Schreibens interessierte und psychologisch orientierte Schreibforschung entstanden ist, sind die verschiedenartigen Formen des Schreibens, ihre Einbindung in andere soziale Aktivitäten und ihre kommunikativen Formen und Funktionen innerhalb sozialer Gruppen. Zahlreiche Arbeiten beschäftigen sich dabei mit pädagogischen Kontexten etwa in der Schule oder der Universität (Bazerman 1981; Bartholomae 1985); andere auch mit Schreiben in anderen Diskursgemeinschaften wie etwa Industriebetrieben oder spezifischen ethnischen Gruppen (Heath 1983; Häcki-Buhofer 1985). Letztlich pädagogisch orientiert sind schließlich auch die Ansätze, die sich um eine Klärung der generellen "Natur des Schreibprozesses" bemühen: um die Modellierung des Schreibens als einer spezifischen Form der Sprachproduktion (z.B. Hayes/Flower 1980; Cooper/Matsuhashi 1983; de Beaugrande 1984). Auch diese Schreibprozeßforschung (im engeren Sinne) ist vor dem Hintergrund des Versagens normativer Konzepte des "richtigen", "guten" oder "effektiven" Schreibens entstanden, das sich wiederum zuerst im Rahmen der universitären Schreibkultur des amerikanischen Bildungssystems mit ihrer Tradition von "composition"- und "creative writing"-Kursen manifestierte.5 Die Problemstellungen der Schreibprozeßforschung (im engeren Sinne) sind die, um die es hier gehen wird.6 Das allgemeine Ziel dieser Arbeit besteht mithin darin, einen Beitrag zur Aufklärung der Natur des Schreibprozesses zu leisten - zur Identifizierung seiner Komponenten, der ihn konstituierenden mentalen und sprachlichen Aktivitätsformen und ihrer Organisation untereinander. Was tut ein Schreiber, wenn er schreibt? Dies ist die Frage, auf die eine Antwort versucht werden soll. Für einen primär sprachwissenschaftlich und zugleich empirisch orientierten Beitrag zu einer Theorie der Textproduktion, wie er hier intendiert ist, ergeben sich einige Probleme, die wir an dieser Stelle zunächst nur andeuten wollen. Eine erste Schwierigkeit bilden dabei zunächst die theoretischen und methodischen Rahmenbedingungen, die bisher für eine Theorie des Schreibens vorliegen. Offensichtlich ist, daß Schreiben eine Form der Produktion komplexer sprachlicher Äußerungen ist, eine Theorie des Schreibens mithin auf der Folie einer allgemeinen Theorie der Sprachproduktion zu entwickeln wäre. Eine derDiese Tradition manifestiert sich z.B. in der Vielzahl der praktisch orientierten Ratgeber und Kurse zum Schreiben. Genannt seien z.B. Elbow (1981), de Beaugrande (1985) oder Schenck (1988). Lindemanns (1987) Bibliographie nennt allein für die Jahre 1984-1985 mehr als 3800 Titel, die zu diesem Themenfeld erschienen sind. Praktische Aspekte des Schreibens thematisieren auch Gössman (1987), Keseling (1988c) sowie Ueding (1985), der eine in der Tradition der klassischen Rhetorik verankerte "Schreiblehre" entwirft. ® Einen ausführlichen Überblick über Fragen, Methoden und die wichtigsten Ergebnisse der Schreibprozeßforschung gibt Krings (1992); zur empirischen Schreibforschung vgl. auch Baurmann (1989) sowie die kurze Darstellung älterer Untersuchungen in Krashen (1984).
5 artige Theorie existiert allerdings bislang nicht bzw. nur in Ansätzen - und auch dies vor allem im Bereich der Sprachpsychologie und Psycholinguistik (z.B. Herrmann 1985; Levelt 1989). In engem Zusammenhang damit steht das Problem der internen Beschränkungen der Sprachwissenschaft als Disziplin. Diese hat - wie schon erwähnt - sprachliche Phänomene weitgehend in der Perspektive ihrer Strukturformen in den Blick genommen, prozessurale Aspekte der Produktion (und der Rezeption) hingegen bislang nur ausnahmsweise berücksichtigt.7 Insbesondere für den Bereich des Schreibens soll hier eine Ausnahme gesondert erwähnt werden: das Marburger Projekt "Textproduktion", in dem seit 1984 eine Reihe von empirischen Untersuchungen zum Schreibprozeß entstanden und Ansätze zu einer prozessorientierten sprachwissenschaftlichen Analyse entwickelt worden sind. Ich erwähne dies deshalb, weil die vorliegende Untersuchung durch dieses Projekt angeregt wurde und viele Ideen in und aus seinem Zusammenhang entstanden sind.8 Gleichwohl kann eine Theorie des Schreibens bislang nicht in dem Maße auf allseits anerkannte und ausgearbeitete theoretische Konzepte und methodische Instrumentarien zurückgreifen, wie dies wünschenswert wäre und in anderen Bereichen der Sprachwissenschaft z.T. der Fall ist. Sie hat diese vielmehr weitgehend selbst zu entwickeln oder aus disziplinar zerstreuten Ansätzen und "Versatzstücken" zu montieren. Hierin besteht ein zweites Ziel dieses Vorhabens: in der Entwicklung und Erprobung theoretischer Konzepte und methodischer Verfahren zur Analyse des Schreibens als eines komplexen sprachproduktiven Prozesses. Weniger als Mangel denn als "Fülle" manifestiert sich ein dritter Problembereich. Jede empirische Untersuchung ist notwendig auf Beschränkung angewiesen: Sie hat aus der Vielzahl möglicher Formen des Schreibens einige auszuwählen, muß sich zudem auf die Analyse einiger "Aspekte" des Gegenstandes beschränken. "Schreiben als solches" gibt es nicht, und Aussagen über die "Natur des Schreibprozesses" sind stets Abstraktionen, für die - sofern sie empirisch fundiert sind - jeweils zu klären ist, ob sie generelle, (d.h. für Schreiben allgemein konstitutive), je textartspezifische oder gar nur individuell bedingte Merkmale des Schreibprozesses erfassen. Zwar stellt sich das Problem der Generalisierbarkeit für jede empirische Untersuchung, es betrifft aber in besonderem Maße die bisherige Schreibforschung. Denn fast alle vorliegenden Modellvorstellungen von der "Natur des Schreibens" sind auf der Basis einer einzigen Form des Schreibens entwickelt worden: des sachorientiert-informativen, expositorischen Schreibens nämlich - der dominanten Schreibform amerikanischer composition-Kurse. Bewußt werden deshalb den empirischen Analysen dieser Arbeit auch Schreibprozesse von Textarten zugrundegelegt, die den Vorstellungen von expositorischem Schreiben nicht entsprechen. Neben einem '
8
Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Für den Bereich der Textlinguistik vgl. ζ. B. den prozeduralen Ansatz von de Beaugrande/Dressler (1981); für die sprachwissenschaftlich orientierte Schreibforschung de Beaugrande (1984). Das Projekt wurde in den Jahren 1984-1988 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Leiter war Prof. Gisbert Keseling, Mitarbeiter waren Conny Rau (1986-1988) und ich selbst (1984-1988). Zusammenfassende Darstellungen des Projektes ñnden sich in Keseling/Wrobel/Rau (1987), Keseling (1988b) und Keseling/Wrobel (1991).
6 Reisebericht werden vor allem Wegbeschreibungen, Geschäftsbriefe und Zusammenfassungen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Natürlich läßt sich darüber streiten, ob diese Auswahl "glücklich" oder "repräsentativ" ist. Auf jeden Fall bietet sie die Möglichkeit, die bereits existierenden Konzepte des Schreibprozesses an bislang wenig untersuchtem Material zu überprüfen und daran eventuell auch neue Einsichten zu gewinnen. Ein letztes Problem, das wir sofort ausräumen wollen, ist eines der wissenschaftlichen Verständigung und Terminologie. Ludwig beklagt, daß es gerade im Bereich der Schriftlichkeitsforschung damit nicht zum besten bestellt ist. Ein heilloses Durcheinander, das ist der Eindruck, den man gewinnt, wenn man sich die Terminologie in Untersuchungen zur Schriftlichkeit einmal genauer ansieht. Der eine spricht von "Schrift", meint aber "schriftliche Äußerungen". Der andere spricht von "Schriftsprache", meint aber nur die Schrift. Ein Dritter meint alles zusammen, wenn er von "geschriebener" oder "schriftlicher Sprache" spricht. Man ist sich nie sicher und kann sich auch nicht sicher sein, was ein Autor genau meint, wenn er einen der vielen Ausdrücke gebraucht, die im Bereich der Schriftlichkeit gebildet worden sind. Aufschluß gibt meist - nicht immer! - erst der Kontext. Das ist ein unbefriedigender Zustand (Ludwig 1983b, 1).
Ludwig hat selbst einige Vorschläge zur terminologischen Klärung unterbreitet, an die wir uns anlehnen können, um gleich zu Beginn grundlegende Mißverständnisse auszuräumen. 9 So werden wir unter Schreiben - in einem durchaus umgangssprachlichen Sinne - den Prozeß der Hervorbringung schriftlicher Äußerungen verstehen. Schriftliche Äußerungen sind die empirisch vorfindlichen Produkte des Schreibens. Schriftliche Äußerungen umfassen dabei alle Formen des Geschriebenen, seien es flüchtige Notizen oder ganze Romane. Elemente schriftlicher Äußerungen sind, neben dem konventionalisierten Inventar der Schriftzeichen, auch nicht konventionalisierte graphische Zeichen (etwa in Notizen, Entwürfen), graphische Verteilungen usw. Unter einem Text soll - mit Ehlich (1983) - generell jene Teilmenge sprachlicher Äußerungen verstanden werden, die auf Überlieferung hin angelegt sind. Texte sind damit zunächst unabhängig vom Medium ihrer Repräsentation definiert. Mit der Entwicklung der Schrift wird diese Bestimmung des Textes materiell. Texte lassen sich im engeren Sinne insofern als eine Teilmenge schriftlicher Äußerungen auffassen: jene Teilmenge nämlich, die intentional auf Überlieferung zielt - denen mithin eine kommunikative Intention zugrunde liegt. Schrift ist die Gesamtheit der in Schriftäusserungen verwendeten Buchstaben (Grapheme). Schriftliche Kommunikation schließlich ist die soziale Handlung, die durch schriftliche Texte vollzogen wird. In dieser Arbeit wird es um den Prozeß des Schreibens gehen, nicht um Schrift, Schriftlichkeit und nur am Rande um Texte und schriftliche Kommunikation. Ob diese Herauslösung eines Aspektes aus seinem Problemumfeld sich Vgl. ausführlicher sowie zur Definition weiterer Begrifflichkeiten wie "Schriftsprache", "schriftliche Sprache" oder "geschriebene" und "gedruckte" Sprache Ludwig (1983b). Speziell zum Sprachbegriff in der Schriftlichkeitsdiskussion Feldbusch (1993); zu seiner möglichen Erweiterung und Neubestimmung durch die Schreibforschung Jaritz (1993).
7 bewährt, mag am Ende der Leser entscheiden - wenn er sich denn, trotz dieser Einschränkungen, zum Lesen entschließt.
1.1. Die Kapitel im Überblick - Hinweis für den Leser Aus inhaltlichen, aber auch rezeptionsökonomischen Erwägungen haben wir auf eine strikte Trennung von theoretischem und empirischem Teil verzichtet. Die empirisch orientierten Kapitel 4, 5 und 6 werden vielmehr durch jeweils auf die spezifische Problemstellung zugeschnittene theoretische Erörterungen eingeleitet und sind insofern in sich relativ abgeschlossen. Sie sind deshalb auch ohne Kenntnis des gesamten Zusammenhanges verständlich. Kapitel 2 gibt einen knappen Überblick über die wichtigsten Modelle der Textproduktion bzw. des Schreibens. Auf der Basis der Kritik der kognitiv orientierten Schreibforschung wird in Kapitel 3 dann eine handlungstheoretisch fundierte Konzeption für die Analyse von Schreibprozessen entwickelt, die den allgemeinen theoretischen und methodischen Rahmen für die empirischen Untersuchungen bildet. Nach der Diskussion einiger Probleme der empirischen Analyse und der Vorstellung des Untersuchungsmaterials (Kap. 3.3. und 3.3.1.) folgen drei größere empirische Kapitel, die den Kern dieser Arbeit bilden. Im 4. Kapitel werden zunächst Fragen der zeitlichen Strukturen des Schreibhandlungsverlaufes bei verschiedenen Textarten behandelt, in Kapitel 5 Revisions- und Formulierungaktivitäten, in Kapitel 6 schließlich Formen der globalen Organisation des Schreibprozesses und der Makroplanung von Texten. In Kapitel 7 werden die wichtigsten allgemeineren Ergebnisse der Analysen noch einmal zusammengefaßt und einige Perspektiven für die Schreibforschung entwickelt.
2. Modelle der Textproduktion
Modelle lassen sich allgemein als abstrakte Repräsentationen von relevant gesetzten Objektzusammenhängen auffassen. Die Funktion von Modellen ist dabei eng an den jeweiligen Stand der Erkenntnis eines Gegenstandes geknüpft. Modelle können zum einen als zusammenfassende Darstellungen eines bestimmten Erkenntnisstandes fungieren, sie können aber auch prospektiv Rahmenbedingungen für Erkenntnisprozesse liefern.1 Solche Modelle haben heuristische Funktionen: Sie formulieren die für jede wissenschaftliche Forschung notwendigen, möglichst breit akzeptierten Vorannahmen, die der Forschung eine bestimmte Richtung weisen, die Einordnung einzelner Resultate erlauben und Zusammenhänge stiften. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die bislang im Bereich der Sprachproduktion entwickelten Modellvorstellungen, dann dürfte es kaum auf Widerspruch stoßen, wenn man sie als heuristische Modelle bezeichnet. Dies gilt sowohl für allgemeine Modelle der Sprachproduktion als auch für die vorliegenden Modelle des Schreibens. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf solche allgemeinen Modelle der Sprachproduktion, um vor ihrem Hintergrund Modelle des Schreibens besser darstellen und diskutieren zu können.
2.1. Modelle der Sprachproduktion Trotz aller Unterschiede im Detail konzeptualisieren alle Modelle der Sprachproduktion den Prozeß der Produktion sprachlicher Äußerungen als Abfolge von drei Makrostufen (Schlesinger 1977; Chafe 1977a, 1977b, 1979; Herrmann 1985; Levelt 1989):2 - eine konzeptuelle Stufe, auf der vorsprachliche Ideen generiert und organisiert werden; - eine Formulierungsstufe, auf der präverbale Strukturen vermittels syntaktischer und phonologischer Regeln in die Strukturen sprachlicher Äußerungen transformiert werden;
Natürlich gibt es nicht nur diese beide Modellformen bzw. -funktionen, sondern auch Zwischenstufen. Die hier genannten Modelltypen bilden deshalb nur die Pole eines Kontinuums. Auf die "Unterschiede im Detail" gehe ich hier nicht ein. Sie sind zahlreich und z.T. durchaus auch grundsätzlicherer Natur, so dafi ihre Darstellung ein Vorhaben für sich wäre. Gute mmiMfaSSftndft DafSteMg»ftfldMtstth fût ¿AS Modell von ScUesinger Wi Hörmann (1981), für Hertmann bei Herrmann/Hoppe-Graf (1989).
9 - eine Realisierungsstufe, auf der zunächst noch intern-sprachlich repräsentierte Äußerungen lauüich realisiert werden. Die Konzeption der Sprachproduktion als Abfolge dieser drei Makrokomponenten wird besonders im Modell von Levelt (1989) deutlich.
Abb. 2.1. :
Das Sprachproduktionsmodell von Levelt (nach Levelt 1989)
Obwohl alle Modelle sich hinsichtlich der Annahme der o.g. Makrostufen zumindest ähnlich sind, ist die Konzeption ihrer internen Organisation umstritten. Levelts Modell ist ein Beispiel für eine modulare Organisation der einzelnen Stufen; d.h. die einzelnen Komponenten des Modells bilden relativ autonome und spezialisierte Einheiten, deren Output jeweils den Input für die Folgekomponente bildet. Zwischen den einzelnen Stufen bestehen mithin keine oder nur geringe Rückkopplungsbeziehungen. Den für die Sprachproduktion charakteristischen Merkmaden wie Geschwindigkeit, Planbarkeit suprasegmentaler Einheiten (z.b. Intonation) oder auch Fehlerträchtigkeit (Versprecher) wird dabei durch die Annahme der inkrementellen, d.h. der zeitlich überlappenden, Produktion Rechnung getragen. Die Kontrolle des Prozesses gewährleistet ein
10 externer Monitor, der in Levelts Modell durch das Sprachverstehenssystem repräsentiert wird. Interaktiv-konnektionistische Modelle wie etwa das von Herrmann (1985) nehmen im Gegensatz dazu vielfache Wechsel- und Rückkopplungsbeziehungen zwischen den einzelnen Produktionsstufen an. Der Produktionsprozeß vollzieht sich nicht als lineare Abfolge, sondern als mehr oder weniger paralleles Zusammenwirken aller Stufen, wobei einzelne Komponenten im Gesamtprozeß lediglich zeitweise eine gewisse Priorität genießen. Deutlich wird dies im Modell von Herrmann (1985) durch die in beide Richtungen weisenden Verbindungen zwischen den Komponenten Fokussierung, Selektion/Linearisierung und Enkodierung, die in etwa mit den Produktionsstufen Levelts vergleichbar sind.3 < SPRACHPRODUKTION >
Sprachliche Systemoutputs Abb. 2.2.:
Das Sprachproduktionsmodell von Herrmann (nach Herrmann 1985)
Die hier skizzierten Modelle der Sprachproduktion lassen sich als Versuch auffassen, Rahmenvorstellungen bezüglich der globalen Organisation und allgemeiner Prinzipien der Sprachproduktion zu formulieren. Unter Sprachproduktion wird dabei allerdings weitgehend die Produktion einzelner Wörter, Sätze oder (maximal) Äußerungen verstanden, nicht die Herstellung komplexerer mündlicher Formen oder schriftlicher Texte. Insofern sind diese Modelle nicht unmittelbar für eine Theorie der Textproduktion fruchtbar zu machen. Wir haben sie aus zwei Gründen dennoch erwähnt. Einerseits, weil sie im Bereich der Schreib3
Herrmanns Produktionsmodell ist nur ein Teil eines sehr viel umfassenderen "Sprecher/Hörer'-Systems. Für unseren Argumentationszusammenhang ist jedoch allein der Teilbereich "Sprachproduktion" von Interesse.
11 forschung explizit kaum zur Kenntnis genommen werden. Andererseits, weil die prominenten Modelle des Schreibens sich in einem Punkt einig sind, der in der Diskussion allgemeiner Sprachproduktionsmodelle gerade umstritten ist: Alle neueren und wichtigen Modelle des Schreibens sind interaktiv-konnektionistische Modelle, die sich zumeist explizit von angeblich veralteten und unangemessenen "linearen" oder "sequentiellen" Konzepten absetzen4 (vgl. z.B. Flower/Hayes 1980; de Beaugrande 1984; Molitor 1984).
2.2. Modelle des Schreibens 2.2.1.
Schreiben als kognitives Verarbeiten - Hayes & Flower
Innerhalb der Schreibforschung sind Modelle des Schreibens5 relativ früh vorgeschlagen worden. Am bekanntesten geworden ist dabei das Schreibmodell von Hayes/Flower (1980), das man durchaus als das Standardmodell der Schreibforschung der 80er Jahre bezeichnen kann. Das Modell von Hayes/Flower (kurz: H/F-Modell) unterscheidet sich dabei von Vorgängermodellen (z.B. Rohman 1965) weniger hinsichtlich der für den Schreibprozeß angenommenen konstitutiven Stufen, als vielmehr durch eine neue Konzeption ihres Zusammenhanges: Als zentrales Merkmal des Schreibprozesses wird die Interaktivität, Reflexivität und Rekursivität der an ihm beteiligten Prozesse betrachtet. Innerhalb des H/F-Modells ist der Prozeß der Textproduktion selbst nur eine Komponente, die mit anderen, externen Komponenten in Zusammenhang steht. Schreiben findet innerhalb einer Aufgabenumgebung (task environment) statt, die Faktoren wie das Thema des Textes, mögliche Leser oder auch die Motivationen des Schreibenden enthält. Zur Aufgabenumgebung zählt darüberhinaus auch der im Verlauf des Schreibens bereits produzierte Text (text produced so far). Zum anderen fungieren auch das Langzeitgedächtnis und die in ihm enthaltenen schreibrelevanten Wissensbestände als Input für den Schreibprozeß.
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Es geht hier nicht darum, ob lineare Modelle tatsächlich veraltet oder unangemessen sind, sondern lediglich um die Aufdeckung einer im Bereich der Schreibforschung verbreiteten Argumentationsfigur. Levelts Modell ist ein Beispiel dafür, das die lineare Konzeption von Modellkomponenten über die Annahme der inkrementellen Produktion mit empirisch-konkreten Erscheinungsformen der Sprachverwendung vermittelt werden kann. Kritisiert wird hier mithin, daß in der Schreibforschung die Ebenen der empirischen Bebachtungen und der theoretischen Modellierungen zumeist verwechselt werden bzw. Konzeptionen wie die Levelts gar nicht erst zur Kenntnis genommen werden. Die Darstellung von Schreibmodellen wird hier bewußt knapp gehalten, da sie - wenngleich auch unter anderen Aspekten - andernorts vielfach vorgestellt worden sind. So z.B. in Faigley/Cherry/Jolliffe/Skinner (1985) und Eigler/Jechle/Merziger/Winter (1990).
12
Abb. 2.3.:
Das kognitive Modell des Schreibens (nach Hayes/Flower 1980)
Der eigentliche Textproduktionsprozeß besteht aus den Subprozessen Planung (planning), Übersetzung (translation) und Überprüfung (reviewing), die selbst z.T. wieder Subkomponenten enthalten und deren Zusammenwirken durch eine Steuerungseinheit (monitor) geregelt wird. In der Planungskomponente wird - auf der Basis von Aufgabenumgebung und Informationen aus dem Langzeitgedächtnis - zunächst schreibrelevantes Wissen erzeugt und organisiert. Die Prinzipien dieser Organisation werden dabei sowohl durch die Struktur der jeweils zu organisierenden Informationen als auch durch die jeweils verfolgten Ziele determiniert. Ergebnis der Planungskomponente ist eine Hierarchie von Plänen unterschiedlichen Typs: Pläne, die Strukturen der jeweiligen Ziele (plans to do), die inhaltliche Strukturen des zu produzierenden Textes (plans to say) und prozedurale Strukturen der notwendigen Aktivitäten (plans to compose) spezifizieren (vgl. Flower/Hayes (1980)). Die nach Zielen und Inhalten organisierten Informationen werden in der Übersetzungskomponente in sprachliche Informationen transformiert. Obwohl dieser Prozeß der Übersetzung für eine Theorie der Textproduktion von zentralem Interesse ist, bleibt das H/F-Modell gerade an diesem Punkt merkwürdig lakonisch. Für den Prozeß der Übersetzung werden weder weitere Subprozesse angenommen, noch wird er detaillierter erläutert. Hayes/Flower beschreiben den Prozeß des Versprachlichens lediglich als Auswahl von Propositionen und Zuordnung entsprechender syntaktischer Muster. Die Struktur des Übersetzungsprozesses wird durch das folgende Diagramm (Abb. 2.4.) veranschau-
13 licht, das zugleich ein Beispiel dafür ist, in welcher Weise Hayes/Flower die verschiedenen Subkomponenten des Schreibprozesses weiter detaillieren. Expliziter gehen Hayes/Flower dann auf die letzte Stufe der Textproduktion ein, den Überprüfimgsprozeß, den sie in zwei Subprozesse zerlegen: das Lesen des produzierten Textes und seine Korrektur. Für die interaktive Konzeption des Gesamtprozesses ist die Überprüfungskomponente insofern zentral, als sie sowohl die Möglichkeit des "Rücksprungs" in vorgelagerte Stadien als auch deren Einbettung enthält. Überprüfen kann mithin auf Planen und Übersetzen folgen, der Überprüfungsprozeß kann jedoch auch alle anderen Aktivitäten unterbrechen oder sie als eingebettete Subkomponenten enthalten. Unter welchen Bedingungen die einzelnen Teilprozesse dabei eingeleitet, unterbrochen oder eingebettet werden, wird von der Kontroll- und Steuerungsinstanz des Monitors geregelt.
Abb. 2.4. :
Die Ubersetzungskomponente des kognitiven Modells (nach Hayes/Flower 1980)
Der Geltungsbereich des hier knapp skizzierten kognitiven Modells des Schreibens wird von Hayes/Flower selbst stark eingeschränkt: es sei ein Modell des kompetenten Schreibers und des expositorischen Schreibens. Trotz dieser Einschränkungen ist das Modell zum Gegenstand vielfältiger Diskussionen geworden, in denen es vor allem um die Frage seiner Adäquatheit als allgemeiner Rahmen einer Theorie des Schreibens ging. Entsprechend zahlreich waren die
14 kritischen Einwände und Vorschläge zur Revision. So hat Ludwig (1983) für eine stärkere Einbeziehung motivationaler Grundlagen in den Kernbereich des Modells plädiert und zugleich seine Ergänzung um die mit Schreiben verbundenen motorischen Aktivitäten vorgeschlagen. Molitor (1984) entwickelt in der kritischen Auseinandersetzung mit Hayes/Flower ein eigenes "reflexives" Schreibmodell, das auf eine theoretisch konsistentere Modellierung der einzelnen Komponenten abzielt und zugleich die zwischen ihnen bestehenden Rückkopplungsbeziehungen stärker betont. Bizzells Kritik richtet sich vor allem gegen den Subjektivismus des kognitiven Modells; d.h. gegen die fehlende Berücksichtigung der auch individuelles Handeln prägenden, intersubjektiv verbindlichen sozialen Gebräuche und konventionellen Regeln von Diskursgemeinschaften6 (Bizzell, 1982). Kintsch (1982) schließlich bewertet das Modell als in weiten Teilen schlicht trivial.7 Auf einige der hier angedeuteten Kritikpunkte werden wir später noch ausführlicher eingehen. Hier mag der Hinweis genügen, daß das Verdienst des H/F-Modells darin liegt, daß es die empirische Forschung und die theoretische Diskussion um das Problem des Schreibens als Prozeß außerordentlich angeregt hat. Das Modell war (und ist) mithin als Heuristik, als die es intendiert war, insofern produktiv, als es einen komplexen Gegenstandsbereich in einer Weise konzeptualisiert, die (fast) alle Fragen offen läßt und gerade deshalb sinnvolle theoretische und empirische Fragestellungen eröffnet. 2.2.2.
Schreiben als stufenweises, paralleles Verarbeiten - Das parallelstage Modell (de Beaugrande)
Während das Modell von Hayes/Flower Schreiben primär im Hinblick auf die beteiligten kognitiven Komponenten und Prozesse thematisiert, betont das Textproduktionsmodell von de Beaugrande (1984) vor allem den Aspekt des parallelen Zusammenwirkens verschiedenartiger Ebenen im Schreibprozeß. Sein Interesse gilt mithin nicht allein der Rekonstruktion der für das Schreiben konstitutiven kognitiven Prozesse, sondern der theoretischen Begründung einer "Wissenschaft des Textproduzierens" (science of composition), die er als Teil einer prozeßorientierten Sprachwissenschaft betrachtet. Sein Modell zeichnet sich dadurch aus, daß es die pragmatischen, kognitiven und sprachlichen Anforderungen des Schreibens funktional zu integrieren sucht8: als funktionale und "Producing text within a discourse community, then, cannot take place unless the writer can define her goals in terms of the community's interpretive conventions. Writing is always already writing for some purpose that can only be understood in its community context" (Bizzell, 1982, 227). "Flower and Hayes have very little to say..."(Kintsch 1982, 165). Die in den sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen Syntax, Semantik und Pragmatik zu verhandelnden Problemstellungen werden von de Beaugrande als Spezialfälle allgemeinerer Prinzipien menschlichen Denkens und Handelns bestimmt. "Linguistic syntax is a special case of linear processing: a mode of behavior and a mode of intelligence. Semantics is a special case of the processes of conceptual processing: creating, storing, recovering and utilizing meaningful knowledge. Pragmatics is a special case of goal-planning: setting up an
15 interagierende Stufen des Schreibens, die sukzessiv, aber auch parallel zu bearbeiten sind. Diese Parallelität wird im Modell durch Zick-Zack-Linien symbolisiert (vgl. Abb. 2.5.). Sie machen deutlich, daß für den Prozeß der Textproduktion zwar eine deutliche Richtungstendenz von "tieferen" zu "höheren" Ebenen kennzeichnend ist, daß aber auch zwischen den einzelnen Ebenen gewechselt bzw. auf mehreren Ebenen zugleich gearbeitet werden kann.
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Abb. 2.5.:
Das Modell des parallelen, stufenweisen Verarbeitens (nach de Beaugrande 1984)
Ausgangspunkt der Textproduktion sind zunächst die praktischen Ziele, die mit einem Text erreicht werden sollen. Auf der Basis solcher Ziele werden dann "Ideen" generiert, die eine erste, noch abstrakte Gesamtrepräsentation des Textinhaltes liefern und derart als Kontrollinstanzen für weitere Prozesse der Konkretisierung fungieren. Ideen bilden dann die Grundlage der konzeptuellen Entwicklung, in der detailliertere Vorstellungen des intendierten Textes ausgearbeitet werden (text-world modell). Erst auf dieser Basis operieren dann die im engeren Sinne sprachlichen Prozesse, die de Beaugrande in drei Ebenen unterteilt: Zunächst werden konzeptuelle Einheiten mit abstrakten sprachlichen Formaten verknüpft, diese werden dann syntaktisch linearisiert und schließlich phonologisch bzw. graphemisch realisiert. Obwohl das Modell den Schreibprozeß nicht explizit in Umgebungskomponenten einbettet, ist es in seinem Kern der Konzeption von Hayes/Flower recht ähnlich. Auch de Beaugrande geht von einer starken interaktiven Verknüpfung intended state of the world and implementing steps to attain it. These definitions stress that language is one mode of processing among human actions at large" (de Beaugrande 1984, 34).
16 und einer flexiblen Organisation der einzelnen Verarbeitungsstufen aus, ergänzt diese Konzeption jedoch um den Aspekt der Parallelität - d.h. des realzeitlichen Prozeßverlaufes, der bei Hayes/Flower vollständig fehlt. Als Linguist betont und differenziert de Beaugrande zudem weit stärker die sprachliche Seite der Textherstellung. Die Organisation gedanklichen Materials in den linearen Strukturen sprachlicher Äußerungen, die bei Hayes/Flower unter dem Terminus "Translation" mehr benannt als begriffen wurde, wird hier in drei Verarbeitungsebenen differenziert, deren Annahme de Beaugrande durch eine Vielzahl linguistischer und psycholinguistischer Erkenntnisse plausibel macht. Diese interdisziplinäre Ausrichtung, die auf intern-linguistische ("inner domain") und benachbarte ("outer domain"), d.h. vor allem kognitionspsychologische, soziologische und auch pädagogische Methoden und Theorien gleichermaßen zurückgreift, 9 ist insgesamt charakteristisch für seine Konzeption. Als allgemeinen Integrationsrahmen betrachtet de Beaugrande (1987) dabei eine allgemeine Handlungstheorie,10 die damit auch als Basis einer zukünftigen, sprachwissenschaftlichen und prozeßorientierten Theorie des Schreibens fungieren soll.
2.2.3.
Schreiben als Integration von Fähigkeiten. Das entwicklungspsychologische Modell (Bereiter)
Die in den Schreibprozeß involvierten Komponenten und Prozesse standen im Mittelpunkt der Schreibmodelle von Hayes/Flower und de Beaugrande. Nicht berücksichtigt wurde dabei, daß die den Schreibprozeß konstituierenden Faktoren einerseits von z.T. unterschiedlicher Komplexität sind, andererseits auch verschiedenartige Formen des Schreibens existieren, zwischen denen beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der kognitiven und sprachlichen Anforderungen oder auch der pragmatischen Funktionen bestehen. Kompetentes Schreiben ist mit anderen Worten - nicht eine einzelne, in sich homogene Fähigkeit, sondern setzt ein komplexes Ensemble unterschiedlicher Fähigkeiten und Kenntnisse voraus, die im Laufe der individuellen Entwicklung erworben werden müssen. Die Frage, wie dies geschieht, steht im Mittelpunkt des Schreibmodells von Bereiter (1980). Obwohl es sich primär um ein entwicklungspsychologisches Modell handelt,11 ist es für eine allgemeine Theorie des Schreibens insofern zentral, als es eine Antwort auf die Frage bietet, wie Schreiber mit den komple"
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11
Nichts gegen Interdisziplinarität. Die Form allerdings, in der de Beaugrande (1984) die verschiedenen Theorien, Methoden und Ergebnisse darstellt, ist für den Leser über weite Strecken eine Zumutung. Daß de Beaugrande sein Buch als mehr oder weniger zusammenhängende Sammlung einzelner Paragraphen (von durchschnittlich 20 Zeilen Länge) strukturiert, mag allerdings auch ein Hinweis darauf sein, daß die von ihm geforderte interdisziplinäre Integration noch in weiter Ferne ist. Dies steht in einem gewissen Gegensatz zu der eher kognitiven Orientierung in de Beaugrande (1980) und (1984) (vgl. auch Anmerkung 8). Zu allgemeinen wissenschafistheoretischen und -historischen Überlegungen im Zusammenhang einer Theorie der Textproduktion vgl. auch de Beaugrande (1989) und (1992). Zur Entwicklung der Schreibkompetenz vgl. neben den schon erwähnten Sammelbänden (Kap. 1) den Überblick in Feilke/Augst (1989).
17 xen und verschiedenartigen Anforderungen des Schreibprozesses umgehen. Bereiters Antwort ist hier eine partiell andere als die von Hayes/Flower oder de Beaugrande: während dort die Interaktion der Komponenten des Schreibprozesses als zentrales Element der Koordination schreibrelevanter Faktoren und Prozesse im Vordergrund steht, ist es in Bereiters Modell deren Integration. Ausgangspunkt von Bereiters Argumentation ist die kognitionspsychologisch begründete Annahme, daß die kognitive Kapazität des Menschen zwar prinzipiell begrenzt ist, sich im Verlaufe der individuellen Entwicklung jedoch in Richtung auf zunehmend komplexere Verarbeitungsmöglichkeiten entwickelt. Diese Kapazitätssteigerung resultiert vor allem daraus, daß viele Fähigkeiten automatisiert werden können und insofern nur quantitativ und qualitativ geringen Aufwand erfordern. Für das Schreiben unterscheidet Bereiter insgesamt sechs solcher Fähigkeitskomplexe, die zur Bewältigung der prozedural-kognitiven, der sprachlichen und der sozial-interaktiven Anforderungen entwickelten Schreibens notwendig sind: prozeßbezogene Fähigkeiten sind die Möglichkeit zur flüssigen Produktion geschriebener Sprache, zur Bereitstellung von Ideen und zum reflexiven Denken, produktbezogen ist die Beherrschung von Schreibkonventionen und die Fähigkeit zur Bewertung von Texten, interaktionsbezogen ist schließlich die Fähigkeit zur Einstellung auf potentielle Leser.
Focus Reader
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Abb. 2.6.:
Das entwicklungspsychologische Schreibmodell (nach Bereiter 1980)
18
Das Modell zeigt, daß den verschiedenen Fähigkeitskomplexen verschiedene Formen des Schreibens entsprechen, die im Laufe der Sozialisation sukzessive erworben und integriert werden. Untere Entwicklungstufen sind - im Hegelschen Sinne - in den nachfolgenden "aufgehoben", sie differenzieren andererseits aber auch unterschiedliche Funktionen, die mit Schreiben verbunden sein können. Bereiter spricht deshalb auch von Schreibstrategien, die dem entwickelten Schreiben zur Verfügung stehen. Als erste und einfachste Entwicklungsstufe setzt das assoziative Schreiben demnach nur die Integration von zwei Fähigkeitskomplexen voraus. Sobald diese Fähigkeiten bzw. Schreibformen automatisiert sind, können komplexere Schreibformen durch den Erwerb, die Automatisierung und die Integration weiterer Fähigkeiten entwickelt werden: Vom regelgeleiteten (performative writing) über das leserbezogene (communicative writing) und das kritische Schreiben (unified writing) kann sich Schreiben im Idealfall bis zu einer Stufe entwickeln, auf der es erkenntnisbildend wirkt (epistemic writing).
2.2.4.
Schreiben als soziale Interaktion (Nystrand)
In den bisher vorgestellten Konzeptionen wurde der Schreibprozeß primär unter dem Aspekt der je individuell zu erbringenden kognitiven und sprachlichen Leistungen thematisiert. Faktoren wie die mit einem Text verfolgten Ziele, potentielle Leser oder der soziale Kontext des Schreibens insgesamt wurden dabei als Rahmenbedingungen zwar berücksichtigt, ihr Einfluß wurde jedoch innerhalb der Autor-Text-Beziehung situiert. Schreiben ist in dieser Perspektive ein monologischer Akt der Herstellung eines Textes, der als externes und autonomes Produkt die von einem Schreiber intendierten Bedeutungen repräsentiert. Nystrands Modell des Schreibens (Nystrand 1986, 1989a) stellt dieser Individuums- und produktorientierten Sicht ein dezidiert interaktionistisches Konzept entgegen, dessen theoretischen Hintergrund Annahmen der phänomenologischen Soziologie (Schütz), der Sprechakttheorie (Austin) sowie der Sprachphilosophie und Semiotik (insbesondere Grice und Bakhtin) bilden.12 Schreiben ist demnach - wie alle anderen Formen des Sprachgebrauchs - eine Form der sozialen Interaktion, für die das Prinzip der Reziprozität zwischen Schreiber und Leser zentral ist.
Mit "dezidiert interaktionistisch" ist hier die Tatsache gemeint, daß Nystrand sich später auch gegen ein konstruktivistisches Verständnis von Interaktion abgrenzt; ein Verständnis also, das Interaktion in ihrer Determination durch soziale Gruppen, Interpretations- oder Diskursgemeinschaften thematisiert. "Social constructionism concerns itself with the largescale processes of writers and readers as members of discourse and interpretative communities;... Social interactionism concerns itself with the dyadic interactions of particular writers and readers;..." (Nystrand 1990, 4). Zu einer derart konstruktivistischen Sicht z.B. des Schreibens vgl. allgemein Bizzell (1982); speziell für die Universität als eine besondere Diskursgemeinschaft Bartholomae (1985). Eine ausführliche Auseinandersetzung findet sich in Nystrand (1989b, 1990) und Nystrand/Wiemelt (1991).
19 This key assumption is the RECIPROCITY PRINCIPLE, which is the foundation of all social acts, including discourse: In any collaborative activity the participants orient their actions on certain standards which are taken for granted as rules of conduct by the social group to which they belong (Nystrand 1986, 48).
Texte sind insofern nicht einfach autonome und statische Träger intendierter Bedeutungen,13 sondern Elemente im Prozeß der Reziprozitätsherstellung: Sie enthalten Interaktionspotentiale, die die Brücke für die Aushandlung von Bedeutungen zwischen Schreiber und Leser bilden. Für die Produktion eines Textes bedeutet dies, daß sie sich wesentlich an den antizipierten Erwartungen von Lesern und deren Wisserishintergründen zu orientieren hat, damit Kommunikation gelingt und effektiv möglich wird. When writers strike a careful balance between their own expressive needs and the expectations of their readers, the result is clear communication and a lucid text. This comes about when the writer's elaboration of text meaning matches readers' requirements for eliminating potential meanings. It is essential that what the writer says complements what readers bring to the text (Nystrand 1986, 72).
Nystrand postuliert drei elementare Anforderungen, die zur Reziprozitätsherstellung und -Sicherung erfüllt werden müssen. Diese Anforderungen determinieren zugleich die Regeln, nach denen Textäußerungen produziert werden.14 Der Schreiber muß - zu Beginn des Schreibens eine gemeinsame soziale Welt (temporarily shared social reality) als Rahmen wechselseitiger Verständigung etablieren (initiating written discourse); - im Verlaufe des Schreibens geplante Äußerungen in den einmal gewählten Verständigungsrahmen derart einpassen, daß er aufrechterhalten, kontrolliert expandiert oder modifiziert werden kann (sustaining written discourse); - Textäußerungen im Bedarfsfalle so erweitern, daß die Modalitäten der geplanten Kommmunikation, ihr Thema oder auch potentielle lokale Verständigungsprobleme geklärt werden (writer's options: elaborations).
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14
Dieses Argument richtet sich insbesondere gegen Olson, dessen Konzeption textvermittelter Kommunikation insbesondere die Autonomie von Texten betont (vgl. z.B. Olson 1977, 1980b, 1982, 1991). Rommetveit (1988) kritisiert diese Auffassung als mythisch. Unter textlinguistischem Gesichtspunkt diskutiert Bamberg (1993) dieses Problem und skizziert eine Position, die Interaktionismus und Textautonomie zu integrieren versucht. Auf der Basis der hier genannten Anforderungen formuliert Nystrand (1986; in kürzerer Form auch 1989a) einige Regeln für die Bewertung und Produktion interaktionsgerechter Textkommunikation bzw. von Texten, die er selbst als "reziprozitätsbasierte Grammatik" bezeichnet. Zum Teil handelt es sich dabei um Handlungsmaximen für den Schreiber, zum Teil um die Beschreibung von Texteigenschaften oder ihren Folgen für die Textrezeption. Wenngleich die einzelnen Regeln für sich jeweils Sinn machen mögen, ist ihr Zusammenhang als "Grammatik" alles andere als klar. Ich gehe deshalb nicht weiter darauf ein.
20 Nystrand hat in einigen Fallstudien bzw. kleineren Untersuchungen seine Auffassung des Schreibens als Prozeß der Reziprozitätsherstellung und -Sicherung zu validieren versucht. Sowohl unter diesen empirischen als auch unter theoretischen Gesichtspunkten erscheint sein Konzept bislang allerdings mehr als Programm denn als ausgearbeitete Theorie. Ein Grund dafür liegt sicher darin, daß Nystrand sein "Modell" des Schreibens in enger Anlehnung an Konzepte des soziologischen Interaktionismus (insbesondere der Ethnomethodologie und der formalen Konversationsanalyse) entwickelt, die primär für die Beschreibung und Erklärung von Verständigungsprozessen in unmittelbarer face-to-face-Interaktion formuliert worden sind. Dabei versäumt er jedoch zu klären, worin genau das Spezifische der beinrSchreiben zu bewältigenden interaktiven Aufgaben und der Mittel und Verfahren ihrer Bewältigung besteht. Textvermittelte Kommunikation - hier hat Nystrand recht - zeichnet sich gegenüber Formen unmittelbar mündlichen Sprachgebrauchs durch einen Mangel an wechselseitiger Kontrolle des Kommunikationsvorganges aus. Zwar ist Verständigung - wie Nystrand unterstellt - wohl nur selten ihr Ziel, sondern eher Mittel zum Zweck, immerhin ist sie aber in besonderer Weise auf Formen der Verständnisherstellung und -Sicherung angewiesen. Umstritten und klärungsbedürftig ist deshalb weniger die Frage, ob Aktivitäten der Reziprozitätsherstellung in den Prozeß der Textproduktion inkorporiert sind, sondern das Problem, wie die spezifischen Formen und Funktionen dieser Aktivitäten im Schreibprozeß aufzuschlüsseln sind. Gerade diese Frage aber läßt Nystrand offen.
3. Schreiben als Handlung - Der Rahmen der Untersuchung
Die knappe Skizze der wichtigsten Modelle des Schreibens hat gezeigt, daß jedes Modell den Schreibprozeß in einer spezifisch akzentuierten Weise modelliert. Zumeist werden zwar mehrere Aspekte des Schreibens berücksichtigt, schwerpunktmäßig dominiert jedoch ein Aspekt das jeweils entwickelte Modell: die kognitive Verarbeitung (Hayes/Flower), die Integration von Fähigkeiten (Bereiter), die Parallelität konzeptueller und sprachlicher Funktionsebenen (de Beaugrande) oder die sozial-interaktiven Notwendigkeiten der Verständnissicherung (Nystrand). Diese "Aspekte" sind zum einen essentielle Dimensionen des Gegenstandes selbst: Schreiben ist ein komplexer Prozeß, für den kognitive, sprachliche und sozial-kommunikative Faktoren gleichermaßen eine Rolle spielen. Zum anderen spiegeln sich in den jeweiligen Akzentuierungen der Modelle auch die theoretischen Perspektiven und praktischen Interessen der Disziplinen, vor deren Hintergrund der Gegenstand thematisch wird. Hierin liegt eine Erklärung für die Dominanz des kognitiven Paradigmas in der bisherigen Schreibprozeßforschung: Die praktisch-pädagogischen Notwendigkeiten der Verbesserung von Schreibfertigkeiten fanden in den von der Kognitionspsychologie adaptierten und ausgearbeiteten Konzepten menschlichen Informationsverarbeitens und Problemlösens gleichsam den Humus, auf dem sich eine Theorie des Schreibprozesses entwickeln und gedeihen konnte.1 Die Auffassung des Schreibens als Prozeß der problemlösenden Informationsverarbeitung und die daraus resultierende Beschränkung auf seine kognitiven Anforderungen und Prozeßeigenschaften ist aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst einmal deshalb, weil sie ein dem Schreibprozeß inhärentes, spezifisches Merkmal weitgehend vernachlässigt und damit Schreiben dem sprachwissenschaftlichen Zugriff entzieht: daß nämlich Schreiben die Produktion von sprachlichen Äußerungen bzw. von Texten ist. Das Ergebnis des Schreibens, der Text, tritt hier quasi hinter die mentalen Prozesse seiner Produktion zurück, die wiederum nur über die speziellen theoretischen Annahmen und experimentellen Verfahren der Kognitionspsychologie empirisch greifbar werden (vgl. de Beaugrande/Dressler 1981; Antos 1984). Diese sprach- und textunabhängige Konzeption von Prozessen der Textproduktion (und auch der Textrezeption) führt zum einen dazu, daß kognitive Modelle des Schreibens relativ unspezifisch bleiben. So lassen sich Komponenten wie "Planen" oder Subprozesse wie "Ziel Die Betonung liegt hier auf "Prozeß". Damit soll nicht behauptet werden, daß eine Modellierung von Schreibprozessen nicht auch im Rahmen anderer Paradigmen oder Disziplinen möglich ist. Die Sprachwissenschaft wäre - um im Bild zu bleiben - nur insofern ein schlechterer Nährboden gewesen, als sie sich, zumindest in ihrem Kern, mit Stniktureigenschaften (von Sprache) beschäftigt und Fragen der prozessuralen Verarbeitung in Rand- oder Nachbardiszplinen verhandeln läßt.
22 setzen" auch als Elemente etwa eines Modells des Lesens, 2 des mündlichen Erzählens oder anderer sprachlicher Tätigkeiten postulieren - sie sind mithin relativ universale Merkmale vieler sprachlicher (und auch nicht-sprachlicher) Prozesse. Zum anderen hat die Vernachlässigung der sprachlichen Dimensionen des Schreibprozesses zur Konsequenz, daß ausgerechnet der Problembereich, der für eine Theorie der Textproduktion von besonderem Interesse ist, theoretisch und in der Folge auch empirisch aus dem Blick gerät: der Zusammenhang nämlich zwischen intern-mentalen Prozessen einerseits und sprachlichen Strukturformen andererseits. Deutlich wird dies etwa daran, daß das Modell von Hayes/Flower gerade dort ausgesprochen lakonisch wird, wo es um die Explikation dieses Zusammenhanges geht - bei der "Übersetzung" von kognitiven Schreibplänen in die sprachlichen Strukturen eines Textes. Ein zweites Problem des kognitiven Ansatzes betrifft die interne Konzeption der dem Schreibprozeß vorgeordneten Aufgabenumgebung, des Schreibprozesses selbst sowie des Zusammenhangs beider Komponenten. Insbesondere die Konzeption von Hayes/Flower ist in hohem Maße Ansätzen der Problemlösetheorie (z.B. Newell/Simon 1972) verpflichtet; immer wieder wird darauf hingewiesen, daß Schreiben ein Prozeß der Problemlösung sei (Flower/Hayes 1977). Unklar bleibt dabei jedoch zumeist, was das Problem des Schreibens eigentlich ist. Zwei Verständnisvarianten bietet das Modell von Hayes/Flower: Einerseits kann als "Problem" die Konstellation von Weltzuständen aufgefaßt werden, auf die mit Schreiben reagiert wird. Das "Problem" oder die kognitiven Anforderungen des Schreibens wären in dieser Perspektive in der "Aufgabenumgebung" zu situieren, in die der Schreibprozeß eingebettet ist und für die er eine Lösung ist. Zum anderen kann aber auch die Organisation des Schreibens selbst als das Problem verstanden werden, das Schreiber zu lösen haben. Schreiben wäre hier ein gleichsam unabhängig von externen Zielen zu definierendes, problemlösendes Verhalten sui generis. Definiert man einen Problemlöseprozeß dadurch, daß die Überführung eines Anfangszustandes in einen Lösungszustand nicht oder nicht unmittelbar gelingt, dann zeigt sich allerdings, daß weder die eine noch die andere Interpretationsmöglichkeit den Schreibprozeß zutreffend charakterisiert. Denn nicht alle Weltkonstellationen, die mit der Aktivität des Schreibens verändert werden sollen, sind in diesem Sinne "Probleme". Vergleicht man etwa Aufgabenkonstellationen wie die Aufrechterhaltung von Bekanntschaft durch eine Urlaubskarte oder das Schreiben einer Auftragsbestätigung im Rahmen betrieblicher Abläufe mit dem Problem des Erwerbs einer akademischen Qualifikation durch eine Dissertation oder der Sicherung des
2
Vgl. hierzu ausführlicher Perfetti/McCutchen (1987). McCutchen (1986) zeigt zudem in einer Untersuchung der Schreibfähigkeiten von Kindern, daß eine nur wissens- und kognitionsbasierte Theorie des Schreibens auch empirisch inadäquat ist. Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung ist, daß die Fähigkeit, sinnvolle und kohärente Texte zu produzieren, entscheidend auch von der Verfügbarkeit sprachlichen Wissens determiniert wird und somit nicht allein von den jeweils zugnindeliegenden Formen und allgemeinen Verarbeitungsprinzipien "inhaltlichen" Wissens bestimmt wird. Zu diesem gesamten Problemkomplex vgl. ausführlich Eigler/Jechle/Merziger/Winter (1990), zu Teilbereichen Jechle (1992) und Winter (1992).
23 Lebensunterhaltes durch professionelle Schriftstellerei, dann ist zumindest nach der Schwere zu differenzieren, in der sich ein Problem stellt und für den Schreibprozeß wirksam wird. Ohne Zweifel besteht zwischen dem Typ der mit Schreiben zu lösenden sozial-kommunikativen Aufgabe und Strukturen des Schreibprozesses ein Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist aber mit dem Begriff "Problem" zu einseitig und zu deterministisch konzipiert. Denn ob etwas zu einem Problem wird, ist nicht allein von externen, objektiven Weltzuständen abhängig, sondern ebenso von subjektiven Faktoren wie individuellen Fähigkeiten, Einschätzungen oder Zielen. Auch Urlaubspostkarten können insofern zum Problem werden (etwa wenn man besonders originell sein will), oder Romane zur Routine. Auch die interne Organisation des Schreibprozesses muß nicht in jedem Fall und vor allem nicht auf allen Ebenen gleichermaßen Problemlösungscharakter haben. Schon das ebenfalls im kognitiven Paradigma verankerte Schreibmodell Bereiters zeigt, daß entwickeltes Schreiben auf die Integration von Fähigkeiten angewiesen ist, die die automatisierte und deshalb gerade unproblematische Lösung von Aufgaben ermöglichen. Dies gilt im übrigen für Sprachverhalten generell. Die einseitige Konzeption des Schreibens als Problemlösungsverhalten ist insofern schon deshalb inadäquat, weil sie dem Schreiben ein konstitutives Merkmal allgemeinen Sprachverhaltens abspricht. Für dieses ist gerade typisch, daß es weitgehend problemlos verläuft. Bierwisch (1975) hat dies - in anderem Zusammenhang - prägnant formuliert. Es ist im Gegenteil charakteristisch für die Beherrschung einer Sprache, daß Sprecher und Hörer Form und Bedeutung beliebiger Sätze in gewissem Sinn schon kennen, auch wenn sie erstmals auftreten. Man wird also die entsprechenden Prozesse meist als ein weitgehend automatisiertes "Aufgabenlösen" mit bekannten Lösungswegen, nicht als eigentliches Suchen nach der Lösung eines Problems betrachten. (...) Die rein intuitive Unterscheidung von Problemlösen und Aufgabenlösen muß dabei keiner strengen, theoretischen Distinktion entsprechen; eins kann ins andere hinüberspielen, auch im Sprachverhalten. Zu explizieren bleibt, was Automatisierung des Problem- bzw. Aufgabenlösens heißt" (Bierwisch, 1975, 54f.).
Wie läßt sich nun eine (vorläufige) Vorstellung des Schreibens gewinnen, die diesen Schwierigkeiten des kognitiven Ansatzes Rechnung trägt. Präziser: welcher begriffliche Rahmen ist geeignet, - um Schreiben als (auch) sprachkonstituierten Prozeß explizieren zu können und ihn damit einer linguistischen Analyse zugänglich zu machen? - zwischen sozial-kommunikativen Aufgaben und internen Organisationsprinzipien des Schreibens so zu differenzieren, daß ihr Zusammenhang in einer nicht deterministischen Weise, d.h. unter Berücksichtigung der Verschiedenartigkeit von Aufgaben/Problemen, der Vielfältigkeit von Schreibprozessen und der darin involvierten Aktivitäten sowie der Wirksamkeit von Faktoren wie Routinen, individuellen Kenntnissen, Fähigkeiten, Strategien usw., hergestellt werden kann?
24 Eine naheliegende Möglichkeit besteht darin, Schreiben in handlungstheoretischer Perspektive zu konzeptualisieren. In der Betrachtung des Schreibprozesses als (komplexer) Handlung liegt sowohl eine systematische Alternative als auch eine Erweiterung des kognitiven Ansatzes. Dies soll im folgenden näher begründet werden. Dabei werden wir zweigleisig vorgehen. Zunächst werden allgemeine Vorstellungen einer handlungsorientierten Konzeption des Schreibens entwickelt und dabei zugleich einige Begriffe eingeführt, die das hier zugrundeliegende Verständnis von "Handlung" umreißen. Zur Erleichterung - und vor allem, um ausufernden theoretischen Erläuterungen aus dem Wege zu gehen soll dies an einem Beispiel geschehen.3 Auf dieser Basis sollen anschließend und mehr theoretisch die Vorteile eines handlungsfundierten Explikationsrahmens für die Analyse von Schreibprozessen diskutiert werden.
3.1. Textproduktives Handeln: Einige Grundbegriffe Stellen wir uns eine Person A vor, die nach Rom reisen möchte.4 Sie hat damit eine bestimmte Intention, der wiederum bestimmte persönliche Motive zugrundeliegen, etwa das Bedürfnis nach Erholung, Bildung oder Unterhaltung. A weiß, daß Rom eine relativ weit entfernte Stadt ist und daß es insofern einer ganzen Reihe von Handlungen bedarf, um nach Rom zu gelangen. Alle diese Handlungen haben letztlich zum Ziel, daß A Rom erreicht, und bilden die Voraussetzungen, um den Zweck der Reise (die Befriedigung von Bildungs- oder Unterhaltungbedürfnissen) zu realisieren. A's Plan5, nach Rom zu reisen, läßt sich als eine sehr globale Repräsentation seiner o.g. Motive, Ziele, Zwecke und Mittel ihrer Realisierung auffassen. Dieser Plan repräsentiert gleichsam die Gesamthandlung "Reise nach Rom", ihre Voraussetzungen, Realisierungsmittel und Konsequenzen, in einer sehr groben Form. Einige Komponenten der Gesamthandlung mögen dabei detaillierter repräsentiert sein als andere (z.B. wie man eine Reise bucht oder wie man am schnellsten nach Rom kommt); meist enthält der Plan auch bereits eine Vorstellung über den globalen Ablauf der Handlung bzw. Detaillierungen von Teilhandlungen. A wird etwa wissen, daß man zuerst seine Koffer packt und dann Grundlegend für die (sprachwissenschaftliche) Handlungstheorie ist nach wie vor Rehbein (1977), auf dessen allgemeine Konzeption wir uns hier beziehen. Ein knapper Uberblick über die wichtigsten handlungstheoretischen Ansätze findet sich in Rehbein (1979). Daß die Befürchtung ausufernder Diskussionen nicht ganz unberechtigt ist, zeigen z.B. die Reaktionen auf den Aufsatz von Holly/Kühn/Püschel (1984) in der Zeitschrift für Germanistische Linguistik (ZGL). Die verschiedenen Beiträge und Repliken (vgl. ZGL 12, 13 und 15) haben zumindest eines geklärt: daß im Bereich der (sprachwissenschaftlichen) Handlungstheorie noch einiges ungeklärt ist. Das Beispiel der "Reise nach Rom" ist nicht ganz zufällig gewählt. Wenn pragmatisch orientierte Linguisten mit Beispielen operieren, dann taucht "Italien" als offenbar geheime und gemeinsame Sehnsucht immer wieder auf. So z.B. bei van Dijk/Kintsch (1983), die insofern auch der "Toskana-Fraktion" zuzurechnen sind. Zum Begriff des Plans vgl. nach wie vor Miller/Galanter/Pribram (1973).
25 abreist (und nicht umgekehrt). Er wird manche Teilhandlungen gar nicht erst planen, weil er über detaillierte Routinekenntnisse ihres Ablaufes verfügt (z.B. das Telefonieren mit dem Reisebüro). Auf der Grundlage eines solchen Planes wird A nun versuchen, sein Ziel optimal zu erreichen. Er wird also bestimmte Strategien wählen, die ihm geeignet erscheinen, sein Ziel mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und in einer seinen Präferenzen entsprechenden Weise zu realisieren. Denn viele Wege führen nach Rom; sie unterscheiden sich etwa durch ihre Kosten, ihre Geschwindigkeit oder ihre Bequemlichkeit. Eine spezifische Präferenz oder Restriktion, wie z.B. die, billig zu reisen, weil nur wenig Geld für die Reise zur Verfügung steht, wird deshalb zur Wahl anderer Handlungsstrategien führen als andere Präferenzen (z.B. möglichst schnell). Strategien bestimmen deshalb entscheidend über die weitere Ausformung von Plänen bzw. über Handlungsstrukturen mit, denn sie repräsentieren die Entscheidungen über den optimalen Einsatz der Mittel zur Handlungsrealisierung (vgl. van Dijk/Kintsch (1983)). Nehmen wir an, A möchte billig und bequem reisen und wählt deshalb die Bahn. Aufgrund dieser strategischen Entscheidung ist es ihm nun möglich, seinen globalen Plan zu konkretisieren, d.h. die komplexe Handlung "nach Rom reisen" in Teilhandlungen mit entsprechenden Subplänen, Subzielen und Handlungsmitteln zu gliedern. Subpläne repräsentieren die Komponenten von Teilhandlungen mit ihren jeweils spezifischen Ausgangsbedingungen, Realisierungsmitteln und Teilzielen und z.T. auch die Beziehungen von Teilhandlungen untereinander. Auch hier spielen Strategien eine Rolle, die sich auf die optimale Realisierung von Teilzielen richten. So sind etwa die Teilhandlungen "Fahrkarte kaufen" und "Hotel buchen" in verschiedener Weise durchführbar - etwa telefonisch oder vermittels eines Reisebüros. Subpläne unterscheiden sich insofern von globalen Plänen, als sie konkretisierte Repräsentationen teilzielbezogener Handlungskomponenten enthalten. Zudem stehen sie oft im Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit untereinander: ein Subziel bildet die Voraussetzung zur Realisierung des nächsten usw. Aufgrund dieser Tatsache ist für komplexe Handlungen auch die Integration von Phasen der Planung und der (Teil)handlungsrealisierung charakteristisch. Der Gesamtplan wird mithin nicht in einer Handlung ausgeführt, sondern über mehrere Teilhandlungen, deren erfolgreiche Realisierung darüber entscheidet, ob der Gesamthandlungsplan insgesamt realisiert werden kann, eventuell Änderungen notwendig werden u.ä. Auch für die Produktion von Texten gelten die o.g. allgemeinen Bedingungen komplexen Handelns. Sie sind allerdings um drei wesentliche zusätzliche Merkmale zu ergänzen: - die Handlung des Schreibens ist Bestandteil einer insgesamt sozial interaktiven Handlung; - diese sozial interaktive Handlung ist in ihrem Kern kommunikativ; d.h. sie bedient sich vor allem sprachlicher Mittel der Handlungsrealisierung; - Schreiben ist schließlich nur mittelbar kommunikativ; es findet unter der besonderen Bedingung der zeitlichen und örtlichen Trennung von Textprodu-
26 zenten und Textrezipienten statt, deren Handlungsbeziehung deshalb über Texte vermittelt ist. Die besonderen Merkmale textproduktiven Handelns sind vor allem deshalb erwähnenswert, weil durch sie die besondere Bedeutung des Textherstellungsprozesses für den Gesamthandlungsprozeß plausibel wird. Aufgrund dieser Bedingungen gewinnt nämlich der Textherstellungsprozeß ein eigenes und gegenüber anderen Formen der sozialen Interaktion besonderes Gewicht. Denn für den Textproduzenten ist er die einzige Möglichkeit, die intendierte Gesamthandlung zu organisieren und zu steuern. Texte entfalten, sobald ihre Produktion abgeschlossen ist, eine Eigendynamik, die von ihrem Produzenten nicht mehr kontrolliert oder gar revidiert werden kann. Aufgrund dieser Tatsache wird verständlich, warum der Textherstellungsprozeß in besonderer Weise der Planung und der Organisation bedarf. Er bildet gleichsam den neuralgischen Punkt der Gesamthandlung, an dem über ihr Scheitern oder ihr Gelingen entschieden wird. Betrachtet man Pläne als Repräsentationen der Intentionen, Ziele und Mittel einer Gesamthandlung, dann lassen sich Textherstellungsprozesse bereits als Resultate einer spezifischen Strategiewahl auffassen (vgl. van Dijk/Kintsch 1983; Herrmann/Hoppe-Graf 1989). Denn Texte sind oft fakultative Mittel der Handlungsrealisation; in vielen Fällen ist deshalb textvermitteltes Handeln nur eine Möglichkeit unter anderen. So hat man häufig etwa die Wahl, eine Beschwerde schriftlich oder telefonisch vorzubringen, seine Liebe per Liebesbrief oder durch Blumen zu zeigen, Kontakte brieflich oder durch Besuche aufrechtzuerhalten. Allerdings existiert auch eine Vielzahl gesellschaftlich prädeterminierter Ziel-Mittel-Relationen, die strategischen Entscheidungen nicht unterliegen. So muß man manche Einwendungen schriftlich vorlegen (bei Behörden), vertragliche Absprachen schriftlich fixieren oder auch bestimmte Leistungen schriftlich erbringen (Prüfungen). Strategische Entscheidungen werden in diesen Fällen durch konventionalisierte und auf bestimmte gesellschaftliche Zwecke bezogene Muster des Handelns substituiert. Solche Zwecke bestehen etwa darin, daß manche Handlungen überprüft und dokumentiert oder Handlungsabläufe kontrollierbar und reproduzierbar sein müssen. Muster regeln dabei nicht nur die allgemeinen Formen der Handlungsplanung, sondern stellen zumeist detaillierte Strukturformen der Handlungsrealisation bereit (Textmuster, Formulare u.ä.). Was muß nun ein Schreiber tun, wenn er sich entschlossen hat, eine geplante Handlung vermittels eines Textes zu realisieren? Nehmen wir als Beispiel die schon erwähnte "Reise nach Rom". A sei von seiner Reise zurückgekehrt und hat nun beschlossen, einem Freund in einem Brief von seinen Eindrücken und Erfahrungen zu berichten. Er verfügt damit bereits über einen globalen Plan für seine Handlung. Da sich dieser Plan auf eine sprachliche Handlung bezieht, können wir ihn, im Unterschied zu allgemeinen Handlungsplänen, als Diskursplan bezeichnen. Innerhalb des Diskursplanes ist der Prozeß der Textherstellung die zentrale Teilhandlung, für die A nun, in Abhängigkeit von den übergeordneten Zielen seines Diskursplanes, spezifische Subpläne und Teilaktivitäten realisieren muß.
27 Er wird mithin einen Schreibhandlungsplan erstellen, der mindestens fünf zentrale Teilaktivitäten enthalten muß, damit aus der Idee eines Textes, dem Textplan, ein Text wird. - A wird zuerst Vorstellungen darüber entwickeln, was er von seiner Reise berichten will. Er muß mithin sein Wissen über seine Reise nach Rom aktualisieren, die als zentrales Thema des Briefes fungieren soll. Dieses Thema wird dabei thematische Subkomplexe umfassen, die in A's Gedächtnis als zusammengehörig, besonders interessant oder relevant gespeichert sind (z.B. Probleme der Anreise; Museen). - A wird sodann diese Vorstellungen in irgendeiner Weise ordnen; er wird einige der Vorstellungen, die ihm zu seiner Reise einfallen, besonders betonen, andere gar nicht erwähnen; er wird planen, in welcher Abfolge er seine Vorstellungen darstellt. So kann er etwa den Verlauf seiner Reise chronologisch schildern oder auch nach bestimmten systematischen Gesichtspunkten (z.B. "das antike Rom"- "das moderne Rom" ; "positive Eindrücke" vs. "negative Eindrücke"). A wird - mit anderen Worten - seine konzeptionellen Vorstellungen schematisieren, d.h. sie in einer seinen Zielen entsprechenden Abfolge bzw. Ordnung darstellen. Die an Zielen orientierte Aktualisierung und Organisation dieses "Wissens über die Romreise" ( = deklaratives Wissen) können wir als Aktivitäten der Makroplanung zusammenfassen, über die globale thematische Strukturen des geplanten Textes festgelegt werden. - A wird seine so geordneten Vorstellungen dann sukzessive versprachlichen. Ihm werden dabei bestimmte sprachliche Formulierungen für die auszudrückenden Sachverhalte einfallen; d.h. er wird einige, ihm geläufige und für persönliche Briefe konventionell vorgegebene sprachliche Formeln benutzen und diese ohne große Überlegung niederschreiben (Anrede, Gruß); er wird aber auch beim Formulieren überlegen, indem er aus mehreren möglichen Formulierungsvarianten eine besonders treffende oder witzige auswählt, andere verwirft usw. - A wird seine zunächst gedanklichen Repräsentationen dessen, was er schreiben will (die Formulierungen) dann niederschreiben (inskribieren). Dieser Prozeß der Inskription gehört für einen kompetenten Schreiber wie A zu den unproblematischsten Teilaufgaben, die nur ausnahmsweise besonderer Anstrengungen bedürfen. A wird sich etwa bemühen, lesbar oder "schön" zu schreiben (falls er per Hand schreibt), oder orthographische Zweifelsfälle durch Nachschlagen klären. - A wird während des Planens, Formulierens und Inskribierens überprüfen, ob der Brief seinen Vorstellungen und den allgemeinen Anforderungen an persönliche Briefe entspricht; er wird schon während der "Vorarbeiten" manches revidiert haben, auf korrekte Rechtschreibung achten und sie im Zweifelsfall korrigieren, und zum Schluß den Brief noch einmal lesen, um evtl. Vergessenes einzufügen oder Überflüssiges zu streichen.
28 Die hier genannten Aktivitäten der Makroplanung (der Erzeugung und der Organisation von Wissen), der Formulierung,6 Inskription und Überprüfung vollziehen sich natürlich weder gänzlich isoliert voneinander noch werden sie unbedingt in dieser Reihenfolge realisiert. Ebenso, wie davon auszugehen ist, daß etwa auch während des Formulierungsprozesses neue thematische Komplexe erzeugt werden, können auch Teile des Planungsprozesses sprachlich materiell werden (etwa in Form von Stichworten/Notizen). Dies mag zwar für das Schreiben eines persönlichen Briefes weniger gelten, für komplexe Textherstellungsprozesse wie etwa das Schreiben eines Aufsatzes oder Buches ist es hingegen wohl der Normalfall (vgl. Molitor 1985, 1987). Insofern folgen die hier beschriebenen Aktivitätskomplexe nicht im strikten zeitlichen Sinne aufeinander, sondern sie bilden allgemeine Orientierungen für die Organisation globaler Handlungsphasen.
Abb .3.1.:
6
Die sozial-kommunikative Funktion und Einbettung des Schreibprozesses
Unter dem Aspekt der Steuerung des Textproduktionsprozesses durch kognitive Schemata fassen Herrmann/Kilian/Dittrich/Dreyer (1992) diese drei grundlegenden Stadien als "WAS"und "WIE-Schemata" zusammen.
29 Die bislang entwickelten allgemeinen Vorstellungen einer sprachhandlungsorientierten Konzeption des Schreibens sind in Abb. 3.1. noch einmal zusammenfassend dargestellt. Das Schema ist kein Modell des Schreibens, sondern soll die Komplexität des Prozesses verdeutlichen, in dem sich die Transformation einer intendierten Handlungsbeziehung (zwischen Aktant 1 und Aktant 2) in eine textvermittelte Kommunikationsbeziehung (zwischen Autor und Rezipient(en)) vollzieht. Der Schreibprozeß - um den es im folgenden gehen soll - ist der Teilhandlungskomplex, durch den diese Transformation vollzogen wird.
3.2. Theoretische und methodische Argumente für eine handlungsfundierte Theorie des Schreibens Die bisherigen Ausführungen mögen gezeigt haben, daß für die Wahl eines handlungstheoretisch fundierten Explikationsrahmens zunächst praktische Gründe sprechen. Unter praktischen Gesichtspunkten bietet er sich an, weil eine Konzeption menschlichen Verhaltens als Handeln dem natürlich-alltäglichen Verständnis relativ nahe ist und insofern leichter plausibel gemacht werden kann. Das alltägliche Verständnis operiert selbstverständlich mit Termini wie Ziel, Plan oder Zweck (einer Handlung), Begriffen also, die dem handlungstheoretischen Vokabular angehören und die zudem im Bereich der (pragmatischen) Linguistik eingeführt sind. Diesem praktischen Argument läßt sich ein formales unmittelbar anschließen. Denn unter dem Aspekt der Konsistenz und Stilreinheit einer Theoriesprache läßt sich nur im handlungstheoretischen Begriffsrahmen von Zielen, Plänen usw. stilrein sprechen.7 Informationsverarbeitende Systeme haben insofern keine Intentionen, Ziele oder Pläne, sie können höchstens Informationsstrukturen oder Verarbeitungsmechanismen enthalten, die in deren Sinn fungieren. Die stilistische Inkompatibilität des informations- und des handlungstheoretischen Vokabulars kennzeichnet insbesondere das Modell von Hayes/Flower, das zwischen den beiden Begrifflichkeiten und Erklärungsvarianten changiert und insofern im unklaren läßt, ob der Schreibprozeß als intentionales Handeln oder als informations- bzw. problemverarbeitendes System konzipiert ist. Diese Vermischung zweier "Semantiken" muß dabei nicht einmal die Natur der gemeinten Sachverhalte tangieren; sie lassen sich - wenn auch mit unterschiedlicher Perspektivik - in beiden Theoriesprachen darstellen. Die formal begründete Entscheidung für eine Semantik trägt jedoch dazu bei, daß unnötige Sprachverwirrungen und Verständnisschwierigkeiten vermieden werden.8 Vgl. zu diesem Aspekt die ausführlichere Diskussion in Herrmann (1985). Herrmann entscheidet sich im übrigen aus nachvollziehbaren formalen Gründen für einen informationstheoretischen Rahmen zur Darstellung sprachpsychologischer Problemstellungen. Symptomatisch ist hier der schon diskutierte Begriff des "Problems". Ahnlich mehrdeutig ist auch der Zielbegriff: Er bezieht sich einerseits auf die in der Aufgabenumgebung enthaltenen externen Ziele des Schreibers, oft aber auch auf den Text als Ziel des Schreibens oder bestimmte Ziele innerhalb des Schreibprozesses. Newell/Simon (1972) sind hier präziser: Sie
30 Kommen wir nun zur inhaltlichen Begründung für eine Konzeption des Schreibens als Handlung. Sie betrifft zwei Aspekte: die Einbettung des Schreibens in und seine Funktionen für übergeordnete Handlungszusammenhänge und die interne Organisation des Schreibprozesses selbst. In handlungstheoretischer Perspektive läßt sich Schreiben als eine auf spezifische Zwecke sozialen Handelns bezogene Teilhandlung auffassen. Schreiben ist - im Normalfall - kein Selbstzweck, sondern Bestandteil des Vollzuges sozialkommunikativer Handlungen mit bestimmten Voraussetzungen, Funktionen und Konsequenzen. Wer schreibt, produziert Texte, die gelesen werden sollen, deren Lektüre bei Rezipienten etwas bewirken soll, mit denen mithin pragmatischkommunikative Ziele realisiert werden sollen. Obwohl es sich normalerweise isoliert und "monologisch" vollzieht, ist Schreiben Bestandteil einer sozialen Interaktion. Dies nicht nur in dem eingeschränkten Sinne, daß mit Schreiben soziale Verständigung hergestellt werden soll (Nystrand); schriftliche Kommunikation ist vielmehr eingebettet in einen gesellschaftlichen Zweck- und Aufgabenzusammenhang, der sich im Verlauf der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung herausgebildet und differenziert hat. In einem sehr allgemeinen Sinne läßt sich dieser Zusammenhang als Notwendigkeit und Aufgabe der sprachlichen Überlieferung bestimmen. 9 Vehikel dieser Überlieferung sind schriftliche Äußerungen oder Texte. Schriftliche Äußerungen oder Texte sind insofern nicht nur Produkte kognitiver Prozesse, sondern Elemente des Vollzuges spezifischer sozial-kommunikativer Handlungen: des Teilbereichs sprachlicher Handlungen nämlich, der aus dem Bereich unmittelbaren sozialen Handelns herausgelöst und auf räumlich und zeitlich getrennte Kommunikationssituationen bezogen ist. Schreiben kann entsprechend als die Handlung bestimmt werden, mit der sprachliche Äußerungen im Hinblick auf ihre Überlieferbarkeit produziert werden. Die für schriftliche Kommunikation konstitutive, zeitliche und räumliche Teilung von Handlungssituation und -realisierung führt dabei gleichsam zu einer "Umleitung" der für die sozial-kommunikativen Aufgaben der Handlung zu erfüllenden Anforderungen auf die jeweiligen Seiten der Handlungsbeteiligten. Für den Schreiber (und auch für den Rezipienten) stellt sich das Problem des Handlungsvollzuges als Problem der Produktion (bzw. der Rezeption) eines Textes. Für den Prozeß der Textproduktion lassen sich dabei analytisch zwei Aufgabenkomplexe differenzieren: - Im Prozeß der Textproduktion müssen sprachliche Äußerungen aus dem Zusammenhang der unmittelbaren Situation ihrer Entstehung herausgelöst werden. Texte richten sich nicht an einen unmittelbaren "Hörer", sondern an eine zumeist anonyme Menge zukünftiger "Leser", die sich dadurch auszeichnen, daß sie über eine Vielzahl der in unmittelbaren Kommunikationssituationen wirksamen Möglichkeiten der Handlungsbeteiligung und -kontrolle nicht verfügen. Die Bedeutung textueller Äußerungen muß insofern von Seiten des Textproduzenten durch die Loslösung von der Situation ihrer Entsprechen von zielähnlichen Strukturen ("goal-like structures", 806ff.) informationsverarbeitender Systeme bzw. problemlösender Programme. Ich beziehe mich hier auf den Textbegriff, den Ehlich (1983) vorgeschlagen hat, ohne auf Einzelheiten seiner Argumentation einzugehen.
31 stehung gesichert werden. Nur durch eine derartige Abstraktion von konkreten Situationen der Entstehung ist die allgemeine und repetitive Möglichkeit der Rezeption von Texten gewährleistet. - Zugleich müssen schriftliche Textäußerungen auf zukünftige, nicht unmittelbar interaktiv organisierte Kommunikationssituationen zugeschnitten werden. Nur hierdurch kann der Textproduzent die Induzierung einer textgesteuerten Rezeption und die Realisierung der mit Textäußerungen verbundenen kommunikativen Intentionen sichern.
Wenn von Herauslösung bzw. Einbettung sprachlicher Äußerungen die Rede ist, dann ist dies nicht im Sinne einer nachträglichen Transformation vorliegender, "umgangssprachlicher" Äußerungen zu verstehen. Gemeint ist vielmehr, daß der Prozeß der Äußerungsproduktion insgesamt und auf allen Ebenen von diesen Aufgaben affiziert wird; d.h., von der Bildung von Handlungszielen und der Planung des Schreibprozesses über die Formulierung sprachlicher Äußerungen bis hin zu ihrer Niederschrift und Überprüfung sind diese beiden zentralen Aufgabenaspekte handlungswirksam. Die interne Organisation des Schreibens als Zusammenhang spezifischer Komponenten oder Handlungsebenen kann deshalb geradezu als Form aufgefaßt werden, in der sich die Bearbeitung struktureller Aufgaben sukzessive, d.h. als Folge "spezialisierter" Teilhandlungskomplexe, vollzieht. Betrachtet man Schreiben als selbst komplexen Teil einer spezifisch kommunikativen Aufgabe, dann ist der Schreibprozeß auch unter Bezug auf die in ihn involvierten, konventionell vorgegebenen und mehr oder weniger verbindlichen Handlungsmittel zu analysieren. Wer schreibt, ist z.B. auf den Gebrauch des konventionellen Inventars der Schriftzeichen angewiesen: des Systems also, in dem die Überlieferbarkeit sprachlicher Äußerungen materiell geworden ist (Ehlich 1983). Wer formuliert, tut dies in den (weitgehend) konventionell gesicherten Formen der Schriftsprache. Wer bestimmte Ziele verfolgt oder einen Text plant, kann sich an vorliegenden Texten oder Textmustern orientieren, die erprobte, sozial erwünschte oder anerkannte Möglichkeiten der Aufgabenlösung bereitstellen. Kurz: Schreiben ist, obwohl es sich isoliert und "monologisch" vollzieht, kein individueller Akt der "Erfindung", sondern auch Handeln in den Formen einer literarisierten Gesellschaft, die dem Individuum Handlungsmöglichkeiten in Form der ihr eigenen literalen Regeln und Gebräuche vorgibt. Für unseren Zusammenhang entscheidender noch ist die Tatsache, daß die Konzeption des Schreibens als komplexe sprachliche Handlung eine theoretisch und empirisch adäquatere Modellierung des Zusammenhanges mentaler, sprachlicher und auch aktionaler Prozesse erlaubt, als dies in kognitiven Modellen der Fall ist. Faßt man (sprachliche) Handlungen (in einem nicht-behaviouristischen Sinne) als Einheiten auf, die sowohl eine intern-mentale als auch eine externaktionale Dimension haben, dann läßt sich der Schreibhandlungsprozeß in doppelter Richtung analysieren: zum einen als Folge von Makrohandlungen wie Planen, Formulieren, Überprüfen usw., zum anderen aber auch im Hinblick auf die jeweiligen Strukturformen des Handelns innerhalb solcher Makrohandlun-
32 gen. Im Gegensatz zu kognitiven Modellen, die den Schreibprozeß zwar als rekursiven, im Prinzip aber von "innen" (mental) nach "außen" (sprachlich) gerichteten Prozeß konzeptualisieren, erlaubt der Begriff der komplexen Handlung die Explikation der mental-internen und sprachlich-externen Dimensionen von Handlungen auch innerhalb einzelner Makrostufen. So erscheint "Planen" nicht mehr nur als mentale Voraussetzung nachfolgender sprachlicher Aktivitäten, sondern kann selbst hinsichtlich der Beteiligung sprachlicher oder aktionaler Teilaktivitäten analysiert werden. Gleiches gilt etwa für Formulierungshandlungen. Formulieren "folgt" als Makrohandlung einerseits dem Planungsprozeß, andererseits kann Formulieren auch als selbst komplexe Hierarchie mentaler, sprachlicher und eventuell aktionaler Teilhandlungen verstanden werden. Sicherlich ist davon auszugehen, daß für bestimmte Makrohandlungen spezifische Teilhandlungen konstitutiv, andere fakultativ sind; nicht auf allen Makrostufen werden mithin die verschiedenen mentalen oder sprachlichen Dimensionen des Handelns in quantitativ oder qualitativ gleicher Weise realisiert: "Planen" ist insofern "eher" eine mentale Handlung als etwa das Niederschreiben einer Formulierung, die lediglich in orthographischen Zweifelsfällen mentale "Planung" erfordert. Auch dürfte die Art der Organisation einzelner Teilhandlungen auf den verschiedenen Prozeßstufen in starkem Maße von Faktoren wie der Komplexität der Aufgabe oder individuellen Strategien bestimmt sein. Entscheidend ist jedoch, daß auch die Aktivität des Planens nicht nur die Voraussetzung anderer Handlungen bildet, sondern selbst Elemente anderer Handlungsstufen enthält bzw. enthalten kann, die die sprachliche oder auch motorische Dimension des Planungsprozesses ausmachen. Nur so ist zu erklären, daß Planen selbst materiell werden kann: in Form von Notaten, Stichworten oder Konzepten, die als Produkte von Planungshandlungen selbst wieder in den Schreibprozeß eingehen. Die hier skizzierte, doppelte Perspektive auf den Schreibprozeß als Folge von (Makro-)Handlungen und als Hierarchie von Teilhandlungen ist in Abb. 3.2. dargestellt. Durchaus im Einklang mit den vorliegenden Modellvorstellungen werden dabei zunächst vier für den Schreibprozeß konstitutive Makrostufen angenommen, die als Handlungsstadien bezeichnet werden sollen: Planen, Formulieren, Inskribieren und Überprüfen. In allen Handlungsstadien sind Handlungen anderer Stadien als untergeordnete Teilhandlungen möglich. Diese bilden gleichsam verschiedene Ebenen, auf denen die jeweiligen Makrohandlungen realisiert werden (können) und analytisch in unterschiedlicher Weise greifbar werden. Die Tatsache, daß in verschiedenen Stadien spezifische Realisationsformen prävalent sind, wird durch die Anzahl der jeweils vorhandenden Teilhandlungen (t) angedeutet. Im Planungsstadium treten z.B. häufig Planungshandlungen auf, es können jedoch auch Formulierungs-, Inskriptions- oder Revisionshandlungen auftreten. Im Formulierungsstadium sind, neben Formulierungshandlungen, auch Planungs-, Inskriptions- und Revisionshandlungen möglich. Diese sind dann hinsichtlich ihrer spezifischen Funktionen für das Handlungsstadium zu analysieren, in dem sie auftreten.
33
Handlungsstadien TT
TT
Formulieren TT
TT [
Planen TT TTTTT
Pläne
Formulierungen
I I
TT
ΓΤΤΤΤ L Inskribieren TT
Inskriptionen
ιI I l
TT TT
Revisionen Handlungsebenen
TT
TT
I
TTTTT
Überprüfen TT
TTTTT
1 Texte
Stichwörter/ Konzepte
î t
Zeit
1
Analyserichtungen Abb. 3.2. :
Stadien und Ebenen des Schreibhandlungsprozesses
Das Schema - dies soll hier ausdrücklich erwähnt werden - ist nur in dem (eingeschränkten) Sinn ein "Modell" des Schreibens, als es eine erste und durchaus vorläufige Strukturierung des Untersuchungsfeldes in einer bestimmten theoretischen und methodischen Perspektive bereitstellt: der Perspektive des Schreibens als Handlungsprozeß, der auf allen Ebenen sprachlich (mit)strukturiert sein kann und der insofern einer sprachwissenschaftlichen Analyse zugänglich ist. Von solchen beobachtbaren sprachlichen Aktivitäten hat eine handlungsorientierte Analyse auszugehen. Sie fragt also zunächst danach, was ein Schreiber (sprachlich) tut, um auf der Basis der Beschreibung dieses äußeren Tuns Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der beteiligten intern-mentalen Handlungskomponenten zu gewinnen. Das Prinzip der Analyse "von außen nach innen" gilt dabei sowohl für die Untersuchung der Handlungsstadien (im Schema also von rechts nach links) als auch für die Rekonstruktion der internen Handlungsorganisation innerhalb einzelner Stadien (im Schema von unten nach oben). Ausgangspunkt der empirischen Untersuchungen wird deshalb zunächst die Phase sein, in der der Schreibprozeß äußerlich wird: das Stadium der Nieder-
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schrift oder Inskription. Von Interesse sollen allerdings weniger motorische10 oder orthographische Aspekte des Schreibens sein, sondern primär temporale. Denn alles Handeln ist Handeln in der Zeit. Jede Handlungsanalyse hat deshalb zunächst die Merkmale zu beschreiben, die den beobachtbaren Handlungsablauf auszeichnen und die auf diese Weise Restriktionen für die Formulierung weitergehender Aussagen liefern. 11 Das allgemeine Ziel dieses Untersuchungskomplexes ist die Klärung der Frage, was ein Schreiber tut, wenn er einen Text niederschreibt. In einem zweiten Schritt wird dann der Formulierungsprozeß genauer betrachtet. Aus bestimmten, später noch näher zu erläuternden Gründen werden wir diese Analyse mit der von Überprüfiingsprozessen (Revisionen) zusammenfassen. Wir werden hier also danach fragen, was ein Schreiber tut, wenn er schriftliche Äußerungen produziert. Schließlich werden wir uns mit Aspekten der globalen Planung von Texten (Makroplanung) beschäftigen: dem Problem also, wie Schreiber Vorstellungen und Strukturformen von Textbedeutungen entwickeln. Was tut ein Schreiber, wenn er einen Text produziert? Die genannten drei Problemkomplexe bilden nicht nur essentielle Dimensionen des Gegenstandes selbst, sie liegen auch auf unterschiedlichen "Tiefenebenen" der methodischen Zugänglichkeit und sind im Rahmen der Schreibforschung in unterschiedlichem Ausmaße thematisiert worden. Die Dominanz des kognitiven Paradigmas hat u.a. dazu geführt, daß das Problem der Planung bisher im Vordergrund des Interesses gestanden hat, Aspekte des Realzeitverlaufes und des Formulierungsprozesses hingegen vernachlässigt wurden. Dies hat zum einen wesentlich zu der bereits erwähnten Unspezifität der kognitiven Modelle des Schreibens beigetragen, weist aber zum anderen auch auf methodische Restriktionen hin, die sich aus bestimmten theoretischen Modellierungen meist implizit - ergeben. Um dem vorzubeugen, ist es sinnvoll, den Zusammenhang des hier skizzierten begrifflichen Rahmens mit dem für die empirische Analyse verwendeten methodischen Instrumentarium näher zu erläutern.
3.3. Probleme und Prinzipien der empirischen Analyse Die bislang angeführten Argumente für einen handlungstheoretisch fundierten begrifflichen Rahmen zur Explikation von Schreibprozessen zielten vor allem auf eine Problematisierung der Dichotomie von mentalen und (nachgeordneten) sprachlichen Prozessen, die die kognitiven Schreibprozeßmodelle prägt. Wir haben dafür plädiert, Schreiben insgesamt als komplexe sprachliche Handlung aufzufassen, die auf allen Ebenen und in allen Stadien mehr oder weniger sprachlich strukturiert und deshalb auch einer sprachwissenschaftlichen Analyse 10 11
Vgl. hierzu Wallesch (1983). So auch die Forderung von de Beaugrande:" A viable theory of written meaning should be concieved in terms of how written meaning is processed in real time by humans* (de Beaugrande 1987,22).
35 prinzipiell zugänglich sein kann. " M e h r oder weniger" und "prinzipiell" meint: Prozesse des Schreibens manifestieren sich in mehr als nur in ihren Produkten (Texten); sie haben als Handlungsprozesse nicht nur intern-mentale, sondern oft auch extern-aktionale Dimensionen, an die die Analyse anknüpfen kann. Allerdings steht die Analyse v o r einem besonderen methodischen Problem, das mit der generellen Natur sprachproduktiver Handlungen in Zusammenhang steht. Denn Sprachproduktion beruht auf mentalen Voraussetzungen, die ausgesprochen komplex und methodisch kaum kontrollierbar sind. Aus diesen generellen Schwierigkeiten des methodischen Zuganges läßt sich erklären, warum die Sprachproduktion ein nach wie v o r "vernachlässigtes Teilgebiet der Sprachpsychologie" ist (Herrmann/Hoppe-Graf 1 9 8 9 , 1 4 6 ) und die für sprachpsychologische und psycholinguistische Überlegungen zentralen F r a g e n des Zusammenhanges mentaler und sprachlicher Vorgänge vornehmlich im Rahmen der Analyse von Sprachrezeption behandelt worden sind. W i e s e ( 1 9 8 9 ) faßt die methodischen Unterschiede prägnant zusammen: Ein Grund für diesen Zustand liegt in der Natur des rezeptiven vs. produktiven Sprachverhaltens und ihrer jeweiligen Zugänglichkeit mittels empirisch-experimenteller Verfahren. Gerade da Sprachverstehen eine mentale Reaktion auf einen äußeren Stimulus (die wahrgenommene Äußerung) ist, kann man in der psycholinguistischen Forschung zur mentalen Reaktion parallele Verhaltenseinheiten (Beispiel: auf einen Knopf drücken, wenn man einen Satz verstanden hat) beobachten und weiter auswerten. In der Sprachproduktion ist die Situation gerade umgekehrt: Einem mentalen Ausgangspunkt (einem Gedanken, einer Motivation, einer propositionalen Struktur, was auch immer) entspricht ein sehr komplexes äußeres Verhalten - das Sprechereignis. Aus dieser Äußerung kontrolliert Schlüsse über die Natur der mentalen Tätigkeit zu ziehen, ist schwer, da erstens der "Stimulus" eben der mentale Ausgangspunkt ist, der nicht beobachtbar und kaum experimentell manipulierbar ist, und da zweitens die "Reaktion" nicht von der eher geschätzten simplen Art ist, sondern alle Komplexitäten sprachlicher Äußerungen in sich enthält. Wenn man versuchen würde, Äußerungen mit vorher spezifizierten Eigenschaften zu erhalten, würden die Bedingungen natürlicher Sprachproduktion jedoch weitgehend gestört (Wiese 1989, 199). 1 2 D i e allgemein die Untersuchung sprachproduktiver Prozesse kennzeichnenden methodischen Probleme stellen sich auch für die Analyse schriftlicher TextproNeben den von Wiese erwähnten einfachen Verstehensexperimenten ("Knopf drücken") waren (und sind) allerdings auch komplexere Verstehensformen experimentell untersucht worden. Ein einschlägiges methodisches Paradigma ist etwa die Analyse des Textverständnisses durch Textreproduktionen wie z.B. Zusammenfassungen (vgl. die klassische Arbeit von Kintsch/van Dijk 1978). Die Textrezeptionsforschung hat deshalb, gleichsam als Nebenprodukt, auch wichtige Erkenntnisse für einen Teilbereich der Textproduktion, nämlich den der Textreproduktion, geliefert (vgl. im Überblick Rickheit/Strohner 1989). Sofern explizit Modelle der Sprachproduktion entwickelt worden sind, bilden Aspekte der gesprochenen Sprache deren empirische Basis - auch dies wohl aus primär methodischen Gründen. Denn gesprochene Sprache enthüllt, im Gegensatz zu schriftlichen Texten, aufgrund ihrer Temporalität, auftretender Verzögeningen, Versprecher oder sonstiger Defekte Spuren des Prozesses ihrer Erzeugung. Empirischer Ausgangspunkt der Modellbildung waren entsprechend die Untersuchung temporaler Variablen, Versprecheranalysen und z.T. auch die Aphasieforschung (vgl. z.B. Butterworth 1980; im Überblick Wiese 1989).
36 duktìon - und zwar ganz besonders dann, wenn die Analyse sich auf möglichst natürliche Schreibprozesse richtet und sich insofern nicht im kontrollierten Rahmen experimentell-psychologischer Forschung bewegt. Erwähnt wurde schon, daß Texte von den Prozessen ihrer Erzeugung unabhängig sind und diese sich deshalb auch nur selten in Textmerkmalen manifestieren. Die Analyse von Textproduktionsprozessen hat deshalb zwar deren Produkte analytisch in Rechnung zu stellen, sie ist aber zugleich darauf angewiesen, den Textproduktionsprozeß als Aktivität selbst in den Blick zu nehmen. Dieser jedoch ist nur in sehr eingeschränktem Umfange zugänglich. Einmal davon abgesehen, daß Schreiben als eine weitgehend private und isolierte Tätigkeit ohnehin schwer (wissenschaftlich) beobachtbar ist, sind lediglich jene Aktivitäten, die die "Außenseite" der Schreibhandlung bilden, unmittelbar zugänglich: etwa der motorische Schreibvorgang, sein temporaler Verlauf oder aber die sich textuell manifestierenden Aktivitäten der Korrektur u.ä.. Das Problem besteht allerdings darin, daß die relativ abstrakten und für den Textproduktionsprozeß basalen kognitiven Aktivitäten etwa der Wissensaktualisierung und -organisation in vielen Fällen kaum noch "äußere" Äquivalente haben und solche Äquivalente bei verschiedenen Textformen in unterschiedlichem Ausmaße und in unterschiedlicher Weise auftreten. Um ein Beispiel zu nennen: Der Verfasser einer Dissertation wird Teile seines Planungsprozesses in Form von Konzepten, Materialsammlungen usw. exothetisieren, der Schreiber eines Briefes normalerweise nicht. Dies muß nicht heißen, daß nicht auch der Briefschreiber ein Konzept erstellt, Material sammelt und organisiert, sich also strukturell in ähnlicher Weise verhält wie der Doktorand. Die Unterschiede des beobachtbaren Verhaltens können mithin nicht umstandslos auf Unterschiede mentalen Handelns bezogen werden. Sie können ebenso auf unterschiedliche Handlungsstrategien hinweisen oder lediglich unterschiedliche Grade indizieren, in denen gleichartiges Verhalten äußerlich repräsentiert wird. Zudem: Eine empirisch orientierte Untersuchung von Schreibhandlungsprozessen hat es nicht mit "dem Schreiben", sondern mit konkreten, d.h. je aufgabenspezifischen Formen des Schreibens zu tun. Und diese Schreibprozesse haben oft sehr unterschiedliche Erscheinungsund Verlaufsformen, die auf Unterschiedliches hinweisen können: auf allgemeine Eigenschaften des Schreibens, auf Merkmale spezifischer Schreibprozesse oder auf textartspezifische oder individuelle Schreibstrategien. Aufgrund der skizzierten methodischen Probleme haben wir für die empirische Analyse von Schreibplanungsprozessen einen pluralistischen Zugang gewählt. Pluralistisch ist hier im doppelten Sinne gemeint: als Pluralität der untersuchten Schreibprozesse und als Pluralität theoretischer und methodischer Zugänge, auf deren Basis einzelne Fragestellungen behandelt werden. Pluralität im o.g. Sinne hat zunächst den Vorteil, daß die Analyse - zumindest zum Teil - an die mit spezifischen Schreibprozessen einhergehenden "natürlichen" Teilaktivitäten und Teiltexte (etwa Konzepte, Stichworte etc.) anknüpfen kann und insofern den Gegenstand der Analyse weniger dem Prokrustesbett einer einheitlichen Methodik anzupassen hat. Zum anderen erhellen verschiedenartige Zugänge auch immer unterschiedliche Aspekte des interessierenden Phänomens. Schließlich erlauben es pluralistische methodische Zugänge,
37 den interessierenden Gegenstand gleichsam auf mehreren Ebenen zu repräsentieren, die im Sinne einer gegenseitigen Korrektur wiederum miteinander in Beziehung gesetzt werden können13. Vier Datenquellen bzw. -ebenen bilden die Grundlage der Analysen: - der beobachtbare, Schreibprozessen;
realzeitliche Handlungsverlauf bei
unterschiedlichen
- Zwischenprodukte von Schreibprozessen bzw. Vorformen von Texten, die im Verlauf vor allem komplexer Schreibprozesse auftreten; - nachträglich erhobene verbale Daten ("recall-interviews"), mit denen Teile des intuitiv-alltäglichen Schreibhandlungswissens von Schreibern dokumentiert werden können; - parallel zum Schreibprozeß erhobene verbale Daten (Think-aloud Protokolle), die Teile der aktuell-lokalen Verfahren und Probleme der Handlungsplanung und -realisation repräsentieren (Ericsson/Simon 1980, 1984). Die genannten Datenquellen unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer Natürlichkeit als auch im Hinblick auf die Typen von Daten, die über sie zugänglich werden. Think-aloud-Protokolle bilden dabei sicherlich die artifiziellste Datenebene. Sie unterscheiden sich von recall-interviews aber auch darin, daß sie weit mehr Informationen über aktuell-lokal wirksame Planungsverfahren enthalten, die von Schreibern nachträglich nicht erinnert oder bewußt reflektiert werden.14 13
14
Die mehrfache Repräsentation von Handlungsverläufen und die methodisch entsprechend verschiedenartigen Verfahren der Analyse unter Einbeziehung des intuitiv handlungsleitenden Wissens der Handelnden ist als methodisches Prinzip im Rahmen der sinnverstehenden Soziologie entwickelt worden und wird dort als "Triangulierung" bezeichnet (vgl. Cicourel 1975). Zum Problem verbaler Daten vgl. allgemein Huber/Mandl (1982), unter besonderer Berücksichtigung der Schreibforschung Rau (1992). Zur Kritik an der Think-aloud-Methodik vgl. Nisbett/Wilson (1977) sowie - speziell für die Schreibforschung von Flower/Hayes Kowal/O'Connell (1987). Einen knappen Überblick unter besonderer Berücksichtigung der Textverstehensforschung geben Ericsson (1988) und Laszlo/Meutsch/Viehoff (1988). Statt einer umfangreichen Diskussion der Vor- und Nachteile des "Think-aloud" seien hier zwei klassische Belege erwähnt, die gleichsam die Pole markieren, zwischen denen sich die derzeitige Diskussion bewegt. In einer seiner Votivtafeln fragt Schiller: "Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, dann spricht, ach, die Seele nicht mehr!" Andererseits findet sich ein schönes literarisches Beispiel des "Think-aloud" in Goethes "Faust". Faust denkt hier über die verschiedenen Möglichkeiten nach, den ersten Satz des Johannes-Evangeliums der Bibel zu übersetzen. "Geschrieben steht: "Im Anfang war das Wort! " Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile,
38 In recall-interviews dominieren hingegen Aussagen, in denen die Schreiber ihre generellen individuellen Strategien, besondere Probleme der Schreibaufgabe u.ä. schildern. Bereits dies mag verdeutlichen, wie unterschiedliche methodische Verfahren verschiedenartige Aspekte eines Phänomens erhellen und der Analyse zugänglich machen. Der hier vertretene Methodenpluralismus soll deshalb vor allem Einseitigkeiten vorbeugen: dem gerade in der Schreibforschung virulenten Problem, daß Analysen spezifischer Schreibformen oder Ergebnisse spezifischer methodischer Vorgehen vorschnell zu allgemeinen Eigenschaften des Schreibens generalisiert und modelliert werden, wie dies für das expositorische Schreiben innerhalb der kognitiven Schreibforschung der Fall war.
3.3.1.
Das Untersuchungsmaterial: Erhebung und Aufbereitung15
Gegenstand der empirischen Untersuchungen sind Produktionsprozesse unterschiedlicher, nicht-literarischer Textarten, insbesondere von "Zusammenfassungen", "Geschäftsbriefen" und "Wegbeschreibungen". Unterschiedliche Textarten wurden deshalb gewählt, um der oben erwähnten Gefahr vorschneller Verallgemeinerungen vorzubeugen: Eine differenzierte Analyse des Schreibens, die sowohl die jeweilige Aufgabenspezifik konkreter Formen textproduktiven Handelns als auch ihre Prägung durch generell für den Schreibprozeß konstitutive Handlungsformen in Rechnung stellt, ist notwendig auf die Einbeziehung verschiedenartiger Formen der Textproduktion angewiesen. Für die Wahl gerade der Textarten "Zusammenfassung", "Geschäftsbrief' und "Wegbeschreibung" gab es mehrere Gründe. Aus materialökonomischen Erwägungen sollten die Schreibprozesse nicht allzu zeitaufwendig sein, d.h. sie sollten in maximal einer Stunde abgeschlossen werden können. Die Schreibaufgaben sollten weiterhin für die untersuchte Personengruppe bekannt und mehr oder weniger "alltäglich" sein. Schließlich sollten sich die gewählten Schreibformen hinsichtlich ihrer Aufgabenspezifik, ihrer Komplexität und des produzierten Datenmaterials so unterscheiden, daß sie verschiedenartige und differenzierte Möglichkeiten des methodischen Zugangs eröffnen. "Wegbeschreibungen" (im Rahmen eines persönlichen Briefes) wurden als Beispiel für eine relativ einfache und beschreibend-instruierende Textart gewählt, "Geschäftsbriefe" als Beispiel für eine komplexe argumentative Schreibform, "ZusammenDaß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh'ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat! " Hermanns (1988) analysiert diese Passage unter dem Aspekt der heuristischen Funktion des Schreibens. Einen literarischen Einblick in die mentale "Werkstatt" eines Schreibers gibt ebenfalls die von Herrmann (1985, 270f.) zitierte Passage aus Carl Sternheims "Snob". Das gesamte Material wurde im Verlaufe des DFG-Projektes "Textproduktion" erhoben (vgl. Kap. 1).
39 fassungen" schließlich als Beispiel einer komplexen Form textreproduktiven Schreibens, die eine partielle Kontrolle des mentalen "Inputs" sowie die Einbeziehung schreibvorbereitender Aktivitäten in die Analyse erlaubt. Die Datenerhebung zielte insgesamt darauf, soweit wie möglich den Bedingungen und Faktoren natürlicher Schreibsituationen gerecht zu werden. Versuchspersonen waren zum größten Teil Studenten und Studentinnen der Germanistik im Hauptstudium, zum kleineren Teil auch wissenschaftliche Angestellte oder andere Angehörige des Germanistischen Instituts der Universität Marburg. Für die Textart "Zusammenfassung" wurden die Versuchspersonen (im folgenden: Vpn) mündlich instruiert, einen kurzen wissenschaftlichen Artikel in max. 1 Stunde zusammenzufassen. Primärtext war der Aufsatz von Meyer-Herrmann/Weingarten (1982): "Zur Interpretation und interaktiven Funktion von Abschwächungen in Therapiegesprächen". Die Vpn hatten für die Lektüre dieses Textes unbegrenzte Zeit und konnten im Text Unterstreichungen, Randnotizen usw. machen. Für die Textarten "Wegbeschreibung" und "Geschäftsbrief' erhielten die Vpn schriftliche Instruktionen bzw. Materialien. Ansonsten galten die gleichen Bedingungen wie bei "Zusammenfassungen". Während des Schreibens befanden sich die Vpn allein in einem Raum und wurden von zwei Videokameras derart aufgenommen, daß die Schreibhand der Vp als Großbild, die Gesamtperson als eingeblendetes Kleinbild zu sehen ist. Für Teile des Materials wurden während und auch nach Abschluß des Schreibens weitere Daten in Form von "Think-aloud-Protokollen" und "recallinterviews" erhoben. Die "recall-interviews" vollzogen sich derart, daß den Vpn unmittelbar nach dem Ende des Schreibens das Videoband in Anwesenheit des Versuchsleiters noch einmal vorgeführt wurde. Die Vpn wurden dabei nach allgemeinen Problemen oder spezifischen Besonderheiten des Schreibverlaufes befragt, konnten aber auch selbständig das Videoband anhalten, kommentieren und auffällige Passagen erläutern. Die "recall-interviews" wurden in einer Weise auf Tonband dokumentiert, daß eine spätere Zuordnung von Aussagen und entsprechenden Passagen der Videoaufzeichnung möglich war. Die Erstellung von Protokollen lauten Denkens erfolgte durch spezifische mündliche und/oder schriftliche Instruktionen zu Beginn des Schreibens. Die Vpn wurden aufgefordert, "alles zu sagen, was ihnen beim Schreiben durch den Kopf geht". Die Anzahl der insgesamt dokumentierten Schreibprozesse und die jeweils zusätzlich erhobenen Daten sind in Tabelle 3.3. dargestellt.16 Sämtliche Daten wurden transkribiert. Für alle Schreibprozesse wurde dabei der Realzeitverlauf dokumentiert, für eine große Anzahl darüber hinaus auch Aktivitäten wie Hand-, Blick- und Körperorientierungen sowie die während des Schreibens auftretenden Aktivitäten "lauten Denkens" (s. Tabelle 3.3.). In dieser Tabelle ist nur das Material dargestellt, das Grundlage dieser Untersuchung ist. Das gesamte, im Verlauf des Projektes "Textproduktion" erstellte Datenkorpus ist weit größer und wird insgesamt in den diversen Publikationen, die in seinem Zusammenhang entstanden sind, ausgewiesen. So z.B. bei Keseling/Wrobel (1991); Keseling (1992); Rau (1992); Keseling (1993).
40 Methoden Textarten
Think-aloud
recall
ohne zusätzl. Daten
Zusammenfassungen Geschäftsbriefe Wegbeschreibungen person], Briefe Andere
2 22 9 5 5
19
gesamt
43
19
Tab. 3.3.:
-
ges.
11 13 12 1
21 33 22 17 6
37
99
-
Gesamtzahl, Texartspezifik und Erhebungsmethoden der dokumentierten Schreibprozesse
4. Realzeitverläufe beim Schreiben
Schreiben ist ein Prozeß in der Zeit. Dieser Prozeß hat eine eigenständige zeitliche Struktur, die ihn von anderen Formen sozialen und kommunikativen Handelns unterscheidet. Im Vergleich etwa zum Miteinander-Sprechen ist Schreiben - im Normalfall - aufwendig: Man braucht Zeit, Ruhe, Papier und Bleistift oder eine Schreibmaschine, um eine Notiz, einen Brief oder gar ein Buch zu schreiben. Der zeitliche, situative und instrumentelle Aufwand, den Schreiben erfordert, hat jedoch auch seine Vorteile. Schreiben ist eine Aktivität, die vom zeitlichen Druck unmittelbaren sozialen Handelns entlastet ist; sie ist "privat", nicht unmittelbar "öffentlich" (vgl. Ong 1987). Wer schreibt, kann sich deshalb auch Zeit nehmen. Er kann sie in seinem eigenen Sinne verwenden und strukturieren, um einen Text zu planen, sorgfältig zu formulieren und gegebenenfalls solange zu revidieren, bis er ihm "perfekt" erscheint. Zwar kostet das Schreiben Zeit, aber diese Kosten haben auch einen Ertrag: Texte nämlich, die den Prozeß ihrer Entstehung überdauern und der Flüchtigkeit des Gesprochenen entrinnen.
4.1. Temporale Aspekte des Sprechens Die Tatsache, daß alles sprachliche Handeln in der Zeit verläuft, daß es produziert und rezipiert werden muß, bevor es seine Wirkungen entfalten kann, ist forschungsgeschichtlich eine relativ späte Entdeckung - und zwar nicht einmal eine der modernen Linguistik. Vielmehr war es die Psychologie bzw. die Psycholinguistik, die als erste diese Problemstellung thematisiert hat und der wir einen Großteil der Einsichten in Aspekte des Sprachgebrauchs, d.h. der Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen, verdanken. Vor allem aus forschungspraktischen Gründen hat dabei die Analyse von Rezeptionsprozessen im Vordergrund gestanden, so daß einer Fülle von Ergebnissen und Modellen zur Sprachverarbeitung eine relativ geringe Anzahl von Arbeiten zur Sprachproduktion gegenübersteht (vgl. Mandl/Stein/Trabasso 1984; Rickheit/Bock 1983).1 Ausgangspunkt psychologischer Sprachproduktionsmodelle waren zum einen Untersuchungen sprachlicher Fehlleistungen (Versprecher), aus denen Rückschlüsse auf die Formen und die Reichweite der aktuellen Äußerungsplanung Als eine Komponente einer Theorie der Sprachproduktion lassen sich auch die Forschungen zur Satzproduktion auffassen (vgl. im Überblick Rosenberg 1977), die theoretisch entweder in Konzepten der Kognitionspsychologie oder aber der theoretischen (generativen) Linguistik fundiert sind. Entsprechend bemühen sich die vorliegenden Modelle um den Nachweis der psychologischen Realität formaler Grammatiken oder aber um die Aufschlüsselung des Zusammenhanges allgemeiner kognitiver Prinzipien mit Phänomenen der Satzproduktion. Auf eine Darstellung dieser Forschungstradition soll hier verzichtet werden.
42 gezogen wurden,2 zum anderen Untersuchungen des Realzeitverlaufes beim Sprechen, insbesondere des Verhältnisses von Sprechpausen relativ zu ihrer Plazierung zu intonatorischen und syntaktischen Außerungsstrukturen (vgl. Goldman Eisler 1968). Trotz der mittlerweile langen Forschungstradition (vgl. Dechert/Raupach (eds.) 1980; Wiese 1983)3 haben diese Untersuchungen nicht zur Formulierung eines einheitlichen und allseits akzeptierten Modells der Sprachproduktion geführt, sondern zu einer Sammlung teils widersprüchlicher Beobachtungen und konkurrierender Hypothesen. So besteht weder Einigkeit darüber, wo Planungsprozesse beim Sprechen stattfinden4 noch, welche Rolle die einzelnen Sprachkomponenten (Syntax/Semantik/Lexikon) spielen und in welchem Zusammenhang sie stehen; ungeklärt ist ferner die Frage nach dem Typus und der Reichweite unterschiedlicher Planungseinheiten (die Angaben reichen hier vom Lexem bis zu suprasyntaktischen Einheiten etwa in Form kognitiver Zyklen), deren Zusammenhang mit Realzeitstrukturen (Pausen/Verzögerungen)5 oder auch mit interaktiven Kommunikationserfordernissen (vgl. Beattie 1980). Diese unübersichtliche Forschungslage scheint vor allem darin begründet, daß die psychologische bzw. psycholinguistische Forschung sich weitgehend auf die Analyse formaler Parameter des Sprachproduktionsprozesses beschränkt, ohne diese dabei zu den auch inhaltlich zu bestimmenden Formen der jeweils zu produzierten Äußerung und ihrem sozial-kommunikativen Kontext in Beziehung zu setzen. Für O'Connell (1988) ist dieses Versäumnis kennzeichnend für die gesamte Psycholinguistik, deren Situation er für so desolat hält, daß er schlicht ihre Abschaffung fordert und sie durch eine an Bühler orientierte "Psychologie des Sprachgebrauchs" ersetzt wissen will. Trotz aller Vorbehalte bleiben jedoch die Ergebnisse der experimentell-psychologischen Forschung für die Untersuchung von Schreibprozessen insofern interessant, als sich in einzelnen Bereichen durchaus Parallelen ziehen lassen bzw. Kontrastierungen anbieten: so etwa zwischen schriftlichen und sprachlichen Fehlern (Versprecher vs. Verschreiber) oder zwischen Sprechpausen und Schreibpausen.
2
Vgl. z.B. Boomer/Laver (1968); theoretisch grundlegend Lashely (1951); zum neueren Stand vgl. Wiese (1987). 3 So enthält bereits die von Appel/Dechert/Raupach (1980) herausgegebene Bibliographie zum Thema 'Temporal variables in speech" mehr als 1000 Titel, wobei die Autoren darauf hinweisen, daß sie vor allem die neuere Literatur berücksichtigt und insofern keine Vollständigkeit angestrebt haben. 4 Vgl. die unterschiedlichen Positionen etwa von Goldman Eisler (1968) und Boomer (1965). 5 De Beaugrande (1984) nennt allein 24 Variablen, für die in der Literatur ein Zusammmenhang mit Realzeitstrukturen experimentell nachgewiesen wurde. Neben gängigen Determinanten gehören dazu auch Faktoren wie der "Exhibitionismus des Sprechers" oder seine "Arglist". Zur "Pausologie" vgl. im Überblick O'Connell/Kowal (1983).
43
4.2. Temporale Aspekte des Schreibens - Ein Forschungsüberblick Von besonderem Interesse für diesen Zusammenhang sind natürlich jene Untersuchungen, die sich mit den zeitlichen Aspekten von Schreibprozessen beschäftigen. Auch diese (wenigen) Untersuchungen sind im Rahmen psycholinguistischer Fragestellungen entstanden, d.h. sie versuchen zumeist experimentell, formale zeitliche Parameter des Schreibens - oft im Vergleich mit anderen Formen der Sprachproduktion wie Sprechen oder Diktieren - zu identifizieren. Eine der ersten Untersuchungen temporaler Aspekte des Schreibprozesses stammt wohl von van Brüggen (1946). Van Brüggen erhob Werte wie Schreibgeschwindigkeit und Schreibfluß (flow of words) in Abhängigkeit von verschiedenen Schreibaufgaben. Eines seiner Ergebnisse war, daß sowohl die Pausenlänge als auch der Schreibfluß mit der Qualität des produzierten Textes in Zusammenhang steht. Bei der Produktion "guter" Texte fanden sich durchschnittlich kürzere Pausen, die zudem oft mit sogenannten "thought units" zusammenfielen, bei der Produktion "schlechter" Texte waren die Pausen hingegen länger und fanden sich innerhalb der dem Text zugrundeliegenden "thought units". Horowitz/Berkowitz (1964) und Blass/Siegmann (1975) verglichen die Geschwindigkeit bei unterschiedlichen Formen der Textproduktion (u.a. Handschreiben, Maschineschreiben, Diktieren und Sprechen). In diesen Untersuchungen erwies sich Handschreiben stets als die langsamste aller Produktionsarten, laut Horowitz/Berkowitz als etwa 8mal langsamer als Sprechen. Blass/Siegmann geben als Werte für Sprechen, Diktieren und Schreiben 3.03, 2.92 und 0.43 Wörter/Sekunde an. Auch der Vergleich schriftlicher und mündlicher Beschreibungen ergab, daß die schriftlichen Beschreibungen beträchtlich langsamer produziert werden (0.24 Wörter/Sek. schriftl. vs. 1.62 Wörter/Sek. mündl.; vgl. auch Tannenbaum/Williams/Wood 1967). Gould verglich in einer Reihe von Untersuchungen (z.B.Gould 1978, 1980, 1982; Gould/Boies 1982) Parameter wie Schreibgeschwindigkeit, Produktionsund Planungszeit beim Schreiben, Diktieren und Sprechen von Geschäftsbriefen. Die Produktionsrate (composition rate = Wortzahl/Gesamtproduktionszeit) schwankte zwischen 13 W./Min. für Schreiben, 23 W./Min. für Diktieren und 30 W./Min. für Sprechen (Gould 1980, 108). Das Hauptergebnis von Goulds Untersuchungen besteht jedoch darin, daß der relative Anteil der Pausenzeit an der Gesamtproduktionszeit unabhängig von den unterschiedlichen Produktionsformen konstant blieb. Planning, on average, was two-thirds of composition time, regardless of composition method, participant's experience with that method or letter complexity studied so far. (...) planning time was a constant proportion of total composition time. (Gould 1980, 112).
Mit temporalen Unterschieden beim Sprechen und Schreiben befaßt sich auch die Untersuchung von van de Water/Monti/Kirchner/O'Connell (1987), in der
44 schriftliche und mündliche Bildbeschreibungen untersucht wurden. Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Studien unterscheidet die Untersuchung strikt zwischen der motorischen Produktionsgeschwindigkeit (Artikulationsrate) beim Sprechen und Schreiben (Anzahl der produzierten Wörter/Silben im Verhältnis zur reinen Sprech- bzw. Schreibzeit) und der Sprech-bzw. Schreibrate (Anzahl der produzierten Wörter/Silben im Verhältnis zu gesamten Produktionszeit, d.h. inklusive der Pausenzeit). Hinsichtlich der Artikulationsrate erwies sich Sprechen als ca. 5mal schneller als Schreiben (4.51 vs. 0.89 Silben/Sek.), im Hinblick auf die Sprech- bzw. Schreibrate sogar als 6 mal schneller (Sprech/Schreibrate 2.92 vs. 0.51 Silben/Sek.). Ein interessantes Ergebnis dieser Untersuchung ist weiterhin, daß die durchschnittliche Pausenlänge bei beiden Produktionsformen fast gleich bleibt (ca. 1 Sek.), daß jedoch die Verteilung der Pausen und auch deren Länge in Abhängigkeit von bestimmten Positionen beträchtlich variiert: Während beim Sprechen hauptsächlich zwischen syntaktischen Einheiten pausiert wurde, trat beim Schreiben der weitaus größte Teil der Pausen (73.1%) in nicht-syntaktischer Position auf, nämlich zwischen oder sogar in Wörtern. Pausen in syntaktischer Position waren hingegen selten, jedoch durchschnittlich wesentlich länger als Wortpausen. Die Auffassung von Gould (1980), daß das Verhältnis von Pausenzeit zur Gesamtproduktionszeit bei verschiedenen Produktionsformen konstant sei, konnte in dieser Untersuchung hingegen nicht bestätigt werden. Beim Schreiben wurde durchschnittlich 42.2 % der Gesamtzeit pausiert, beim Sprechen lediglich 34.1 %. Die detailliertesten Untersuchungen zum Realzeitverlauf beim Schreiben stammen von Ann Matsuhashi (1981, 1982) bzw. Matsuhashi/Cooper (1978). Im Gegensatz zu den bisher genannten Untersuchungen beschränken sich ihre Analysen auf die temporalen Aspekte bei der Produktion verschiedenartiger schriftlicher Texte und auf die internen Zeitverläufe innerhalb der Produktion eines Textes. Ziel dieser Analyse, in die z.T. auch nonverbale Aktivitäten von Schreibern einbezogen werden (Matsuhashi 1982), ist die Konstruktion eines Modelles des Schreibprozesses. Dabei wird von der Voraussetzung ausgegangen, daß die dem Schreiben zugrundeliegenden mentalen Prozesse sich in beobachtbarem, äußerem Verhalten zeigen und dessen Analysen insofern zur Modellbildung beitragen können. The premise of this study is that pauses, moments of physical inactivity during writing, offer observable clues to the covert cognition processes which contribute to discourse production. (Matsuhashi, 1981, 114)
Betrachten wir die Ergebnisse Matsuhashis etwas genauer. In ihrer Studie von 1981 stellt sie fest, daß die Produktionsrate (produzierte Wörter/Sek.) bei der Produktion von beschreibenden (reporting), überzeugenden (persuading) und verallgemeinernden (generalizing) Texten6 beträchtlich schwankt: "generalizing" erwies sich mit 0.18 W./Sek. als am langsamsten, "persuading" und "reporting" Matsuhashi beläßt es bei der Benennung der allgemeinen Funktionen der zu schreibenden Texte und geht nicht explizit auf die Aufgabenstellung bzw. die genaue Textart ein. Auch dies erschwert den Vergleich ihrer Ergebnisse mit denen anderer Untersuchungen.
45 mit 0.22 und 0.25 W./Sek. hingegen als wesentlich schneller. Auch die mittlere Pausenlänge nimmt mit der Schwierigkeit der zu produzierenden Textart zu (3.79 Sek. report., 4.73 Sek. persuad. und 4.7 Sek. general.). Die Pausenlänge hängt jedoch nicht nur von der jeweils zu produzierenden Textart ab, sie steht vielmehr auch in engem Zusammenhang mit der jeweiligen Position der Pause im Produktionsprozeß. Zwar bleibt die mittlere Pausenlänge innerhalb selbständiger Sätze - Matsuhashi benutzt hier den Terminus T-Unit (Hunt 1965) - mit 3.79 Sek. unabhängig von der Textart konstant, sie schwankt jedoch in Abhängigkeit von der produzierten Textart beträchtlich: zwischen T-units wird bei reporting 7.56, bei persuading 10.8 und bei generalizing 12.56 Sek. pausiert. Die durchschnittlich längsten Pausen fanden sich dabei vor jenen Sätzen, die Absätze eröffneten. Die mittlere Pausenlänge stieg hier auf 15.1 Sek.. Weiterhin variierte die Pausenlänge in Abhängigkeit vom Abstraktionsgrad (abstractionlevel) des zu produzierenden Satzes. Vor superordinierenden T-units waren Pausen mit 13.52 Sek. am längsten, vor koordinierenden Sätzen mit 8.54 Sek. am kürzesten. Matsuhashi faßt die Ergebnisse ihrer Untersuchung dahingehend zusammen, daß der jeweilige Schreibzweck in starkem Maße Prozesse der globalen und lokalen Planung in Schreibpausen beeinflusse. Ein Großteil dieser Planung finde dabei an Satzgrenzen statt, wobei insbesondere der Abstraktionsgrad des zu planenden Satzes und auch seine Position (absatzeröffnend oder absatzintern) die Planungsdauer determiniere. The unusually long pauses which occur prior to T-units suggest that when writing moves fluently ahead most decisions are made at the sentence boundary before the writer begins to write. (Matsuhashi 1981, 130).
Sie schränkt allerdings ein, daß das Auftreten langer Pausen auch innerhalb von Sätzen darauf hindeute, daß Planungsprozesse damit keineswegs vollständig abgeschlossen sein müßten. Even though a writer's most time consuming planning usually occurs before beginning to write a sentence, the presence of long pauses within T-units suggests that the writer had not completed all plans before beginning to write the sentence. (Matsuhashi 1981, 128)
Die Formen und Funktionen langer Pausen bei der Produktion generalisierender und reportierender Texte wurden von Matsuhashi (1982) in Form von Fallstudien weiter analysiert. Zur Klärung der sich in Schreibpausen manifestierenden Planungsaktivitäten wurden dabei auch Elemente des nonverbalen Verhaltens von Schreibern einbezogen, insbesondere ihre Handpositionen und Blickorientierungen. Lange Pausen - so das Ergebnis - treten beim Verfassen reproduzierender Texte vornehmlich innerhalb von Sätzen (T-units) auf, beim Schreiben generalisierender Texte hingegen zumeist an Satzgrenzen. Dies wird damit erklärt, daß die Produktion von Beschreibungen und Generalisierungen Zugriffe auf Gedächtniskapazitäten unterschiedlicher Art erfordert: auf das episodische Gedächtnis ("episodic memory") einerseits, in dem die für Beschreibungen relevanten Ereignisfolgen schematisiert vorliegen, die deshalb nur "erinnert" wer-
46 den müssen; auf das semantische Gedächtnis ("semantic memory") andererseits, das abstraktes "Weltwissen" enthält, das für die Zwecke des Schreibens zunächst noch organisiert und schematisiert werden muß. Im Gegensatz zu ihrer Untersuchung von 1981 kommt Matsuhashi hier zu dem Ergebnis, daß Planungsprozesse mit grammatischen Einheiten des zu produzierenden Textes in keinem Zusammenhang stehen. Grundlage des Textproduktionsprozesses seien vielmehr psychologisch zu definierende und in konzeptuellen Planungsinhalten fundierte Produktionseinheiten ("psychological processing units").7 Planning does not correspond to grammatical units; rather, it corresponds to psychological processing units based on underlying conceptual content. Surface structures are seldom produced as a unit. (Matsuhahsi 1982, 286).
Der Realzeitverlauf beim Schreiben spiegele die Flexibilität und die Vielfältigkeit der aktuell im Zentrum der Aufmerksamkeit des Schreibenden stehenden Prozesse des Erzeugens, Organisierens und des Versprachlichens konzeptueller Einheiten. The psychological processes during discourse production are flexible; writing is produced at the same time it is organized. During text production, the writer responds to multiple demands with varying emphasis: searching memory and consciousness, identifying and elaborating the underlying conceptual content, evaluating ideas and details in terms of their coherence and appropriateness, choosing which ideals will achieve dominance in discourse, representing the conceptual content in syntactic structures, and managing the graphomotor activity necessary to inscribe the text. (Matsuhashi 1982, 286).
In eine ähnliche Richtung weist die Untersuchung von Flower/Hayes (1981). Ihre Analyse schreibbegleitend erhobener verbaler Daten (Think-aJoud-Protokolle) führt zu dem Ergebnis, daß Auftreten, Ausmaß und Inhalt von Schreibplanungsprozessen relativ unabhängig von oberflächenstrukturell zu bestimmenden Segmenten des jeweils produzierten Textes sind. Der sich in den verbalen Protokollen manifestierende Planungsprozeß habe vielmehr eine eigenständige zeitliche und inhaltliche Struktur, für die die auf globale Ziele bezogenen Planungsepisoden charakteristisch seien. The composing process has an episodic pattern of its own which is not dictated by the patterns of the text. Writers appear to work in composing "episodes" or units of concentration which are organized around a goal or plan. (Flower/Hayes 1981, 242) Vgl. ähnlich auch die Untersuchung von Foulin/Fayol/Chanquoy (1989). Sie kommen zu dem Ergebnis, daß Pausenlängen beim Schreiben vor allem durch den Aufwand determiniert werden, den die Informationssuche im Langzeitgedächtnis erfordert. Der zeitliche Aufwand der syntaktischen Planung sei hingegen weniger relevant. Im Gegensatz zu Matsuhashi stellen die Autoren jedoch keine Effekte der Textart auf den Realzeitverlauf fest. "In summary, the results obtained here clearly provide evidence that the essential determinant of the variations in the parameters of the temporal management of writing is the search for information in L.T.M.. The syntactic variable plays an independent role, but its weight is clearly not as great" (Foulin/Fayol/Chanquoy 1989, 233).
47 Schreibplanung vollziehe sich mithin als "top-down"-Annäherung, in der allgemeine "rhetorische" Ziele und Strategien relativ unabhängig von lokal zu bewältigenden Formulierungsaufgaben gebildet, differenziert und schließlich in sprachliche Äußerungen übersetzt werden. ...when people pause for a significant length of time, they pause in order to carry out more global rhetorical planning or problem-solving which is not necessarily connected to any immediate utterance or piece of text. From this perspective much of the work of writing is the effort to consciously integrate one's knowledge, purpose, and audience by doing relatively abstract rhetorical planning. This then is a basically rhetorical perspective on composing as a problem-solving process" (Flower/Hayes 1981, 230).
Die Studie von Flower/Hayes ist mit den anderen hier erwähnten Untersuchungen nur eingeschränkt vergleichbar, da sie vornehmlich auf modelltheoretische Überlegungen zur Form und Funktion von Planungsprozessen gerichtet ist und nicht primär auf die Erhebung präziser Daten über den temporalen Ablauf von Schreibprozessen. Entsprechend verzichten Flower/Hayes auch auf derartige Messungen und bleiben in ihren Angaben hinsichtlich des Realzeitverlaufes und dessen Zusammenhang mit Planungsprozessen recht pauschal. Es wäre zudem wohl auch wahrscheinlich, daß die Erhebungsmethode des "lauten Denkens" diesen Prozeß selbst in nicht unerheblicher Weise beeinflußt und verzerrt. Nicht nur in der dargestellten Untersuchung (vgl. auch Flower/Hayes 1980) fallt der Umfang der von den Versuchspersonen produzierten Think-aloud-Protokolle auf. Dies legt die Vermutung nahe, daß derartige Handlungsprotokolle durch das von Flower/Hayes verwendete experimentelle Setting in extremer Weise evoziert werden - und zwar vornehmlich zum Zweck der Analyse mentaler Prozesse beim Schreiben, nicht primär, um Realzeitverläufe beim Schreiben präzise zu ermitteln.8 Einschränkungen anderer Art gelten allerdings auch für die anderen hier dargestellten Untersuchungen. Generell ist festzuhalten, daß die Ergebnisse nur sehr eingeschränkt miteinander vergleichbar sind, da zumeist unterschiedliche Textarten untersucht werden und die experimentellen Settings und z.T. auch die Meßmethoden beträchtlich variieren (vgl. zur ausführlichen Kritik Kowal/O'Connell 1987). Auch die Ergebnisse der Untersuchungen, in denen "Sprechen" und "Schreiben" kontrastiert werden, sind z.T. insofern problematisch, als sie entweder Unvergleichbares miteinander vergleichen (so z.B auch Chafe 1982) oder aber in unzulässiger Weise verallgemeinern, indem sie aus dem Vergleich lediglich zweier (vergleichbarer) Textarten auf generelle zeitliche Merkmale des Sprechens bzw. Schreibens schließen. Gould etwa vergleicht die Produktion "schriftlicher" und "gesprochener" Geschäftsbriefe, also eine typische und verbreitete Form des schriftlichen Verkehrs mit einer Form des Sprechens, die als eigenständige gar nicht existiert, sondern lediglich eine Vorstufe schriftlicher geschäftlicher Kommunikation darstellt. Die Absurdität dieses VerFlower/Hayes (1980) berichten von insgesamt 14 Seiten (plus weiteren 5 Seiten Notizen) als "Think-aloud"-Protokoll einer Seite geschriebenen Textes. Nach eigenen Erfahrungen mit dieser Erhebungstechnik ist ein solcher Umfang nur durch spezifische Instruktionen der Schreibenden bzw. durch Interventionen beim Schreibprozefi selbst zu erklären.
48 gleichs von geschriebenen und gesprochenen "Geschäftsbriefen" spiegelt allerdings die generelle Problematik solcher Vergleiche. Diese besteht einerseits darin, überhaupt vergleichbare, d.h. nicht produktionsformgebundene, Textarten zu finden; sie besteht andererseits darin, aus der Analyse einzelner, notwendig textartgebundener Produktionsprozesse generalisierbare Aussagen hinsichtlich der Unterschiede von "Sprechen" und "Schreiben" abzuleiten. Schon frühe Untersuchungen zur gesprochenen Sprache (vgl. z.B. Goldman Eisler 1968) weisen darauf hin, daß zeitliche Parameter wie etwa die Sprechgeschwindigkeit, die auftretenden Pausenlängen und -häufigkeiten von der jeweils produzierten Textart determiniert werden. Dies gilt ebenso für die Produktion schriftlicher Texte (vgl. Matsuhashi 1981). "Sprechen ist X-mal schneller als Schreiben" oder "Pausen sind beim Sprechen X-mal kürzer als beim Schreiben" sind insofern Aussagen, die zunächst mit Vorsicht zu genießen sind: Sie gelten für die untersuchten und miteinander verglichenen Textarten (sofern diese überhaupt vergleichbar sind), nicht für das Sprechen und Schreiben generell. Ein methodisches Problem, das insbesondere die Studien von Matsuhashi (1981/1982) kennzeichnet, besteht in der Form, in der Variablen der untersuchten Schreibprozesse mit Merkmalen der produzierten Texte in Beziehung gesetzt werden. Daß eine solche Relationierung notwendig ist, steht dabei außer Frage. Die Frage ist allein, ob sie nicht auf expliziteren Einsichten in die Struktur von Texten beruhen sollte, als dies bei Matsuhashi (und auch einigen anderen, primär psychologisch orientierten Untersuchungen zum Schreibprozeß) der Fall ist. Textstrukturen wie etwa der Abstraktionsgrad (abstraction-level) oder auch die semantische Satzrolle (sentence role) einer T-unit werden etwa in Matsuhashi (1981) aufgrund ausgesprochen vager Kategorisierungen bestimmt und in bester psychologischer Manier - durch zwei unabhängige Rater ermittelt. Der Abstraktionsgrad wird beispielsweise nach einem Vorschlag von Nold/ Davis (1980)9 folgendermaßen charakterisiert: A T-unit is superordinate in relationship to the previous one if it moves upward in abstraction level to make conclusions or to change subjects. A T-unit is coordinate with a previous one if it conjoins, elaborates, or contradicts. A T-unit is subordinate with a previous T-unit if it gives reasons, explanations, or definitions (Matsuhashi 1981, 118).
Die Übereinstimmung zwischen den Ratern betrug im Falle des Abstraktionsgrades für alle 3 Textarten durchschnittlich 84%, im Falle der Klassifizierung von Satzrollen zwischen 67% (generalizing) und 97% (reporting). Matsuhashi macht keine Angaben darüber, wie bei der Zuordnung der "harten" Daten der Realzeitmessungen zu Textsegmenten in strittigen Fällen verfahren wurde. Kritisch einzuwenden bleibt auf jeden Fall, daß die statistische Methodik, mit der "harte" Daten der Realzeitmessung des Schreibprozesses mit "weichen" Daten "
Das von Nold/Davis (1980) vorgeschlagene System der Klassifikation und Repräsentation von Textstrukturen in einer "Diskursmatrix" reflektiert in keiner Weise den (damaligen) Stand der Diskusssion. Die Autoren betonen selbst, daß es ihnen vor allem darum geht, die semantische Analyse von Texten zu pädagogisieren und damit für den Sprachunterricht fruchtbar zu machen.
49 der Textsegmentierung in Beziehung gesetzt werden, eine Objektivität der Ergebnisse suggeriert, die nicht gegeben ist. Sie ist deshalb nicht gegeben, weil das Verfahren der Segmentierung und Kategorisierung von Textstrukturen Unscharfen enthält, die die Effekte exakter Messungen und ausgefeilter statistischer Tests zu einem guten Teil konterkarieren dürften.
4.3. Der Realzeitverlauf beim Schreiben von Wegbeschreibungen, Zusammenfassungen, Geschäftsbriefen und persönlichen Briefen Die Darstellung der wichtigsten Untersuchungen zum temporalen Ablauf von Schreibprozessen hat deutlich gemacht, daß die Erforschung dieser Phänomene erst eine relativ kurze Tradition hat und insofern am Anfang steht. Analog zu bereits länger bestehenden - psycholinguistischen Untersuchungen zur gesprochenen Sprache existieren allerdings auch in der Schreibforschung schon unterschiedliche Ansätze mit unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung und Methodik, die einen Vergleich der Ergebnisse erschweren oder unmöglich machen. Die Forderung nach einer Vereinheitlichung der Terminologie und Methodologie in der Schreibprozeßforschung mag daher verständlich sein (vgl. Kowal/O'Connell 1987), sie ist aber wohl insofern illusorisch, als die Analyse der zeitlichen Organisation des Schreibens in den meisten Untersuchungen kein Selbstzweck ist, sondern im Dienste unterschiedlicher theoretischer Fragestellungen steht. Diese zielen primär auf die Modellierung der für Schreibprozesse konstitutiven mentalen Prozesse (so z.B. bei Gould, Flower/Hayes und auch Matsuhashi). Art und Umfang von Realzeitanalysen bemessen sich insofern daran, ob und in welcher Weise sie tiefere Einsichten in die Organisation des sprachlichen Geschehens erlauben, das sich u.a. in den Strukturen realer Zeitverläufe manifestiert. Die eigene Untersuchung knüpft deshalb zwar in vielerlei Hinsicht an die bestehende Realzeitforschung an, nicht jedoch mit der Intention, vorliegende Ergebnisse zu falsifizieren oder adäquatere Methoden zu entwickeln. Es geht vielmehr darum, durch die Analyse formal-quantitativer Parameter von Schreibprozessen Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Produktion unterschiedlicher Textarten zu ermitteln und damit Hinweise auf zugrundeliegende Handlungsformen und -phasen zu gewinnen. Im Mittelpunkt sollen dabei folgende Fragen stehen: - Wie unterscheiden sich einzelne Textarten hinsichtlich formaler Parameter wie z.B. Schreibgeschwindigkeit, Pausenlängen und Pausenpositionen? - Wo treten im Schreibprozeß Pausen auf und in welchem Zusammenhang stehen sie mit Strukturen des produzierten Textes?
50 - Lassen sich aus den Analysen temporaler Abläufe beim Schreiben Hinweise auf Formen und Funktionen der für Schreiben konstitutiven Handlungsformen gewinnen und bestehen eventuell Unterschiede zwischen einzelnen Textarten? Darüber hinaus soll auch der Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Weise die Methode des "lauten Denkens" den Realzeitverlauf beim Schreiben beeinflußt. Die Beantwortung dieser Frage ist u.a. deshalb von Interesse, weil ein großer Teil der anschließenden Untersuchungen von eben dieser Technik Gebrauch macht. Die Klärung dieser Frage erlaubt es insofern, Umfang und Art möglicher Verzerrungen des Schreibvorganges durch die Erhebungsmethode in kontrollierter Weise in Rechnung zu stellen.
4.3.1.
Korpus und Untersuchungsmethoden
Die empirische Grundlage der Untersuchungen bildet das bereits in Kap. 3.3.1. vorgestellte Korpus von insgesamt 99 Dokumentationen von Schreibprozessen nicht-literarischer Texte, vor allem der Textarten Zusammenfassung, Wegbeschreibung, Geschäftsbrief und persönlicher Brief.10 Aus dem Gesamtkorpus wurden für die statistische Analyse diejenigen ausgewählt, - die hinsichtlich des Schreibverlaufes vergleichbar waren; Kriterium war hier, daß ein fortlaufender Text (also nicht nur Stichworte/Konzepte o.ä.) ohne vorbereitende Schreibaktivitäten produziert wurde; - deren Verfasser bildungs- und altersmäßig vergleichbar waren; bei den ausgewählten Vpn handelt es um Studenten jüngerer bis mittlerer Semester bzw. - in wenigen Fällen - um jüngere wissenschaftliche Mitarbeiter; - die im Hinblick auf die gestellten Schreibaufgaben und die Voraussetzungen der Schreibsituation vergleichbar waren. Den verschiedenen Vpn-Gruppen wurden jeweils identische Schreibaufgaben gestellt. Die Experimente und auch die Auswertung (Transkription/Messungen) fanden unter gleichen Voraussetzungen statt. Als Grundlage der statistischen Analyse verblieben insgesamt 32 Schreibprozesse der Textarten Geschäftsbrief (GB), Wegbeschreibung (WB), persönlicher Brief (PB) und Zusammenfassung (ZUSF) sowie 24 Schreibverläufe der Textarten Geschäftsbrief und Wegbeschreibung, die unter der besonderen Bedingung des "lauten Denkens" (GBLD und WBLD) erhoben wurden. Diese wurden allerdings erst für die Untersuchung der Auswirkungen des lauten Denkens auf den Schreibverlauf in die Analyse einbezogen (vgl. Kap. 4.3.2.4.). Die Gesamtdauer der dokumentierten Schreibprozesse beträgt etwa 19.5 Stunden.
Den vielen im Projekt beschäftigten Hilfkräften, ohne die das Korpus nicht zustande gekommen wäre, sei an dieser Stelle gedankt.
51 Die Anzahl der Vpn, die Wortzahl der Texte und die jeweilige Zahl der in der Analyse berücksichtigten Schreibpausen ist in Tabelle 4.1. dargestellt.
GB
WB
PB
ZUSF
GBLD
WBLD
ges
Vpn
9
6
9
8
16
8
56
Wörter
1026
1121
1400
3159
2040
1432
10178
Pausen
455
460
388
1516
974
487
4280
Tab. 4.1.:
Anzahl der in die statistische Analyse eingegangenen Versuchspersonen, Wörter und Pausen
Für jede Textart wurden folgende Werte erhoben: - die technische Schreibgeschwindigkeit (TSG). Die technische Schreibgeschwindigkeit ist ein Maß für die Anzahl der in der reinen Schreibzeit (d.h. exklusive Pausenzeit) produzierten Wörter/Minute. TSG mißt die motorische Schreibgeschwindigkeit und entspricht damit dem in den Forschungen zur gesprochenen Sprache verbreiteten Begriff der Artikulationsrate. (TSG = Wortzahl/reine Schreibzeit); - die reale Schreibgeschwindigkeit (RSG). Die reale Schreibgeschwindigkeit gibt den Wert für die Anzahl der in der tatsächlichen Produktionszeit (d.h. inklusive Pausenzeit) produzierten Wörter/Minute wieder. RSG entspricht damit den bereits erwähnten Begriffen der Sprech- bzw. Schreibrate (speech/writing-rate). (RSG = Wortzahl/Gesamtproduktionszeit); - die Schreibflüssigkeit (SF)n. Der Wert der Schreibflüssigkeit gibt das Verhältnis von produzierten Worten und der Anzahl der auftretenden Pausen wieder; SF zeigt die Anzahl der Wörter, die im Durchschnitt ohne Unterbrechung produziert werden. Für die Berechnung des SF-Wertes wurden nur Pausen ab 3 Sek. Länge berücksichtigt. (SF = Wortzahl/Pausen > 3 Sek); - der Schreibquotient (SQ). Der Schreibquotient zeigt das Verhältnis von gesamter Produktionszeit und reiner Schreibzeit. Nach der von Baurmann/Gier/Meyer (1987) vorgeschlagenen Berechnungsmethode, die hier übernommen wird, ist der Schreibquotient stets größer 0 und erreicht maximal 1; d.h., nahe 0 wird fast nichts geschrieben, nahe 1 sind Schreibzeit und Gesamtproduktionszeit nahezu identisch. Der Schreibquotient entspricht insofern dem in der psycholinguistischen Literatur oft angegebenen on-time/off-
11 Der Begriff Schreibflüssigkeit wird in diesem Kapitel im engen definierten Sinne gebraucht. Keseling (1987a, 1987b, 1992) und Keseling/Wrobel/Rau (1987) fassen den Begriff des "flüssigen" Schreibens weiter: als im Vergleich zu anderen Formen der Produktion insgesamt unterbrechungsarme und insofern zügige Form der Textproduktion.
52
time Verhältnis (vgl. z.B. van de Water/Monti/Kirchner/O'Connell 1987). (SQ = reine Schreibzeit/gesamte Produktionszeit). Schreibpausen wurden hinsichtlich ihrer Positionen derart klassifiziert, daß eine Zuordnung unproblematisch und weitgehend ohne Bezug auf interpretative Entscheidungen oder theoretisch nicht gesicherte Segmentierungsprinzipien möglich war. Als mögliche Positionen galten: - Absätze Typographisch abgesetzte, (relativ) selbständige Einheiten des Textes, durch die der Text in größere Sinneinheiten gegliedert wird. Für die Bestimmung von Absätzen wurde davon ausgegangen, daß Schreiber ihre Texte intuitiv nach Sinneinheiten gliedern und dies auch formal (durch Absätze) zum Ausdruck bringen. Die Position "Absatz" entspricht der Position "paragraph" bzw. "paragraph opening t-units" bei Matsuhashi (1981). - Sätze bzw. Satzgefüge Syntaktisch selbständige, oft komplexe syntaktische Einheiten innerhalb von Absätzen. Diese Definition entspricht den "t-units" im Matsuhashi (1981). - Teilsätze Segmente innerhalb von Satzgefügen. Definitionskriterium war normalerweise das Vorhandensein eines finiten Verbs. - Wortfolgen Folgen von Wörtern innerhalb syntaktisch zu bestimmender (Satz- oder Teilsatz) Grenzen. - Wörter Segmente innerhalb einer Wortfolge. Es galten die folgenden, besonderen Zuordnungskonventionen: - Pausen zwischen Kapiteln, die durch eine Kapitelüberschrift (Abschrift einer Überschrift des Primärtextes) getrennt waren, wurden zu einer Absatzpause zusammengezogen. Pausen in Uberschriften, die lediglich Abschriften waren, wurden generell nicht mitgezählt. Diese Fälle betrafen ausschließlich Pausen bei der Produktion von Zusammenfassungen; - Pausen unmittelbar an Teilsatzgrenzen wurden mit Pausen unmittelbar nach dem Einleitungswort des Teilsatzes zusammengezogen (Beisp:... ist kennzeichnend, (12 Sek) daß (10 Sek.).. = 1 Teilsatzpause von insges. 22 Sek.); - Pausen, in denen lediglich Minimalaktivitäten wie Interpunktion u.ä. auftraten, wurden zusammengezogen. - Pausen unter 1 Sek., die im Zusammenhang mit Zeilenwechsel auftraten, wurden nicht gezählt.
53 Die Pausenmessung erfolgte durch eine Handstopuhr und wurde von zwei verschiedenen Hilfskräften zweifach durchgeführt. Aufgrund der mit dieser Meßmethode generell verbundenen Ungenauigkeiten (z.B. unterschiedliche Reaktionszeiten; unterschiedliche Wahrnehmung von Pausen) bzw. auch der Probleme bei der exakten Bestimmung von Pausengrenzen wurden Pausen ab 0.5 Sekunden gemessen. Für die statistische Analyse, soweit sie nicht rein deskriptiv bleibt, wurden Standardverfahren der Testung von Mittelwertunterschieden bei nicht-normalverteilten Stichproben benutzt (z.B. T-Test/U-Test).12 Wo immer möglich, werden zum besseren Verständnis die Ergebnisse der Analysen in Form von Abbildungen dargestellt. 4.3.2. 4.3.2.1.
Ergebnisse Schreibgeschwindigkeit, -fliissigkeit und -quotient
Wie schnell ist Schreiben? Worin ist die relative Langsamkeit des Schreibens begründet? Und welchen Anteil machen die Phasen aus, in denen beim Schreibprozeß pausiert wird? Abbildung 4.2. zeigt zunächst die Werte für die technische und die reale Schreibgeschwindigkeit bei den einzelnen Textarten. Die technische Schreibgeschwindigkeit (TSG) liegt zwischen 19.9 (ZSF) und 25.6 (PB) Wörtern pro Minute. Die Unterschiede zwischen den Textarten erwiesen sich allerdings als nicht signifikant (p=0.08). Die technische Schreibgeschwindigkeit scheint damit, analog zur Artikulationsrate in der gesprochenen Sprache, insofern ein relativ konstantes Element im Schreibprozeß zu sein, als ihre Geschwindigkeit unabhängig vom Typ des jeweils zu produzierenden Textes zu sein scheint. Für die gesprochene Sprache liegt der Wert der Artikulationsrate im Falle von Beschreibungen bei ca. 200 Wörtern/Min. (vgl. van de Water/Monti/Kirchner/O'Connell 1987). Vergleicht man Schreiben und Sprechen hinsichtlich ihrer rein technischen Produktionsgeschwindigkeit, so erweisen sich die hier untersuchten Schreibprozesse hinsichtlich ihrer motorischen Geschwindigkeit als ca. 8-10 mal langsamer. Dieser Wert liegt etwas höher als der von van de Water/Monti/Kirchner/O'Connell (1987) ermittelte, steht jedoch in Übereinstimmung z.B. mit dem von Chafe (1982) angegebenen Verhältnis des Unterschiedes in der motorischen Geschwindigkeit von Sprechen und Schreiben.13
12 Bei der statistischen Analyse war mir Frau Dipl.psych. Regina Steil behilflich. Auch ihr habe ich zu danken. Es soll hier noch einmal auf die Problematik derartiger Vergleiche hingewiesen werden. Chafe (1982) etwa vergleicht informelle gesprochene Sprache mit formeller geschriebener Sprache; van de Water u.a (1987) messen Pausen ab 0.1 Sekunden. Unterschiede in den Ergebnissen liegen sowohl an den unterschiedlichen Formen der Vergleiche als auch an den verschiedenartigen Meßmethoden.
54
Worter/Min.
30 r
•
Tab. 4.2.:
TSG
Ü Ü RS G
Technische Schreibgeschwindigkeit (TSG) und reale Schreibgeschwindigkeit (RSG) bei Geschäftsbriefen (GB), persönl. Briefen (PB), Zusammenfassungen (ZSF) und Wegbeschreibungen (WB)
Die reale Schreibgeschwindigkeit, d.h. die Anzahl der pro Minute produzierten Wörter inklusive der enthaltenen Pausenzeit, ist demgegenüber beträchtlich langsamer und zudem für die einzelnen Textarten signifikant unterschiedlich (p=0.0001). Zusammenfassungen unterscheiden sich hochsignifikant von allen anderen Textarten. Signifikante Unterschiede bestehen auch zwischen GB und PB (p=0.0038). Die absoluten Werte liegen in etwa im Bereich der von Matsuhashi (1981) dargestellten Ergebnisse (10.8 - 15 Wörter/Min.). Die reale Schreibgeschwindigkeit differiert mithin zwischen den einzelnen Textarten in Abhängigkeit von den jeweils für die Produktion dieser Textart typischen Pausenanteilen. Der jeweils texartspezifische Pausenanteil pro Zeiteinheit ist dafür verantwortlich, daß Schreiben insgesamt langsamer oder schneller verläuft. Als Tendenz wird dieses Ergebnis auch in den Werten für den Schreibquotienten deutlich. Das Verhältnis von reiner Schreibzeit und gesamter Produktionszeit zeigt für die einzelnen Textarten, daß ZUSF mit Abstand den kleinsten
55 Schreibquotienten aufweisen (0.36) und sich signifikant von den anderen Textarten unterscheiden, während PB (0.64) und WB (0.64) sich von GB (0.52) zwar nicht signifikant, jedoch tendenziell unterscheiden. In ZUSF wird etwa in 1/3 der Gesamtproduktionszeit geschrieben, in Wegbeschreibungen und persönlichen Briefen beträgt der Anteil der Schreibzeit ca. 2/3, in Geschäftsbriefen etwa die Hälfte der Produktionszeit. Dieses Ergebnis steht in Widerspruch zu den Befunden von Gould (1980), der von einem konstanten Verhältnis von Planungszeit und Produktionszeit (ca. 75 zu 25%) sogar bei unterschiedlichen Formen der Textproduktion ausgeht. Obwohl die hier dargestellten Ergebnisse nicht vollständig mit denen Goulds vergleichbar sind, lassen sie an seinen Resultaten doch Zweifel aufkommen. Denn allein schon die festgestellten Unterschiede innerhalb einer Produktionsform (dem Schreiben) lassen die Annahme einer konstanten Produktions/Ausführungsrelation als unwahrscheinlich erscheinen.
100%
75%
-4—8
— Iii
50%
25%
0%
GB (SD 0.09)
PB (SD 0.134)
WB (SD 0.144)
ZSF (SD 0.092)
Textarten Schreibzeit
Abb. 4.3.:
U S I Pausenzeit
Verhältnis von Schreibzeit und Gesamtproduktionszeit in %
56
Wörter pro Segment 12
10H
9,18
6,69 6
5,59 3,67
GB
PB
WB
ZSF
Textarten
Abb. 4.4.:
Einwirkung der Textart auf die Schreibflüssigkeit
Daß solche Unterschiede bestehen, zeigt sich schließlich auch in der Schreibflüssigkeit, d.h. dem Verhältnis von produzierten Wörtern und der Anzahl der Pausen. Im Durchschnitt werden bei ZUSF 3.67 Wörter flüssig produziert (d.h. ohne eine Unterbrechung von mehr als 3 Sekunden Länge), bei PB hingegen sind es 9.1 Wörter. ZUSF unterscheiden sich hier hochsignifikant von allen anderen Textarten, zwischen GB, PB und WB bestehen hingegen keine signifikanten Unterschiede. Faßt man die Ergebnisse zusammen, so läßt sich allgemein festhalten, daß zumindest Zusammenfassungen sich hinsichtlich der realen Schreibgeschwindigkeit, der Schreibflüssigkeit und des Schreibquotienten von den anderen drei Textarten signifikant unterscheiden. Bei ZUSF werden pro Minute am wenigsten Wörter produziert, der Pausenanteil an der Gesamtproduktionszeit ist weitaus am höchsten und die Flüssigkeit der Produktion am geringsten. Persönliche Briefe bilden hingegen den anderen Pol. Zwischen persönlichen Briefen, Wegbeschreibungen und Geschäftsbriefen lassen sich zwar zumeist keine signifikanten Unterschiede in den einzelenen Parametern feststellen, wohl aber relativ stabile Tendenzen.
57 4.3.2.2. Der Einfluß deskriptiver und argumentativer Textsegmente auf Schreibgeschwindigkeit, -flüssigkeit und -quotient Die bisher dargestellten Ergebnisse waren Durchschnittswerte für die einzelnen Textarten. Aus ihnen läßt sich deshalb nicht ersehen, ob und in welcher Weise zeitliche Parameter des Schreibprozesses im Verlauf der Produktion eines Textes variieren. Sind Schreibgeschwindigkeit, Schreibflüssigkeit oder auch der Schreibquotient im Verlauf des Produktionsprozesses konstant? Oder ändern sie sich, etwa in Abhängigkeit vom Typ verschiedenartiger, textintern zu produzierender Textsegmente? Ist also die Textart insgesamt für eine spezifische Ausprägung der zeitlichen Parameter des Schreibens verantwortlich oder repräsentieren die erhobenen Werte lediglich Durchschnittswerte zeitlich durchaus verschiedenartiger Prozesse, die im Verlauf der Produktion eines Textes auftreten? Um dieser Frage nachzugehen, wurde für die Textart Geschäftsbrief, die im Normalfall aus Segmenten unterschiedlichen Typs besteht, Phasen ermittelt, in denen die jeweils unterschiedlichen Segmente produziert wurden. Als praktikabel erwies sich dabei eine Grobsegmentierung in Einleitungsphase, Deskriptionsphase und Argumentationsphase. Sehr geehrte Damen und Herren, Deskription ich habe am 1.7. eine Waschmaschine bei Ihnen gekauft. Vier Wochen später ging der Laugenschlauch an der Waschmaschine kaputt, der von Ihnen am 27.7.88 ersetzt wurde. Ich habe nun von Ihnen eine Rechnung bekommen, die den Austausch dieses Schlauches betrifft.
Argumentation
Dabei kann es sich wohl nur um ein Versehen handeln, da der Schlauch, ohne mein Einwirken, in der Garantiezeit kaputtgegangen ist. Ich sehe die Reparatur als selbstverständliche Garantieleistung an, deshalb sende ich Ihnen die Kopie der Rechnung zurück. Ich hoffe, daB für mich der Fall damit erledigt ist. Für eine kurze Nachricht Ihrerseits über die Anerkennung der Reparatur als Garantieleistung wäre ich Ihnen dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
M. M.
Die Einleitungsphase umfaßt das Schreiben des Briefkopfes (Adresse/Bezug/ Anrede u.ä.), die Deskriptionsphase die Beschreibung des Sachverhaltes, in dem es in dem Beschwerdebrief geht, die Argumentationsphase schließlich jenen Teil
58 des Schreibprozesses, in dem argumentativ der Grund der Beschwerde und ihre Konsequenzen vertreten werden. Für die Deskriptions- und die Argumentationsphase wurden die bereits dargestellten Messungen und Berechnungen der technischen und realen Schreibgeschwindigkeit, der Schreibflüssigkeit und des Schreibquotienten wiederholt (vgl. Tabelle 4.5.).
Deskription
Tab. 4.S.:
Argumentation
RSG SD
12.75 2.33
12.53 2.25
TSG SD
24.13 3.14
24.53 2.83
SF SD
6.29 2.24
6.77 5.01
SQ SD
0.54 0.12
0.52 0.11
Technische und reale Schreibgeschwindigkeit, Schreibflüssigkeit und Schreibquotient in einzelnen Textsegmenten der Textart Geschäftsbrief (SD= Standardabweichung)
Die Tabelle zeigt, daß in den verschiedenen Textsegmenten die Werte für RSG, TSG, SF und SQ fast konstant bleiben. Es ergeben sich keine signifikanten Unterschiede bei der Produktion von deskriptiven und argumentativen Textsegmenten in Geschäftsbriefen. Dieses Ergebnis ist insofern überraschend, als es der zunächst intuitiven Vorstellung widerspricht, daß relativ einfache Textsegmente wie etwa die vorliegenden Deskriptionen auch weniger zeitaufwendig zu produzieren seien als vergleichsweise kompliziertere Segmente wie etwa Argumentationen. Dies ist auch eines der Hauptergebnisse der bereits erwähnten Studie von Matsuhashi (1981). Eine Erklärung für diese unterschiedlichen Befunde liegt eventuell darin, daß Matsuhashi aufgabenspezifische Schreibprozesse untersucht hat, in denen gleichsam "reine", d.h. nicht in den Rahmen einer spezifischen Textart eingebundene, Formen des "reporting", "persuading" und "generalizing" auftraten. Ihr Ergebnis mag insofern für derartige, eher aufgaben- als textartgebundene Formen des Schreibens gelten, obwohl zu bedenken ist, daß Schreiben sich stets innerhalb einer spezifischen und zumeist komplex aufgebauten Textart vollzieht. Die eigenen Ergebnisse machen jedoch die Annahme problematisch, daß der jeweils zu produzierende Segmenttyp im Rahmen des Gesamtproduktionsprozesses eines komplexen Textes einen Einfluß im Sinne unterschiedlicher Realzeitverläufe hat. Es scheint vielmehr so zu sein, daß der Typus der Textart insge-
59 samt einen größeren Effekt auf zeitliche Parameter des Schreibens hat als die Struktur der jeweils innerhalb des Textes zu produzierenden Segmente. Anders ausgedrückt: Unterschiedliche Aktivitäten in der Textproduktion wie "beschreiben" oder "argumentieren" verändern sich hinsichtlich ihrer zeitlichen Struktur in Abhängigkeit von dem generellen Textmuster, das dem zu produzierenden Text zugrundeliegt. Sie haben insofern keine eigenständige, textartunabhängige Realzeitstruktur.
4.3.2.3. Pausenpositionen und Pausenlängen Ein großer Teil der Produktionszeit beim Schreiben ist Pausenzeit. Wie sind diese Pausen im Prozeß der Produktion eines Textes verteilt?14 Bestehen Zusammenhänge zwischen der jeweiligen Position der Pausen und ihrer Länge? Und wenn ja: Welche Hinweise ergeben sich daraus für die Natur der Planungsprozesse, die in solchen Pausen offenbar ablaufen?
; Pausenhäufigkeit %
Abb. 4.6.:
i m Zeitanteil %
Relative Häufigkeiten nicht-syntaktischer Pausen und ihre Zeitanteile in den einzelnen Textarten
Insbesondere zur Häufigkeit von Schreibpausen und zum Zusammenhang von Pausenlängen und Pausenhäufigkeiten vgl. Wrobel (1988). Aspekte der Pausenstruktur vor allem beim flüssigen Schreiben (vgl. Anmerkung 11 dieses Kapitels) werden auch in Keseling (1987a), (1987b) und (1992) diskutiert.
60 Abbildung 4.6. zeigt zunächst die relativen Anteile nichtsyntaktischer Pausen (zwischen bzw. in Wörtern) sowie ihre relativen Zeitanteile an der Gesamtpausenzeit. Die Abbildung verdeutlicht, daß der Anteil nicht-syntaktischer Pausen für GB und ZSF bei ca. 75% liegt, für WB und PB hingegen nur bei 57%. Diese häufigen Pausen in nicht-syntaktischer Position verbrauchen im Falle von GB über 50% der Gesamtpausenzeit, bei den anderen Textarten immerhin noch zwischen 36 (ZSF) und 42% (WB). Dieses Ergebnis bestätigt in der Tendenz die Befunde von van de Water/Monti/Kirchner/O'Connell (1987), die für die Häufigkeit von Wortpausen (bei schriftlichen Bildbeschreibungen) einen Wert von 73.1 % angeben. Beide Befunde deuten darauf hin, daß die Pausenverteilung beim Schreiben sich fundamental von der beim Sprechen unterscheidet. Dort treten ca. 40% aller Pausen in syntaktischer Position auf (clause boundaries), zunehmende Übung führt darüber hinaus zu einer Reduzierung der Pausenzeit auf Kosten nicht-syntaktischer Pausen (Butterworth 1980). Die eigenen Ergebnisse zeigen jedoch, daß auch hinsichtlich der Pausenverteilung Unterschiede zwischen einzelnen Textarten bestehen. GB und ZUSF sind sich insofern ähnlich, als bei der Produktion dieser Textarten sehr häufige Pausen außerhalb syntaktisch definierter Positionen auftreten. Dies ist ein Hinweis darauf, daß GB und ZUSF eher unflüssig, d.h. mit vielen satzinternen Unterbrechungen, PB und WB hingegen eher flüssig - mit Unterbrechungen an syntaktischen Grenzen - produziert werden. Die Pausenstruktur von PB und WB ist insofern der Struktur des Sprechens wesentlich ähnlicher als die von ZUSF und GB. Die Textart hat jedoch nicht nur Einfluß auf die jeweils auftretenden Häufigkeiten syntaktischer und nicht-syntaktischer Pausen und deren relative Zeitanteile, sondern auch auf die durchschnittlichen Pausenlängen. Diese variieren zwischen 23.9 Sekunden Durchschnittslänge bei ZUSF und 5.03 Sek. bei WB; PB und GB liegen mit 5.87 und 8.28 Sekunden ebenfalls weit unter der durchschnittlichen Pausenlänge von ZUSF. Wiederum unterscheiden sich ZUSF signifikant von den anderen drei Textarten. WB und PB unterscheiden sich hingegen nur tendenziell von GB (vgl. Abb. 4.7.). Schließlich beeinflußt auch die Pausenposition die Pausenlänge. Über alle Textarten gemittelt besteht eine monoton fallende Beziehung zwischen Pausenlänge und Pausenposition; d.h., die Pausenlänge nimmt mit der Größe des Textsegmentes, an dessen Grenzen die Pause auftritt, ab. Zwischen Absätzen wird im Mittel 23.3 Sek. pausiert, zwischen Sätzen 15.2 Sek., zwischen Teilsätzen, Wörtern und in Wörtern 9.3, 4.2 und 2.2 Sekunden. Die Werte sind über alle Textarten gemittelt (vgl. Abb. 4.8.).
61 Sek.
23,9
8,28 5,87
GB (SD 7.29)
5,03
PB (SD 6.44)
WB (SD 5.81)
ZSF (SD 23.41)
Textarten
Abb. 4.7. :
Einwirkung der Textart auf die mittleren Pausenlängen (p < 0.0001)
Sek.
Absätze
Sätze
Teilsätze
zwi. Wort.
in Wort.
Pausenpositionen Abb. 4.8.:
Einwirkung der Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen (p < 0.0001)
62 Die dargestellten Einzelwerte sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt.
Absätze Sätze Teilsätze zw. Wörtern in Wörtern
GB
PB
ZUSF
WB
O
(n=43) (n=28) (n=35) (n=283) (n=66)
11.33 14.36 8.77 4.45 2.47
10.76 9.39 4.70 3.08 1.42
62.75 28.97 18.32 6.26 3.22
7.88 6.93 5.45 3.01 1.88
23.37 15.22 9.39 4.25 2.25
0
8.28
5.87
23.90
5.03
Tab. 4.9. :
Einwirkung von Textart und Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen (p< 0.0001)
Die Werte verdeutlichen auch die Wechselwirkung, die zwischen Textart, Pausenposition und Pausenlänge besteht. Pausenlängen variieren demnach nicht nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Textart oder der Pausenposition, vielmehr beeinflußt die Textart auch die Wirkung der Pausenpositionen auf die Pausenlängen. So verdoppeln etwa bei der Textart ZUSF die Pausenpositionen "Absatz" und "Satz" die Pausenlänge (62.7 vs. 28.9 Sek.), für Wegbeschreibungen liegt die Differenz hingegen weit geringer, bei Geschäftsbriefen sinkt sogar die Pausenlänge zwischen Sätzen gegenüber der von Absätzen.15 Diese Wechselwirkung ist insbesondere für syntaktische Pausen stark, für nicht-syntaktische Pausen jedoch weniger stark ausgeprägt. Die hier vorgestellten Ergebnisse bestätigen in der Tendenz (d.h. nicht in ihren absoluten Werten) die Befunde von Matsuhashi (1981). Demnach haben sowohl der Typ der jeweils produzierten Textart als auch die jeweilige Pausenposition einen Einfluß auf die Pausenlänge. Ein fundamentaler Unterschied beim Sprechen und Schreiben besteht darin, daß nicht-syntaktische Pausen beim Schreiben ungleich häufiger vorkommen. Dieser Unterschied läßt sich einerseits damit erklären, daß in Prozessen der Textproduktion Zwänge, die unmittelbar mündliche Kommunikation auszeichnen (z.B. die Ökonomie des Sprecherwechsels), nicht wirksam sind. Zum anderen deutet diese Differenz aber auch darauf hin, daß Schreibprozesse in größerem Maße von Prinzipien der lexikalischen Planung beherrscht werden als Prozesse der Produktion gesprochener Sprache. Dies gilt allerdings nicht für alle Textarten in gleichem Maße. In Wegbeschreibungen und persönlichen Briefen ist der Anteil von Pausen auf der Wortebene beträchtlich geringer als bei Zusammenfassungen und Geschäftsbriefen. Letztere werden mithin unflüssiger produziert, wobei hier mit "unflüssig" die Tatsache gemeint ist, daß Unterbrechungen innerhalb syntaktischer Segmente häufig vorkommen. Unterschiede zwischen den Textarten bestehen vor allem auch hinDies ist darin begründet, daß bei Geschäftsbriefen die graphisch abgesetzen Einleitungsformeln wie Anrede, Adresse, Bezug u.a. als Absätze gezählt wurden.
63 sichtlich der Längen syntaktischer Pausen. Hier erwiesen sich Zusammenfassungen und Geschäftsbriefe als die Textarten mit den längsten Pausen zwischen Absätzen, Sätzen und Teilsätzen. Die Länge syntaktischer Pausen deutet insgesamt darauf hin, daß umfangreiche und zeitaufwendige Planungsprozesse vor allem an den Grenzen syntaktischer Einheiten auftreten. Dies muß nicht heißen, daß hier nur "syntaktisch" geplant wird. Die Ergebnisse der zeitlichen Analyse lassen sich jedoch als Hinweise auf die Tatsache deuten, daß beim Schreiben zwei unterschiedliche Typen der Planung eine Rolle spielen: eine relativ kurzfristige Planung auf Wortebene einerseits, und eine relativ langfristige Form der Planung an syntaktischen Grenzen andererseits. 4.3.2.4. Der Einfluß des lauten Denkens auf den Realzeitverlauf In welcher Weise beeinflussen nun unterschiedliche Erhebungsmethoden die Realzeitverläufe beim Schreiben? Verzerrt die Technik des Think-aloud den Schreibprozß derart, daß die erhobenen Daten für Zwecke der Modellbildung unbrauchbar werden? Und besteht ein derartiger Effekt - wenn er denn vorhanden ist - für alle Schreibprozesse gleichermaßen? Diesen eher methodenkritischen Fragen wurde derart nachgegangen, daß gleichartige Schreibprozesse der Textarten Geschäftsbrief und Wegbeschreibung mit jeweils unterschiedlichen Erhebungsmethoden miteinander verglichen wurden. Die erhobenen Parameter waren dabei die gleichen wie schon bei der Analyse der natürlichen Schreibprozesse. Hinsichtlich der technischen Schreibgeschwindigkeit ergeben sich unterschiedliche Effekte für die untersuchten Textarten. Bei GBLD sinkt die technische Schreibgeschwindigkeit unter der Bedingung des lauten Denkens signifikant ab, zwischen WB und WBLD zeigen sich hingegen keine signifikanten Unterschiede. Ähnliche Effekte ergeben sich auch für die reale Schreibgeschwindigkeit, die Schreibflüssigkeit und den Schreibquotienten. Die Werte sind in Tabelle 4.10. dargestellt. Die Werte der Tabelle zeigen, daß die Erhebungsmethode bei GB jeweils zu signifikanten Unterschieden in der realen Schreibgeschwindigkeit und der Schreibflüssigkeit führen: Die reale Schreibgeschwindigkeit nimmt beträchtlich ab, die Schreibflüssigkeit wird geringer, und auch der Schreibquotient verändert sich beim lauten Denken in Richtung auf einen beträchtlich höheren Pausenanteil an der Produktionszeit. Bei WB bestehen diese Unterschiede nicht, was sich zum Teil daraus erklärt, daß lautes Denken hier ohnehin nicht in dem Maße auftritt wie bei Geschäftsbriefen. Lediglich der Schreibquotient verändert sich auch hier signifikant, allerdings weniger deutlich als bei GB. Die Ergebnisse lassen zunächst nur den Schluß zu, daß die Methode des lauten Denkens offenbar bei Schreibprozessen verschiedener Textarten unterschiedliche Auswirkungen auf die Realzeitverläufe beim Schreiben hat. Dieser Einfluß ist bei einfachen Textarten wie Wegbeschreibungen geringer als bei eher schwierigeren Textarten wie etwa Geschäftsbriefen.
64 GB
WB
n=25
n=14
LD n=16
OLD n=9 TSG RSG
24.4 12.40 5.90 0.52
SF SQ
Tab. 4.10.:
20.2 7.3 4.4 0.37
OLD n=6
LD n=8
21.0
(p=0.00087)** (p=0.0001)*** (p=0.0157)*
25.5 10.6 5.4
12.1 6.7
(p=0.0005)***
0.64
0.42
(p=0.123) (p=0.3027) (p=0.606) (p=0.00224)*
Einwirkungen der Variablen L D (mit lautem Denken) vs. O L D (ohne lautes Denken) auf die technische (TSG) und reale Schreibgeschwindigkeit (RSG), Schreibflüssigkeit (SF) und den Schreibquotienten (SQ)
Sek.
47,9
27,4
-L·
9,9 H g 0 Absätze
11,4
13,8 7,4
4,6
_
I
Sätze
Teilsätze
3,9 I i i
zwi. Wörtern
2,1
2,2 psss?
in Wörtern
Positionen •
Abb. 4.11.:
LD
m
OLD
Einwirkung der Erhebungsmethode und der Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen (p=0.018)
Betrachtet man die mit unterschiedlichen Erhebungsmethoden produzierten Texte genauer, dann zeigt sich, daß die Erhebungsmethode auch den Zusammenhang von Pausenpositionen und Pausenlängen beeinflußt.16 Ein Vergleich der über beide Textarten gemittelten durchschnittlichen Pausenlängen ergibt, daß die mittlere Pausenlänge unter der Bedingung des lauten Denkens signifikant steigt; von 6.9 Sekunden bei OLD auf 19.2 Sekunden bei LD (p=0.0234). Auch hier besteht eine Wechselwirkung zwischen Erhebungsmethode, Pausenposition und mittlerer Pausenlänge. Die Erhebungsmethode beeinflußt die Wirkung der Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen und umgekehrt (Abb .4.11.).
Sek.
Absätze
Sätze
Teilsätze
zwi. Wörtern
in Wörtern
Positionen ÎZH GBOLD
m u GBLD
1 1 1 WBOLD
β
WBLD
Abb. 4.12.: Einwirkung der Erhebungsmethode, der Textart und der Pausenposition auf die mittleren Pausenlängen
Abbildung 4.12., in der die Effekte von Erhebungsmethode, Textart und Pausenpositionen in ihren Wechselwirkungen auf die mittleren Pausenlängen dargeFür diese Vergleiche wurde eine Zufallsauswahl von 8 Vpn aus den GBLD-Schreibem getroffen, um die für den statistischen Test nötigen, etwa gleichen Vpn-Zahlen pro Gruppe zu erhalten.
66 stellt sind, verdeutlicht, daß die Unterschiede der Erhebungsmethoden den Zusammenhang von Pausenpositionen und Pausenlängen in stärkerem Maße beeinflussen als die Unterschiede zwischen den Textarten. Der Effekt des lauten Denkens wirkt dabei vor allem im Bereich der syntaktischen Pausen. Hier verzerrt die Methode den Realzeitverlauf des Schreibens insofern, als syntaktische Pausen beträchtlich länger sind als die entsprechenden Pausen in Schreibprozessen ohne lautes Denken. Unterhalb der syntaktischen Ebene - also zwischen und in Wörtern - sind hingegen kaum Effekte des lauten Denkens festzustellen. Im Gegensatz zu den Befunden von Flower/Hayes (1981) zeigen die Ergebnisse, daß Prozesse des lauten Denkens sehr wohl an oberflächenstrukturell zu bestimmende Einheiten des produzierten Textes gebunden sind. Jedenfalls steigt die Pausenlänge bei Schreibprozessen mit lautem Denken vornehmlich bei den Pausen, die syntaktische Einheiten begrenzen. Obwohl wir die jeweiligen Inhalte des lauten Denkens hier noch nicht berücksichtigt haben, deutet der Einfluß des lauten Denkens auf den Realzeitverlauf doch darauf hin, daß die Prozesse der eher global-zielorientierten Planung ("rhetorical planning") nicht beliebig in den Prozeß der Textproduktion eingelagert sind, sondern mit Phänomenen der grammatischen Struktur des produzierten Textes in Zusammenhang stehen: Schreiber "benutzen" die Unterbrechungen an syntaktischen Grenzen, um längerfristige Phasen des lauten Denkens einzulegen und die sich darin manifestierenden Verfahren des Planens zu vollziehen.
4.3.3.
Aufmerksamkeitsorientierungen in Pausen - Am Beispiel von Zusammenfassungen
Schreibpausen sind in der bisherigen Analyse als Unterbrechungen des Schreibflusses aufgefaßt worden, die sich hinsichtlich ihrer Länge und Position im Prozeß der Textproduktion charakterisieren lassen. Natürlich war diese Sichtweise idealisierend. Sie behandelte Schreibpausen als in sich homogene, lediglich durch Merkmale wie Länge oder Position zu bestimmende Entitäten. Dies ist insofern eine Idealisierung, als Schreibpausen selbst noch interne Strukturen aufweisen. Gemeint sind hier noch nicht einmal die der unmittelbaren Beobachtung entzogenen Strukturen der mentalen Aktivitäten, die sich in Schreibpausen vollziehen, sondern vielmehr die äußeren, der Beobachtung zugänglichen körperlichen Aktivitäten von Schreibern. Obwohl im Vergleich etwa zum nonverbalen Verhaltensrepertoire in mündlicher Kommunikation die Möglichkeiten körperlichen Ausdrucks beim Schreiben relativ eingeschränkt sind, zeigen Schreiber doch eine Reihe von Aktivitäten in Schreibpausen, die Pausen intern strukturieren und die zudem im Zusammenhang mit den mentalen Prozessen zu stehen scheinen, die sich "im Kopf" des Schreibenden vollziehen. Neben Formen der Mimik und Änderungen der gesamten Körperorientierung sind es vor allem Modifikationen von Handhaltungen und Blickorientierungen, die in Schreibpausen regelmäßig auftreten. Ohne an dieser Stelle die Ergebnisse der Forschungen zum Zusammenhang "äußeren" und "inneren" Verhaltens im einzelnen in Anspruch zu nehmen, kann
67 vermutet werden, daß die Formen des Hand- und Blickverhaltens beim Schreiben in engem Zusammenhang mit den mentalen Prozessen stehen, die den Prozeß der Textproduktion begleiten. Denn dieser Prozeß ist in elementarer Weise auf das Zusammenspiel mentaler (Gehirn), visueller (Auge) und motorischer (Hand) Aktivitäten angewiesen (vgl. Emig 1978). Insofern liegt es nahe, zunächst die der Beobachtung zugänglichen motorischen und visuellen Aktivitäten von Schreibern für die Analyse von Schreibpausen bzw. der mit ihnen verbundenen mentalen Aktivitäten fruchtbar zu machen. Wie sieht nun dieser Zusammenhang aus? Oder, anders gefragt: Was kann eine Analyse nonverbalen Verhaltens in Schreibpausen für eine Rekonstruktion des Schreibprozesses leisten? Und was kann sie nicht? Plausibel erscheint zunächst die Annahme, daß Blick- und Handkonfigurationen beim Schreiben in engem Zusammenhang mit den Formen der Aufmerksamkeitsorientierung stehen, die für Schreiber in bestimmten Phasen des Schreibprozesses vorherrschend sind. Zumindest in einem groben Rahmen dies zeigt auch die Alltagserfahrung - sind Blick- bzw. Handorientierungen immer auch Hinweise auf das, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet: das, was im Blick ist, ist mental näher und "Im Augen-Blick" relevant; dort, wo die Hand ist, liegt oft auch das mental gerade zu "Hand-habende". Blick- und Handkonfigurationen indizieren mithin die Nähe bzw. Distanz zu den Objekten, die gerade im Bewußtsein sind. Geht man einmal von dieser zunächst intuitiv-alltäglichen Erfahrung aus, dann lassen sich Änderungen von Blick- und Handorientierungen als Änderungen des jeweils aktuell vorherrschenden Aufmerksamkeitsfokus' betrachten als Hin- bzw. Abwendung von den Objekten, die jeweils im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Zumindest in diesem elementaren Sinne hat mentales Geschehen ein äußeres Korrelat, das entsprechend für ein Verständnis seiner Formen und Funktionen Hinweise liefern kann. In ähnlichem Sinne argumentiert auch Matsuhashi: I assume not only that pauses reflect planning, but also that patterns of body language associated with pauses will corroborate notions about the functions of pauses. Furthermore, I assume that patterns of body language (...) occurring coterminously with long pauses represent the integration of planning processes in a dynamic central cerebral mechanism (Matsuhashi 1982, 276f.)· 7
Eine Einbeziehung der genannten nonverbalen Aktivitäten während der Schreibpausen bietet sich vornehmlich in den Fällen an, in denen der Wechsel und die Funktionen etwa von Blickorientierungen relativ einfach und eindeutig bestimmbar sind. Dies ist beim Schreiben von Zusammenfassungen der Fall, die ja einen Primärtext zum Ausgangspunkt haben, auf den Schreiber während des Schreibprozesses als gleichsam externes Langzeitgedächtnis beständig zurückgreifen. Methodisch hat dies den Vorteil, daß mindestens zum Teil auch Aussagen dar17 Zum allgemeinen Zusammenhang von Blickorientierungen und kognitivem Verhalten vgl. Just/Carpenter (1978); zum Verhältnis von nonverbalem Verhalten und Sprechen vgl. Beattie (1980).
68 über möglich sind, was den jeweiligen Inhalt der Aufmerksamkeit bildet: der Primärtext, der zu schreibende Zieltext, beide zugleich oder aber bestimmte Aspekte des einen oder anderen Textes. 4.3.3.1. Typen der Aufmerksamkeitsorientierung Für die Analyse des Zusammenhanges von nonverbalen Verhaltensmustern und Aufmerksamkeitsorientierung in Schreibpausen wurden einige Schreibprozesse der Textart Zusammenfassung derart transkribiert, daß Blick-, Hand- und Körperorientierungen in ihrem zeitlichen Verlauf deutlich wurden. Schreibpausen wurden nach folgenden Merkmalen in Teilphasen gegliedert: Blickorientierung in Primärtext oder in Zieltext; Handposition entweder auf dem Blatt oder vom Blatt entfernt.18 Auf der Basis der transkribierten Hand-/Blickkonfigurationen lassen sich insgesamt vier Typen der Aufmerksamkeitsorientierung differenzieren, die in Schreibpausen auftreten: sie sollen Primärtextorientierung (PTO), prospektive Zieltextorientierung (PRO), retrospektive Zieltextorientierung (RET) und koordinierte Aufmerksamkeit (KOO) genannt werden. Schematisch ist der Zusammenhang von Hand-/Blickkonfigurationen und Aufmerksamkeitstypen in Abb. 4.13. dargestellt. HAND
vom Blatt
auf Blatt
in Primärtext
Primärtextorientierung (PTO)
koord. Aufmerksamkeit (KOO)
Zieltext
retrospektive Zieltextorientierung (RET)
prospektive Zieltextorientienmg (PRO)
BLICK
Abb. 4.13.: Klassifikationsschema der Aufmerksamkeitsorientierungen in Satzpausen
Primärtextorientierung Die Konfiguration "Blick in Primärtext/Hand vom Blatt" indiziert primärtextorientierte Aufmerksamkeit des Schreibenden. D.h., der Schreibende ist nicht unmittelbar mit dem Prozeß des Planens oder gar des Formulierens des Zieltextes beschäftigt, vielmehr steht die Analyse des Primärtextes im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Unter Analyse sollen hier jene Aktivitäten verstanden werden, durch die die Voraussetzungen für die Produktion von Zusammenfassungen geschaffen werden, also z.B. das Lesen und Verstehen des Primärtextes, die Auswahl relevanter Informationen, deren Aktualisierung usw. Für die Tätigkeit des Vgl. auch die ähnlich gewählten Merkmale in der Untersuchung von Matsuhashi (1982).
69 Zusammenfassens ist spezifisch, daß eine Phase (fast) ausschließlicher Primärtextorientierung der Phase des Schreibens vorangeht; der Primärtext muß im voraus im Ganzen gelesen werden. Um diese Form der Primärtextorientierung soll es im folgenden nicht gehen. Mit Primärtextorientierung sind hier vielmehr jene Phasen der Aufmerksamkeitsorientierung gemeint, die innerhalb des Aktivitätsrahmens "Schreiben" auftreten. Koordinierte Aufmerksamkeit Die Konfiguration "Blick in Primärtext/Hand auf Blatt" markiert einen Orientierungstyp, der als "koordiniert" bezeichnet werden soll. Die Aufmerksamkeit des Schreibenden ist sowohl auf den Primärtext als auch auf den Zieltext gerichtet, es wird gleichsam in engem Bezug zum Primärtext zieltextorientiert geplant oder auch formuliert. Koordinierte Aufmerksamkeit ist z.B. typisch für die Aktivität des "Zitierens", d.h. für jene Phasen des Schreibprozesses, in denen die Formulierungsaktivität für meist kurze Zeit zum Zwecke der Absicherung und kurzfristigen Aktualisierung von Primärtextinformationen unterbrochen wird. Ähnliches gilt für Phasen, in denen der Zieltext gleichsam "eng" am Primärtext formuliert wird. Retrospektive Zieltextorientierung Die Konfiguration "Blick in Zieltext/Hand vom Blatt" kann als Indikator für eine retrospektive Zieltextorientierung betrachtet werden. Der Schreibprozeß wird in diesen Phasen zum Zwecke der Kontrolle des bereits geschriebenen Textes unterbrochen. In längerfristigen Phasen der retrospektiven Zieltextorientierung wird dabei oft auch die gesamte Körperhaltung derart geändert, daß eine "bequeme" Kontrolle in der "Lesehaltung" möglich ist: so wird etwa der Zieltext in die Hand genommen, man lehnt sich zurück in den Sitz, dreht nebenher Zigaretten usw. Prospektive Zieltextorientierung Die Konfiguration "Blick in Zieltext/Hand auf Blatt" indiziert eine prospektive Zieltextorientierung. Die Aufmerksamkeit des Schreibenden richtet sich in diesen Phasen offenbar unmittelbar auf den Prozeß des Formulierens; er befindet sich gleichsam in unmittelbarer Schreibbereitschaft. Die prospektive Zieltextorientierung ist insofern die Normalorientierung während des Schreibens, d.h. in den Phasen, in denen nicht pausiert wird. Phasen der prospektiven Orientierung treten jedoch auch im Verlaufe von Schreibpausen bzw. im Anschluß an andere Orientierungsphasen in den Pausen auf. Oft zeigt sich die unmittelbare Schreibbereitschaft auch in motorischen Aktivitäten der Schreibhand, die "in der Luft" - dicht über dem Blatt - schreibähnliche Bewegungen ausführt (Luftschreiben). Die hier vorgeschlagene Aufmerksamkeitstypologie ist bewußt auf einem möglichst beobachtungsnahen Niveau formuliert. Sie hat lediglich zum Ziel, grund-
70 legende mentale Operationen, die sich in Schreibpausen vollziehen, in ihrer Form und ihrem Verlauf der Analyse zugänglich zu machen und so Hypothesen für weitergehende, inhaltlich-qualitative Untersuchungen zu gewinnen. Denn Planung in Schreibpausen besteht aus vielschichtigen, komplex verbundenen Aktivitäten. Die Analyse der mit diesen Aktivitäten gekoppelten nonverbalen Verhaltenskonfigurationen kann insofern helfen, erste Einblicke in die Art, den Umfang und den Ort dieser Aktivitäten im Schreibprozeß zu gewinnen.
4.3.3.2. Einfache und komplexe Pausen - Zur zeitlichen Struktur von Aufmerksamkeitsorientierungen im Schreibprozeß Wie sehen nun die Formen der Aufmerksamkeitsorientierung in den einzelnen Pausen aus? Verändern sie sich in Abhängigkeit z.B. von der Pausenposition? Und wie sind diese Orientierungen innerhalb einzelner Pausen verteilt? Zunächst läßt sich feststellen, daß im Hinblick auf die Formen der auftretenden Aufmerksamkeitsorientierungen zwei grundlegende Typen von Pausen auftreten: es sind dies einfache Pausen, in denen lediglich eine Form der Orientierung auftritt, und komplexe Pausen, in denen die Form der Orientierung (meist mehrfach) wechselt. Einfache Pausen zeichnen sich dadurch aus, daß sie insgsamt kürzer sind als komplexe Pausen und weitgehend in nicht syntaktisch definierten Positionen auftreten. D.h., sie stehen zumeist zwischen Wörtern, nicht zwischen Absätzen, Sätzen oder Teilsätzen. Im folgenden sollen diese Pausen als Wortpausen bezeichnet werden. In Beispiel (1) finden sich etwa kurze Phasen koordinierter Aufmerksamkeit, die im Anschluß an eine (hier nicht dargestellte) längere, komplexe Absatzpause auftreten. In diesen kurzen Wortpausen reaktualisiert und kontrolliert die Autorin offensichtlich Begriffe, die sie direkt aus dem Primärtext in den Zieltext übernimmt (interaktive Kategorien / Interpretations- und Interaktionsprozeß / rekonstruieren). (1) VP 18 PTO Es soll versucht werden interaktive Kategorien zu finden und
KO 3.1 3.3 3.2 2.5
1 0.8
r~ Interpretationsund Interaktionsprozesse zu rekonstruieren
2.0 1.7 2.6 0.9
RETRO
PRO
71 Für komplexe Pausen ist charakteristisch, daß sie zeitlich insgesamt wesentlich länger sind als einfache Pausen und zumeist in Absatz-, Satz- oder Teilsatzposition stehen. Sie sollen im weiteren insgesamt als Satzpausen bezeichnet werden. Komplexe Pausen bestehen, wie bereits erwähnt, aus mehreren Phasen wechselnder Aufmerksamkeitsorientierung. Die ihnen entsprechenden Blick-und Handkonfigurationen werden in ihnen mehrfach - und oft in schneller Folge gewechselt. Beispiel (2) zeigt eine komplexe Satzpause. (2) Vp 18 7/13 Das Ziel von Untersuchungen über solche Abschwächungen ist die Aufklärung ihrer interaktiven Funktionen. PTO
KO
RET
PRO
19.5
12 1.5 23.9
8.7
11.2
8.4
1 Das kann in zwei Teilschritten erreicht werden:
Kommen wir zur Frage der internen Struktur komplexer Pausen. Zur Untersuchung dieser Frage wurden insgesamt 64 zufällig ausgewählte Satzpausen von 5 Vpn der Textart Zusammenfassung hinsichtlich der auftretenden Häufigkeiten und der Zeitanteile der einzelnen Orientierungstypen analysiert. Die durchschnittliche Länge der insgesamt 343 Orientierungsphasen betrug zwischen Absätzen 5,9 Sekunden, zwischen Sätzen 5,5 und zwischen Teilsätzen 4,5 Sekunden. Abbildung 4.14. zeigt den prozentualen Zeitanteil der einzelnen Aufmerksamkeitstypen in den Pausenpositionen. Die Graphik verdeutlicht, daß in 60 - 70% der Pausenzeit der Primärtext im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht. Die Schreiber greifen in dieser Zeit auf ihr "externes" Langzeitgedächtnis in Form des Primärtextes zurück, um z.B. die für den Prozeß des Zusammenfassens benötigten Informationen bereitzustellen
72 oder zu reaktualisieren, sie auszuwählen und sie eventuell global auch schon zu strukturieren. Was die Autoren in dieser Zeit im einzelnen tun, läßt sich natürlich nicht sicher sagen. Mit einiger Sicherheit läßt sich aber wohl festhalten, daß die Schreiber in dieser Zeit der Primärtextorientierung nicht mit konkreten und lokalen Formulierungsplanungen beschäftigt sind. Phasen der prospektiven Zieltextorientierung, in denen sich die Autoren ganz dem Zieltext zuwenden, machen lediglich zwischen ca. 7 und 13% der Pausenzeit aus. Sie liegen damit ungefähr im Bereich der prozentualen Zeitanteile, die auch für Phasen der Zieltextkontrolle (retrospektive Zieltextorientierung 12,9 - 14,3%) und des kurzfristigen Abgleichs zwischen Primär- und Zieltext (koordinierte Aufmerksamkeit 9,8 - 14,3%) verwendet werden.
%
Positionen CH
PTO
HO Koo
ÜH
RET
IIS
PRO
Abb. 4.14.: Zeitlicher Anteil von Aufmerksamkeitsonentieningen einzelnen Pausenpositionen
Eher überraschend ist allerdings das Ergebnis, daß sich die zeitlichen Anteile der Aufmerksamkeitsorientierungen in Abhängigkeit von der Pausenposition nur wenig ändern. Zwischen Absätzen, Sätzen und Teilsätzen bleibt der prozentuale Zeitanteil der einzelnen Phasen annähernd gleich. Lediglich die absolute Länge
73 der einzelnen Phasen verkürzt sich in Abhängigkeit von der Pausenposition: Die Aufmerksamkeitsphasen zwischen Absätzen sind absolut länger als die zwischen Sätzen, diese wiederum länger als die zwischen Teilsätzen; strukturell, d.h. im Hinblick auf ihre relativen Anteile an der Gesamtpausenzeit, sind sich Satzpausen jedoch durchaus ähnlich.19 4.3.3.3. Komplexe Wortpausen: Frühstarts, Revisionen und RahmenDeskriptor-Wechsel In den bisherigen Ausführungen sind komplexe Satzpausen und einfache Wortpausen unterschieden worden. Diese Unterscheidung zielte darauf ab, komplexe, d.h. mehrschichtige, globale und lokale Planungsaktivitäten einerseits und einfache, d.h. nur von jeweils einer Aktivität beherrschte Planungsphasen andererseits voneinander zu unterscheiden. Auch Matsuhashi (1981) kommt in ihrer Untersuchung von Schreibpausen zu dem Ergebnis, daß die Komplexität der in ihnen ablaufenden Planungsprozesse sowohl mit der Länge der Pausen als auch mit den Formen der sie begleitenden nonverbalen Aktivitäten in Zusammenhang steht. Long pauses, accompanied by gazing or rereading activity and by removing the pen from the page, correspond to multiple decisions, generally ones which encompass global issues as well as local ones (Matsuhashi 1982, 287).
Im Gegensatz zu den hier dargestellten Ergebnissen (und z.T. auch zu früheren eigenen Untersuchungen, vgl. Matsuhashi 1981) schließt Matsuhashi jedoch einen Zusammenhang zwischen Planungsaktivitäten und der syntaktischen Position von Schreibpausen aus. Grammatische Einheiten, so ihre anfangs schon erwähnte These, sind nicht mit Planungseinheiten des Schreibprozesses identisch. Matsuhashis Auffassung scheint zunächst einleuchtend. Denn in der Tat treten im untersuchten Material nicht selten Schreibpausen auf, die in nicht-syntaktisch definierter Position stehen, also Wortpausen sind, die jedoch verhältnismäßig lang sind und sich durch komplexe Aufmerksamkeitswechsel auszeichnen. Wie kommen solche komplexen Wortpausen zustande? Und in welchem Zusammenhang stehen sie mit den "normalen" Strukturen des Schreibverlaufes - dem Wechsel einfacher Wortpausen und komplexer Satzpausen? Beispiel (3) zeigt eine komplexe Wortpause von insgesamt fast 28 Sekunden Länge lediglich unterbrochen durch das kurze Nachziehen eines Buchstabens), die sich unmittelbar nach dem Einleitungswort eines neuen Satzes findet. Auffällig ist, daß die komplexe Wortpause auf eine (recht selten auftretende) einfache Satzpause folgt, in der die Autorin sich zunächst ganz dem Primärtext Dies gilt - das soll ausdrücklich erwähnt werden - lediglich für die Pausenstruktur bei der Produktion von Zusammenfassungen. Auf die anderen in diesem Kapitel analysierten Produktionsprozesse lassen sich weder die Untersuchungsmethodik noch ihre Ergebnisse einfach übertragen.
74 zugewendet hatte, um - so ist zu vermuten - die für die geplante Zieltextäußerung notwendigen Informationen "einzulesen". Sie beginnt dann unmittelbar mit dem Einleitungswort Die, unterbricht dann allerdings für eine längere Phase (19,5 Sek.) der koordinierten Orientierung den FormulierungsprozeB. Erst nach mehrfachen raschen Wechseln zwischen koordinierter und unmittelbar auf den Zieltext bezogener prospektiver Orientierung wird der FormulierungsprozeB dann fortgesetzt. Was ist in dieser Sequenz passiert? Warum ist die Autorin hier gezwungen, den FormulierungsprozeB sogleich wieder abzubrechen? Offenbar unterbricht sie ihn deshalb, weil die für die geplante Textformulierung konstitutiven Planungsaktivitäten in der vorhergehenden Satzpause nicht ausreichend oder nicht vollständig abgewickelt wurden. Die komplexe Wortpause ist zum einen Folge dieses Planungsversäumnisses, sie ist zugleich aber auch das Mittel, mit der die defekten Planungsaktivitäten repariert werden. Mit den in der Wortpause ablaufenden komplexen Aktivitäten kehrt die Autorin gleichsam in eine Phase zurück, die ihren intendierten Ort in der vorhergehenden Satzpause hatte. Deren Funktionen werden quasi "verschoben". (3) Vp 18 w PTO
KO
RET
PRO
Die 19.5
l D 1.3
2.4
0.8 1.4
1.2 1.4
i Untersuchung von Partikeln in dieser Hinsicht ist unzureichend
Die Fortsetzung einer einfachen Satzpause als komplexe Wortpause, die sich in unmittelbarer Nähe einer syntaktischen Grenze befindet, ist der häufigste Fall, in dem komplexe Wortpausen auftreten. Sie lassen sich als Folge von Frühstarts auffassen, d.h. als Konsequenz der Tatsache, daß Schreiber bei noch nicht abge-
75 schlossener Planung mit der Formulierungsphase beginnen, die dann, zugunsten nachgeschobener Planungsaktivitäten, wieder verlassen wird. 20 Die Häufigkeit, mit der solche Frühstarts auftreten, läßt allerdings vermuten, daß sie weniger als Indikatoren für Planungsprobleme aufzufassen sind, sondern eher als Manifestationen spezifischer Planungsverfahren. Denn in vielen Fällen ist die Niederschrift spezifischer Wortarten wie Konjunktionen oder satzverknüpfender Adverbien eben auch ein Mittel, Fortsetzungsmöglichkeiten von vornherein zu beschränken und damit Planung zu effektivieren: Sie findet dann auf der Basis vorab eingeschränkter und überschaubarer Möglichkeiten statt. Frühstarts finden sich deshalb oft an Teilsatzgrenzen nach dem Einleitungswort des Teilsatzes (der Konjunktion). Matsuhashi gibt ein Beispiel aus ihrem Korpus (im Rahmen der eigenen Untersuchung wurden solche Fälle, wie erwähnt, generell als Teilsatzpausen aufgefaßt). communication is difficult because...people (Matsuhashi 1982, 287)
Ein weiteres Beipiel findet sich in dem bereits weiter oben in anderem Zusammenhang angeführten Ausschnitt: (4) Vp 18 PTO
KO
Kategorien
3^2
zu finden und
2.5
RET
PRO
Ï 0.8
Interpretations- und Interaktionsprozesse zu rekonstruier«!
20 In unmittelbar mündlicher Kommunikation finden sich übrigens ebenfalls "Frühstarts" - sie sind dort ein gängiges Verfahren des Sprecherwechsels (tum-taking), d.h. der Übernahme der Sprecherrolle durch den Hörer. Diese findet einerseits oft statt, bevor der vorgängige Sprecher seinen Redebeitrag vollständig beendet hat (vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974), andererseits aber auch, bevor der zukünftige Sprecher seinen Redebeitrag vollständig geplant hat. Zu den Formen, in denen sich solche Frühstarts in der mündlichen Kommunikation manifestieren ("Ja aber"; "Äh"), vgl. z.B. Keseling (1989).
76 Revisionen sind ein weiterer, häufiger Fall, der zu komplexen Wortpausen führt. 21 Beispiel (5) zeigt eine Revisionssequenz, in der mehrfach revidiert wird. In diesem Beispiel finden sich drei komplexe Wortpausen von insgesamt je 20.9, 24.8 und 27.9 Sekunden Länge. In diesem Zeitraum wird im wesentlichen nur die Äußerung ist die Formulierung produziert, dann wieder gestrichen und durch die Äußerung ist die An Aufklärung ersetzt. Die Ursache der komplexen Wortpausen liegt in dieser Sequenz offensichtlich darin, daß die Autorin zunächst Probleme hat, überhaupt eine Formulierung zu finden, nach einer Phase wechselnder koordinierter und prospektiver Orientierung dann eine fast wortgetreue Formulierung aus dem Zieltext übernimmt (ist die Formulierung), sich dann jedoch - nach längeren Phasen erneuter Zuwendung zum Primärtext - für eine "freiere" und dem Texttyp der Zusammenfassung angemessenere Äußerung entscheidet (ist die Aufklärung).
(5) Vp 18 R Das Ziel von Untersuchungen Aber Abschwächungen PTO
KO
RETRO
PRO
9.4 1.1
2.3
2.3
4.5
1.3 Ist die Formulierung
6.4
Auf Revisionen werden wir später noch ausführlicher eingehen (vgl. Kap. 5). Zur detaillierten Analyse von Revisionen auch im Zusammenhang des Realzeitverlaufes von Schreibprozessen vgl. Rau (1992).
77 PTO
KO
RETRO
PRO
15.4
1.5
1 3.6
2.1
18.0
1.2
ist die An 3.0
l.O
AB
2.3
Aufklärung
3.7
ihrer interaktiven Funktion.
2.3
1
I
Typisch an diesem Beispiel ist, daß die eigentliche Revision (das Streichen bzw. Ersetzen der Äußerung ist die Formulierung) sich bereits darin ankündigt, daß zur Produktion dieser Äußerung unverhältnismäßig lange gebraucht und in Form einer komplexen Wortpause pausiert wird. Sowohl diese Pause als auch die nachfolgenden komplexen Wortpausen sind Ausdruck dafür, daß der "normale" Verlauf des Planungs- und Formulierungsprozesses durch Probleme wie Schwierigkeiten bei der Auswahl von Formulierungen, Fehlplanungen und Korrekturen durchbrochen wird. Komplexe Wortpausen treten als Folge solcher Planungsund Formulierungsschwierigkeiten auf und stellen zugleich auch die Zeit bereit, diese Probleme zu beheben. Ein dritter Fall, in dem komplexe Wortpausen mitunter auftreten, soll abschließend kurz erwähnt werden. Komplexe Wortpausen treten oft dann auf, wenn im Schreibprozeß textmustertypische und routinehaft verfügbare Äußerungssegmente mit den eigentlich inhaltstragenden und insofern thematisch
78 wichtigeren Aussagen verknüpft werden müssen. Keseling (1987a, 1987b) nennt diese beiden Typen von Ausdrücken "Rahmenausdrücke" und "Deskriptionen". Die Gesamtheit der musterspezi fischen Merkmale eines bestimmten Textes nennen wir den Rahmen dieses Textes. Der Rahmen setzt sich also ausschließlich aus Ausdrücken und Formen zusammen, die auch in vielen anderen, der gleichen Textsorte zuzurechnenden Texten vorkommen und die insgesamt eine vergleichsweise einförmige oder formelhafte Gestalt aufweisen (...). So enthalten Wegbeschreibungen z.B. Ausdrücke vom Typ blickst Du auf -, du gehst -, überquerst-, hältst Dich-, kommst an - usw....Daneben enthält jeder Satz eine (oder mehrere) nicht formelhafte und nicht einförmige Deskription(en) (D), in den Wegbeschreibungen in der Regel Orts-, Richtungs- oder Orientierungsangaben (Keseling/Wrobel/Rau 1987, 360).
Für die Textart Zusammenfassung sind typische Rahmenausdrücke etwa die Autoren geben an; das Ziel des Aufsatzes ist; sie kommen zu dem Ergebnis. In der folgenden Sequenz findet sich eine komplexe Wortpause im Anschluß an einen derartigen Rahmenausdruck (Beispiel 6). Die komplexe Wortpause von insgesamt fast 40 Sek. Länge kommt offenbar dadurch zustande, daß der thematisch wichtige Teil der Äußerung, der Deskriptorausdruck von Interaktions- und Interpretationsregeln einen höheren Planungsaufwand erfordert als etwa die Produktion des vorhergehenden Rahmenausdrucks. Dieser Planungsaufwand wird in Form einer komplexen Wortpause mit längeren Orientierungen auf den Primärtext und Rückorientierungen auf den Zieltext (retrospektive Aufmerksamkeit) während der Formulierungssphase erbracht. Wiederum tritt diese komplexe Wortpause im Anschluß an eine einfache Satzpause auf, so daß hier eventuell auch der schon erwähnte Effekt des Pausenschiebens eine Rolle spielt. Gleichwohl deutet vieles darauf hin, daß RahmenDeskriptor-Grenzen zumindest anfallig für längere und komplex strukturierte Unterbrechungen des Schreibprozesses sind. (6) Vp 15 Rd PTO Ihr Ziel besteht in der Formulierung
KO
RET 27.5
7 von Interaktions-
1 20.4 1.1
PRO
79 Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: der Frage nach dem Zusammenhang komplexer Pausen, der Länge dieser Pausen und den möglichen Positionen, in denen sie auftreten. Zumindest vorläufig kann diese Frage so beantwortet werden, daß im Schreibprozeß eine deutliche Präferenz für komplexe Satzpausen besteht, komplexe Wortpausen hingegen an spezifische Bedingungen geknüpft sind, die eher die Ausnahme von der Regel bilden. Drei dieser besonderen Bedingungen wurden genannt: Frühstarts mit verschobenen Pausen, Fehlplanungen mit Revisionen und Rahmen-Deskriptor-Grenzen mit erhöhtem Planungsaufwand. Gerade beim Verfassen von Zusammenfassungen, einer Textart, die sich hinsichtlich ihrer Realzeitparameter als ausgesprochen schwierig und unflüssig erwiesen hat, sind die genannten Fälle von komplexen Wortpausen relativ häufig - weit häufiger jedenfalls als bei der Produktion einfacher Textarten wie Wegbeschreibungen oder persönlichen Briefen. Gleichwohl gibt es auch bei der Produktion von Zusammenfassungen eine deutliche Tendenz zu komplexen Satzpausen. Aufwendige und komplexe Planungsprozesse, in denen globale und lokale Entscheidungen zugleich gefällt werden müssen, werden von Schreibenden zumeist an jenen Positionen vollzogen, die mit oberflächenstrukturell zu bestimmenden syntaktischen Grenzen zusammenfallen. Dies muß nicht heißen, daß in den entsprechenden Pausen nur jeweils oberflächenorientiert geplant wird. Es heißt vielmehr, daß die vorgegebenen syntaktischen Segmente von Texten (bzw. von Sprache generell) im Prozeß der Textproduktion von Schreibenden für Zwecke der Schreibplanung benutzt werden. Dieses Prinzip korrespondiert im übrigen mit dem Prinzip der Pausenverteilung in der gesprochenen Sprache. Goldman Eisler (1968) weist darauf hin, daß geübte Sprecher Planungs- und auch Atmungspausen bevorzugt an syntaktischen Grenzen piazieren, daß die darin stattfindenden Planungsaktivitäten jedoch auf anderen als syntaktischen Prinzipien beruhen.22 Für die Produktion schriftlicher Texte scheint ähnliches zu gelten. In diesem Sinne hat Matsuhashi recht, wenn sie postuliert, daß Planung nicht mit grammatischen Einheiten zusammenfällt. Grammatische Einheiten werden vielmehr im Prozeß der Textproduktion für die vielfältigen, lokalen und globalen Zwecke der Planung benutzt, ohne damit alleiniger Gegenstand und alleiniges Prinzip der Planung zu sein.
4.4. Zusammenfassung Die Einzelanalysen verschiedener formaler Parameter des Produktionsprozesses unterschiedlicher Textarten haben insgesamt deutlich gemacht, daß Schreiben ein zeitlich relativ aufwendiger und mehr oder weniger diskontinuierlicher Handlungsprozeß ist. Diese Diskontinuität ist wesentlich durch die zeitliche 22
Goldman Eisler geht sogar soweit, die Notwendigkeit syntaktischer Planung generell zu verneinen. Diese Annahme, ist inzwischen wohl überholt und soll auch hier nicht vertreten werden. Es geht hier allein um das Prinzip, daß offenbar sowohl bei der Produktion gesprochener als auch geschriebener Sprache Planung an spezifische, syntaktisch zu definierende Orte "verlegt" werden kann.
80 Ausdehnung und die Verteilung von Schreibpausen bedingt. Generell und im Unterschied zum "Sprechen" zeichnet sich Schreiben durch einen hohen Anteil meist kurzer Pausen in nicht-syntaktisch definierten Positionen aus (Wortpausen), längere Pausen finden sich hingegen meist zwischen Absätzen, Sätzen oder Teilsätzen. Pausenlängen sind dabei wesentlich determiniert durch die jeweilige Pausenposition, den Typ der jeweils zu produzierenden Textart sowie durch Wechselwirkungen zwischen diesen Bedingungen. Betrachtet man Pausen als Indikatoren für die im Schreibprozeß zu erbringenden Planungserfordernisse, dann heißt dies, daß der Planungsaufwand und die Planungsorganisation sowohl von der Komplexität des jeweils zu produzierenden (grammatisch zu bestimmenden) Textsegmentes (Absatz, Satz, Teilsatz, Wort) als auch vom Typ der zu schreibenden Textart abhängig ist. "Zusammenfassungen" erwiesen sich als extrem planungsaufwendig, Wegbeschreibungen und persönliche Briefe hingegen als eher "einfache" Textarten. In zwei Untersuchungsschritten wurde die Unterscheidung zwischen (längeren) Satzpausen und (kürzeren) Wortpausen weiter differenziert. Bereits die methodenkritische Analyse des Effektes des "lauten Denkens" auf den Realzeitverlauf hatte zum Ergebnis, daß "lautes Denken" vornehmlich in Satzpausen auftritt und insofern nur punktuell den Realzeitablauf tangiert. Die Analyse von Aufmerksamkeitsorientierungen zeigte darüber hinaus, daß die Binnenstruktur von Satzpausen sich durch meist mehrfache Wechsel der Aufmerksamkeitsorientierung auszeichnet, in Wortpausen hingegen nur ein Typ der Orientierung auftritt. Diese beiden Beobachtungen wurden dahingehend gedeutet, daß im Schreibhandlungsprozeß Präferenzen für Typen von Planungsaktivitäten bestehen, die an textstrukturell zu bestimmende Positionen gebunden sind. Aufwendige und sowohl auf die Lösung globaler als auch lokaler Planungserfordernisse bezogene Aktivitäten treten demnach zumeist in komplexen Satzpausen, einfache Planungsprozesse hingegen in (einfachen) Wortpausen auf. Als Fälle komplexer Wortpausen und insofern als Ausnahmen von der o.g. Regel wurden exemplarisch "Frühstarts", "Fehlplanungen" (Revisionen) und "Rahmen-Deskriptor-Wechsel" analysiert. Insgesamt legen die Ergebnisse nahe, den Zusammenhang zwischen den formalen Strukturen des Schreibhandlungsverlaufes und seinen Produkten, den Texten, differenzierter zu modellieren, als dies bislang geschehen ist. Schreibplanung als zentrales Element der Handlungsorganisation vollzieht sich demnach weder gänzlich unabhängig von den grammatischen Strukturen von Texten (so Flower/Hayes), noch sind diese andererseits die alleinige Basis oder das Prinzip der Handlungsorganisation (so ζ. T. Matsuhashi). Grammatische Einheiten werden vielmehr im Prozeß der Textproduktion für die unterschiedlichen Erfordernisse der Planungsorganisation benutzt. Textstrukturen sind deshalb Mittel und Ergebnis der Handlungsorganisation gleichermaßen. Was - so müssen wir weiter fragen - heißt nun genau "Planen" beim Schreiben? In den bisherigen Analysen haben wir aufgrund einiger Hinweise lediglich unterstellt, daß sich in Schreibpausen wesentliche Teile der Schreibhandlungplanung vollziehen, ohne dabei genau anzugeben, worin diese Planung besteht. Betrachtet man Planen allgemein als eine "Form der Lösung komplexer
81 Handlungsprobleme durch Vorausstrukturiening" (Keseling/Wrobel/Rau 1987, 3S0), dann stellen sich zwangsläufig Fragen nach den Inhalten und den Organisationsprinzipien solcher Planungsprozesse. Diese Fragen werden im Mittelpunkt der folgenden Kapitel stehen. Dabei werden wir uns zunächst den Aktivitäten der Planung einzelner Textäußerungen zuwenden (Kap. S). Denn unmittelbare Produkte des Planens sind, wie wir gesehen haben, zunächst nicht ganze Texte, sondern einzelne Textäußerungen, die erst in ihrem Zusammenhang den Text konstituieren. Den Ausgangspunkt sollen dabei wiederum die "äußeren" und beobachtbaren Formen der Außerungsproduktion bilden: die textuell nachweisbaren Formen von Revisionen nämlich, in denen sich Teile des Planungsprozesses als Planänderungen manifestieren.
5. Der Formulierungsprozeß
Wer schreibt, formuliert Texte. Zwar ist Schreiben nicht mit Formulieren identisch; die Handlung des Formulierens ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Schreibens: jene Phase des Schreibprozesses nämlich, in der der Schreibzweck, die Intentionen und die Pläne des Schreibenden in die sprachlichen Äußerungen eines Textes transformiert werden. Daß das Formulieren im Prozeß der Textproduktion eine zentrale Rolle spielt, zeigt sich etwa darin, daß "Formulieren" und "Schreiben" alltagssprachlich oft synonym gebraucht werden. Man formuliert (schreibt) einen Brief oder einen Text. Andererseits bezeichnet Formulieren auch eine spezifische Phase des Schreibens. Wenn davon die Rede ist, daß man "etwas ausformuliert", "nur noch formulieren muß" oder "umformuliert", dann meint dies, daß die Aktivität des Formulierens gedankliche Konzepte oder schriftliche Vorlagen zur Voraussetzung hat, die gleichsam nur noch einer letzten Anstrengung bedürfen, um zu Texten zu werden. Oft ist es wohl diese letzte und im alltäglichen Sprachgebrauch eher gering geschätzte Anstrengung, die dafür verantwortlich ist, daß viele gute Gedanken nie mehr als Gedanken bleiben. Wie viele wären examiniert oder promoviert, hätten sie ihre "eigentlich schon fertige" Examens- oder Doktorarbeit "nur noch" formuliert? Formulieren ist - inbesondere im Rahmen schriftlicher Textproduktion eine besondere Leistung. Antos (1982) beschreibt dies treffend und zeigt in einer Analyse formulierungskommentierender Ausdrücke, in welcher Weise Äußerungen gerade als Formulierungsresultate kommunikativ relevant und brisant werden können: Über Formulierungen wird sich geeinigt oder gestritten, sie werden als schlecht oder brillant beurteilt, sie können Verständigung verhindern oder ihren Erfolg sichern. Dies gilt sowohl für Formulierungen in der spontan mündlichen Kommunikation als auch für schriftlich produzierte Texte. Hier vielleicht sogar in besonderem Maße. Wir werden im folgenden insofern auch auf die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen mündlichem und schriftlichem Formulieren einzugehen haben und dabei einige der theoretischen und methodischen Fragen zu klären versuchen, die sich für eine Untersuchung schriftlicher Formulierungsprozesse stellen.
5.1. Grundlagen einer Theorie des Formulierens - G. Antos Insbesondere im Rahmen der Rhetorik und der Stilistik sind Texte unter dem Aspekt ihrer Formulierung, d.h. der Wahl der ihnen inhärenten sprachlichen Mittel, thematisiert worden (vgl. z.B. Sandig 1978). Die Tätigkeit des Formulierens als eine Komponente im Prozeß der Produktion von Texten war hingegen kaum je Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung. Als erster hat
83 wohl Antos (1982) den Versuch unternommen, "Grundlagen einer Theorie des Formulierens" (so der Titel seiner Arbeit) zu explizieren. Sie verdient nähere Aufmerksamkeit, zumal sie eine Folie bietet, um theoretische Grundlagen und methodische Prinzipien der eigenen Untersuchung näher herauszuarbeiten. Antos beschreibt als das Ziel einer Theorie des Formulierens die Rekonstruktion der Handlungsweise 'Formulieren" durch eine Modellierung des Formulierungsprozesses und darin involviert die Spezifikation und Erklärung der im TextherstellungsprozeB sich konkretisierenden Formulierangsleistungen (Antos 1982 IX).
Aufgrund des generellen Anspruchs seiner Theorie unterscheidet Antos nicht zwischen "Formulieren" in der spontan mündlichen Kommunikation und der monologischen, schriftsprachlichen Textproduktion. Die Handlung "Formulieren" wird vielmehr unter dem generellen Aspekt ihrer Leistung für die Lösung von Verständigungsproblemen zwischen Sprecher/Hörer bzw. Schreiber/Leser modelliert. Im Mittelpunkt der Argumentation steht dabei die unter Bezug auf Modelle der kognitiven Psychologie (vor allem Dörner 1976) entwickelte These, daß Formulieren als Spezialfall eines "dialektischen" Problemlöseprozesses aufzufassen sei - als Lösung von Problemen mit unklarem Zielzustand. Formulieren wird demgemäß als Prozeß des verständigungsorientierten Umformulierens von Ausgangstexten zu Zieltexten beschrieben, in dem Probleme in Form von Verständigungsbarrieren unterschiedlichen Typs und Ausmaßes beseitigt werden müssen. Empirisch exemplifiziert Antos dies an Formen gemeinsamen, mündlichen Formulierens schriftlicher Texte: so etwa am Beispiel der Definition von universitären Veranstaltungen im Rahmen einer Kommissionssitzung (Antos 1982) oder eines von Studentinnen verfaßten Briefes an den Dekan der Fakultät (Antos 1984). Derartige "Textherstellungstexte" werden als das methodische Verfahren betrachtet, die (ja weitgehend mentalen) Prozesse der Lösung von Formulierungsproblemen empirisch und vor allem in textlinguistischer Perspektive zu erfassen. "Textherstellungstexte" sind - so Antos - "vollständige" Exothetisierungen der sich im Formulierungsprozeß stellenden Probleme und deren Lösungen. Antos' Konzeption des Formulierungsprozesses besticht zunächst dadurch, daß sie eine handlungs- und texttheoretische Perspektive auf Prozesse der Textherstellung eröffnet, die die Explikation von Strukturtypen von Kommunikationsproblemen bzw. -barrieren und deren funktionalen Zusammenhängen mit den im Formulierungsprozeß je verwendeten Lösungsmöglichkeiten erlaubt. Drei gewichtige Einwände1 ergeben sich jedoch gegen seine Konzeption des Formulierungsprozesses: Sie betreffen die Definition des Formulierens, die Einbindung des Formulierungsprozesses in den Gesamtprozeß der Textproduktion und die Methodik, mit der Antos seine Konzeption empirisch abzusichern sucht. Antos beschränkt die Leistung des Formulierens auf "innovative" Formen der Textproduktion, die von konventionalisierten Mustern oder situationspezifischen Sets von Routinen nicht oder kaum reguliert werden. Diese Konzeption von Formulierungsprozessen als Problemlösungsprozesse hat zur Folge, daß Zur ausführlichen Kritik vgl. auch Gülich/Meyer-Hermann (1984).
84
Formulierungsleistungen nur im Falle problematischer Verständigung gefordert werden: Formulieren hat subjektiv und objektiv "schwer" zu sein; es wird als Leistung erst nach Maßgabe der Höhe der zu überwindenden Kommunikationsbarrieren erforderlich. ...je konventioneller Texte werden sollen, bzw. je routinierter über ein Set textueller Repertoires verfügt wird, das lediglich situationsspezifisch reproduziert zu werden braucht, um so geringer die zu überwindenden Barrieren und um so geringer die zu lösenden Formulieningsprobleme. Im Extremfall brauchen bei vollständig konventionalisierten Texten (z.B. Kochrezepte) überhaupt keine Formulieningsprobleme gelöst werden (Antos 1984, 174).
Formulierungsprozesse sind in dieser Konzeption nicht Bestandteil jeder Form der Textproduktion, sondern lediglich in Verbindung mit Konzepten wie "Innovationsgrad eines Textes" oder "Grad der Konventionalisierung", über die die jeweilige Schwere des Formulierungsproblems definiert wird. Abgesehen einmal davon, daß derart evaluierende Kriterien wohl kaum objektiv zu bestimmen sind, verhindert eine Dichotomisierung von "innovativen" Formulierungsprozessen einerseits und "reproduktiver" Äußerungsproduktion andererseits gerade den Zugang zu den Problemen, die die Theorie des Formulierens zu lösen vorgibt: die Rekonstruktion der Handlungsweise Formulieren nämlich, die als kooperationsbezogene Handlung immer auf gesellschaftlich vorfindliche, konventionalisierte und mustergeleitete Formen der Handlungsregulation zurückgreifen muß. Dies zwar in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Maße - Grußformeln oder Anreden sind ohne Zweifel in anderer Weise konventionalisiert als wissenschaftliche Aufsätze. Aber auch deren Verfasser folgen vorfindlichen Mustern, orientieren sich an Regeln oder greifen auf Routinen zurück. Für die Rekonstruktion der Handlungsweise Formulieren ist es deshalb von besonderem Interesse, das Zusammenwirken und die Effekte einerseits mustergeleiteter bzw. routinisierter und andererseits innovativer Leistungen im Prozeß der Textproduktion aufzuschlüsseln. Unter Formulieren sollen deshalb hier generell die für die Produktion jeder sprachlichen Äußerung zu erbringenden Leistungen des "Versprachlichens" verstanden werden. Formulieren ist in dieser Perspektive eine in jedem Fall zu erbringende kommunikative Aufgabe, deren Bearbeitung allerdings den Charakter einer Problemlösung bekommen kann. Dies ist dann der Fall, wenn routinisierte oder schematisierte Mittel der Lösung entweder nicht vorhanden oder aber dem Textproduzenten nicht verfügbar sind. Die "Schwere" oder Problematik einer Formulierungsaufgabe bemißt sich mithin nicht nur an Kriterien wie "Innovationsgrad" oder "Kreativität" eines Textes, sondern auch am Ausmaß der dem Textproduzenten jeweils zur Verfügung stehenden Mittel. Das Schreiben eines Geschäftsbriefes etwa dürfte für Sekretärinnen kaum ein Problem sein, für ungeübte Schreiber kann es sich hingegen manchmal als unlösbare Aufgabe erweisen. Dieses einfache Beispiel deutet bereits an, daß die Schwere von Formulierungsaufgaben in vielen Fällen mit dem Kommunikationsmodus, in dem formuliert werden muß, in Zusammenhang steht. Vor allem schriftliches Formulieren
85 ist oft schwierig, Formulieren in der spontan mündlichen Kommunikation hingegen meist unproblematisch. Die spezifischen Bedingungen der Produktion schriftlicher Texte scheinen besondere Anforderungen an den Formulierungsprozeß zu stellen, die für spontan mündlich produzierte Sprache nicht oder nicht in diesem Maße gelten: Die Präferenz des Gesagten vor dem Gemeinten (Olson 1982), die Notwendigkeit von Textkohärenz und -kohäsion oder auch die Unmöglichkeit interaktiv unmittelbar wirksamer Verständnissicherungsleistungen sind Faktoren, die die Formulierung schriftlicher Texte in stärkerem Maße determinieren als das spontan mündliche Formulieren. Kommen wir zum zweiten Einwand: der Situierung von Formulierungsprozessen im Gesamtprozeß der Textproduktion. Im engem Zusammenhang mit der Beschränkung von Formulierungsleistungen auf "innnovative" Texte steht auch die Konzeption des "Formulierens als Umformulieren". Auch diese scheint empirisch und theoretisch nicht adäquat. Empirisch ist offensichtlich, daß der weitaus größte Teil spontan mündlichen Sprechens gerade nicht als Umformulierung von Ausgangstexten zu Zieltexten verläuft, Formulierungen im Sinne von Antos demnach eher seltene Ausnahmefalle bilden. Theoretisch ergibt sich aus dieser Konzeption das Problem, die Basis zu bestimmen, auf der Formulierungsprozesse operieren. Diese Basis dies ist unbestritten - kann ein Text sein. Allerdings würde man den Begriff des Textes extrem weit fassen müssen, um mentale Vorstufen von Formulierungsprozessen insgesamt als Texte gelten lassen zu können. Die Beschreibung von Formulierungsaktivitäten als textfundiertes Umformulieren schränkt insofern den Gegenstandsbereich einer - sicherlich sinnvollen - Theorie des Formulierens in unangemessener Weise ein. Sie verhindert damit auch, Formulierungsaktivitäten als eine Komponente im Gesamtzusammenhang textproduktiven Handelns zu situieren und deren Voraussetzungen und Funktionen in diesem Kontext zu klären. Formulieren soll demgegenüber hier als eine Komponente im Gesamtproduktionsprozeß von Texten aufgefaßt werden, in der Reformulierungsprozesse im Sinne von Antos eine zwar wichtige Rolle spielen können, die allerdings nicht auf derartige textbasierte Aktivitäten beschränkt ist. Den Input für Formulierungsprozesse bilden vielmehr die Ergebnisse vorgelagerter Aktivitäten des Erzeugens und Organisierens gedanklichen Materials, das in vielfältigen Formen repräsentiert sein kann. Der Zusammenhang der einzelnen Komponenten wird im Schreibmodell von Hayes/Flower (1980) deutlich.2 Dort ist Formulieren (translating) diejenige Komponente des Schreibprozesses, der Planungaktivitäten vorausgehen und der Prozesse des Überprüfens (reviewing) folgen. Formulierungsprozesse sind demnach intern determiniert durch Prozesse zielorientierten Planens (generating, organising und goal-setting), sie sind extern determiniert durch Strukturen des bereits vorhandenen Textes (text-produced-so-far). Formulieren ist damit eine Aktivität, die an vorgelagerte Prozesse der TextprodukDas Modell von Hayes/Flower ist natürlich kein angemessenes Modell des Formulierens (vgl. Kap. 2). Es wird hier lediglich angeführt, um die Notwendigkeit der Situierung eines Fonnulierungsmodells im Gesamtzusammenhang eines Modells der Textproduktion zu illustrieren.
86 tion anschließt, die aber zugleich auch auf derartige Prozesse zurückwirkt. Der Formulierungsprozeß ist mithin nicht ein mechanisches "Übersetzen" mental repräsentierter Gehalte in sprachliche Äußerungen, sondern die Produktionsphase, in der gedankliche Konzepte zum Teil auch entwickelt, ausgeformt oder modifiziert werden.3 Die Analyse von Formulierungsprozessen hat deshalb den gegenseitigen Einfluß und die Wechselwirkung der Komponenten Planen, Formulieren und Text in Rechnung zu stellen. Ein letzter Einwand richtet sich gegen die von Antos propagierte Methode der Datengewinnung und Interpretation - seinen empirischen Zugang zu Phänomenen des Formulierens durch die Analyse dialogisch verfaßter Textherstellungstexte. Zunächst erscheint es als gänzlich unwahrscheinlich, daß derartige Texte, wie Antos unterstellt, eine vollständige Exothetisierung mentaler Prozesse der Handelnden darstellen. Wesentlicher ist jedoch der Einwand, daß es kaum sinnvoll ist, aus der Analyse von Prinzipien dialogisch organisierter Textplanung in Textherstellungstexten auf Prinzipien der individuellen und insofern monologischen Formulierungsplanung zu schließen. Die Methode der Analyse von mündlichen Formulierungsinteraktionen bringt insofern Verzerrungen der Handlungsweise "Formulieren" mit sich, als solche Interaktionen Bedingungen und Umstände für Formulierungsleistungen schaffen, die im Prozeß des individuellen Formulierens entweder nicht oder in völlig anderer Weise gegeben sind. Zudem werden damit mögliche Differenzen zwischen Formen mündlichen und schriftlichen Formulierens verwischt bzw. der Analyse entzogen. Schriftliches Formulieren soll hier demgegenüber als eine Leistung aufgefaßt werden, in der zwar kommunikationsbezogene Aufgaben bewältigt werden, die jedoch individuell zu erbringen ist und die monologisch strukturiert ist. Im Gegensatz zu unmittelbar mündlichen Formen der Sprachproduktion, in denen Formulierungsprozesse sich unmittelbar in Strukturen des jeweils produzierten Textes manifestieren, zeichnet sich die Produktion schriftlicher Texte durch die relative Eigenständigkeit von Formulierungsprozessen einerseits und erzeugten Textstrukturen andererseits aus. Schriftliche Texte sind mithin in einem anderen Sinne Formulierungsresultate als spontan produzierte mündliche Äußerungen. Während diese Aktivitäten des Planens oder der Korrektur sich unmittelbar in Strukturen von Äußerungen etwa in Form von Verzögerungsphänomenen, Reparaturen, Reformulierungen usw. zeigen, zeichnen sich schriftliche Texte dadurch aus, daß die Spuren ihrer Entstehung weitgehend getilgt sind. Einem Text ist - normalerweise - nicht anzusehen, wo der Schreiber gezögert hat oder welche Formulierungen er eventuell in Betracht gezogen, verworfen oder revidiert hat. Leser haben insofern meist weder Kenntnisse über den Verlauf der Produktion eines Textes noch haben sie unmittelbaren Einfluß darauf. In spontan mündlicher Kommunikation hingegen ist der Einfluß der Interaktionspartner auf den Formulierungsprozeß beträchtlich (vgl. etwa Goodwin 1980). Dies bedeutet aber, daß schriftliche Formulierungsprozesse in gänzlich anderer Weise zu analysieren sind als entsprechende Prozesse in der spontan 3
Kleists "Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" bezeichnet diese Wechselwirkung treffend. Eigler (1985) und Molitor (1984) bezeichnen die erkenntnisbildende Wirkung vor allem des Schreibens als dessen epistemische Funktion.
87 mündlichen Kommunikation. Schriftliches Formulieren ist monologisch organisiert, d.h. es ist primär im Zusammenhang der sich im Kopf des Textproduzenten abspielenden Formulierungsplanung und seiner aktionalen Formen der Formulierungsrealisation zu untersuchen. Faßt man die hier vorgebrachten kritischen Einwände gegen die Formulierungskonzeption von Antos zusammen, dann ergibt sich daraus ein in doppelter Weise erweiterter Begriff des Formulierens. Formulieren mufl als konstitutives Stadium jeder Form der Textproduktion aufgefaßt werden und ist aus diesem Grunde weder theoretisch noch methodisch auf textbasierte Aktivitäten zu beschränken. Die Beschreibung des Formulierungsprozesses als Umformulieren trifft insofern einen zwar wichtigen, aber eben nur einen Aspekt des Problems - einen allerdings gerade innerhalb der Schreibforschung prominenten. Denn dort wird der Prozeß der Textformulierung und ζ. T. des Schreibens insgesamt häufig im Zusammenhang mit Revisionsaktivitäten diskutiert ("writing is rewriting"). Es ist deshalb sinnvoll, die Frage nach den Formen und Funktionen von Formulierungsaktivitäten beim Schreiben zunächst unter dem eingeschränkten Gesichtspunkt der Formen und Funktionen von Revisionen zu stellen.
5.2. Revidieren - Ein Sonderfall des Formulierens Revisionen sind ohne Zweifel wichtige Bestandteile von Formulierungsprozessen.4 Denn Revisionen sind es oft, durch die ein schriftlich produzierter Text seine endgültige Gestalt erhält: durch sie werden Fehler korrigiert, Wortwahl, Syntax, Stil und oft auch Inhalt einzelner Textäußerungen oder ganzer Textpassagen modifiziert. Gerade die Möglichkeit des Revidierens unterscheidet das Schreiben vom Sprechen. Während die spontan produzierte Sprache eine irreversible lineare Struktur hat, die insofern nicht revidierbar ist, sondern in der höchstens nachträgliche Reparaturen und Korrekturen möglich sind, bietet das Schreiben extensive Möglichkeiten, einmal formulierten Text zu verändern. Roland Barthes (1971) sieht hier sogar die markanteste Differenz zwischen Sprechen und Schreiben. Murray (1978) definiert mit seinem oft zitierten Satz vom "Writing is Rewriting" sogar Schreiben insgesamt als revidierendes Schreiben (vgl. auch Äugst 1988). Revisionen sind oft die einzigen Spuren der Prozesse, in denen Texte entstehen. Auch aus diesem Grund gehören Revisionen zu den bevorzugten Untersuchungsobjekten der in verschiedenen Disziplinen verankerten Forschungsrichtungen, die Texte in der Perspektive der Bedingungen und Formen ihrer Produktion in den Blick nehmen. Im Rahmen der Schreibforschung ist bislang allerdings unklar, welchen Stellenwert Revisionen für den Textherstellungsprozeß haben und wie sie in seinem Gesamtzusammenhang zu verorten sind. Dies zeigt Die im folgenden dargestellten Überlegungen zum Zusammenhang von Revisionen und Formulierungsprozessen finden sich, in stark gekürzter Form, auch in Wrobel (1992).
88 sich etwa in der Dichotomie, die zwischen den zahlreichen empirischen Untersuchungen revidierender Aktivitäten und ihrer theoretischen Modellierung besteht. Während die einschlägigen Modelle des Schreibprozesses stets den Aspekt der Rekursivität und Reflexivität von Revisionsaktivitäten und damit ihre Einbettung in den Prozeß der Texterzeugung betonen (Hayes/Flower 1980; Molitor 1984), sind die weitaus meisten empirischen Analysen produktorientiert:5 Revisionen werden weitgehend als Veränderungen manifester Textäußerungen untersucht, Revidieren wird damit implizit als die lediglich letzte - empirisch greifbare - Stufe der Textherstellung konzeptualisiert. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die Funktion von Revisionen und ihren systematischen Ort im Prozeß der Textherstellung genauer zu bestimmen, als dies bislang geschehen ist. Dazu werden zunächst die wichtigsten Konzeptionen und Ergebnisse der Revisionsforschung vorgestellt. Anschließend wird dann an Beispielen ein Modell des Revidierens entwickelt, das Revidieren eng an Prozesse der Formulierungsplanung koppelt. Revidieren - dies ist die zentrale These - ist ein Ensemble von Handlungen, die funktional im Zusammenhang der Prozesse zu analysieren sind, in denen Gedachtes und Gemeintes im Textproduktionsprozeß versprachlicht und formuliert wird.
5.2.1.
Revidieren als Retranskription - Die traditionelle Sicht
Sommers definiert Revisionen as a sequence of changes in composition - changes, which are initiated by cues and occur continually throughout the writing of a work (Sommers 1980, 380).
Revidieren ist in dieser Perspektive eine Aktivität, die kontinuierlich während des Schreibprozesses auftreten kann, die mithin nicht nur als eine nachträgliche Phase des Schreibens aufzufassen ist (vgl. zu dieser Vorstellung Rohman 1965). Revisionen setzen gleichwohl die Existenz eines vorliegenden Textes voraus. Ihre Grundlage und ihr Spezifikum besteht allgemein in Vergleichsoperationen, mit denen ein produzierter Text mit gleichzeitig vorhandenen alternativen Wissensrepräsentationen bewertet wird. ... revision is invariably distinguished from text generation by the fact that it involves some fairly explicit processes of comparison, generally between some segment of a text (a word, phrase, sentence, paragraph etc.) and some representation of a writer's knowledge or intention, which results in some attempts to change existing text (Bartlett 1982, 346).
Revidieren ist eine auf Vergleichsoperationen basierende Handlung der Retranskription vorhandenen Textes. Bartlett (1982) beschreibt drei grundlegende Subprozesse, die für Revidieren konstitutiv sind:
Diese Prozeß-Produkt-Dichotomie ist für die gesamte Schreibforschung kennzeichnend. Zur ausführlichen Diskussion und Vorschlägen zu ihrer Überwindung vgl. Witte/Cherry (1986).
89 - Entdeckungsprozeduren ("detection"), über die Dissonanzen zwischen manifesten Textäußerungen und Wissensrepräsentationen festgestellt werden; - Identifikationsprozesse ("identification"), die der zielorientierten Konkretisierung und bewußten Aktualisierung entdeckter Dissonanzen dienen; - Verbesserungsverfahren ("correction strategies"), vermittels derer identifizierte Dissonanzen beseitigt werden. Zentral für die von Bartlett, Sommers oder auch Nold (1981) vertretende Auffassung des Revidierens ist der Begriff der Dissonanz zwischen manifestem Text einerseits und mentalen Repräsentationen andererseits. Dissonanz hat dabei die Fähigkeit der Loslösung ("detachment") vom produzierten Text zur Voraussetzung. Schreiber müssen sich von ihrem Text distanzieren können, um ihn vor dem Hintergrund möglicher anderer Realisationsweisen bewerten und eventuell verändern zu können. Insbesondere Murray (1978) und Sommers (1980) betonen den Zusammenhang zwischen dieser Fähigkeit und der Qualität der produzierten Texte. Rewriting is the difference between the dilettant and the artist, the amateur and the professional, the unpublished and the published" (Murray 1978, 85). Good writing disturbs: it creates dissonance (Sommers, 1980, 387).
Im Rahmen der Konzeption von Revisionen als Retranskription sind eine Reihe von Taxonomien entwickelt worden, um Typen von Revisionen und ihre Effekte auf Textstrukturen zu differenzieren. Die relativ globalen Unterscheidungen zwischen inhaltsbezogenen und rezipientenbezogenen Revisionen (Murray 1978) bzw. auch Schreibprozessen (Flower 1979) zielen dabei vor allem auf die Explikation verschiedener Entwicklungsstufen von Texten, etwa der Veränderungen von Textentwurf und Endfassung. Differenziertere Kategoriensysteme wie die von Faigley/Witte (1981) oder Baurmann/Ludwig (1985) versuchen hingegen, die Effekte von Revisionen auf Textstrukturen im einzelnen zu erfassen und derart Instrumente für die empirische Erfassung von Revisionen bereitzustellen. Faigley/Witte (1981) unterscheiden Oberflächenrevisionen ("surface changes"), die keine bedeutungsverändernde Wirkung haben, und Tiefenrevisionen ("text-base changes"), die den Bedeutungsgehalt eines produzierten Textes entweder partiell ("microstructure changes") oder sogar in seinem zentralen Gehalt ("macrostructure changes") verändern. Revidiert wird dabei durch Aktivitäten des Hinzufügens ("addition"), der Umstellung ("permutation"), des Verteilens ("distribution") ursprünglich syntaktisch integrierter Informationen auf verschiedene Sätze oder des Integrierens ("consolidation") syntaktisch separierter Informationen.
90 Revision Changes
Text-Base Changes
Surface C
Formal Changes
Meaning-Preserving Changes
Microstructure Changes
Macrostructure Changes
Spelling Tense, Number and Modality Abbreviation Punctuation Format
Additions Deletions Substitutions Permutations Distributions Consolidations
Additions Deletions Substitutions Permutations Distributions Consolidations
Additions Deletions Substitutions Permutations Distributions Consolidations
Abb. 5.1.:
Revisionstypen (Faigley/Witte 1981)
Die Unterscheidung von Revisionen nach dem Grad ihrer textverändernden "Tiefe" ist - in dieser oder ähnlicher Form - Grundlage einer ganzen Reihe von Untersuchungen geworden, die zumeist im Rahmen des "Novizen-Experten"-Paradigmas Unterschiede zwischen "guten" und "schlechten" Schreibern bzw. auch die Entwicklung von Revisionsfähigkeiten zum Gegenstand haben. Faigley/Witte (1981) fanden signifikante Unterschiede in der Auftretenshäufigkeit verschiedener Revisionstypen bei erfahrenen und unerfahrenen Schreibern: Bedeutungsverändernde Revisionen machen bei Novizen nur 12% aller Revisionen aus, bei fortgeschrittenen Studenten und professionellen Schreibern hingegen 24 bzw. 34%. Sommers (1980) stellt in einer Analyse von Interviews fest, daß unerfahrene Schreiber und Experten sich nicht nur hinsichtlich der jeweils gebrauchten Formen von Revisionen unterscheiden, sondern auch im Hinblick auf ihre subjektiven Revisionstheorien. Unerfahrene Studenten betrachten Revidieren demnach als oberflächenorientiertes "Bereinigen" ("clean-up") eines Textes. The students understand the revision process as a rewording activity... Lexical changes are the major revision activities of the students... (Sommers 1980, 381; ähnlich auch Bridwell 1980).
Experten sehen Revidieren hingegen als einen den gesamten Text einbeziehenden Prozeß, in dem auf verschiedenen Ebenen Textbedeutungen und Textstrukturen entwickelt und ausgeformt werden.
91 The experienced writers see their revision process as a recursive process - a process with significant recurring activities - with different levels of attention and different agenda for each cycle (Sommers 1980, 386).
Die unterschiedlichen Revisionsfahigkeiten von erfahrenen und unerfahrenen Schreibern werden dabei in Anlehnung an das PIAGETsche Konzept des Egozentrismus erklärt. Unerfahrene Schreiber sind demnach nur beschränkt in der Lage, sich vom eigenen Text zu distanzieren und Vergleichsoperationen zu vollziehen, die Dissonanzen zwischen intendierten und textuell manifesten Textwirkungen betreffen. Beach (1976) und Flower (1979) erklären so etwa die mangelnde Rezipientenorientierung unerfahrener Schreiber. Untersuchungen von Bartlett (1982) ergaben, daß Schüler in der Tat signifikant häufiger Fehler in fremdverfaßten Texten auffinden und revidieren können als in selbstverfaßten. Auch Matsuhashi/Gordon (1985) weisen darauf hin, daß bedeutungsverändernde Revisionen häufiger auftreten, wenn Schreiber mit spezifischen Anweisungen nämlich nur Informationen hinzufügen - und vor allem ohne Vorlage bereits geschriebenen Textes revidieren.6 ...when the writer adds to an unseen text, his plans are based on a mental representation of the text. The opportunity to plan - free from both the presence of the text and the efforts of prose production - offers an incentive to work exclusively with the idea structure of the text (Matsuhashi/Gordon 1985, 237).
Schon Bartlett (1982) warnt jedoch davor, Unterschiede in den Revisionsfähigkeiten im Rahmen eines generalisierten Egozentrismuskonzeptes zu erklären. So ist die Fähigheit, Fehler zu entdecken und zu revidieren,7 einerseits abhängig vom Fehlertyp; sie ist andererseits relativ unabhängig von der Möglichkeit, diese auch entsprechend zu revidieren. Revisionsprozesse sind insofern mehr durch das komplexe Zusammenwirken verschiedenartiger und aufgabenspezifi6
7
In ähnliche Richtimg weisen auch Untersuchungen zum Prozeß des Zusammenfassens. Zusammenfassungen werden eigenständiger und dem Primärtext unähnlicher, wenn Schreiber nicht unmittelbar auf den Primärtext zurückgreifen können (Hidi/Anderson 1986). Auch hier fuhrt mithin zeitlich-räumliche und damit auch kognitive Distanz zu erhöhten Möglichkeiten der Revision (im weiten Sinne von Veränderung) eines Textes. Eine verbreitete Methode der Untersuchung von Revisionsfähigkeiten besteht darin, Texte mit 'implantierten" Fehlern revidieren zu lassen (vgl. z.B. Bartlett 1982; Hayes/Flower/ Schriver/Stratman/Carey 1987; Piolat/Roussy/Guercin 1989). Diese Methode ist vor allem deshalb nicht unproblematisch, weil nicht immer klar wird, was genau als "Fehler" gilt. Während für orthographische und Interpunktionsfehler sowie grammatische Fehler eine Entscheidung über richtig und falsch unproblematisch sein dürfte, ist dies bei den durchaus häufigen "Ausdrucksfehlern" nicht immer der Fall. Keller (1987) demonstriert einleuchtend den Aufwand, den die Analyse eines sogenannten "Ausdrucksfehlers" wie "Aus dem Fenster sieht man eine vorbeirauschende Landschaft" erfordert. Er schließt daraus, daß es sich hierbei um logisch-semantische Fehler handelt, die aufgrund ihrer individuellen Natur jedenfalls nicht auf der Basis normativer grammatischer Regeln zu explizieren und deshalb kaum praktikabel zu systematisieren sind. D.h., ein ausschließlich linguistisch definierter Fehlerbegriff erfaßt einen relevanten Teil deijenigen Fehler nicht, die in besonderer Weise revisionsbedürftig sind: die Fehler des Denkens.
92 scher kognitiver Strategien geprägt als durch den Mangel oder die Existenz einer einheitlich zu erklärenden Fähigkeit (Fayol 1991). Eine wichtige Rolle spielen hier etwa Faktoren wie Schreibmittel, der Typ der jeweils zu bewältigenden Schreibaufgabe oder auch Revisionsstrategien, die wiederum von bestimmten Formen des Textwissens determiniert werden (Piolat/Roussey/Guercin 1989). Spezifische Schreibmittel - etwa die Möglichkeiten moderner Textverarbeitungsprogramme - scheinen revidierende Aktivitäten zu fördern (Daiute 1986; Bridwell-Bowles/Johnson/Brehe 1987).8 In einer Fallstudie, auf die wir noch näher eingehen werden, stellt Matsuhashi (1987b) fest, daß bei der Produktion beschreibender Texte nicht nur mehr oberflächenorientierte Revisionen auftreten als im Falle argumentativer Texte, sie treten zudem an anderen Positionen im Schreibprozeß auf, beanspruchen verschiedenartige Zeitanteile am Gesamtschreibprozeß und beeinflussen insofern dessen Realzeitstruktur beträchtlich. Revisionen sind insofern Ergebnisse komplexer und multifaktoriell determinierter Aktivitäten, die im Zusammenhang mit anderen, den Schreibprozeß konstituierenden Faktoren zu analysieren sind. Bartlett beschreibt dies unter Bezug auf die von ihr untersuchte Gruppe: ... it appears, that children's revision difficulties are not simply due to some general ability to make rapid comparisons. Nor is it the case that (...) all text comparisons draw on roughly the same types of cognitive skills. Rather, it appears likely that different skills are involved, depending on the type of knowledge required and the circumstances under which that knowledge must be assembled (Bartlett 1982, 353).
5.2.2.
Textrevisionen im Schreibprozeß
Die bisher dargestellten Auffassungen und Untersuchungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie Revidieren als eigenständigen, rekursiven Prozeß konzeptualisieren, in dem, auf der Grundlage manifester Texte bzw. Textsegmente, Textmodifikationen unterschiedlicher Tiefe vorgenommen werden. Theoretisches Konzept und Methodik sind dabei weitgehend produktorientiert: ihr Ausgangspunkt ist der zu verändernde oder veränderte Text, aus dem die Kriterien für Kategorisierung von Revisionen oder "guten" und "schlechten" Schreibern gewonnen werden. Der eigentliche Prozeß des Revidierens wird dabei kaum thematisiert. Hier finden sich lediglich kursorische Bemerkungen oder allgemein gehaltene modelltheoretische Überlegungen, die sich zumeist auf den Hinweis seiner "Rekursivität" beschränken. Witte (1985) kritisiert zu Recht, daß eine derartige Perspektive im Prinzip den linearen Stufenmodellen des Schreibprozesses entspricht, wie sie den schon erwähnten Untersuchungen etwa von Rohman (1965) oder Britton/Burgess/Martin/McLeod/Rosen (1975) zugrundeliegen. Zum Thema "Schreiben und Computer" vgl. auch die Untersuchungen in Written Communication (1991, Vol. 8, No. 1, "Computers, language, and writers"). Zur Veränderung von Sprache durch den Computereinsatz allgemein und verständlich Zimmer (1990). In sprachphilosophischer Perspektive beleuchtet Geier (1992) den Einfluß der schriftorientierten Computerkultur auf den Begriff sprachlich-dialogischer Verständigung.
93 Despite the claims of some researchers to the contrary, most research on revising, by focussing primarily on retranscriptions, presupposes something like a stage conception of composing. That is to say, research on revising has largely limited the phenomenon even when seen as a recurrent process - to the final stage in a sequence of stages and has narrowly defined revising as the manipulation and alteration of features of written texts (Witte 1985, 258).
Bevor wir auf die Konsequenzen dieser Kritik näher eingehen (vgl. Kap. 5.3.), wollen wir uns zunächst noch mit einigen Fragen beschäftigen, die den Prozeß des Revidierens betreffen. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen also weiterhin nur Textrevisionen, d.h. Veränderungen manifester Textsegmente. Diese allerdings unter dem erweiterten Aspekt ihrer Formen und insbesondere Funktionen im Schreibprozeß. Wann treten welche Textrevisionen im Schreibprozeß auf? Inwieweit sind Textrevisionen Elemente des Formulierungsprozesses? Die Beantwortung dieser Fragen hat zum Ziel, die besondere Rolle von Textrevisionen für den Schreibprozeß näher aufzuschlüsseln und deren Zusammenhang mit anderen Komponenten dieses Prozesses weiter zu klären.
5.2.2.1.
Theoretische und methodische Grundlagen einer prozeßorientierten Analyse
Matsuhashi (1987b) hat sich in einer Studie insbesondere mit den o.g. Problemen der Situierung von Revisonsprozessen in konkreten Prozessen der Textproduktion beschäftigt. Zentral für ihre Analyse ist die - in Anlehnung an Vorstellungen von de Beaugrande (1980) entwickelte - Unterscheidung von konzeptuellen und sequentiellen Plänen, auf denen Revisionsaktivitäten jeweils operieren. Konzeptuelle Pläne steuern demnach die Erzeugung und Organisation globaler und lokaler textsemantischer Relationen ("global discourse plans" bzw. "conceptual sentence plans"), sequentielle Pläne regeln die Erzeugung und Organisation syntaktisch und lexikalisch manifester (Satz-)oberflächenstrukturen ("sequential plans"). Abb. 5.2. erklärt die getroffenen Differenzierungen genauer. Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung Matsuhashis besteht darin, daß Art, Zeitpunkt und Zeitumfang von sequentiellen und konzeptuellen Revisionen in starkem Maße vom Typ der jeweils zu bewältigenden Schreibaufgabe bzw. Textart determiniert werden. Dies steht in Übereinstimmung mit den bereits erwähnten Ergebnissen von Bartlett (1982). In unserem Zusammenhang ist jedoch vor allem das Schema interessant, das Matsuhasi für eine primär prozeßorientierte Erfassung von Revisionen und ihres Zusammenhanges mit Planungsprozessen vorschlägt. Es soll - in erweiterter Form - die Grundlage für unsere Analyse von Revisionen bilden.
94 Contait Coding Scheme for Revisions
Explanation
Category
(1) Conceptual Plans Global Discourse Plans
Evaluating the plan for the text and evaluating the extant text against goals.
Conceptual Sentence Plans
Chunking idea units; testing the verbalizability of an idea as the basis for a grammatically complete assertion; successively detailed decisions regarding semantic relation ship (e.g. cohesion, given-new).
(2) Sequential Plans Textual Sentence Plans
Abb. 5.2. :
Assigning lexical items and clausal structures to semantic relationship; sequencing; grammaticality; correctness; and inscription.
Schema einer prozeBorientierten Analyse von Revisionen (Matsuhashi 1987b)
Betrachtet man Revisionen nicht nur hinsichtlich ihrer Effekte auf manifeste Textstrukturen, sondern auch im Hinblick auf ihre Funktionen und ihre Situierung im Schreibprozeß, dann lassen sich drei Dimensionen unterscheiden, in denen Revisionen klassifiziert werden könnnen: aufgrund von Merkmalen des Textinhaltes, der verändert wird, der Handlungen, vermittels derer Veränderungen vorgenommen werden, und der Positionen, in denen solche Veränderungen im Schreibprozeß auftreten. Wir werden daher unterscheiden - die Inhaltsebene, die von Textrevisionen betroffen wird. In Anlehnung an Matsuhashi werden wir hier differenzieren zwischen konzeptuellen Revisionen, die das Textschema oder Satzschemata modifizieren (makrokonzeptuelle (makon) und mikrokonzeptuelle (mikon) Revisionen) und sequentiellen Revisionen, die Veränderungen innerhalb vorliegender Text- bzw. Satzschemata betreffen (sq). - die Handlungsebene, in der der Typ der Handlung spezifiziert wird, durch die Revisionen vorgenommen werden. Hier sollen vereinfachend drei Grundtypen von Handlungen angenommen werden: Additionen (add), Deletionen (del) und Substitutionen (sub) von Textsegmenten;
95 - die Position, in der Revisionen auftreten. Wir unterscheiden hier Revisionen, die sofort (so), innerhalb bzw. außerhalb des zu schreibenden Satzes (satzintern (si) und satzextern (se), und in einer eigenständigen, dem Textproduktionsprozeß nachgeschalteten Revisionsphase (Rp) stattfinden (vgl. auch Matsuhashi 1987). Grundlage der eigenen Untersuchung sind insgesamt 41 Schreibprozesse der Textarten Wegbeschreibung und Geschäftsbrief, in denen insgesamt 201 Revisionen auftraten. Um die Anzahl der Revisionen zu erhöhen, wurden für die Erhebung häufigkeitsbezogener Parameter Schreibprozesse mit lautem Denken in die Analyse einbezogen. Zeitbezogene Parameter wurden auf der Basis von Schreibprozessen ohne lautes Denken erhoben. Tabelle 5.3. zeigt die Zusammensetzung des Korpus genauer.
TEXTART
GBOLD
GBLD
WBOLD
WBLD
GESAMT
ANZAHL Vpn
10
17
6
8
41
WORTZAHL
1026
2133
1121
1432
5712
REV. ZAHL
41
117
17
26
201
Tab. 5.3.:
Das Koipus der Analyse von Textrevisionen (GB= Geschäftsbriefe; WB = Wegbeschreibungen; LD = mit lautem Denken; OLD = ohne lautes Denken)
Für die speziellen Zwecke der Untersuchung wurde das Material so umtranskribiert, daß eine Identifizierung von Revisionsinhalt und -typ sowie Revisionsposition möglich war. Die folgenden Ausschnitte aus einem Geschäftsbrief veranschaulichen die Transkriptionsweise und sollen zudem das gewählte Klassifikationssystem erläutern helfen. (1) VP 7 GBLD *3* 5 Vor 3 Wochen hat ihre Firma [unsere] (meine)
*4* 6 Waschmaschine angeschlossen und [...](dabei auch) neue(3)(2)1
*4* 7 Schläuche montiert.
Revision *3* tritt in der an den Schreibprozeß anschließenden Revisionsphase auf und besteht in einer Ersetzung von [unsere] durch (meine). Da es sich hier um eine Revision unter Beibehaltung des vorhandenen Satzschemas handelt,
96 wurde sie als sequentiell (sq), Substitution (Su) und hinsichtlich ihrer Position als Revisionsphase (Rp) klassifiziert. Revision *4* besteht in einer Hinzufügung von (dabei auch), die in einer Pause von insgesamt 5 Sek. Länge und nach dem Niederschreiben eines weiteren Wortes (neue) vollzogen wird. Die Revision wurde als sequentiell, Addition (Ad) und satzintern (si) klassifiziert. (2) 12 Bereits nach 3 Wochen ging der neue 13 Laugenschlauch kaputt, weshalb es notwendig «6*
14 wurde, ihre Firma erneut zu bestellen(2) [,] (x) (1) (0.5)
I *6*
15 für die anstehenden Reparaturarbeiten.
Revision *6* besteht in einer Deletion eines gesetzten Kommas, die sofort in einer Pause von 1,5 Sek. stattfindet. Die Revision wurde als sofort (so), Deletion (Del) und mikrokonzeptuell (mikon) kategorisiert, da hier ein offenbar zunächst geplantes Satzschema verändert wird.
(3) 20 Diese Arbeiten in Rechnung zu stellen geht in keiner Heise in Ordnung. *12*
21 [Ich beschwere mich] ( xxxxx )(7) (4)
I *12* 22 Von neuem Material kann ich erwarten, daß es über 23 Jahre hinweg seine Dienste tut.(29,5) (1,5) (11,5)
Revision *12* wurde als makrokonzeptuell (makon) klassifiziert, da der Schreiber hier ein zunächst intendiertes Textsegment (die Beschwerde) zugunsten einer weiteren Schilderung von "normalen Erwartungen an Haltbarkeit von Material" zurückstellt und damit sein gesamtes Textschema modifiziert. Dies geschieht vermittels einer Deletion, die sofort an die Niederschrift des revidierten Textsegmentes anschließt (Del, so, makon).
97 5.2.2.2. Ergebnisse 5.2.2.2.1. Häufigkeiten von Revisionen Betrachtet man die Anzahl der im Schreibprozeß auftretenden Textrevisionen, dann fallt auf, daß die Häufigkeit von Textrevisionen von Schreiber zu Schreiber stark schwankt und zudem auch von der jeweils produzierten Textart determiniert wird: einige revidieren häufig, andere überhaupt nicht; in Wegbeschreibungen wird generell weit weniger revidiert als in Geschäftsbriefen. Bei der Produktion von Wegbeschreibungen tritt im Durchschnitt eine Revision auf 60 produzierte Wörter auf, bei Geschäftsbriefen beträgt der Revisionsfaktor (Anzahl der produzierten Wörter/Anzahl der Revisionen) hingegen achtzehn. Pausen, in denen Revisionen auftreten, machen insgesamt nur zwischen 4 % (Wegbeschreibungen) und 8.8% (Geschäftsbriefe) aller Pausen aus (Tab. 5.4.).
GB Revisonsfaktor
18.0
% Revisionspausen an Gesamtpausen Tab. S.4.:
WB 59.0
8.8
4
Revisonsfaktor, durchschnittliche Pausenlängen und relativer Anteil von Revisionspausen in Wegbeschreibungen und Geschäftsbriefen
Relativ gleichförmig sind die Häufigkeiten der Revisionspositionen, der Revisionshandlungen und der Revisionsinhalte in den beiden untersuchten Textarten (Tab. 5.5.). Weitaus am häufigsten sind Revisionen, die sofort, d.h. am derzeitigen Punkt des Schreibprozesses, ausgeführt werden. Sie machen in beiden Textarten 58% aller Revisionen aus. Faßt man sofortige und satzinterne Revisionen zusammen, dann bilden diese sogar ca. 80% aller Revisionen. Von allen Revisionshandlungen treten Substitutionen am häufigsten auf (63% WB bzw. 53% GB), Additionen machen ca. 1/3 aller Revisionen aus, Deletionen sind mit 5% (WB) bzw. 16% (GB) hingegen vergleichsweise selten (Tab. 5.6).
WB (n=43) GB (η =172)
Tab. S.S.:
sofort
satzin tem
satzextem
58(25) 58 (100)
24 (10) 23 (39)
16.3 (7) 15(25)
Revisionsphase 2(1) 5(8)
Relative und absolute (in Klammern) Häufigkeiten von Revisionspositionen
98 Addition WB (n=43) GB (n= 172) Tab. 5.6.:
33 (14) 31 (53)
Deletion 5 (2) 16 (28)
Substitution 63 (27) 53 (91)
Relative und absolute (in Klammem) Häufigkeiten von Revisionshandlungen
Für diesen Zusammenhang von besonderem Interesse sind die Häufigkeiten von Revisionsinhalten, da aus ihnen zu ersehen ist, auf welcher Ebene des Textplanungsprozesses Textrevisionen angesiedelt sind (Tab. 5.7.).
WB (n=43) GB (n= 172) Tab. 5.7.:
makrokonzeptuell
mikrokonzeptuell
sequentiell
2(1) 4(7)
23 (10/7 Zei.) 17 (29/13 Zei.)
74 (32) 79 (136)
Relative und absolute (in Klammem) Häufigkeiten von Revisionsinhalten
Sequentielle Revisionen bilden mit 74% (WB) bzw. sogar 79% (GB) den weitaus häufigsten Textrevisionstyp. Revisionen, die das gesamte Textschema modifizieren (makrokonzeptuelle Revisionen), sind mit 2% (WB) bzw. 4% (GB) ausgesprochen selten. Mikrokonzeptuelle Revisionen, mit denen produzierte Satzschemata verändert werden, erscheinen zwar mit 23% (WB) und 17% (GB) relativ häufig. Dieser Eindruck wird allerdings dadurch relativiert, daß ca. die Hälfte dieser Revisionen sich auf die Modifikation produzierter Satzzeichen bezieht (7 von 10 bei WB, 13 von 29 bei GB). Es wird mithin nicht in die syntaktische Struktur eines bereits produzierten Satzes eingegriffen, vielmehr werden oft lediglich intendierte syntaktische Beziehungen revidiert, deren einzige Manifestation in der Veränderung eines bereits produzierten Satzzeichens besteht (vgl. auch das Kap. 5.2.2.1. abgedruckte Beispiel 2).
5.2.2.2.2. Zeitliche Anteile von Revisionen Obwohl im hier untersuchten Korpus Textrevisionen vergleichsweise selten auftreten, determinieren sie den Textproduktionsprozeß doch insofern in besonderem Maße, als sie überdurchschnittlich viel Zeit in Anspruch nehmen: Pausen, in denen Revisionen stattfinden, sind im Durchschnitt mehr als doppelt so lang wie Schreibpausen ohne Revisionen. So beträgt in Wegbeschreibungen die Länge normaler Schreibpausen ca. 4.0 Sekunden, die von Revisionspausen hingegen 9.0 Sek.; in Geschäftsbriefen nimmt die Pausenlänge von 5.1 auf 11.3 Sek. zu.
99 Die Länge von Revisionspausen hängt dabei von mehreren Faktoren ab: von der Revisionsposition, dem Typ der Revisionshandlung und vom Revisionsinhalt.
sofort WB (n= 17) GB (n=41) Tab. 5.8. :
5.3 10.6
satzintern 12.8 9.2
satzextern 16.7 17.9
Durchschnittliche Länge von Revisionspausen nach Revisionspositionen in Sekunden
Die durchschnittliche Länge von Revisionen steigt mit der Entfernung vom derzeitigen "Punkt des Schreibens" ("point of inscription"). Satzexterne Revisionen sind mithin weitaus zeitaufwendiger als sofortige und satzinterne. Für die beiden Textarten ist der Zusammenhang zwischen sofortigen und satzinternen Revisionen jedoch uneinheitlich (Tab.5.8.). In ähnlicher Weise uneinheitlich stellen sich die Zeitanteile von Revisionshandlungen in den beiden Textarten dar (Tab. 5.9.). Deletionen sind am zeitaufwendigsten bei GB (14.6 Sek.), Additionen und Substitutionen sind mit 9.7 und 8.2 Sekunden etwa gleich lang. Bei WB sind hingegen Additionen mit 13.8 Sek. fast doppelt so lang wie Substitutionen; Deletionen treten im Korpus WBOLD hingegen nicht auf.
Add WB (n=17) GB (n=41) Tab. 5.9.:
13.8 9.7
Del
Sub 7.7 8.2
-
14.6
Durchschnittliche Länge von Textrevisionen nach Revisionshandlungen in Sekunden
makrokonzeptuell WB (n=17) GB (n=41)
22.5
mikrokonzeptuell 17.4 16.3
sequentiell 6.6 5.4
Tab. 5.10. : Durchschnittliche Länge von Textrevisionen nach Revisionsinhalten in Sekunden
100 Revisionsinhalte scheinen hingegen in beiden Textarten einen ähnlichen Einfluß auf die Länge von Textrevisionen zu haben. Sequentielle Revisionen sind mit 6.6 (WB) bzw. 5.4 (GB) Sekunden beträchtlich kürzer als mikrokonzeptuelle und makrokonzeptuelle Revisionen (Tab. S.10). Ein Unterschied zwischen den Textarten, der sich aufgrund des relativ kleinen Korpus allerdings in zeitlichen Parametern nicht niederschlägt, besteht eventuell darin, daß konzeptuelle Revisionen bei GB relativ häufig in satzexterner Position auftreten, bei WB hingegen, wenn überhaupt, fast ausschließlich in si- oder so-Position. Matsuhashi (1987b) deutet dieses Phänomen in einer Fallstudie als Hinweis auf unterschiedliche und aufgabenorientierte Revisionsstrategien.
5.2.2.3.
Die Funktion von Textrevisionen im Formulierungsprozeß
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Häufigkeit von Textrevisionen im Prozeß des Schreibens in starkem Maße vom Typ des jeweils zu produzierenden Textes abhängig ist (Revisionsfaktor). Weitaus die meisten Textrevisionen werden dabei sofort oder satzintern ausgeführt und sind lediglich Substitutionen oder Additionen im Rahmen sequentiell festgelegter Textsegmente. D.h., bereits produzierte syntaktische oder textuelle Schemata werden von Textrevisionen nur selten modifiziert. Der zeitliche Aufwand von Textrevisionen ist dabei abhängig von der Revisionsposition, dem Typ der Revisionshandlung und vor allem der Art des Revisionsinhaltes. Obwohl dieser Zusammenhang in den beiden untersuchten Textarten nicht einheitlich ist, läßt sich als Tendenz zumindest feststellen, daß der weitaus größte Teil aller Revisionen den normalen Realzeitablauf des Schreibens nicht oder nur wenig tangiert. Makro- und mikrokonzeptuelle Textrevisionen in zudem noch satzexterner Position sind zwar zeitaufwendig, sie treten jedoch nur selten auf. Aufgrund des relativ kleinen Korpus, der der Untersuchung zeitlicher Parameter zugrundelag, konnten systematische Unterschiede zwischen den Textarten, wie sie Matsuhashi (1987) für reponierende und generalisierende Texte beschreibt, nicht festgestellt werden. Mit aller Vorsicht lassen sich eventuell die unterschiedlichen Häufigkeiten von Revisionen oder auch die Tatsache, daß makro- und mikrokonzeptuelle Revisionen bei Geschäftsbriefen häufiger in satzextemen Positionen auftreten, als Ausdruck unterschiedlicher und aufgabenspezifischer Revisionsstrategien (im Sinne Matsuhashis) deuten. Allerdings würden auch derartige Differenzen zwischen den Textarten - wenn es sie denn gibt - das allgemeine Ergebnis der Untersuchung nur wenig ändern. Textrevisionen spielen für den Prozeß der Textproduktion eine nur untergeordnete und weitgehend überschätzte Rolle. Sie sind als Veränderungen bereits produzierter Textsegmente weder für den Prozeß der Textplanung noch für die Textformulierung konstitutiv.9 Ihre Funktion besteht vielmehr in oberflächenorientierten, weitge-
9 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch Becker-Mrotzek in einer Untersuchung der Produktion von Bedienungsanleitungen. Aus der quantitativen Konzentration von Änderungen in den ersten Produktionsphasen schließt er, "daß einmal formulierte Texte relativ ände-
101 hend in den Prozeß der Äußerungsformulierung integrierten Modifikationen von mental bereits festgelegten Text-, Satz- und Formulierungplänen. Formulierungen als Endprodukte des Schreibproduktionsprozesses werden daher nicht im Prozeß des Niederschreibens erzeugt, verändert oder "verbessert". Sie liegen vielmehr am "point of inscription" vor. Textuelles Revidieren ist insofern nur eine Phase des Schreibprozesses, in der relativ wenige, nachträgliche und zumeist oberflächenorientierte Eingriffe in mental vorformulierte Textäußerungen auftreten.
5.3. Formulieren 5.3.1.
Revidieren und Textplanung - Ein erweitertes Modell
Die traditionelle Sicht von Revisionen als Veränderungen manifester Textstrukturen greift, wie wir gesehen haben, zu kurz, wenn es um die Erklärung der textproduktiven Kraft von Revisionen und ihrem Zusammenhang mit anderen Komponenten des Schreibprozesses geht. Schreiben ist nicht revidierendes Schreiben, und Textrevisionen haben nur einen geringen Anteil an der Entstehung von Textformulierungen. Dies gilt zumindest für die Produktion der näher untersuchten Textarten "Wegbeschreibung" und "Geschäftsbrief und - wie vermutet werden kann - für viele ähnliche alltägliche und "einfache" Textformen. Für die Produktion "anspruchsvollerer" Texte etwa literarischer Art, wissenschaftlicher Aufsätze u.ä. mögen die Verhältnisse anders aussehen. Gleichwohl ist auch in diesen Fällen zu vermuten, daß ein beträchtlicher Teil des Formulierungsprozesses sich nicht als revidierendes Schreiben vollzieht. Gestützt wird diese Vermutung durch die Beobachtung von Faigley/Witte (1981). Demnach ist die Anzahl der vorgenommenen Textrevisionen nicht unbedingt ein Kriterium für die Qualität des Schreibens oder die Professionalität des Schreibers. Experten produzieren zwar relativ häufiger tiefenstrukturelle Revisionen, jedoch insgesamt beträchtlich weniger Textrevisionen als Anfänger. Dies deutet darauf hin, daß sich ein Großteil des Revisionsprozesses bei Experten als Teil der Formulierungsplanung mental vollzieht, d.h. vor der endgültigen Niederschrift des geplanten Textsegmentes. Faigley/Witte schließen daraus, that revision cannot be separated from other aspects of composing (...). Success in revision is intimately tied to a writer's planning and reviewing skills (Faigley/Witte 1981, 411).
In dem von Flower/Hayes/Carey/Schriver/Stratman (1986) bzw. Hayes/Flower/ Schriver/Stratman/Carey (1987) vorgeschlagenen Modell des Revisionsprozesses wird der Revisionsbegriff deshalb auch beträchtlich weiter gefaßt. Revidieren ist hier eine kognitive Operation, die - unabhängig von je spezifischen materiellen rungsresistent sind. Änderungen in späteren Fassungen beschränken sich auf Korrekturen von Fehlern; Neuformulierungen sind selten" (Becker-Mrotzek 1992, 278).
102 Substraten - den Schreibprozeß insgesamt charakterisiert. Zentral für dieses Modell ist die Unterscheidung zwischen kognitiven Prozessen, die ein Schreiber beim Revidieren ausführt, und den dazugehörigen Wissenskomponenten, die diese Prozesse steuern. Revidieren vollzieht sich demnach auf der Basis einer von Zielen und textbedingten Einschränkungen determinierten Aufgabendefinition ("task definition"), über die Bewertungsprozesse ("evaluation") in Gang gesetzt werden. Den output derartiger Bewertungen bilden Problemrepräsentationen ("problem representation"), deren Formen von der bloßen, nicht spezifizierten Entdeckung revisionsbedürftiger Textsegmente bis hin zu voll ausgebildeten Problemdefinitionen und Problemlösungen ("diagnosis") reichen können. Die Form der Problemrepräsentation beeinflußt dabei wesentlich die Wahl der Strategien ("strategy selection"), durch die Revisionen dann ausgeführt werden. Mögliche Textänderungen können z.B. ignoriert oder verschoben werden; sie können aber auch durch textkonservierende Änderungen ("revision") oder Neuformulierungen ("rewriting") vollzogen werden.
KNOWLEDGE
PROCESSES
Goals, Criteria and Constraints for Texts and Plans
I Task DéfinitionjfEvaluation Read to: Comprehend Evaluate Define Problems
ignore
Problem Representation Diagnosis Detection well-defined ill-defined
search Strategy selection
Set Goal rewrite
I
Redraft or Paraphrase
Τ
Enter Means-Ends Table
Procedures for Improving Text Means-Ends Table
Modify Text and/or Plan
Abb. 5.11. : Das kognitive Modell des Revidierens (nach Hayes/Flower u.a. 1987)
103 Zwei für unseren Zusammenhang bedeutsame Merkmale zeichnen dieses Modell aus. Es ermöglicht es, verschiedenartige Revisionsstrategien in Zusammenhang mit Bewertungsprozessen und Problemrepräsentationen zu differenzieren. So wird Revidieren hier in einem engen Sinne als Strategie aufgefaßt, die auf der Basis diagnostischen Wissens möglichst viele Anteile des zu revidierenden Textes konserviert. Neuformulieren ist hingegen eine Strategie, die weitgehend auf Prinzipien der Produktion von Texten beruht und somit weniger diagnostisches Wissen voraussetzt. Writers who choose the Rewrite process simply extract the gist from the extant text (written or mental) and use that to generate new text. In essence they try to say it again, say it differently with little or no input from an analysis of the problem. This is a fast, efficient process that can work at both global levels (Redrafting the whole text) or local ones (Paraphrasing the current sentence). In the Revise process, on the other hand, the act of writing is guided by the Diagnosis and any revision strategies the writer may have attached to that diagnosis (Flower/Hayes/Carey/Schriver/Stratman, 1986, 26).
Die zweite, wichtigere Differenz zum Modell des Revidierens als Retranskripüon besteht darin, daß der Revisionsprozeß sich hier sowohl auf manifeste Texte als auch auf mentale Textrepräsentationen beziehen kann. Evaluationen setzen nicht mehr unbedingt die Existenz eines bereits geschriebenen Textes oder Textteils voraus, der mit internen Regeln, Plänen oder Intentionen verglichen werden kann. Evaluationen sind vielmehr auch möglich zwischen mentalen Textrepräsentationen und den Intentionen und Plänen des Schreibers. Ihre Grundlage ist das Auftreten von Dissonanzen zwischen generellen, abstrakten Intentionen und Schreibplänen oder mental repräsentierten Formulierungsplänen (bzw. manifesten Äußerungen). Intern-mental vollzogene Evaluationen und Revisionen scheinen für den Schreibprozeß eine weitaus wichtigere Rolle zu spielen als textbasierte Revisionen (Hayes/Flower/Schriver/Stratman/Carey (1987)). Sie beruhen jedoch auf den gleichen Grundprinzipien: Auch mentale Textrepräsentationen müssen zunächst produziert und rezipiert werden (die Autoren sprechen metaphorisch vom "Lesen" solcher Repräsentationen), um als Input für Revisionsprozesse fungieren zu können. Revisers must read the text as an input to revision, but it is important to think of reading as a metaphor for represent to oneself. The reader in this sense is constructing his or her own internal, mental representation of the text. Revisers read not only the surface written text but also unwritten text in their heads. Or they may read/represent the underlying text base or gist, as when skimming an entire section for its drift or focus (...). In addition, our modell asserts, people not only operate on the text or text base, they also "read" and revise their own plans. The same cognitive processes we see people using to evaluate and modify text are also used to revise their plans and goals. A text is simply one instantiation of the writer's meaning; a plan represents that meaning in another, less elaborated, less constrained form (...). Revision operates on meaning in all its forms (Flower/Hayes/ Carey/Schriver/Stratman 1986, 28).
104 Die von Hayes/Flower u.a. vertretene Auffassung, daß Revisionen jedwede Form der Bedeutung im Produktionsprozeß betreffen können, führt zu einigen Schwierigkeiten hinsichtlich der in ihrem allgemeinen Schreibmodell vorgeschlagenen Trennung der Komponenten von Planung, Übersetzung und Revision (vgl. Hayes/Flower 1980). Auch wird der Begriff der Revision wohl überlastet und unscharf, wenn man ihn auf alle Formen der Bedeutungsrepräsentation und -modifikation im Schreibprozeß beziehen wollte. Denn natürlich können Schreiber auch ihre Ziele, Pläne oder Gedanken ändern. Dies ist allerdings nicht das Problem, das eine Theorie des Revidierens zu lösen hat. Vielmehr geht es darum, die Formen der Bedeutungsveränderung im Textproduktionsprozeß als gerichtete Entwicklung von zunächst abstrakten Zielen und Plänen hin zu sprachlichen Äußerungen zu begreifen und damit zu beschreiben, wie im Produktionsprozeß abstrakte Ziele und Pläne in Strukturen eines Textes transformiert werden. Die - auch metaphorische - Rede vom "Lesen" einer Bedeutungsrepräsentation hat deshalb nur dann einen Sinn, wenn damit nicht beliebige Veränderungen von Bedeutungen gemeint sind, sondern eine Veränderung auf der Grundlage und in Richtung sprachlich konstituierter Bedeutungen. Deshalb ist es sinnvoll, den Begriff der Revision auf solche Formen der Bedeutungsmodifikation zu beschränken, die manifest sprachliche (= Textrevisionen) oder mental repräsentierte, sprachähnliche Repräsentationsformen betreffen. Revisionen sind in dieser Perspektive Handlungsformen innerhalb des Formulierungsprozesses - des Prozesses also, in dem sprachlich vorstrukturierte Vorstufen von Textäußerungen in die sprachlich manifesten Äußerungen eines Textes transformiert werden. Mit Witte (1987) wollen wir diese mentalen Vorstufen von Textäußerungen als Prätexte bezeichnen.
5.3.2.
Revidieren und die Formulierung von Prätexten
5.3.2.1. Die Struktur von Prätexten Prätexte sind mentale Vorstufen von Textäußerungen, die Mittlerfunktionen zwischen abstrakten Zielen, Intentionen und Plänen eines Schreibers und seinen manifest produzierten Textäußerungen einnehmen. Witte (1987) betont insbesondere ihren tentativen Charakter und ihre Schnittstellenfunktion zwischen abstrakt intendierten und manifest produzierten Textäußerungen. ... pre-text refers to a writer's tentative linguistic representation of intended meaning, a "trial locution" that is produced in the mind, stored in the writer's memory, and sometimes manipulated mentally prior to being transcribed as written text. A pre-text represents, in effect, the writer's attempt to instantiate abstract plans and goals in linguistic forms. Thus distinguished from abstract plans and goals pre-texts represent critical points along a continuum of composing activities between planning and transcribing written text (Witte 1987, 397).
105 Die Natur der Beziehungen zwischen abstrakten Zielen und Plänen, Prätexten und manifesten Textäußerungen ist bislang weitgehend ungeklärt (vgl. Witte 1985). Erste Beobachtungen beschreibt Witte (1987) anhand der Analyse von zwei Think-aloud-Protokollen. Demnach determinieren Prätexte den schließlich produzierten Text insofern, als sie die mentale Erprobung sprachlicher Alternativen erlauben, die unmittelbar oder mittelbar (d.h. mit zeitlicher Verzögerung) in manifest sprachliche Strukturen oder deren Modifikationen eingehen. Die Form von Prätexten und, in der Konsequenz, der Umfang und die Qualität prätextueller Revisionen scheinen dabei abhängig zu sein von der Qualität vorhergehender Planung. Witte plädiert u.a. aus diesem Grunde dafür, den Revisionsprozeß nicht als eigenständige Komponente des Schreibprozesses zu konzeptualisieren, sondern als in den Planungsprozeß eingebettete Subkomponente (vgl. Witte 1985). Revidieren wäre in dieser Perspektive eine konstitutive Aktivität innerhalb des Planungsprozesses, durch die abstrakte Ziele und Pläne zu Prätexten versprachlicht, bewertet, modifiziert und schließlich formuliert werden. Für den Prozeß der Textproduktion sind Prätexte insofern zentral, als sie die Schnittstelle zwischen abstrakten Prozessen der Textplanung und den schließlich manifest erzeugten Textäußerungen bilden. Legt man das Produktionsmodell von Hayes/Flower (1980) zugrunde, dann lassen sich Prätexte als Verarbeitungsformen zwischen der Planungs- ("planning") und der Übersetzungskomponente ("translating") auffassen. Ihre zentrale Rolle erklärt sich aus ihrer Doppelstruktur. Prätexte sind als mentale Repräsentationen einerseits leicht und unaufwendig zu produzieren und zu revidieren, da sie den formalen Restriktionen der schriftlichen Sprache nicht bzw. nicht vollständig unterliegen. Sie ersparen damit einen Teil des kognitiven und aktionalen Aufwandes, der mit der Erzeugung und vor allem Veränderung manifester Textäußerungen verbunden ist. Als sprachliche Formen sind Prätexte jedoch andererseits der sprachlichen Wahrnehmung zugänglich: Sie können in gewisser Weise rezipiert werden, in Hinblick auf ihre sprachlichen Merkmale analysiert, bewertet und manipuliert werden. Prätexte sind insofern das Experimentierfeld, auf dem die verschiedenen Komponenten und Faktoren des Schreibplanungsprozesses als sprachliche Faktoren wirksam, ökonomisch erprobt und verändert werden können. Prätexte - dies ist die These, die wir im weiteren begründen wollen - sind der zentrale Gegenstand von Revisionsprozessen. Revisionen sind mithin hinsichtlich ihrer Funktionen zu analysieren, die sie im Prozeß der Erzeugung und Veränderung von Prätexten wahrnehmen.10 Wir wollen die theoretische Diskussion dieser bislang ungeklärten Fragen nach der Natur von Prätexten bzw. dem Zusammenhang der einzelnen Komponenten des Schreibprozesses hier zunächst abbrechen. Festzuhalten ist, daß der Prozeß des Formulierens sich jedenfalls nicht als "einfache" Übersetzung mentaler Repräsentationen in sprachliche Äußerungen vollzieht, sondern vielmehr über mehr oder weniger sprachnahe Zwischenstufen, die sowohl mit vorgängigen abstrakten Prozessen der Textplanung als auch mit Prozessen des endgültiWir beschränken uns hier auf die Darstellung allgemeiner Funktionen von Prätextrevisionen, ohne auf ihre jeweils konkreten Realisierungsformen näher einzugehen. Zu den Verfahren des Revidierens von Texten und Prätexten vgl. ausführlich die Dissertation von Rau (1994).
106 gen Niederschreibens in Zusammenhang stehen. Die Umformulierung bzw. Revision von Prätexten scheint dabei für den Formulierungsprozeß eine zentrale Rolle zu spielen. Formulieren vollzieht sich zum großen Teil als Umformulieren geplanter und mental repräsentierter Prätexte.
5.3.2.2.
Vorformulieningen als Prätexte
Bittet man Schreiber, während des Schreibprozesses laut zu denken, dann enthalten die so gewonnenen Think-aloud-Protokolle eine Fülle sprachlichen Materials unterschiedlichen Typs: vage Ideen finden sich ebenso wie Formulierungen konkreter Absichten, Probeformulierungen, Kommentare oder auch Passagen, in denen bereits produzierter Text gelesen wird. Keseling (1987b, 1988a, 1988b) und Rau (1988) unterscheiden insgesamt vier Grundtypen solcher, für Thinkaloud-Protokolle typischen Äußerungen: -
Reflexionen, d.s. Gedanken über den als nächstes zu schreibenden Textteil, seltener auch über bereits Geschriebenes,
-
Vorformulierungen, in denen vor der Niederschrift ein nächstes Textsegment (Satz, Teilsatz,Phrase usw.) laut nach Art eines Diktats gesprochen wird,
-
Lesen bereits geschriebener Textteile,
-
Mitsprechen während der Niederschrift (Keseling, 1988a, 219).
Reflexionen zeichnen sich dadurch aus, daß sie weitgehend umgangssprachlich realisiert werden; d.h. sie enthalten Merkmale von Gesprächsbeiträgen wie z.B. Inteijektionen, Partikeln wie "Hm", "Äh" usw. Vorformulierungen sind hingegen schriftsprachennah und werden intonatorisch in Form von Diktaten realisiert. Es soll an dieser Stelle betont werden, daß die hier differenzierten Äußerungstypen tatsächlich nur Indikatorfunktionen für Strukturen mentaler Prozesse haben, die normalerweise nicht oder zumindest nicht in diesem Umfange verbalisiert werden. Vorformulierungen, Reflexionen und auch die anderen, in Thinkaloud-Protokollen dokumentierten Äußerungen sind Produkte einer artifiziellen Schreibsituation, in der verbale Formen der Schreibplanung und Formulierung in extensiver Weise auftreten und damit der wissenschaftlichen Analyse zugänglich werden. Allerdings treten auch in natürlichen Schreibsituationen Phänomene vergleichbarer Art durchaus auf. Die Methode des lauten Denkens ist deshalb nur insofern artifiziell, als sie die gleichsam natürliche Tendenz von Schreibern, Aspekte des Schreibprozesses "laut" zu verbalisieren, in extremer Weise verstärkt. Stellt man diese methodischen Einschränkungen in Rechnung, dann lassen sich die in Think-aloud-Protokollen dokumentierten Äußerungsformen und ihr Zusammenhang untereinander durchaus als Dokumentationen sprachlich fun-
107 dierter, normalerweise jedoch in geringerem Umfang exothetisierter mentaler Handlungen auffassen, mit denen die Strukuren von Textäußerungen erzeugt, verändert und schließlich niedergeschrieben werden. Reflexionen beziehen sich dabei auf abstrakte Prozesse der Produktion von Äußerungskonzepten bzw. der Strukturierung des Handlungsablaufes; Vorformulierungen, Nachlesen, Koformulierungen und z.T. auch evaluative Reflexionen scheinen hingegen in engem Zusammenhang mit Prozessen der Formulierungsplanung zu stehen. Keseling (1988a) und auch Rau (1988) weisen darauf hin, daß Vorformulierungen zusammen mit bewertenden Reflexionen oft den Charakter von Reparaturen haben, deren Abfolge selbstinitiierten Reparatursequenzen in Konversationen ähnlich ist. Vorformulierungen werden zumeist von einer negativen Bewertung eingeleitet, in deren Folge dann Formulierungsmodifikationen auftreten. Auch die unterschiedlichen Positionen von Reflexionen und Vorformulierungen im Schreibprozeß deuten auf ihre gänzlich unterschiedlichen Funktionen hin. Reflexionen treten - oft in Kombination mit anderen Äußerungsformen - in nennenswertem Umfang fast nur dort auf, wo Schreiber an Satzgrenzen für längere Zeit pausieren, Vorformulierungen sind hingegen typisch für Unterbrechungen, die während der Schreibrealisation, d.h. in Wortpausen, auftreten. Vorformulierungen sind insofern mit den bereits beschriebenen Prätexten vergleichbar, die gleichsam unmittelbare Vorstufen manifest zu produzierender Textäußerungen darstellen. Nachlesen, Koformulierungen und z.T. evaluative Reflexionen lassen sich hingegen als Indikatoren für einen Teil jener Aktivitäten auffassen, vermittels derer Vorformulierungen erzeugt, verändert und schließlich niedergeschrieben werden. Anhand konkret-empirischer Untersuchungen ausgewählter Sequenzen aus Think-aloud-Protokollen wollen wir im folgenden einige Prinzipien der Erzeugung und Veränderung von Prätexten im Formulierungsprozeß ausführlicher darstellen. Die Frage nach solchen, sich weitgehend mental vollziehenden Prinzipien der Äußerungsformulierung wird mithin methodisch als Frage nach den Formen und den Zusammenhängen von Äußerungen in Think-aloud-Protokollen gestellt. Ausgehend von der Annahme, daß Revisionen für den Formulierungsprozess konstitutiv sind und somit Vergleichsoperationen eine zentrale Rolle spielen, sollen zwei Fragen im Vordergrund stehen: - die Frage nach der Basis von Vergleichsoperationen. - die Frage nach den internen Organisationsprinzipien und den Konsequenzen solcher Vergleichsoperationen. 5.3.3.
Faktoren des Formulierungsprozesses
5.3.3.1. Die Inkongruenz von Intentionen und Prätexten - Konzeptuelle Revisionen Formulieren hat die Existenz der konzeptuellen Struktur einer zu formulierenden Äußerung zur Voraussetzung. Solche konzeptuellen Strukturen manifestieren
108 sich in Reflexionen als zumeist umgangssprachlich verbalisierte, oft elliptische Äußerungen, in denen ihr propositionaler Gehalt angedeutet wird, der dann in Vorformulierungen in eine manifeste Textäußerung transformiert wird. Für viele Schreibprozesse ist dabei typisch, daß eine derartige Transformation nicht problemlos verläuft, sondern über eine meist lange Vorformulierungsphase, in der verschiedene Äußerungsvarianten erzeugt und sukzessive verändert werden. In Beispiel (4) 11 findet sich zunächst eine derartige Reflexion, der einige Vorformulierungen folgen, die allerdings zunächst nicht zum angestrebten Ziel einer endgültigen Textäußerung führen. (4) Vp 8 GBLD Heute erhielt ich die Rechnung über die Montage eines Laugenschlauches (incl. Materialpreis). Diese Rechnung kann ich nicht akzeptieren, da dieser Schlauch erst vor 20 Tagen durch Mitarbeiter Ihrer Firma - zusammen mit einer neuen Waschmaschine - eigenhändig installiert wurde. (stöhnt) so, jetzt muß ich noch n'en bißchen saurer werden im Hinblick auf Kundendienstfragen. Ich frage mich nur, welche Auffassung von Kundendienst Ihrem Vorgehen zugrunde gelegt/ aggressiv, hm. Da stellt sich die Frage, wieso muß ich einen neuwertigen Schlauch/ wieso muß ich einen bereits bezahlten, neuwertigen/ ...also und/ Für mich ist es selbstverständlich, daß Material, welches nur noch nicht einmal einen Monat in Gebrauch ist/ daß Material, welches kaputt, zerstört, nicht mehr funktionsfähig is/ nicht mehr fhnWinnsfShig ist/ daß Material, welches nach nicht mal einen Monat nicht mehr fiinWinnsfähig ist/ selbstverständlich Kosten für Material (unverst.). Für mich ist es/ steht es außer Frage/ ist es keine Frage, daß Material, welches nach nicht einmal einem Monat/ nach nicht mal einem Monat/ Da stellt sich also die Frage, warum muß ich/ Für mich/ Was will ich denn sagen? Ich will sagen, daß man das Ganze einem Kundendienst unter/ aber schreiben; fiir mirh war es bisher selbstverständlich, daß solche Schäden und entstandenen Kosten im Sinne eines Kundendienstes oder Dienst am Kunden von der Firma übemommmen wird. Das is gut Für mich war es bisher selbstverständlich, daß solche Schäden bzw. Kosten von der verantwortlichen Firma im Sinne eines Kundendienstes übernommen wurden. (42)
Was passiert in dieser Sequenz? Offenbar hat die Autorin hier ein bestimmtes Ziel, das allerdings nur in einer relativ unspezifischen konzeptuellen Struktur repräsentiert ist. Ihre Reflexion ("jetzt muß ich noch ein bißchen saurer werden im Hinblick auf Kundendienstfragen") enthält jedenfalls nur recht unspezifische Äußerungspropositionen ("saurer werden"/ "Kundendienstfragen") und läßt zudem deren Bezug untereinander gänzlich ungeklärt ("im Hinblick auf').
Die Beispiele sind nach folgenden Konventionen transkribiert: manifester Text - normal und eingerückt Reflexionen - normal Vorformulierungen - unterstrichen Nachlesen - kursiv
109 Es folgen verschiedene Versuche, diese vage konzeptuelle Struktur in einen Prätext zu transformieren. Die Autorin modifiziert in ihren Vorformulierungen dabei sowohl die Einleitungsphrase als auch den eigentlichen Äußerungskern mehrfach. Zunächst wird ihr Arger über den mangelhaften Kundendienst in der Form eines indirekten Vorwurfs formuliert ("Ich frage mich nur, welche Auffassung.."), in weiteren Formulierungsversuchen werden dann auch die Vorgänge konkretisiert, auf die sich der Ärger bezieht ("neuwertiger Schlauch", "Material, welches kaputt, zerstört, nicht mehr funktionsfähig ist"). Alle diese Formulierungsversuche werden früher oder später abgebrochen, und zwar offenbar deshalb, weil es der Autorin nicht gelingt, eine Formulierung zu finden, die ihren Ärger über den mangelnden Kundendienst angemessen repräsentiert. Der Autorin wird dies auch bewußt. In ihrer Reflexion problematisiert sie explizit die unklare konzeptionelle Struktur ihrer geplanten Äußerung ("Was will ich denn sagen? Ich will sagen, daß man das Ganze einem Kundendienst unter/aber schreiben"). Erst nachdem sie sich erneut die konzeptuelle Struktur ihrer geplanten Äußerung verdeutlicht hat, fällt der Autorin plötzlich und unmittelbar eine Formulierung ein, die als angemessen bewertet wird und schließlich auch in nur leicht veränderter Form niedergeschrieben wird. Vergleicht man die letzte Vorformulierung bzw. den manifesten Text der Autorin mit ihren vorhergehenden Formulierungsversuchen, dann fällt auf, daß sie sich vor allem hinsichtlich des Ausmaßes und der Modalität in der Beschreibung deijenigen Umstände unterscheiden, auf die sich der "Ärger" der Schreiberin richtet. Während in den Formulierungsversuchen noch von Material die Rede ist, das "kaputt, zerstört, nicht mehr funktionsfähig" ist, werden diese Umstände in der endgültigen Formulierung in der neutralen und generalisierenden Phrase " Schäden bzw. Kosten" zusammengefaßt. Die ursprüngliche Intention der Autorin, ihren Ärger über derartig kaputtes Material auszudrücken, wird auf diese Weise zurückgedrängt zugunsten der verallgemeinerten und den Erfordernissen formal geschäftlicher Beziehungen angemessenen Feststellung, daß "Schäden bzw. Kosten" vom Kundendienst der Firma zu übernehmen sind. Die Autorin verändert im Verlauf dieser Sequenz mithin die ursprüngliche konzeptionelle Struktur ihrer geplanten Äußerung: aus "individuell-emotionalem Ärger über einen mangelhaften Kundendienst" wird "selbstverständliche Pflichten eines Kundendienstes". Erst auf dieser Basis ist die Autorin in der Lage, eine für sie befriedigende Formulierung zu produzieren. Das Beispiel macht deutlich, daß Revisionen von Prätexten bzw. Vorformulierungen nicht nur inadäquate Prätexte zugrunde liegen, sondern vielmehr inadäquate Relationen von abstrakten Äußerungsplänen und entsprechenden Prätexten. Die produzierten Prätexte repräsentieren die intendierte konzeptuelle Struktur einer geplanten Äußerung deshalb nicht, weil diese selbst unklar, vage oder aber kontextuell nicht angemessen ist. Aufgrund dieser Inkongruenz von abstrakten Schreibplänen und prätextuellen Formulierungen werden Schreibpläne zumeist selbst revidiert; d.h. sie werden präzisiert oder auch komplett verworfen und durch andere ersetzt. Witte (1985) spricht in diesem Zusammenhang vom inadäquaten "framing" einer Äußerung, d.h. der nicht angemessenen
110 Organisation propositionaler Strukturen als Voraussetzung darauf operierender Formulierungshandlungen. Schauen wir uns noch einige weitere Beispiele an, in denen Revisionsprozesse auf der Basis von Inkongruenzen von (abstrakten) Äußerungsplänen und Prätextformulierungen ausgelöst werden. Im folgenden Beispiel beginnt die Autorin mit einer Vorformulierung, der eine offenbar unangemessene Äußerungskonzeption zugrundeliegt. In der Reflexion wird diese dann modifiziert; das ursprüngliche Äußerungsziel (Verwunderung/Empörung über die ungerechtfertigte Rechnung) wird verändert zum Ziel, die Bezahlung der Rechnung zu verweigern, da es sich um eine Kundendienstleistung handelt. (5) Vp 8 GBLD so könnte ihm jetzt... schreiben, daß ich heute mit Verwunderung eine Rechnung über Montage/ die Rechnung heut'erhalten habe: daß diese ich sehr (stöhnt): ich fang damit an, daB ich ihm sr.hrp.ihc., Haft mirh die Rechnung erhalten habe, daß mich Hie.se. hm empört oder in Verwunderung versetzt: bisher ging ich davon aus: das is'nich gut (riiusp); ich will ihm schreiben, daß ich die Rechnung nicht bezahlen will, weil's Kundendienstleistung/ also schreib'ich, daß ich die Rechnung über die Reparatur is von Ihnen ich schreibe heute erhielt ich eine Rechnung über die Reparatur eines von Direr Firma selbst installierten/neu installierten Waschmaschine/ Schlauchs Heute erhielt ich die Rechnung über Material- Montage war das die Montage eines Laugenschlauches (incl. Materialpreis). Diese Rechnung kann ich nicht akzeptieren,
Sowohl Beispiel (5) als auch die folgenden Beispiele (6) und (7) machen deutlich, in welcher Weise Änderungen der konzeptuellen Äußerungsstruktur regulative Funktionen für den Revisionsprozeß haben. Zumeist lassen sich konzeptionelle Änderungen nämlich nicht durch Revisionen vorliegender Prätexte bewältigen, vielmehr treten extensive Revisionen im Sinne einer kompletten Neuformulierung der intendierten Äußerung auf. Im Gegensatz zu Textrevisionen, wo ein derartiges "rewriting" nur selten auftritt, ist bei Prätextrevisionen das Neuformulieren eine häufige Revisionstrategie. In Beispiel (6) beginnt z.B. der Autor mit einer Vorformulierung, die durch die Änderung des Äußerungskonzeptes ("unbegreiflich" - > "Garantie") komplett getilgt und durch eine neue Vorformulierung ersetzt wird ("Dies ist mir unbegreiflich/" - > "Im Rahmen der sechsmonatigen Garantie..."). Auch in Beipiel (7) verwirft die Vp ihren Prätext und produziert, aufgrund eines modifizierten Äußerungskonzeptes, eine vollständig neue Formulierung. (6) Vp 16 GBLD Ein paar Tage später folgte eine Rechnung über 78,56. Dies ist mir unbegreiflich, hm. is mir unbegreiflich Hm. ja eigentlich müßt ja noch Garantie auf der Waschmaschine sein; im Rahmen der Garantie müßt man das auch umsonst machen, hm; unter Berücksichtigung der Garantie... auf das neue Produkt. hm ηee, folgte eine Rechnung über 78,56
Ill Im Β ahmen
Rahmen der sechsmonatigen Garantie, ... die mir bei Kauf des Produktes zugesichert wurde, halte ich die Forderung dieser Summe für die Ersetzung des defekten Laugenschlauches für unangemessen
(7) Vp 19 GBLD Vor 4 Wochen haben Sie bei mir eine Waschmaschine angeschlossen. Die Rechnung Nr. 276/88 darüber habe ich bereits beglichen. Der dafür verwendete Laugenschlauch, Kosten 2,55 DM, war nach einer Woche defekt und Sie ersetzten ihn. Eine Woche später (unv.V. da es sich hierbei um einen Materialfehler handeln muß. der nicht durch Fehlbedienung/ da dieser Fehler im Material liegen mufl und nicht durch Fehlbedienung bedingt se.in kann, hm, sehe ich keine funv.) Veranlassung, nee Quatsch; die darüber erstellte Rechnung dreiein'indnei'ngiy hm, ich seh nicht ein/...: der dafür verwendete Laugenschlauch war nach einer Woche defekt und sie ersetzten ihn. Dafür stellten Sie eine Dafür stellten Sie eine die Rechnung Nr. 391/88 über 78,56 DM aus.
Die Beispiele machen allesamt deutlich, daß abstrakte Prozesse der Äußerungsplanung in weit engerem Zusammenhang mit dem Formulierungsprozeß stehen, als es der von Flower/Hayes verwendete Terminus der "Übersetzung" (translating) zunächst nahelegt. Äußerungspläne werden nicht in sprachliche Äußerungen übersetzt, vielmehr ist der Prozeß der Versprachlichung in vielen Fällen selbst ein konstitutiver Faktor ihrer Entwicklung und Differenzierung. Die "Verfertigung der Gedanken beim Formulieren" vollzieht sich darin, daß Formulierungen als Mittel fungieren, mit denen Äußerungskonzepte erprobt, entwickelt und verändert werden können. Oft ist es erst das Scheitern von Formulierungsversuchen, das den Schreibern die Vagheit und Unstrukturiertheit dessen, was sie sagen wollen, bewußt macht. Auf den engen Zusammenhang von konzeptueller Planung und Formulierungsprozessen weisen auch jene Fälle hin, in denen relativ einfache oder bereits klar strukturierte Äußerungskonzepte in die Formulierungsphase eingehen. Im Falle von Wegbeschreibungen finden sich z.B. kaum Vorformulierungen. Die Autoren sind hier, vermutlich aufgrund der relativ einfachen und sich wiederholenden Struktur von Äußerungskonzepten, zu einer unmittelbaren Transformation von Konzept- in Formulierungsstrukturen in der Lage. Auch in Beispiel (8) zeichnet sich der Schreiber durch extensive konzeptuelle Planungen in seinen Reflexionen aus, die es ihm ermöglichen, die Erprobung und Revision dieser Konzepte in Prätextformulierungen weitgehend zu vermeiden. (8) Vp 7 GBLD Dieser Betrag wurde bezahlt und ist angemessen für die geleistete Arbeit. (1:09) (stöhnt) so, das war der erste Bereich; der zweite is, daB nach 3 Wochen der Schlauch defekt war; n'neuer Schlauch 7.5, wo man erwarten kann, daB diese Arbeit auf Kulanz ausgeführt wird 8.5; oder nur Schilderung des Sachverhalts, die Reparatur in Rech-
112 nung gestellt wurde und die Beschwerde anschließend, im dritten Schritt, daß man erwarten kann, daß so was auf Kulanz «hm gemacht wird 6, okay 6; Schilderung also, was weiter vorgefallen ist 2, kaputtgehen und Reparatur auf Rechnung Bereits nach 3 Wochen ging (6) um was geht es, der neue Laugenschlauch kaputt, weshalb es notwendig wurde, ihre Firma erneut zu bestellen für die anstehenden Reparaturarbeiten. Diese wurden prompt erledigt. Jedoch wurden uns Material und Arbeitskosten berechnetet: 17)
5.3.3.2.
Formulierungsbedingte Revisionen - Formulierungskontextualisierung
Nicht immer ist die Revision von Prätexten mit einer Änderung oder dem Wechsel der diesen Prätexten zugrundeliegenden konzeptuellen Äußerungsstruktur verbunden. Häufiger ist der Fall von Prätextrevisionen, die lediglich semantische, lexikalische und/oder syntaktische Varianten eines identischen Äußerungskonzeptes darstellen. Diese Revisionen beziehen sich mithin auf Aspekte der grammatischen Realisierung des Prätextes, d.h. seiner semantischen, syntaktischen oder lexikalischen Formen. Keseling (1988a) analysiert an einigen Beispielen ausführlich mögliche Gründe für derartige Revisionen, die wir als formulierungsbedingt bezeichnen wollen. So treten Revisionen etwa dann auf, wenn Prätexte grammatisch defekt realisiert werden oder logisch-semantische Defekte aufweisen. In Beispiel (9) entsteht ein solcher grammatischer Defekt durch einen Wechsel des Verbs in der Formulierungsplanung. Das zunächst wohl geplante "entstanden" wird durch "erlitten" ersetzt, was zu einer grammatisch defekten Vorformulierung führt, die in der Niederschrift dann "en passant" korrigiert wird. In Beispiel (10) führt ein ähnlicher grammatischer Defekt zu einer umfassenden Revision der gesamten Äußerung. (9) (aus Keseling 1988a, 230) Da mir trotzdem durch den Diebstahl einen Wertverlust erlitten habe, au Backe, na, schreibe erstmal Da ich aber durch den Diebstahl einen Wertverlust erlitten habe
(10) Vp 8 GBLD Im Hinblick auf eine weitere gute Zusammenarbeit, fruchtbare Zusammenarbeit, oh wie schön gute Zusammenenarbeit hoffe ich, daß sich diese Sichtweise auch in ihrer Firma durchsetzen wird und mir die betreffende Rechnung als nie geschrieben betrachtet/ ignorieren/ und ich diese entsprechende Rechnung unbezahlt vernichten Vann und
113 und davon erhoffe ich ich die entsprechende Rechnung unbezahlt vernichten kann
Logisch-semantisch inkorrekte Verbindungen zeichnen die beiden folgenden Beispiele aus. In Beispiel (11) führt dies zu umfangreichen und sehr komplexen Prozessen der Umformulierung (vgl. zur genauen Analyse Keseling 1988a), in Beispiel (12) wird die semantisch defekte Verbindung "über Folgen beschliessen" durch den korrekten Ausdruck "beschließen, daß ...nicht von Bedeutung.." ersetzt. (11) (aus Keseling 1988a, 225) ich bitte Sie, die hier genannten Mängel bis zum 17.12.85 beheben zu lassen, da ich sonst nen Mietabzug mnnhe.n werde
(12) VP 4 Zeit. und nachdem beschlossen worden war, daß das Nichtvorhandensein des Reisepasses einer Schwimmerin von nicht/ keine allzu großen Folgen/ von nicht großer Bedeutung sein würde von nicht allzu großer Bedeutung sein würde
Während logisch-semantische Defekte in Vorformulierungen selten auftreten, sind grammatische Inkorrektheiten häufiger. Dies ist vor allem darin begründet, daß Planung und Realisierung von Prätexten z.T. parallel verlaufen, so daß sich Änderungen in der Formulierungsplanung etwa als grammatische Inkongruenzen niederschlagen.12 Normalerweise werden grammatische Defekte allerdings nicht zum Gegenstand eigener Revisionsprozesse. Schreiber scheinen derartige Defekte vielmehr deshalb zu akzeptieren, weil Prätexte eben gerade noch nicht den Beschränkungen und Bedingungen unterliegen, die manifeste schriftliche Äußerungen auszeichnen. Für die prätextuelle Planung ist die Akzeptanz der formalen Inkorrektheit von Äußerungen mithin eine Form des Ersparung zusätzlichen kognitiven Aufwandes. Der weitaus größte Teil formulierungsbedingter Revisionen beruht jedoch nicht auf grammatischen Defekten von Prätexten, sondern besteht in Modifikationen von Formulierungen, die grammatisch durchaus korrekt sind, von Schreibern aber gleichwohl revidiert oder substituiert werden. Solche Revisionen beziehen sich mithin auf unterschiedliche Varianten der sprachlichen Realisierung einer intendierten Äußerung. Sie vollziehen sich entprechend als Produktion, Bewertung und Modifikation verschiedener semantisch, syntaktisch und lexikalisch differierender Äußerungsvarianten, denen jedoch eine identische konzeptuelle Struktur zugrundeliegt. In den folgenden Beipielen sind, aus Gründen der Darstellungsökonomie, die in Vorfomulierungen produzierten ÄußeVgl. auch die verwandte Struktur von Versprechern in der gesprochenen Sprache, z.B. Bierwisch (1970); Wiese (1987). Eine umfassende und aktuelle Bibliographie zum Thema ist Spillner (1990). Zu Schreibfehlem vgl. Shaughnessy (1977).
114 rungsvarianten gekürzt und ohne ihren Zusammenhang dargestellt. Die schließlich niedergeschriebene Form ist unterstrichen. (13) an pfthrar.hten /an pftlftpten /instai 1 iftrtpjiΤ Jngenschlauch (14) den Betrag/ den Rechnun ysbetray habe ich überwiesen (15) verbreitete sich allgemeiner Aufruhr/ allgemeine Aufregung und Unruhe/ Aufruhr/ allgemeine Unruhe (16) im Hinblick auf eine gute Zusammen rhftif/frurhthare Zusflmmanflrheit (17) dafi die Installation nicht ohne Mängel/ mangelhaft ausgeführt wurde (18) ein Defekt ohne äußere Einwirkung/ eine ohne äußere Einwirkung entstandener Defekt (19) und wäre bereit, mich zu revanchieren/ Sie über unseren Forschungsstand zu informieren (20) nach 9 Stunden/ haben wir hinter der/hinter dem Zoll/ als wir uns dem Treffpunkt mit den Neuköllnern näherten
Wie die Beispiele zeigen, sind die Formen solcher formulierungsbedingter Revisionen außerordentlich vielfaltig. Sie reichen von der einfachen Wortsubstitution bzw. -Selektion über syntaktische Permutationen bis hin zu komplexen Veränderungen der semantischen, syntaktischen und lexikalischen Formen ganzer Phrasen. Warum treten nun solche Revisionen überhaupt auf? Welche Gründe lassen sich dafür angeben, daß eine bestimmte Formulierungsvariante einer anderen vorgezogen wird? Betrachten wir Beispiel (19) in dieser Perspektive etwas genauer. Warum ersetzt die Autorin hier die Phrase "mich zu revanchieren" durch "Sie über unseren Forschungsstand zu informieren"? Bei dem zu produzierenden Text handelt es sich um einen förmlichen Brief, in dem die Schreiberin - eine wissenschaftliche Mitarbeiterin - im Auftrag ihres vorgesetzten Professors einen Kollegen um die Zusendung seiner Veröffentlichungen bittet. Die Autorin weiß offenbar, daß es in diesem Zusammenhang üblich ist, eigene Publikationen im Austausch anzubieten, sich mithin zu "revanchieren". Diese Formulierung fällt ihr zunächst auch ein, wird jedoch verworfen. In ihren Reflexionen begründet die Schreiberin dies damit, "revanchieren" klinge zu sehr "nach Sport" und "zu salopp". Die Formulierungsalternative "Ihnen unseren Forschungsstand mitzuteilen" bewertet die Autorin dann als "zu geheimnisvoll". Schließlich fällt ihr die Formulierung "Sie über unseren Forschungsstand zu informieren" ein, die dann, nach der Erprobung einer weiteren, als "zu belehrend" bewerteten Alternative ("Sie über unseren Forschungsstand aufzuklären") auch niedergeschrieben wird.
115 Interessant für unseren Zusammenhang sind die Bemerkungen im Thinkaloud-Protokoll, in denen die Autorin die verschiedenen Formulierungsalternativen bewertet und ihre Wahl begründet. Diese Bewertungen beziehen sich offenbar auf Aspekte der kontextspezifischen Verwendungsweise der formulierten Ausdrücke - auf ihre Angemessenheit im spezifischen kommunikativen Kontext eines "förmlichen Briefes unter Professoren". So betreffen die Bewertungen "klingt so nach Sport" und "klingt zu salopp" eher generelle, textmusterbedingte Einschränkungen der Textart förmlicher Brief; "zu geheimnisvoll" und "zu belehrend" heben hingegen Aspekte der sozialen Beziehung (wie etwa Egalität und Offenheit) hervor, denen kontextspezifische Kommunikationsmodalitäten zu entsprechen haben. Offenbar haben die Revisionen der Schreiberin zum Ziel, Prätextformulierungen hinsichtlich ihrer kontextspezifischen Verwendungsbedingungen zu erproben und anzupassen. Die Schreiberin kontextualisiert ihre Prätextformulierungen, indem sie sie in verschiedenen Aspekten mit ihrem Wissen über kommunikative Kontexte vergleicht und auf dieser Basis "passende" Formulierungen selegiert. Ein großer Teil der Revisionen von Prätextformulierungen läßt sich als Form der Formulierungskontextualisierung beschreiben, d.h. der Anpassung von Formulierungen an die spezifischen Kommunikationskontexte des Schreibens. So liegt den Revisionen in den Beispielen (13) und (14) offenbar ein spezifisches Wissen der Schreiber über ein textmuster- und situationsangemessenes Vokabular zugrunde, in Beispiel (17) wird die Formulierung "nicht ohne Mängel" durch "mangelhaft" ersetzt, um spezifische Einstelllungen des Schreibers dem Rezipienten gegenüber zu verdeutlichen. In Beispiel (20) modifiziert die Autorin ihre Formulierung, weil sie offenbar die korrekte Bezeichnung des Grenzüberganges zur ehemaligen DDR nicht kennt. Der Begriff Kontext - dies sollten die angeführten Beispiele zeigen - wird hier zur Bezeichnung der Gesamtheit der im Schreibprozeß wirksamen Bedingungen der Produktion und Rezeption von Textäußerungen gebraucht, die auf unterschiedlichste Weise den Prozeß der Formulierungskontextualisierung steuern. Einstellungen und Wissensressourcen des Schreibers fallen ebenso darunter wie sein Wissen über die konventionellen Formen und Funktionen von Textmustern, soziale Situationen oder textkonstituierte soziale Beziehungen. Kontext ist dabei nicht bzw. nicht nur eine gleichsam externe und statische Rahmenbedingung des Formulierens, er wird vielmehr durch spezifische Formulierungsweisen selbst mit konstituiert.13 Bestimmte Formulierungsstile werden mithin durch Kontexte nicht determiniert, sondern höchstens nahegelegt (vgl. Sandig 1978; Rehbein 1983). Die insbesondere im Falle schriftlichen Formulierens notwendige Überprüfung und Erprobung solcher naheliegenden Möglichkeiten ist desZu den Begriffen 'Kontext" und "Kontextualisierung" vgl. zusammenfassend Auer (1986); ausführlicher zur Kontextualisierung in der mündlichen Kommunikation die Beiträge in Auer/di Luzio (eds.) (1992). Natürlich erfordert bereits der allgemeine Kontext des Schreibens spezifische Kontextualisierungverfahren, die von denen in unmittelbar mündlicher Kommunikation abweichen. Unter diesem Aspekt analysieren z.B. Gumperz/Kaltmann/ O'Connor (1984) das Problem der Kohärenzsicherung in der gesprochenen und geschriebenen Sprache.
116 halb ein Problem, das - in Abhängigkeit von Überlegungen wie Aufwand und Ertrag, individuellen Kenntnissen und Fertigkeiten - durch kontextuelle Revisionen gelöst wird. 5.3.3.3. Formulierungskotextualisierung - Zur Funktion des Nachlesens im Fonnulierungsprozeß In vielen der bereits vorgestellten Beispiele treten neben konzeptuellen oder kontextualisierenden Revisionen auch immer wieder Phasen auf, in denen die Schreiber Teile des bereits produzierten Textes reaktualisieren. Solche Formen des "Nachlesens" kleinerer oder oft auch größerer Textsegmente scheinen für den Formulierungsprozeß insofern zentral zu sein, als hier geplante und bereits produzierte Äußerungen gemeinsam auftreten und aufeinander bezogen werden. Der Formulierungsprozeß hat hier gleichsam seine Schnittstelle zum manifesten Text, an der Prätexte zu Elementen kohärenter Textsequenzen werden. Zwei wesentliche Funktionen scheinen für das Nachlesen konstitutiv zu sein. Es dient einerseits dem Zweck der Kontrolle und der Strukturierung vorhergehender Formulierungsprozesse; es ist zum anderen aber auch wesentlich an der Formulierungsplanung beteiligt. Für viele Schreibversuche ist typisch, daß sie von einer Kontrollphase abgeschlossen werden, in der der Text noch einmal als ganzer gelesen, überprüft und eventuell auch korrigiert wird. Derartige Kontrollphasen treten jedoch auch im Verlaufe des Formulierungsprozesses immer wieder auf. Sie beziehen sich jedoch meistens nicht auf den gesamten, bislang produzierten Text, sondern auf den zuletzt produzierten Satz. Dieser Texteinheit entspricht dabei häufig auch eine relativ eigenständige Phase des Formulierungsprozesses. (21) Vp6GBLD Wenige Tage später... wie formulier ich da, wenige Tage später/ da muB rein, daß das ohne mein Verschulden passiert is, daß das gewissermaßen durch die mangelhafte/ durch das mangelhaft Anschließen von vorneherein klar war, daß das kaputt geht. Wenige Tage später...zeigte sich bereits ein Defekt könnte man sagen ohne äußere Einwirkung sowas wirkt noch ganz gut, ja das is vielleicht nicht schlecht. Wenige Tage später zeigte sich bereits... nich'am Gerät, am Schlauch, zeigte sich bereits ein ohne ein ohne äußere ja das is gut, ein ohne äußere Einwirkung Einwirkung entstandener Defekt an ... an/ vielleicht besser an Hem von Ihm ange./ vnn Thnpo angebrachten ja. das is nich/ das is gut, gleich sagen, daß er selber was damit zu tun hat; noch mal dem von Ihnen... angebrachten oder angelegten, ange/ installierten natürlich, immer schön auswärts, an dem von Ihnen installierten Laugenschlauch...
117 hm so mien Tjung, die Schuld ist deine. Wenige Tage später zeigte sich bereits ein ohne äußere Einwirkung entstandener Defekt an dem von Ihnen installierten Laugenschlauch. Is ja η bißchen lang, hoffentlich kriegt er das alles mit.
(22) Vp 5 GBLD Anbei schicke ich Ihnen die geforderten Quittungen... das sind jetzt Quittungen und wenn ich das habe über (unv.) Privatpersonen , laß es einfach Schicke ich Ihnen die grforderten Quittungen für die... Quittungen für die neubeschafften ,hm für die neu/ ich Ihnen die geforderten Quittungen für die neubeschafften [räuspem] sagt man das so, neubeschafften/was ham die mir hier geschrieben? entwendeten Gegenstände, Quittungen für den Neukauf· Anbei schicke ich Ihnen die geforderten Quittungen für die Quittungen, ach blöde Formulierung/ Schicke ich Ihnen die geforderten Quittungen , was mach ich den jetzt überhaupt Scheiß Formalkram , ach nicht so genau nehmen, blöde Versicherung. Anbei schicke ich Ihnen die grforderten Quittungen für die geforderten/für die neu beschafften Gegenstände (Wagenkreuzschlüssel, Erste-Hilfe-Kissen, Warndreieck, Abschleppseil sowie Ersatzlampen).... Punkt. Anbei schicke ich Ihnen die grforderten Quittungen für die neubeschaffien Gegenstände. ja, das geht, so, damit haben wir das schon mal ; dann schreiben sie: [liest Versicherungschreiben]
In beiden Beispielen wird deutlich, daß der Formulierungsprozeß außerordentlich fraktioniert verläuft; d.h., die Niederschrift der einzelnen Äußerungssegmente ist jeweils von längeren Phasen mit Vorformulierungen und Reflexionen durchbrochen, die produzierten Äußerungssegmente sind meist kurz und ohne inhaltlichen oder grammatischen Zusammenhang. Eine derartige Formulierungsweise ist durchaus typisch für Texte, die - wie Geschäftsbriefe - unflüssig produziert werden. Sie erschwert natürlich die Kontrolle der produzierten Äußerung während der Äußerungsproduktion, da Merkmale wie grammatische oder semantische Kohärenz nur vor dem Hintergrund einer vollständigen Äußerung sinnvoll überprüft werden können. Genau diese Kontrolle wird offenbar durch das Nachlesen geleistet, das damit zugleich als handlungsstrukturierendes Element fungiert. Denn durch das Nachlesen wird zugleich der Abschluß der Formulierungsphase eines spezifischen Textsegmentes bzw. der Übergang zu einer neuen Formulierungsphase markiert. Nachlesen als Rezeption und Kontrolle produzierter Textsegmente hat insofern auch eine wichtige Funktion für den Handlungsablauf des Formulierens: Es markiert die Grenzen einzelner Formulierungseinheiten, denen als manifeste Textsegmente zwar Sätze entsprechen, die im Produktionsprozeß jedoch als komplexe und fraktionierte Aktivitäten auftreten. In den o.g. Beispielen wird diese handlungsstrukturierende Funktion des Nachlesens von den Schreibern mit Formulierungen wie "so mien Tjung, die Schuld ist deine" (21) und "ja, das geht, damit haben wir das schon mal" (22) auch angedeutet. Für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse sind die Formen des Nachlesens, die mit Aktivitäten der Formulierungsplanung in Verbindung ste-
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hen. In welcher Weise ist Nachlesen am Prozeß dieser Transformation von geplanten Äußerungen in Textäußerungen beteiligt? Schon in den Beispielen (21) und (22) wird deutlich, daß die Aktualisierung von Passagen bereits produzierten Textes oft nicht nur am Ende einer Formulierungseinheit in Kontrollfunktion auftritt, sondern auch im Verlauf des Formulierungsprozesses der Produktion neuer Prätexte oder auch der Niederschrift vorangeht. Hier hat das Nachlesen offenbar eine andere Funktion. Zwar treten in der Folge dieser Nachlesephasen auch - in einigen Fällen - Textrevisionen auf, die Aufmerksamkeit der Schreibenden scheint hier aber eher auf die Produktion neuer Formulierungen gerichtet zu sein als auf die Kontrolle bereits produzierten Textes. Ein Indiz für die Präferenz der Formulierungsplanung in solchen formulierungsbezogenen Nachlesephasen besteht darin, daß der nachgelesene Text oft nicht vollständig reproduziert wird, sondern unter Tilgung von Textsegmenten, die für den weiteren Prozeß der Formulierungsplanung eine nur untergeordnete Rolle spielen. Oft handelt es sich bei diesen Auslassungen um Appositionen, eingebettete attributive Ergänzungen oder Partikeln. (Die getilgten Segmente sind in den folgenden Beispielen eckig geklammert). (23) Vp 8 GBLD Diese Rechung kann ich nicht akzeptieren, da dieser Schlauch erst vor 20 Tagen durch Mitarbeiter Ihrer Firma, [zusammen mit einer neuen Waschmaschine] Diese Rechnung kann ich nicht akzeptieren, da dieser Schlauch erst vor 20 Tagen durch Mitarbeiter Ihrer Firma eigenhändig installiert wurde eigenhändig installiert wurde.
(24) Vp 19 GBLD Der dafür verwendete Laugenschlauch, [Kosten 2,55 DM], war nach einer Woche defekt und Sie ersetzten ihn. Der dafür verwendete Laugenschlauch war nach einer Woche defekt und Sie ersetzten ihn. Dafür stellten sie eine Dafür stellten Sie die Rechnung Nr.391/88 über 78,56 aus.
Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen kontrollierendem und formulierungsbezogenem Nachlesen in der folgenden Sequenz, in der beide Formen an der Grenze einer Formulierungseinheit auftreten. Es handelt sich um die unmittelbare Fortsetzung von Beispiel (21), in der der Schreiber eine Formulierungseinheit durch kontrollierendes Nachlesen abschließt und eine neue Einheit mit erneutem (inkorrektem) Nachlesen beginnt. (25) Vp 6 GBLD Den Betrag [hierfür] habe ich Ihnen [umgehend] überwiesen. [?Wenige Tage später?] zeigte sich [bereits] ein ohne äußere Einwirkung entstandener Defekt an dem von Ihnen installierten Laugenschlauch.
119 hm so mien Tjung, die Schuld ist deine. Wenige Tage später zeigte sich bereits ein ohne äußere Einwirkung entstandener Defekt an dem von Ihnen installierten Laugenschlauch. Is ja η bißchen lang, hoffentlich kriegt er das alles mit. Den Betrag habe ich Ihnen überwiesen (unv.). Zeigte sich ein ohne äußere Einwirkung entstandener Defekt an dem von Ihnen installierten Laugenschlauch, hm, eben. Dem entn«*·""* 'rh, H«R die Installation mangelhaft durchgeführt wurde (Dem) Daraus schließe ich...
Formulierungsbedingtes Nachlesen - dies zeigen die Beispiele - steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Produktion nächster Äußerungssegmente. Durch Nachlesen werden dabei insbesondere jene Merkmale und Strukturen von Segmenten bereits produzierten Textes reproduziert und aktualisiert, die zur Sicherung von Kohäsion und Kohärenz der neu zu produzierende Formulierung notwendig sind.14 Neue Formulierungen werden auf diese Weise in den bereits bestehenden Textzusammenhang eingepaßt bzw. mit dem Ziel einer derartigen Einpassung auch revidiert: Sie werden mithin nicht nur hinsichtlich ihrer spezifischen Verwendungsweisen im jeweiligen Kommunikationszusammenhang kontextualisiert, sondern durch Nachlesen auch als Elemente eines kohärenten Textes kotextualisiert. Das Nachlesen als Kotextualisierung von Äußerungen betrifft verschiedene Ebenen des Textes und ist insofern von unterschiedlicher Reichweite. Sowohl die eher lokale Kohäsion und Kohärenz zwischen einzelnen Äußerungsteilen als auch globale, satzübergreifende Verknüpfungen werden damit gesichert. Entsprechend finden sich meist kurze, nur wenige Wörter umfassende Nachlesephasen innerhalb von Formulierungseinheiten (vgl. Beispiel (21)) und daneben auch weiträumigere Nachlesephasen zu Beginn einer neuen Formulierungseinheit (vgl. Beispiel 25). Die Einpassung neuer Prätexte in den bestehenden Textzusammenhang vollzieht sich dabei zumeist in der Form mehrfachen Testens von Kotextualisierungsalternativen, von denen dann eine gewählt wird. Die Beispiele (26) und (27) zeigen äußerungsinterne Kotextualisierungen, Beispiel (28) die Verknüpfung selbständiger Äußerungen durch Nachlesen am Beginn einer Formulierungseinheit. (26) Vp 5 GBLD ich hoffe daB Ihnen alle benötigten Unterlagen vorliegen und daß eine baldige Zahlung/rfafl Ihnen alle benötigten Unterlagen vorliegen und daß eine baldige Bezahlung erfolgen wird, vorliegen und ich mit einer baldigen Zahlung rechnen kann und ich mit einer baldigen Zahlung rechnen kann, das war's schon
Die Reproduktion von Äußerungen ist übrigens auch in der unmittelbar mündlichen Kommunikation, und hier vor allem in der Konversation, ein durchaus häufiges Phänomen. Solche "Repetitionen" von Außerungselementen eines Sprechers durch den nächsten Sprecher betrachtet Tannen (1990) als Hinweis auf die interaktive Konstitution von Gesprächsäußerungen.
120 (27) (aus Keseling 1988a, 221) Ich bitte, die genannten Mängel bis zum 17.12.85 beheben zu lassen. Da diese Mängel eine erhebliche Minderung des Wohnwertes darstellen, werde ich andernfalls die zwischen uns vereinbarte Monatsmiete von 750 Mark in einem noch zu ermittelnden Umfange kürzen äh mindern vermindern/ werde ich andernfalls die zwischen uns vereinbarte vereinbarte Monatsmiete vermindern? in einem noch genauer zu ermittelnden Umfange kürzen äh nee werde ich andernfalls einen Abzug der zwischen uns vereinbarten Monatsmiete/ werde ich andernfalls die zwischen uns vereinbarte Monatsmiete (unver.) Umfange mindern...
(28) Vp 6 GBLD Daraus schließe ich, da£ die Installation mangelhaft durchgeführt wurde, und dafür will der auch noch Geld haben hm, vielleicht sollt ich jetzt ruhig gleich direkt sagen, dafi ich und auch deutlich zum Ausdruck bringen, daß da gar keine Verhandlung möglich ist; ich lehn'die Zahlung einfach ab fertig . Installation mangelhaft durchgeführt wurde. Aus diesem Grunde bin ich nicht bereit. Ihre Rechnung/Ihren Rechnungsbetrag von 78.50 DM zu begleichen. Begleichen na ja, mangelhaft durchgeführt wurde...da meinerseits kein/ vielleicht sollt ich das noch schreiben/ das is ein bißchen hoch gestellt, doch aber irgendwo sowas schreib ich, der soll sich da ruhig ein bißchen durchquälen Da meinerseits kein Verschulden...
Neben der Sicherung grammatischer Kohäsion und thematischer Kohärenz scheint eine wichtige Funktion des Nachlesens auch darin zu bestehen, den planungsrelevanten textuellen Zusammenhang der zu formulierenden Äußerung auch auditiv verfügbar zu machen (Keseling 1988a). Das laute oder halblaute Lesen, das oft auch gekoppelt ist mit begleitenden rhythmischen Hand- oder Kopfbewegungen der Schreiber scheint dazu zu dienen, den Text akustisch wahrnehmbar zu machen, um dem Schreiber zu ermöglichen, die Klangstniktur zu reproduzieren, um auf diese Weise vorzusorgen, daß auch die nächsten Formulierungen zu der Klangstruktur der vorausgehenden Passage passen (Keseling 1988a, 233).
Unter dem Begriff "Klangstruktur" versteht Keseling dabei alle über den akustischen Kanal wahrnehmbaren und nicht interpretierbaren Textmerkmale, also grob gesagt alle Klangelemente des Textes, die keine Bedeutungsträger sind oder die, wie Akzent und Intonation usw. an bedeutungstragende segmentale Einheiten gebunden sind, ohne mit diesen identisch zu sein (Keseling 1988a, 233).
Der hier mit dem Begriff "Klangstruktur" bezeichnete auditive Aspekt auch von schriftlichen Äußerungen15 bildet sicherlich eine wichtige Komponente dessen, Auf dem Zusammenhang von Lesen und "Klang" weist bereits Gadamer (1972) hin. Er begründet u.a. darin die ontologische Erfahrung von Literatur. "... nun gibt es aber offenbar keine scharfe Abgrenzung gegen das stille Lesen; alles verstehende Lesen ist immer eine Art von Reproduktion und Interpretation. Betonung, rhythmische Gliederung und dergl. gehören
121 was wir unter dem Begriff der Äußerungs- bzw. Textgestalt zusammenfassen wollen. Gemeint ist damit das nur schwer faßbare Ensemble aller sprachlichen, textuellen, auditiven und visuellen Eigenschaften einer schriftsprachlichen Äußerung; daß, was uns einen Text eben gerade nicht als bloße Summe seiner Teile erscheinen läßt, sondern ihn als zugleich exemplarischen und individuellen vor dem Hintergrund anderer Texte abhebt. Der an Vorstellungen der Gestaltpsychologie angelehnte Begriff der "Text- bzw. Äußerungsgestalt" ist - dies sei konzidiert - vage und linguistisch nur schwer operationalisierbar.16 Es lassen sich jedoch einige Anhaltspunkte dafür finden, daß die Vorstellung von Textgestalten im Formulierungsprozeß wirksam und an der Erzeugung und Formulierung von Textäußerungen beteiligt ist: es sind dies die Probleme der Formulierung des Textbeginns und das Phänomen der Gestaltkomplementierung, d.h. des plötzlichen Formulierungseinfalles im Anschluß an Nachlesephasen. Die Steuerungswirksamkeit von Gestaltvorstellungen beim Formulieren manifestiert sich als besonderes Formulierungsproblem dort, wo Elemente einer Textgestalt noch nicht vorliegen bzw. erst entwickelt werden müssen. Schreiber, die nachträglich nach ihren Problemen beim Schreiben befragt wurden, erwähnen immer wieder die besonderen Schwierigkeiten der Formulierung des Textbeginns: Die Formulierung des ersten Satzes fällt vielen Schreibern besonders schwer; er erfordert zumeist auch überproportional viel Planungszeit. Keseling (1984) stellt dar, daß diese besonderen Formulierungschwierigkeiten des ersten Satzes aus seiner spezifischen Funktion sowohl für den Schreibprozeß als auch für die Gesamtstruktur des geplanten Textes zu erklären sind. Mit dem Textbeginn werden sowohl Grundkonstellationen der intendierten Kommunikationssituation festgelegt (z.B. Typisierungen von Schreiber und Rezipient) als auch Entscheidungen über die sprachliche Gestaltung, über syntaktische und thematische Fortsetzungsmöglichkeiten und die Gesamtstruktur des Textes getroffen. Die besondere Schwierigkeit des ersten Satzes besteht darin, daß zu diesem Zeitpunkt solche Elemente des Textes, die über seine Gesamtgestalt orientieren könnten, fehlen. Dem Schreiber ...fehlen a.) inhaltliche Fortsetzungsmöglichkeiten, d.i. die Möglichkeit, auf der Grundlage von konditionellen Relevanzen, Erwartungen seitens des vorgestellten Rezipienten und dergleichen eine vorausgehende Äußerung im Sinne einer inneren Antwort fortzusetzen, b.) syntaktische Fortsetzungsmöglichkeiten, d.i. die Möglichkeit, syntaktisch an eine vorausgehende Struktur anzuknüpfen und c.) - nicht zuletzt - der Rahmen oder das Gesprächsmuster, innerhalb dessen Produzent und (innerer) Rezipient sich verständigen können, wozu unter anderem auch eine Selbsttypisierung (und zugleich eine Typisierung des inneren Dialogpartners) gehört. All dies muß mit dem ersten Satz - und wir können
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auch dem stillsten Lesen an. Das Bedeutungshafte und sein Verständnis ist offenbar mit dem Sprachlich-Leibhaften so eng verbunden, daß Verstehen immer ein inneres Sprechen enthält" (Gadamer 1972, 153). "Gestaltvorstellungen" spielen auch im Bereich der Textlinguistik, insbesondere bei der Analyse narrativer Texte, eine zunehmend wichtigere Rolle. Vgl. z.B. Hopper (1979), Reinhard (1984) oder Klein/v. Stutterheim (1987), die explizit auf die Verwandtschaft ihrer Konzeption von "Haupt- und Nebenstrukturen" mit der gestaltpsychologischen Unterscheidung von "Vorder- und Hintergrund" hinweisen.
122 jetzt ergänzen: mit der Eröffnung des inneren Dialogs - überhaupt erst konstituiert werden (Keseling 1984, 150f.).
Was Keseling hier mit dem Begriff des "inneren Dialogs" bezeichnet, beschreibt - in etwas veränderter Perspektive - den Mechanismus der Kotextualisierung: die Produktion neuer Formulierungen als "Antwort" auf die Erfordernisse bereits produzierten Textes, dessen Rezeption (Nachlesen) als orientierende Vorverweisung auf die Äußerungs- bzw. Textgestalt fungiert. Das Fehlen der Möglichkeit von Kotextualisierungen zu Beginn des Schreibprozesses und die daraus erwachsenden Probleme der Formulierung des ersten Satzes weisen darauf hin, daß die mentale und auch auditive Repräsentation des Kotextes für den Texterzeugungsprozeß eine wesentliche Rolle spielt. Die Wirksamkeit von Textgestalten wird schließlich auch darin deutlich, daß Schreiber Formulierungsprobleme oft durch die Rekapitulation größerer Teile des manifesten Textes lösen und ihnen Formulierungen daraufhin spontan "einfallen". Schreiber machen sich damit offenbar die vorhandenen textinhärenten inhaltlichen und formalen Möglichkeiten und Zwänge der Textfortsetzung, Äußerungsverknüpfung und -komplementierung zunutze, um neue Formulierungen zu erzeugen. (29) Vp 16 GBLD Im Rahmen der sechsmonatigen Garantie, ... die mir bei Kauf des Produktes zugesichert wurde, halte ich die Forderung dieser Summe für die Ersetzung des defekten Laugenschlauches für unangemessen. Es ist mir unbegreiflich, hm. es ist mir unbegreiflich, daß Ihre Firma eine solche Forderung an mich stellt/ unbegreiflich, daß sie eine solche Forderung an mich stellen...: Nachdem ich ihre Firma darüber informiert hatte, schickten Sie mir einen Ihrer Mitarbeiter, um den Schaden zu beheben: Ein paar Tage später, am 4.5., folgte eine Rechnung über D-Mark 78,56. Im Rahmen der sechsmonatigen Garantie, mir beim Kauf des Produktes zugeschickt [zugeschickt statt zugesichert!!!] wurde, halte ich die Forderung dieser Summe für die Ersetzung des defekten Laugenschlauches für unangemessen. Es ist erwiesen, daß die Firma mich nicht für den Schaden verantwortlich machen kann.
(30) Vp 19 GBLD Vor 4 Wochen haben Sie bei mir eine Waschmaschine angeschlossen. Die Rechnung Nr. 276/88 darüber habe ich bereits beglichen. Der dafür verwendete Laugenschlauch, Kosten 2,55 DM, war nach einer Woche defekt und Sie ersetzten ihn. Eine Woche später (unv.i: da es sich hierbei um einen Materialfehler handeln muß. der nicht durch Fehlbedienung/ da dieser Fehler im Material liegen muß und nicht durch Fehlbedienung bedingt sein kann hm, sehe ich keine (unv.i Veranlassung, nee Quatsch; die darüber erstellte Rechnung dreieinundneunzig. hm, ich seh nicht ein/...: der dafür verwendete Laugenschlauch war nach einer Woche defekt und sie ersetzten ihn. Dafür stellten Sie eine Dafür stellten Sie eine die Rechnung Nr. 391/88 über 78,56 DM aus.
123 In beiden Beispielen handelt es sich bei der im Anschluß an das Nachlesen produzierten Formulierung nicht um revidierte Formen des Prätextes, sondern um Neuformulierungen, die sowohl die sprachliche als auch - in unterschiedlichem Maße - die konzeptuelle Äußerungsstruktur betreffen. Besonders deutlich wird dies in Beispiel (30), in dem die Schreiberin die zunächst (im Prätext) geplante "Begründung'' durch eine Fortsetzung der Beschreibung des Sachverhaltes ersetzt. Offenbar wird der Autorin durch das Nachlesen die Unvollständigkeit ihrer bisherigen Sachverhaltsschilderung bewußt, worauf ihr spontan eine Formulierung einfällt, mit der die Schilderung fortgesetzt bzw. abgeschlossen wird. Dieser "Gestaltschließungszwang"17 steuert sowohl die Erzeugung der konzeptuellen Struktur der neuen Äußerung als auch deren sprachliche Form: Der Autorin fällt spontan ein Satz ein, der zu ihrer bisherigen Schilderung insofern "paßt", als er die Sequenz kurzer, reihender deskriptiver Sätze fortsetzt bzw. beendet. Die Kotextualisierung ist - wie dieses Beispiel zeigt - nicht nur eine quasi nachträgliche Einpassung prätextuell vorhandener Formulierungen in einen bestehenden Kotext, sondern zugleich eine für die Produktion schriftlicher Texte spezifische Form der Äußerungsproduktion.
5.4. Zusammenfassung - Ein Modell des Formulierens Versuchen wir abschließend, die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels noch einmal zusammenzufassen und auf den Ausgangspunkt der Argumentation zu beziehen: auf die Frage nach dem Zusammenhang von Revisionen und Formulierungsprozeß und dessen Rolle im Gesamtprozeß der Textproduktion. Formulieren - dies ist das wichtigste Ergebnis der Untersuchung - läßt sich in der Tat als Prozeß des Umformulierens bzw. Revidierens auffassen. Allerdings greifen Vorstellungen zu kurz, die diesen Prozß auf die Modifikation manifester Textäußerungen beschränken. Textrevisionen sind nur in sehr beschränktem Ausmaß für den Formulierungsprozeß relevant; sie affizieren weitgehend nur Aspekte der Textoberfläche des produzierten Textes, ohne in den eigentlichen Prozeß der Erzeugung von Formulierungen aus Äußerungskonzepten und ihrer Transformation zu Textformulierungen einzugreifen. Formulierungen liegen vielmehr zum Zeitpunkt der Niederschrift in Form von Prätexten weitgehend vor. Prätexte als mental repräsentierte und sprachlich konstituierte Vorformen von Textäußerungen sind insofern der zentrale Gegenstand, an dem sich Prozesse der Erzeugung und Modifikation von Textäußerungen vollziehen und analytisch nachvollziehen lassen. Die zentrale Rolle, die Prätexte im Formulierungsprozeß spielen, erklärt sich aus ihrer besonderen Doppelstruktur. Prätexte sind zwar mentale, jedoch schon sprachlich weitgehend ausgeformte und den jeweiligen kommunikativen Zielen Von "GestaltschlieBungszwang" sprechen auch Kallmeyer/Schütze (1977) in bezug auf die internen Fortsetzungszwänge bei der Produktion von komplexen Formen der Sachverhaltsdarstellung (z.B. Beschreibungen und Erzählungen) in unmittelbar mündlicher Kommunikation.
124 angepaßte Vorstufen geplanter Textäußerungen. Als mentale Repräsentationen sind sie damit einerseits leicht und unaufwendig zu handhaben, da sie den formalen Restriktionen der schriftlichen Sprache noch nicht vollständig unterliegen bzw. auch unaufwendig revidiert werden können. Prätexte ersparen damit einen Teil des kognitiven und aktionalen Aufwandes, der die Erzeugung und vor allem Veränderung schriftlich manifester Textäußerungen charakterisiert. Als sprachliche Strukturen sind Prätexte jedoch zugleich der sprachlichen Wahrnehmung zugänglich; sie können mithin im Hinblick auf ihre sprachlichen Merkmale analysiert und bewertet und mit genuin sprachlichen Operationen manipuliert werden (Additionen/Substitutionen/Paraphrasierungen usw.). Prätexte fungieren deshalb als eine Art Experimentierfeld, auf dem die verschiedenen Faktoren des Formulierungsprozesses insgesamt als sprachliche Faktoren wirksam, in ihren Wirkungen erprobt und bewertet werden. Zwei grundlegende Strategien stehen Schreibern dabei zur Verfügung: die Revision von Prätexten, d.h. ihre bedeutungskonservierende Veränderung mit den auch für Textrevisionen typischen Mitteln; und die Neuformulierung von Prätexten, d.h. die Modifikation der konzeptuellen Strukturen der geplanten Äußerung. Methodisch haben wir für die Rekonstruktion formulierungsrelevanter Faktoren und Verfahren die Analyse schreibbegleitend erhobener verbaler Daten (Think-aloud-Protokolle) in Anspruch genommen. In derartigen Protokollen manifestieren sich - zumindest teilweise - die für den Formulierungsprozeß konstitutiven Aktivitäten und Faktoren als Typen unterschiedlicher Äußerungen, Äußerungsfunktionen und Handlungen. Auf dieser Basis wurden drei Relationen differenziert, in denen Prozesse der Erzeugung und Revision von Prätextäußerungen stattfinden: im Verhältnis von konzeptuellen Strukturen und Prätexten (konzeptuelle Revisionen), als Anpassung von Prätexten an den Kontext der Kommunikationssituation (kontextuelle Revisionen) und als ihre Einpassung in den bereits produzierten Textzusammenhang (Kotextualisierung). Die in Abb. 5.12. noch einmal dargestellten Faktoren und Relationen des Formulierungsprozesses sind nicht so zu verstehen, als seien sie jeweils isoliert wirksam oder als stünden sie in einer einfachen zeitlichen Folgebeziehung zueinander. Wir haben hier lediglich analytisch getrennt und an besonders einprägsamen Beispielen zu verdeutlichen versucht, was sich zumeist als ein komplexes Gefüge von Aktivitäten darstellt. Zwar bestehen zeitliche Folgebeziehungen zwischen den einzelnen Aktivitäten insofern, als etwa Prätexte Produkte vorhergehender Aktivitäten sind, zugleich wurde jedoch auch immer wieder deutlich, daß der Formulierungsprozeß eng mit Aktivitäten der Textplanung verwoben ist: Durch die Kontextualisierung und Kotextualisierung von Prätexten werden auch konzeptuelle Äußerungsstrukturen verändert und z.T. erst erzeugt. Revidieren ist mithin weder eine dem Formulierungsprozeß nachgeordnete Aktivität noch strikt von Aktivitäten der Textplanung zu trennen. Insofern ist das von Hayes/Flower (1980) vorgeschlagene Schreibprozeßmodell mit seiner klaren Trennung der Komponenten von "planning", "translating" und "reviewing (revision)" grundsätzlich zu überdenken. Inadäquat erscheint auf jeden Fall die Modellierung des Formulierungsprozesses als bloße "Übersetzung" vorsprachlicher Konzepte in sprachliche Äußerungen. Formulieren - dies hat die Untersu-
125 chung gezeigt - ist als revidierendes Formulieren selbst ein textgenerativer Prozeß, in dem Texte auf der Basis konzeptuellen, pragmatischen und sprachlichen Wissens entwickelt werden. Gerade die Inkongruenzen zwischen diesen verschiedenartigen Wissensdomänen sind es, die den Formulierungsprozeß und damit auch die Funktionen von Prätextrevisionen prägen. Formulieren ist deshalb weniger Übersetzung als vielmehr Adaption: ein Prozeß der wechselseitigen Anpassung konzeptuellen Wissens, kontextueller und kotextueller Erfordernisse und sprachlicher Strukturformen, in dem ein Text als sinnvolle Einheit dessen entsteht, was der Schreiber mit ihm meint, sagt und tut.
Abb. 5.12.: Faktoren des Formulierungsprozesses
Bedenkt man die Unterschiedlichkeit der Anforderungen, die die verschiedenen Schreibaufgaben bzw. Textarten stellen, dann wird verständlich, daß die für den Formulierungsprozeß konstitutiven Faktoren und Verfahren nicht immer im selben Maße formulierungsrelevant werden. Zwischen der flüchtigen Mitteilung ("Bin gleich zurück") und dem Verfassen etwa einer umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit bestehen hinsichtlich des Formulierungsaufwandes beträchtliche Differenzen. Einfache Texte wie etwa "Wegbeschreibungen" ermöglichen eine relativ problemlose Transformation von Äußerungskonzepten in Textäußerungen, komplexere Textarten18 wie die analysierten Geschäftsbriefe erfordern hingegen einen höheren Aufwand der konzeptuellen Ausformung, kontextuellen Anpassung und kotextuellen Einpassung von Äußerungen im Formulierungsprozeß. Zudem gibt es durchaus unterschiedliche, individuelle Strategien, den Anforderungen des Formulierungsprozesses gerecht zu werden. So verwenden eiWas "einfach" oder "komplex" für den Textproduktionsprozeß genau heißt, werden wir in Kap. 6 ausführlich analysieren.
126 nige Schreiber viel Zeit und Mühe auf konzeptuelle "Vorarbeiten" und minimieren damit den Aufwand an prätextuellen Revisionen und Modifikationen (die "Konzeptionalisten"), andere wiederum entwickeln präzise Vorstellungen dessen, "was sie sagen wollen" erst in extensiven Formulierungsversuchen, die entsprechend aufwendig und störanfällig sind (die "Textualisten"). Wir wollen dies hier nur feststellen und nicht, unter Effektivitäts- oder anderen Gesichtspunkten, bewerten. Denn es zeigt sich in diesen Phänomenen, in welcher Weise die für Formulierungsprozesse konstitutiven Komponenten und Verfahren situationsspezifisch flexibel wirksam werden und von Schreibern eingesetzt werden können.
6. Makroplanung im Schreibprozeß
6.1. Planung als Voraussetzung des Formulierungsprozesses Formulieren ist eine für den Prozeß der Textproduktion wesentliche Handlungsphase. Sie bildet einerseits die unmittelbare Schnittstelle zum manifesten Text und operiert, in Form von Textrevisionen, z.T. sogar auf der Basis manifester Textäußerungen. Andererseits ist Formulieren aber auch am Prozeß der Erzeugung und der Organisation von Textbedeutungen beteiligt. In ihrem Kern betreffen Formulierungshandlungen allerdings Prätexte, d.h. sprachliche konstituierte, jedoch mentale Vorstufen von Textäußerungen. Faßt man den Formulierungsprozeß als eine Folge von Formulierungshandlungen auf, mit der bereits sprachnahe Teilbestände der den Text insgesamt konstituierenden Bedeutungen fokussiert und durch Vergleichs- und Anpassungsoperationen schließlich formuliert werden, dann stellt sich die Frage, wie im Textproduktionsprozeß die Voraussetzungen für Formulierungshandlungen geschaffen werden. Solche Voraussetzungen bestehen etwa darin, daß ein Schreiber, bevor er formuliert, zumindest grobe Vorstellungen darüber haben muß, - welche Ziele er insgesamt mit der Produktion eines Textes verfolgt. Zumeist ist die Textproduktion kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Realisierung pragmatisch-kommunikativer Ziele; - was er sagen will. Texte haben Bedeutungen. In ihnen und durch sie wird etwas mitgeteilt. Diese Textbedeutung muß im Textherstellungsprozeß erzeugt und ausdifferenziert werden; - wie er das, was er sagen will, organisieren will. Texte und die in ihnen mitgeteilten Bedeutungen haben bestimmte Formen. Dies betrifft nicht nur ihre Oberflächenstrukturen, sondern auch die globaleren Formen der inhaltlichen und formalen Organisation des Textes; - wie er seine Ziele optimal erreichen kann. Textherstellung ist ein aufwendiger und komplexer Prozeß, der auf sehr verschiedene Weise realisiert werden kann. Bei der Textherstellung spielen insofern strategische Überlegungen, die das Verhältnis von Aufwand und Ertrag spezifizieren, eine nicht unerhebliche Rolle. Solche globalen Vorstellungen hinsichtlich des Inhalts, der Ziele und der Strategien des Schreibens werden sicherlich nicht für jede Formulierungshandlung aufs neue entwickelt. Die Tatsache, daß jemand formuliert, ist vielmehr bereits ein Hinweis darauf, daß er damit spezifische Ziele verfolgt bzw. sich für eine bestimmte Strategie der Handlungsrealisierung entschieden hat. Die Produktion einzelner Äußerungen im Textproduktionsprozeß läßt sich insofern als sukzes-
128 sive Realisierung global vorliegender inhaltlicher und zielbezogener Vorstellungen auffassen. Diese fungieren im Sinne einer dynamischen Kontrollinstanz für die Teilhandlungen, durch die sie realisiert werden. Dynamisch deshalb, weil sie im Prozeß der Textproduktion selbst verändert und z.T. auch erst erzeugt werden. Wie sehen diese Voraussetzungen im einzelnen aus? Wie entwickeln Schreiber solche inhaltlichen Gesamtvorstellungen von einem Text? Wie organisieren sie den Textproduktionsprozeß derart, daß intendierte Bedeutungen schließlich sukzessive formuliert werden können? Wie werden - mit anderen Worten die verschiedenen, den Textproduktionsprozeß konstituierenden pragmatischkommunikativen Bedingungen, semantischen Inhalte und schematischen Organisationsprinzipien gebildet und aufeinander bezogen? Bereits in Kapitel 3 wurden einige allgemeine Bestimmungen skizziert, die den pragmatisch-kommunikativen Gesamtzusammenhang betrafen, von dem die Textherstellung ein Teil ist. Wer schreibt, verfolgt damit bestimmte Ziele. Es ist deshalb anzunehmen, daß die pragmatische Einbettung des Schreibens in entscheidender Weise die Handlungsstruktur des Textherstellungsprozesses affiziert. Zugleich aber ist Schreiben auch ein individueller Akt der Erzeugung, Organisation und Versprachlichung dessen, was den eigentlichen Gegenstand des kommunikativen Austausches bildet: des von einem Text Bedeuteten und von einem Schreiber Gemeinten, das zunächst nur in seinem individuellen Wissen verankert ist. Textvermitteltes Kommunikationshandeln ist in dieser Perspektive auch eine Form des Austausches von Wissen. Seine besonderen Bedingungen setzen deshalb auch - so kann vermutet werden - spezifische Verfahren voraus, mit denen im Textherstellungsprozeß Wissen aktualisiert und für den jeweiligen Schreibzweck schematisiert wird. Diese Verfahren, die insgesamt unter dem Terminus der Makroplanung von Texten zusammengefaßt werden sollen, werden im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen stehen. Wir werden also der Frage nachgehen, in welcher Weise die globalen inhaltlichen und schematischen Vorstellungen von Texten im Textproduktionsprozeß gebildet werden und wirksam sind. Dazu ist es zunächst sinnvoll, sich die wichtigsten Erkenntnisse deijenigen Disziplinen zu vergegenwärtigen, die sich mit allgemeinen Aspekten der Wissensverarbeitung beschäftigen.
6.2. Wissen und Schreiben Obwohl die zentrale Rolle von "Wissen" für Prozesse der sprachlichen Verständigung mittlerweile anerkannt und in den Mittelpunkt deijenigen Wissenschaften gerückt ist, die sich mit der Organisation und Prozedierung von Wissen oder der Produktion und Rezeption von Sprache beschäftigen, existiert bislang keine allgemein anerkannte "Theorie des Wissens". Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre haben sich vielmehr mehrere, teils konkurrierende, teils sich ergänzende Ansätze entwickelt, die, mit unterschiedlichen Interessen und im Rahmen verschie-
129 dener Disziplinen, Teilaspekte des Problemzusammenhanges zu klären versuchen: so etwa in der Gedächtnispsychologie, der Textlinguistik, der Psycholinguistik der Textverarbeitung oder der künstlichen Intelligenz.1 Aufgrund dessen ist die Forschungslage zum Problem "Sprache und Wissen" äußerst unübersichtlich. Der Anspruch der folgenden Ausführungen ist es deshalb auch nicht, die vorliegenden Ansätze vollständig darzustellen oder gar kritisch untereinander zu vergleichen. Es soll vielmehr darum gehen, einige grundlegende und weitgehend anerkannte Prinzipien der Wissensrepräsentation und -prozedierung darzustellen, um den theoretischen Rahmen für die eigenen, am empirischen Material zu entwickelnden Analysen abzustecken.
6.2.1.
Konzepte der Wissensrepräsentation
Der Begriff des "Wissens" ist in den vergangenen Jahren mehrfach differenziert worden und wird auch derzeitig in z.T. recht unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht. Am bekanntesten und folgenreichsten war wohl Tulvingss (1972) Unterscheidung von semantischem und episodischem Gedächtnis, die darauf abzielte, Wissen hinsichtlich der unterschiedlichen Modalitäten seines Erwerbs und der Grade seiner Beständigkeit zu differenzieren. Das semantische Gedächtnis sollte demnach abstraktes, allgemein gültiges und eher begrifflich konstituiertes Wissen enthalten (z.B. sprachliches Wissen), das episodische Gedächtnis hingegen die Gesamtheit des veränderlichen Erfahrungswissens (z.B. das Wissen über die persönliche Lebensgeschichte). Tulvings Differenzierung ist u.a. deshalb kritisiert worden, weil sie sowohl hinsichtlich der Modalitäten des Wissenserwerbs als auch im Hinblick auf die Grade seiner Abstraktheit/Veränderlichkeit relativ willkürlich erscheint (vgl. z.B. Baddeley 1979). Neuerdings wird deshalb der Wissensbegriff wieder in einer allgemeineren, eher alltagsprachlichen Bedeutung gebraucht. Wissen ist demnach die Gesamtheit dessen, was eine Person weiß; oder in der englischen, weniger tautologisch klingenden Variante: Knowledge... is simply everything we know... (van Dijk/Kintsch 1983, 312).
Das Wissen einer Person entstammt sehr unterschiedlichen Quellen. Ein Teil dieses Wissens ist vermutlich angeboren oder mag sogar übersinnlichen Ursprungs sein, die wesentlichen Quellen sind jedoch, so Klein (1986): Zum Problem Textverstehen/Textverarbeitung gibt es in Psychologie, Psycholinguistik und auch im engeren Bereich der Sprachwissenschaft vielfältige Ansätze. Einen knappen, aber informativen Uberblick geben z.B. Rickheit/Strohner (1985) sowie Biere (1991) im Rahmen seiner Studienbibliographie zum Thema "Textverstehen und Textverständlichkeit". In psychologischer bzw. psycholinguistischer Perspektive vgl. z.B. Mandl (Hrsg.) (1981); Mandl/ Stein/Trabasso (eds.) (1984); Strohner (1990); aus eher sprachwissenschaftlicher Sicht z.B. Groeben (1982); Schemer (1984, 1989); Biere (1989). Mit übergreifendem, interdisziplinärem Anspruch van Dijk/Kintsch (1983); zu Unterschieden des Verstehens mündlicher und schriftlicher Sprache vgl. die Beiträge in Horowitz/Samuels (eds.) (1987). Einen guten Uberblick über Problemstellungen der allgemeinen Wissenspsychologie geben die Beiträge in Mandl/Spada (Hrsg.) (1988).
130 - die fortlaufende sinnliche Wahrnehmung durch die verschiedenen Sinnesorgane mit ihren je spezifischen sensorischen Fähigkeiten; - die sprachliche Übermittlung, die zwar als Sonderfall der sinnlichen Wahrnehmung gelten kann, die allerdings für unsere kulturelles Wissen von so überragender Bedeutung ist, daß wir sie als eigene Quelle gelten lassen können; - mentale Operationen, die auf der Grundlage vorhandenen Wissens neues Wissen erzeugen, Wahrnehmungen interpretieren usw. Natürlich arbeiten die verschiedenen Wissensquellen nicht unabhängig voneinander. So wird unsere sinnliche Wahrnehmung sicherlich von sprachlichem Wissen ebenso geprägt wie von physiologischen Restriktionen, die uns die "Welt" eben nur in einer bestimmten Weise erfahren lassen. Neues Wissen wird - dies zeigt eine Vielzahl psychologischer Experimente - generell auf der Basis vorhandenen Wissens (aus unterschiedlichen Quellen) erworben und in den Wissensbestand integriert. Nicht nur der Erwerb von Wissen vollzieht sich deshalb bereits in einer strukturierten Form, sondern auch seine Repräsentation im Gedächtnis. Wissen wird - auch dies ist unstrittig - nicht in der Form repräsentiert, in der es erworben wird oder in der es sich sprachlich manifestiert. Wissenssysteme scheinen vielmehr Strukturen zu besitzen, die gegenüber den Prinzipien des Wissenserwerbs bzw. der Wissensmanifestation (etwa in Texten) weitgehend eigenständig sind. In den letzten zwanzig Jahren hat es mehrere Versuche gegeben, diese elementaren Strukturen und die Architektonik von Wissenssystemen theoretisch zu modellieren. Viele dieser Ansätze sind im Rahmen der Psycholinguistik der Textverarbeitung entstanden; sie sind entweder Nebenprodukte der Textrezeptionsforschung oder wurden methodisch am Beispiel des Textverstehens entwickelt. Dies mag erklären, warum zumindest die ersten Modelle der Wissensrepräsentation relativ "sprachnah" konzipiert sind. Wissen wird hier, in aristotelischer Tradition, analog zu Strukturen von Sprache modelliert. Eine derartige, sprachnahe Konzeption der Wissensrepräsentation schlägt etwa das Modell semantischer Merkmale von Smith/Shoben/Rips (z.B. 1974) vor, das sich allerdings auf die Repräsentation von Wortbedeutungen beschränkt. Demzufolge werden Begriffe durch einen Satz diskreter semantischer Merkmale repräsentiert, die als definierende und charakterisierende Bestandteile der Wortbedeutung betrachtet werden können. Einen in bezug auf ihre Sprachnähe vergleichbare Konzeption der Wissensrepräsentation ist das propositionale Modell von Kintsch (z.B. 1977), das sich allerdings auf größere sprachliche Strukturzusammenhänge - das Verstehen und die Speicherung von Texten - bezieht. Texte werden demnach in Form von propositionalen Strukturen repräsentiert, in deren hierarchischen Strukturen sich Prinzipien der logischen Verknüpfung und der Relevanz von Informationen manifestieren.2
Auf der Basis eines derartigen propositionalen Modells analysiert z.B. Frederik sen (1986) Formen der Produktion und Rezeption narrativer Texte durch Kinder.
131 In ähnliche Richtung gehen Wissensmodelle, die Wissen in Form semantischer Netzwerke modellieren (Norman/Rumelhart 1978). Dieser, ursprünglich aus der KI-Forschung stammenden Vorstellung zufolge (vgl. Rieger 1989) besteht ein semantisches Netzwerk aus (benannten) Konzeptknoten, die etwa Begriffen entsprechen, und aus Relationen, die strukturelle Abhängigkeiten zwischen den Knoten bzw. Eigenschaften spezifizieren. Ähnlich wie die propositionale Theorie modellieren auch semantische Netzwerke die Struktur von Wissen als abstrakt logische Strukturen von Kategorien und Relationen. Neuerdings wird diese Auffassung als einseitig problematisiert. Als zusätzliche - und z.T. übergeordnete - Repräsentationsform scheinen vielmehr auch mentale Modelle3 eine Rolle zu spielen, in denen Wissen in eher analoger, prototypischer Weise repräsentiert ist (Johnson-Laird 1983). Untersuchungen von Alltagskonzepten wie etwa "Vogel" oder "Frucht" weisen darauf hin, daß die mentale Vorstellung eines Vogels eher aus prototypischen Eigenschaften bzw. Relationen besteht als aus exakten logischen Kategorien oder Begriffen. So sind z.B. Pinguine kategorial zwar auch Vögel, die typische Vorstellung eines Vogels gleicht aber eher dem Bild einer Taube als dem eines Pinguins. Johnson-Laird charakterisiert den Unterschied zwischen propositionalem Wissen und (mentalem) Modellwissen folgendermaßen: Unlike a prepositional representation, a mental model does not have an arbitrarily chosen syntactic structure, but one that plays a direct representational role since it is analogous to the structure of the corresponding state of affairs in the world - as we perceive or conceive it (Johnson-Laird 1983, 156).
Das Konzept der mentalen Modelle integriert damit auch Vorstellungen von Wissensmodellen, die von der propositionalen Konzeption am weitesten entfernt sind. Es sind dies die Modelle, in denen Wissen in Form von bildlichen Vorstellungen (Images) repräsentiert wird. Diese bildhafte Repräsentation von Wissen ist in der Theorie der dualen Codierung von Paivio (1971, 1986) ein zweites System der Codierung, der Speicherung und des Abrufs von Informationen, das gleichrangig neben dem - sprachlich-sequentielle Informationen verarbeitenden - verbalen System existiert. Arbinger faßt die Arbeitsweise dieses Systems folgendermaßen zusammen: Das bildhafte System verarbeitet nichtverbale Informationen und speichert sie in Form von Voistellungsbildera. Diese Vorstellungsbilder können als analoge Repräsentationen von konkreten Objekten und Ereignissen angesehen werden. Vorstellungsbilder können Komponenten der verschiedenen sensorischen Modalitäten enthalten, sie können visueller, auditorischer, haptischer oder anderer Natur sein, oder sie können aus einer beliebigen Kombination dieser Modalitäten bestehen. Elementare Vorstellungsbilder können zu Strukturen höherer Ordnung organisiert werden. Dieser OrganisationsprozeB kann parallel oder simultan ablaufen, d.h., verschiedene Einheiten können gleichzeitig
Zum Versuch, die Theorie mentaler Modelle für die Textverstehensforschung fruchtbar zu machen, vgl. van Dijk (19S7); Schnotz (1988).
132 verarbeitet werden. Die so entstehenden Strukturen höherer Ordung können relativ schnell und flexibel neu organisiert und transformiert werden (Arbinger 1984, 96).
Zwischen den Vertretern der Theorie der bildhaften und der propositionalen Repräsentation herrscht ein ausgiebiger und bislang nicht entschiedener Streit.4 Auch die Ergebnisse experimenteller Untersuchungen haben bislang zwischen den Auffassungen nicht entscheiden können; für beide gibt es eine ganze Reihe von stützenden Befunden5, so daß z.B. Anderson (1978) mittlerweile von der prinzipiellen empirischen Unentscheidbarkeit der kontroversen Konzeptionen ausgeht und andere Autoren (wie z.B. Hayes/Flower (1984), auf die wir später noch zurückkommen werden), in der Frage nach den elementaren Einheiten des Wissens und seiner Verarbeitung die Vorstellung einheitlicher Repräsentationsformen aufgegeben haben. Während die bisher dargestellten Ansätze sich als Versuche auffassen lassen, die elementaren Einheiten des Wissens und ihre grundlegenden Verknüpfungen untereinander zu modellieren, sind die folgenden Konzeptionen eher auf die Analyse globaler Organisationsformen des Wissen und ihrer verhaltensregulierenden Funktionen (etwa beim Wissenserwerb oder in der sozialen Interaktion) gerichtet. Bekannt geworden sind insbesondere die Frame-Theorie, die SchemaTheorie und die Script-Theorie. Trotz vieler Unterschiede im Detail liegt ihnen eine gemeinsame Idee zugrunde - der Gedanke nämlich, daß Wissen in mehr oder weniger stereotypisierten, größeren Strukturzusammenhängen repräsentiert wird, auf deren Basis neue Informationen interpretiert und integriert werden. Die Essenz der Frame-Theorie, die Minsky beschreibt, gilt insofern im großen und ganzen auch für die Schema- und Script-Theorie. Here is the essence of the frame theory: When one encounters a new situation (or makes a substantial change in one's view of a problem), one selects from memory a structure called a frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary. A frame is a data-structure for representing a stereotyped situation like being in a certain kind of living room or going to a child's birthday party. Attached to each frame are several kinds of information. Some of this information is about how to use the frame. Some is about what one can expect to happen next. Some is about what to do if these expectations are not confirmed. Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung in Arbinger (1984). Ein verständlicher und anrührender Beitrag zu diesem Problem sind die Bücher des Neurologen Oliver Sacks (z.B. 1990). Sacks stellt Fälle aus seiner neurologischen Praxis vor, die besser als jede theoretische Diskussion zeigen, was es bedeutet, "nur propositional" oder "nur bildlich" zu denken. Von engerem sprachwissenschaftlichem Interesse ist hier etwa die kleine Untersuchung von Brewer (1988). Biewer kommt zu dem Ergebnis, daß die Rezeption deskriptiver und narrativer Texte in höherem Maße von bildlichen Vorstellungen geprägt ist als die Rezeption expositorischer Texte. Auch dies zeigt, daß eine generelle Entscheidung zwischen propositionalen und bildhaften Repräsentationskonzepten wohl kaum möglich ist.
133 We can think of a frame as a network of nodes and relations. The "top levels" of a frame are fixed, and represent things that are always true about the supposed situation. The lower levels have many terminais - "slots" that must be filled by specific instances or data. Each terminal can specify conditions its assignments must meet. (The assignments themselves are usually smaller "sub-frames"). Simple conditions are specified by markers that might require a terminal assignment to be a person, an object of sufficient value, or a pointer to a sub-frame of a certain type. More complex conditions can specify relations among the things assigned to several terminals. Collections of related frames are linked together to frame-systems" (Minsky 1979, 1).
Schemaiefi unterscheiden sich von Frames im wesentlichen durch ihr geringeres Maß an Flexibiltät. Ein Schema repräsentiert, anders als ein Frame, stabile Ordnungen und Abläufe von Tatbeständen bzw. Ereignissen nach Prinzipien von Kausalität oder zeitlicher Linearität (vgl. Rumelhart/Ortony 1977). Scripts schließlich repräsentieren stereotypisiertes Wissen über häufige und routinisierte Handlungssequenzen mit den darin festgelegten Rollen und Erwartungen der Handlungsteilnehmer. A script is a structure that describes appropriate sequences of events in a particular context. A script is made up of slots and requirements about what can fill those slots. The structure is an interconnected whole, and what is in one slot affects what can be in another. Scripts handle stylized everyday situations. They are not subject to much change, nor do they provide the apparatus for handling totally novel situations. Thus, a script is a predetermined, stereotyped sequence of actions that defines a well-known situation (Schank/Abelson 1977, 41).
Berühmt geworden ist das "restaurant-script", mit dem Schank/Abelson das stereotypisierte Wissen darzustellen versuchen, das dem Handlungsverlauf eines Restaurantbesuchs zugrundeliegt.7 Wie schon erwähnt bilden Frames, Schemata und Scripts globalere Organisationsformen des im Langzeitgedächtnis gespeicherten Wissens. Weitgehend ungeklärt ist allerdings, ob es sich dabei um gleichsam statische und nur abzurufende kognitive Strukturen handelt oder vielmehr um Organisationsformen, die im Prozeß der Wissensverarbeitung situationsspezifisch gebildet und dynamisch verändert werden. Seit neuerem vertritt Kintsch (1982) diese eher prozeßorientierte Auffassung von der Struktur des Langzeitgedächtnisses (LTM). However, there may be disadvantages to conceiving of scripts and schemata as LTM structures; instead, one may think of them as being constructed when needed for some purpose in a particular context. This construction process makes use of information in LTM, of course, but the information is not itself tightly organized and is structured only ® Der Begriff des "Schemas" wird zumeist auf Bartlett (1932) zurückgeführt. Er ist wesentlich älter. Bereits Kant (1781/1787) spricht in der "Kritik der reinen Vernunft" vom Schematismus unseres Verstandes" (A 141/B 180). Herrmann (1985) macht zudem darauf aufmerksam, daß der Psychologe Otto Selz bereits in den 20er Jahren grundlegende Untersuchungen zur schematischen Struktur des Denkens vorgelegt hat, die weitgehend in Vergessenheit geraten sind. 7 Vgl. in ähnlicher Weise auch die Muster-Analyse eines Restaurantbesuchs von Ehlich/ Rehbein (1975) sowie die Kritik von Keseling (1979).
134 on demand for the purpose of the particular task. The relevant relations among units of information must be stored in LTM, but there are always multiple relations and hence many potential structures (Kintsch 1982, 166).
Das Langzeitgedächtnis ist in dieser Perspektive ein eher locker organisierter, multidimensionaler Wissensraum, in dem Relationen zwischen Informationen unterschiedlicher Dichte und Strukturiertheit im Prozeß der aufgabenorientierten Wissenverarbeitung flexibel gebildet werden. Allerdings nimmt Kintsch eine weitgehend propositionale Struktur dieses Wissensraumes an. We conceive of LTM as a huge prepositional network that is organized only in the sense that certain relationships exist among the propositional nodes (...), and in the sense that related propositions are somehow close to each other. A spatial metaphor is useful here. The memory network is like the universe. In a multi-dimensional space, there are galaxies of knowledge on this or that, with subclusters like star systems. There is a lot of local structure there, as well as some very specific relations within a knowledge cluster, but if observed from enough distance, all we have is a locally uniform space, dense in some regions, full of holes in others (Kintsch 1982, 166).
Weiter noch als Kintsch gehen Flower/Hayes (1984) in ihrer ebenfalls prozeßorientierten Konzeption der Wissensproduktion und -organisation, die sie am Beispiel der Wissensverarbeitung beim Schreiben entwickeln. Ihr Ausgangspunkt ist dabei nicht mehr eine allein propositionale Organisation des Wissens, sondern vielmehr die Annahme unterschiedlicher Möglichkeiten von Repräsentationsformen, die - in je aufgabenspezifischer Weise - in den verschiedenen Stadien des Produktionsprozesses generiert werden.8 Die prozeßsensitive Verschiedenartigkeit der im Verlauf der Textproduktion erzeugten internen und externen Wissensformen bildet den Kern der "multiple representation thesis"9, die Hayes/Flower vorgeschlagen haben. The esssence of this thesis is simple: As writers compose they create multiple internal and external representations of meaning (Flower/Hayes 1984, 122).
Zweierlei ist mit der These von der multiplen Organisation des Wissens impliziert. Zunächst beinhaltet sie, daß die im Schreibprozeß aktualisierten Wissensbestände sich hinsichtlich ihrer "Entfernung" von den Anforderungen sprachlicher Äußerungen unterscheiden. Im Schreibprozeß muß Wissen deshalb in durchaus unterschiedlichem Maße verarbeitet und in sprachliche Äußerungen Insbesondere für die Produktion schriftlicher Texte bietet sich dabei an, auch Zwischenprodukte des Schreibprozesses, wie etwa Stichworte oder Konzepte, als externe Repräsentationsformen aufzufassen, über die dann auch ein analytischer Zugriff auf den ProzeB der Wissensverarbeitung im Schreibprozeß möglich wird. Diese Möglichkeit wird von Flower/Hayes (1984) auch angedeutet, empirisch aber nicht realisiert. Die "multiple representation thesis" steht in vielen Punkten im Widerspruch zum allgemeinen Modell des Schreibens, das Hayes/Flower (1980) vorgeschlagen haben (vgl. Kap. 2). Ich gehe darauf nicht ein, weil an dieser Stelle die Entwicklung genereller Voistellungen der Wissensorganisation und -Verarbeitung im Mittelpunkt steht, nicht die Frage nach den spezifischen Formen der Wissen sprozedierung beim Schreiben.
135
transformiert werden. Bildhaftes Wissen ist demgemäß sprachferner und erfordert komplexere Transformationsprozeduren als etwas propositionales Wissen, das bereits semantisch strukturiert ist und lediglich lexikalisch und syntaktisch organisiert werden muß. In engem Zusammenhang mit der Unterschiedlichkeit der für den Textproduktionsprozeß konstitutiven Transformationsprozeduren steht, zum zweiten, auch die Tatsache, daß der Prozeß selbst nicht eindimensional verläuft, sondern die Möglichkeit der flexiblen Verarbeitung unterschiedlicher Wissensformen in all seinen Stadien zuläßt. So können etwa Textpläne als unmittelbare Vorstufen des Textes nicht nur aus propositionalen Repräsentationen bestehen, sie können vielmehr schematisches und bildhaftes Wissen, Fragmente sprachlicher Äußerungen oder auch Zielvorstellungen enthalten. Umgekehrt kann auch konzeptionelle Planung bereits mit Vorstellungen über Äußerungsformen, Wortbildern o.ä. beginnen. Die im Textproduktionsprozeß erzeugten Wissensrepräsentationen stehen insofern nicht in einer unilinearen Folgebeziehung, sie sind vielmehr zumeist multimodal strukturiert. We believe that the plan a writer uses to produce text is not like a Kintschian text base (...), consisting of information in a uniform propositional representation. Rather, it is a mixture of at least three general classes of information: (1)
Pointers of information that may be stored in many different forms, such as schémas, episodes, or images (e.g. "tell them about the first day of class last year", "explain the rules of rugby"). By a pointer we mean a name or cue that can be used to retrieve a body of related information from long-term memory.
(2)
Word images, perhaps in auditory form, of particular words or phrases to be included in the essay (e.g., "Pink Lady" and " graced").
(3)
Goals that include such things as objectives or influencing the audience and content free directions to the writer, such as "add an introduction" or " make a transition here (Flower/Hayes 1984, 143f.)
Diese Mixtur unterschiedlicher Wissenstypen mit ihren je verschiedenartigen Übersetzungsschwierigkeiten ist es, die Schreiben zu einem diskontinuierlichen und für den Schreiber oft unberechenbaren Prozeß macht. Weil der Schreibprozeß gerade nicht in einer uniformen Schritt-für-Schritt-Übersetzung konzeptueller Strukturen in Textäußerungen besteht, sondern in seinem Verlauf multiple interne (und z.T. auch externe) Wissensrepräsentationen mit z.T. bewußten, oft aber auch automatisiert unbewußten Verarbeitungsformen erzeugt werden, erfordert Schreiben nicht nur eine ganze Reihe von Fähigkeiten, sondern vor allem deren flexiblen und simultanen Einsatz. Dies betrifft bereits den Beginn des Schreibens, an dem Flower/Hayes die Problematik der Vorstellung eines uniformen Schreibprozesses verdeutlichen. A second popular image we must question is the step-by-step march of ideas into words (e.g., get your ideas perfectly clear first) or its more recent inverse, freewriting oneself from prose to thought. Not that either is impossible or wrong, but research and common
136 sense suggest that writers can do start anywhere - with a word, an idea, a vision, an intuition, or an argument (...). This is not to deny all temporal ordering; the end product is prose, after all, and there are important sequences within linguistic processes. But at the level of planning we see no convincing evidence for an incremental building-block theory or a predictable, expert path from one mode of representation to another. Human beings are flexible (Flower/Hayes 1984, 157).
6.2.2.
Prinzipien der Suche und der Organisation von Wissen
Die Darstellung verschiedener Theorien der Wissensrepräsentation hat deutlich gemacht, daß eine einschlägige und allgemein anerkannte Vorstellung über die Organisation des Gedächtnisses bislang nicht existiert. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint es deshalb am sinnvollsten, die Möglichkeit verschiedenartiger Repräsentationsformen zuzulassen, wie es die "multiple representation thesis" von Flower/Hayes nahelegt.10 Diese Konzeption hat zudem den Vorteil, daß sie repräsentationale und prozedurale Aspekte der Textproduktion aufeinander bezieht. Der Prozeß der Wissensverarbeitung vollzieht sich nicht unabhängig von der Form des jeweils repräsentierten Wissens. Vielmehr bestehen zwischen Wissensformen und den Formen ihrer Transformation im Textproduktionsprozeß vielfache Wechselbeziehungen, die sich nicht auf ein uniformes Prinzip reduzieren lassen. Kommen wir nun auf unsere eigentliche Fragestellung zurück: auf die Frage nach den Aktivitäten, die zur Erzeugung und Organisation von globalen Vorstellungen eines Textes als Voraussetzungen von Formulierungsprozessen erforderlich sind. Was tut ein Schreiber, wenn er auf der Grundlage eines vorhandenen Diskursplanes, d.h. einer groben Vorstellung der Ziele, die er mit einem Text erreichen will, seine Gesamtvorstellung von der inhaltlichen Struktur eines zu produzierenden Textes entwickelt? Im 3. Kapitel hatten wir einige Überlegungen entwickelt, denen zufolge Diskurspläne als globale Vorstellungen einer kommunikativen Gesamthandlung mindestens zwei weitere Subpläne erfordern, die a.) die zur Erreichung von Zielen notwendigen Handlungen, und b.) die Ergebnisse dieser Handlungen spezifizieren. Wir haben diese Subpläne Schreibhandlungspläne und Textpläne genannt. Ein Schreibhandlungsplan bildet eine auf der Basis eines Diskursplanes ausgeformte Vorstellung der für den Textproduktionsprozeß notwendigen mentalen/materiellen Handlungen; ein Textplan entsprechend die auf der Basis eines globalen Zieles spezifizierte Vorstellung der mentalen/materiellen Ergebnisse bzw. Teilziele solcher Handlungen. Basale Teilaktivitäten innerhalb von Schreibhandlungsplänen sind die Suche und die Organisation deijenigen Informationen, die die Makrostruktur eines intendierten Textes bilden sollen. Beide Aktivitäten werden wir im folgenden hinsichtlich ihrer allgemeinen, d.h. nicht auf die spezifischen Erfordernisse von In bezug auf das Problem der Wissensverarbeitung beim Textverstehen vertreten auch Rickheit/Strohner (1985) eine ähnliche Position.
137 Schreibprozessen bezogenen Eigenschaften skizzieren. Erst auf dieser Grundlage werden dann später auch die für Schreibprozesse spezifischen Ausformungen der Wissensaktualisierung und Wissensorganisation charakterisiert. Für die Suche und Selektion von Wissen fungieren die im Diskursplan repräsentierten allgemeinen Vorstellungen bezüglich der Ziele, des Themas oder des Adressaten als Suchanweisungen (retrieval-cues) (vgl. Kintsch 1982; van Dijk/Kintsch 1983; Levelt 1989). Der Suchprozeß selbst verläuft dabei derart, daß die Suchanweisung auf im Langzeitgedächtnis gespeicherte Informationen trifft, die untereinander in unterschiedlicher Stärke assoziiert sind. Die Aktivierung weiterer Informationen wird von der relativen Stärke ihrer assoziativen Koppelung (im Verhältnis zu alternativen Informationen) determiniert; ihre Selektion, d.h. ihre tatsächliche Auswahl für weitere Prozesse der Textverarbeitung, wird hingegen von der Stärke ihrer absoluten Bindung an die Suchanweisung bestimmt. Die Informationssuche vollzieht sich dabei zumeist in mehreren Zyklen, in denen aufgefundene Informationen in die Suchanweisung integriert und als deren Bestandteil verwendet werden. Der Suchprozeß hat deshalb eine dynamische Struktur: Er verändert sich in Abhängigkeit von der Form und der Struktur des jeweils aufgefundenen und selegierten Wissens. Qualität und Quantität der aufgefundenen und eventuell selegierten Informationen sind von zwei Faktoren abhängig: vom Grad der Spezifität der Suchanweisung (des Diskursplanes) und vom Grad der Dichte und Vernetzung der im Langzeitgedächtnis repräsentierten Informationen (vgl. Kintsch 1982; Caccamise 1987). Das Thema "Religion" ist z.B. eine "weite" Suchanweisung, das Thema "Wie putze ich mir richtig die Zähne" eine relativ "enge". Zu beiden Wissensbereichen werden zudem bei verschiedenen Personen Informationen in unterschiedlicher Dichte und Vernetzung vorliegen. Religionswissenschaftler werden vermutlich reichhaltigeres und strukturierteres Wissen zum Thema "Relgion" produzieren als Zahnarzthelferinnen oder Kinder; diese wiederum werden über Religion nur wenig und über Zähneputzen alles wissen und sich darin von Religionswissenschaftlern unterscheiden. Was "gefunden" wird, ist mithin nicht nur von der Struktur des vorhandenen Wissens abhängig, sondern ebenso von der Form des Diskursplanes, der der Informationssuche zugrundeliegt und auf dessen Basis "gesucht" wird. Das von Raaijmakers/Shiffrin (1981) vorgeschlagene Konzept der Informationssuche, dessen Grundzüge wir hier skizziert haben, gilt als das bislang ausgefeilteste und am weitesten formalisierte Modell der "Ideenproduktion". Es postuliert, daß der Suchprozeß selbst weitgehend automatisiert verläuft, d.h. vom Individuum nicht bewußt und strategisch eingesetzt und kontrolliert wird. Diese Konzeption trifft sicherlich einen wichtigen Aspekt der Produktion von "Ideen" (auch beim Schreiben) und steht in Übereinstimmung mit der alltäglichen Erfahrung, daß man oft nicht weiß, warum einem zu einem bestimmten Thema dieses oder jenes (oder auch nichts) einfällt, wie man darauf gekommen ist oder wie man von einer Idee zum nächsten kam. Andererseits scheint es aber durchaus auch möglich zu sein, bewußte Strategien im Suchprozeß einzusetzten. So berichten van Dijk/Kintsch (1983) davon, daß oft hierarchische Suchstrategien benutzt werden, mit denen Informationen nicht assoziativ, sondern inner-
138 halb spezifischer Rahmen gezielt und sukzessive aktualisiert werden. Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, verschiedene Autotypen aufzuzählen, benannten diese nicht etwa in zufalliger Reihenfolge, sondern als strukturierte Folge von Typen mit gemeinsamen Eigenschaften: zuerst also etwa alle Sportwagen, dann alle ausländischen Autos, dann alle Kombis usw. Der Einsatz derartiger Strategien steht sicherlich in engem Zusammenhang mit der vorgängigen Struktur des Wisssens: Je umfangreicher und vertrauter ein bestimmtes Wissensfeld ist, desto mehr Struktur besitzt es im Normalfall auch und desto flexibler läßt es sich für spezifische Zwecke strategisch (umstrukturieren. Dieses gilt vermutlich auch für jene Wissenselemente, die im Langzeitgedächtnis bereits als fest strukturierte vorliegen. Für das oben erwähnte Skriptwissen oder etwa auch für sprachliche Routineformeln ist nicht anzunehmen, daß ihre Elemente im Sinne einer assoziativen Verknüfung gesucht und selegiert werden. Sie liegen in einer je kulturspezifisch konventionalisierten Weise als Ganze vor und sichern eben deshalb die schnelle und problemlose Bereitstellung von Informationen. Zwar findet auch bzw. gerade hier der "Suchprozeß" automatisiert statt; diese Automatisierung vollzieht sich allerdings auf der Basis kulturell konventionalisierter Organisationsformen von Wissen und einer festen Verbindung von Suchanweisung und aufzufindender Information, die Suchprozesse vereinfacht bzw. überflüssig macht. Die Suche und die Organisation von Wissen sind deshalb z.T. sich überlagernde Prozesse, die nicht im Sinne eines strikten Nacheinander erfolgen müssen. Teilbereiche unseres Wissens liegen vielmehr in mehr oder weniger organisierter Form vor, so daß "Organisation" selbst das Prinzip ist, das Suchprozesse insofern steuert, als es sie vereinfacht bzw. überflüssig macht. Dies gilt natürlich nicht für alle Wissensbereiche. Unser Wissen über "Religion" oder "Börsenspekulation" unterscheidet sich vom Wissen über einen Restaurantbesuch (Skriptwissen) oder über Anrede- oder Grußformen (Routineformeln) darin, daß es (im Normalfall) unstrukturierter ist und insofern einer spezifischen Organisation bedarf, um sinnvoll produziert werden zu können. Gibt es für diesen eher unstrukturierten Bereich des Wissens allgemeine Prinzipien der Aktualisierung und Organisation? Einige Hinweise auf derartige Prinzipien liefern die Untersuchungen von Levelt (1989), der dieser Frage unter dem eingeschränkten Aspekt der Wissenslinearisierung nachgegangen ist. Empirische Grundlage waren dabei Experimente, in denen Versuchspersonen mehrdimensionale räumliche Netze mit verschiedenfarbigen Knoten zu beschreiben hatten. Levelt unterscheidet zunächst zwischen inhaltsbezogenen und prozeßbezogenen Bedingungen der Linearisierung.11 Inhaltsbezogene Bedingungen lassen sich davon ableiten, daß im Prozeß der Linearisierung dem "Prinzip der natürlichen Ordnung" gefolgt wird. Informationen werden demnach in der Weise nacheinander geordnet, wie es der Folge ihres natürlichen Auftretens entspricht. Beispiele für derartige "natürliche" Ordnungen sind etwa die chronologische Abfolge von Ereignissen in Erzählungen oder die lineare Abfolge von Orten innerhalb der Route einer Wegbeschreibung. 11
Vgl. auch die ähnliche Differenzierung von Linearisierungsverfahren in Hernnann (1985).
139
Prozeßbezogene Linearisierungsverfahren treten dort auf, wo eine natürliche Ordnung fehlt. Dies ist z.B. der Fall bei der Beschreibung dreidimensionaler Räume, wie sie in Levelts Experimenten vorlagen. Levelt konnte in seinen Untersuchungen einige grundlegende Prinzipien nachweisen, nach denen in diesen Fällen Informationen linearisiert werden. So beschrieben die Vpn etwa benachbarte Knoten stets nacheinander ("Prinzip der Konnektivität"), Knoten kürzerer Kanten wurden zumeist vor Knoten längerer Kanten beschrieben ("minimalload-principle"). Insgesamt führt Levelt diese (und andere) Prinzipien auf generelle Eigenschaften der Wahrnehmung und des Gedächtnisses zurück. Sie richten sich offenbar darauf, den Prozeß der Informationsorganisation möglichst einfach zu halten und damit die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses des Sprachproduzenten (und auch des potentiellen Adressaten) nicht zu überfordern. The major limiting factor is the speaker's bookkeeping ability. The speaker must keep track of what has been said and what is still to be expressed, and this requires special memory operations. Also, the speaker may show some concern for the memory limitations of the adressee, who will have to reconstruct an image of the multi-dimensional array from the successive bits of information" ( Levelt 1989, 140).
Wenngleich Levelts Untersuchungen lediglich einen Aspekt der Wissensorganisation - nämlich den der Linearisierung - betreffen, an relativ einfachen Aufgaben durchgeführt wurden und theoretisch und methodisch eher im Rahmen einer Theorie des mündlichen Sprachgebrauchs (des Sprechens) zu verankern sind, scheinen seine Ergebnisse doch allgemeine Prinzipien auch komplexerer Organisationsprozesse zu erfassen und für deren Erklärung unmittelbar plausbibel zu sein. "Natürliche Ordnungsstrukturen" wie kausale oder temporale Verknüpfungen bilden in vielen Ereignisbeschreibungen oder Erzählungen den Kern der textuellen Makrostruktur und sind offenbar aufgrund ihrer Natürlichkeit relativ problemlos zu produzieren (und zu rezipieren). Die gilt zumindest für einfache Formen wie etwa Volksmärchen oder Alltagserzählungen. "Nicht-natürliche" Ordnungsstrukturen erfordern hingegen wohl deshalb einen höheren Organisationsaufwand, weil sie den Einsatz spezifischer kognitiver Prinzipien verlangen, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem von ihnen organisierten Wissen stehen. Hier sind spezifische Entscheidungen nötig, mit denen Typen von Informationen auf Typen ihrer möglichen Ordnung bezogen werden müssen. Diese besondere Schwierigkeit wird vor allem in den Fällen deutlich, in denen komplexe Organisationsprobleme auftreten, in denen Wissen mithin multidimensional linearisiert werden muß. Jemand, der etwa einen wissenschaftlichen Aufsatz schreibt, wird seine Ergebnisse nicht oder nur z.T. in ihrer "natürlichen Ordnung" - etwa der chronologischen Folge ihres Auffindens - darstellen, sondern sie in einer Weise organisieren, die der internen Logik des Gegenstandes, einschlägigen Konventionen des Wissenschaftsbetriebes bzw. der Disziplin, generellen kognitiven Prinzipien der Produktion (und Rezeption) und anderen Erfordernissen angemessen ist. Er muß verschiedenartige Formen nicht nur der Linearisierung, sondern auch der inhaltlich-logischen und textmustergerechten Organisation seines Wissens einsetzen und dabei entscheiden, welches Wissen nach welchen Prinzipien linearisiert werden kann. Dies erfordert strate-
140 gische Entscheidungen, die gleichsam auf den von Levelt beschriebenen, generellen kognitiven Prinzipien der Wissensorganisation operieren. Van Dijk/ Kintsch (1983) beschreiben einige solcher möglichen Ordnungsstrategien in ihrem Zusammenhang mit Wissenstypen. Sie verstehen die von ihnen genannten Strategien dabei selbst als mögliche Realisierungen der von Levelt vorgeschlagenen generellen, natürlichen und prozeßbezogenen Linearisierungsprinzipien, die allerdings, abweichend von Levelt (1989), beide als "natürlich" bezeichnet werden, (vgl. die Punkte 5 u. 6 des Zitats, der nur verkürzt wiedergegeben ist). 1. In the description of processes, events, and actions, follow the natural order unless contextual, pragmatic, rhetorical, or cognitive constraints necessitate another order (...). Under the natural order we understand the ordering of propositions that is parallel to the temporal or conditional order of facts. 2. In the description of objects, persons, or states of affairs, follow an order which is from more general to particular, from higher to lower, from sets to elements, from wholes to parts, and so on. 3. In the description of whole facts, first specify some minimal description of discourse individuals and then the additional properties or relations of these individuals. (This is necessary for the appropriate reidentification of individuals.) 4. Follow the presuppositional structure of the discourse, that is, always first specify the facts (individuals and their properties or relations) presupposed by later facts described in the discourse. 5. It is possible that the ordering strategies 1-4 can all be expressed as manifestations of more abstract underlying strategies. If the macrostructure is represented as a semantic network with propositions as the nodes and relations among propositions as the connections, general linearization strategies might be formulated on the graph structure, as was done in Levelt (1982). ... 6. If deviations from the natural order, as specified in Strategies 1 and 2, are necessary, mark these explicitly, for example, by time, condition, or spatial expressions from which the hearer/reader can reconstruct the natural order (van Dijk/Kintsch 1983, 275f).
Derartige Abweichungen von natürlichen Ordnungsprinzipien sind häufig und für die Produktion komplexerer Kommunikationshandlungen, wie sie Texte darstellen, geradezu konstitutiv. Denn in vielen Fällen wird die Organisation von Wissen weder allein von der Struktur des Wissens determiniert noch von generellen kognitionsbedingten Kapazitäten der Verarbeitung, sondern auch von den in Diskursplänen jeweils spezifizierten pragmatischen und kontextuellen Bedingungen der Kommunikationssituation. Diese haben sogar oftmals - so z.B. im Fall didaktischer Texte - einen größeren Einfluß auf die Struktur der schließlich produzierten Texte als die bislang erwähnten inhaltlichen Gesichtspunkte. Zwei Faktoren spielen für derartige Reorganisationen eine Rolle: kognitive Faktoren wie etwa individuelle Perspektiven, Meinungen oder Bewertungen ("cognitive reordering"), und pragmatische Faktoren ("pragmatic reordering") wie Relevanzgesichtspunkte, Aspekte der Effektivität, der Ästhetik ("rhetorical
141 reordering") oder der Kooperaüvität ("interactional reordering") (vgl. van Dijk/Kintsch 1983, 276f). Einfluß auf die Organisation von Makro- und insbesondere Mikrostrukturen dürften darüber hinaus auch jene Entscheidungen von Textproduzenten haben, mit denen sie Hauptinformationen und Nebeninformationen differenzieren. Klein/v. Stutterheim (1987) sehen in solchen Sequenzen von Haupt- und Nebenstrukturen sogar eines der Hauptprinzipien der Textorganisation (vgl. auch v. Stutterheim 1992). Die zuletzt genannten (im weiten Sinne) pragmatischen Bedingungen der Textorganisation bilden nicht etwa lediglich "äußere" und "nachträgliche" Bedingungen des Textproduktionsprozesses, sondern sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Prozessen der Wissensaktualisierung und -organisation. Dies ergibt sich allein schon daraus, daß ein Teil unsers Wissens pragmatisch vororganisiert sein dürfte bzw. auch Diskurspläne unter primär pragmatischen Aspekten Formen der Wissenssuche und Organisation determinieren können. Auch Skripts, einfache Textmuster oder Routineformeln lassen sich als auf häufige pragmatische Anforderungen bezogene Wissenstrukturen auffassen, die insofern keiner Reorganisation bedürfen, als sie von vorneherein Wissenselemente und deren Verwendungskontexte aufeinander beziehen.
6.2.3.
Fokus und Hintergrund - Makroplanung und Formulierungsprozesse
Die Organisation von Wissen im Textproduktionsprozeß wurde bislang unter dem eingeschränkten Aspekt seiner Linearisierung diskutiert. Aktivitäten der Linearisierung sind sicherlich wichtige Elemente im Prozeß der Wissensorganisation, sie sind jedoch nicht die einzigen. Denn Textproduktion erfordert nicht nur eine Vorstellung davon, was aufeinander zu folgen hat und welche Prinzipien diese Abfolgen organisieren, sie erfordert darüber hinaus eine Organisation von Wissen im Hinblick auf seine Zugriffsmöglichkeiten. Das übergeordnete Ziel aller Aktivitäten der Schreibplanung besteht schließlich darin, Wissen in der Form von Textäußerungen zu formulieren. Insofern muß auch der Prozeß der Makroplanung darauf gerichtet sein, die Formulierbarkeit von Wissen zu organisieren. Die Frage, wie im Prozeß der Textproduktion Wissen derart organisiert wird, daß es schließlich verbalisiert werden kann, steht im Mittelpunkt der Sprachproduktionstheorie von Wallace Chafe. Chafes Konzeption der Textproduktion unterscheidet sich von den bislang dargestellten, eher allgemein-kognitionspychologischen Ansätzen darin, daß sie in einer primär sprachwissenschaftlichen Perspektive konstruiert ist. D.h.: Sie entwickelt aus zunächst linguistischen Beschreibungen konkreter Textproduktionsprozesse Annahmen über die diesen zugrundeliegenden mentalen Strukturen und deren Rolle im Prozeß der Textproduktion. Wir beschränken uns hier auf die Darstellung der Theorie von Chafe und betrachten sie als ein Beispiel einer allgemeinen Sprachproduktionstheorie. Abgesehen von der Tatsache, daß sie viele Gemeinsamkeiten mit anderen Produktionstheorien teilt (vgl. Kap. 2.1.), interessiert hier weniger der Gesamtpro-
142 zeß der Sprachproduktion als vielmehr die Frage nach dem Zusammenhang globaler Aktivitäten der Makroplanung mit den spezifischen Erfordernissen des Formulierungsprozesses. Ausgangspunkt der Konzeption Chafes sind zwei empirische Beobachtungen, die vornehmlich in Analysen mündlicher Erzählungen gewonnen wurden (vgl. z.B. Chafe 1979,1980a, 1980b, 1990): - Sprache wird im realen Sprechvorgang in kurzen, ca. 6 Wörter umfassenden und ca. 2 Sek. langen "Sprechphasen" (spurts) produziert. Diese Sprechphasen sind normalerweise durch kurze Pausen begrenzt und intonatorisch gebunden. Chafe bezeichnet sie deshalb auch als "Intonationseinheiten" (intonation-units). - Die Ergebnisse solcher Sprechtätigkeit, etwa Erzählungen, sind nie identisch. Wiederholtes Erzählen gleicher Ereignisse führt stets zu Veränderungen der syntaktischen, lexikalischen und auch semantischen Struktur des Erzählten. Chafe schließt aus diesen Beobachtungen, daß zwischen den Strukturen gesprochener Sprache und den ihnen zugrundeliegenden mentalen Strukturen fundamentale Unterschiede bestehen; daß mithin Konzepte, die eine semantische oder gar oberflächennahe Konstitution von Wissen postulieren, inadäquat sind (vgl. Chafe 1990). Wissen wird vielmehr für die jeweiligen Zwecke der Kommunikation ad hoc aktualisiert und stets aufs neue daraufhin strukturiert. In den zeitlichen Diskontinuitäten, Versprechern oder Korrekturen des Sprechvorganges hinterläßt dieser problematische Transformationsprozeß seine Spuren. Die Tatsache, daß Sprache in "spurts" produziert wird, deutet Chafe - in Einklang etwa mit Levelt, Kintsch u.a. - als Hinweis auf die prinzipielle Beschränktheit des menschlichen Kurzzeitgedächtnisses. Intonationseinheiten repräsentieren insofern kleinste mentale Einheiten. In ihnen manifestieren sich Sequenzen von "Ideen" (idea units) als fortlaufendendes aktuelles Bewußtsein.12 Radikaler noch als Miller (1956), der für die Anzahl der im Kurzzeitgedächtnis repräsentierten Einheiten die klassische Formel "seven plus or minus two" geprägt hat, postuliert Chafe das Prinzip der Singularität von Gedächtniseinheiten ("one recall at a time hypothesis", vgl. Chafe 1985b). We can, therefore, regard an intonation unit as a device for presenting exactly one newly activated idea, in a relevant context of already active or semi-active ideas (Chafe 1986a, 145).
Nun wird Sprache nicht als zufallige Folge einzelner Ideen bzw. Intonationseinheiten produziert. Trotz aller beobachtbaren Verzögerungen oder Fehler stehen einzelne Sprecheinheiten zumeist in einem sinnvollen grammatischen und inhaltlichen Zusammenhang. Wie ist dies möglich? Welche Prozesse erlauben es Sprechern, trotz ihrer beschränkten Gedächtniskapazität sinnvoll zusammenhängende Sätze oder gar Texte zu produzieren? 12 Bei etwa 3 Sekunden scheint generell die Grenze des aktuellen Bewußtseins zu liegen. Vgl. zu diesem Aspekt Poppet (1987).
143 Chafe erklärt dies damit, daß einzelne Sprecheinheiten jeweils Produkte von mentalen Prozessen sind, in denen Inhalte des Langzeitgedächtnisses zunächst portioniert werden (subchunking), bevor ihnen durch sprachliche Prozesse (im engeren Sinn) propositionale Rollen, lexikalische Kategorien oder syntaktische Strukturen zugewiesen werden (vgl. Chafe 1977b). Die einzelne Sprecheinheit ist damit nur der jeweils aktive und im aktuellen Bewußtsein präsente Teil globalerer Prozesse, mit denen Wissen inhaltlich und sprachlich organisiert wird und die als semi-aktiver Hintergrund die Produktion und den Zusammenhang einzelner "spurts" steuern. Solche semi-aktiven Einheiten sind dabei Einheiten durchaus verschiedenen Typs. Denn einzelne Sprecheinheiten sind inhaltlich Teile größerer Wissensbereiche, Elemente propositionaler Gefüge oder syntaktischer Muster, die jeweils auf ihre Weise steuerungswirksam werden. Chafe hat insbesondere auf die Funktion von Sätzen als Hintergrund (center of interest) für die Kombinatorik einzelner Intonationseinheiten hingewiesen (vgl. Chafe 1980a) und vor allem die Wirksamkeit von Prozessen der inhaltlichen Gliederung (subchunking) für den Äußerungsprozeß betont (vgl. z.B. Chafe 1990). Insbesondere diese Determination einzelner Bewußtseinsfocusse durch übergeordnete Informationseinheiten zeigt sich im realen Sprechvorgang in der Länge der Verzögerungen, die zwischen Äußerungseinheiten auftreten. Je größer die Differenz zwischen Merkmalen zweier Äußerungseinheiten, desto länger ist normalerweise auch die Zeit, die ein solcher Wechsel des Hintergrundfokus in Anspruch nimmt. Transitions between major chunks of knowledge thus show varying and stable degrees of difficulty, correlated with the number of features that change and with the amount of change in each feature. The most time-consuming transitions are at boundaries where there are major chunks in space, time, character configurations, and event structure. Lesser transitions are found where fewer features change, or where the changes in them are less profound. The fact that the degree of difficulty remains stable across time suggests that the factors responsible for such difficulty remain stable as well (Chafe 1990, 64f.).
Die Organisation von Gedächtnisgehalten in Form jeweils aktiver und fokussierter "spurts" und semi-aktiven, globaleren Hintergrundwissens ist ein Prozeß, der jeweils aktuell vorgenommen wird und der gerade auch deshalb kreative Aspekte hat. Zwar spielen für Aktivitäten des subchunking, der Propositionalisierung und der Kategorisierung stereotypisierte Muster (Schemata) eine Rolle (vgl. Chafe 1977a; 1977b); in welcher Weise Wissen allerdings gegliedert und verbalisiert wird, ist wesentlich von allgemeinen Beschränkungen des Langzeitgedächtnisses und der Relevanz des Wissens für das Individuum abhängig. Diese unterschiedliche Relevanz (salience) von Informationen determiniert, wie diese sich im Verlaufe der Zeit verändern bzw. für Kommunikationszwecke restrukturiert werden - welche Elemente etwa einer Erzählung vergessen, behalten oder modifiziert werden. . . . t h e more "salient" an idea unit is, the more likely it is to be verbalized. Salience, as we shall see, is a cover term for a variety of factors such as centrality to the story being verbalized, unexpectedness, and emotional impact (Chafe 1990, 60).
144 Die Kreativität des menschlichen Sprechens ist in dieser Perspektive gerade das Resultat beschränkter kognitiver Kapazitäten. Sie ist Folge der Notwendigkeit, Wissen unter den Bedingungen seiner zeitlichen Veränderung und eines beschränkten aktuellen Bewußtseins stets neu zu aktualisieren und im Hinblick auf seine Verbalisierbarkeit zu organisieren. 6.2.4.
Schreiben und die Erweiterung kognitiver Möglichkeiten
Die bisher dargestellten Konzepte der Wissenverarbeitung - der Repräsentation, Aktualisierung und Organisation von Wissen - sind im Rahmen unterschiedlicher Disziplinen und entsprechend unterschiedlicher theoretischer und methodischer Paradigmen entwickelt worden. Die meisten Konzeptionen entstammen der kognitiven Pychologie, wichtige Beiträge der Textverstehensforschung (van Dijk/Kintsch), einige auch der Theorie der Sprachproduktion (Levelt; Chafe). Nur selten wurden dabei allerdings die spezifischen Bedingungen schriftlicher Textproduktion berücksichtigt. Auch dort, wo Aspekte der konzeptuellen Planung explizit anhand von Schreibprozessen thematisiert wurden (Flower/Hayes; Kintsch), fällt es zumeist schwer, die Spezifik der für den Schreibprozeß konstitutiven Handlungsprozesse - im Gegensatz etwa zu generellen Eigenschaften von Sprachproduktion oder mündlichem Sprechen - dingfest zu machen (vgl. Ludwig 1983a). Dies mag daran liegen, daß die Analyse solcher Prozesse methodisch ausgesprochen schwierig ist. Die Diskussion um die Spezifik des Schreibens hat sich wohl auch deshalb weitgehend im Rahmen anderer Problemstellungen entwickelt: als kulturhistorische Debatte um Fragen von Oralität und Literalität, als entwicklungspsychologische Frage nach den besonderen kognitiven Anforderungen des Schriftsprachenerwerbs, unter textlinguistischen Aspekten in Versuchen der Beschreibung von spezifischen Oberflächenmerkmalen schriftlicher Texte und mündlicher Äußerungen. Wir haben anfangs bereits kurz auf diese Traditionslinien hingewiesen (vgl. Kap. 1), in deren Rahmen auch allgemeinere Fragen etwa nach der Autonomie oder Dependenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit diskutiert werden, die hier nur am Rande interessieren. Wir werden insofern nur auf einige Ergebnisse insbesondere der textlinguistischen Diskussion um die Differenz geschriebener und gesprochener Sprache zurückgreifen, um Spezifika der konzeptuellen Planung in schriftsprachlicher Textproduktion näher herauszuarbeiten. Im Vordergrund soll dabei nicht das Problem der besonderen Anforderungen des Schreibens stehen, sondern vielmehr die Frage nach den besonderen kognitiven Möglichkeiten, die sich aus der Tatsache ergeben, daß Texte schriftlich produziert werden. Eines der offensichtlichsten Merkmale des Schreibens, aus dem sich weitreichende Folgen für die beteiligten mentalen Aktivitäten der Planung ergeben, ist seine zeitliche Entlastung. Ludwig (1983a) weist darauf hin, das bereits Vuillaume im Jahre 1784 aus der Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes und der zeitlichen Dehnung des Schreibvorganges grundlegende Unterschiede des Denkens abgeleitet hat. Ich zitiere Ludwigs Zusammenfassung der Gedanken Vuillaumes:
145 Wenn sich das Denken beim Schreiben zugleich mit diesem Hitwickele, dann müsse es genau so flüchtig wie dieses sein. Der Sprechende könne sich einen Gedanken nur so lange vor Augen halt», wie er brauche, um ihn in Worte zu fassen. Also sei nicht nur das Sprechen, sondern auch das Denken, das an es gebunden ist, durch seine Flüchtigkeit gekennzeichnet. - Auch der schriftliche Ausdruck von Gedanken setze voraus, daB man sich einen Gedanken nur so lange vor Augen halten könne, wie der Schreibakt währt. Verglich» mit dem Sprechakt, wäre dieser aber viel länger, so daß für die Entwicklung eines Gedankens viel mehr Zeit zur Verfügung stehe. Das habe Konsequenzen für die Bildung von Gedanken. Die zur Verfügung stehende Zeit gebe dem Schreibenden die Möglichkeit, ein» Gedanken als ganzen und in seinen Teilen zu entfalten. Sie zwinge ihn aber gleichzeitig, den gedanklichen Zusammenhang für eine relativ lange Zeitspanne in seinem Gedächtnis zu behalten. Die zeitlichen Bedingungen, unter denen geschrieben wird, erforderten also auf der ein» Seite eine größere Leistung des Gedächtnisses, auf der anderen Seite ermöglichten sie eine gedankliche Explikation, die normalerweise beim Sprech» nicht erreicht werden kann (Ludwig 1983a, 58).
In der Tat klingen hier bereits Überlegungen an, die auch die derzeitige Diskussion um die Spezifik von Schreibprozessen prägen. So beschreibt z.B. Chafe (1985a) als wesentlichen Vorteil des Schreibens die Möglichkeit, aus dem Strom aktuellen Bewußtseins und Sprechens herauszutreten; den "flow of thought and the flow of consciousness" (Chafe 1979) zugunsten längerer retrospektiver oder prospektiver Orientierung gleichsam stillzustellen. Writing is in fact free of the constraints imposed by the limited temporal and informational capacity of focal consciousness; we have time to let our attention roam over a large amount of information and devote itself to a more deliberate organization of linguistic resources (Chafe 1985a, 107).
Die zeitliche Entlastung des Schreibens beruht nicht nur auf seiner motorischen Langsamkeit, sondern vor allem auf Merkmalen der Schreibsituation insgesamt. Wer schreibt, braucht nicht nur Zeit, er muß sie sich auch nehmen, indem er die spezifischen Merkmale von Schreibsituationen wie etwa einen geeigneten Raum, Ruhe, Arbeitsmaterialien usw. arrangiert (vgl. Ludwig 1983a). Schreiben ist deshalb nicht nur in einem technischen Sinne - als "gebrauchte Zeit" - langsamer als Sprechen. Es ist vielmehr das individuelle Zeitarrangement, das als "genommene Zeit" den Grad zeitlicher Entlastung bestimmt. Der zeitlichen Entlastung des Schreibprozesses korrespondiert die zeitliche Zerdehnung der mit Texten insgesamt etablierten Kommunikationssituation und damit die Unabhängigkeit von Schreibprozeß und Schreibprodukt. Anders als beim Sprechen ist der Schreibprozeß eine selbständige Aktivität, die insofern auch in ihrer Eigenständigkeit reflektiert und organisiert werden kann. Der Schreibprozeß ermöglicht damit z.B. die Isolierung und bewußte Organisation von Teilprozessen wie etwa die Suche oder die Strukturierung von Informationen; er erlaubt Präferenzen bezüglich ihrer zeitlichen Dauer, der Organisation ihrer Abfolgen oder ihrer Relationierung. Wer etwa einen Brief schreibt, kann auf seinen Inhalt oder seine Formulierungen viel oder wenig Mühe verwenden, er kann "einfach loslegen" oder lange planen, er kann Formuliertes überdenken, revidieren oder anderes und neues einplanen; er ist mithin relativ frei in der
146 Organisation der Aktivitäten, die insgesamt die Handlung "Brief schreiben" konstituieren. Dies heißt natürlich nicht, daß die verschiedenen Teilaktivitäten des Schreibens in jedem Fall derart frei und bewußt organisiert werden könnten. Denn oft werden vorhandene Freiheitsgrade weder genutzt noch bieten alle Textarten solche Möglichkeiten wie die des (persönlichen) Briefes. Generell läßt sich aber wohl festhalten, daß Schreibprozessen die prinzipielle Möglichkeit erhöhter Planbarkeit inhärent ist. Ochs (1979) sieht in den verschiedenen Graden von Planbarkeit denn auch einen der Hauptunterschiede zwischen Schreiben und Sprechen, der sich empirisch als Gegensatz geplanter Texte und ungeplanter spontaner Äußerungen manifestiert (planned and unplanned discourse). Discourses vary not only in the extent to which they are planned but also in the extent to which they are PLANNABLE. For example, truly spontaneous conversation is, by definition, relatively unplannable well in advance. Unlike other forms of discourse, in spontaneous conversation it is difficult to predict the form in which entire sequences will be expressed. The content may be even less predictable. Rather, what will be said, the form in which it will be said, and who will say it can be anticipated for limited sequences only (...). Furthermore, written discourse may be more plannable than spontaneous spoken discourse. In writing, the communicator has more time to think out what he is going to say and how it will be said. Additionallly, the writer can rewrite and reorganize the discourse a number of times before it is eventually communicated (Ochs, 1979, 58).
Das Auseinandertreten von Prozeß und Produkt etabliert nicht nur das Schreiben selbst als eigenständige und entsprechend "planbare" Aktivität, es verleiht zugleich auch seinen Produkten, den Texten, eine eigenständige, vom Produktionsprozeß abgelöste Realität.13 Im Schreibprozeß wird mentales Geschehen in anderer Weise vergegenständlicht" als durch das gesprochene Wort. Vergegenständlichung hat hier nicht nur den emphatischen Sinn, daß Schreiber ihre inneren Zustände "nach außen" bringen und sich darin selbst vergegenständlichen (Ludwig 1983a). Wichtiger noch erscheint ihre konkret-praktische Funktion: Die Ablösung des Geschriebenen von den Bedingungen seiner Produktion und seine materielle Existenz machen es neuen und prinzipiell anderen Formen der Wahrnehmung und der Reflexion zugänglich. Texte können vom Schreiber wieder rezipiert werden, ihre einzelnen Segmente können im Zusammenhang betrachtet, als einzelne fokussiert oder - oft auch materiell (Zerschneiden, Kleben) - manipuliert werden. Texte bekommen damit den Charakter von Objekten, die im Schreibprozeß vergegenständlicht und angeeignet werden. Die Relevanz dieser Dialektik von Vergegenständlichung und Aneignung ist im Rahmen Dies heißt nicht, daß Texte - im Sinne von Olson (1977) - autonom sind. Ihre Ablösung vom Prozeß ihrer Produktion ist gerade die Voraussetzung für die besonderen Formen ihrer sozialen Einbettung und Funktion. Insofern haben auch Texte "interaktive Funktionen" oder "Kontexte", die sich allerdings von denen unmittelbar mündlicher Kommunikation unterscheiden. Für Texte ist zwischen dem "Kontext der Produktion" und dem "Kontext des Gebrauchs/der Rezeption" zu unterscheiden (vgl. hierzu ausführlicher Nystrand 1986, 1987; Street 1988).
147 der sowjetischen Psychologie vor allem im Zusammenhang der Wissenstradierung und des Wissenserwerbs betont worden (vgl. Leontjew 1973; Geier/Hasse/ Jaritz/Keseling/Kroeger/Schmitz 1974). Sie gilt jedoch in besonderem Maße für das Schreiben. Insofern ist Molitor zuzustimmen, wenn sie die Reflexivität des Schreibprozesses, d.h. die dynamische Verschachtelung von Planungs-, Produktions-, Lese- und Evaluationsprozessen (Molitor 1984), zum zentralen Element ihrer Überlegungen zu den erkenntnisbildenden (epistemisch-heuristischen) Aspekten des Schreibens macht. Durch die mit dem Schreiben gegebene Möglichkeit vergegenständlichender Produktion und aneignender Rezeption erhöhen sich auch die Möglichkeiten, Wissen zu erweitern, zu entwickeln und neues Wissen zu entdecken. Aus der Reflexivität des Schreibprozesses ergeben sich Konsequenzen, die die interne Organisation des Wissens, seinen Status und das Verhältnis des Schreibers zu seinem Adressaten betreffen. Zahlreiche Untersuchungen der Unterschiede gesprochener und geschriebener Sprache zeigen (z.B. Chafe 1985a; Chafe/Danielewicz 1987; Halliday 1987; Biber 1988), daß schriftliche Texte sich durch die Verwendung partiell anderer sprachlicher Mittel auf lexikalischer, morphologisch-syntaktischer und pragmatischer Ebene auszeichnen. So sind in Texten Nominalisierungen, Partizipien und vollständige, oft koordinierte Sätze oder Satzgefüge häufiger; der Gebrauch verschiedener Tempora oder Modi ist insgesamt variantenreicher als in spontan mündlichen Äußerungen (vgl. die Übersicht in Müller 1990, 252). Der höhere Grad an Integration der geschriebenen Sprache, wie Chafe (1982) diese Merkmale zusammenfassend nennt14, resultiert aus den veränderten kognitiven Möglichkeiten, die sich aus der zeitlichen Entlastung und der Trennung von Prozeß und Produkt im Schreibprozeß ergeben. Schreiber können - und zum Teil müssen sie es geradezu - aufgrund dieser Bedingungen Elemente ihres Wissens vermehrt intern organisieren, indem sie etwa Relationen zwischen Wissenssegmenten herstellen oder ihr Wissen unter inhaltslogischen oder pragmatischen Gesichtspunkten evaluieren und strukturieren. Dem höheren Grad der Integration als Merkmal der Textoberfläche entspricht damit ein erweitertes Repertoire kognitiver Möglichkeiten der Integration von Wissen. In engem Zusammenhang mit der durch den Schreibprozeß möglichen Objektivierung von Wissen steht die Tatsache, daß Textäußerungen und die ihnen inhärenten inhaltlichen oder pragmatischen Konsequenzen unabhängig von konkreten Situationen ihrer (interaktiven) Verwendung reflektiert werden könDeskriptiv sind diese Unterschiede zwischen 'gesprochenen* und "geschriebenen" Äußerungen offensichtlich - Zumindestens dann, wenn man nicht von extremen Formen des schriftorientierten Sprechens (Vortrag) bzw. des sprechorientierten Schreibens (manche Comics oder bemüht jugendsprachlich verfaßte Aufklärungschriften des Ministeriums für Jugend und Familie vom Typ "Die Fluppe is' mir schnuppe") ausgeht. Eine andere Frage ist natürlich, ob diese deskriptiven Unterschiede auch funktionale oder qualitative Differenzen implizieren. Dieses Problem wird vor allem im Rahmen der Debatte um "Oralität" und "Literarität" diskutiert (vgl. z.B. die Beiträge in Tannen (ed.) 1982, 1984; Säljö (ed.) 1988). Zur methodischen Kritik an Untersuchungen gesprochener und "geschriebener Sprache" und dabei auftretenden Verwechselungen von sprachlichen Prozessen und Produkten sprachlicher Tätigkeiten vgl. O'Connell/Kowal (1993).
148 nen. Diese Loslösung von Textäußerungen - Chafe (1982) spricht von "detachement" im Gegensatz zum "involvement" in unmittelbar mündlicher Kommunikation15 - bildet für Schreiber die Grundlage kontextentlasteter Reflexivität. Gemeint ist damit, daß Wissen nicht nur unter dem Aspekt seiner je situativen Funktionalität und Angemessenheit thematisch werden kann, sondern vermehrt hinsichtlich "kontextfreier" Eigenschaften wie Evidenz, Wahrheit oder logischer Kohärenz. Wissen erscheint im Schreibprozeß damit in partiell anderer Perspektivierung als in unmittelbar mündlicher Konversation16, die lediglich auf der - meist nicht problematisierten - Unterstellung geteilten Wissens beruht. Dies heißt nicht, daß nicht auch Schreiber auf die Annahme geteilten Wissens angewiesen wären. Im Gegensatz zu den meisten Formen der alltäglichen Konversation fördern (und erlauben) die Bedingungen des Schreibens jedoch die Problematisierung und Überprüfung solcher Annahmen. Der zeitlichen Distanz des Textproduktionsprozesses von Prozessen der Rezeption entspricht so die kognitive Distanzierung des Schreibers von seinem Text und den Kontexten seiner Verwendung. Und Distanz ist die Bedingung eines erweiterten Blickes, d.h. der Kritik, der Überprüfung und auch der Kreativität. Relativieren wir abschließend die bislang genannten Möglichkeiten des Schreibens. Denn natürlich werden diese Möglichkeiten in unterschiedlicher Weise genutzt und sind nicht für alle Schreibprozesse in gleicher Weise gegeben. Sie stehen deshalb auch weder in dichotomischem Gegensatz zu Möglichkeiten, die auch Gespräche bieten können, noch sind sie ohne weiteres als komplexer oder höherwertiger zu bestimmen. Schreiben vollzieht sich in anderen pragmatischen Kontexten und erfüllt andere Funktionen als Sprechen. Nur aus der Analyse seiner je konkreten pragmatischen Funktionen läßt sich insofern bestimmen, welche (kognitiven) Potentiale Schreiben enthält und wie sie genutzt werden. Denn aus anderer Perspektive stellen die erwähnten Möglichkeiten des Schreibens sich dem Schreiber als besondere Anforderungen. Zahlreiche Untersuchungen der Entwicklung von Schreibfähigkeiten oder der Unterschiede zwischen erfahrenen und unerfahrenen Schreibern zeigen, daß solchen Anforderungen oft nicht entsprochen werden kann. Die Fähigkeit etwa zur Distanzierung von selbstverfaßten Texten bzw. Verwendungskontexten wird von Kindern relativ spät erworben (vgl. Scardamalia/Bereiter 1983). Ein wesentlicher Unterschied zwischen Schreibnovizen und -experten besteht darin, daß Experten die Zeitentlastung des Schreibens effektiver nutzen, indem sie z.B. pragmatische 15
In der "Ablösung" des Schriftlichen vom Kontext seiner Entstehung sieht bereits Gadamer (1972) den zentralen Ansatzpunkt hermeneutischen Textverstehens. "In Wahrheit ist die Schriftlichkeit für das hermeneutische Phänomen insofern zentral, als sich in der Schrift die Ablösung von dem Schreiber oder Verfasser ebenso wie die von der bestimmten Adresse eines Empfängers oder Lesers zu einem eigenen Dasein gebracht hat. Was schriftlich fixiert ist, hat sich sozusagen vor aller Augen in die Sphäre des Sinnes erhoben, an der ein jeder gleichen Anteil hat, der zu lesen versteht" (Gadamer, 1972, 369f.) Zum Problem der unterschiedlichen Evidenz von Wissen und ihrer unterschiedlichen Markierungen in Konversation und Texten vgl. Chafe (1985a) sowie die Beiträge in Chafe/Nichols (1986); zur quantitativen Verteilung solcher Markierungen in verschiedenen Text- und Gesprächsarten vgl. Biber/Finegan (1989).
149 und inhaltliche Anforderungen der Schreibaufgabe länger reflektieren und differenziertere Planstrukuren entwickeln (vgl. Carey/Flower/Hayes/Schriver/Haas 1989). Diese Beispiele mögen verdeutlichen, daß Möglichkeiten des Schreibens auch immer Anforderungen sind, denen nur auf der Grundlage entsprechender Fähigkeiten entsprochen werden kann. Schreiben setzt diese Fähigkeiten jedoch nicht nur voraus, es ist zugleich das Mittel, diese Fähigkeiten zu erwerben, zu entwickeln und auszuformen. Schreiben erweitert und akzentuiert insofern die Möglichkeiten, die sich aus den generellen Strukturen von Sprache und ihrer Verwendung ergeben: die Ablösung des menschlichen Bewußtseins von der Unmittelbarkeit der Verhältnisse.
6.3. Makroplanung beim Verfassen verschiedener Textarten Wissen - dies mag der knappe Überblick über einige wissens- und sprachpsychologische Ansätze gezeigt haben - hat in vielfältiger Weise mit sprachlichem Handeln (und insofern auch mit Schreiben) zu tun. Jedes Schreiben ist auf die Aktualisierung und Organisation von Wissen angewiesen, Schreiben ist aber zugleich auch eine Form, in der es unter spezifischen Bedingungen zugänglich wird, die bestimmte Anforderungen an die Wissensorganisation stellt und die z.T. selbst an seiner Entwicklung und Veränderung mitwirkt. Die hier vorgestellten Konzeptionen und Überlegungen blieben allerdings heterogen und recht abstrakt: sie richten sich mehr auf die Rekonstruktion allgemeiner Prinzipien der Wissensrepräsentation und -prozedierung (bzw. auch der Sprachproduktion (Chafe)) als auf die Modellierung der spezifischen Möglichkeiten und Anforderungen textproduktiver Prozesse. Wir wollen sie deshalb auch nicht als theoretische Basis eines empirischen Zugangs zu Prozessen der Makroplanung von Texten betrachten, sondern sie im Sinne von globalen und durchaus disparaten "Suchanweisungen" verwenden. Ausgangspunkt soll dabei jener Aspekt textproduktiven Handelns sein, in dem sich die Spezifik des Zusammenhanges von Wissen und Schreiben gleichsam bündelt: die Tatsache nämlich, daß Schreiben in besonderer Weise eine prospektive und vom Druck unmittelbaren sozialen Handelns entlastete Strukturierung von Wissen ermöglicht und erfordert, daß es - mit anderen Worten - geplant werden kann.
6.3.1.
Exothetisierte Planung: Zusammenfassungen
Planung läßt sich allgemein als eine Form der Lösung komplexer Handlungsprobleme durch Vorausstrukturierung auffassen (Keseling/Wrobel/Rau 1987). Planen ist dabei eine weitgehend mentale Aktivität, die sich dem unmittelbaren analytischen Zugriff entzieht. Zwar werden oft Teile komplexer Planungsprozesse in Form schriftlicher oder anderer Repräsentationen exothetisiert; auch lassen Zwischenprodukte des Planens oft auf zugrundeliegende Planstrukturen schließen. Die eigentlichen mentalen Operationen vollziehen sich jedoch "im
150 ΚορΓ der Handelnden und sind insofern der unmittelbaren empirischen Beobachtung nicht zugänglich. Ausgangspunkt der bisherigen theoretischen Ausführungen zu Problemen der Makroplanung beim Schreiben war die These, daß der Formulierungsprozeß gewisse globale Vorstellungen bezüglich des Textinhaltes und seiner Organisation zur Voraussetzung hat. Unmittelbar plausibel ist dies vor allem für das Schreiben umfangreicher und komplexer Texte, bei denen solche Voraussetzungen sich meist in Aktivitäten manifestieren, die dem Formulierungsprozeß auch zeitlich vorgelagert sind. Diese Aktivitäten sind Bestandteil des Schreibprozesses, sie gehören jedoch nicht dem eigentlichen Formulierungsprozeß an, obwohl auch in ihrem Verlauf Textäußerungen erzeugt werden. Die hier beschriebenen Merkmale komplexer Schreibaktivitäten treffen in dem dieser Untersuchung zugrundeliegenden Textkorpus auf die Textart "Zusammenfassung" zu, nur in Ausnahmefällen auch für Geschäfts- oder persönliche Briefe. Insofern scheint es angebracht, Vorstellungen über Formen der Makroplanung zunächst anhand relativ komplexer Schreibprozesse mit den für sie charakteristischen formulierungsvorbereitenden Aktivitätsformen zu entwickeln.17
6.3.1.1. Zur Funktion von "Zusammenfassungen" Daß gerade das Schreiben von Zusammenfassungen eine komplexe Schreibaufgabe darstellt, bedarf einer besonderen Erklärung. Denn auf den ersten Blick handelt es sich doch "lediglich" um eine Form der Textreproduktion, die keine besonderen "schöpferischen" Anforderungen an den Schreiber stellt. In einem engen Sinne bezeichnet der Begriff "Zusammenfassung" (engl, "summary") eine standardisierte Textart, die aus vollständigen Sätzen ohne Modus- und Tempuswechsel besteht und als kurzes, entweder voran- oder nachgestelltes Textelement bzw. auch als eigenständige Textform die wichtigsten Inhalte eines jeweiligen Bezugstextes enthält. In einem weiteren Sinne werden unter "Zusammenfassungen/summaries/abstracts" u.ä. jene Texte bezeichnet, die - ohne die o.g. formalen Beschränkungen - Informationen eines jeweiligen Bezugstextes in reduzierter Form repräsentieren. Zusammenfassungen und die ihnen verwandten Textarten - Kretzenbacher (1990) faßt sie unter dem Begriff "rekapitulierende Texte" zusammen - gehören damit zu jenen Textarten, die andere Texte voraussetzen und denen insofern das oftmals mit Schreiben assoziierte Moment des genuin Schöpferischen fehlt. Dies erklärt die allgemeine Geringschätzung derartiger Textformen und wohl auch die Tatsache, daß ihnen von Seiten der Textwissenschaften nur relativ wenig Interesse entgegengebracht worden ist. 18
Eine detaillierte Analyse des Gesamtproduktionsprozesses von "Zusammenfassungen" findet sich in Keseling (1993). Ausnahmen im engeren Bereich der Sprachwissenschaft sind z.B. Ehlich (1981), der die Textart "Exzerpt" näher analysiert, oder Wiegand (1983) für die Textart "Rezension". Vor allem zu quantitativen Aspekten "rekapitulierender" Texte vgl. Kretzenbacher (1990); zur
151 Diese Geringschätzung der Textart "Zusammenfassung" steht im Gegensatz zur Bedeutung der Funktionen, die durch derartige Texte ausgefüllt werden. Denn Zusammenfassungen bilden ein wichtiges Mittel der Speicherung und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens; ihre Ausdifferenzierung zu einer eigenständigen Textform läßt sich geradezu als Reaktion auf die Notwendigkeit auffassen, komplexe und differenzierte Wissensbestände für den Einzelnen überschaubar und verfügbar zu machen. Zusammenfassungen sind nicht nur insofern wichtige (Hilfs-) Mittel zur Wissentradierung, -Selektion und -strukturierung, als sie Rezeptionsprozesse ökonomisieren oder gerichtete Suchprozesse ermöglichen, sie sind zum anderen auch zentral als Bestandteil individueller oder kollektiver Wissensaneignung, -prüfung und -kritik. So basieren viele Formen des Lernens auf Zusammenfassungen (z.B. durch "Inhaltsangaben"), auch komplexere Formen wie etwa "Rezensionen" setzen eine reduzierte Darstellung des jeweils rezensierten Textes voraus. Die Aktivität des Zusammenfassens besteht dabei aus mehr als einer lediglich formal-quantitativen Reduktion eines vorausgesetzten Primärtextes; sie ist nicht als mechanische etwa im Sinne des Streichens jedes n-ten Wortes oder jedes n-ten Satzes möglich (vgl. Ehlich 1981). Zusammenfassen ist vielmehr eine Leistung, die komplexe kognitive Aktivitäten und Fähigkeiten des jeweils Handelnden voraussetzt. So etwa die Fähigkeit, die in einem Primärtext repräsentierten Informationen zu verstehen, seine Argumentationsstrukturen nachzuvollziehen, die Relevanz von Wissenselementen zu bewerten oder auch, sie in anderen textuellen Zusammenhängen zu reproduzieren. Das Schreiben von Zusammenfassungen ist insofern ein komplexer Zusammenhang von Rezeptions- und Produktionsleistungen und in dieser Hinsicht vielleicht sogar komplexer als manche Formen des nur "entäußernden" Schreibens.
6.3.1.2.
Produktionsphasen
Die Produktion von Zusammenfassungen setzt die Rezeption eines Primärtextes voraus. Rezeption des Primärtextes und Produktion des Zieltextes sind somit für den Prozeß des Zusammenfassens konstitutive Teilhandlungen. Allerdings ist die Vorstellung einer einfachen Aufeinanderfolge beider Teilaktivitäten aus mehreren Gründen verkürzt. Denn zunächst ist Lesen ein konstruktiver Prozeß, der selbst produktive Elemente enthält.19 Zweitens berücksichtigt die isolierte Betrachtung von Rezeption einerseits und Produktion andererseits nicht die spezifischen Zwecke und Funktionen, für die Rezeptionsaktivitäten eingesetzt werden. Rezeption hat hier nicht (bzw. nicht nur) das Verstehen eines Textes zum Ziel, sondern dient dem übergeordneten Zweck, den rezipierten Text schriftlich
Modellierung des Zusammenfassens unter dem Aspekt der (computativen) Implementierung Endres-Niggemeyer (1989) und Endres-Niggemeyer/Schott (1992). Zur Theorie des Lesens vgl. allgemein Aust (1983); zum Schreiben aus der Sicht des Lesers Bock (1988). Zur Theorie der Rezeption ästhetischer Werke und ihrer Wirkungen vgl. nach wie vor Iser (1976).
152 zusammenzufassen; es ist somit ein Lesen, um zu schreiben.20 Bracewell/Frederiksen/Frederiksen (1982) bezeichnen solche Formen des textbasierten Schreibens denn auch als hybride Schreibaufgaben, die Merkmale produktiver und rezeptiver Sprachprozesse enthalten. "The task environment... reveals how discourse production and discourse comprehension are related. They are not opposi tes, but rather are processes that may both occur in a task environment. The extent to which a task is regarded as a production or comprehension task depends on the specific constraints that are operating and affecting the comprehension and production processes of the language user. Thus discourse tasks constitute a family... Between the extremes of the dimensions, where information constraints are at an intermediate level, lies a range of tasks which we label as hybrid tasks. The tasks have characteristics of both discourse production and comprehension (Bracewell/Frederiksen/ Frederiksen 1982, 155).
Für das Schreiben von Zusammenfassungen ist anzunehmen, daß der übergeordnete Zweck des Rezeptionsprozesses diesen selbst bzw. die in ihn involvierten Aktivitäten des Textverstehens affiziert. Textverstehen bleibt zwar einerseits eine zentrale Komponente des Rezeptionsprozesses, wir werden jedoch später sehen, daß andererseits auch Strategien existieren, die Verstehensleistungen als Voraussetzungen des Zusammenfassens ersetzen und deren Funktionen kompensieren können. Offensichtlich ist drittens, daß sowohl in den Rezeptionsprozeß minimale Formen des Schreibens als auch in den Produktionsprozeß Formen der Textrezeption eingelagert sind. Diese komplexe Verschachtelung von Rezeptions- und Produktionsprozessen zeigt sich bereits darin, daß alle untersuchten Versuchspersonen während des Leseprozesses Unterstreichungen im Primärtext vornehmen und/oder Randnotizen anfertigen. Zur Unterscheidung von den im weiteren Verlauf der Produktion auftretenden Rezeptionsprozessen bezeichnen wir diese erste Gesamtrezeption des Primärtextes als "primäres Lesen". Etwa ein Drittel der Schreibenden führt darüber hinaus umfangreichere Vorarbeiten durch, indem sie etwa Stichworte notieren oder Konzepte bzw. Rohfassungen schreiben. Auch dabei finden Rezeptionsprozesse statt, die wir als "sekundäres Lesen" bezeichnen wollen. Betrachten wir diese Vorarbeiten zunächst im Zusammenhang, bevor wir im einzelnen darauf eingehen. - Vp 10 schreibt zunächst Stichworte zum 1. Kapitel des Primärtextes; - sodann werden die Kapitelüberschriften des Primärtextes abgeschrieben, wobei einzelne Überschriften modifiziert bzw. auch Gliederungspunkte zusammengefaßt werden; - dann folgt die Reinschrift. - Vp 11 schreibt zunächst die Gliederung des Primärtextes ab; Textproduktive Formen und Funktionen des Lesens sind unter dem Sammelbegriff "reading to write" seit neuerem auch Gegenstand der Schreibforschung. Vgl. hierzu Spivey/King (1988); Spivey (1990) und Flower/Stein/Ackerman/Kantz/McCormick/Peck (1990); zur theoretischen Begründung einer integrativen Betrachtung von Lese- und Schreibprozessen Kucer (1985).
153 - sodann werden unter den einzelnen Kapitelüberschriften Stichworte zu den jeweiligen Kapiteln notiert; - dann erfolgt die Reinschrift. - Vp 12 schreibt zuerst die Primärtextgliederung ab; - es werden dann Stichworte unter die Kapitelüberschriften notiert und z.T. auch syntaktisch vollständige Sätze formuliert (dies wird jedoch nach Kap 4. abgebrochen); - dann folgt die Reinschrift. - Vp 13 schreibt die Kapitelüberschriften des Primärtextes in meist leicht modifizierter Form ab und notiert zugleich Stichworte; - sodann verfaßt sie ein - von ihr später so genanntes - "Konzept", in dem kurz Ziel, Gegenstand und Hauptergebnisse des Primärtextes benannt werden; - anschließend beginnt die Vp mit der Reinschrift, in der Formulierungen des "Konzeptes" z.T. übernommen, z.T. auch erweitert und ergänzt werden. - VP 14 schreibt zunächst Stichworte zum 1. Kaptiel des Primärtextes und die Kapitelüberschriften der folgenden Kapitel; - sodann werden unter den einzelnen Uberschriften die wichtigsten Aussagen des Primärtextes in Form ausformulierter Sätze, die viele Abkürzungen enthalten, notiert. Die hier im einzelnen beschrieben Aktivitäten lassen sich vier Phasen zuordnen, die im im Verlauf der Produktion von Zusammenfassungen auftreten: -
Rezeption des Primärtextes ( + Unterstreichungen und Randnotizen); (Rezeption) + Gliederung (ab)schreiben;21 (Rezeption) + Stichworte notieren; Formulieren des Zieltextes ( + Rezeption).
Diese basalen Produktionsphasen mit ihren je charakteristischen Aktivitäten treten bei den untersuchten Vpn in durchaus verschiedenartigen zeitlichen Folgen und Kombinationen auf. Zwar steht generell die Phase des primären Lesens (+ Unterstreichungen/Randnotizen) am Anfang des Schreibprozesses, die Aktivitäten des Gliedems oder des Notierens von Stichworten werden jedoch von einigen Vpn kombiniert oder zeitlich umgekehrt (vgl. z.B. Vp 13 und 14). Wesentlich ist jedoch, daß die Gesamthandlung der Produktion von Zusammenfassungen aus verschiedenen Phasen mit komplex verschachtelten Rezeptions- und Produktionsaktivitäten besteht. Abbildung 6.1. veranschaulicht den idealtypischen Ablauf dieser Handlungsstadien.
Die Tatsache, daß viele der Vpn die Überschriften des Primärtextes abschreiben, verweist auf ihre zentrale Funktion für das Textverstehen. Hellwig (1984) betrachtet Überschriften bzw. Titel deshalb als gleichsam kondensierte Makrostrukturen (im Sinne van Dijks) von Texten; auch Bock (1978) zeigt einleuchtend, wie Überschriften den Prozeß der Textverarbeitung steuern.
154 Mentale/aktionale Handlungen
Primärtext
Produkte
Rezeption Produktion
4 Unterstr. /Randnot.
Rezeption Unterst./ Randnotizen/ Primärtext Produktion
ΙΠ.
Gliederung
Rezeption Unterstr./ Randnotizen/ Gliederung/ Primärtext Produktion Stichwörter
IV.
Rezeption Unterstr./ Randnotizen/ Gliederung/ Stichw./ Primärtext Produktion
Abb. 6.1.:
Formulierungen Zieltext
Produktionsphasen bei der Produktion von Zusammenfassungen
Deutlich wird, in welchem Ausmaß der Formulierungsprozeß durch vorgängige Aktivitäten vorstrukturiert ist. Diese Aktivitäten lassen sich insgesamt als Realisationen eines Schreibhandlungsplanes auffassen, der jene Handlungsschritte spezifiziert, die zur Bewältigung einer bestimmten Schreibaufgabe notwendig sind. Die Entscheidung für einen bestimmten Schreibhandlungsplan ist dabei weniger abhängig von konkret inhaltlichen Aspekten der Schreibaufgabe als vielmehr von den durch sie etablierten generellen kognitiven Anforderungen. Dies zeigt sich in den Begründungen, die die Schreiber für das von ihnen ge-
155 wählte Vorgehen angeben: Arbeitsökonomie, kognitive Entlastung und die erkenntnisbildenen Funktionen spezifischer Handlungsschritte werden hier am häufigsten genannt. Die Schreiber formulieren dies folgendermaßen: 'Mir schwirrte nach dem Lesen ziemlich viel im Kopf herum, und dadurch, daß ich die Kapitelüberschriften abschrieb, konnte ich alles mehr im Kopf fixieren ".(Vp 11/55) "Erst beim Lesen der Gliederung kam mir der Zusammenhang, der Uberblick über den Text".(Vp 11/109) "Gut lief es, als ich mit dem Lesen fertig war und ich mir einen Zettel zur Hand nehmen durfte, um dort die Überschriften abzuschreiben, um mir einen Überblick zu verschaffen". (Vp 14/11) "Ich habe zunächst die Einleitung in Stichwörtern zusammengefaBt und dann die Überschriften abgeschrieben, um sie auf einem Blatt zu haben und nicht immer blättern zu müssen. Und dann bin ich durchgegangen und habe eigentlich dieselbe Gliederung auch übernommen". (Vp 14/85) "Ich habe mir die einzelnen Abschnitte nochmal durchgelesen und Stichworte bzw. Sätze geschrieben. Ich habe zunächst versucht zu verstehen und Hann zusammenzufassen". (Vp 14/91)
In diesen Aussagen der Schreiber wird deutlich, daß der Entscheidung für einen bestimmten Schreibhandlungsplan eine Analyse der Schreibaufgabe zugrunde liegt, für die objektive Anforderungen des Produktionsprozesses und subjektiv verfügbare Kapazitäten gleichermaßen eine Rolle spielen. Die oben beschriebenen Beispiele des Gesamtablaufes der Textproduktion zeigen allerdings, daß solche Schreibhandlungspläne nicht mechanistisch verfolgt werden. Sie sind vielmehr mit Evaluationsprozessen gekoppelt, die die Beziehung von Aktivitäten und jeweils verfolgten Zielen steuern; d.h. Aktivitäten forcieren, modifizieren oder auch abbrechen, falls Diskrepanzen zwischen Planzielen und Handlungsergebnissen auftreten. VP 13 beschreibt einen derartigen Wechsel der Handlungsplanung: "Ich habe insgesamt drei Schritte gebraucht: Ich habe erst versucht, das Ganze mir durch die Gliederung zu gegenwärtigen, hab dann versucht, gleich zu schreiben, weil ich dachte, daß es vielleicht nicht so auf meine Formulierungen ankam, so daß ich sofort ins Reine schreiben konnte; das hat dann aber nicht geklappt, das hab ich gleich gemerkt; und so habe ich das Blatt, wo ich angefangen habe, als Konzeptpapier genommen ".(Vp 13/39)
Neben der Flexibilität der Schreibhandlungsplanung veranschaulicht diese Interviewpassage noch einmal die Relevanz einer mentalen bzw. auch textuell manifesten globalen Repräsentation des Primärtextes als Voraussetzung des Zusammenfassens. Es ist zu vermuten, daß die Entwicklung derartiger globaler konzeptueller Vorstellungen für Schreibprozesse generell charakteristisch ist. Die Spezifik der Handlung des Zusammenfassens manifestiert sich darin, daß ihre Entwicklung sich hier als eigenständige Produktionssphase mit relativ eigenständigen Aktivitätsformen manifestiert: als primäres Lesen des Ausgangstextes.
156 6.3.1.3. Zur Funktion von Unterstreichungen und Randnotizen Betrachten wir die in die Phase des primären Lesens eingelagerten minimalen Schreibaktivitäten - Unterstreichungen, Randmarkierungen und Randnotizen etwas genauer. Dabei soll die Frage nach ihren textproduktiven Funktionen im Vordergrund stehen. 1. Einleitung In diesem Beitrag wollen wir uns mit einem Phänomen beschäftigen, welches in auffälliger Weise das kommunikative Handeln der Thera-
Themen
peuten in der klientenzentrierten Gesprächstherapie (kurz: GT) (vgl. ζ. B. Tausch/Tausch 1960 / 7. Α. 1979) kennzeichnet: der vorsichtigen, weichen oder, wie wir sagen, abgeschwächten Gestaltung ihrer Äußerungen. Gleichzeitig wollen wir an diesem Diskurstyp einen ersten Schritt zur Entwicklung der Konzepte „Ahschwächung" und ..Verschärfung" leisten, welche bislang noch nicht systematisch in die Diskussion eingeführt wurden. Wir werden die [Komponenten und Prozesse| beschreiben, die dazu bei-
Vorgehen
tragen, daß von einer Äußerung der Eindruck entsteht, sie sei in einem [bestimmten Grade abgeschwächt,! und die linteraktive Funktionl dieser Ziel
Äußerungseigenschaften in der G T untersuchen. Unser Ziel] besteht
Absicht
also letztlich in der Formulierung von llnteraktions- und Interpretationsregeln.l Unser Interesse für ein bestimmtes interaktives Phänomen erfordert
Abgrenzung gegen andere Methoden
eine andere Herangehensweise als das eher „sprachsystematische" Interesse der Forschung zu Abtönungs- und Gradpartikeln (ζ. B. Altmann 1978, Franck 1980. Weydt (ed.) 1969, 1977,1979). Während dort versucht wird, lexikalische Einheiten zu isolieren und gegebenenfalls nach Explikation +
ihren kommunikativen Funktionen zu suchen, versuchen wir, linteraktive Kategorien zu finden und anschließend Interpretations- |und
Abgrenzung
Interaktionsprozesse zu rekonstruieren.
Legende zu Abb. 1 VP 3
VP 4
VP 7
VP 5
Unterstreichung: links
Randmarkierungen:
// bzw./
Abb. 6.2.:
keine
ΓΊ
Randnotizen:
rechts
keine
[
// X
Unterstreichungen und Randnotizen (nach Keseling, 1984)
Im obigen Abdruck einer Passage des Primärtextes (Abb. 6.2.) sind solche Unterstreichungen und Randnotizen von insgesamt vier Vpn eingetragen. Bei ober-
157 flächlicher Betrachtung erscheinen die vorgenommenen Unterstreichungen und Randnotizen zunächst keinem einheitlichen Prinzip zu folgen. Von verschiedenen Schreibern werden unterschiedliche Primärtextpassagen unterstrichen, das Ausmaß der vorgenommen Markierungen variiert stark, und verschiedene Schreiber scheinen zudem auch unterschiedliche Präferenzen für Unterstreichungen oder Randnotizen zu haben. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, daß sich die vorgenommenen Markierungen zwei Grundtypen zuordnen lassen, die sich hinsichtlich ihrer Realisierungsformen und auch ihrer Funktionen unterscheiden: musterbezogene Markierungen einerseits und propositonsbezogene Markierungen andererseits (vgl. zu diesem gesamten Komplex Keseling 1984; Keseling/Wrobel/Rau 1987). Musterbezogene Markierungen haben zum Ziel, jene dem Primärtext inhärenten Makrostrukturen zu kennzeichnen, die den Text als Exemplar eines spezifischen Texttyps und damit als Realisation eines spezifischen Textmusters charakterisieren. In unserem Falle handelt es sich dabei weitgehend um Elemente von Argumentationsmustern. Im abgedruckten Beispiel kennzeichnen Ausdrücke wie "Ziel", "Vorgehen", Begründung", "Material" usw. Textsegmente hinsichtlich ihrer Funktionen im Rahmen des konventionellen Textmusters "wissenschaftlicher Artikel"; d.h. sie heben die Funktion solcher Textsegmente als zunächst von spezifischen Inhalten unabhängige Argumentationshandlungen hervor, die konventionellerweise im Rahmen wissenschaftlicher Abhandlungen zu erwarten sind.22 Solche Hinweise auf die Handlungsfunktionen von Textäußerungen werden natürlich - gerade im Falle wissenschaftlicher Texte - im Primärtext oft selbst expliziert. Sie sind dort Markierungen illokutionärer Rollen, die es Lesern erleichtern, Interpretationsrahmen für zugehörige Textpropositionen aufzubauen. Solche expliziten Illokutionsmarkierungen werden deshalb als Primärtextelemente oft auch durch Unterstreichungen hervorgehoben. Es besteht jedoch eine deutliche Präferenz für ihre Repräsentation in Form von Randnotizen, oft in Kombination mit zusätzlichen Randmarkierungen wie etwa Klammerungen. Für die sprachliche Form solcher Randnotizen ist charakteristisch, daß sie die im Primärtext genannten illokutionsbezogenen Ausdrücke entweder wortwörtlich ("...unser Ziel besteht in der..." ->Ziel) oder als Teilsynonyme übernehmen ("...Ziel..." - > Ziel); oft ist die Randnotiz auch der substantivierte Ausdruck eines im Primärtext enthaltenen Verbkomplexes, wobei das Verblexem mehr oder weniger erhalten bleibt ("Unsere Aussagen... gelten daher zunächst nur für diesen Gesprächstyp" ->Geltungsbereich; "... wird an folgenden Argumenten deutlich" - > Begründung). Propositionsbezogene Markierungen, die fast auschließlich in Form von Unterstreichungen realisiert werden, dienen dem Zweck der Selektion und Hervorhebung relevanter Propositionen des Primärtextes. Diese Markierungen kategorisieren Textsegmente mithin nicht hinsichtlich ihrer Funktionen als (Argumentations)handlungen, sie beziehen sich vielmehr auf Propositionskomplexe als Elemente der Aussagenstruktur des Primärtextes. Markiert werden dabei zumeist Schlüsselwörter oder -phrasen, Passagen, die den Kern einer Aus22
Sie entsprechen insofern den im Rahmen der Textlinguistik explizierten textuellen Superstrukturen (vgl. z.B. van Dijk 1980).
158 sage enthalten oder aber komplette, als relevant erachtete Textäußerungen (Sätze). So unterstreicht Vp 3 im ersten Absatz z.B. die Wörter "Phänomen", "der Therapeuten", "Gesprächspsychotherapie" und "abgeschwächte Gestaltung ihrer Äußerungen". Vp 4 nimmt im ersten Absatz des zweiten Primärtextkapitels hingegen Unterstreichungen vor, die die Aussagenstrukur insgesamt erhalten ("Das Konzept Abschwächung explizieren wir als Funktion einer Äußerung, daß (!) schwächere Obligationen aufgebaut oder übernommen werden"). Vp 7 unterstreicht hingegen oft ganze Sätze des Ausgangstextes (z.B. "Unser Ziel besteht also letztlich in der Formulierung von Interaktions- und Interpretationsregeln"). In diesen verschiedenartigen Formen des Unterstreichens manifestieren sich zum Teil wohl individuelle Strategien der Textrezeption und der weiteren Textverarbeitung. Sie treten allerdings nie in reiner Form auf. Fast alle Vpn benutzen Mischformen, indem sie z.T. Schlüsselwörter/-phrasen, z.T. ganze Textpassagen unterstreichen; d.h. sie passen ihre Strategien den offenbar unterschiedlichen Anforderungen des Textrezeptions- und des intendierten Produktionsprozesses an. Sowohl muster- als auch propositionsbezogene Markierungen lassen sich als Manifestationen allgemeiner Prinzipien des Textverstehens, wie sie im Rahmen der Textverstehensforschung expliziert wurden, auffassen. In Randnotizen und Unterstreichungen zeigen sich gewissermaßen Teile jener mentalen Prozesse, mit denen auf der Basis von Makroregeln wie Auslassen, Generalisieren oder Konstruieren Makrostrukturen eines Textes aufgebaut werden (vgl. van Dijk/Kintsch 1978). Wir wollen diesen Aspekt jedoch hier zunächst nicht weiter verfolgen (vgl. jedoch Kap. 6.3.2.2.), sondern uns auf die Frage nach den möglichen produktiven Funktionen solcher Textmarkierungen beschränken. Was leisten sie für den anschließenden Prozeß der Textproduktion - für das Schreiben einer Zusammenfassung? Offensichtlich ist zunächst die Bedeutung von Textmarkierungen im Rahmen weiterer Texthandlungsplanungen. Textmarkierungen lassen sich als einfache Formen der Textstrukturierung auffassen, durch die der Umgang mit Informationen erleichtert wird. Denn strukturierte Informationen - dies gilt generell können leichter behalten und vor allem auch wieder aufgefunden werden (vgl. Levelt 1989). Konkret bedeutet dies, daß Textmarkierungen nachfolgende Aktivitäten der Wissensaktualisierung und -organisation ökonomisieren und z.T. erst planvoll möglich machen. Von einigen Vpn wird diese ökonomisierende Funktion der Unterstreichungen und Randnotizen für die weitere Texthandlungsplanung auch explizit benannt. Als Gründe für die vorgenommenen Markierungen geben sie an, den Primärtext später nur noch "überfliegen" zu müssen oder Wesentliches "schnell auffinden" zu können (vgl. auch Keseling 1984). Zentraler noch als ihre Funktion für die Texthandlungsplanung erscheinen jedoch die Funktionen von Textmarkierungen als Elemente von Textplänen. Denn in der Trennung musterbezogener Markierungen (Randnotizen) einerseits und propositionsbezogener Markierungen (Unterstreichungen) andererseits deuten sich Prinzipien jener Transformationen an, durch die aus dem so strukturierten Primärtext ein intendierter Zieltext - die Zusammenfassung - erzeugt werden kann. Entscheidend hierfür ist, daß beide Markierungsformen bzw. ihre
159 Relationen untereinander die lineare Struktur des rezipierten Primärtextes als systematisch-relationale Struktur repräsentieren: als Beziehungen von Musterpositionen, als Relationen von Musterelementen und zugehörigen Propositionskomplexen und als Relationen von Propositionen oder Propositionskomplexen untereinander. Randnotizen und Unterstreichungen organisieren damit die ursprünglich lineare Abfolge von Primärtextinformationen in einer multidimensionalen Informationsstruktur, die - neben zeitlichen Abfolgen - auch systematische Zuordnungen und hierarchische Beziehungen dieser Informationen repräsentiert. Eine derartige Repräsentation aber ist die Voraussetzung für die Reorganisation von Informationen, d.h. einer auf spezifische Zwecke zugeschnittenen, nicht einfach reproduzierenden (im Sinne von wörtlicher Wiedergabe) Textproduktion, wie sie Zusammenfassungen erfordern.
Mustermarkierung (Randnotizen)
Abb. 6.3.:
Propos, markierung (Unterstreichungen)
Relationen von Randnotizen und Unterstreichungen
Abbildung 6.3. stellt die in musterbezogenen und propositionsbezogenen Markierungen repräsentierten systematisch-relationalen Beziehungen in einer idealisierten Form dar. In konkreten Randnotizen und Unterstreichungen treten sie nicht (oder höchst selten) derart systematisch und explizit auf, sondern manifestieren sich vor allem in der Trennung und der meist unterschiedlichen Realisation beider Markierungstypen. Vor allem die Beziehung zwischen Musterelementen und Propositionskomplexen bleibt dabei oft "leer"; d.h. einer Mustermarkierung (Randnotiz) ist oft keine Propositionsmarkierung (Unterstreichung) zugeordnet oder auch umgekehrt. Die jeweils vorhandene Markierung fungiert
160 dann lediglich als "Platzhalter" für die jeweils zuzuordnende, komplementäre Information (Keseling 1984). Solche Platzhalter verweisen auf markierte und kategorisierte Leerstellen, die in weiteren Prozessen der Textverarbeitung gefüllt werden können. 6.3.1.4.
Zur Funktion von Stichworten
Im Gegensatz zu Unterstreichungen, Randnotizen und Randmarkierungen, die bei allen untersuchtem Vpn - in allerdings sehr unterschiedlichem Ausmaße auftreten, verfassen nur ca. ein Drittel der Schreiber Stichworte. Stichworte werden dabei in keinem Fall schon in der Phase des primären Lesens notiert, sondern im Verlauf einer zweiten Lesephase, in der z.T. parallel auch Gliederungen erstellt bzw. abgeschrieben werden. Charakteristisch für die zweite Lesephase ist, daß sich die Rezeption des Primärtextes nunmehr abschnittweise vollzieht; d.h. Textrezeption und Textproduktion sind eigenständige, sich abwechselnde Aktivitäten, die allerdings in engem Bezug zueinander stehen. Denn für die Produktion von Stichworten spielen rezeptionsbezogene Überlegungen nach wie vor eine wichtige Rolle. Die Vpn betonen in ihren Kommentaren vornehmlich die Funktion von Stichworten für das Textverstehen. Interessanterweise bezeichnet Vp 12 die Erstellung von Stichworten dabei sogar als mentale Form des Textverstehens ("Stichworte im Kopf'). "Also, ich gehe so vor, daß ich mir den Abschnitt durchlese und danach versuche, in Stichworten im Kopf zusammenzustellen, was da ausgesagt worden ist. Entweder ich krieg es hin oder meike, ich habe ihn gar nicht verstanden. Dann muß ich ihn nochmal lesen und probiere es nochmal. Und wenn es dann immer noch nicht klappt, lasse ich ihn weg." (Vp 12/20ff.). "Ich habe mir die einzelnen Abschnitte nochmal durchgelesen und Stichworte bzw. Sätze geschrieben. Ich habe zunächst versucht zu verstehen und dann zusammenzufassen" (Vp 14, 91ff.).
Betrachten wir die Stichwortnotizen an Beispielen etwas genauer. In welcher Beziehung stehen sie zum Primärtext bzw. zu den in der Phase des primären Lesens produzierten Textmarkierungen? Und welche Funktionen haben sie für den zu erstellenden Zieltext? Im den folgenden Beispielen sind Teile der Stichwortnotizen von zwei Vpn (Vp 1 und Vp 12) abgedruckt. Einrückungen, Sonderzeichen und Abkürzungen wurden dabei erhalten. Vp 1 (Stichworte)23 Ziel: Untersuchung des kommunikativen Handelns von Th. in klientenzentrierten GT —> Abschwächungen, Verschärfimg«! 23
Die sprachlichen Abweichungen haben hier Zitatcharakter.
161 Formulierung von Interaktions + Interpretationsregeln in diesem bestimmten Gesprächstyp Material: mehrere transkribierte Gruppen- + Einzelth. gespräche Def: Abschwächung: Eine Abschwächung einer vorangegangen hypothetischen Äusserung hat die Funktion, schwächere Obligationen für den Sprecher/Gesprächspartner aufzubauen. [Verschärfung entsprechend def. Gegenteil] Obligationen: a) Allgemein sind darunter Verpflichtungen zur Einhaltung von Regeln fur die Aufrechterhaltung von Interaktion« zu verstehen b) bei bestimmten Interaktionstypen müssen bestimmte Obligationen übernommen bzw. aufgebaut werden. Regeln: Regeln sollen formuliert werden können durch Untersuchung, welche interaktiven Funktionen Abschwächungen haben. 2 Teilschritte/2 Fragen: a) In welchen Kontexten + Situationen werden welche Äusserungen als abgeschwächt interpretiert? wie erkennt man Abschw. b) Welche abgeschwächten Äußerungen dienen in welchen Interaktionskontexten zur Realisierung welcher interaktiven Funktionen? Wann treten welche Abschwächungen auf und mit welcher Funktion? Def. Äußerung: Eine Folge sprachlicher Elemente mit eine kommun. Funktion (Befehl, Aufforderung) wird als Äußerung betrachtet.
Vp 12 (Stichworte) Einleitung Phänomen in GT — > abgeschwächte Äußerungen —> Typisch bzw. auffällig für komm. Handeln in GT wissenschaftl.: abgeschw. Äußerung = Diskurstyp Ziel: Entwicklung von Konzepten für Diskurstyp "Abschwächg." bzw. Verschärfung — > wird aber nicht näher untersucht Vorgehens fragen: was sind abgeschw. Äuß:? welche Fkt. haben sie? Ziel: Formulieren von Interaktions- u. Interpretationsregeln Herangehensweise: Abgrenzung zu sprachsystemat. Forschungsinteresse Begriffserklärung: "Abschwächung" als interaktiv relevante Kategorie (es geht nicht um die sprechi. Struktur komm. Handelns bzw. Abschwächung, sondern mehr um dessen interakt. Fkt.) Geltungsbereich und Datengrundlage: Gesprächstyp: Gruppen- u. Einzeltherapien Fragestellung: Welche Interpretation und interaktive Fkt. haben Abschwächungen
162
Auf den ersten Blick fällt auf, daß die abgedruckten Stichwortnotizen strukturell große Ähnlichkeiten mit den schon beschriebenen Textmarkierungen der primären Lesephase aufweisen. Es taucht hier wiederum eine Reihe von Ausdrücken auf, die wir als musterbezogene Markierungen bezeichnet hatten; Begriffe wie "Ziel", "Material", "Herangehensweise" usw., die mustertypische Makropropositionen (Superstrukturen) repräsentieren. Zum zweiten finden sich in den Stichworten auch Ausdrücke, die strukturell den propositionsbezogenen Markierungen (Unterstreichungen) entsprechen. Sie sind in diesem Fall jedoch nicht Markierungen des Primärtextes, sondern eigenständige Formulierungen der Schreiber, die sich meist paraphrasierend oder in Form von Halbzitaten auf entsprechende Segmente des Primärtextes beziehen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Textmarkierungen und Stichwortnotizen besteht allerdings darin, daß die Relationen zwischen muster- und propositionsbezogenen Ausdrücken sowie deren interne Beziehungen nun wesentlich expliziter sind. Im untersuchten Material findet sich fast durchgängig das Prinzip "Musterausdruck + Proposition", d.h. eine explizite Zuordnung beider Informationstypen ohne die für Textmarkierungen typischen Leerstellen. Zuordnungsmittel sind dabei die graphische Absetzung der Äußerungspaare, Doppelpunkte oder Pfeile, die oft einfache prädikative Beziehungen substituieren, wie sie sich durch Verben wie "sein", "haben", "bestehen in" o.ä. ausdrücken lassen. "Ziel: (ist) Untersuchung des kommunikativen Handelns." "Material: (sind) mehrere transkribierte Gruppen- und Einzelinterviews" "Herangehensweise: (besteht in) Abgrenzung zu sprachsystemat. Forschungsinteresse"
Zweifellos manifestieren sich in den Prinzipien der Stichwortorganisation Vorformen syntaktischer und textueller Kohärenz. Dies allerdings nicht in der Form der dafür konventionell vorgesehenen sprachlichen Mittel, sondern in Form funktional-äquivalenter Substitute, die auf den Schreiber und die Erfordernisse des Textproduktionsprozesses zugeschnitten sind. Eines der zentralen, von allen Vpn verwendeten Mittel ist dabei die graphische Ordnung der Stichwortnotate: ihre räumliche Ordnung als Paarbeziehungen in der horizontalen und als Folgen von Musterpositionen in der vertikalen Raumachse. Welchen Sinn hat eine derartige, auch räumliche Organisation der Notate? Oder, anders gefragt: warum werden Stichworte nicht als fortlaufender Text geschrieben, sondern in der beschriebenen Weise gruppiert und einander zugeordnet? Plausibel erscheint zunächst die Annahme, daß sich in der räumlichen Organisation sprachlicher Äußerungen Prinzipien der kognitiven Verarbeitung dieser Äußerungen manifestieren. Zwar sind diese Verabeitungsmechanismen nicht direkt zugänglich, ihre externen Erscheinungsformen deuten jedoch darauf hin, daß auch die Verarbeitung komplexer sprachlicher Informationen nicht allein aufgrund abstrakt-begrifflicher bzw. propositionaler Prinzipien erfolgt, sondern
163 zumindest teilweise von analog-bildhaften Prinzipien geleitet wird. Auch sprachliche Informationen werden - so scheint es - in einem mentalen "Raum" verortet, in dem semantische Beziehungen (im weiten Sinne) als Dimensionen eines Raumes repräsentiert sind. Eine derartige, auch räumliche Repräsentation von Informationen hat gegenüber der rein propositionalen einige Vorteile. Sie erlaubt nämlich die Repräsentation und ökonomische Handhabung von großen Informationsmengen. Diese sind gleichsam "auf einen Blick" zugänglich und müssen nicht über ihre propositionalen, inhaltlich-logischen Verknüpfungen untereinander aufgesucht werden. Dies heißt zugleich, daß die analog-räumliche Repräsentation den strikten Anforderungen von Logik, begrifflicher Klarheit und sprachlicher Kohärenz im einzelnen nicht genügen muß. Sie hat vielmehr den Charakter eines Textmodells, das lediglich wesentliche Eigenschaften und Beziehungen des repräsentierten oder intendierten Textes in einer auf praktische Zwecke bezogenen Weise abbildet. In der Tat zeigen die Stichwortnotizen, daß die Schreiber nur wenig Aufmerksamkeit auf die Explikation detaillierter propositionaler und grammatischer Beziehungen richten. Wie schon erwähnt, finden sich nur wenige, meist stereotype Substitute für prädikative Beziehungen; auch dort, wo Äußerungen oberflächenorientiert formuliert werden, sind sie nicht selten grammatisch defekt oder stilistisch problematisch. "Untersuchung des kommunikativen Handelns von Th. in klientenzentrierten GT. * "Regeln sollen formuliert werden können durch Untersuchung, welche interaktiven Funktionen Abschwächungen haben. "
Die spezifische Organisationsform von Stichwörtern ist einerseits das Produkt kognitiver Operationen und enthüllt deshalb einige ihrer Prinzipien. Zugleich aber ist sie auch Grundlage textproduktiver Folgeaktivitäten. Die räumliche Organisation von Informationen, ihre analog-bildhafte Modellstruktur, erlaubt dabei zum einen Orientierungen hinsichtlich der Schritte, der Richtungen und der Reichweite möglicher Folgehandlungen. Diese können - im Wortsinne lokalisiert werden, d.h. ihr Beginn, ihre Richtung und ihr Ende sind als Orte und Distanzen innerhalb eines räumlichen Kontinuums lokalisierbar. Eine derartige Orientierung im Handlungsraum bildet eine der Voraussetzungen für die formal-technische Organisation von Formulierungsaktivitäten. Deren Erfolg und Effektivität ist wesentlich davon abhängig, daß ein Schreiber weiß, wo eine Formulierung beginnt, was sie umfassen soll und wo sie endet. Die graphische Organisation von Stichworten fungiert insofern als Instruktion für die formaltechnische Organisation folgender Formulierungshandlungen. Zum anderen erlaubt diese Organisation auch Planungsaktivitäten, die sich auf die konzeptuelle Struktur des intendierten Zieltextes beziehen und die wir als Orientierung im Textraum bezeichnen wollen. Orientierung im Textraum heißt, daß das Prinzip der räumlichen Repräsentation die Reorganisation konzeptueller Gehalte ökonomisiert, indem es Zusammenhänge als Distanzen, Hierarchien als Gruppierungen oder Leerstellen als Lücken repräsentiert. Struktur wird so der Wahrnehmung zugänglich und ist insofern nicht nur Ergebnis kognitiver Operationen,
164 sondern kann als Quelle für weitere Aktivitäten der Textbearbeitung fungieren. Dies ermöglicht z.B. (Makro)revisionen, die Identifizierung von Inkohärenzen, Redundanzen oder auch die Bildung abstrakterer Makropropositionen (vgl. Molitor 1987). Die abgedruckten Beispiele machen deutlich, daß Stichworte keineswegs in sich kohärente und "fertige" Repräsentationen des intendierten Zieltextes bilden. Dies zeigt sich in den Notaten von Vp 12 etwa darin, daß Musterelemente mehrfach besetzt sind ("Ziel"), unklar differenziert werden ("Herangehensweise" vs. "Vorgehensfragen") oder auch in ungewöhnlichen Positionen auftreten ("Fragestellung" nach "Ziel"/"Herangehensweise" usw.). Stichworte sind deshalb nicht nur Grundlage nachfolgender Formulierungsprozesse, sie sind zugleich die Basis weiterer Makrooperationen. Diese Makrooperationen vollziehen sich im Textraum: sie basieren auf Prinzipien der zunehmend durch textuelle Beschränkungen und Erfordernisse gesteuerten produktiven Rezeption des Zieltextes bzw. seiner Vorformen.
6.3.1.5. Globale Strategien: Datengeleitetes und schemageleitetes Zusammenfassen Das Schreiben von Zusammenfassungen, dies haben die bisherigen Überlegungen gezeigt, basiert auf wiederholten Prozessen produktiver Rezeption. Produktiv ist diese Rezeption, weil rezipierte Primärtextinformationen unter handlungspraktischen und konzeptuellen Aspekten kategorisiert und relationiert und damit in Makropropositionen eines intendierten Zieltextes transformiert werden, dessen Strukturformen in zunehmendem Maße handlungssteuernd wirken. Wer eine Zusammenfassung schreibt, selegiert und reduziert deshalb nicht nur vorgegebene Informationen, er transformiert sie vielmehr, indem er sie in reduzierter Form reorganisiert. Diese Reorganisation vollzieht sich bereits in der verstehensbezogenen Rezeption des Primärtextes. Die Produktion von Zusammenfassungen ist jedoch mehr als eine einfache Umkehrung dieser Rezeption. Sie basiert darauf, daß zunächst kognitive Repräsentationen zunehmend den handlungspraktischen Erfordernissen des Schreibprozesses und den textinhärenten Organisationsprinzipien des intendierten Zieltextes angepaßt werden. Natürlich findet eine derartige Transformation von Primärtextinformationen bei verschiedenen Schreibern in unterschiedlichem Maße statt. Für die weitaus meisten der untersuchten Vpn ist charakteristisch, daß ein hoher Reorganisationsgrad zwar subjektiv angestrebt wird, die schließlich produzierte Zusammenfassung sich jedoch eng an der Struktur des Primärtextes orientiert. Die Vpn verfolgen damit eine weitgehend datengeleitete Strategie des Zusammenfassens (bottom-up), d.h., der Schreibprozeß wird weitgehend von primärtextinhärenten Strukturvorgaben determiniert, so daß Primärtext und Zieltext isomorphe Organisationsstrukturen aufweisen (vgl. Spivey 1990). Diese Entscheidung für ein spezifisches strategisches Vorgehen wird von vielen Vpn bewußt reflektiert. Dabei wird häufig als Problem erlebt, daß die Bedingungen der Schreibaufgabe "Eine Zusammenfassung schreiben" in Wider-
165 Spruch stehen zu den mit Schreiben generell assozierten Momenten der eigenständig-kreativen Textorganisation. "Ja, da habe ich fiberlegt, ob ich in der Reihenfolge des Textes bleiben soll, ob mir etwas anderes übrig bleibt und wenn ja, dann was. Inwiefern lassen sich Punkte zusammenfassen und kann ich eine eigene Gliedeiung aufstellen, das habe ich überlegt" (Vp 14/78). I: "Hattest du den Anspruch, eine eigene Gliederungsfolge zu finden als der Text vorgibt?" Vp: " Ja, hätte ich gerne gehabt. Es ist j a etwas öde, wenn man einfach nur Vorgegebenes wiedeiholt. Doch dann hatte ich Bedenkrai, Subjektives reinzubringen, daß heißt Ideen und Formulierungen von mir. Und dann habe ich mir überlegt, was eine Zusammenfassung ist und daft das ja dann nicht geht, deshalb habe ich die Gliederung dann lieber übernommen" (Vp 14/93ff.). "Ich glaube, ich habe deshalb Formulieningsschwierigkeiten, weil ich immer zuviel in einen Satz reinpacken will und weil ich immer überprüfe, ob jetzt der Ausdruck auch das trifft, was ich sagen will. Besonders unsicher bin ich mir, wenn ich einen eigenen Ausdruck finde für das, was im Text steht, das traue ich mich nicht, dann auch hinzuschreiben. Ich übernehme also dann lieber" (Vpl2,96ff.). I.: "Hattest du den Anspruch, dich von der Struktur des Textes zu lösen?" Vp: " Ja, das wollte ich schon. Vor allem, weil ich j a nicht diese ganzen Punkte wieder aufzeichnen wollte Schließlich bin ich dann aber doch zu dem Schluß gelangt, daß ich es so wiedergeben wollte, wie es der Text vorgibt, wahrscheinlich, weil ich keine eigene Struktur hingekriegt habe. I: "Hast du dich darüber geärgert?" Vp.:" Ja, oder zumindestens war ich unzufrieden" (Vp 12/134 ff.) "Es fiel mir unheimlich schwer, mich über den Text zu erheben und von den Einzelheiten zu abstrahieren, und beides ist normalerweise das Ziel, was ich bei Zusammenfassungen habe. Und hier hat mich eben gestört, daß ich so am Text klebte, sah mich aber nicht in der Lage dazu, mich vom Text zu lösen. Hier, wo es weitergeht 'letztlich Interaktionsund Interpretationsregeln zu formulieren', da ist mir aufgefallen, wie wenig ich zusammenfasse, sondern einfach nur zusammenreihe" (Vp 19/21ff.). "Ich habe den Eindruck, daß ich den Text nicht zusammengefaßt habe, sondern eher umgeschrieben habe. Und das liegt daran, daß ich halt die Hauptaussagen des Textes nicht erkannt habe" (Vp 19, 74ff.).
Deutlich wird in diesen Passagen, daß die Vpn die Entscheidung für eine datengeleitete Strategie der Textorganisation zumeist als "Notlösung" empfinden, die aus Mangel an Alternativen und vor allem aus Unsicherheiten dem Primärtext gegenüber gewählt wird. 2 4
2 4
Bereiter/Scardamalia (1985) und Scardamalia/Bereiter (1987) beschreiben den hier dargestellten Unterschied zwischen den beiden Strategien des Zusammenfassens allgemeiner als Differenz von "Wissen-Wiedergeben" (knowledge telling) und "Wissen-Verarbeiten" (knowledge transforming). Beiden Strategien entsprechen auch verschiedene Stadien der Entwicklung von Schreibkompetenz.
166
In der Tat scheint insbesondere der Grad der im Rezeptionsprozeß erbrachten Verstehensleistungen mit dem Ausmaß der Reorganisation des rezipierten Wissens zu korrelieren. Jene Vpn, die mit der Terminologie des Primärtextes, den Argumentationsformen wissenschaftlicher Aufsätze und den Anforderungen an Zusammenfassungen relativ viel Erfahrung hatten - die wissenschaftlichen Mitarbeiter -, waren auch die Verfasser der Zusammenfassungen mit dem höchsten Reorganisationsgrad: ihre Zusammenfassungen waren im Schnitt deutlich kürzer und enthielten vor allem zieltextinhärente Prinzipien der Informations- und Textorganisation. Die kompetenteren Leser waren insofern auch die "besseren" Schreiber (vgl. auch Spivey 1990), und zwar offenbar deshalb, weil es ihnen möglich ist, neu rezipiertes Wissen mit vorhandenem Wissen zu integrieren und auf dieser Grundlage zu reorganisieren. In den folgenden Ausschnitten aus zwei Zusammenfassungen wird der hier gemeinte Unterschied schon auf den ersten Blick deutlich. Während Vp 15 ihre Zusammenfassung nach den Kapiteln des Primärtextes gliedert, zumeist sogar dessen Absatzgliederung übernimmt, reorganisiert Vp 8 die konzeptuelle und textuelle Struktur des Primärtextes zu einem fortlaufenden Text, der inhaltlich und formal eigenständigen Organisationsprinzipien folgt.
Vp 15 "1. Einleitung Die Autoren geben in ihrer Einleitung an, 'das kommunikative Handeln der Therapeuten in der klientenzentrierten Gesprächs therapie (kurz GT)" in bezug auf das sogenannte 'weiche', vorsichtige Kommunikationsveihalten, das für die GT charakteristisch ist, auf seine interaktive Funktion hin untersuchen zu wollen. Gleichzeitig sollen die Konzepte "Abschwächung " und "Verstärkung* weiter systematisiert werden. Ihr Ziel besteht in der Formulierung von Interaktions- u. Interpretationsregeln. Im Gegensatz zum sprachsystematischen Ansatz der Forschung (-Isolieren lexikalischer Einheiten u. Untersuchung ihrer Kommunikationsfkt. -) suchen die Autoren nach interaktiven Kategorien, um anschließend Interpretations- u. Interaktionsprozesse zu rekonstruieren. Datengrondlage ihrer Untersuchung sind mehrere transkribierte Gruppen- und Einzelgesprächstherapien. Die Aussagen der Autoren zum Konzept 'Abschwächung' gelten für diesen Gesprächstyp".
Vp 8 "Im Gegensatz zur im engeren Sinne strukturlinguistischen Untersuchung und Beschreibung von Abtönungs- und Gradpartikeln, wird im vorliegenden Aufsatz die eher pragmatische Kategorie 'Abschwächung' thematisiert. Der konkrete Erfahnmgsiahmen von Therapiegesprächen bietet das empirische Gerüst für die Definition und die Funktionsbeschreibung von 'Abschwächungen' und deren Gegenteil, den 'Verschärfungen' ".
Die datenorientierte Zusammenfassungsstrategie von Vp 15 bedient sich vor allem oberflächenorientierter sprachlicher Verfahren: Äußerungen des Primär-
167 textes werden sukzesssive fokussiert, paraphrasiert und z.T. sogar zitiert, so daß der Zieltext lediglich als eine Reformulierung des Primärtextes erscheint. Derartige Reformulierungen haben den Vorteil, daß sie nur ein oberflächenorientiertes Verständnis des Primärtextes voraussetzen, und den Nachteil, daß sie nur in geringem Maße reduktionsmächtig sind. Diese geringe Reduktionskraft wird daher in vielen Fällen durch eine erhöhte Selektivität kompensiert. Bei vielen Vpn führt die datenorientierte Strategie des Zusammenfassens deshalb auch dazu, daß ausgewählte Informationskomplexe extensiv reformuliert werden, andere hingegen vollständig unberücksichtigt bleiben. Beide Phänomene sind Resultat einer kompensatorischen Zusammenfassungsstrategie, die Verstehensleistungen durch spezifische sprachliche Verfahren substituiert. Die Strategie von Vp 8 ist hingegen eine andere. Zum einen zeigt ihre Zusammenfassung, daß die Vp offenbar über ein detaillierteres Wissen über die allgemeinen Formen und Funktionen von wissenschaftlichen Aufsätzen und von Zusammenfassungen verfügt. Aufgrund dieses Muster- oder Schemawissens schreibt Vp 8 den Zieltext z.B. als fortlaufenden Text, oder sie ist in der Lage, die in Einleitungen wissenschaftlicher Aufsätze üblichen Absichtserklärungen, Abgrenzungen und Erläuterungen des Vorgehens auf den Aspekt der Themeneinführung zu reduzieren. Die Primärtextphrasen "wir wollen uns beschäftigen...", "wir werden beschreiben...", "unser Ziel besteht..." erscheinen im Zieltext so schlicht als "...wird im vorliegenden Aufsatz thematisiert". Wichtiger noch erscheint allerdings die Tatsache, daß Vp 8 Primärtextinformationen mit eigenem, vorgängigem Wissen integrieren und auf dieser Basis Makropropositionen konstruieren kann, die eine abstrakte Repräsentation und Reorganisation des Primärtextes erlauben. Deutlich wird dies im obigen Textausschnitt z.B. darin, daß der im Primärtext entwickelte Gegensatz des Interesses "sprachsystematischer" und "interaktionsbezogener" Forschung als Gegensatz von "strukturlinguistischem" und "pragmatischem" Interesse zusammengefaßt wird. Zugleich reorganisiert Vp 8 die Struktur des Primärtextes, indem sie den zentralen Begriff des Aufsatzes, die Kategorie "Abschwächung", mit Hilfe dieses Gegensatzes einführt. Propositionen des Primärtextes werden mithin nicht nur generalisiert, vielmehr wird auch ihr Zusammenhang neu strukturiert. Beides sind konstruktive Rezeptions- und Produktionsleistungen, die die wesentlichen Elemente der konstruktiven Zusammenfassungsstrategie von Vp 8 bilden (vgl. Flower/Stein/Ackerman/Kantz/McCormick/Peck 1990). Bemerkenswert ist, daß gerade der Schreiber der besten Zusammenfassung (Vp 8) kaum formulierungsvorbereitende Aktivitäten vornimmt: er macht kaum Unterstreichungen und schreibt keine Randnotizen oder Stichworte. Erwähnenswert ist dies deshalb, weil es im Widerspruch zu Untersuchungen etwa von Flower/Hayes (1984) steht, die einen Zusammenhang zwischen der Quantität intern-mentaler bzw. externalisierter Planungsaktivitäten und der Qualität der produzierten Texte postulieren. Diese unterschiedlichen Befunde lassen sich eventuell damit erklären, daß "bessere" Leser/Schreiber die für das Zusammenfassen konstitutiven Verfahren der Rezeption und produktiven Reorganisation von Informationen mental routinisiert haben und insofern weniger auf externalisierte Planbildungsaktivitäten zurückgreifen müssen. Für die hier untersuchten
168 Schreiber gilt zumindest in vielen Fällen, daß extensive und externalisierte formulierungsvorbereitende Aktivitäten eher auf individuelle Probleme der Primärtextrezeption und der Zieltextproduktion hinweisen. Sie sind insofern eher Kompensationsmaßnahmen als Indikatoren für unterschiedliche Planungsqualitäten. 6.3.2.
Makroplanung im Formulierungsprozeß: Wegbeschreibungen, Besch werdebriefe und Reisebeschreibungen
Für die Bewältigung komplexer oder "hybrider" Schreibaufgaben ist charakteristisch, daß sich Aktivitäten der Makroplanung als eigenständige, dem eigentlichen Formulierungsprozeß vorgelagerte Produktionsphasen mit spezifischen externen Aktivitäten manifestieren. Für einfachere Schreibaufgaben - wie etwa das Verfassen von Wegbeschreibungen oder Geschäftsbriefen - gilt dies nicht. Formulierungsvorbereitende Handlungen im o.g. Sinne treten hier nicht oder nur in Ausnahmefällen auf. Zwar finden sich zu Beginn solcher Schreibprozesse meist längere Phasen des Überlegens und Planens, jedoch manifestieren sich weder hier noch in anderen Schreibpausen Planungshandlungen in exothetisierter Form: Planung vollzieht sich als rein mentales Geschehen, das nur in seinen Endergebnissen, den schließlich formulierten Textäußerungen, erscheint. Wie sehen diese mentalen Prozesse der Makroplanung aus? Unterscheiden sie sich in ihren Formen von den extern zum Teil manifesten Planungsprozeduren bei komplexen Textarten? Verändert sich Planung in Abhängigkeit vom jeweils zu organisierenden Wissen? Und in welchem Zusammenhang stehen Planungsprozesse mit den Strukturen des Formulierungsprozesses bzw. der schließlich produzierten Textäußerungen? Dies sind die Fragen, um die es im folgenden gehen soll. Grundlage unserer Überlegungen sind dabei Produktionsprozesse einfacherer Textarten wie Wegbeschreibungen, Geschäftsbriefe und und einer Reisebeschreibung, die für eine Vereinszeitung verfaßt wurde ( = Zeitungsartikel). Hinweise auf die mentalen Prozesse, die der Produktion dieser Texte zugrundeliegen, geben dabei die schreibbegleitend erhobenen verbalen Daten, insbesondere die darin geäußerten Reflexionen, in denen sich die Schreiber auf Probleme des Schreibhandlungsprozesses oder der konzeptionellen Struktur des intendierten Textes beziehen. 6.3.2.1.
Zur Form von Reflexionen
Reflexionen zeichnen sich generell dadurch aus, daß sie schreibrelevantes Wissen in einer Form repräsentieren, die Elemente der Umgangssprache und auch der "inneren Sprache" enthält. So treten sowohl die für umgangssprachliche Äußerungen typischen Verzögerungspartikel ("hm", "äh" usw.) als auch Ellipsen und Anakoluthe oft auf; Merkmale, die an Wygotskys (1972) Konzept der inneren Sprache erinnern, sind kondensierte Äußerungsformen, abrupter Wechsel der Äußerungsmodalität sowie der substantivierende Stil. Besonders deutlich
169 wird dies bei der Produktion von Wegbeschreibungen, wo in Reflexionen zwar Orientierungsmarkierungen wie Straßennamen, Gebäude o.ä. und (seltener) Richtungsbezeichnungen auftreten, Bewegungsverben jedoch vollständig fehlen. Reflexionen sind mithin relativ autonome Äußerungsformen, die sich unter lexikalischen, syntaktischen oder auch stilistischen Gesichtspunkten sowohl von Prätexten als auch von Textäußerungen unterscheiden. Diese unterschiedliche Oberflächenrealisierung deutet darauf hin, daß Reflexionen im Schreibprozeß auch gänzlich andere Funktionen wahrnehmen. In ihnen manifestieren sich Teile der auf eher globale Aspekte der Textproduktion bezogenen Überlegungen und Planungen von Schreibern - Formen also der Verarbeitung konzeptionellen Wissens und der globalen Handlungsorganisation. Betrachten wir zunächst einige Beispiele, in denen der Unterschied zwischen Reflexionen und Textäußerungen deutlich wird. Zur Übersichtlichkeit wurden die Transkriptionen vereinfacht. Phasen mit Vorformulierungen oder anderen Aktivitäten werden nur verkürzt dargestellt (+Vorform); auch Pausenmarkierungen sind nicht enthalten. TextMußerungen
Reflexionen
(1) Vp 5 GB Ich hoffe, daß die Kohle schnell (überkommt (+Vorform) Hm Hm, was schreiben die Hm, Hm, ja, was hab ich jetzt gesagt Ich hoffe, daß Ihnen somit alle benötigten Unterlagen vorliegen und ich mit einer baldigen Zahlung rechnen kann Hochachtungsvoll
(2) Vp 6 GB sehr schön, die Zahlung ist pünktlich, Hm, nicht den roten Faden verlieren. Nun is'dat Ding wieder kaputt gejang. Wie sag'ich ihm das, ja, naja. Fahr ich da fort, mach' keinen Absatz Wenige Tage später zeigte sich bereits ein ohne äußere Einwirkung entstandener Defekt an dem von Ihnen installierten Laugenschlauch.
170 (3) Vp 4 (Zeitungsart.) .. .konnte das unsere Laune nicht Ach ja genau, da kann ich jetzt was Geiles (+Nachlesen + Vorfonn) schmälern, am wenigsten die eines neu zu uns gestoßenen Nachwuchsschwimmers, der im Laufe der Fahrt verschiedene Spitznamen wie "Joker" oder "Gaston" erhielt.
(4) Vp 8 WB verdammt, jetzt kommen da die Kurven Ungefähr 100 m weiter kommt eine scharfe Linkskurve. Da gehst du ...
Die Reflexionen (1) und (2) enthalten jargonhafte Sachverhalts- bzw. Ereigniskondensate, Beispiel (3) benennt die Eindrucksqualität eines bestimmten Ereigniszusammenhanges, Beispiel (4) enthält eine Phrase, die - nur leicht modifiziert - auch in der Textäußerung erscheint (Kurven - Linkskurve). Die Beispiele zeigen, daß Reflexionen mehr oder weniger textnah sein können und entsprechend in unterschiedlichem Maße an die Erfordernisse von Textäußerungen angepaßt werden müssen. In der Tat finden sich im Anschluß an relativ textferne Reflexionen auch oft umfangreiche Phasen der Prätextformulierung (so in Beispielen 1 und 3), während textnahe Reflexionen keiner oder nur geringer Vorformulierungsarbeit bedürfen (Beispiel 4). Die Reflexionen unterscheiden sich darüber hinaus auch hinsichtlich des Umfangs des jeweils repräsentierten Wissens. Zum Teil werden komplexe Sachverhalte oder Ereigniszusammenhänge benannt, zum Teil jedoch auch relativ einfache und bereits strukturierte Wissenssegmente wie etwa Orientierungspunkte einer Wegstrecke (Beispiel 4). Aufgrund dieser Beobachtungen der Oberflächenstruktur von Reflexionen läßt sich zumindest vorsichtig vermuten, daß das in Reflexionen repräsentierte schreibrelevante Wissen weitgehend inhomogen ist: es ist in unterschiedlichen Detaillierungsgraden, Portionierungen und vermutlich auch Modalitäten in den Prozeß der Makroplanung involviert. Sprachnahes bzw. bereits versprachlichtes Wissen scheint hier ebenso eine Rolle zu spielen wie sprachfernes Wissen, das etwa durch Eindrucksqualitäten, Intentionen oder auch analog-bildhafte Vorstellungen strukturiert sein könnte.
171 6.3.2.2. Reflexionen und konzeptuelle Planung Betrachtet man Reflexionen etwas genauer, dann fällt auf, daß sie vielfach nach Prinzipien strukturiert sind, die denen von Unterstreichungen/Randnotizen bzw. auch Stichworten bei der Produktion von Zusammenfassungen ähnlich sind. Reflexionen repräsentieren nicht nur konzeptionelles Wissen, sie enthalten darüber hinaus auch vielfach Äußerungen, die sich auf Aspekte der Handlungsfunktionen dieses Wissens beziehen. D.h., in Reflexionen wird nicht nur konzeptionelles Wissen aktualisiert und organisiert, es wird zugleich hinsichtlich seiner Funktionen als Element einer komplexen Texthandlung kategorisiert. So wird im oben erwähnten Beispiel (1) der geäußerte Sachverhalt ("..daß die Kohle schnell rüberkommt") als "Hoffnung" markiert, in Beispiel (2) kategorisiert der Schreiber den geplanten Ereigniszusammenhang ("..nu is dat Ding wieder kaputt gejang") durch das neutrale "sagen" als Element einer Beschreibung. Auch die Beispiele (5) - (11) enthalten derartiger Markierungen der illokutionären Rollen der geplanten Äußerungen. Zur Verdeutlichung werden die entprechenden Äußerungssegmente in den Beispielen kursiv hervorgehoben. (5)
...zur Vorgehensweise: ich muB als erstes kurz den Sachverhalt schildern, damit klar ist, was ich überhaupt reklamiere oder worüber ich mich beschwere; Höflichkeit ist nicht am Platz, also keine Anrede, hm; womit fang ich an? Damit, daß vor 3 Wochen die Waschmaschine angeschlossen wurde
(6)
jetzt kommt das eigentliche Anliegen, die Beschwerde; die Beschwerde darüber, daß nen'neuer Schlauch länger halten muß als 3 Wochen...
(7)
so, der moralische Appell, wie bau ich das jetzt auf? Womöglich, daB ich bislang zufrieden war mit der Arbeit dieser Firma...
(8)
...inwieweit muB ich denn jetzt noch erklären, was da vorgefallen ist; das Beste ist, ich sag' das mal in zwei kurzen Sätzen...
(9)
...vielleicht sollt ich jetzt ruhig gleich direkt sagen, daB ich/ und auch deutlich zum Ausdruck bringen, daB da gar keine Verhandlung möglich ist, ich lehn die Zahlung einfach ab, fertig.
(10)
ja, erstmal ne Einleitung finden, das is'sowieso immer das Blödeste. Hm, das Beste, hm, am Besten war, wer uns eingeladen hat; den Werner Seil muß ich erwähnen, hm, ja weil normalerweise das ja von anderen Leuten organisiert wird, sollte man das vielleicht irgendwie erwähnen...
(11)
Ob ich noch was zum Grenzübergang sage; irgendwie habe ich keine Lust mehr...
Natürlich handelt es sich bei den hier gemeinten illokutionsbezogenen Markierungen nicht um Illokutionen in dem Sinne, wie sie die Sprechakttheorie unter Bezug auf den Handlungscharakter von Sätzen expliziert hat (vgl. Searle 1971). Die Zuweisung illokutiver Rollen betrifft in den oben abgedruckten Beispielen vielmehr satzübergreifende Textsegmente: so in den Beispielen 5 - 8 die Markierung von Textsegmenten als "Schilderung", "Beschwerde", "Appell" oder
172 "Erklärung". Es handelt sich hier mithin um Makroillokutionen - um die Zuweisung illokutionärer Makrorollen, die zum einen untergeordnete Handlungsfunktionen und deren illokutive Repräsentationen domininieren, zum anderen jedoch auch selbst Bestandteil übergeordneter Handlungsfunktionen sein können. Brandt/Koch/Motsch/Rosengren/Viehweger (1983) sprechen in diesem Zusammenhang von Illokutionshierarchien, d.h. von der Repräsentation der eine komplexe Sprachhandlung konstituierenden Ziele, Teilziele und Zielrelationen als hierarchischer Struktur von Illokutionsbeziehungen.25 Illokutionen mittlerer Reichweite, wie sie in den Beispielen 5 - 8 vorliegen, bilden insofern nicht die unmittelbare Basis von Äußerungs- oder Satzillokutíonen, sie lassen sich vielmehr als globale Selektions- und Kontrollprinzipien auffassen, die im Produktionsprozeß die Selektion und Realisierung untergeordneter Äußerungsillokutionen ermöglichen und kontrollieren. Abbildung 6.4. veranschaulicht eine Teilstruktur derartiger Illokutionsbeziehungen, wie sie "Beschwerden" zugrunde liegen könnte. (I) bezeichnet Typen von Illokutionen, (P) die dazugehörigen propositionalen Elemente.
'2.1.1.
h.2A
(p+p+p..) (p+p+p) Abb. 6.4.:
Beispiel einer Illokutionshierarchie
Daß Reflexionen hinsichtlich der in ihnen ausgedrückten illokutiven Markierungen allerdings relativ heterogen sind, verdeutlichen die Beispiele 9 - 11. In Beispiel (9) handelt es sich nicht um eine Makroillokution im oben beschriebenen Sinne, sondern um die Zuweisung einer eher lokalen illokutionären Rolle, die auch Aspekte der Sequenzierung und Realisierung der geplanten Äußerung beinhaltet ("gleich direkt sagen.."). In Beispiel (10) bezieht sich die Autorin auf ein Element eines globalen und konventionalisierten Baumusters bestimmter Textarten ("Einleitung"), d.h. auf ein formales Segment einer textuellen Superstruktur, das propositional "leer" ist und insofern nur "weite" Bedingungen für Zur Illokutionstheorie vgl. auch Mötsch (1986) und (1987) sowie einführend Heinemann/Viehweger (1991).
173 mögliche Propositionen oder illokutive Realisierungen festlegt. Unspezifische Kategorisierungen illokutiver Rollen etwa durch die Verben "sagen", "erwähnen" u.ä. treten vor allem dann auf, wenn die zu planenden Texte aus konjunktiven Verknüpfungen gleichartiger Illokutionstypen bestehen. Dies ist etwa der Fall bei Weg- oder Reisebeschreibungen, die weitgehend nach dem Prinzip der Repetition gleichartiger Anweisungs- bzw. Beschreibungshandlungen konstruiert sind. Obwohl sich in den Reflexionen bei der Produktion dieser Textarten oft keine oder nur unspezifische illokutive Markierungen finden, können wir annehmen, daß auch hier handlungsfunktionale Prinzipien an der Aktualisierung und Organisation konzeptionellen Wissens beteiligt sind. Sie erfordern allerdings weniger Planungsaufwand und bleiben deshalb in Reflexionen meist unerwähnt. Die Analyse von Reflexionen zeigt, daß sich in ihnen schreibrelevantes Wissen in einer auf die spezifischen Zwecke und Ziele des Schreibprozesses bezogenen Weise manifestiert: als handlungsfunktional präfiguriertes Wissen nämlich. Derartiges Wissen wollen wir konzeptuelles Wissen nennen; ein abgrenzbares Element konzeptuellen Wissens soll Konzept heißen. Konzepte betrachten wir als die mentalen Äquivalente von Reflexionen und als Basiseinheiten der Makroplanung von Texten. Die Begriffe konzeptuelles Wissen bzw. Konzept bedürfen einer besonderen Erläuterung. Unter einem Konzept soll hier nicht - wie in der Kognitionswissenschaft und Gedächtnispsychologie üblich - eine spezifische Form der Wissensrepräsentation im Langzeitgedächtnis verstanden werden,26 sondern vielmehr ein Element von Wissen, das in Relationen zu anderen Elementen steht und im Prozeß der Wissens- bzw. Textproduktion temporär 2 7 gebildet wird. Konzepte enthalten mithin Elemente semantischen, pragmatischen und prozeduralen Wissens, d.h. Hinweise auf mögliche oder notwendige weitere Verarbeitungsverfahren. Ein Konzept hat die allgemeine Form K
26
27
(r,A)=!(W)
Die Begriffe Konzept bzw. konzeptuelles Wissen/Gedächtnis werden im Rahmen der Kognitionswissenschaft durchaus nicht eindeutig gebraucht. Es ist umstritten, was genau Konzepte sind oder wie das konzeptuelle Gedächtnis zu modellieren ist. Der Begriff hat mithin selbst Eigenschaften, die Konzepten allgemein zugesprochen werden: er ist unscharf ("fuzzy"). Zu diesem Problem vgl. Rieger (1989), zu verschiedenen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen die Beiträge in Neisser (ed.) (1987). Zur Verwendung und Problematik des Konzeptbegriffs in der Texttheorie vgl. z.B. van Dijk (1980) und de Beaugrande/Dressler (1981); für den Bereich der lexikalischen Semantik Figge (1989). Vgl. hierzu den auch in diesem Aspekt ähnlichen Konzeptbegriff von Herrmann (1985). Auch in Hermmanns Modell der Sprachverarbeitung bilden Konzepte multimodale und temporäre Repräsentationsformen des "Umgebungsreprisentations- und Operatorenauswahlsystems (UOS)" (= Arbeitsspeicher). "Ich unterstelle nach allem nicht, daB Konzepte in einer statisch-invarianten Form als multimodale Entitäten in einem Langzeitspeicher "ruhen" und bei Bedarf als solche in das UOS "kopiert" werden. Konzepte werden vielmehr aus langfristig gespeicherten Marken und deren Merkmalen zeitweilig generiert und bilden so temporäre Infonnationselemente im UOS, die sich auch während ihrer Existenz im UOS im skizzierten Sinne ändern können" (Herrmann 1985, 82).
174 wobei (I) die jeweilige (illokutive) Handlungsfunktion bezeichnet, (W) die propositionalen oder anderen Elemente des Weltwissens, auf das sich die Handlung bezieht, (R) die Relationen zu anderen Konzepten und (A) die möglichen oder notwendigen weiteren Anschlußverfahren der Konzeptverarbeitung. Konzept ist dabei ein relativer Begriff. Ein Konzept kann Bestandteil übergeordneter Konzepte sein, es kann auch selbst weitere Konzepte beinhalten. Solche Relationen von Konzepten bilden konzeptuelle Strukturen. Der vorgeschlagene Begriff des Konzeptes bzw. der konzeptuellen Struktur hat den Vorteil, daß er in einer Weise verwendet werden kann, die auch der umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs entspricht. Konzept meint umgangsprachlich den gedanklichen oder auch schriftlich manifesten Entwurf eines Textes oder die Vorlage für einen zu realisierenden Text - die Vorstellung davon also, was man sagen/schreiben will, wie man es sagen/schreiben will und was zu tun ist, um es zu sagen/zu schreiben.28 Auch in seiner umgangsprachlichen Bedeutung hebt der Begriff das Merkmal hervor, auf das es in unserem Zusammenhang ankommt: dai} Konzepte Elemente textproduktiver Prozesse sind. Hierin besteht auch der zentrale Unterschied zum Begriff der Makrostruktur - eines Begriffes, der sich ebenfalls auf die Erfassung globaler Strukturen der Textverarbeitung richtet. Der Konzeptbegriff ist produktionsbezogen, der Begriff der Makrostruktur bezieht sich hingegen auf die im Rezeptionsprozeß zu erbringenden Abstraktionsleistungen, die textuell manifeste Propositionsstrukturen zur Grundlage haben. Von Makrostrukturen ist deshalb auch vornehmlich im Zusammenhang mit Textverstehensleistungen die Rede, wenngleich der Begriff oft auch zur Kennzeichnung textproduktiver Prozesse herangezogen wird (vgl. van Dijk 1980). Diese Parallelisierung von Textrezeption und -produktion ist zum einen forschungshistorisch verständlich: Formen des Textverstehens sind bislang weit intensiver erforscht und insofern oftmals zu allgemeinen Prinzipien der Textverarbeitung generalisiert worden. Zum anderen hat diese Parallelisierung einen inhaltlichen Sinn in der durchaus plausiblen Annahme, daß Textverstehen und Textproduktion zumindest auf verwandten Grundlagen beruhen müssen, ohne dabei allerdings identisch zu sein. Van Dijk/Kintsch (1983) explizieren diesen Zusammenhang unter Bezug auf ihren Strategiebegriff. At present we know very little about specific production strategies. However, although these operations and their ordering will be different from those used in comprehension, it does not seem plausible that language users have two completely different and independent systems of strategies. This would even be inconsistent with our general assumption that understanding is not purely passive analysis, but a constructive process (van Dijk/Kintsch 1983, 17).
Wenn wir Konzepte und Makrostrukturen unterscheiden, dann hat dies zweierlei zum Ziel. Zum einen soll der prinzipielle Unterschied zwischen text- bzw. propositionsbezogenen Rezeptionsprozessen und allgemein wissensbasierten Produktionsprozessen hervorgehoben werden, ohne dabei allerdings die Möglichkeit auszuschließen, daß beide Prozesse partiell ähnlich oder sogar gleichartig strukIn diesem Sinne verwendet auch Keseling (1984) den Begriff Konzept.
175 tariert sein können. Konzepte können insofern Makrostrukturen im o.g. Sinne beinhalten; Relationen zwischen Konzepten können den Beziehungen zwischen Propositionshierarchien entsprechen, wie sie Makroregeln spezifizieren (vgl. z.B. van Dijk 1980). Der wesentliche Unterschied besteht allerdings darin, daß Konzepte Elemente der Planstruktur eines noch zu konstruierenden Textes sind, die mehr umfaßt und intern anders strukuriert ist als das im schließlich realisierten Text manifeste Gefüge von Propositionen und deren Beziehungen untereinander. Anders gesagt: Konzepte sind, im Unterschied zu Makrostrukturen, nicht unbedingt aus manifesten Textäußerungen rekonstruierbar. Konzepte spezifizieren vielmehr Bedingungen für die Auswahl und Realisierung der Handlungs- und Propositionsstrukturen, die schließlich in Texten erscheinen. Die begriffliche Differenzierung von Konzepten und Makrostrukturen bietet zum anderen aber auch die Möglichkeit, beide Begriffe in ein für die Erklärung von Textproduktionsprozessen neues und produktives Verhältnis zueinander zu setzen. Schreiben - dies wurde insbesondere in der Analyse des Formulierungsprozesses deutlich - ist auch ein Prozeß der Rezeption des textuell oder prätextuell manifesten Textes. Auch im Rahmen dieser Rezeptionsprozesse werden Makrostrukturen aufgebaut, d.h. propositionsbasierte Repräsentationen des Textes, die sich von seinen konzeptuellen Repräsentationen unterscheiden. Die textproduktive Dynamik von Rezeptionsprozessen, ihre Effekte auch für die Veränderung, Ausformung und z.T. Erzeugung konzeptuellen Wisssens, läßt sich aus der Inkongruenz erklären, die zwischen Konzepten und Makrostrukturen besteht. Beides sind verschiedenartige, im Schreibprozeß mit unterschiedlichen Mitteln gebildete Repräsentationen eines Textes, die aber gerade deshalb textproduktiv wirksam sind: sie erlauben dem Schreiber den Vergleich, die Bewertung und die Anpassung von Konzepten als prospektiv "Gemeintem" und Makrostrukturen als retrospektiv rekonstruiertem "Bedeutetem".
6.3.2.3. Konzepte von Beschreibungen Konzepte als Basiseinheiten der Makroplanung von Texten beziehen sich nicht unmittelbar auf Textformulierungen, sondern fungieren als Selektionsbeschränkungen für die Auswahl und Realisierung intendierter Äußerungsbedeutungen und Äußerungsfunktionen. Konzepte liegen nicht einfach vor, sondern werden im Prozeß der Textproduktion jeweils aufgabenspezifisch gebildet. Diese Erzeugung und Organisation konzeptueller Strukturen ist gerade im Falle schriftlicher Textproduktion ein außerordentlich komplexer Prozeß. Denn schriftliche Texte zeichnen sich dadurch aus, daß sie mehrere, miteinander verknüpfte oder ineinander verschachtelte semantische Relationen und pragmatische Funktionen beinhalten, die sich von seiten ihrer Produktion als komplexe Anforderungen an die Konzeptorganisation darstellen. Auch dort, wo - wie etwa im Fall von Wegbeschreibungen - eine konzeptuelle Ordnung des Textes bzw. der Schritte ihrer Realisierung gleichsam natürlich vorgegeben ist (vgl. Levelt 1989), besteht der Prozeß der Textproduktion nicht aus der linearen Abfolge einzelner Beschreibungsschritte, sondern aus hierarchisch organisierten Abfolgen der Konzeptbil-
176 dung, -organisation und -realisierung. Gerade die Beschreibung einfacher linearer Zeit- oder Raumbeziehungen setzt konzeptuelle Planung vor allem zu Beginn des Schreibens voraus. Denn räumlich oder zeitlich strukturierte Konzepte können, wenn sie erst einmal handlungswirksam sind, kaum oder nur unter großem Aufwand verändert oder gewechselt werden. Wie sieht nun Konzeptbildung und -organisation im Falle von Wegbeschreibungen konkret aus? Betrachten wir zunächst ein Beispiel, wie sich zu Beginn des Schreibprozesses konzeptuelle Überlegungen in Reflexionen manifestieren. Zur Verdeutlichung sind in den Transkripten die näher analysierten konzeptbezogenen Äußerungssegmente kursiv hervorgehoben. (12) Vp 5 WBLD also, ich überleg mir jetzt den günsAgsten Weg für jemanden, der sich in Marburg nicht auskeimt. Da geht das Problem schon los, daB ich nicht genau weiß, wie die Straße heißt, die neben der Autobahn Richtung Phil. Fak. verläuft; Hm; außerdem ist das auch ein blöder Weg. Also, ich werd ihn durch die Stadt schicken, dann kriegt er auch gleich was mit so'n bißchen von der Stadt.
Wegbeschreibungen29 lassen sich allgemein der Klasse der Anweisungstexte zuordnen,30 d.h. Handlungen des "Beschreibens" dienen hier dem übergeordneten Ziel, den Vollzug bestimmter Handlungen eines Adressaten zu ermöglichen. Diese pragmatische Funktion von Wegbeschreibungen manifestiert sich in unserem Beispiel in der Wahl eines spezifischen Beschreibungskonzeptes. Die Autorin aktualisiert eine bestimmte Wegstrecke unter dem Aspekt der "Einfachheit" bzw. des "Erfolgs" des Handlungsvollzuges ("den günstigsten Weg für jemanden, der sich in Marburg nicht auskennt"). Dieses Konzept fungiert im weiteren als Suchanweisung für die Aktualisierung von Subkonzepten, der Beschreibung einzelner Teilwegstrecken nämlich, die insgesamt den Weg bilden. In diesem Fall trifft die Autorin sofort auf ein "Problem": die zur weiteren Bearbeitung des Konzeptes notwendigen Anschlußprozeduren der Subkonzeptualiserung erweisen sich als nicht realisierbar, weil die Autorin über ein für den Zweck der Anweisung nur unzureichendes Wissen verfügt ("da geht das Problem schon los, daß ich nicht genau weiß, wie die Straße heißt, die neben der Autobahn Richtung Phil. Fak. verläuft"). Das ursprünglich gewählte Konzept "günstigster Weg" wird daraufhin rekategorisiert ("günstigster Weg" - > "blöder Weg") und das Konzept insgesamt gewechselt: die Autorin entscheidet sich nun für eine Route "durch die Stadt", ein Beschreibungskonzept also, das Wegbeschreibungen gehören zu den von Seiten der gesprächsanalytisch orientierten Linguistik eingehend analysierten Kommunikationsformen. Vgl. z.B. Klein (1979); allgemeiner zum Problem der sprachlichen Darstellung räumlicher Beziehungen z.B. Wunderlich (1982a, 1982b). Auf die Frage der Klassifizierung von Texten als Elemente bestimmter Textklassen oder Textsorten gehe ich hier nicht ein. Zu diesem, im Rahmen der Textlinguistik viel diskutierten Problem vgl. z.B. Gülich/Raible (1972); Dimter (1981). Ein früher Versuch einer Texttypologie unter besonderer Berücksichtigung schulischer Schreibformen und in Anlehnung an die Sprechakttheorie ist Ulshöfers (1974) Theorie der Schreibakte.
177 - im Gegensatz zum "günstigsten Weg" - realisierbar ist und zudem für den Adressaten interessanter erscheint. Es beinhaltet, über die bloße Anweisungsfunktion hinaus, auch Aspekte der "Stadtführung/Stadtbesichtigung" ("dann kriegt er auch gleich was mit so'n bißchen von der Stadt"). Die Reflexion dieser Autorin ist ein Beispiel dafür, wie zu Beginn des Schreibens gebildetete Konzepte als Selektionsbeschränkungen für nachfolgende Prozesse der Aktualisierung und Organisation von Wissen wirken. Konzepte fungieren insofern als Suchanweisungen und Kontrollinstanzen, die die Aktualisierung, Evaluation und Selektion von Subkonzepten steuern. Dies betrifft die inhaltlich-semantischen, pragmatischen und prozeduralen Aspekte von Subkonzepten gleichermaßen. So wird im vorliegenden Beispiel das Konzept "günstigster Weg" deshalb gewechselt, weil deklaratives Weltwissen (etwa der Straßenbezeichnungen) nicht ausreichend vorhanden ist, deshalb die pragmatische Funktion des "Anweisens" nicht erfüllbar ist und zudem weitere Anschlußprozeduren (z.B. die Aktualisierung von Teilwegstrecken) nicht oder nicht ausreichend zu realisieren sind. Hierin zeigt sich auch die oben erwähnte Spezifik von Konzepten gegenüber anderen Wissensrepräsentationen. Konzepte erfordern eine im Prozeß der Textproduktion erzeugte, aufgaben- und handlungsgerechte Zurichtung von Wissen, die der Autorin für das Konzept "günstigster Weg" nicht gelingt. Sie verfügt zwar über eine für andere Zwecke (etwa den des Spazierengehens) ausreichende Kenntnis des "günstigsten Weg", kann ihn aber im Rahmen der intendierten Handlung "Anweisung" nicht angemessen beschreiben. Konzepte - auch dies zeigt das Beispiel - lassen sich als im Prozeß der Textproduktion gebildete "Kurzbeschreibungen" des jeweils fokussierten Wissens auffassen; als nicht nur aktualisiertes, sondern zugleich benanntes Wissen. Eine derartige Benennung eines Konzeptes wie etwa "günstigster Weg" oder "durch die Stadt" wollen wir ein Etikett nennen. Als Etikett eines Konzeptes fungiert zumeist deqenige Aspekt, der für seine Selektions- und Kontrollfunktionen am relevantesten ist: entweder also seine illokutive Komponente (I) oder ein Element des repräsentierten Weltwissens (W). Im vorliegenden Beispiel verweist das Etikett "günstigster Weg" vor allem auf die pragmatische Konzeptfunktion der "Einfachheit" von Anweisungen, "durch die Stadt" ist hingegen ein eher wissensdominiertes Etikett, da es weniger pragmatische Funktionen beschreibt (abgesehen vom Aspekt der "Interessantheit") als vielmehr Elemente des Weltwissens der Autorin zusammenfassend benennt. Für Weg- und Reisebeschreibungen und vermutlich auch für andere Textarten, die aus repetitiven Folgen einfacher Handlungen bestehen, ist allgemein charakteristisch, daß Konzeptetiketten wissensorientiert gebildet werden, d.h., sie werden unter dem Aspekt des ihnen inhärenten Weltwissens benannt, und nur selten im Hinblick auf ihre Handlungsfunktionen. Konzeptbildung und -organisation ist im Falle von Wegund Reisebeschreibungen mithin wissensdeterminiert. Wir können dies in der Formel
darstellen, wobei (E) das Konzeptetikett bezeichnen soll.
178 Betrachten wir in dieser Perspektive einige weitere Beispiele solcher Konzeptetikettierungen bei der Produktion von Weg- und Reisebeschreibungen. Auch bei der Produktion von Wegbeschreibungen tritt Konzeptbildung nicht nur zu Beginn des Schreibprozesses auf, sondern auch in dessen Verlauf. Auf der Basis eines anfangs gewählten globalen Beschreibungskonzeptes werden mithin Subkonzepte als Grundlage der Beschreibung von Teilwegstrecken gebildet. Subkonzeptualisierung tritt dann auf, wenn relevante Teilelemente des Weltwissens prospektiv fokussiert werden müssen; wenn - mit anderen Worten - vom Schreiber Entscheidungen über mögliche Fortsetzungen des Weges verlangt werden. Oft ist dies an "Wegkreuzungen" der Fall. 31 Textäußerungen
Reflexionen
(13) Vp 7 WBLD Diese Straße trifft auf eine Kreuzung so, jetzt überleg ich, wie's am besten weitergeht. Ja, rechts denk' ich mir, rechts Universitätstrafte, dann, ja, HaspelstraBe, Wilhelmstrafte, nee, Liebigstrafte, Friedrichsplatz, ja.
(14) Vp 6 WBLD Nun wieder geradeaus über eine Kreuzung mit Ampel hinweg hm Pilgrimstein, oh Gott (unv.), Pilgrimstein bis zum Rudolfsplatz, ja, hm, weiter geradeaus Dort ist linker Hand die Elisabethkirche. Dann gehst Du weiter geradeaus bis zur nächsten Kreuzung. Das ist jetzt schwierig, rechts, ja rechts, da kommt ja geradeaus nichts weiter.
Deutlich ist auch in diesen Beispielen die Etikettenfunktion der Straßen- und Richtungsbezeichungen; es werden keine Details des Weges genannt, sondern lediglich markante Bezeichungen für komplexe Informationseinheiten, deren globale Abfolge hier aktualisiert und organisiert wird. Die Komplexität der etikettierten Informationen zeigt sich darin, daß die einzelnen Straßennamen für Auf die Frage, wann im Schreibprozeß Konzeptbildungen auftreten und in welchem Zusammenhang sie mit Oberflächenstrukturen des produzierten Textes stehen, wird später noch ausführlicher eingegangen (vgl. Kap. 6.3.3.).
179 jeweils komplexe Textäußerungen stehen, in denen komplexe propositionale Zusammenhänge in z.T. mehreren Sätzen realisiert werden. So wird aus dem Etikett "rechts Universitätsstraße" die Textäußerung: "Das geht jetzt ein ganzes Stück, vorbei an links McDonalds, rechts ein häßliches silbernes Gebäude, in dem C&A ist. Du gehst weiter geradeaus. Nach ca. 300 m triffst du auf eine FuBgängerampel. Hier mußt du die Universitätsstraße überqueren. "
Die in der Produktion von Reisebeschreibungen erzeugten Konzepte sind zwar anderen Inhalts, sie zeigen jedoch eine den Wegbeschreibungen durchaus ähnliche Struktur. Konzepte haben hier die Form von Ereigniskondensaten, in denen ein zu beschreibender Ereigniszusammenhang benannt wird. Im folgenden Beispiel geschieht dies etwa durch Ausdrücke wie "von der Fahrt", "Nervensäge Robert", "das Wetter" oder "über'n Wettkampf'. (15) Vp 4 Zeitungsart. ahm, ja, was schreib ich als nächstes. Um 9 Uhr harn wir uns getroffen, ach, das is'alles so langweilig, was man da schreibt; das muB irgendwie interessant gemacht werden. Interessiert ja eh kein'. Vielleicht von der Fahrt, ähm, (...), naja, schreib ich halt mal
(16) ja, dann muß ich noch/ weiß nich, ob ich schon mal die Nervensäge Robert erwähne. Nee, das kann ich immer noch machen. Das Wetter, ja genau (Unv.), ja, das Wetter.
(17) gut, ja und; als nächstes muß ich mal irgendwas über'n Wettkampf schreiben; da war der so lächerlich
Beispiel (16) zeigt, daß die Organisation der selegierten Ereignisse nicht unbedingt in der Reihenfolge erfolgt, in der sie aktualisiert werden. Zwar hält sich die Autorin in den meisten Fällen an die natürliche Chronologie des Ereignisablaufes, die damit als mentale Suchanweisung und als Prinzip der Textorganisation zugleich fungiert, in einigen Fällen wird dieses Prinzip jedoch durchbrochen. In die primäre Konzeptrelation der zeitlichen Folge sind mithin sekundäre Relationen eingebettet,32 die sich als Prinzipien der Organisation von Ereignissen und Sachverhalten nach Haupt- und Nebenstrukturen näher beschreiben lassen (vgl. Klein/v. Stutterheim 1987). In diesem Fall sind es offenbar Aspekte des Aufbaus von "Spannung" und der Vorbereitung und Verteilung von Höhepunkten der Beschreibung, die der Konzeptorganisation zugrundeliegen. 32
Die Begriffe Primär- und Sekundärkonzept werden - in einem anderen Sinne - ebenfalls von de Beaugrande/Dressler (1981) verwendet. Sie bezeichnen dort grundlegende Steuerungsbedingungen des Aufbaus von Textkohärenz (im Rezeptionsprozeß) und entsprechen in etwa den aus Kasusgrammatiken bekannten Klassifikationen semantischer Eigenschaften und Relationen ("Handlung", "Zustand", "Eigenschaft von" usw.).
180 Trotz der angedeuteten, eher kommunikativ-pragmatisch bedingten Unterschiede in der Makroplanung von Wegbeschreibungen und Reisebeschreibungen scheinen beide Textarten hinsichtlich der Formen konzeptioneller Planung doch weitgehend identisch. Makroplanung vollzieht sich hier wie dort zunächst als Aktualisierung und Etikettierung von Konzepten, auf deren Grundlage weitere Prozesse der Subkonzeptualisierung stattfinden. Diese Prozesse sind elaborativ und rekursiv: d.h., Konzepte werden durch die mehrfache Anwendung gleichartiger Operationen solange detailliert und organisiert, bis schließlich Segmente formulierbaren Wissens erzeugt werden. Konzeptbildung ist im Falle von Wegund Reisebeschreibungen vornehmlich wissensgesteuert: als planungsrelevanter Selektions- und Kontrollmechanismus fungieren weniger die handlungsfunktional-pragmatischen Komponenten eines Konzeptes, sondern Elemente des ihm inhärenten Weltwissens.
(Beschreib) w (Berlini.) K 1 Ka K
b K2 Kx
Abb. 6.5.:
> K 1 (Anfahrt)' K2(Wettkampf>- K 3. > K a(Wetter)> Kb(Nervensäge Rob.) >
P(schön sonnig)
>
P(Nachwuchsschwimmer Clown) ^x(Zeiten)' ^y(Siegerehrung) >P(....). >
Konzeptorganisation bei Weg- und Reisebeschreibungen
Das Grundprinzip der Konzeptorganisation bei Weg- und Reisebeschreibungen läßt sich als Folge konzeptueller Produktionsregeln darstellen, durch die aus etikettierten Konzepten sukzessive Formulierungseinheiten, d.h. Segmente formulierbaren Wissens, erzeugt werden. Am Beispiel "Berlinfahrt" ist das Prinzip einer solchen Konzeptorganisation vereinfacht dargestellt, (p) bezeichnet hier Propositionen als Elemente formulierbaren Wissens (Abb. 6.5.). 6.3.2.4. Konzepte von Geschäftsbriefen Betrachten wir jetzt die Formen der konzeptuellen Planung bei der Produktion von Geschäftsbriefen, die eine Beschwerde zum Gegenstand haben. Im Unterschied zu Wegbeschreibungen und Reisebeschreibungen ist für die Textart Beschwerde charakteristisch, daß sie verschiedenartige Handlungsformen beschreibender, argumentativer oder auch appellativer Art enthält. Diese Handlungsformen stehen in komplexen hierarchischen Relationen zueinander. So muß ein zu reklamierender Sachverhalt zunächst dargestellt werden, ein Mangel fest-
181 gestellt und eine Konsequenz angedroht oder gezogen und begründet werden. In dieser Konsequenz besteht das generelle Ziel der Handlung Beschwerde. Alle anderen Texthandlungen haben demgegenüber subsidiäre Funktionen (vgl. Brandt/Koch/Motsch/Rosengren/Viehweger 1983; Viehweger 1990). Diese hier nur skizzierte komplexe hierarchische Struktur von Zielen und Teilzielen bzw. entsprechender Texthandlungen erklärt, warum in der Produktion von Beschwerdebriefen schreibrelevantes Wissen vermehrt unter dem Aspekt seiner spezifischen Handlungsfunktionen organisiert werden muß. In den Reflexionen der Schreiber reklamierender Geschäftsbriefe finden sich entsprechend häufig Überlegungen, die sich auf die Organisation des intendierten Textes als eines Handlungszusammenhanges beziehen.
(18) Vp 7 GBLD so, das war der erste Bereich; der zweite is, daB nach drei Wochen der Schlauch defekt war, n'en neuer Schlauch, wo man erwarten kann, daB diese Arbeit auf Kulanz ausgeführt wird. Oder nur Schilderung des Sachverhalts, die Reparatur in Rechnung gestellt wurde und die Beschwerde anschließend, im dritten Schritt, daB man erwarten kann, daB sowas auf Kulanz, ahm, gemacht wird: Okay, Schilderung also, was weiter vorgefallen ist; kaputtgehen und Reparatur auf Rechnung.
(19) Vp 7 GBLD Jetzt kommt das eigentliche Anliegen, die Beschwerde: die Beschwerde darüber, daB n'en neuer Schlauch länger halten muß als frei Wochen, infoiglieli dessen nich' unser Problem is, daB Defekte auftraten (...)
(20) Vp 7 GBLD Jetzt fehlt im Grunde noch die Ebene, Druck zu machen. Das heißt, daß se einerseits moralisch 'ne gute Firma sind, als den Kunden verpflichtete Firma darzustellen bzw. an sie zu appellieren·, zweitens, ahm, damit zu drohen, diese Erfahrung weiter zu erzählen, weiter zu verbreiten; und drittens, die zu erwähnen, daß die Rechnung nicht bezahlt wird. Vielleicht drittens zuerst, die im Rahmen der Kulanzbeziehung der Garantie zu reparieren sind.
(21) Vp 7 GBLD so, der moralische Appell. Wie bau ich das jetzt auf? Womöglich, daB ich bisher zufrieden war mit der Arbeit dieser Finna. ((räuspem//stöhnt)) wie fang ich denn an?
Die Reflexionen bei der Produktion reklamierender Geschäftsbriefe beziehen sich vornehmlich auf die Organisation des Textproduktionsprozesses als eine
182 Folge kommunikativer Handlungen, denen Elemente deklarativen Wissens zugeordnet sind. Diese Handlungen stehen nicht in einem natürlichen Zusammenhang untereinander, sondern sie sind hierarchisch organisiert: ihre Organisation ist von handlungsfunktionalen und z.T. konventionalisierten Handlungsmustern determiniert. Idealtypisch läßt sich die in Reflexionen repräsentierte Struktur einer Beschwerde wie in Abb. 6.6. darstellen. Zur Veranschaulichung werden die Elemente des "Weltwissens" durch paraphrasierte Textformulierungen repräsentiert.
Abb. 6.6.:
Schema einer Beschwerde
183
Vor dem Hintergrund dieses idealtypischen Schemas wird deutlich, daß für die Produktion von Geschäftsbriefen die illokutive Komponente von Konzepten eine ungleich zentralere Rolle spielt, als es bei Weg- bzw. Reisebeschreibungen der Fall ist. Konzepte werden primär unter dem Aspekt ihrer jeweiligen pragmatischen Funktionen und Relationen aktualisiert, etikettiert und organisiert. Für Geschäftsbriefe gilt mithin
(E)K(R)A)=I(W)
Geschäftsbriefe als hierarchische Gefüge kommunikativer Handlungen erfordern spezifische Strategien der Erzeugung und Organisation von Konzepten bzw. konzeptuellen Strukturen. Denn im Gegensatz zu Weg- und Reisebeschreibungen ist hier eine konzeptuelle Ordnung weit weniger festgelegt, d.h., sie folgt nicht natürlichen Ordnungsprinzipien von Zeit oder Raum, sondern internen Prinzipien der Organisation mehr oder weniger konventionalisierter Handlungsmuster. Das Handlungmuster "Beschwerde" enthält zudem Konzeptrelationen unterschiedlichen Typs, die miteinander verknüpft werden müssen: temporale Beziehungen ("Schilderung") spielen hier ebenso eine Rolle wie konsekutive ("Beschwerde - > Konsequenz") oder kausale Relationen ("Konsequenz - > Begründung").33 Schließlich ist für konventionalisierte Muster generell charakteristisch, daß sie relativ universell einsetzbar sind und deshalb nur sehr allgemeine Beziehungen zwischen einzelnen Handlungsfunktionen und zugeordenten Beständen deklarativen Wissens repräsentieren. Konzepte wie "Beschweren" und insbesondere Subkonzepte wie "Schildern" oder "Begründen" können sich zwar nicht auf alle, aber doch auf sehr viele Tatbestände und Sachverhalte beziehen, sie repräsentieren deshalb nicht im gleichen Maße spezifisches Weltwissen wie etwa das Konzept "Berlinfahrt" oder "Weg durch die Stadt Marburg". 34 Diese Komplexität der konzeptuellen Struktur von Geschäftsbriefen und die allgemeinen Bedingungen von Handlungsmustern erfordern insofern einen er33
34
Gemeint sind hier Relationen zwischen (kognitiven) Konzepten, nicht grammatische oder textuelle Beziehungen in bzw. zwischen Sätzen. Auf der Textoberfläche zeigt sich die Verschiedenartigkeit solcher Relationen darin, daß komplexere Textarten wie etwa Beschwerden auch den Einsatz vielfältigerer textkohäsiver Mittel erfordern, einfache Textarten wie Wegbeschreibungen sich hingegen durch das repetitive Auftreten beschränkter Mittel auszeichnen. Handlungsmuster zielen darüber hinaus primär auf die Organisation kooperativen Handelns und weniger auf die Organisation individuell-kognitiver Prozesse. Denn Handlungsmuster sind gerade dort notwendig, wo Kooperativität durch die Struktur des je individuellen "Denkens" nicht gewährleistet ist: sie ermöglichen gemeinsames Handeln gleichsam dann, wenn es - unter individuell-kognitiven Gesichtspunkten - schwer einsehbar oder gar sinnlos erscheinen würde. Ein Beispiel ist hier die Kooperation von Jäger und Treiber, die A.N. Leontjev (1973) als Paradigma für die Phylogenese kooperativer Arbeit anführt. "Treiben" hat nur im Zusammenhang des Handlungsmusters "gemeinsame Jagd" einen Sinn, in "isolierter", individuell-kognitiver Perspektive ist es sinnlos bzw. als "Vertreiben" das Gegenteil von "Jagen".
184 höhten Aufwand an konzeptueller Organisation. Empirisch manifestiert sich dies darin, daß Aktivitäten der Konzeptorganisation vom Prozeß der Konzepterzeugung zum Teil abgelöst werden. Für die Schreiber von Geschäftsbriefen ist charakteristisch, daß Konzepte zunächst aktualisiert und, in einem zweiten Schritt, reorganisiert werden, d.h., sie werden auf die spezifischen Bedingungen und Zwecke des jeweils verfolgten Handlungsmusters zugeschnitten. Eine basale Form der Reorganisation besteht in der Modifikation der Folgebeziehungen handlungsbasierter Konzepte. Diese Konzepte werden zumeist nicht in der Reihenfolge (weiter)verarbeitet, in der sie im Textproduktionsprozeß aktualisiert werden, ihre Beziehungen untereinander werden vielmehr im Verlauf des Produktionsprozesses in einer anderen Folge als der ihres Auftretens im Produktionsprozeß organisiert (vgl. Beispiele 20). Der Grund für die Notwendigkeit der Reorganisation liegt zumeist darin, daß hierarchisch höhere Konzepte zwar zuerst aktualisiert werden, diese hierarchische Dominanz aber nicht der linearen Folge entspricht, die die Realisierung eines Handlungsmusters konventionell erfordert. Im Falle von Beschwerden ist es z.B. nicht möglich (oder zumindest unüblich), das Konzept "Konsequenz" zuerst zu verarbeiten, obwohl es vielen Schreibern als erstes einfällt.35 Das Handlungsmuster "Reklamieren" erfordert vielmehr, daß zunächst subsidiäre Handlungsfunktionen wie etwa die "Schilderung des Tatbestandes" oder die "Beschwerde" realisiert werden müssen, um sinnvoll eine "Konsequenz" androhen zu können. Die Notwendigkeit der Reorganisation betrifft dabei nicht nur formale konzeptuelle Folgebeziehungen, sondern vor allem auch deren hierarchische Verknüpfung als Handlungen und Aussagen. Die konzeptuelle Organisation einer Beschwerde erfordert mithin, daß die unterschiedlichen funktionalen Beziehungen zwischen Konzepten im Produktionsprozeß sukzessive verarbeitet und als funktionale Relationen eines Textes linear dargestellt werden. 35 Daß hierarchisch höhere Konzepte zumeist zuerst aktualisiert werden, läflt sich daraus erklären, daß sie auch die Informationskomplexe mit der höchsten individuell-emotionalen Wertigkeit ("salience") repräsentieren. In den untersuchten Reflexionen bei der Produktion reklamierender Geschäftsbriefe äußert sich dies als "Arger über eine ungerechtfertigte Rechnung" und als "Unwille, sie zu bezahlen". Konzepte mit Informationen geringerer Wertigkeit wie etwa die "Schilderung des Sachverhaltes" u.ä. treten in der Regel später auf. Konzeptreorganisation läßt sich in dieser Perspektive auch als Organisation individuell-kognitiven und emotionalen Geschehens in gesellschaftlich konventionalisierten Formen auffassen. Textvermittelte Kommunikation steht insofern im Gegensatz zur mündlichen Kommunikation, in der Spontaneität und Emotionalität meist zugelassen und oft sogar erwünscht ist. Green/Wason (1982) plädieren allerdings dafür, bei der Modellierung von Schreibprozessen die affektiven Aspekte des Schreibens stärker zu berücksichtigen, als dies in den einschlägigen kognitiven Konzepten der Fall ist. "It is our assumption that two ways of regarding the world and ourselves are a condition for such writing: openness and trust. By openness we mean a freedom of access to our own thoughts and feelings, and by trust we mean the toleration of this aspect of ourselves on paper. Openness relates to the process of generating ideas, and trust to the process of translating them into words. These attitudes control the cognitive component. When both are positive we have the necessary, but not sufficient, conditions for happy writing" (Green/Wason 1982, 51). Zum Thema "Sprache und Affekt" vgl. allgemein und ausführlich auch Fiehler (1990) sowie das Themenheft von TEXT "The pragmatics of affect" (9/l;1989).
185
Produktionsprozeß Kl
> K2
— Hann
T1
> K3 Hann
> T2 dann
> T3 dann
Textorganisation Abb. 6.7.:
Lineare Konzeptorganisation bei Weg- und Reisebeschreibungen
Produktionsprozeß Kl
-
> K2
Reorg.
Γ
> K2
K3
Vorauss. für K2/K3
Textorg.
T1
Abb. 6.8. :
> ....
| Voraussetzung für
1
> Kl aufgrund von K3
> T2 (Schilderung)
> K3 aufgrund von
Folge von
> T3 (Beschwerde)
>
....
Folge von K2/K3
> (Konsequenz)
Konzeptreorganisation bei Geschäftsbriefen
In den Abbildungen 6.7. und 6.8. ist das Prinzip der Konzeptorganisation bei Weg-/Reisebeschreibungen und Geschäftsbriefen noch einmal vereinfacht dargestellt. Die Schemata stellen die Spezifik der Konzeptorganisation bei Weg- und Reisebeschreibungen und Geschäftsbriefen vereinfachend dar. Tl, T2 usw. sollen hier Texteinheiten bezeichnen, d.h. globale pragmatische oder semantische Einheiten des schließlich produzierten Textes.
186
6.3.3. Makroplanung und die Struktur des Produktionsprozesses Die Analyse von Weg- und Reisebeschreibungen sowie Geschäftsbriefen hat gezeigt, daß Konzepte zentrale Einheiten der Makroplanung bilden. Sie steuern die Aktualisierung, Selektion und Organisation deklarativen und pragmatischen Wissens in doppelter Weise: einerseits sind sie auf die spezifischen Erfordernisse der Schreibaufgabe bezogene, temporäre Repräsentationsformen dieses Wissens, zugleich aber sind sie auch Steuerungsmittel für die Organisation des Textherstellungsprozesses. Bislang wurden Konzepte primär hinsichtlich ihrer repräsentativen Funktionen als Bestandteile von globalen Schreibplänen betrachtet, die gleichsam kognitive Voraussetzungen für Formulierungsaktivitäten liefern. Im Vordergrund der folgenden Überlegungen soll nun der prozedurale Aspekt von Aktivitäten der Makroplanung stehen - die Frage danach, in welcher Weise Aktivitäten der Makroplanung in den Gesamtprozeß textproduzierenden Handelns eingebettet sind und ihn strukturieren. Ein Ergebnis der Analyse von Schreibprozessen der Textart "Zusammenfassung" war, daß relevante Teile konzeptueller Planung sich hier (und wohl auch bei anderen komplexen Textarten) als formal und inhaltlich eigenständige Aktivitäten manifestieren, die dem Formulierungsprozeß vorgeordnet sind. Bei den untersuchten einfachen Textarten war dies nicht der Fall. Makroplanung ist hier auf eine zunächst nur schwer zu ermittelnde Weise in den Gesamtzusammenhang der Textherstellung inkorporiert, Konzeptbildung und -organisation vollziehen sich gleichsam während des Schreibens, ohne daß die Spezifik der verschiedenartigen Aktivitäten, ihre zeitlichen Folgebeziehungen oder ihr funktionaler Zusammenhang erkennbar sind. Dieses Fehlen vor allem eindeutig linearer Folgebeziehungen wird in den einschlägigen Modellen des Schreibprozesses als konstitutives Merkmal des Schreibens konzeptualisiert (vgl. Kap. 2). Das Ausmaß, in dem diese modelltheoretischen Postulate im Rahmen der Schreibforschung erwähnt und wohl auch akzeptiert werden, steht allerdings in keinem Verhältnis zum Stand ihrer empirischen Untersuchung. Zwar existieren einige wenige Versuche, über die Analyse von Schreibpausen grundlegende Beziehungen einzelner Aktivitätsformen im Schreibprozeß zu ermitteln, die Ergebnisse sind allerdings widersprüchlich. Wir haben in der Analyse von Realzeitverläufen einige der Untersuchungen vorgestellt und können nun - in veränderter Perspektive - daran anknüpfen. Denn die Frage nach der Rolle von konzeptuellen Planungsaktivitäten im Schreibprozeß läßt sich zunächst als empirische Frage danach stellen, wo solche Aktivitäten auftreten und in welchem Zusammenhang sie mit Folgeaktivitäten stehen. Eines der Ergebnisse der Analyse von Realzeitverläufen bestand in der Unterscheidung einfacher und komplexer Pausen. Komplexe Pausen zeichnen sich dadurch aus, daß sie zumeist an Absatz- oder Satzgrenzen auftreten, verhältnismäßig lang sind und in ihnen die Aufmerksamkeitsorientierung des Schreibenden meist mehrfach wechselt. Vorläufig wurde daraus geschlossen, daß solche Pausen auf komplexe Planungsaktivitäten sowohl globaler als auch lokaler Art hinweisen. In der Tat zeigt eine Analyse der Verteilung von Reflexionen, daß sie zwar vielfach in komplexen Pausen auftreten (Beisp. 22-24), daß aber ander-
187
seits nicht jede syntaktische Grenze mit einer komplexen Pause bzw. mit konzeptuellen Reflexionen verbunden ist (Beisp. 25). In den folgenden Beispielen ist die Pausenlänge in Sekunden angegeben. Textäußerungen
Reflexionen
(22) Vp 8 WB Dann links, den Krummbogen entlang, an der Araltankstelle vorbei. (28) verdammt, jetzt kommen da die Kurven Ungefähr 100 m weiter kommt eine scharfe Linkskurve. Da gehst du rechts Richtung Uni...
(23) Vp 4 Zeitung Hierzu braucht nicht mehr viel gesagt zu werden, außer, daß sich eine zweite Informationsquelle hinzugesellte - in Form eines wandelnden Witzbuches, das leider manchmal recht schwer abzustellen war (nur von Insidern zu verstehen). (43) gut, ja und; als nächstes muß ich mal irgendwas über'η Wettkampf schreiben, da war der so lächerlich (+Vorform) Nach dem Mittagessen in den Familien traf man sich um 15.15 am Schwimmbad, tun den eigentlichen Anlaß dieser Fahrt, dem Wettkampf (teilnehmende Vereine Leonberg, Marburg, Neukölln) beizuwohnen.
(24) Vp 7 GB Aus diesem Grunde verweigere ich die Zahlung der Rechnung und bezweifle ihre Rechtmäßigkeit. (61) so, der moralische Appell. Wie bau ich das jetzt auf? Womöglich, daß ich bisher zufrieden war mit der Arbeit dieser Firma. (( räuspern// stöhnt)) wie fang ich denn an?
188
Textäußerungen
Reflexionen
Bisher hat Ihre Firma die bei uns anfallenden Arbeiten zu unserer größten Zufriedenheit erfüllt (6).
(25) Vp 7 WB Dann die Straße (2,5) weitergehen in Richtung Innenstadt (8,5). Diese "Bahnhofstraße" (8) biegt nach ca. 500 (2,5) m nach links (10). So mußt du auch laufen (5). Links liegt die (5,5) Elisabethkirche (14), etwas weiter rechts (2,5) geht es (4) hoch in die Oberstadt (4) - "Steinweg" (3,5). Du mußt aber immer geradeaus (1) gehen (3). Die Straße heißt jetzt "Pilgrim stein" (1,5) und die fühlt (3) an der Frauenklinik (2,5) und dem (1) Botanischen Garten vorbei...
Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß konzeptuelle Planung nicht mit der Planung nächster Sätze identisch ist. Weder die Handlungsfunktionen von Konzepten noch deren jeweiliger Gehalt deklarativen Wissens sind derart, daB sie die Realisierung in Form einer syntaktisch gebundenen Form implizieren. Phasen der Konzeptbildung und -organisation treten zwar vornehmlich an syntaktischen Grenzen auf, Konzepte sind jedoch im Normalfall weitreichender als die jeweils mit einem Satz verbundenen pragmatischen Funktionen oder propositionalen Gehalte. Was aber ist dann ein Konzept als Produktionseinheit? Oder, anders gefragt: gibt es unterhalb der Einheit des Gesamttextes weitere Texteinheiten, die sich als Manifestationen von Konzepten auffassen lassen, etwa in dem Sinne, daß ihrer Produktion ein abgrenzbares Teilkonzept zugrundeliegt? Zur Klärung dieser Frage ist es sinnvoll, die im Produktionsprozeß auftretenden Konzeptwechsel und -änderungen und ihren Bezug zu Texteinheiten näher zu betrachten. Wegbeschreibungen zeichnen sich dadurch aus, daß sich konzeptuelle Planung nur recht selten in Form von Reflexionen manifestiert. Wenn solche Reflexionen auftreten, dann dort, wo im Verlaufe der Beschreibung relevante Änderungen der räumlichen Orientierung notwendig sind. Dies ist z.B. an Wegkreuzungen der Fall, an denen Entscheidungen über Richtungsänderungen gefällt werden müssen. Schreiber aktualisieren oder formulieren in diesem Fall zumeist nicht nur den räumlich nächsten Beschreibungspunkt, sondern ein Konzept für eine längere Teilstrecke, die sich durch ein Merkmal auszeichnet: sie führt, gegenüber der vorher beschriebenen Teilstrecke, in eine andere Richtung und macht insofern eine Richtungsänderung erforderlich. Diesen Zusammenhang von Richtungsänderungen und konzeptuellen Überlegungen der Schreiber
189 verdeutlicht die folgende vereinfachte Skizze des von den Vpn beschriebenen Weges vom "Bahnhof" zum "Friedrichsplatz" (Abb. 6.9.). Die Punkte der Wegstrecke, an denen fast alle konzeptuellen Überlegungen auftreten, sind durch einen Kreis markiert (vgl. auch das Beispiel 13).
Abb. 6.9.:
Wegskizze Bahnhof - Friedrichsplatz
Im Falle von Wegbeschreibungen besteht die Einheit eines Konzeptes in den allermeisten Fällen in der Einheit der räumlichen (Richtungs-)-orientierung. Einzelne Beschreibungshandlungen erfolgen dann vor dem Hintergrund einer einheitlichen konzeptuellen Orientierung und können solange relativ flüssig produziert werden, bis ein erneuter Konzeptwechsel erforderlich wird. In ähnlicher Weise fungieren Konzepte als Produktionseinheiten bei Reisebeschreibungen. Konzeptuelle Planung tritt hier vor allem dann auf, wenn im Schreibverlauf Ereigniswechsel stattfinden, sich Ort, Zeit, Handlungsträger oder Handlungsmodalitäten der beschriebenen Ereignisse ändern. So soll in Beispiel
190
(26) eine neue Person ("Nervensäge Robert") eingeführt werden, in Beispiel (27) entsteht die Pause von 34 Sek. durch die geplante Beschreibung eines Teilereignisses ("kaltes Büfett"), die Pause von 88 Sek. durch den von der Autorin geplanten Wechsel von Handlungsort und Handlungsmodalitäten: der Beschreibung der "Siegerehrung" soll eine Schilderung von "Problemen" folgen, die sich am Ende dieses Ereignisses ergaben. Bemerkenswert an diesem Konzeptwechsel ist, daß das geplante Konzept ("das Problem mit dem in die Stadt gehen") zwar in einer komplexen Satzpause aktualisiert wird, diese Satzpause jedoch nicht exakt die Grenze des Ereigniswechsels markiert. Dieser erfolgt erst, nachdem die Beschreibung des Ereignisses "kaltes Büffett" abgeschlossen wurde ("wir schlugen uns also dementsprechend die Bäuche ...").
Textäußerungen
Reflexionen
(26) Vp 4 Zeitungsart. Des weiteren wurde wie üblich Doppelkopf und Mäxchen gespielt (85) ja, dann muß ich noch/ weiß nich, ob ich schon mal die Nervensäge Robert erwähne; nee, das kann ich immer noch machen; das Wetter, ja genau, ja das Wetter (+Vorform) Das Wetter war mal wieder äußerst optimismuserregend, man kam sich, besonders auf der Transitstrecke vor, als führe man in Skiurlaub ...
(27) Direkt im AnschluB daran waren wir zu einer Fete samt Siegerehrung im Vereinshaus der Neuköllner eingeladen. (34) (+Nachlesen) außer der Siegerehrung bestand diese Fete hauptsächlich aus einem Freßgelage, ja nee, man muß ja nicht so negativ schreiben Hauptattraktion war hier sicherlich das kalte Büfett, wo es von süß, sauer bis salzig einfach alles gab, was das Herz begehrt. (88) (+Vorform) nee, nich' immer trotzdem, das nervt; genau, das Problem mit dem in die Stadt gehen (+Vorform)
191 Textäußerungen
Reflexionen
Wir schlugen uns also dementsprechend die Bäuche voll, bis die lekkersten Sachen alle waren; sodann tauchten einige Probleme auf, die den weiteren Ablauf des Abends betrafen...
In Geschäftsbriefen betrifft ein Großteil der konzeptionellen Planung die Organisation sprachlicher Handlungen. Konzeptuelle Überlegungen finden sich entsprechend dann, wenn im Produktionsverlauf Handlungswechsel auftreten. Im folgenden Beispiel sind dies Wechsel zwischen "Schilderung", "Beschwerde" und "Drohung/Appell". Innnerhalb dieser konzeptuellen Segmente treten zwar ebenfalls Pausen mit Reflexionen auf, diese sind jedoch vergleichsweise kürzer und stehen in Zusammenhang mit Formulierungsproblemen. (28) Vp 7 GB Textäußerungen
Reflexionen
Jedoch wurden uns Material und Arbeitskosten berechnet. (77) Absatz; jetzt kommt das eigentliche Anliegen, die Beschwerde; die Beschwerde darüber, daB n'neuer Schlauch länger halten muB als drei Wochen, infoiglieli dessen nich'unser Problem is', daß Defekte auftraten, sondern entweder 'n Materialfehler vorlag; auf jeden Fall das im Rahmen der Kulanz gelöst werden muß (stöhnt) tschu tschu (+Nachlesen) Dieses Verhalten ihrer Firma geht in keiner Weise in Ordnung. (17) das gefällt mir nicht (+Korr); warum geht das nicht in Ordnung? Von neuem Material kann ich erwarten, daB es (15) was weiß ich Jahre, Halbjahre (+Vorform)
Monate,
über Jahre hinweg seinen Dienst tut. (19,5) welches Verhalten? ( + Nachlesen); jedoch wurden Material und Abeitskosten berechnet muß eindeutiger gemacht werden (+Vor-
192 Textäußerungen
Reflexionen form + Korr + Nachlesen); das is' eindeutig, okay; was war das Problem?
Treten jedoch nach drei Wochen Defekte auf, so handelt es sich hierbei um Materialfehler, die im Rahmen der Kulanz bzw. Garantie zu reparieren sind. (81) (stöhnt) jetzt fehlt im Grunde noch die Ebene Druck zu machen; dasheiflt...
Handlungswechsel sind als Strukturprinzipien des Produktionsprozesses zwar typisch fiir die argumentative Textart Geschäfts- bzw. Beschwerdebrief, dies heißt jedoch nicht, daß sie nicht auch in den anderen der hier beschriebenen Textarten aufträten. Deutlich wird dies etwa an Wegbeschreibungen, die in vielen Fällen mit einer Ankündigung abgeschlossen werden und in denen insofern ein Wechsel von "Beschreibung" zu "Ankündigung" notwendig ist. Obwohl die Ankündigung zumeist aus einer relativ kurzen, stereotypen und insofern vermeintlich leicht und flüssig zu produzierenden Äußerung besteht, treten zwischen Beschreibung und Ankündigung unverhältnismäßig lange Pausen auf - in den unten angeführten Beispielen immerhin 15 bzw. 31 Sekunden. Obwohl in solchen Pausen keine Reflexionen auftreten, läßt sich vermuten, daß auch hier der Wechsel der konzeptuellen Orientierung für das Ausmaß der zeitlichen Verzögerungen zumindest mitverantwortlich ist. Textäußerungen (29) Vp 8 WB Wenn du diese Straße (4) immer geradeaus (13) weitergehst (1), kommst du direkt auf den Friedrichsplatz. (15) Da warte ich auf dich.
(30) Vp 6 WB Ich weiB es leider nicht genau. (31) Dieser Platz ist der Friedrichsplatz, wo ich dich erwarte.
Halten wir als vorläufiges Ergebnis der Analyse dieser wenigen Beispiele fest, daß konzeptuelle Planung weitgehend an Konzeptgrenzen stattfindet, d.h. dann, wenn im Verlauf des Textproduktionsprozesses von einer, jeweils textartspezi-
193 fisch zu bestimmenden konzeptuellen Einheit zu einer anderen Einheit gewechselt werden muß.
Text
Zeit
KU
Textkonzept
Komplex· Peuae r~
K1
K1.2
Komplex« K2.1
K2 Κ 2.2
Y Texteinheit
Text
AbetU
Seti
werter
Abb. 6.10. : Konzeptuelle Planung und Realzeitverlauf
Solche Konzeptgrenzen fallen oft mit den Grenzen zwischen Sätzen (oder Absätzen) zusammen (komplexen Pausen), gleichwohl ist die Einheit eines Konzeptes nicht mit der Einheit eines Satzes (oder Absatzes) identisch. Konzepteinheiten manifestieren sich vielmehr in der kognitiven Architektonik von Texten, der formale Einheiten der Textoberfläche entsprechen können, aber nicht müssen. Abbildung 6.10. versucht diesen Zusammenhang zwischen konzeptueller Planung, Produktionsverlauf und textuell zu bestimmenden Segmenten noch einmal zu illustrieren. (K) sind Konzepte bzw. Subkonzepte, (FE) sind einzelne Formulierungseinheiten (Sätze, Phrasen, Wörter), wie sie im Kap. 5 näher analysiert wurden. Daß Sätze als syntaktische oder semantische Einheiten nicht mit Konzepten identisch sind, haben wir an Beispielen belegt. Wie aber sieht es mit Absätzen aus: den Texteinheiten, zwischen denen die mit Abstand längsten komplexen Pausen auftreten, und die wir oben gleichsam stillschweigend (deshalb geklammert) in die Argumentation einbezogen haben? Sind Absätze die textuellen Äquivalente von Konzepten? Ist, wie Liebsch (1977) vermutet, der Absatz eine
194 gleichermaßen kompositorische Einheit der Produktion und formal-architektonische Einheit des Textes? Betrachten wir abschließend ein Beispiel, das weniger zur Klärung dieser Fragen beitragen soll als zu Illustration des Problems.
(31) Vp 10 Zsf Stichworte/Konzepte 1.
Einleitung/Problemaufriß: Beschäftigung mit dem Phänomen Abschwächung von Äußerungen im kommunikativen Handeln von Therapeuten in der klientenzentrierten Gesprächstherapie (GT)
Aufgabe der Untersuchung: Beschreibung der Komponenten und Prozesse, die Eindruck der Abgeschwächtheit einer Äußerung entstehen lassen und Untersuchung der interaktiven Funktion in der GT Abgrenzung von "sprachsystematischer" Herangehensweise Text: In dem Text "Zur Interpretation und interaktiven Funktion von Abschwächung in Therapiegesprächen" beschäftigen sich die Autoren mit dem Phänomen der "Abschwächung" von Äußerungen im kommunikativen Handeln von Therapeuten in der klientenzentrierten Gesprächstherapie (GT) (1). Unter "Abschwächung" wird dabei eine Äußerung verstanden, die im Gegensatz zur "Verschärfung" relativ zu einer hypothetischen, weniger abgeschwächten Variante der Äußerung schwächere Oligationen aufbaut (2). Ziel der Untersuchung ist die Beschreibung von Interpretations- und Interaktionsmodellen der "Abschwächung" (3). Dabei ist die Herangehensweise der Autoren methodisch von einer Abgrenzung zur Untersuchung von Abtönungs- und Gradpartikeln bzgl. ihrer kommunikativen Funktion gekennzeichnet (4).
Deutlich wird in diesem Beispiel, daß die insgesamt drei fraktionierten Konzeptelemente der Stichwortnotizen als identifizierbare Bedeutungseinheiten des Textes (1), (3) und (4) auftreten, die jedoch sprachlich in einem Absatz integriert sind. 36 Solche Bedeutungseinheiten sollen - in Absetzung zu formal-graphisch bestimmbaren Absätzen - Paragraphen genannt werden.37 Über die Entschei-
36
37
Mit (2) ("Unter Abschwächung wird dabei eine Äußerung verstanden...") enthält der Absatz einen zusätzlichen Paragraphen, der in der konzeptuellen Planung nicht auftritt. Ich gehe darauf sowie auf die hier verwendeten textkohäsiven Mittel nicht ein. Der "Absatz" bzw. - in der anglo-amerikanischen Forschung - der "paragraph" gehört zu denjenigen Texteinheiten, die bislang von der Textlinguistik nur wenig beachtet wurden. Anätze finden sich etwa bei Hinds (1979) und Longacre (1979); erste, auch produktionsbezogene Überlegungen in der schon erwähnten Arbeit von Liebsch (1977) sowie in de Beaugrande (1984). Zum Zusammenhang zwischen Textproduktion, Textstrukturen und Textrezeption vgl. insbesondere Keseling (1992), der dieser Fragestellung am Beispiel von Pausen-
195 dung der Autorin, die verschiedenen Paragraphen zu einem Absatz zusammenzufassen, läßt sich hier nur spekulieren: Sie ist vermutlich in textmusterspezifischen Überlegungen begründet; auch mögen Aspekte der konzeptuellen Hierarchie, der "Gewichtung" einzelner Paragraphen oder des individuellen Stils eine Rolle gespielt haben. Offensichtlich ist allerdings, daß Formen der Handlungsstruktur des Produktionsprozesses sich zwar nicht unmittelbar in der formalen (Absatz)-Architektonik des Textes, wohl aber in seiner Paragraphenstruktur wiederfìnden lassen und darüber hinaus auch für die Textrezeption wirksam werden. Wirksam insofern, als sie dem Leser die Textrezeption nicht nur als Kenntnisnahme eines Handlungsergebnisses erscheinen lassen, sondern als produktiver Nachvollzug der (mentalen) Handlungen, die zur Entstehung eines Textes geführt haben.
6.4. Zusammenfassung Versuchen wir abschließend, die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung von Prozessen der Makroplanung beim Schreiben noch einmal zusammenzufassen. Ausgangspunkt der Analyse war zunächst eine Beschreibung der "äußeren" Handlungsorganisation bei der Produktion einer komplexen Textart. Bereits dabei wurde deutlich, daß das Schreiben von "Zusammenfassungen" ein komplexer Handlungsprozeß ist, der aus verschiedenen Phasen mit z.T. verschachtelten Aktivitäten der Textrezeption und der Textproduktion besteht. Minimale Schreibaktivitäten wie die Produktion von Unterstreichungen, Randnotizen oder Stichwörtern lassen sich sowohl als rezeptionsbegleitende Formen des Schreibens als auch als Vorarbeiten und Zwischenprodukte der intendierten Schreibhandlung auffassen. Eine genauere Analyse zeigte, daß Unterstreichungen/Randnotizen und Stichwörter nach durchaus ähnlichen Prinzipien organisiert sind. Ihre zentrale Funktion besteht in der Transformation einer zunächst linearen Primärtextstruktur in eine multidimensionale Informationsstruktur, in der Relationen von Informationstypen und deren Beziehungen untereinander repräsentiert sind. Im Falle von Unterstreichungen/Randnotizen sind die Aktivitäten der Informationsorganisation noch relativ einfach: sie bestehen in der Identifizierung und Zuordnung von Primärtextpropositionen und ihren pragmatischen Makrofunktionen. Im Falle von Stichwörtern wird diese Informationsstruktur durch räumliche Zuordnungen, markierte Leerstellen und explizitere Relationierungen angereichert. Stichwörter lassen sich insofern als Textmodelle auffassen, die sowohl zentrale Elemente der intendierten Textorganisation repräsentieren als auch Hinweise auf Formen der Handlungsorganisation des geplanten Schreibprozesses enthalten. Die Möglichkeiten der Entwicklung derartiger Textmodelle sind allerdings in starkem Maße von individuellen Strategien determiniert. Eher primärtextorientierte (datengeleitete) Strategien des Zusammenfas-
stmkturen und intonatorischen Phänomenen beim Schreiben, Sprechen und Lesen von Texten nachgeht.
196 sens sind typisch für "unsichere" Schreiber, mehr zieltextorientierte (schemageleitete) Strategien mit hohem Reorganisationsaufwand scheinen hingegen mehr "Wissen" und "Routine" vorauszusetzen und sind eher typisch für "Experten". Ein weiterer Analyseschritt galt der Frage, ob sich die bei "Zusammenfassungen" beobachteten Prinzipien exothetisierter Planung auch für jene Schreibprozesse nachweisen lassen, in denen Planung sich rein mental und hauptsächlich im Verlauf des Formulierungsprozesses vollzieht. Methodisch wurde dabei auf die Analyse spezifischer Äußerungsformen in Protokollen lauten Denkens zurückgegriffen. In der Untersuchung von "Reflexionen" als Indikatoren für Aktivitäten der Makroplanung erwies sich, daß die internen Strukturen von Reflexionen denen von Unterstreichungen/Randnotizen bzw. Stichwörtern ähnlich sind: Reflexionen repäsentieren nicht nur Elemente des jeweils aufgabenspezifisch zu prozedierenden Weltwissens, sondern zugleich auch Markierungen der pragmatischen Funktionen dieses Wissens. Dieses handlungsfunktional präfigurierte Wissen hatten wir konzeptuelles Wissen genannt, seine abgrenzbaren Einheiten "Konzepte". Als temporär im Produktionsprozeß gebildete und benannte (etikettierte) Einheiten inhaltlichen und pragmatischen Wissens bilden Konzepte die Grundelemente der Makroplanung. Am Beispiel von Wegbeschreibungen, einem Reisebericht und Geschäftsbriefen wurden einige Konzepttypen und Konzeptrelationen näher beschrieben. Konzeptuelle Planung bei der Produktion von Wegbeschreibungen und Reiseberichten ist primär durch die konzeptinhärenten Strukturen des Weltwissens bestimmt, die Konzeptorganisation ist entsprechend linear. Im Gegensatz dazu werden Konzepte bei der Produktion von Geschäftsbriefen primär unter dem Aspekt ihrer internen pragmatischen Funktionen gebildet und organisiert. Die Konzeptorganisation ist insofern hierarchisch und setzt einen höheren Grad an Reorganisationsaufwand voraus. Jeweils texartspezifisch zu bestimmende konzeptuelle Einheiten sind zugleich auch die zentralen, im realzeitlichen Schreibhandlungsverlauf zu verortenden Produktionseinheiten. Auf der Ebene des manifesten Textes entsprechen ihnen "Paragraphen".
7. Schlußbemerkungen - Allgemeine Ergebnisse und einige Perspektiven der Schreibforschung
Schlußbemerkungen haben zumeist den Zweck, die Ergebnisse einer Untersuchung noch einmmal zusammenfassend darzustellen und im größeren Zusammenhang zu interpretieren. Am Ende dieser Studie fällt dies allerdings schwer: zu vielfältig sind ihre Einzelergebnisse, und zu disparat die Bereiche, in denen sie gewonnen wurden. Aus diesem Grund wollen wir uns hier auf eine Rekapitulation der allgemeineren theoretischen und empirischen Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen beschränken und im Anschluß daran einige Perspektiven für die Schreibforschung entwickeln. Sechs Punkte erscheinen als zentral: (1)
Für eine adäquate Beschreibung von Prozessen der Textproduktion ist ein theoretischer Ansatz erforderlich, der die kommunikativen Funktionen von Texten und den sozialen Sinnzusammenhang textvermittelter Kommunikation von vorneherein einbezieht. Schreiben ist in dieser Perspektive als komplexe und weitgehend sprachlich konstituierte Teilhandlung innerhalb eines sozial-kommunikativen Handlungszusammenhanges zu bestimmen.
(2)
Die theoretische Modellierung des Schreibens als (sprachliche) Handlung erlaubt sowohl eine angemessene Isolierung von Teilphänomenen als auch eine Integration der ansonsten disziplinär zersplitterten theoretischen und methodischen Zugriffe auf diese Phänomene. Auf der Basis der generellen Auffassung sprachlicher Handlungen als Einheiten mit mentalen, sprachlichen und aktionalen Dimensionen können damit einerseits Handlungsstadien identifiziert, zugleich aber auch die jeweils spezifischen Formen, Funktionen und Zusammenhänge rekonstruiert werden, in denen sich Handeln in den verschiedenen Dimensionen und Stadien vollzieht. Erst in dieser handlungstheoretisch orientierten Perspektive wird Schreiben einem erweiterten und nicht exklusiven sprachwissenschaftlichen Zugriff zugänglich; einem Zugriff also, der Konzepte, Methoden oder Ergebnisse anderer Disziplinen zu integrieren in der Lage ist.
(3)
Eine Theorie des Schreibens hat den Phänomenen Rechnung zu tragen, die die äußerlich beobachtbaren Verlaufsstrukturen des Handlungsprozesses kennzeichnen. Bereits die Analyse formaler Parameter (wie z.B. Längen und Positionen von Schreibpausen) im Stadium der Inskription zeigt, daß Schreiben ein inhomogener und diskontinuierlicher Prozeß ist: in dieses Stadium sind zu einem beträchtlichen Teil andere Aktivitäten eingelagert, die den zeitlichen Handlungsverlauf weitgehend determinieren. Zwar lassen sich einige generelle Merkmale feststellen, die Schreiben von anderen sprachlichen Aktivitäten (Sprechen) unterscheiden, zugleich werden
198 Schreibprozesse jedoch stark von Faktoren wie dem Typ der jeweils zu bewältigenden Schreibaufgabe, den kognitiven und sprachlichen Anforderungen des jeweiligen Inskriptionspunktes oder auch von Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren affiziert. (4)
Die Integration mentaler und sprachlicher Aktivitäten zeigt sich insbesondere in den Formen, in denen sich die Planung und Produktion von Formulierungen vollziehen. Während kognitive Modelle sich weitgehend auf die (meist nicht weiter analysierte Annahme) einer "Übersetzung" kognitiver Repräsentationen in sprachliche Formen beschränken, andere Ansätze den Prozeß des Formulierens in die Phase der Revision manifester Textelemente verlegen (und diese damit überschätzen), wurde Formulieren hier als sprachliche Aktivität im mentalen Raum bestimmt. Formulieren vollzieht sich als Umformulieren (Revidieren oder Neuformulieren) von Prätexten, d.h. als ihre durch Produktions- und Rezeptionsakte gleichermaßen bestimmte sukzessive Anpassung an die für den jeweiligen Schreibakt bestehenden konzeptuellen, kontextuellen und kotextuellen Anforderungen.
(5)
Schreiben erwies sich als Handlungsprozeß, dessen Gegenstand selbst Grundelemente sprachlicher Handlungen sind. Die sozial-kommunikativen Funktionen des Schreibens manifestieren sich mithin weder nur in den dem eigentlichen Produktionsprozeß äußerlich vorgelagerten Bedingungen (der "Aufgabenumgebung" von Hayes/Flower), noch als isolierte kognitive "Ziele", sondern sind als Bestandteile von Konzepten in den Prozeß der Makroplanung von Texten inkorporiert. Konzepte unterschiedlicher Reichweite werden im Prozeß der Textproduktion temporär erzeugt und fokussiert. Als je aufgabenspezifische Einheiten inhaltlichen und pragmatischen Wissens bilden sie die Basis globalerer Planungsprozesse sowohl der Textorganisation als auch der Schreibhandlungsorganisation.
(6)
Die einzelnen Stadien des Schreibprozesses lassen sich als Adaptionsstufen auffassen, die sich durch eine jeweils spezifische Integration mentaler, sprachlicher und aktionaler Handlungsdimensionen auszeichnen. Die in vielen Schreibmodellen betonten Merkmale der "Interaktivität" oder "Parallelität" (von Komponenten oder Ebenen) kennzeichnen mithin weniger den Zusammenhang, sondern vielmehr die interne Aktivitätsstruktur einzelner Handlungsstadien. Deren Relation untereinander ist durch das unmittelbare Ziel des Schreibens, die Produktion von Texten, zwar grundlegend festgelegt, ihre konkreten Ausformungen und ihre Abfolgen sind jedoch von den spezifischen adaptiven Anforderungen abhängig, die sich aus der Schreibaufgabe ergeben und vor dem Hintergrund vorhandener Wissensressourcen und Handlungsstrategien des Schreibenden stellen.
Bewußt soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, auf der Grundlage dieser Ergebnisse ein neues Modell des Schreibens zu präsentieren. Denn betrachtet
199 man sie vor dem Hintergrund der anfangs gestellten Frage "Was tut ein Schreiber, wenn er schreibt?", dann sind sie sicherlich weder vollständige noch endgültige Antworten. Zwar konnten einige der bisher vorliegenden Vorstellungen zum Schreibprozeß differenziert oder modifiziert und Teilmodelle entwickelt werden, deutlich wurde im Verlauf der Untersuchung aber auch stets, daß die Komplexität des Schreibens und die Vielfältigkeit seiner Formen sich allzu einfachen oder vorschnell generalisierenden Modellierungen widersetzen. Insofern ist eines - und vielleicht nicht das unwichtigste - der Ergebnisse dieser Untersuchungen auch, daß sich an ihrem Ende mehr Fragen und Problemstellungen ergeben, als anfangs in den Blick genommen wurden: Fragen und Probleme, die sich nun allererst formulieren lassen und insofern Perspektiven für die zukünftige Forschung eröffnen. Zunächst ein wissenschaftssystematisches Problem, auf das schon mehrfach hingewiesen wurde, das aber hier nicht vollständig gelöst werden konnte. Immer wieder sind wir in den Untersuchungen dieser Studie darauf gestoßen, daß Schreiben ein durch außerordentlich vielfältige Faktoren determinierter Prozeß ist. Schreiben ist eine Form sprachlichen Handelns, die von seiten des Schreibenden ein hohes Maß an kognitiver, sprachlicher und handlungsanalytischer Kompetenz erfordert. Das Zusammenspiel dieser Kompetenzen ist theoretisch schwierig zu modellieren und methodisch schwer zu fassen, denn sie manifestieren sich nur zum Teil im unmittelbaren Vollzug der Schreibhandlung, zum Teil aber auch in seinen Ergebnissen (Texten) oder in seinen Konsequenzen (der Textrezeption). Für eine adäquate theoretische Bestimmung des Schreibens ist seine multidimensionale Determination und die damit einhergehende Fraktionierung des Gesamtprozesses textvermittelter Kommunikation einerseits essentiell, sie reproduziert sich andererseits in der bisherigen Textproduktionsforschung als disziplinäre Trennung, Parzellierung von Theorien, Konkurrenz und Einseitigkeit von Konzeptionen und Methoden oder bestenfalls bloß additive (und deshalb beliebige) Interdisziplinarität. Der Schreibforschung fehlt, mit anderen Worten, nach wie vor das gemeinsame Fundament, auf das eine langfristige und systematische Weiterentwicklung gründen müßte. Die hier vorgelegten Überlegungen und Analysen sind ein Versuch, derartige Rahmenbedingungen und "Eckpfeiler" einer sprachwissenschaftlich orientierten Theorie des Schreibens zu skizzieren und damit die allgemeine handlungtheoretische Perspektive, die de Beaugrande für die Textproduktionsforschung formuliert hat, weiter auszuleuchten und mit Gehalt zu füllen. This perspective suggests some ground rules for linguistic inquiry, such as: The investigator defines the basic units as actions, and the domain as a domain of action. Linguistic items, features, or patterns are interpreted and classified according to their relevance for the performance and success of actions. Phrases, sentences, texts, or other structured entities are studied in terms of how they are created and used in communicative events. The investigator openly declares the limitations and selections of the inquiry with respect to the motives of research as an action in its own right. That is, the theory is expressly acknowledged as an inner domain, and its position within the outer domain is clearly stated.
200 No single set of limitations and selections can be definitive; other needs can establish other sets. Further areas of the outer domain should be steadily incorporated. Evidence is not invented by the investigator, but gathered from real actions occurring under stated conditions. Interdisciplinarity is recognized as essential for the wider validity of particular findings (de Beaugrande 1987, 16).
An welchen Problemstellungen könnte sich eine derartige Konsolidierung der theoretischen Basis der Textproduktionsforschung vollziehen? Im Anschluß an die hier vorgelegten Untersuchungen lassen sich mindestens drei konkrete Problemfelder nennen, die wir gestreift oder erwähnt haben, die jedoch weder für sich detailliert behandelt noch in ihrem Zusammenhang systematisch ausgearbeitet wurden. Auf ihnen und in der Diskussion mit den Disziplinen, denen sie zuzurechnen sind, ist eine sprachwissenschaftliche Theorie des Schreibens zu entwickeln. Diese Fragestellungen betreffen - den Zusammenhang zwischen Schreibhandlungsprozessen und ihren Ergebnissen, den Strukturen von Texten (Schreibforschung - Textlinguistik); - das Zusammenspiel textproduktiver und textrezeptiver Handlungen im Schreibprozeß (Schreibforschung - Rezeptionsforschung); - die generellen und je aufgabenspezifischen Wirkungen textvermittelter Kommunikationsformen auf den Textproduktionsprozeß (Schreibforschung Diskursanalyse/Interaktionsforschung). Die Klärung dieser Problemstellungen erfordert theoretische Auseinandersetzung, methodische Phantasie und vor allem weit mehr empirische Arbeit, als sie bislang geleistet wurde. Sie verspricht allerdings auch Ertrag - und dies nicht nur für die Schreibforschung. Denn Schreiben ist als sprachliches Handeln unter schwierigen Bedingungen immer auch Sprach- und Handlungsanalyse1: es ist beständig auf die Reflexion der Voraussetzungen und Formen erfolgreicher Verständigung angewiesen. Die Explikation derartiger analytischer Kompetenzen, die sich im alltäglichen Schreiben zeigen, verspricht deshalb auch - und vielleicht in ganz besonderem Maße - Aufschluß über die allgemeinen Grundlagen, auf denen sprachliche Verständigung beruht.
Vgl. in ähnlichem Sinne auch Coulmas über die Schrift. "Schrift ist Sprachanalyse." (Coulmas 1981, 25).
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Über
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