Schöpferische Sprache und Rhythmus 9783110840438, 9783110053364


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German Pages 115 [120] Year 1959

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Table of contents :
INHALT
I. PRAXIS UND POIESIS
II. DIE BEWEGUNGSPHANTASIE
III. DIE STRUKTUR DES RHYTHMUS
IV. DER VIBRATIONSSINN
V. DIE DOPPELNATUR DER SPRACHE
VI. KRITIK DES MODERNEN WELTBILDS
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
NAMENREGISTER
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Schöpferische Sprache und Rhythmus
 9783110840438, 9783110053364

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FELIX MAYER SCHÖPFERISCHE SPRACHE UND RHYTHMUS

F E L I X MAYER

SCHÖPFERISCHE SPRACHE UND RHYTHMUS

HERAUSGEGEBEN UND MIT EINEM NACHWORT VERSEHEN VON ERICH SIMENAUER

WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS C. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . T R Ü B N E R — VEIT & COMP.

B E R L I N 1959

©

Archiv-Nr. 43 33 59 Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Ubersetzung, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz: Walter de Gruyter & Co., Berlin. D r u d e Deutsche Zentraldruckerei, Berlin.

INHALT I . Praxis und Poiesis I I . Die Bewegungsphantasie I I I . Die Struktur des Rhythmus I V . Der Vibration6sinn

Seite 5 28 41 48

V. Die Doppelnatur der Sprache

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"VI. Kritik des modernen Weltbilds

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Nachwort des Herausgebers Namenregister

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I. PRAXIS UND POIESIS „Klar sieht, wer von ferne sieht, und nebelhaft, wer Anteil nimmt." Dieser Aussprach des Laotse kennzeichnet trefflich die beiden Pfeiler einer neuen Strukturpsychologie: Augenferne und Erlebensnähe. Nur den Namen hat die neue Betrachtungsweise von Dilthey entlehnt. Abweichend von ihm ist aber unsere Methode nicht historisch gerichtet, arbeitet vor allem nicht mit Werturteilen. Sie hat auch nichts mit Experimentalpsychologie zu tun, obwohl sie einer Doktordissertation, die experimentell die Gebärdensprache untersucht, ihren Ursprung verdankt 1 . Sie ist also keine Oberflächenpsychologie. Aber im Gegensatz zur Tiefenpsychologie von Freud und Jung, die mit den Inhalten des Ichs sich beschäftigt, also ihre Forschungsergebnisse motivisch stützt, ist die strukturpsychologische Betrachtungsweise vorzüglich auf das Formale gerichtet und sucht aus der Struktur einer Erscheinung ihr Wesen aufzuhellen. Sie entnimmt dem Schlaftraum die Erkenntnis, daß der träumenddenkende Mensch ganz anderer Darstellungs- und Ausdrucksmittel sich bedient als der wachend-denkende Mensch. Formal gesehen, besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Wach- und Traumbewußtsein. Mit der Aufdeckung, daß im Traumgeschehen nicht-logische Beziehungen herrschen, daß aber der Schlaftraum dennoch einer gesetzlichen Ordnung unterliegt, die nicht unerforschbar ist, bestand die Realität nicht mehr als die einzig mögliche und denkbare Erscheinungsform der Welt und ihrer Vorgänge. Die raumzeitliche Welt, deren streng geschlossenem Kreise wir bisher nicht zu entrinnen vermochten, wird nunmehr zum Problem für die psychologische Betrachtung. Zum Problem wird damit auch die Darstellungs- und Ausdrucksform des Wachbewußtseins, die Lautsprache, deren vornehmste Fähigkeit es schien, Erlebtes im Wortbegrifi so zu gestalten, daß der ewige Fluß des Geschehens, dessen der Mensch durch die Sinnesorgane gewahr wird, gleichsam in diskontinuierliche Tropfen gesondert werden kann. War es doch die Lautsprache mit ihren kategorialen und grammatikalisch ausdrückbaren Beziehungsetzungen, die es vermochte, den bedrängenden Erscheinungen der Außenwelt augenferne d. h. sachliche Eigenschaften zu verleihen. Durch solche objektivierende Kraft konnte die sichtbare Welt als ein System der Ordnung und der Gesetzmäßigkeit gedeutet werden, das auf manchen Wissensgebieten selbst der Berechnung und der Voraussage sich nicht entzog. Distanzierende Sprache schuf das 1

Vgl. des Verfassers „La structure du rêve", übersetzt von Prof. Claparède (Genf) in den „Archives de Psychologie", T. XXV. Nr. 98. 1935.

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distanzierte Weltbild der Gegenwart. Da dieses in seiner Alleingültigkeit nun zum Problem wurde, erhebt sich die Frage von selbst, ob etwa in der Lautsprache andere als nur distanzierende, begriffsbildende Kräfte sich regen, ob und inwiefern zum Ich gerichtete und das Gefühl angehende Kräfte auch in einer Leistung nachweisbar sind, die in ihrer Geistigkeit zwar zunächst nur auf das unpersönliche, sachliche Objekt zu zielen scheint, aber unter gewissen Umständen das ichhafte Gefühl auszudrücken vermag und in der Hand des Dichters sogar musikalische Züge trägt. Mit solcher Fragestellung, die einem dem Wissenschaftler nie recht behagenden Subjektivismus die Tür öffnet, kränkt man vielleicht jene, die in der Sprache bloß ein Mittel zur Verständigung untereinander erblicken und behaupten, die Sprache sei ihrem Ursprung nach eine soziale Schöpfung des menschlichen Geistes. Ihnen mag der subjektive Anteil des Individuums an der Lautsprache antisozial erscheinen, arbeitet er doch der allgemeinen Verständigung geradezu entgegen. Auch mit der Ablehnung von Seiten jener Sprachforscher ist zu rechnen, die mit de Saussure den Standpunkt vertreten, „daß es nicht die gesprochene Rede ist, die dem Menschen natürlich ist, sondern die Fähigkeit, eine Sprache zu schaffen d.h. ein System unterschiedlicher Zeichen, die unterschiedenen Vorstellungen entsprechen"1. Unwillkürlich denkt man an einen Gelehrten, dem nicht die lebendige, kraftstrotzende Pflanze vor dem inneren Auge erscheint, sondern der an den schattenhaften Überresten seines Herbariums ein erklügeltes, dem Leben fremdes System entwickelt. Solchem Scharfsinn dünkt die Sprache „ihrer Wesenheit nach sozial und unabhängig vom Individuum"2. Fälschlich wird die Bezeichnung „sozial" vorweggenommen für eine anfänglich nur magisch verbundene Volksgemeinschaft. Mit der Behauptung, daß „Onomatopoetica niemals organische Elemente eines sprachlichen Systems seien"3, wird nicht nur am höchstindividuellen Einfluß des Dichters auf die Gestaltung der Sprache vorbeigesehen, sondern es wird auch nicht angegeben, wo die heimatlos gewordenen und doch so lebendigen Worte solcher Art außerhalb des Sprachsystems Unterkunft finden könnten. Da wird schließlich der Ausspruch nicht verwundern, es sei „die Sprache in keiner Weise in der Wahl ihrer Mittel beschränkt; denn es ist nicht einzusehen, was die Assoziation irgend einer beliebigen Vorstellung mit einer beliebigen Lautfolge verhindern könnte"4. Der irrige Glaube an die Assoziationslehre mag noch hingehen. Es ist aber eine immer wieder gemachte Erfahrung, daß blindes Ungefähr auf allen Gebieten des Wissens nur so lange eine Rolle spielt, als der Einblick in das eigentliche Wesen eines Vorgangs oder Zustands noch nicht gewonnen wurde. Statt 1 Ferdinand de Saussure, „Grundfragen der Sprachwissenschaft", übersetzt von Hermann Lommel, Verlag Walter de Gruyter & Co., 1931, S. 12. 1 ebd. S. 22. 3 ebd. S. 81. 4 ebd. S. 89.

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uns mit der Feststellung sinnloser Willkür und des eigenmächtigen Zufalls zu begnügen, gibt ein Satz wie der letzterwähnte vermehrten Ansporn zum Suchen, warum unbeherrschte Laune und Gesetzlosigkeit nicht denkbar sind in einem so fein verschlungenen, kunstvollen und stets gebrauchsfertigen Gewebe, wie die Lautsprache sich darstellt. In die gleiche Kerbe schlägt ein Satz: „Keinesfalls besteht ein innerer, naturgegebener Zusammenhang zwischen Wort und dem dadurch ausgedrückten versinnbildlichten Begriff." 1 Was bedeutet hier „naturgegeben" ? Man möchte argwöhnen, daß der Ausdruck im Sinne von „logisch" gemeint ist. Wenn aber innerhalb der Lautsprache selbst, also im sog. logischen Denken der Schlüssel für den inneren notwendigen Zusammenhang nicht zu finden ist, muß man eben auf die Suche gehen nach einem nicht-logischen Faktor, also nach etwas, das den lautsprachlichen Gesetzen nicht unterliegt, das aber im Verborgenen die Wahl der Lautverknüpfungen bestimmt und so zwischen Wort und Begriff einen „naturgegebenen Zusammenhang" herstellt. Dann verliert auch ein Satz seine Geltung, der das lebendige und schöpferische Wesen der Sprache eigentlich verneint, indem er sie in die bedenkliche Nähe des Schachspieles rückt: „Die Sprache ist also ein allgemein üblich gewordenes, sinnvolles Ausdruckssystem von Zeichen und Symbolen, die sich nach Bedarf mechanisch hin- und herschieben lassen, eine Art von Bedeutungsmechanismus; die einzelnen Wörter sind nur willkürlich gewählte, aber dann objektiv gewordene Marken und Klangzeichen zum Ausdruck von Gefühlen, Vorstellungen und Begriffen 2 ". Gegen solche einseitigen Äußerungen des Positivismus sich zu wenden, sei der Fachwissenschaft überlassen. Dem Psychologen zeigen sie, daß die Sprachforschung auf dem Holzwege war, wenn sie den inneren Zusammenhang zwischen Wort und Begriff leugnete. Sie beachtete nur die der Realität zugewandte Seite der Sprache und begnügte sich mit einer Antwort, die im Bereich des logischen Verstandes stets verneinend ausfallen mußte. Eine feinere Witterung für das Werden der Sprache zeigt dagegen Hermann Paul, der lange vor Freud darum wußte, „daß eine große Menge von psychologischen Vorgängen sich ohne klares Bewußtsein vollziehen" 3 . Erinnert sei auch an den Ausspruch Steinthals: „Der Mensch schafft im Sprechen Formen und Veränderungen, die noch nie in seinem Bewußtsein waren oder zumindestens jetzt ihm nicht gegenwärtig sind" 4 . Die der Realität abgewandte Seite der Lautsprache erfühlt Karl Voßler: „ . . . die lautliche, klangliche, rhythmische, kurz die sinnliche Außenseite des Sprachgebrauchs wird durch den Volksdichter zu einer 1

Hermann Güntert, „Grundfragen der Sprachwissenschaft", Verl. Quelle & Meyer Leipzig, 1925, S. 10. 1 ebd. S. 9. • „Prinzip der Sprachgeschichte", Halle 1880, S. 23. 4 E. M. Lipschütz, „Vom lebendigen Hebräisch", Jüdisch. Verl. Berlin 1920.

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geistigen Kategorie erhoben d. h. bedeutend und sinnvoll gemacht, während sie in der gewöhnlichen Umgangssprache immer nur jenes zufällig ornamentale Scheinwesen bleibe" 1 . Oder wenn er sagt: „Jeder andere Mensch kann sich, wenn nicht vom Inhalt, wenigstens von der Form seiner Rede lossagen. Der Dichter ist gerade mit dieser verwachsen" 2 . Nahe unseren eigenen Gedankengängen aber bewegt sich dieser vorfühlende und tiefgründige Forscher in einem Satz von einem „Reich, das sozusagen unterhalb der Sprache liegt, aus dem aber die sprachlichen Formen der Grammatik wie der Poesie emporgetrieben werden" 3 . Voßler weiß auch, daß „in dieser sprachlichen Unterwelt nicht nur gefühlt und empfunden, sondern irgendwie gearbeitet, ja sogar geschaut und gestaltet wird . . . Man könnte diese Unterwelt die metaphysische Sprachgemeinschaft nennen. Es ist jene Gegend der Träume und Zaubereien, wo auch außermenschliche Dinge zum Sprechen gebracht und besprochen, also in zwei Richtungen anthropomorphisiert werden." Immerfort ist Voßler auf der Suche nach einer „warmen Psychologie". Darum heißt es: ,, . . . nicht die grammatikalischen Kategorien werden mitgemacht, erlebt, getanzt, marschiert, geatmet, getrommelt und gesungen, sondern ein Erlebtes gewinnt vor der Grammatik und ihren Regeln Form, poetischen Charakter, aus denen sich dann die Nationalsprache mit ihrer Grammatik entwickelt." Daß Ursprung, Wirkung und innerer Zusammenhang sprachlicher Laute in ganz anderer Richtung zu suchen seien als im eigenen Bezirk der Lautsprache und ihrer grammatikalisch ausdrückbaren Denkkategorien, also außerhalb des von ihr geschaffenen diskontinuierlichen und distanzierten Weltbildes, ahnte bereits Herder. Dieser erleuchtete Geist vermutete, daß unserer jetzigen Sprache ein allerdings in Vergessenheit geratener Zustand vorangegangen sei, da man noch nicht „sprach", sondern „tönte", nicht „dachte", sondern „fühlte". Ihm, dem Dichter und Philosophen, erschien es wohl als selbstverständlich, daß die affektive Einstellung des Individuums die Grundlage bildet für die spätere logische Hochleistung im Sprachdenken. Mit solcher Einsicht trat er in die Spuren seines Lehrers Johann Georg Hamann, der verkündet hatte: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau älter als der Acker: Malerei als Schrift: Gesang —als Deklamation : Gleichnisse — als Schlüsse: Tausch — als Handel." Freilich standen Hamann und Herder als Söhne des 18. Jahrhunderts dem zu erforschenden Gebiet der Sprache erlebnismäßig ganz anders gegenüber als wir Jetzigen. Tages- und Welt-Ereignisse gelangten damals erst spät zur Kenntnis; selten und unregelmäßig erschienen Zeitungen. Entfernungen, die heute in Stunden bewältigt werden, erforderten zur Zeit der Postkutsche tage- und selbst wochenlange Reisen. 1 2 3

Jahrbuch für Philologie 1925, S. 15. ebd. S. 17. ebd. S. 18.

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So mußte man oft lange warten, bis man von Augenzeugen über einen wichtigen Vorgang unterrichtet wurde. Die erwartungsvolle Spannung steigerte aber die Anteilnahme des Gefühls am Ereignis und Bericht. Und wie war es vor Erfindung des Buchdrucks erst gewesen! Um eine Nachricht zu erfahren, mußten die meisten sie durchs Ohr aufnehmen, also über einen Körpersinn, der an Genauigkeit und Reichweite dem Auge erheblich nachsteht. Das Hören-Sagen, das heute die Ungenauigkeit eines Tatbestandes kennzeichnet, bildete vormals für die Mehrheit der Menschen die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas zu erfahren. Um so wichtiger erschien der Redende, der Bote, der den Bericht erstattete. Wie lebhaft wurde noch bis tief in das 19. Jahrhundert, als das moderne Zeitungswesen noch in den Kinderschuhen steckte, die Einbildungskraft und oft auch das Gemüt erregt durch die Kunde von Erdbeben, Kriegen oder Revolutionen in fernen Ländern! Heute hingegen, da Nachrichten aus aller Welt das Publikum überaus rasch erreichen und naturgetreue Lichtbildaufnahmen der Einbildungskraft kaum noch Gelegenheit geben sich zu entfalten, ist mit dem Wegfall erwartungsvoller Spannung die wirkliche und oft anhaltende Teilnahme zur kurzatmigen und meist oberflächlichen Neugierde geschrumpft. Je mehr die örtliche Ferne überwunden wurde und der Zeitunterschied zwischen Ereignis und Kenntnisnahme sich verringerte, desto mehr vergrößerte sich der seelische Abstand zu ihm. Was früher, meistens durch die hörbare Sprache mitgeteilt, die Gemüter bewegte und nicht selten zum tief beeindruckenden Erlebnis wurde, pflegen wir jetzt kühl als Geschehnis zu buchen, das durch den nächsten Zeitungs- oder Radio-Bericht bald überholt wird. Welch ein Wechsel der seelischen Haltung gegenüber Nachrichten, die doch durch dasselbe Mittel, die Lautsprache, zu uns gelangen! Vielleicht bedurfte es der künstlich gezüchteten Distanzhaltung des jetzigen Menschen, um an der Sprache den subjektiven Anteil zu vergessen und sie, die im Affekt wurzelt, als ein objektives System zu mißdeuten, das sie im Gegensatz zum Zahlenkreis nie und nimmer war, ist oder sein wird. Oberflächlicher Betrachtung scheint die Sprache vorzugsweise zur Verständigung, also zum allgemeinen Gebrauch zu dienen. Wenn aber heute Ring, Teppich, Tabakspfeife in jedermanns Händen sind und sogar als Massenartikel hergestellt werden, ist damit die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß diese Gegenstände unseres Alltags einstmals im Dienste eines Zeremoniells standen und verehrungswürdige Symbole bedeuteten. Ebenso trug nach der Ansicht Jacob Grimms auch das anspruchsloseste und abgebrauchteste Wort unserer Umgangssprache einstmals bedeutsamen Sinn in sich, drückte einen gefühlsbetonten Wert aus. Daher kann es nicht ohne Weiteres als objektives Teilchen eines beinahe mechanisch zu handhabenden Systems abgestempelt werden. Nirgendwo offenbart sich „heilige Nüchternheit" mehr als an der Sprache. Ihr Doppelwesen birgt in sich den Homo ludens und den Homo sapiens zugleich. Deshalb haben auch erklügelte künstliche Sprachen keine Aussicht, einmal in iedermanns Munde zu sein, also zur Weltsprache zu

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werden. Letzten Endes entscheidet nicht die leichte Erlernbarkeit und Dienstbeflissenheit einer wohlmeinenden Sprach-Apparatur auch über ihre Eignung als Ersatz organisch gewachsener Sprachen. Diese besitzen nicht nur die Fähigkeit, im Denken zu formen und so Gedachtes mitzuteilen, sondern vermögen auch Gefühle auszudrücken, die beim Gesprächspartner oder beim Leser ähnliche Gefühle anklingen lassen. Besonders in der hörbaren Sprache tritt ihr Doppelwesen hervor. Jede Redewendung, jedes Wort bezeugt durch Tonfall und Akzent, daß sie vom Gefühl her immer wieder sich kraftvoll erneuern. Nicht umsonst verlautet die innigste Beziehung menschlichen Lebens in dem Ausdruck , .Muttersprache''. Erkannten bereits Hamann und Herder bei der Entwicklung der Sprache dem Gefühl das Primat zu, so stellte Wilhelm von Humboldt, um das Lebendige an ihr zu kennzeichnen, das dynamische Moment in den Vordergrund. Es heißt bei ihm: „Sie ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)." Wir stutzen freilich, wenn unmittelbar der Satz folgt: „Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein". Denn wir sind mit Rudolf Otto 1 der Ansicht, daß historisch-genetische Ableitung nicht Wesensdeutung ist. Am Ende aber sind wir enttäuscht, wenn es von der Sprache weiter heißt: „Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen 2 ." Zum Glück schließt Humboldt seine Ausführungen mit dem Satz: „Das Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein totes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung." Zum ersten Male war die Rede von einer Kraft-Äußerung an und in der Sprache. Die Aufgabe war gestellt, nach den Kraftquellen der Energeia zu suchen. Dennoch bedeutete diese neue Einsicht zugleich einen Rückschritt gegenüber der Auffassung von Herder. Das Mangelhafte der ausschließlich auf das Geistige bezogenen Dynamik, in der die Gefühlswerte der Sprache keinen Platz finden, meint wohl v. d. Gabelentz 3 , wenn es heißt, daß bei Humboldt „alles in der Sprache auf Analogie beruht." Arbeitete Humboldt in der Tat hauptsächlich mit dem Begriff der Analogie, so erklärt es sich leicht, warum er seine intuitive Behauptung von der Sprache als einer lebendigen Tätigkeit (Energeia) nicht besser stützen konnte. Da nämlich die Analogie als eine Erscheinung der Ähnlichkeit nur mittels des distanzierenden Verstandes zu begreifen ist, so mußten gerade die Kraftquellen verborgen bleiben, welche die lebendige Sprache unsichtbar, weil unmittelbar speisen. Hamann und Herder ahnten die Wahrheit im Werden der Sprache, ohne den Beweis antreten zu können. Humboldt erkannte das Dynamische in der Sprache, beschränkte es aber auf den Bereich des Intellekts. So 1

„Das Heilige", Verlag Trewendt und Granier, Breslau 1922, S. 24. „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprechens und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts", Wilh. v. Humboldt, herausgegeben von Ewald Wasmuth, Berlin 1935, S. 41.1. 8 „Die Sprachwissenschaft", S. 21. A. 2

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war die Frage nach dem Wesen der Energeia noch nicht gelöst, die im Ursprung und in der Fortentwicklung der Lautsprache sich äußert. Von neuem stellt sich die Aufgabe, nach den Quellen der Energeia zu suchen. Die Wegrichtung ist aber gegeben durch das Wissen, daß die Sprache in ihrer lebendigen Tätigkeit dem Verständnis nur näher zu bringen ist, wenn man nicht innerhalb der von der Lautsprache selbst gesetzten Grenzen und des ihr entsprechenden Weltbildes verbleibt. Kant zeigte uns an der Sprache zugleich die Grenzen sprachlichen Denkens. Er wies nach, daß zu der „Natur" d. h. der Erscheinungswelt, die der Mensch nur in Zeit und Raum zu erfassen vermag, eine andere Welt gedacht werden kann, die — nicht auf Zeit und Raum bezogen — zu ganz anderen, selbst entgegengesetzten Urteilen über die letzten Dinge kommt, ohne der Vernunft zu widersprechen. Die sog. Antinomien lehren, daß „der Welt der Erscheinungen, der raumzeitlichen Welt keine unbedingte Realität zuzusprechen ist 1 ". Da diese entscheidende Folgerung aus dem rein sprachlichen Denken abgeleitet wird, ist hier der Punkt, an dem die neue Betrachtungsweise über das Wesen der Sprache anzusetzen hat, soweit sie als Energeia sich äußert. Solange die Lautsprache ausschließlich von den ihr eigenen Denkkategorien her betrachtet wird, bereiten jene von Kant entdeckten Grenzen selbst das Hindernis weiter vorzudringen. Um über das Wesen der Sprache mehr aussagen zu können, muß man also außerhalb des von ihr geschaffenen Kreises stehen. Erst wenn wir den zu erforschenden Wissensgegenstand selbst in Frage stellen, dürfen wir den Satz wagen, daß die Sprache, die wir in Lauten hervorbringen oder von anderen empfangen, den Anspruch auf unbedingte Alleinherrschaft nicht erheben darf. Vielmehr kann eine Ausdrucks-, Denk- und Mitteilungsform von andersgesetzlicher Ordnung gedacht werden, die der raumzeitlichen Anschauung wie der Denkkategorien der Lautsprache mehr oder minder und sogar vollständig ermangelt. Aber noch mehr! An der Ausdrucksform des Schlaftraumes hat sich das tatsächliche Vorhandensein einer den Gesetzen der Lautsprache nicht unterliegenden, deshalb grundsätzlich und wesentlich von ihr abweichenden Art des Denkens und Darstellens ergeben. Ein seelischer, Neues schaffender, also schöpferischer Lebensvorgang, der Schlaftraum, kann nunmehr der lebendigen seelischen Tätigkeit im Wachbewußtsein gegenübergestellt werden, die als Lautsprache sich äußert, Als vorzügliches Aufbau-Element des Schlaftraumes wurde die Gebärdensprache erkannt, die durch die virtuelle (eingebildete) Bewegung der Gliedmaßen, insbesondere der Hand sich vollzieht 2 . Sinnhaft-lebendige, mehr fließende Bewegung wird so einer anderen Bewegung, der diskontinuierlich artikulierenden Lautsprache entgegengesetzt. Solche Betrachtungsweise verlegt das Problem der 1

Hellmuth Falkenfeld, „Einführung in die Philosophie", Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin. S. 243. 2 Verf. „Die Struktur des Traumes", Acta Psychologica, Bd. III, Heft 1, 1937.

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Sprache aus dem Bezirk der Intuition und der Philosophie wie einer verstandesmäßigen Philologie in den Bereich einer biologisch sich vortastenden Psychologie. Das Dynamische rückt in den Vordergrund, da die eine Bewegung im Zusammen- und Gegenspiel mit der anderen betrachtet wird. So scheint sich ein neuer Weg zu öffnen, um die Energeia der Sprache nicht nur als einen lebendigen, sondern zugleich als schöpferischen Vorgang zu erforschen. Es mag als kühnes Unterfangen erscheinen, das seltsam-luftige, nicht selten unverständliche und daher oft als unsinnig gescholtene Gebilde des Schlaftraumes in fruchtbare Beziehung zu bringen zur Sprache des Wachbewußtseins, auf der schließlich das vernünftige, reale, objektive Weltbild der modernen Zeit errichtet wurde. Wer freilich weiß, wie sehr die Lautsprache in den Traum eindringt und die Struktur oberflächlicher Traumschichten noch beeinflußt, wird sich nicht wundern, die Polarität der in Frage stehenden Bewußtseinshaltungen auch darin bestätigt zu sehen, daß der Schlaftraum seinerseits auf das lautsprachliche Denken des Wachbewußtseins einen mächtigen Einfluß ausübt. Daß hierbei Unbewußtes als stoffliches Motiv am Wachbewußtsein sichtbar wird, hat bereits Freud beim Sichversprechen und bei anderen Fehlleistungen beobachtet. Auch der von C. G. Jung angenommene Ausgleich des krankhaften Wachbewußtseins durch ein kompensatorisches Traumgeschehen weist in dieselbe Richtung. Nach Jung wird die Heilung einer Neurose oft erst möglich, wenn die archaische, zuweilen ahnungsvolle und selbst vorausschauende Denkweise des Traumes dem wachbewußten Denken und Handeln als Regulativ gewonnen und eingefügt werden kann. Bei den genannten Forschern handelt es sich um den Einfluß des Traummotivs auf die Inhalte des Wachbewußtseins. Unsererseits aber wird behauptet: die Struktur des Traumes, insofern sie gebärdesprachlicher Ausdrucksform entspricht, ist von bemerkenswertem und sogar entscheidendem Einfluß auf die Struktur des Wachbewußtseins, wie sie in der Lautsprache hervortritt. Als die beim Eintritt des Schlafes auftretende Aphasie als Ursache erkannt wurde, daß im Schlaftraum statt der Lautsprache die Gebärdensprache herrscht, war uns der Ausspruch Berkeleys noch unbekannt: „Wir brauchen nur den Vorhang von Worten wegzuziehen, um hinter ihnen den Baum der Erkenntnis zu erfassen, dessen Frucht vortreffüch und in greifbarer Nähe für uns ist 1 ." Einer motivisch eingestellten Tiefenpsychologie galt der Schlaftraum nur als via regia zum Unbewußten; der strukturellen Betrachtungsweise hingegen gilt er in seinem ganzen Umfang als das Reich des Unbewußten. Denn mit dem Aufhören der Kritik, das bereits in den oberflächlichsten, an der lautsprachlichen Grenze gelegenen Traumschichten merkbar wird, werden jene Willenskräfte unwirksam, welche die artikulierende Laut1 „ A treatise conoerning the prinoiplesof the human knowledge". Der Schlaftraum, der auf dem Weltbild der „greifbaren Nähe" sich aufbaut bzw. es gestaltet, gibt die neue Erkenntnis.

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spräche nicht nur zum trennenden und unterscheidenden, sondern auch zum Gedanken bahnenden und formenden Werkzeug schufen. So wird mit der neuen Beziehungssetzung zwischen der Denkweise des Schlaftraumes und der Denkweise des Wachbewußtseins der allzu eng gespannte Kreis der Oberflächen-Psychologie verlassen, innerhalb dessen selbst ein Sprachphilosoph wie Cassirer die symbolischen Formen im Aufbau der Sprache nicht bis zu der Tiefe verfolgen konnte, in der eigentlich erst das Problem beginnt. Im Rahmen einer Oberflächen-Psychologie mochte es genügen, wenn man als symbolische Form ansah „jede Energie des Geistes, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkret sinnliches Zeichen geknüpft und diesemZeichen innerlich zugeeignet wird 1 ." Aber diese Definition versagt schon beim Gleichnis und bei der Metapher, die sicherlich symbolische Ausdrucksformen des lautsprachlichen Satzes oder Wortes darstellen. Warum hinkt jeder Vergleich, ja warum muß er hinken ? Warum wird in dieser symbolischen Ausdrucksform das reale Vergleichsobjekt nicht in seiner Ganzheit gedacht oder dargestellt, sondern es werden bedeutsame Merkmale des tatsächlichen Gegenstandes oder Vorgangs fortgelassen? Die obige Definition besagt nichts darüber, daß zum Unterschied vom ursprünglichen Gegenstand oder Vorgang am symbolischen Vergleichsobjekt des Gleichnisses oder der Methapher sich eine Verwandlung vollzogen hat, deren Ursache die dem logischen Sprachdenken entgegengerichtete und mit ganz anderen Mitteln arbeitende schöpferische Phantasie ist, Die allzu intellektualistische Auffassung Cassirers, der in der Tendenz zum Logischen das gemeinsame Merkmal der Sprachen erblickt, macht seine Definition auch nicht geeignet zur Erklärung der physikalischen Symbolik, wie sie von Heinrich Hertz einst gefordert wurde. Solche symbolischen Bilder in der Physik, die zukünftige wissenschaftliche Erfahrungen voraussehen lassen, stellen im Grunde Metaphern dar, die wie z. B. „Körper" oder „ K r a f t " den menschlichen Körper oder seine Funktionen meinen, wobei aber der ursprüngliche Wortbegriff, der im realen Sein wurzelt, zu einem „Scheinbild" verwandelt wurde. Die Benennung allein drückt deutlich aus, daß auch dieses Symbol seine Heimat nicht in der Welt des Geistes und der Wahrnehmungen besitzt, daß also ein anderer Tatbestand vorliegt, als daß „ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkret-sinnliches Zeichen geknüpft wird". Es kann nicht genug betont werden, daß die in der Physik und Chemie gebräuchlichen Bilder anthropomorph geschaut sind, daher nur in der Welt des Scheins existieren, und daß vom psychologischen Standpunkt der produktive Wissenschaftler manche Ähnlichkeit mit dem schaffenden Künstler aufweist. Ganz und gar versagt aber solche Definition der symbolischen Form, wenn sie auf das Traumsymbol angewandt werden soll. Dieses unter 1

„Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften", Vorträge der Biblioth. Warburg 1921/22, S. 15. Verlag Teubner, Leipzig.

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scheidet sich nämlich nicht nur durch seine fast unbegrenzte Verwandlungsfähigkeit von einem Gegenstand der Realität, sondern auch durch die seelische Haltung desjenigen, der im Schlaf willenlos dem faszinierenden Einfluß der Traumbilder unterliegt. Wenn in der Definition von Cassirer „ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkret-sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird", so ist nicht zu ersehen: 1) daß das Symbol seine Heimat nicht in der Realität hat, sondern im Bereich einer andersgesetzlichen Wirklichkeit, in der raumzeitliches Denken und die Kategorien der Lautsprache weniger oder mehr aufgehoben sind. Von solcher graduell zu steigernden Ausschaltung der Realität hängt die geringere, größere und endlich fast unbegrenzte Wandlungsfähigkeit des Symbols ab, wie sie in aufsteigender Linie etwa zu verfolgen ist vom Gleichnis und der Metapher sowie vom Scheinbild und wissenschaftlichen Modell über das Spiel-, Kunst- und Religionssymbol bis zur höchst erreichbaren Stufe, dem Traumsymbol; 2) daß der symbolisierende Mensch andere Schichten seines Ichs in Tätigkeit versetzt, als sie der Durchschnittsmensch der Jetztzeit in seinem vorwiegend auf praktisches Handeln und kluge Beobachtung eingestellten Tun sonst zu aktivieren pflegt. Statt des wahrnehmenden, mit Lautsprache begabten Ichs werden nämlich das Spiel-Ich oder das Traum-Ich in Anspruch genommen, die durch den relativen oder absoluten Mangel an lautsprachlichem Vermögen sich minder oder mehr der Gebärdensprache bedienen müssen. Ein Mensch unseres Zeitalters muß daher, um des Symbolisierungs-Vorgangs teilhaftig zu werden, eine entschiedene Abkehr vollziehen von der Realität und dem ihr zugehörigen lautsprachlichen, vorwiegend logischen Denken. Solche Feststellungen rücken nicht nur den Begriff des Symbols in ein anderes Licht, sondern lassen uns auch die Rolle desjenigen erst recht würdigen, der des Symbols teilhaftig wird. Jetzt erst enthüllt sich uns die symbolische Formgebung als ein Vorgang, dessen Träger der lebendige Mensch ist, aber nur in einer besonderen seelischen Haltung. In diesem strukturell durchsichtigen Vorgang durchdringen Symbol und der es gestaltend-erlebende Mensch einander so innig, daß jenes ohne diesen und dieser ohne jenes nicht denkbar sind. Dadurch, daß nunmehr das Symbol aus dem Kreise der sagbaren Realität herausgehoben und in eine zunächst unsagbare, nur dem Subjekt zugehörige Zone verlegt wird, tritt der Mensch in den Vordergrund, insofern er überhaupt oder aber zu gewissen Zeiten ein gefühlsmäßig eingestelltes, erlebendes Wesen ist. Nur als ein so Erlebender kann er das schöpferische Vermögen seiner Artgemeinschaft wie in Religion, Kunst, Spiel und Traum auch an und in der Lautsprache betätigen, der er damit erst den Stempel des Schöpferischen aufdrückt. Wenn es aber überhaupt eine symbolische Formgebung in der Sprache gibt, die in ihrer jetzigen Gestalt vorwiegend auf Klarheit des Ausdrucks und scharfsichtige Unterscheidung zu zielen scheint, so büßt der logisch sprachdenkende Mensch seine bisherige Vor-

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machtstellung ein gegenüber dem sprachschöpferischen Menschen. Dessen subjektivierendes, unsachliches Denken wäre dann nicht nur auf früheren Stufen sprachlicher Kultur und Entwicklung zu beachten, sondern wäre auch in der modernen Sprache des nach Sachlichkeit strebenden Erwachsenen von vielleicht nicht immer sogleich sichtbarem, aber dennoch mächtigem Einfluß. Ohne es zu wissen, schafft jeder redende Mensch an seiner Muttersprache, wenn er die ihm überkommenen Worte in seiner persönlichen Weise und in dem ihm eigenen Tonfall benutzt. So wandelt sich die gebräuchliche und auch die literarische Sprache von einer Generation zur anderen, in langen Zeiträumen sogar bis ziir Unverständlichkeit. Jeder Redende oder Schreibende ist daher zugleich, wenn auch im engsten Rahmen, ein sprachschöpferischer Mensch, wenn seine besondere Ausdrucksweise von anderen verstanden, mitgefühlt und endlich auch gebraucht wird. Im Bereich der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, zu der auch die seelische Innenwelt gehört, anerkennt der auf Distanzierung, analysierende Vereinzelung und konstruktive Synthese bedachte Mensch der Jetztzeit keine Verwandlung der Dinge, sondern bloß ihre Veränderung. Wie er durch das Wort die Dinge gewissermaßen räumlich anordnet und sie durch bestimmte Laute als feststehend und unverwechselbar bezeichnet, so benutzt er als Erklärung für das Zustandekommen einer wahrnehmbaren Veränderung am Objekt selbst oder dessen Standort den Ordnungs-Begriff der Zeit. Nunmehr stützt er durch einen zweiten Pfeiler, nämlich die Zeit, das System seines distanzierten Weltbildes, indem so gleichsam Platz geschaffen wird für tatsächliche oder vorstellbare Zwischenglieder, die den Übergang einer Zustandsform in eine andere d. h. die Veränderung eines Dinges überzeugend glaubhaft machen. Insofern die Veränderung im Voraus bestimmt werden kann oder die dabei wirksamen Vorgänge sogar formelhaft dargestellt und auf ihre Richtigkeit nachgeprüft werden können, spricht man von gesetzmäßiger Ursache und Folge. Uneigentlich wird derselbe Ausdruck gebraucht, wenn durch wiederholte Erfahrung das Hervorgehen eines Lage- oder Formzustandes aus einem anderen festgestellt wurde. Es handelt sich aber dann nur um eine Regel, die — wie bekannt — auch Ausnahmen zuläßt. Sobald jedoch der tragende Pfeiler der Zeit fortfällt, stürzt dem wachbewußten erwachsenen Menschen das gesamte, auch wissenschaftlich bewiesene Ordnungssystem, das er als das wahrhafte Weltbild zu betrachten pflegt, in sich zusammen. Da kein Platz mehr vorhanden ist für Zwischenglieder und Übergänge, scheint ein Zustand den anderen augenblicklich abzulösen. Somit hört auch die durch das Wort gewährleistete Identität und Umgrenzung der Dinge in der Wahrnehmungswelt auf. Sie unterliegen nunmehr der fließenden Verwandlung, der die diskontinuierlich arbeitenden Sinnesorgane und die ebenso arbeitende Lautsprache nicht folgen bzw. keinen sinnvollen Ausdruck geben können. Wenn so das zeiträumliche Weltbild zusammenstürzt, das insbesondere der moderne Mensch kraft seiner Lautsprache dem seinen beschränkten 2

M a y e r , Schöpferische Sprache

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Sinnen unerforschbaren, eigentlichen Weltgeschehen entgegenzusetzen vermag, muß die unausbleibliche Folge das geistige Chaos sein. Wenigstens ist dies der Fall für den wachenden erwachsenen Menschen der Jetztzeit, der unter solchen Umständen als geistesgestört gilt. Aber der Verlust zeiträumlichen Denkens, der an unsere Lautsprache geknüpft ist, stellt zugleich einen natürlichen biologischen Vorgang dar, der unschwer zu beobachten und von jedermann nachzuprüfen ist. Kurz vor dem Einschlafen erleidet der ermüdete Mensch eine erhebliche Einbuße an seiner Sprechfähigkeit. Mit der Monotonie seines Reden s verbindet sich alsdann eine merkliche Abnahme des ihm sonst zu Gebote stehenden Wortschatzes. Gewisse Worte werden oft wiederholt. Im Ganzen werden die sonst vielleicht feinen Züge seiner sprachlichen Ausdrucksweise vergröbert. Endlich beginnt der schwer Ermüdete, dem Einschlafen nahe zu stammeln oder zu stottern. Das Symptom des „Lallens" zeigt die Erschütterung lautsprachlichen Denkens an, die den Schlaf einleitet und sich in ihm gesteigert fortsetzt. Auf der Erschütterung und dem endlichen Verlust der Lautsprache und des mit ihr verbundenen zeiträumlichen Denkens beruht die Erscheinung des Schlaftraumes. Die Traumbilder, die durch besondere Eindringlichkeit ausgezeichnet sind, besitzen eine erstaunliche Verwandlungsfähigkeit. Im Gegensatz zu den während des Wachbewußtseins wahrgenommenen oder bloß vorgestellten Gegenständen und Vorgängen, die auf ein gliederndes Zeitgefühl bezogen werden, und als feste unverwechselbare Erscheinungen der Realität nur der Veränderung unterliegen, fließen die Traumbilder kontinuierlich ineinander über und scheinen auch eine ganz andere, gleichsam luftige Konsistenz zu besitzen. Bemerkenswert ist ferner die Andersartigkeit der Farben im Schlaftraum. Die Verwandlungsfähigkeit der Bilder steigert sich mit der wachsenden Tiefe des Schlaftraumes. Ihr fließender Wechsel zeigt an, daß sie nicht mehr lautsprachlichen Gesetzen gehorchen, sondern Gesetzen ganz anderer Art, weshalb die Geschehnisse im Traum sehr wohl als „andere Wirklichkeit" bezeichnet werden dürfen. Dinge und Vorgänge, die bildhaft dem Bereich dieser anderen Wirklichkeit angehören und daher vom diskontinuierlichen, distanzierenden und zeiträumlichen Sprachdenken nicht völlig erfaßt und nur unvollkommen ausgedrückt werden können, heißen wir „Traumsymbole". Anstatt eines Chaos tritt beim Schlafenden nach Fortfall der Lautsprache, die in zeitlich und räumlich festlegenden Bezeichnungen die Identität von Gegenständen oder Personen ausdrückt und solche festgelegten Punkte gleichsam durch ein Maschenwerk von Denkkategorien miteinander verband, ein neues Weltbild in Erscheinung, errichtet auf dem Denken in sich wandelnden Bildern. Strebte der wachbewußte Mensch im Rahmen des modernen Weltbildes nach Richtigkeit und objektiver Wahrheit, so hat er im Schlaftraum das Gefühl unerschütterlicher subjektiver Gewißheit. Kein Träumender nimmt an den nächtlichen Geschehnissen, so sehr sie den Erfahrungen des Alltags und den ein-

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fachsten Regeln der Logik widersprechen, den geringsten Anstoß. Seine Kritik schweigt, wenn er in dieser seltsamen Welt des Scheins bald als Selbst-Handelnder und Leidender, bald als Zuschauer teilhat und gar beides zugleich ist. An anderer Stelle wurde beschrieben, wie mit wachsender Traumtiefe das zeitliche Geschehen mehr und mehr durch räumliche Hinweise ersetzt wird, wie endlich der Raum selbst eine andere Beschaffenheit annimmt, so daß Traumgestalten und Traumszenerien als durchsichtig, silhouettenhaft oder wie Oblaten, also zweidimensional erscheinen. Weil im Wachbewußtsein des erwachsenen Menschen der Gegenwart der Gesichtssinn das führende und das Urteil meist beeinflussende Sinnesorgan darstellt, kann das lautsprachliche Weltbild als dasjenige der Augenferne, des Gesichtskreises bezeichnet werden. Hingegen wird im Schlaftraum, wenn das periphere Wahrnehmungsorgan, das Auge, ausgeschaltet ist, der Gesichtssinn aus einem beobachtenden Fernsinn zu einem Organ des affektiven Erlebens. So ist das Weltbild des Schlaftraumes dasjenige der Handnähe. Es wird nun verständlich, warum die Gebärdensprache, allerdings nur die eingebildete, virtuelle die eigentliche Trägerin der Darstellung und Mitteilung im Schlaftraum ist. Reicht im Wachbewußtsein die Gebärdensprache, wie sich aus den praktischen Versuchen ergab, nicht über den Handzeigekreis hinaus und kann gewissen und geläufigen Formen logischen Denkens keinen Ausdruck verleihen, so zeigt sich diese Beschränkung erst recht im Schlaftraum, da doch die Lautsprache ausfällt. Infolge allzu großer Nähe der Traumgestalten wird z. B. die uns gewohnte und grammatikalisch ausdrückbare Unterscheidung von Subjekt und Objekt unmöglich. Letzteres wird dafür zum beziehungsreichen Gegenüber, zum Traumpartner, der mit dem traumerlebenden Ich wie durch ein Gefühlsband aufs Engste verknüpft ist. Mehr noch als dieser Traumpartner vom Träumenden gefühlsmäßig gelenkt wird, hält jener diesen im Bann und übt einen faszinierenden Einfluß auf ihn aus. Alle diese Ausführungen beleuchten vom sprachlichen Denken her gesehen den Schlaftraum als den Symbolisierungsvorgang par excellence. Man versteht auch leicht, daß das handnahe „Symbol" ein viel ursprünglicheres Element menschlicher Denkweise darstellt als der „Gegenstand" im Weltbild der Augenferne. Wie ist nun die seelische Haltung des an solchem Symbolisierungsvorgang teilhabenden Menschen, des Träumers ? Die faszinierende Nähe der flüchtigen, aber so eindringlichen Traumgestalten zwingt ihn in Bann. Selbst, wenn er nicht als Handelnder oder Leidender in die Geschehnisse auf der nächtlichen Bühne miteinbezogen ist, sondern zeitweise den Zuschauer zu spielen scheint, geht ihn doch jede Person und jeder Vorgang nahe an, meint irgendwie ihn, setzt aber zugleich sein Gewährenlassen voraus. Das Gefühl freier Entscheidung, das der Redende oder Handelnde im Wachbewußtsein zu besitzen glaubt, fehlt im Traumbewußtsein. Schon daran zeigt sich die hilflose Unfreiheit des Träumenden, daß er die Themen und Gestalten des Traumes sich im Schlaf nicht selbst wählen 2*

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kann, sondern ihnen willenlos ausgeliefert ist. Im Gegensatz zur meist mehr aktiven und distanzierenden Haltung des wachen Menschen, die man, weil sie die Beobachtung und sogar das wissenschaftliche Erkennen samt aller praktischen Hantierung erst möglich macht, „gnostisch" genannt hat, ist der Träumende ein von den Vorgängen Ergriffener, ihnen Hingegebener. Seine seelische Haltung ist daher als eine „pathische" zu bezeichnen. Da ferner wegen des Mangels an Distanz der Begriff des Objekts fortfällt und dafür die Wirkung eines handnahen Gegenüber hervortritt, handelt es sich um eine „Subjekthaltung" des träumenden Individuums. So sind die Situationen des Schlaftraums vor denjenigen des Tages, die oft gleichgültig lassen und nur in seltenen Fällen gefühlsmäßig oder gar tief erlebt werden, ausgezeichnet durch die Intensität ihres Eindrucks. Und dies trotz ihrer luftigen, schattenhaften und sich wandelnden Erscheinung. Nicht zum Wenigsten trägt hierzu bei die Sprache des Traumes, die imaginierte Gebärdensprache. Durch die besondere Art ihres Ausdrucks, die Umständlichkeit ihrer Darstellung, vor allem dadurch, daß sie auch vergangene Geschehnisse nur als gegenwärtige wiederzugeben vermag, wirkt die Gebärdensprache — wie bereits das Experiment zeigt — stets im Sinne der Intensivierung, gestaltet den banalsten Vorgang und die alltäglichste Mitteilung zum persönlichen Erlebnis. Alle diese Momente zusammengefaßt, ist dem Träumenden eigentümlich: die intensivierende pathische Subjekthaltung. Der Schlaftraum, als symbolische Ausdrucksform begriffen, stellt nur das letzte Glied einer Reihe von ebenfalls symbolischen Ausdrucksformen dar, die sich an tatsächliche Gegebenheiten, also an reale Gegenstände oder Situationen anlehnen und sie zu ichhaften Bildern gestalten, die nur im Bereich der anderen Wirklichkeit d. h. des Scheins ihre Existenzberechtigung haben. Daß bei diesen Verwandlungsvorgängen mit der Abkehr von der Realität ein seelischer Haltungswechsel verbunden ist, zeigt am deutlichsten der Traum, der durch den Schlafzustand bedingt ist. Nachweisbar, wenn auch nicht so offensichtlich ist dieser Haltungswechsel aber bereits bei den symbolischen Ausdrucksformen des Wachbewußtseins, die der Mensch der Gegenwart unter dem Sammelbegriff „Spiel" zusammenzufassen pflegt. Darüber hinaus in einer symbolischen Ausdrucksform der Umgangssprache und der Wissenschaft, die man in Hinsicht auf den Philosophen Vaihinger als „Als-Ob-Haltung" bezeichnen mag. Mit dem Begriff „Spiel" sind nicht nur gemeint die mit diesem Namen ausdrücklich bezeichneten Unterhaltungs- und Gesellschafts-Spiele, das Spiel der Musik oder auf dem Theater, sondern überhaupt alle symbolisierenden Ausdrucksformen: Allegorie, Witz, Wortspiel, Gleichnis, ferner die Symbolisierung im wissenschaftlichen Scheinbild oder in der Kunst und der Religion. Alle diese Ausdrucksformen sind in ihrer Dynamik einander gleichartig und nur graduell unterschieden. Gemeinsam ist ihnen die Symbolisierung d. h. die absichtliche oder unbewußte Abkehr von der Realität, so daß diese oder jene Katogerien des zeiträumlichen lautsprachlichen Denkens außer Kraft gesetzt werden.

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Nur die Formgebung, nicht der jeweilige Inhalt ist das Wesentliche der Symbolisierung. J e stärker dabei die andere Wirklichkeit in Erscheinung tritt, um so intensiver wird das Symbol-Erlebnis, das in den Bereichen der Kunst und der Religion fast immer, ausnahmslos jedoch im Schlaftraum in dem Gefühl unerschütterlicher subjektiver Gewißheit gipfelt. Von der manchmal hinreißenden, aber bald zu durchschauenden Illusion kann die symbolische Formgebung sich steigern bis zur faszinierenden Halluzination, die jede Kritik entwaffnet. In dieser Reihe von Vorgängen, die nur graduell voneinander unterschieden ein oberflächliches oder tieferes Spiel mit der Realität bedeuten, erscheint der Traum als die stärkste Abkehr von ihr. Im Schlaftraum zeigt sich die höchste Spielfähigkeit des Menschen. Die Völker früherer Zeiten bis zum Ausgang des Mittelalters verfügten noch nicht über ein genügend distanziertes Weltbild. Die uns Jetzigen geläufige objektivierende Anschauung, auf der sich die Realität errichtet, gab es damals für die Mehrzahl der Menschen noch gar nicht. Um zu spielen, bedurfte es daher für sie keines Haltungswechsels. Ihre seelische Grundhaltung war diejenige des Spieles. Alles Geschehen in der Welt und am einzelnen erlebte man damals in der intensivierenden pathischen Subjekthaltung. Zwar bezeugen die monumentalen Bauwerke der Antike, die Mathematik der Hellenen, die Gesetzgebung der Römer, die mittelalterlichen Dome, daß die Anlage zu sachlichem Denken vorhanden war und sich sogar zu schöpferischen Leistungen entwickeln konnte, aber diese Sachlichkeit beschränkte sich nur auf einzelne Bereiche der Kultur, war beinahe Geheimwissen einzelner und besaß keine Werbekraft, welche die Allgemeinheit durchdrang und überzeugte. Die unerschütterliche Gewißheit ihrer Symbol-Erlebnisse mag die Menschen jener Zeit verhindert haben, die Erforschung einer objektiven und nachprüfbaren „Wahrheit" überhaupt zu erstreben. Man widersetzte sich ihr sogar. Der Subjektivität des damaligen Denkens entsprachen Opfer und Prophetie, Astrologie und Alchemie, Stände und Zünfte, kurzum alles, was in einer mit Voruteilen beladenen Tradition wurzelte. War die Grundhaltung jener Menschen diejenige des Spieles, so meinten ihre Spiele bereits das Sakrale, das von Traumhalluzinationen gespeist wird. Was wir jetzt oft allzu ernsthaft als Leibessport betreiben, war einstmals Spiel zu Ehren einer Gottheit, also tief-symbolische Weihehandlung. Die bildende Kunst der Antike und des Mittelalters, ebenso die Darstellungen auf der Bühne dienten fast ausnahmslos dem religiösen Glauben. Alle symbolische Formgebung hatte als Basis die andere Wirklichkeit, die den praktischen Alltag durchdrang. Schein und Sein waren eng ineinander verwoben. Mangels einer Realität, die wir Jetzigen der anderen Wirklichkeit des Spieles und des Traumes als selbstverständlich entgegensetzen, war ein Wechsel der seelischen Haltung damals überhaupt nicht denkbar. Zu jenen Zeiten suchte man die Wahrheit in den Träumen und fand sie dort auch, weil das» Wunder der Verwandlung in das für jene Menschen geltende Weltbild paßte und weil die Halluzinationen des Schlaftraumes nur

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eine Vertiefung der illusionären Gewißheit waren, die aus der Spielhaltung floß. Auch die primitiven Yolksstämme der Gegenwart, deren Lautsprache noch nicht genügend distanzierende Kraft besitzt, leben spielend und selbst traumdenkend vornehmlich in der Welt der Symbole. Zu Recht besteht daher der Satz von Huizinga, daß „Kultur ursprünglich gespielt wurde". Fast scheint es, als ob der Begriff des „Spieles" als allgemeine Grundlage der symbolischen Formgebung gefährdet würde, wenn das Spiel jetzt und in unserem Zivilisationskreise einen Haltungswechsel beansprucht, während es für frühere Geschlechter und die primitiven Volksstämme die ihrer Denkweise entsprechende Grund- und Dauerhaltung bedeuten soll. Aber der scheinbare Unterschied zwischen Einst und Jetzt, zwischen dem primitiven und dem zivilisierten Menschen, auch zwischen dem Kleinkind und dem Erwachsenen gleicht sich aus, sobald an die Stelle der Spielhaltung die seelische Kraft gesetzt wird, die das subjektivierende, nur intensiv erlebbare, bildhafte Denken bewirkt. Diese Kraft ist bereits am Werke, wenn für das Individuum ein distanziertes Weltbild noch garnicht möglich ist, bewahrt seine Ursprünglichkeit und Stärke, solange dieses Weltbild noch kein genügend festes Gefüge erhalten hat. Sobald es aber einmal errichtet wurde — und dieser entscheidende Vorgang vollzieht sich durch die distanzierende Lautsprache —, wirkt diese ursprüngliche Kraft weiter im Weltbild der „Wahrheit", setzt sich sogar zuweilen gegen dasselbe durch, ob bewußt oder unbewußt. Sie speist das Denken des modernen Menschen, wenn es zum Ordnungssystem zu erstarren droht, mit lebendigen Säften der Tiefe von jenem uralten Weltbild her, das durch das Gefühl unmittelbarer Nähe und gebärdesprachliches Beziehungsdenken seinen sinnhaften Zusammenhang empfing. Dieser ursprünglichste seelische Motor ist die Phantasie. Sie ist nicht, wie die Laien annehmen, eine exzentrische und in die Weite schweifende Kraft. Vielmehr ist sie zum Ich gerichtet und zentripetal, da sie alle tatsächlichen oder vorstellbaren Gegenstände und Vorgänge des Weltgeschehens im Spiel der Gedanken zu ichhaften Bestandteilen der anderen Wirklichkeit formt, zu wandelbaren Symbolen gestaltet. Umgekehrt auch dürfen wir hinter allem, was als symbolisch erscheint, da es den Gesetzen zeiträumlichen Denkens und lautsprachlicher Identität nur unvollkommen oder überhaupt nicht gehorcht, die Phantasie, den menschlichen Spieltrieb vermuten. J e mehr dieser Spieltrieb von der Realität wegführt und die augenscheinliche Wahrnehmung in Frage stellt oder gar mißachtet, desto mehr macht er aus dem sachlich Beobachtenden einen hingebend Erlebenden und gibt solchem Phantasie-Erlebnis das Gepräge subjektiver unantastbarer Gewißheit. Symbol hießen wir alles Sichverwandelnde d. h. alles Werdende (Werden als Gegensatz von Sein), das nur gebärdensprachlich bildhaftem Denken und seinen persönlichen Beziehungen unmittelbarer Nähe zugänglich ist, der gliedernden und distanzierenden Lautsprache jedoch

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unerreichbar bleibt, wenn nicht ein Dichter sie meistert. Die spielende Phantasie, an die symbolische Formgebung geknüpft erscheinend, ist daher zugleich die schöpferische, wenn sie dem Menschen die urtümliche, intensivierende pathische Subjekthaltung aufzwingt. Nur in dieser Haltung erschließen sich neue Zugänge, enthüllen sich ungeahnte Zusammenhänge, die vom denkenden Verstand weder vorausgesehen noch leicht durchschaut werden können. So sehr aber die Phantasie, bewußt oder unbewußt wirkend und Neues schaffend, in jeder Hinsicht eine dem logischen Denken entgegengerichtete Kraft ist, erweist sie ihr wahrhaft schöpferisches Wesen vorzüglich dann, wenn sie in kürzeren oder längeren Intervallen mit lautsprachlichem Denken abwechselt. Dann nämlich, im Bereich des Spiel-Ichs und die Sphäre des Traum-Ichs nur ausnahmsweise erreichend, empfängt sie die Fähigkeit, Neues von solcher Art im Symbol zu gestalten, das auch unter gewissen Bedingungen dem realen Weltbild eingegliedert werden kann und für dieses vielleicht einen wertvollen stabilen Zuwachs bedeutet. In diesem Sinne kann der Schlaftraum, wenigstens in seinen Tiefenschichten sich nicht fruchtbar auswirken, da hier die Lautsprache weitgehend biologisch gelähmt ist. Ebensowenig das religiöse Symbol, das seine Inhalte und seine Undurchsichtigkeit vielfach den Halluzinationen des Schlaftraumes verdankt. Hauptsächlich im intermittierenden und selbst oszillatorischen Wechsel zwischen SpielIch und Wahrnehmungs-Ich, zwischen Phantasie und Logos wird das Spielsymbol zum Ausgangspunkt und zum Kennzeichen schöpferischer Kunst und Wissenschaft. Sogar die Technik erscheint nur äußerlich als hervorgegangen aus reiner Sachlichkeit und Berechnung. Eigentliche Kraft spendet ihr jedoch die Phantasie, die zunächst von der Realität sich abwendet und die beziehungsreiche Ich-Nähe im Spielsymbol erstrebt. Die schöpferische Phantasie ist es, die das Leben des Alltags auch noch innerhalb unserer Zivilisation mit neuen Erfindungen bereichert und die dem Menschen gesetzten biologischen Grenzen kühn erweitert. Den primären und überragenden Anteil der Phantasie gegenüber dem Logos beim schöpferischen Denken drückte schon der große Mathematiker Gauß aus, wenn er einmal gesagt hat, seine Resultate habe er schon, er wisse nur noch nicht, wie er zu ihnen gelangen könne. Die mangelnde Einsicht, daß Phantasie und Logos einander entgegengerichtete seelische Kräfte sind, deren jede in eine andere Seins-Sphäre strebt, hat es bisher verhindert, den Begriff des Symbols recht zu umschreiben und ihm seinen Standort im seelischen Geschehen zuzuweisen. Das hohe Wort, das nach Harnack noch zu Zeiten des frühen Christentums das Sakrale gegenüber dem Profanen bedeutet hatte, war nun selbst profaniert worden 1 . Eine solche Verwässerung des Begriffs war 1 Hingegen: „Bis in die geheimsten Tiefen der Seele treibt das Symbol seine Wurzel, die Sprache berührt wie ein leiser Windhauch die Oberfläche des Verständnisses. Jenes ist nach innen, diese nach außen gerichtet. Nur dem Symbole gelingt es, das Verschiedenste zu einem einheitlichen Gesamtemdruck zu verbinden. Die Sprache reiht Einzelnes aneinander, und bringt immer nur stückweise zum

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zugleich eingetreten, daß alles Uneigentliche Symbol genannt werden konnte. Wenn es sich dabei bloß um eine Frage der Definition gehandelt hätte! So aber, indem man es zu einem Gegenstand der Vorstellung machte, sein eigentliches Wesen als Energiezentrum für das Erleben jedoch übersah, versperrte man sich den Zugang zu Gebieten, die durch das rechte Begreifen des Symbols und der schöpferischen Phantasie zu erhellen sind. Es gibt zu denken, daß symbolischer Formgebung die bisherige Forschung so wenig gerecht wurde. Nach ihrer Methode vermochte sie es wohl kaum. Dem Zugriff des nur logischen Denkens versagte sich das Weltbild der Nähe und damit der seelische HaltungsWechsel, der erfolgt, sobald der moderne Mensch von der Realität sich abwendet, dem befreienden Spiele (der Gedanken) sich hingibt und nun den Vorgang symbolischer Formgebung beglückt, erschüttert am eigenen Leibe erfährt. Das ist lebendiges Geschehen, heißblütiges Erleben. Aber die Erscheinung des Lebens, gleichviel ob sie sich mehr seelisch oder mehr körperlich äußert, kann weder allein durch die auf mechanische Prozesse eingestellte Naturwissenschaft noch auf dem Wege über die meistens wertende Geisteswissenschaft geklärt, geschweige denn erklärt werden. Für denjenigen, der um die Einheit von Seele und Leib weiß, ist hier eine andere Betrachtungsweise am Platz, wie sie auch die Strukturpsychologie gebraucht, wenn sie das seelische Leben unter dem Gesichtswinkel lebendiger Kräfte ansieht, die in ihrer gegensätzlichen Richtung dennoch ineinander verzahnt sind und sich wechselseitig bedingen. Von der physikalischen Umwelt ist der lebendige Organismus sichtbar unterschieden durch die selbständige Eigenbewegung des Ganzen oder seiner Teile (Beweglichkeit der Glieder, Stoffwechsel). Wie aber der Naturforscher alten Schlages zu fragen aufhörte, sobald er einen mechanischen Vorgang in ursächlich zusammenhängende Bewegungen aufgelöst hatte, gibt sich auch die strukturelle Betrachtungsweise zufrieden, wenn ein lebendiger Vorgang als sinnvolle Bewegung erkannt wurde. Als eine solche erscheint sowohl die Fähigkeit des Menschen, Eindrücke der Wahrnehmung und auch der Empfindung mittels des Wortes in einen gewissen Abstand zu rücken und sie so dem Bereich der realen Welt einzugliedern, als auch jene andere Fähigkeit, objektiv werdende oder bereits gewordene Wahrnehmungen und Vorstellungen ichhaft d. h. symbolisch zu formen und sie zum unmittelbaren leiblichen Gefühlserlebnis werden zu lassen. So wird ein neuer Standpunkt gewonnen, der die objektive und die subjektive Sphäre voneinander unterscheidet. Zugleich Bewußtsein, was, um allgewaltig zu ergreifen, notwendig mit einem Blicke der Seele vorgeführt werden muß. Worte machen das Unendliche endlich, Symbole entführen den Geist über die Grenzen des Endlichen, Werdenden in das Reich der unendlich seienden Welt. Sie erregen Ahnungen, sind Zeichen des Unsagbaren, unerschöpflich wie dieses, mysteriös wie notwendig und ihrem Wesen nach jede Religion eine stumme Rede, . . . unzugänglich dem Spott und dem Zweifel, den unreifen Früchten der Weisheit." Bachofen, 6. August 1844.

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erscheinen der zentrifugale Logos und die zentripetale Phantasie als polare, einander bedingende Entsprechungen, die durch jedesmal verschiedene Zentralorgane und Muskelgruppen des Körpers biologisch festgelegt sind. Was die Sprache betrifft, so wurde ihre Gebundenheit an Körperorgane niemals bezweifelt. Freilich führte der mechanisch-physiologisch erklärbare Anteil der Sprache ein Sonderdasein, da ihr geistiger Anteil vorwiegend grammatikalisch und etymologisch, also philologisch behandelt wurde. Nur in der modernen Linguistik finden sich Ansätze, dem leiblichen wie dem seelischen Geschehen in der Lautsprache gerecht zu werden1. Allzuoft wurde, wie aus unseren früheren Beispielen ersichtlich, der Vorgang des Sprechens dem rein logischen Denken gleichgesetzt, rückte dabei in die Reihe der sog. psychischen Prozesse — ein nur verschleiernder Ausdruck —• und schien einer Analyse zugänglich, die ab und zu durch ein ebenso auf logisches Verstehen zielendes psychologisches Experiment unterstützt wurde. Dabei schlüpfte allerdings die Sprache, soweit sie eine Äußerung des lebendigen und durch Gefühle erregbaren Menschen darstellt, durch die Maschen des künstlichen Netzwerks. Hier setzt die strukturelle Betrachtungsweise ein, wenn sie Sprache und Sprachträger aus ihrer natürlichen, also leiblich wie seelisch bedingten Wechselbeziehung nicht löst und zugleich neben dem geistigen Anteil die affektive Seite im Werden der Sprache und in ihrer Entwicklung hervorhebt. Diese Methode versucht, aus der Polarität entgegengerichteter seelischer Kräfte, die körperlich an ihren verschiedenen Erfolgsorganen nachweisbar sind, nicht nur das lebendige Wesen der Sprache, sondern auch ihr schöpferisches Vermögen abzuleiten. So trägt die strukturelle Betrachtungsweise zur Erklärung bei, warum allein die Artgemeinschaft der Menschen den biologischen Erbzwang, der die übrige Tierwelt fesselt, an wichtigen Punkten zu durchbrechen vermochte, und warum der Mensch allein zu Schöpfungen werklicher oder sozialer Gestalt befähigt wurde, die in der wahrnehmbaren Welt der Erscheinungen, Natur geheißen, nicht vorhanden sind. Wie es kam, daß statt der Einzelsignale der Stimme, der Gebärde, des Farbwechsels u. ä. in der Tierwelt als Reaktion auf Eindrücke oder als Äußerung triebhafter Regungen einzig beim Menschen eine sinnvoll zusammenhängende Sprache sich entwickeln konnte, ist eine Frage, die noch der Antwort harrt. Vielleicht, daß alsdann nicht nur die Vorherrschaft von Sinnesorganen beachtenswert erscheinen wird, sondern auch die besondere Art ihrer Koppelung, die wir bei verschiedenen Menschentypen vermuten können, wenn etwa der visuelle und der auditive Typus unterschieden werden, oder wenn Phänomene wie die Synästhesie von Farben und Tönen eine nicht bei allen menschlichen Individuen gleichmäßige Aneinander-Schaltung der Sinnesorgane oder ihrer Zentralen 1 Vgl. Roman Jakobson, „Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze." 1941, Uppsala, Spräkvetensskapliga Sällskapets i U. Pörhandlingar.

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ahnen lassen. Mag es auch vornehmlich die Lautsprache gewesen sein, jene an die Organe der Atmung und des Mundes geknüpfte stimmhafte Ausdrucksmöglichkeit, deren Besitz den Menschen zum Kulturwesen emporhob, und deren Fortentwicklung einzelnen Völkergruppen vor anderen, primitiv bleibenden den Vorrang sicherte, so scheinen doch zunächst ganz andere Eigenheiten des Körpers und seiner Gestaltung es gewesen zu sein, die dem Menschen den Aufstieg bahnten zum homo ludens, -faber, -sapiens. Als unterscheidendes Merkmal gegenüber den anderen Säugetieren wurde vor allem die aufrechte Haltung des menschlichen Individuums angesehen, wie sie das griechische Wort Anthropos ausdrücken soll. Durch das Überragen des Kopfes und seine freie Beweglichkeit sollten die in ihm befindlichen Augen ihre weitreichende Kraft erst recht entfalten können. Manchem wird solche Erklärung nicht ganz einleuchten. Auch darf man zweifeln, ob allein die gesteigerte Leistung eines Sinnesorgans ausreichte, um die Fesseln der tierischen Naturgebundenheit zu sprengen. Im Zusammenhang mit der aufrechten Haltung scheint wichtiger zu sein der Besitz und die mannigfache Funktion der menschlichen Hand. Es scheint, als ob der aufrechte Gang die Hände aus der Reihe der Gliedmaßen gesondert habe. So wurde den Händen erst rechte Selbständigkeit und Freiheit der Bewegung ermöglicht. Nunmehr gelangten sie in engere Nachbarschaft zum Gesichtssinn und konnten sogar zum feinsten Kontrollorgan des Auges werden. Dabei sei nicht vergessen, daß als Folge der Sonderung von Hand und Fuß wie durch die aufrechte Haltung der Standort des Menschen gegenüber den Vierfüßlern fester umrissen wurde, so daß nun auch der Fuß und sein Schritt als nachprüfendes Meßinstrument für das Auge dienen konnten. Während beim Tier den Fernsinnen des Sehens und Hörens in dauernder Einförmigkeit die Nahsinne des Riechens, Schmeckens und Tastens entsprachen, die auf unmittelbaren Lustgewinn bei der Nahrungsaufnahme oder Sexualität zielten, scheint beim Menschen durch die Sonderung von Hand und Fuß in diesen Organen eine mehr neutrale Zone geschaffen, die außerhalb lustvoller Nahziele auch für sachliche Prüfung sich eignete. Insbesondere scheint die Hand, an deren Fingerspitzen der Tastsinn gipfelt, nunmehr imstande, eine Grundlage für die Kenntnisnahme der nahen Umgebung zu bilden. Infolge der Mannigfaltigkeit und feinen Abstimmung ihrer Bewegungen darf die tastende Hand den Anspruch erheben, neben dem Auge als der vornehmste Sinnesapparat zu gelten. Schon Anaxagoras sagt, der Mensch sei darum das gescheiteste Wesen, weil er Hände habe1. Aber nicht nur ein wichtiges Organ für die Orientierung in der Außenwelt ist die Hand. Sie ist zugleich das Körperglied, an dem die menschlichen Willensäußerungen sichtbar werden. Ohne sich recht der Metapher bewußt zu werden, spricht man vom „handelnden" Menschen. Meint 1

Aristoteles, de partibus animalium IV. 10.

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man aber jemand, der es versteht, die Gegenstände, die ihm zur Hand sind, seinen Zwecken nutzbar zu machen, so nennt man ihn praktisch. Mag auch die Unterscheidung zwischen Machen (Prattein) und Tun (Poiein) von Plato als sophistische Wortklauberei erklärt werden, so trennte doch tatsächlich die griechische Sprache Praxis und Poiesis. Danach erscheint Praxis als sachliche Betätigung. Wenn man so will: Arbeit. Das zu bearbeitende Material unterliegt der Beurteilung auf seine Tauglichkeit. Um die Arbeit an ihm zu irgend einer nahen oder fernen Zeit abzuschließen, muß das eigene Ich für eine Weile dem geplanten Zweck nachgestellt werden. Im Gegensatz zur Praxis, die einen objektivierenden Vorgang darstellt, ist mit Poiesis eine Tätigkeit gemeint, bei der zeiträumliche Beziehungen in den Hintergrund treten. Der Akzent liegt nicht auf der Fertigstellung eines Werkes. Auf uns Jetzige kann die Skizze zu einem Gemälde, der Torso einer Statue, die „Unvollendete" Schuberts mächtig wirken. In der Poiesis herrscht die stets ich-nahe Gegenwart. Ein gutes Porträt spricht uns förmlich an. Magie und alle kultischen Bräuche gelten den Gläubigen als wirksam, weil das zu Bannende nicht ein distanziertes Objekt ist, sondern ein handnahes Gegenüber, das eine affektive Stellungnahme fordert. Nicht der urteilende Verstand entscheidet über die Tauglichkeit eines Opfers oder eines Gerätes zur Beschwörung des verderblichen Zaubers, sondern die untrügliche Sicherheit des Gefühls, das sieh meistens auf die Überlieferung zu stützen pflegt. Poietes ist also der Priester, der weissagende und auf Heilung sich verstehende, im engeren Sinne der Dichter, wenn er hingerissen von seinem als gegenwärtig erlebten Stoff die eigene pathische Subjekthaltung den Zuhörern mitteilt und sie so begeistert. Nicht umsonst ist in der Antike das Attribut des Gottes der Dichtkunst die mit der Hand geschlagene Kithara. Und es ist Poiesis, wenn nach der griechischen Sage die Mauern Thebens unter dem Saitenspiel Amphions sich emporschichten. Zusammengefaßt: Praxis meint die zu beobachtende Realität und ordnet das zweckmäßige Handeln in ihr nach unpersönlichen erlernbaren Regeln. Hingegen ist mit Poiesis die andere Wirklichkeit gemeint samt ichhaften Beziehungen zu einem handnahen Symbol. Die Wichtigkeit der Hand zeigt sich darin, daß sie sowohl an der objektivierenden wie an der subjektivierenden Haltung, daß sie am Weltbild der Augenferne wie an demjenigen der Nähe beteiligt sein kann. Wenn sie Werkzeuge und dann Maschinen verfertigte und gebrauchte, stellte sie sich in den Dienst planenden und sogar vorausberechnenden Denkens. Daß aber der Realität zum Trotz ein in der Gewißheit des unmittelbaren Gefühls wurzelndes Weltbild der anderen Wirklichkeit entsteht, an dem der Gesichtssinn mitwirkt, ohne jedoch die Führung zu haben, dankt der Mensch jener Tätigkeit der Hand, welche die Ichhaftigkeit und die Intensivierung des Erlebens unterstützt oder selbst hervorbringt. Spielend-formend macht die Hand Gegenstände der Außenwelt zu ich-bezogenen Dingen, wann sie etwa einen Tonklumpen ballt,

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knetet oder mit Ornamenten verziert. Der dunkle Drang zum Spiel, die Lust am Spielen bildet, verwandelt und beseelt den rohen Stoff. J a , es ist zu vermuten, daß die ebenso lustvolle wie staunenswerte Verwandlung der handgreiflichen Substanz dem Symbol-Erlebnis den Boden bereitete, da solche Umformung gegen die Identität eines realen Gegenstandes gerichtet war. Spielend formte die Hand. Halbbewußt, manchmal vielleicht unbewußt schuf die Hand des Menschen die wesensfremde Außenwelt zur körpernahen, leibhaftig erlebbaren Umwelt, gab ihr jenes eigentümlich ichhafte Gepräge, das die unbegreifliche, oft unheimliche und sogar feindlich scheinende Natur zur gefühlsbetonten „Kultur" gestaltet. Der ichhafte Wert sprach zunächst an, wurde früher erkannt als der sachliche Nutzen. Selbst die größte Entdeckung des primitiven Menschen, die Erzeugung des Feuers, entbehrte zunächst der reinen Sachlichkeit. Den Beweis liefern die dem Feuer-Quirlen und -Reiben zugehörenden Riten, die symbolhafte Beziehung der Flamme im Kult zur Genitalität und endlich noch in unserer Zeit viele Gleichnisworte der Erotik (heiße Liebe, feuriger Liebhaber). In der Vorherrschaft der poietisch sich betätigenden Hand liegt wohl auch das eigentümliche Verhalten der menschlichen Artgemeinschaft begründet, die ich-nahe Gewißheit der augenfernen Wahrheit vorzuziehen, die so unpersönlich ist, der spielenden Phantasie eher zu trauen als dem nüchternen Verstand. Der unerschütterliche Glaube an das intensiv erfahrene Erlebnis, das leicht den Nimbus des Mystischen oder Sakralen annahm, verhinderte das objektive Urteil oder trübte es wenigstens. So war auch vorurteilsfreie Wissenschaft unmöglich. Es bedeutete den Anbruch der Neuzeit, als im Gefolge weltumwälzender astronomischer und geographischer Entdeckungen, nicht zuletzt durch die Erfindung des Buchdrucks endlich Praxis und Poiesis sich schieden. Nunmehr konnte die reinliche Grenzziehung vollzogen werden zwischen der persönüchen, oft traditionellen Glaubensgewißheit und dem sachlichen Streben nach Wahrheit, die der Nachprüfung standhielt. Der Stolz der Menschheit über die Erfolge, die dem objektivierenden Denken zugeschrieben wurden, ließ immer mehr das Weltbild der Distanz über dasjenige der Handnähe siegen. Die Beobachtung gewann an Wert gegenüber dem Erlebnis. Diese Erscheinung nennen wir „Zivilisation". Sie scheint kulturfeindlich, wenn sie rücksichtslos und überheblich etwa die zur persönlichen Sphäre gehörende Welt der Symbole, also Kunst und Religion in Frage stellt oder logisch wegdisputiert. Im Grunde fördert aber die Zivilisation auch die Kultur, weil unbeschwert von praktischen Zielen die Phantasie ihre poietischen Kräfte erst voll zu entfalten vermag. Wir sprachen von der Hand und schienen vergessen zu haben, daß der Mensch zwei Hände besitzt. Zum Unterschied von den übrigen paarigen Körperorganen hat aber die rechte Hand die andere weit überflügelt. Ein Ungeschickter heißt ausdrücklich „linkisch". In dieser Vormachtstellung der rechten Hand zeigt sich biologisch ihr enger Zusammenhang mit der Sprach-Begabtheit des Menschen. In der Gebärdensprache wird

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die rechte Hand gegenüber der linken sichtlich bevorzugt. Die Motorik der linken Gehirnhälfte kommt also zum Ausdruck. Das motorische Zentrum für die Lautsprache ist sogar nur auf die linke Seite der Hirnrinde beschränkt. Ebenso wie die Mehrzahl der Menschen Rechtshänder sind, sind sie auch als Rechts-Sprecher zu bezeichnen, wobei die motorische Zentrale also in der Gehirnrinde der anderen Seite gelegen ist. Der enge Zusammenhang zwischen den Funktionen der rechten Hand und der Sprache wurde bisher nur an pathologischen Fällen erkannt (Lähmung der rechtsseitigen Gliedmaßen und zugleich Aphasie). Unsere Erwägungen lassen einen solchen Zusammenhang auch beim gesunden Menschen vermuten. Das Problem harrt noch der Lösung. Nur soviel mag gesagt werden, daß die genannte Einseitigkeit wahrscheinlich etwas zu tun hat mit dem Rhythmus, der später ausführlich behandelt werden soll.

II. D I E BEWEGUNGSPHANTASIE. Der Durchschnittsmensch der jetzigen Zeit anerkennt die sichtbare Außenwelt als Realität, als Schauplatz tatsächlicher Vorgänge, die mittels des Verstandes erklärbar sind. Er weiß aber auch um Spiegelbilder, um Augentäuschung. Darum mißt er den Gegenständen der Außenwelt, an denen Vorgänge sich vollziehen, nur soviel Wahrheitsgehalt bei, als ihr augenscheinliches Verhalten durch andere Sinnesorgane, vor allem durch den Tastsinn bestätigt oder vernünftig ergänzt werden kann. Mit Phantasie bezeichnen wir die besondere Fähigkeit des Menschen, an den wahrgenommenen oder vorgestellten realen Gegenständen einen Umformungsprozeß zu tätigen, der sie ihrer realen Eigenschaften mehr oder minder entkleidet. Die graduelle Steigerung dieser Umformung ist beispielsweise zu verfolgen vom Gleichnis und vom Scheinbild der Naturwissenschaft über Kunstwerk und Religion bis zum Traumsymbol. In anderem Sinn alsPalagyi 1 gilt uns die Phantasie als „Bewegungsphantasie". Durch sie verlieren nämlich die Gegenstände der Außenwelt ihre scheinbare Starrheit und ihr Isoliertsein, erhalten gleichsam eine andere Konsistenz und werden so in sich beweglich, vermögen aber kraft dieser Plastizität zugleich zusammenzufließen mit augenscheinlich andersgearteten realen Gegenständen, wenn sie durch denselben Umformungsprozeß ebenfalls Plastizität gewonnen haben. Insofern in den klassischen Sprachen der Antike und in den modernen Sprachen die Erstarrung lebendiger und beziehungsreicher Naturgebilde zu bloßen Gegenständen als Folge eines unzulänglichen, weil isolierenden Wortbegriffes aufzufassen ist, mag man in der Bewegungsphantasie einen Vorgang des Ausgleichs erblicken, gerichtet gegen eine selbstgerechte Objektivierung, die einen Wahrheitsgehalt für gesichert ansieht, wenn sie z. B. in der Setzung von Subjekt und Objekt sich auf die Konventionen einer logischen Grammatik stützt. Mag uns jetzt erst die Phantasie als die Kraft, welche die Symbolisierupg bewirkt, in ihrer wahren Wichtigkeit klarwerden, so sei doch keineswegs vergessen, daß bereits Palägyi die Phantasie als diejenige Fähigkeit des Menschen erkannt hat, durch die einerseits Empfindungen von der Außenwelt d. h. Wahrnehmungen —• andererseits Gefühle, die durch vegetative Reize am eigenen Körper hervorgerufen sind, mit einem imaginären Ich in Beziehung gesetzt werden. Ihm erschien die Phantasie als ein der Empfindung und dem Gefühl durchaus gleichwertiges Vermögen und 1 Melchior Palägyi, „Naturphilosophische Vorlesungen". Leipzig, Joh. Ambros. Barth, 1924. 9., 10., 11. Vöries.

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wurde beweiskräftig als „Bewegungsphantasie" gedeutet, da sie stets mit wirklichen oder virtuellen Bewegungen der Körperglieder, besonders der tastenden Hände sich verbindet. Infolge der mit jedem Tastvollzug einhergehenden Bewegung, die leibhaft-unmittelbar als ichhaft erlebt wird, stellt nach meiner Ansicht die Phantasie das eigentlich ich-setzende Moment dar, durch das der Mensch sich selbst als Zentrum aller auf ihn eindringenden Reize erlebt und nur sich als dieses Zentrum zu denken vermag. Das imaginäre Ich, das im Ausdruck des vivo oder cogito enthalten ist, wird also durch die Bewegungsphantasie errichtet. Sie ist es auch, die als das Ich-setzende Moment die seelische Verbindung mit den anderen Menschen schafft und dann die Einfühlung in ihr Wesen ermöglicht. So sehr geht aber die Ichhaftigkeit der Phantasie in alle Denkakte ein, daß z. B. die mechanischen Geschehnisse in der Natur nur in Hinsicht auf den eigenen Körper, also im Gleichnis ichhafter Körperbewegung erfaßt werden können (physikalische Ausdrücke: des Körpers, der Geschwindigkeit, des Falles). Mag auch die gesamte Hautoberfläche des Menschen testbegabt sein, daher im Dienst der Phantasie stehen, so liegt sein stärkstes Tastvermögen in der Hand. Nach Palagyi 1 tritt nun bei jedem Tastvollzug der Hand eine passiv-aktive Doppelempfindung hervor als Selbst — bzw. als Fremd-Empfindung. Infolge solcher Doppelempfindung gilt ihm der Tastsinn als der einzige Vollsinn. Insofern aber die jedem Tastvollzug sich verbindenden, wirklichen oder virtuellen Bewegungen vornehmlich die Hand betreffen, gilt sie ihm als das eigentliche Organ der Bewegungsphantasie . Von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend sieht auch die strukturelle Betrachtungsweise in der Hand, als dem neben der Zunge mit reichster willkürlicher Beweglichkeit ausgestatteten Körperteil das eigentliche Vollzugsorgan der Phantasie. Es sei daran erinnert, daß der Schlafträum und seine Welt der Halluzinationen aus virtuellen Bewegungen der Hand in der Form imaginativer Handgebärden erklärt wurde. Die Theorie von Palagyi fruchtbar ergänzend, glaubt die Strukturpsychologie, in der Doppelempfindung beim Tastvollzug eine zwiefache seelische Haltung zu erkennen. Es scheint nämlich die aktive Fremdempfindung die distanzierende Beobachterhaltung anzudeuten, während der passiven Selbstempfindung das pathische Erlebnis der Nähe entspricht. Aus dem Vorhandensein dieser Doppelempfindung würde sich auch herleiten der rasche, oft oszillatorische Wechsel zwischen gnostischer und pathischer Haltung, der beim Menschen der westlichen Zivilisation bis in die Als-Ob-Haltung des abstrakten Denkens sich verfolgen läßt. Soweit nicht, wie etwa beim traumlosen Tiefenschlaf das Bewußtsein überhaupt erloschen ist, kann bei den geistigen Lebensvorgängen der Wahrnehmung, des Gefühls und der Phantasie eine passive Phase nicht angenommen werden. An ihrer Stelle wird eine ich-gerichtete Tendenz 1

Palagyi, Naturphil. Vöries. S. 192 und 193.

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gesehen, die wegen der Beteiligung des Ichs niemals ohne Affekt zu denken ist. Mit Palägyi behauptet die Strukturpsychologie: „Die Einheit unseres Empfindungslebens kann nur durch die Phantasie hergestellt werden, und eben aus diesem Grunde gibt es ohne Phantasie nirgends eine Wahrnehmung von wirklichen Dingen und Vorgängen 1 ." In der von ihm als passiv angesehenen Phase erblicken wir jedoch den fruchtbaren Augenblick, in dem die Tätigkeit der Phantasie einsetzt. Wenn aber wirkliche oder virtuelle Bewegungen alsdann am eigenen Körper unmittelbar erlebt werden, so bedeutet dies, daß solche leibhaftige Erlebnisse nicht bloß zur Kenntnis genommen, als Erfahrungen gleichsam gebucht werden, sondern daß sie in persönlicher, erwartungsvoller Hingebung sich vollziehen. Sonst wäre es eben kein Erlebnis. Wenn also die Setzung eines zentralen Ichs nicht mehr Produkt des Verstandes ist, vielmehr schöpferische Tat der Phantasie, so betont die strukturelle Betrachtungsweise den affektiv-persönlichen Anteil und glaubt die IchFindung des Individuums erst in das rechte Licht zu setzen durch den Hinweis, daß sie in pathischer Subjekthaltung geschehe. Nicht durch Akte praktischer Erfahrung, sondern durch Poiesis wird das Ich im Menschen errichtet, — erdichtet. In bezug auf Doppelbewegung und Doppelempfindung, in der wir sowohl die gnostische wie die pathische Haltung jedesmal wiederzuerkennen meinen, scheint zwischen der Wahrnehmung, als deren deutlichster Vertreter der Tastvollzug bezeichnet wurde, und dem Sprech-Akt ein tieferer Zusammenhang zu bestehen. Der während der Ausatmung gleichsam fortgeschleuderte Laut zeigt die Tendenz der Distanzierung und Objektivierung. Aber das Gefühl rastloser Distanzierung wird dem Sprechenden sogleich verwischt, da bei jeder Klangbildung Teile des Schädels und des Brustkorbs in Schwingung geraten. Die so entstehende Vibrationsempfindung läßt aber sogleich das ichhafte Körpererlebnis hervortreten. Wie wenig die völlige Objektivierung des stimmhaften Klangs gelingt, beweist die Tatsache, daß die eigene Stimme auf der Schallplatte nicht leicht wiedererkannt wird. Während von der Wissenschaft der objektivierende Charakter der Sprache und die daraus folgende Neigung der modernen Sprachen zur Abstraktion bisher in den Vordergrund gerückt wurde, glaubt die strukturelle Betrachtungsweise, die sich auf die Erkenntnis zentrifugaler und zentripetaler Strebungen bei seelischen Vorgängen gründet, dem subjektivierenden Anteil bei der Sprachbildung die ihm gebührende Stellung erst erkämpfen zu müssen. Hier vermutet sie die Energeia, die für das Leben der Sprache bürgt, sie geschmeidig erhält und sie davor schützt, zum System einer toten Sprache zu erstarren. Im sprechenden Menschen selbst wird dieser immer neu sprudelnde Quell gesucht. Es ist der urtümlichste menschliche Trieb, der Spieltrieb, wie er in der Bewegungsphantasie sich offenbart, wenn der noch sprechunfähige Säugling durch 1

Naturphil. Vöries. S. 161.

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die Bewegung der eigenen Glieder ein enges körpernahes, unvollkommenes und dabei recht vergängliches Weltbild sich schafft, was aber dann beim sprechen-lernenden Kleinkind sich deutlich als schöpferische Kraft zu erkennen gibt, sobald es im Spiel die Gegenstände seiner nächsten Umgebung sich geistig zu eigen macht. Soweit die Sprache als Ausdruck lebendiger Bewegung in Frage steht, erscheint sie an zwei biologisch gesonderten Erfolgsorganen. Von ihnen werden zwei in ihrem Wesen verschiedene Sprechbewegungen ausgelöst, die Lautsprache und die Gebärdensprache. Bei der Lautsprache betätigen sich die oberen Atmungswege und die Organe der Mundhöhle bis zu den Lippen, bei der Gebärdensprache die Gliedmaßen, unter Bevorzugung der rechten Hand. Die Fähigkeit zu stummer, gebärdehaft-sinnvoller Bewegung der Glieder als auch zum Hervorbringen stimmhaft-beweglicher Laute ist dem Menschen angeboren. Zum Unterschied vom Tier besitzt der Mensch — so behauptet die Theorie v. Uexkülls — keine für seine Artgemeinschaft spezifische Umwelt. Die ihm durch seine Sinnesorgane zugängliche Wahrnehmungswelt steht nicht wie beim Tier in eindeutiger Beziehung zu seiner morphologischen Verfassung 1 . Die Dürftigkeit seiner Organausstattung gewährte ihm nicht die Möglichkeit zur Spezialisierung, ließ ihn freilich auch nicht in der Sackgasse einer hochentwickelten Einseitigkeit sich festrennen. Infolge seiner Unfertigkeit bei der Geburt und seiner langsamen körperlichen und geistigen Entwicklung in der ersten Kindheit ist nach Herder der Mensch „nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung". Auf den Menschen, der ein „Mängelwesen" darstellt, stürmt die Welt von allen Seiten ein, fordert von ihm eine Vielseitigkeit der Stellungnahme, die ihn entschieden heraushebt aus der eindeutig festgelegten Erbtradition im Tierreich. Hilflos als Säugling und noch als Kleinkind, spät erst zur Geschlechtsreife gelangend, scheint der Mensch gegenüber dem Tier zunächst benachteiligt. Dennoch übertrifft er es gerade durch seine Mängel. Er muß die in ihm schlummernden Anlagen selbständiger Gliederbewegung und der mit ihr verbundenen Tastempfindung Schritt für Schritt sich selbst erobern und zu mannigfachen Zwecken entwickeln, aber — er kann es auch. Es wird verständlich, obwohl es noch der genauen Forschung harrt, daß die „Weltoffenheit" den Menschen auf Kosten seiner Instinkte in die Richtung eines denkendhandelnden Wesens steuern mußte, und daß er jenseits der Fähigkeit zu eindeutigen, stummen oder stimmhaften Signalen durch die Art seines Körperbaues das Vermögen empfing, eine vieldeutige, jeder neuerlebten Situation sich anpassende und sie verarbeitende Sprache sich zu schaffen. Was der einen Betrachtungsweise als Mangel erscheint, mag von einem anderen Standpunkt freilich als Neu-Spezialisierung gedeutet 1

Arnold Gehlen, „Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt.". 1940, Verlag: Junker und Dünnhaupt. Vgl. Einführungskapitel, bes. S. 20. 3 M a y e r , Schöpferische Sprache

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werden, sobald man die menschliche Hand in der Mannigfaltigkeit ihrer Bewegungen und in der Fülle ihrer Beziehungen zu seelischen Regungen als das Organ erkannt hat, das geistiger Entwicklung die Bahn erst freimachte. Was gemeint ist, wird vielleicht der Vergleich zwischen dem vollgestopften Laboratorium eines Alchemisten und einer modernen chemischen Fabrik erläutern. Die Fabrik kann auf die umständliche, weil einseitige Apparatur verzichten. Ihr Betrieb vollzieht sich scheinbar von selbst bei schmucklos-einfacher Ausstattung, seitdem neue Kräfte wie Dampf oder Elektrizität eine planvolle Ordnung der Produktion ermöglichen, die im Sinne der Vielseitigkeit als auch der Höchstleistung verwendet werden kann. So verbirgt sich hinter einer anscheinend dürftigen Ausstattung der Überfluß an schöpferischen Ideen. Aus einer gebärdesprachlichen und einer lautsprachlichen Wurzel zieht die Umgangssprache ihre Kräfte. Es ist aber bemerkenswert, daß in den ersten Lebensmonaten auch solche Organe, die später hauptsächlich im Dienst der Lautsprache stehen, nämlich Zunge und Lippen, deutlich gebärdesprachliche Funktionen besitzen. Nach Untersuchungen von Dr. Lüders/Uppsala an 100 Kindern dieser Frühzeit soll •— beim Herantreten von Erwachsenen an das Bett des Säuglings — Vorwärtsbewegung der Zunge, manchmal bis zum Herausstrecken, Freude bekunden, während das Einkrümmen der Lippen Abwehr ausdrücken soll. Wie mir von der Untersucherin berichtet wurde, fand sie die Zungenbewegung vorwiegend bei Knaben, die Lippenbewegung mehr bei Mädchen. Es bleibe dahingestellt, ob in solcher Mimik bereits Geschlechtseigentümlichkeiten hervortreten. Nach Vollendung des ersten Lebensjahres ist das Kleinkind in der Lage, sowohl durch Gebärden als auch durch die Stimme sich signalhaft zu äußern. J e nach seiner geistigen Begabung pflegt es auf manche Gebärden und Worte seiner Umgebung schon sinngemäß zu reagieren oder sie nachzuahmen. Auch in der Folge beeinflussen Gebärdensprache und Lautsprache sich wechselseitig, durchdringen und steigern einander. Endlich verschmelzen sie beim Kinde von etwa zwei bis drei Jahren zu jener übergeordneten Bewegungseinheit, die sich als Lautsprache äußert, nicht selten im Falle des Affekts die Gebärde der Hand oder die Mimik des Gesichts zu Hilfe nimmt und Sprache oder Umgangs-Sprache genannt wird. Was jedoch äußerlich in zusammenhängender sinnhafter Laut-, Silben-, Satz-Folge später als einheitliche Sprachform erscheint, enthüllt sich in der inneren Struktur als ein lebendiges Zusammenwirken von zwei durch ihre gesonderte Zentrierung im Gehirn auch biologisch unterschiedenen Vorgängen. Die Hand in ihrer Eigenschaft als poietisches Ausdrucksorgan, dabei unterstützt vom vibratorischen Gehörssinn, gibt unsichtbar der Lautsprache die Gewißheit der Ich-Nähe und schafft somit den subjektivierenden Anteil. Hingegen tragen im Aushauch die eigentlichen Sprachorgane des Kehlkopfs und des Mundes den durch sie geformten Klangkörper in die Ferne und machen ihn zum Beharrungselement, das den objektivierbaren Anteil der Lautsprache dar-

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stellt, der von anderen wahrgenommen und auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft werden kann. Dieser zwiefache Ursprung der Lautsprache bewirkt, daß im Werden der Sprache und ihrer Entwicklung, sowohl bei der Redeweise des einzelnen wie der Gesamtheit, bald mehr der gefühlsmäßige, ichhafte und unmittelbare Eindruck hervortritt, der von der Phantasie getragen wird, bald mehr der sachliche, unpersönliche und verstandesmäßige Inhalt, der vom Logos beherrscht wird. So gesehen, erscheinen als Varianten des Doppelgefüges alle Sprachen der Völker, von den primitiven an, bei denen der magische Zusammenhang im Sprechen und Denken vorwaltet, bis zu jener höchstentwickelten Diktion des modernen Gelehrten, in welcher der abstrakte Begriff das Ursprüngliche und Bildhafte zu verdrängen droht. Als solche Varianten erscheinen aber überhaupt alle Äußerungen und Mitteilungen irgendwelcher Form, auch wenn sie nicht die Eigenart stimmhafter Ausdrucksweise besitzen. Bei jedem Vorgang der Symbolisierung: in der Sprache des Traumes, im religiösen Mythos, im Kunstwerk, im Spiel der Kinder wie der Erwachsenen tritt der ich-nahe Anteil in den Vordergrund. Hingegen bedient sich die Umgangs-Sprache der zivilisierten Völker, wenn sie im gesprochenen, im geschriebenen oder gedruckten Wort zur Verständigung untereinander beiträgt, mehr des ich-fernen Anteils. Sachlichkeit der Sprache wird erstrebt im mündlichen oder schriftlichen Geschäftsverkehr, in Zeitungsberichten oder bei wissenschaftlichen Mitteilungen. Daß aber selbst hier der subjektivierende Anteil in Form einer Metapher nicht selten erscheint, ohne daß sie als solche stets bewußt wird, oder gelegentlich in Gestalt des Gleichnisses darf beinahe als Beweis gelten, daß wie bei unserem Erdball die feste Kruste der Sprache gegenüber der feurig-flüssigen Masse gewiß nicht das Übergewicht besitzt 1 . Sachlich-distanzierende Strebungen wahren der Lautsprache, wenigstens innerhalb eines beschränkten Zeitraumes, die Beständigkeit des Wortes und zügeln so die subjektivierenden Strebungen der Phantasie, die aus Unverstand oft launisch genannt wird. Hingegen ist es die zum Ich gerichtete Phantasie, welche die Sprache jung erhält, wenn sie jedem neuen Gefühlseindruck offen und ihn symbolisch gestaltend den Bedeutungswandel eines Wortes bewirkt und es dadurch einer veränderten Zeitstimmung anpaßt oder selbst vor dem festgefügten Klangkörper des Wortes nicht Halt macht, sofern es nur durch seine musikalische Umformung der neuen Gesinnung einer jungen Generation entsprechen kann. Gelingt solcher Bedeutungswandel oder Klangwandel aber nicht, dann wird das Wort aus dem lebendigen Blutumlauf als unbrauchbare Sehlacke ausgeschieden, zum alten Eisen geworfen und behält höchstens literarischen Altertumswert. Unmerklich fast wandelt sich so die Sprache des Umgangs und der Schriftsteller von Geschlecht zu Geschlecht, 1 „Wäre die Sprache ein Product des logischen Geistes, anstatt des poetischen so würden wir nur Eine haben." Friedr. Hebbel, Tagebücher, IV. Bd. S. 124.



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manchmal unter dem Einfluß einer mächtigen sprachschöpferischen Persönlichkeit oder im Verlauf einer heftigen Zeitströmung auch sprunghaft. Dennoch: der Logos zügelt die Phantasie und bewahrt allem Wandel zum Trotz die Besonderheit und Kontinuität der Lautsprache in der ihr eigenen Objektivierung, die von Sprache zu Sprache eine andere ist und auch sein muß, da Wortform und Satzgefüge nicht nur Niederschlag sachlichen Denkens sind, sondern zugleich die Gesinnung, die Ichhaftigkeit, die Kultur, die Phantasie eines Volkes verkörpern. Hat sich freilich eine Wortform und seine Bedeutung kristallisiert, ein Satzgebilde sich so gefügt, daß es grammatikalisch durchsichtig wurde, dann besitzen diese Beharrungselemente der Sprache genügende Widerstandskraft, die Phantasie zu hindern, daß sie eine gewisse Grenze überschreitet, jenseits deren die realen Gegenstände während des Wachzustandes zu flüchtigen, unfaßbaren Traumsymbolen zerflattern würden. Indem solche zentrifugalen, versachlichende Strebungen die Phantasie während des Wachzustandes auf den Bereich des Spieles beschränken, entwickeln und stärken sie in der Sprache die schöpferische Energeia zur umformenden Neugestaltung und Neuordnung des realen Geschehens. Das leichte Spielzeug der Gedanken kehrt dann als brauchbares Werkzeug in die Hand des Logos zurück und findet etwa als wissenschaftliche Theorie zweckmäßige Verwendung in der Forschung und dient so dem weiteren Aufbau eines distanzierten Weltbildes. Mancher freie Sprachausdruck der Dichtung ist über sein Schmetterlings-Dasein hinaus zum geflügelten Wort des Alltags geworden oder gewann Bürgerrecht in der einfachen Umgangssprache. So kann man sich das Verhältnis der beiden entgegengerichteten Strebungen gar nicht fein genug abgestimmt vorstellen. Sucht man nach einem Vergleich im körperlichen Geschehen, so wird man die wechselseitige Wirkung gewiß nicht in einer Kausalität finden, bei welcher der endliche Erfolg dem aufgewandten Kräftemaß entspricht, sondern eher in Vorgängen wie bei der Katalyse oder in den hormonalen Drüsen, wenn eine kaum merkliche Änderung der Säfte einen ungeheuren Umschwung im Organismus hervorruft. Bei der Frage nach dem strukturellen Aufbau der Sprache, die zugleich eine Frage ist nach der Dynamik der an und in ihr wirksamen Bewegungskräfte, muß endlich der Gehörssinn berücksichtigt werden. Ist doch die Sprache im landläufigen Sinn, die tägliche Umgangssprache, zunächst nur für das Ohr bestimmt. Wenn also in der Struktur der tönenden Lautsprache zwei entgegengerichtete Kräfte nachgewiesen werden konnten, deren jede eine andere seelische Haltung des Individuums bedingt, so nimmt, es nicht Wunder, auch im Gehörssinn diese Doppelnatur zu finden, die einmal die aktiv-distanzierende Haltung, dann wieder die intensivierende pathische Subjekthaltung bewirkt, den Hörenden entweder mit der Außenwelt mehr gnostisch und verstandesmäßig verbindet oder aber mehr sein gefühlsmäßig reagierendes Ich in Schwingung versetzt. Von letzterer Erscheinungsform beim Hören wird später noch ausführlich die Rede sein.

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Solches Doppelwesen zeigt auch der Gesichtssinn. Neben dem objektivierenden Sehen besteht das physiognomische Sehen, das subjektive Stimmung oder phantasierte Gestalten in reale Gegenstände hineinsieht. Auch die eidetische Anlage gehört teilweise zum Bereich der Ich-Nähe. Die Doppelnatur des Tastsinns wurde bereits erörtert. Sind Gesichts-, Gehörs- und Tast-Sinn einerseits Erkenntnis-Organe, andererseits Erlebnis-Organe, so stehen Geruch und Geschmack zum überwiegenden Teil im Dienst des Ich-Erlebnisses. Aus diesem Grunde kann ihre Gewißheit nur unzureichend, meistens in ungefähren Vergleichen durch die Sprache ausgedrückt werden. Das Gehör, als Fernsinn dem Auge an Reichweite nachstehend, unterstützt dieses häufig und selbst entscheidend, wenn z. B . durch den Empfang eines eindeutig bezeichnenden Wortklangs die Identität eines sichtbaren Gegenstandes nachgeprüft und sichergestellt werden soll. Ganz auf den zeitlichen Ablauf eines hörbaren Vorgangs oder auf die nacheinander folgenden Worte und Sätze eines sprachlichen Berichtes über ein Ereignis eingestellt, ist der Gehörssinn dem Zeitgefühl als tragendem Pfeiler des distanzierenden Weltbildes eng verbunden. Auge und Ohr als sog. Fernsinne ergänzen einander als Kontrollorgane. Wenn auf der gemeinsamen Umgangs-Sprache die Gemeinsamkeit eines Volkes zumeist beruht, so ist das Gehör recht eigentlich ein sozial verbindender Sinn. Man kennt das unbehagliche Gefühl der Vereinsamung in einem fremdsprachigen Lande. Man weiß, daß ein tauber Mensch unter seiner Abgeschlossenheit mehr leidet als ein blinder. Aus diesen Beispielen wird klar, wie sehr das immer affektbetonte Erlebnis auf dem Wege über das Gehör den Menschen trifft und bewegt. Darum konnte auch Humboldt die Muttersprache als die wahre Heimat des Menschen bezeichnen. Im Gegensatz zum Gesichtssinn, der vornehmlich das Weltbild der Augenferne bewirkt, ist der Anteil des Gehörs an der Objektivierung verhältnismäßig gering. Durch das Überwiegen des subjektivierenden Anteils des Gehörs kann sogar ein schlichter und eindeutiger Sachverhalt leicht verfälscht werden. Mehr als der sachliche Inhalt kann zuweilen der Tonfall einer mündlichen Mitteilung die Stimmung des Hörenden beeindrucken. Während der Augenschein oft die Wahrheit eines realen Tatbestandes bestätigt, gilt uns das Hören-Sagen als fragwürdige Stütze für die Richtigkeit. Weil Tonfall, Gebärden und alles Ichhafte der Lautsprache den einzelnen, besonders aber eine Versammlung von Menschen suggestiv zu lenken vermag und das Spiel ihrer Gedanken in einer gewünschten Richtung beeinflußt, wurde im Schriftarmen Altertum die Rhetorik den Künsten zugeordnet. Werden durch den Augenschein Illusionen leicht zerstört, zumal wenn der Tastsinn zur Hilfe herangezogen wird, so regt das affektvoll Gehörte die Phantasie an und erleichtert den Zugang zur anderen Wirklichkeit. Die Stärke unerschütterlicher Gewißheit, durch die das tiefste Symbol-Erlebnis, nämlich dasjenige des Traumes gekenn-

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zeichnet ist, erweist sich beim wachenden Menschen in Gehörs-Halluzinationen. Bei mancher Geisteskrankheit tragen gerade sie dazu bei, das feste Gefüge des augenscheinlichen Weltbildes zu erschüttern, indem sie das Weltbild der Nähe mit seinem archaischen Beziehungsdenken dem lautsprachlichen Verstandesdenken auch im Wachzustand entgegensetzen. Eine entschiedene Wendung im Verhalten des Menschen zur Lautsprache mußte eintreten, als sie zunächst in Schriftzeichen, viel später erst in Drucktypen festgehalten werden konnte. Solche Fixierung bedeutete schon in Form der Schrift eine sichtbare Objektivierung der Sprache, wenn die eigentlich für das Ohr bestimmte und nur tönende Mitteilung einem, ganz anderen Sinnesorgan, dem Auge zugänglich gemacht wurde. Jetzt erst, da die zeitliche Folge der Laute zum örtlichen Nebeneinander der Worte und Sätze geworden war, konnte die Sprache den sichtbaren Gegenständen beigeordnet werden und bereicherte auf ungeahnte Weise die Welt der Augenferne, die Realität. Nicht nur erweiterte sich der Kreis der eine Nachricht Empfangenden, und nicht nur gewann der Inhalt an Genauigkeit, die eine Nachprüfung ermöglichte, sondern der einen geschriebenen oder gedruckten Text Lesende trat in einen auch geistigen Abstand zum festumrissenen Wort, zum Inhalt der Sätze und ihrem logischen Aufbau. Jene Bedingungen waren ausgeschaltet oder doch erheblich eingeschränkt, die den bloß Hörenden im ich-nahen Erlebnis festhielten und ihn sogar oft genug von der Realität in den Bezirk der anderen Wirklichkeit drängten. Dem Lesenden erst eröffnete sich die Möglichkeit zum Vergleich, zum Werturteil, zur Kritik am sachlichen Inhalt. Darüber hinaus erwachte und schärfte sich die vorher am Affekt haftende und durch ihn gebundene Teilnahme zum ästhetischen Interesse an der Form des sprachlichen Ausdrucks, am Stil. Da das in Schrift oder Druck fixierte Wort an unverwechselbarer Identität gewonnen hatte und der Satz jetzt in seine örtlichen Bestandteile zerlegt werden konnte, war eine feste Grundlage geschaffen für wissenschaftliche Betrachtungsweise auf allen Gebieten, die dem Auge durch die Sprache dargeboten wurden. Nicht zuletzt galt solche Forschung dem Aufbau der Sprache selbst. So entstand eine logisch zergliedernde Syntax und Grammatik. Endlich aber empfing die Phantasie an dem realen Niederschlag der Sprache einen reichen Zuwachs an Gegenständlichkeit, so daß sie an sichtbaren Wortbildern, die Konkretes oder Abstraktes bedeuteten, das Spiel der Gedanken üben konnte. An die Stelle des Sängers, der durch die tönende Überlieferung des Mythos an eine starre sakrale Haltung gebunden war, die keine Abweichung vom traditionellen Inhalt duldete, t r a t der erfindungsreiche Dichter, der formelhaft gewordenen Ausdrücken und Wendungen neues Leben einhauchte und festgelegte Texte künstlerisch änderte. Am Mythos und an der Sprache selbst äußerte sich die schöpferische Kraft des Dichters. Wie sehr die schreibende Hand die Phantasie anregt und das formale Gestaltungsvermögen steigert, weiß jeder, der einmal einen Liebesbrief geschrieben hat.

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Nicht jede Sprache entwickelt sich zum Schrift-Stadium. Es ist zu vermuten, daß viele primitive Sprachen in einem Zustand verharren, der für eine Fortentwicklung des Denkens vom Ich hinweg keine Gelegenheit gibt. Ihre Ausdrucksweise haftet zu fest am unmittelbaren Ich-Erlebnis der Nähe, kann sich sogar zuweilen nicht befreien vom faszinierenden Einfluß des Traumsymbols, besonders wenn neben der profanen Bedeutung dem Ausdruck ein geheimer sakraler Sinn zukommt. Alsdann wird die sprachliche Bezeichnung nicht selten mit einem Tabu belegt und durch verhüllende oder umschreibende Wendungen ersetzt, die dem Streben nach Eindeutigkeit und Versachlichung widerstehen. Auf NordSachalin z. B. heißt „Jüngling": „Jemand, der mit seinem Leibe Bescheid weiß". Für das Nichtloskommen vom unmittelbaren Ich-Erlebnis diene das bekannte Beispiel der Ewe-Sprache. Hier finden sich 33 adverbiale Lautbilder, deren jedes eine besondere Weise oder Nüance des Gehens bezeichnet. Um so weniger wird eine Sprache die Stufe der Objektivierung und damit die Möglichkeit schriftlicher Fixierung erreichen, je mehr die Gebärde hinzutreten muß, um dem tönenden Ausdruck zu seinem Sinn zu verhelfen (Handsprachen). Daß die Sprache auf primitiver Stufe eher einen undurchsichtigen Zusammenhang von Geschehnissen und lyrische Stimmung ausdrückt, als daß sie einem eindeutigen Tatbestand gerecht werden kann, liegt in der Vorherrschaft der Phantasie begründet. Die Frage, weshalb gewisse Sprachen in der Richtung auf Logik und Versachlichung nicht fortschreiten, also primitiv bleiben, harrt noch der Antwort. Vielleicht ruht in der eidetischen Anlage, also einem konstitutionellen Faktor, mit ihren bald erlebnisnahen — bald vorstellungsnahen Anschauungsbildern die Entscheidung, ob eine Sprache sich fortentwickelt oder auf primitiver Stufe verbleibt. Jedenfalls besteht die Tatsache, daß bei vielen Volksstämmen festumrissene Wortbegriffe aus der Umgangssprache sich nicht derart herausschälen, daß ein Anreiz zur schriftlichen Fixierung stattfindet. Wenn die Mitglieder solcher Volksstämme, obgleich ihnen die Fähigkeit zur Distanzierung nicht völlig abgeht, vornehmlich die Haltung des Homo ludens in ihrem Alltagsleben bewahren, bewegt sich ihre Phantasie aller Beobachtungsschärfe zum Trotz fast nur in der Sphäre des Spieles und findet nicht den rechten Anschluß an jenen Bezirk, den wir als Realität bezeichnen. Um so mehr erreicht ihre Phantasie jedoch die Traumzone und damit das Traumsymbol, das durch seine Wandlungsfähigkeit in schärfstem Gegensatz steht zu dem die Identität ausdrückenden Wortbegriff, dem Kern einer entwickelten Sprache. Solange dieses Beharrungsmoment der Lautsprache sich nicht genügend herausgebildet hat, vermag die Phantasie nur in beschränktem Rahmen zu spielen, aber noch nicht die volle Höhe ihrer schöpferischen Kraft zu erweisen. Alle die möglichen Verwandlungen der Symbole und ihre alogischen Beziehungen untereinander bleiben undurchsichtig und im Grunde unfruchtbar, dienen mehr einer poietisch-religiösen Stimmung als dem praktischen Gebrauch. Schon durch die Art ihrer Konsistenz

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widerstreben sie dem Eintritt in die reale Welt, die dem zivilisierten Menschen zu Gebote steht. So, in einem Bezirk zwischen Spiel- und Traum-Wirklichkeit schwankend, ist das Mitglied eines primitiven Volksstammes, da es nur über ein begrenztes Maß versachlichenden Denkens verfügt, vorwiegend angewiesen auf die intensivierende pathische Subjekthaltung. Hauptsächlich in affektmäßigen Beziehungen lernt er die nahe und ferne Umgebung verstehen. Er belastet sie aber mit so vielen Vorurteilen aus der Spiel- und Traum-Sphäre, daß selbst die scharf beobachteten Gegenstände nur einem subjektivierenden Weltbild der Nähe sich eingliedern lassen. So vermag der primitive Mensch infolge seiner seelischen Haltung und der ihr gemäßen Sprache eine reale Außenwelt nicht zu erkennen oder anzuerkennen. Ist ihm doch die Sphäre des Traumes von derjenigen der Realität so wenig unterschieden, daß sie miteinander verwechselt werden. Eine im Schlaftraum erlittene Kränkung wird z. B. an dem leibhaftigen Vertreter der kränkenden Traumgestalt gerächt. Obgleich die Beobachtungsgabe mittels des Auges beim Wilden oft erstaunlich gut ist, hat es noch nicht die Führung im Denken übernommen. Daher ist für ihn auch die sichtbare Welt eine Umgebung der Nähe. Die Freiheit der Phantasie kann sich aber erst entfalten, sobald ein merkbarer Unterschied zwischen dem Radius des Gesichtskreises und demjenigen des Handzeigekreises sich herausgebildet hat. Bis aber dieses fruchtbare Stadium der Wechselwirkung beider Sphären aufeinander erreicht ist, besteht das scheinbare Paradoxon, daß der Homo ludens in seiner ungezügelten Phantasie zugleich der durch Tradition und Magie gefesselte unfreie Mensch ist. Die Fähigkeit, ursprünglich für das Gehör bestimmte MitteilungsLaute durch die Schrift dem Gesichtssinn zugänglich zu machen, darf als ein Zeichen der Entwicklung zur objektivierenden Sprache verstanden werden. Die Hieroglyphen der Ägypter und die Bilderschrift der Chinesen scheinen aber zu beweisen, daß jener Zustand der Objektivierung, der die klassischen Sprachen des Altertums und die modernen Sprachen kennzeichnet, trotz der Fixierung nicht immer vollkommen erreicht wird. In den beiden genannten Fällen ist es jedenfalls nicht zur ganz eindeutigen Identität des Wortbegriffes gekommen. In unseren Drucktypen erscheint die Objektivierung so vorgeschritten, daß die durch sie lautsprachlich übermittelten Tatsachen oder Begebnisse zur augenscheinlichen Realität mit einem größtmöglichen Wahrheitsgehalt gezählt werden. Oft genug wird es versäumt, den berichteten Tatbestand nachzuprüfen. Was Schwarz auf Weiß in der Zeitung zu lesen ist, hält der einfache Menschenverstand meistens für erwiesen, für wahr. Solche Überschätzung einer gewiß nicht immer ehrlich gemeinten Sachlichkeit durch das Lese-Publikum ist begreiflich. Denn beim gedruckten Wort tritt, soweit es sich um den Bericht von Tatbeständen handelt, die persönliche Stimmung des mitteilenden Menschen meistens in den Hintergrund, so daß der sachliche Inhalt zunächst die ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Gedruckte Gedichte finden deshalb so wenig An-

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klang in der jetzigen Zeit. Es wird auch so flüchtig gelesen, daß der Hörwert der Sprache verloren geht. Den Zug des modernen Menschen nach Sachlichkeit drückt auch der sich verbreitende Gebrauch der Schreibmaschine aus. I n der noch nicht mechanisierten, nur schriftlichen Fixierung der Sprache, also in der natürlichen Handschrift kommt, selbst wenn es sich um die nüchterne Mitteilung eines objektiven Tatbestandes handelt, dennoch die Persönlichkeit in ihren charakteristischen Schriftzügen zum Vorschein. Trotz dem auf ein vorbildliches Schema zielenden Schreibunterricht in der Schule und trotzdem auf Deutlichkeitgerichteten Willen des Erwachsenen äußern sieh Temperament, Stimmung, Intelligenz, Krankheit u. ä., also das der persönlichen Sphäre Angehörende als lebendige Bewegung in der besonderen Eigenart der Schriftzüge. Die moderne Graphologie sucht sogar den Weg, auch unbewußte Regungen des Schreibers in ihr Blickfeld zu bekommen. Ihr Bemühen scheint aussichtsreich. Wenn die Hand poietisch formend das Vollzugs-Organ der Phantasie und aller zum Ich gerichteten Strebungen ist, dann müssen sie in der Handschrift sich ebenso bemerkbar machen, wie der Tonfall die stimmhafte Sprache persönlich färbt. Sucht die deutende Graphologie mittels des Gesichtssinns die ursprüngliche Bewegung aufzudecken, die in den Schriftzügen unwillkürlich sich äußert, so ist eine andere Forschungsmethode bemüht, das in Schrift oder im Druck objektivierte scheinbar stumme Sprachbild wieder klingend zu mächen, also dem Gehör wieder zuzuführen. Durch das bloß laute Vorlesen eines Textes wird dieser Zweck schon erreicht, aber allzuoft haftet die Aufmerksamkeit nur am Inhalt. Hingegen wird beim flüsternden oder summenden Vorlesen infolge der dabei entstehenden Vibration jene K r a f t der tönenden Sprache wieder wirksam, die von der Stimmung, dem Affekt stammt und im Tonfall oder Rhythmus das Persönliche der sprachlichen Äußerung darstellt. In dem Maße, wie hier das ich-nahe Erlebnis des Sprechenden über den Vibrationssinn sich dem halblaut Lesenden erschließt, wird der Inhalt des Textes zur Nebensache. Die Form des sprachlichen Ausdrucks rückt in den Vordergrund. Wissenschaftlich wurde diese auf den Stil gerichtete Forschungsmethode von Eduard Siewers (Leipzig) zur Lehre der „Schallanalyse" ausgebaut. So eindeutige Ergebnisse wurden mit ihr erzielt, daß fremde Einschiebsel in alten Werken der Literatur als unecht erkannt werden konnten. Der Tonfall, in den die persönliche Note des Sprechenden eingeht, der ureigenste subjektive Anteil in der Sprache eines Autors entzog sich nicht länger der Forschung. Hierbei scheint das Spiel-Ich des Untersuchenden in die Spiel-Bewegung einer dichterischen Persönlichkeit sich einzubeziehen. Im Groben hat mancher die gleiche Methode unabsichtlich angewandt, wenn er das Englische vom Französischen und dieses wieder vom Italienischen nur nach dem Tonfall unterschied, ohne ein Wort dieser Sprachen zu verstehen. Wer etwas belesen ist und ein feineres Ohr für die Musikalität der Sprache besitzt, vermag unschwer in der Prosa, noch eher im Gedicht den besonderen Stil Goethes oder Schillers ausein-

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anderzuhalten. W e n n aber der Satz zu R e c h t besteht: „le style c'est l'homme", so wird die wissenschaftliche Methode, welche die Erforschung des persönlichen Sprachstils sich zur A u f g a b e setzte, gleich der deutenden Graphologie aus dem fixierten Sprachbild Schlüsse ziehen und ihrerseits dazu beitragen, daß die irrige Auffassung von der regellosen Willkür des Subjektivismus zerstört wird.

I I I . D I E STRUKTUR DES RHYTHMUS Der subjektivierende Anteil der Lautsprache birgt in sich das musikalische Moment. Im rhythmischen Wechsel zwischen Betonung und Nichtbetonung, zwischen hohen und tiefen Klängen, zwischen Hasten und Zögern, hellen und dunklen Klangfarben zeigt sich der engere Zusammenhang zwischen Musik und Sprache. Musik ist reiner Ausdruck der Bewegung. Hingegen wird in der Sprache der ich-hafte Bewegungs-Anteil, welcher z. B. in der vibratorischen Erregung des Körpers und in der gebärdesprachlichen Ausdrucksweise der Hand hervortritt, von der logischen Sinngebung gezügelt. Selbst in der gehobenen Form des Gedichts wird die Musikalität der Lautsprache, wie sie etwa im Tonfall oder im Gleichklang des Reimes sich äußert, durch die enge Sinnbedeutung eines Wortes, die Syntax des Satzes und die kategorialen Beziehungen der Sätze untereinander behindert und beschwert. Denn diese versachlichenden und logischen Elemente der Sprache bringen das intermittierend Stoßende und Gliedernde (Artikulierende) des Geistigen zum Ausdruck gegenüber der mehr gleitenden und fließenden Darstellung des subjektivierenden und musikalischen Anteils. Nicht zum wenigsten besteht der Reiz eines Gedichts in dem Hin und Her zwischen dem Spiel-Ich und dem voll bewußten Ich, dessen Aussagen trivial anmuten würden, wenn nicht durch klangliche Nüancierung die Eindrücke der wahrnehmenden Sinne zum einmaligen und persönlichen Erlebnis umgestaltet würden. Daß nicht selten die ich-hafte Musikalität eines Gedichts die Klarheit des Gedankens gefährdet, ist bekannt. Das schöpferische und sprachbildende Vermögen des Vers-Dichters erweist sich am stärksten, wenn gangbare und selbst unwesentliche Worte des Alltags infolge ihrer Spiel-Beziehungen zu Reim und Rhythmus wie umgewandelt erscheinen und gleichsam tänzerische Schritte und Sprünge wagen, statt wie sonst im strammen Gleichtritt einer logischen Syntax und Grammatik zu marschieren. Im Rhythmus offenbart sich das eigentliche Wesen von Musik und Dichtung. Äußerüch betrachtet, erscheinen beide als in der Zeit verlaufende Künste. Jedoch ist es der in ihnen waltende Rhythmus, der den gleichmäßigen, durch Uhr oder Metronom bestimmbaren Ablauf der Zeit vernichtet, wenn er sie zu überholen oder zu verzögern trachtet. Zum Unterschied von der reinen Musik ist die Verwandlung der realen Zeit zum Rhythmus der Dichtung nur in beschränktem Maße möglich. J e weniger es von geistigen Inhalten belastet wird, um so eher ist ein sprachliches Gebilde der Verwandlung durch das Spiel-Ich zugänglich. Man versteht, warum Kinderreime und das Volkslied oder stimmungsvolle, den Inhalt mehr andeutende Gedichte von Eichendorff und sogar nichtssagende,

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aber sentimentale Couplet-Verse dem höheren Rhythmus der Musik sich leicht einfügen, indes gedankenschwere Dichtungen, wenn sie vertont werden, das Mißverhältnis von Sprache und Musik fast peinlich darlegen. Die rhythmisierte Umgangs-Sprache wirkt in einer Oper nicht selten lächerlich. Wenn aber in einer Arie ein begriffsklares Wort zertrillert wird, möchte man gern auf die so mißhandelte Sprache verzichten. Verschiedenen Ich-Sphären und damit jedesmal einem besonderen Ordnungs-System angehörend, widerstreben einander der logische und artikulierende Anteil der Lautsprache und der fließende Rhythmus der Musik. Hingegen besteht ein inniger Zusammenhang zwischen dem subjektivierenden Anteil der Lautsprache und dem rhythmischen Ausdruck der Musik. Tiefe Weisheit enthält daher eine Bemerkung von Proust 1 , wenn er „die Musik als letzte Zeugin einer früher möglichen unmittelbaren Verständigung der Seelen bezeichnet, deren Fortentwicklung die Sprache abschnitt". Die gemeinsame musikalische Grundlage, aus der einmal der Tonfall der Lautsprache, das andere Mal sinnvolle Klangfolgen ohne Wortbedeutung hervorgehen, erweist sich z. B. in frühen magischen Beschwörungsformeln zur Blutstillung (Merseburger Zauberspruch), bei denen der Wortsinn gegenüber der rhythmischen Form zurücktritt, ferner bei sakralen Tanz- und Masken-Riten oder in den scheinbar sinnlosen Abzähl-Reimen der Kinder. Auf höherer Stufe erscheint der lyrische Anteil der Sprache im Chor der antiken Tragödie, der gegenüber dem zeitlichen Geschehen auf der Szene den zeitlosen Mythos in kunstvoll verschlungenen Vers-Rhythmen verkündet. Gewiß entbehrt auch der dramatische Dialog und Monolog in seinen Jamben nicht des Rhythmus. Dennoch überwiegt auf der Szene der logische Sinn der Satz-Inhalte, damit die Geschehnisse sich folgerichtig und durchsichtig abrollen können. Freilich darf nicht übersehen werden, daß auch Maske und Kothurn des antiken Schauspielers, als gegen die Identität gerichtet, von der Realität hinwegstrebten, und so die Brücke geschlagen war zur sakralen Haltung des Chors. Strukturpsychologisch zeigt also der Rhythmus in der Tragödie verschiedene Abstufungen der Symbolisierung. Das Spiel auf der Szene nähert sich mehr der lautsprachlichen Dankordnung und vermeidet nicht immer die episch zurückblickende Betrachtung, während in der Orchestra archaische Sinngebung des zeitlosen Mythos und lyrische Haltung sich geltend machen. Symbolisierung wurde beschrieben als ein gegen die Identität der realen Gegenstände und zum Ich gerichteter seelischer Vorgang. Der Schauplatz für die nachprüfbare Veränderung der Gegenstände an sich und zueinander ist die raumzeitliche Welt. Der Ort der Verwandlung und der Symbole ist die andere Wirklichkeit. Durch den Schlafträum haben wir gelernt, daß mit der Verwandlung eines Gegenstandes zum Traumsymbol auch der Schauplatz raum-zeitlichen Geschehens sich wandelt. Stürzte beim Eintreten des Schlafes infolge der Lähmung der Lautsprache der 1

„Prisonniere", II. S. 76.

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Keiler des Zeitbewußtseins zusammen, so empfing auch das Ortsbewußtsein andere Eigenschaften; z . B . werden im Traum gleichzeitige Ferne und Nähe nicht als Widerspruch empfunden. Dasselbe unkritische Verhalten zeigt sich aber auch im Wachzustand, solange beim Homo ludens ein raumzeitliches Weltbild sich noch nicht oder nicht genügend entwickelt hat. Helmholtz erinnerte sich z . B . , als kleines Kind seine Mutter gebeten zu haben, ihm die Leute zu reichen, die er auf dem Kirchendach arbeiten sah. Wie hier im Kindesalter Ferne und Nähe verwechselt werden, so gilt auch für die Götter der griechischen Sage nicht das Maß der Entfernungen. Im Märchen endlich, das so manche Züge mythischen Denkens noch an sich trägt, wird der logische Widerspruch von gleichzeitigem Dort und Hier spielend gelöst durch Wunschring, Siebenmeilen-Stiefel und Tarnkappe, wobei das Unsichtbarmachen ihres Besitzers eine fast selbstverständliche Zugabe bildet. Den besonderen Symbolisierungs-Vorgang des Rhythmus erfährt der Mensch vornehmlich auf dem Wege über das Gehör. Nur, soweit es als objektivierender Sinn im Dienst der Wahrnehmung und Beobachtung steht, ist es dem Zeitgefühl eng verbunden. Aber mit dieser erfahrungsmäßigen Zeit hat der Rhythmus nichts zu schaffen. Im distanzierten Weltbild stellt die Zeit eine Erscheinungsform des Geschehens dar, die auf der Uhr mit dem Auge auf ihre Richtigkeit nachgeprüft werden kann; durch das wahrnehmende Gehör kann der Ablauf ihrer scheinbaren Bewegung, wie sie sich in Tonreihen äußert, mit dem Metronom verfolgt und gemessen werden. Die Zeitdauer der Einzeltöne und ihr zeitliches Verhältnis zu anderen ist in der Musik schriftlich oder in Drucktypen zu fixieren im Bild der Note und des Taktes. Auch die musikalische Betonung eines Wortes, eines lautsprachlichen Satzes ist durch dasMetrum erfaßbar, nach dessen vorgeschriebenem Silbenmaß sogar die Wortwahl im Vers getroffen werden kann. Note, Takt, Wortzeichen und Metrum sind durch den Augenschein als Gegenstände der realen Welt wahrnehmbar und tragen als solche den Stempel unverwechselbarer Identität an sich. Dieser Objektivierung und Fixierung im Schriftbild entzieht sich der Rhythmus als ein Bewegungs-Vorgang, der stets aufs Neue und als ein Jetzt leibhaftig erlebt werden muß, dessen Richtung also auf das Tiefen-Ich zielt. So gehört der Rhythmus ausschließlich dem Reich der anderen Wirklichkeit an, fordert daher deren intensivierende pathische Subjekthaltung. Während es möglich ist, eine Reihe musikalischer Takte nach einem künstlichen Schema aufzubauen oder Verse zu schmieden nach der Vorschrift eines Metrums, fügt der Rhythmus sich solcher Additions-Methode nicht. Als Bewegungs-Vorgang stellt er eine Ganzheit dar, eine „Gestalt" von besonderer Prägnanz, deren Glieder so fest ineinander verzahnt sind, daß sie nicht aus ihrem Zusammenhang gelöst werden können, ohne daß das Ganze in seiner sinnhaften Struktur zerstört wird. Nur als leibhaftiger, dennoch symbolischer BewegungsVorgang, nur im hingebenden Erleben an das Jetzt des Augenblickes kann der Rhythmus erfaßt werden. Wenn er überhaupt des Taktes oder

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des Silbenmaßes bedarf, so ist es, um sie im mühelosen Spiel zu überwinden, ihnen zu entschweben. In solcher Bewegung fließenden Schwebens, tänzerischen Wirbeins oder verzögernden Schrittes entstehen Klangfiguren und sinnvolle Zusammenhänge, die als Neues, Ungeahntes das Schöpferische des Rhythmus bekunden, und die doch als längst Vertrautes ans Herz des Hörers greifen, ihn in ihr Tändeln hineinlocken oder in ihren Schwung mitreißen. Nicht nur der Autor einer Sonate, eines Gedichts erlebt bei seinem Schaffen das Erregende des symbolischen Vorgangs, der in realen Tönen oder realen Worten sich entladen will. Auch derjenige, der die Wirkung eines Kunstwerks weitergibt, der ausübende Musiker, der Schauspieler muß die Hingabe an den Rhythmus lebendig an sich verspürt haben. Endlich aber vermag auch der hörend Empfangende — auch derjenige, der eine Partitur oder ein Gedicht wahrhaft, d. h. hörend zu lesen weiß, ist als ein solcher zu betrachten — die IchNähe rhythmischer Bewegung nur an sich leibhaftig zu erfahren, wenn er die Fessel des Alltags von sich streift, das logische Denken zeitweise vergißt und den Kräften seines Spiel-Ichs freien Lauf läßt. So gewaltig wirkt zuweilen der Schwung des Rhythmus, daß dem Hörenden — als wäre er ein primitiver Südsee-Insulaner oder ein kleines Kind — die Grenzen zwischen anderer Wirklichkeit und Realität schwinden, daß er seinerseits dem symbolisch gemeinten Bewegungs-Vorgang mit rhythmischen oder taktierenden Eigenbewegungen zu entsprechen versucht. Ist der Rhythmus bezogen auf ein gegenwärtiges Jetzt, das nicht im Rahmen der objektiv meßbaren Zeit liegt, stellt er also ein stets neu zu produzierendes an den Affekt des Augenblickes gebundenes, unmittelbares und oft unwillkürliches Bewegungs-Erlebnis dar, das nicht durch Takt oder Metrum zu erfassen ist, so ist er anzusehen als die Symbolisierung des raumzeitlichen Geschehens selbst. Im Gegensatz zur logischen und praktischen Behandlung von Raum und Zeit, denen vorwärts und zurück ein Ziel als Abschluß gesetzt zu werden pflegt, ist der Rhythmus die niemals abgeschlossene Poiesis an den Grundpfeilern unserer jetzigen Weltauffassung, an Raum und Zeit, deren sonst so engverbundene Beziehungen zueinander dabei gelockert oder ganz getilgt werden. Der Rhythmus in der Musik und der Lautsprache meint vorzüglich die ichhaft gewordene Zeit, das tänzerische Erlebnis mehr den ich-haft gewordenen Raum. Es ist wohl einleuchtend, daß gerade der Rhythmus Ausdrucksform für eine Weltanschauung sein muß, auf die distanzierend-logisches Denken nur wenig eingewirkt hat. Daher ist das rückwärts schauende Epos, noch mehr die Prosa ein Späterzeugnis in der Kultur eines Volkes, während die Lust an der Musik, am Tanz und lyrische Dichtung in den FrühStadien einer Kultur nachweisbar sind. Das Kleinkind bei seinen Bewegungsspielen und zum Teil in seiner natürlichen Bewegung schafft Rhythmus und ist für ihn empfänglich. Rhythmisch vollziehen sich die Zeremonien primitiver Volksstämme. Aber das Primat des Rhythmus zeigt sich auch sonst. Aus dem Zeugnis

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von Dichtern geht hervor, daß der Rhythmus eines Gedichts 1 oft eher vorhanden ist als sein Inhalt. Der Rhythmus, im Tonfall der Worte erscheinend, stammt aus der Sphäre des Spiel-Ichs und wirkt sich bereits unmittelbar an der Lautsprache aus, bevor noch ein Motiv in der Artikulation von Worten und Sätzen, also aus dem Bereich des Intellekts gestaltet werden kann. Aber erst der Verzicht auf die Lautsprache und sogar auf die zu Spielsymbolen gewordenen Gebilde der Außenwelt läßt den reinen Rhythmus der Musik entstehen. Die Notwendigkeit dieses Verzichtes beweist aber, daß der höchsterreichbare künstlerische Rhythmus innerhalb des üblichen raum-zeitlichen Denkens keine Heimat hat. Denn die in symbolische Bewegung sich auflösende und in Tönen sich neuordnende Zeit ist der eigentliche Sinngehalt des rein musikalischen Rhythmus. Obgleich aber die Lautsprache rhythmischen Schwunges fähig ist und der Tonfall ihrer Worte sich dem reineren Rhythmus der Musik als Lied zuweilen eng verbinden kann, ist die Höchstform des Rhythmus nicht zu erreichen, solange überhaupt noch Worte verlauten. Zum Unterschied vom nur musikalischen Rhythmus, der den Tiefenschichten des SpielIchs entspricht, wird die Melodie eines gesungenen Liedes in einer mehr oberflächlichen Spielhaltung erlebt, welche die Beziehung zu eindeutigem Wort- und Satz-Sinn noch nicht ganz überwunden hat. Solche Melodie, die zunächst wohl einstimmig gemeint ist, pflegt aus einfachen den Takt unterstreichenden, daher leicht einprägsamen, rhythmischen Tonreihen zu bestehen. Die größere Freiheit des rein musikalischen Rhythmus gegenüber der Gebundenheit des lautsprachlichen Rhythmus erweist sich auch darin, daß derselben Melodie verschiedene Texte von ganz verschiedenem Stimmungsgehalt unterge legt werden können. Ebenso wie aber die gehobene Sprache zuweilen den Ausdruck in einer Melodie verlangt, so findet sich zu manchem musikalischen Rhythmus bald ein lautsprachlicher Inhalt. Solches Verhalten zeigt, daß trotz ihrer gründlichen Verschiedenheit die Weltbilder der Augenferne und der Handnähe zueinander gehören und sich gegenseitig zu ergänzen trachten. Obgleich diese beiden Ich-Sphären in einem übergeordneten Allgemein-Ich aufgehen, sind sie systematisch streng voneinander zu unterscheiden. Gerade in bezug auf den Rhythmus hat die mangelnde Unterscheidung viele Irrtümer hervorgerufen. Keinesfalls ist nämlich der Rhythmus den Sachverhalten des realen Weltbildes einzureihen, also den Erscheinungsformen der Natur, die begründet, gemessen und nach1 Goethe sagt im „Wilhelm Meister": „Mir ist zwar von Natur eine glückliche Stimme versagt, aber innerlich scheint mir oft ein geheimer Genius etwas Rhythmisches vorzuflüstern, so daß ich mich beim Wandern jedesmal im Takt bewege und zugleich leise Töne zu vernehmen glaube, wodurch dann irgend ein Lied begleitet wird, das sich mir auf eine oder die andere Weise gefällig vergegenwärtigt." Schiller schreibt in einem Brief an Körner: „Das Musikalische eines Gedichts schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich kaum mit mir einig bin."

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geprüft werden können. Dennoch wurde er oft fälschlich so betrachtet und daher als reiner Erlebnis-Vorgang verkannt. Auf falscher Fährte waren jene Forscher, die wie Ziehen Rekurrenz, Äquidistanz, Gruppenbildung und Variation als das Wesentliche am Rhythmus ansahen. Auf dem Irrweg war auch ein Denker wie Klages, wenn er meint: „Das gesamte erscheinende Weltbild ist ein rhythmischer Sachverhalt. Die Naturwissenschaft . . . hat wenigstens richtig herausgefunden . . . die rhythmische Natur von Schall, Wärme, Elektrizität und Licht." J a , Klages versteigt sich sogar zu dem Satze: „Fortpflanzung ist die in ähnlichen Zeitspannen erfolgende Wiederkehr ähnlicher Bilder, womit der Beweis geschlossen ist, daß der Rhythmus die Urerscheinung des Lebens sei." Andere banalisieren das Wesen des Rhythmus, wenn sie bei Gelegenheiten der Periodizität oder Regelmäßigkeit diesen Ausdruck verwenden. Dann spricht man von einem Rhythmus des Pulses, der doch mit der Uhr gemessen wird, von einem Rhythmus der Großstadt oder der Geschichte. Hingewiesen mag endlich darauf werden, daß der von uns gemeinte Begriff des Rhythmus aus der Zeit der Romantik stammt und seine Bedeutung von der griechischen Sprachwurzel rhe = fließen herleitet. Hingegen haben die Griechen der Antike das Wort Rhythmos von der Sprachwurzel rhü = ziehen abgeleitet, wie der Archäologe Petersen annimmt1. In der Antike bedeutete das Wort Rhythmus daher nicht die fließende, sondern die gleichmäßige Bewegung. Das Fallen der Tropfen hieß rhythmisch, ebenso der Gesang der Vögel und ihr Flug, wenn er den Ruderern verglichen wird. Dieser „naturhafte" Rhythmus galt als die geringere Vorstufe gegenüber dem wahren „künstlerischen" Rhythmus. Letzterer, der zum stetigen Zeitmaß in Beziehung gesetzt und als dessen Erfüllung gedacht wurde, vertrat die Forderung: Zwischen den Grenzen eines bestimmten Anfangs und Endes, dem Metrum, sollte die Kraft einsetzen, sich entfalten und vollenden. Der künstlerische Rhythmus der Antike bedeutete also: Durch das Gesetzmäßige gebändigte Kraft. Ganz anders bedeutet der Rhythmus uns Jetzigen nicht ein erfülltes Gesetz, sondern ein seelisches Erlebnis von besonderer Intensität, bei dem das gewohnte raum-zeitliche Denken im Sinne der Symbolisierung verwandelt wird. Dadurch, daß der sonst mittels des Auges wahrgenommene uns umgebende Raum infolge der faszinierenden Wirkung der Musik sich zum Tonraum gestaltet, der nicht wie jener gegliedert und gemessen werden kann, bekundet sich am Rhythmus ein Erlebnis unmittelbarer leibhaftiger Nähe. So ich-hafter Art ist dieses Erlebnis, daß es im Gegensatz zum musikalischen Takt und zum Vers-Metrum nicht auf seine Richtigkeit zu prüfen ist, sondern nur in der eigenen Gewißheit 1 Als Beweis dient eine Stelle aus Herodot, wonach die mit Kadmos gekommenen Phönizier den Griechen die Buchstabenschrift gebracht hätten; die Griechen aber hätten im Laufe der Zeit wie die Aussprache, so auch den Zug der Buchstaben geändert. (Tov puSpov tö>v ypapp,orrcov).

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wurzelt. Der Rhythmus, bei dem das Ich leibhaftig erschüttert wird und so lebendig mit einer Bewegung verschmilzt, ist daher zum Unterschied vom diskontinuierlich ordnenden und begreifenden Intellekt ein kontinuierlich fließender Erlebens-Vorgang. Während in der rhythmischen Bewegung des Tanzes sowohl der Verwandlung des Raumes als auch der Zeit entsprochen wird, ist das rhythmische Erlebnis der reinen Musik mehr auf die Verwandlung der Zeit beschränkt. Besitzen wir in unserer regelmäßigen Atmung einen Zeitmesser, so wird dieser biologische Vorgang nunmehr zum Hintergrund, von dem die verzögernden oder beschleunigenden Klangfolgen um so lebhafter sich abheben. Höhe und Tiefe der Töne, ihre Akzentuierung, ihr Zusammenklingen im Akkord, Spannung und Entspannung, alles was an der Struktur des Rhythmus mitwirkt und zugleich das persönliche Gegenspiel hervorlockt, bekundet ein Prinzip, das die Zeit beseelt und dabei ganz anders ordnet, als wir es vom Alltagsdenken her gewohnt sind. Die Töne selbst, welche die überzeitlichen rhythmischen KlangKonfigurationen bilden, werden durch Körperbewegung erzeugt. Solche Bewegung, ob sie an Musikinstrumenten oder an den menschlichen Stimmorganen sich vollzieht, ist Ausdrucksbewegung sowohl als auch Technik. Während die Technik, etwa als Fingersatz oder als Bogenführung dem Willen gehorcht, ist die Ausdrucksbewegung unwillkürlich, gehört zum Bereich des Spiel-Ichs. Der rhythmische Vorgang, als Äußerung des Spiel-Ichs wirkt daher — wenigstens innerhalb eines gewissen Kulturkreises — unmittelbar auf den Hörenden, macht ihn zum Mitspieler und zwingt ihn zuweilen zur Mitbewegung. So äußert sich die Wirkung des musikalischen Rhythmus als „ansteckend".

4 Mayer, Schöpferische Sprache

IV. DER VIBRATIONSSINN Die raum-zeitliche Anschauungsweise ist die Vorbedingung dafür, daß ein allgemein gültiges Weltbild zustande kommt, das den Gesetzen des Verstandes unterliegt. Für die Lautsprache als Trägerin distanzierenden Denkens ist der fernende Gesichtssinn von besonderer Bedeutung. Zeit und Raum, wenn sie im Rhythmus als symbolische Bewegung am Körper erlebt werden sollen, müssen daher der Vorherrschaft des Auges und des dieses kontrollierenden Tastsinnes entzogen werden. Diese Sinnesorgane erfahren eine Schwächung ihres Einflusses, wenn statt des Auges das Ohr, als vorwiegend subjektivierendes Organ, die Führung erhält 1 . Gleichzeitig tritt dann der erkennende Tastsinn zurück zugunsten des empfangenden Vibrationssinns. Der Vibrations-Apparat, der in enger Fühlung steht zum Gehör, ist über den gesamten Körper verbreitet und vermittelt ihm oder seinen Teilen das leibhaftige Erlebnis von Schwingung und Erschütterung. So bewirkt er, daß sonst objektiv wahrnehmbare Töne als ich-hafte Eigenbewegung empfunden werden. Dem Vibrationssinn, als einem spezifischen Organ zur Aufnahme rhythmischer Bewegung hat D. Katz seine besondere Beachtung geschenkt 2 . Bereits im Jahre 1846 hat Weber auf diesen Sinnes-Apparat hingewiesen: „Dadurch, daß sehr schnell aufeinanderfolgende auf die Tastorgane geschehene Stöße zu einer Empfindung zusammenfließen, die Zeiträume aber, in welchen sich die Stöße folgen, die Empfindung abändern, haben wir einen Übergang vom Tasten zum Hören. Wir fühlen die Erzitterungen als ein Beben, die wir mit dem Gehörsorgari als einen Ton wahrnehmen, und dieses Beben ist der mannigfaltigsten Modifikationen fähig." Erinnert sei daran, daß den Vibrationsempfindungen für das Sprechen und Singen hohe Bedeutung zukommt. Nach der Resonanz der Stimme im Brustkorb, im Hals und Kopf richtet sich das jeweilige Schwingen der Stimmbänder und der den Klang formenden Organe des Mundes und der Nasenhöhle. Über den Vibrationssinn wurden bereits seit dem Jahre 1700 die vorzeitig des Gehörs Beraubten, die Taubstummen, durch besonderen Unterricht für die Aufnahme der Umgangs-Sprache und ihren Selbstgebrauch erzogen3. Manche von ihnen wie z. B. die blindgeborene Helen Keller konnten sogar musikalische Genüsse feinster Nüanzierung an sich erfahren, wenn die Klang-Schwin1 „Was dem Gesicht an Schärfe wird genommen, muß doppelt dem Gehör zu Gute kommen." Sommernachtstraum, Akt III, Szene 2. 2 „Der Aufbau der Tastwelt", Leipzig, Joh. Ambros. Barth 1925, S. 187—237. 3 J. C. Amman, Dissertato de loquela 1700.

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gungen der Instrumente oder des Gesanges im Konzertsaal und am Radio, Ihren Körper erreichten und ihn über den Vibrations-Sinn zum Mitschwingen brachten. Bei der nun folgenden Wiedergabe von Äußerungen eines Autors über das raumzeitliche Erleben sei immer auch an den Vibrations-Sinn gedacht als des vorzüglichsten Helfers dafür, daß statt der mehr objektivierenden Wahrnehmung durch das Auge das mehr subjektivierende Erlebnis durch das Ohr zustande kommt. In einem wertvollen Aufsatz von Erwin Strauß 1 wird erwähnt, daß beim Erblicken eines farbigen Gegenstandes Richtung und Abstand bestimmbar sind, so daß an der betr. Stelle der Raum gegliedert wird in Teilräume des Hinter- und Neben-Einander. Dagegen ist die Richtung einer Schallquelle unbestimmter und nicht auf eine einzige Stelle im Raum zu lokalisieren; es scheint, als ob der Ton auf uns zukommt, den Raum durchdringt und homogenisiert. Während die Farbe am Gegenstand gleichsam haftet und eine Eigenschaft von ihm ist, scheint der Ton sich von der Schallquelle abzulösen und Wirkung einer Tätigkeit zu sein. Strukturell betrachtet, gehört der farbige Gegenstand zum objektivierenden Weltbild, indes der Ton die Richtung zum Subjekt einzuschlagen und es in seine Schwingungen einzübeziehen scheint. Ferner heißt es: „Zwischen dem Erlebnis von Farbe und Klang steht das Geräusch. Empfinden wir es als spezifisch (z. B. beim Motor), so behält es den Charakter des Hinweisens, der Ort der Schallquelle wird mit einiger Sicherheit lokalisiert, weil sich die optische Erfahrung mit dem Akustischen vermengt. In dem Maß, als das Geräusch seinen spezifischen Charakter verliert, nähert sich seine Erlebnisweise immer mehr dem Ton, wie am vollkommensten ihn die Musik erzeugt. Innerhalb der Musik selbst erscheint das Klangerlebnis um so reiner, je mehr der Hinweis auf die Schallquelle verschwindet. Darum gibt uns das Klavierquartett weniger als das Streichquartett, weil bei jenem noch die Schallquelle herauszuhören ist, während bei diesem die Möglichkeit reinen Zusammenklingens gegeben ist. Auch gibt uns ein Lied mit Text oder ein programmatisches Leitmotiv, weil es auf etwas Gegenständliches noch hinweist, also Bedeutung besitzt, weniger als die absolute Musik eines Instruments oder Orchesters." Diese Feststellungen entsprechen den Ergebnissen unserer strukturellen Betrachtungsweise, u n i ein Satz wie: „der Ton wird bemerkt als Entstehen, Werden und Vergehen; bei der Farbe bemerken wir deren Veränderung und evtl. die Bewegung des Gegenstandes" zeigt deutlich den Unterschied zwischen der das Sein gnostisch-beobachtenden und der das Werden pathisch-erlebenden Haltung. Ferner lesen wir: „Der Ton hat eine eigene Aktivität, er dringt auf uns ein, ergreift, packt uns . . .". Oder: „Alles Hören ist präsentisch. . . . I m 1 „Die Formen des Räumlichen" in der Zeitschrift „Der Nervenarzt", Verlag Julius Springer 1930, Heft II. 4»

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Klange haben wir Geschehen präsentisch, in der Farbe erfassen wir distantes Sein." Wir dürfen hinzufügen: das präsentische Erlebnis schließt die historische Gliederung von Raum und Zeit aus. Weiter heißt es: „Der optische Raum ist der Raum der gerichteten und gemessenen Zweckbewegung, der akustische Raum der Raum des Tanzes. Zweckbewegung und Tanz sind nicht als verschiedene Kombinationen der gleichen Elemente zu begreifen; sie unterscheiden sich als zwei Grundformen der Bewegung überhaupt, die auf zwei verschiedene Modi des Räumlichen bezogen sind." Für die strukturelle Betrachtungsweise ist es klar, daß der optische Raum vorzugsweise der reale ist mit distanziert gesehenen oder vorgestellten Gegenständen, während der akustische Raum mehr zur anderen Wirklichkeit gehört mit ihren leibhaftig zu spürenden Symbolen. So leuchtet es auch ein, daß — wie der Autor feststellt — es wohl eine analysierende Psychologie der intendierten, zweckgerichteten Handlung gibt, indes die Bewegung als solche bisher nur physiologisch begriffen wurde. Nach unserer Ansicht war nur der mechanistische Anteil der Bewegung gesetzmäßig zu erfassen. Der lebendige Anteil der Bewegung, wie er sich etwa im Rhythmus äußert, mußte sich jedoch jeder Forschung entziehen, die noch nicht das Gesetzmäßige im subjektivierenden Denken, die Gleichberechtigung, wenn nicht sogar das gelegentliche Primat der schöpferischen Phantasie gegenüber dem objektivierenden, logischen Denken zu würdigen wußte. Anschaulich wird die Bewegung im optischen Raum geschildert als Gehen, Schreiten oder Marschieren zum Unterschied von der tänzerischen Bewegung im akustischen Raum. „Beim Gehen legen wir eine bestimmte Entfernung zurück, gehend durchmessen wir den Raum. Der Tanz dagegen ist eine nicht-gerichtete und nicht-begrenzte Bewegung; es fehlt ihr, wie der Bezug auf Richtung und Entfernung, ebenso der Bezug auf räumliches Maß und auf räumlich-zeitliche Grenze." Da der Tanz zeitlich nicht begrenzt und abgeschlossen sei, denn bei Wiederholung der Musik könne er über den formalen Abschluß hinaus beliebig verlängert werden, und bei Primitiven ende er oft erst in der Ekstase durch Erschöpfung, da ferner die sonst vermiedene Rückwärtsbewegung im Tanz nicht fehle, so folgert der Autor mit Recht: „Das Bezugsystem der Tanzbewegung bilden die symbolischen Raumqualitäten." Und schließlich heißt es: „Die Handlung ist ein historischer Prozeß. Die präsentische, nicht-gerichtete und nicht-begrenzte Bewegung kennt nur ein An- und Ab-Schwellen, eine Steigerung und ein Verebben. Sie führt keine Veränderung herbei, ist kein historischer Prozeß. Darum nennen wir sie eben präsentisch; mit Recht, trotz ihrer Dauer in der objektiven Zeit. Die Aufhebung der Subjekt-Objektspannung, die sich in der Ekstase vollendet, ist also nicht das Ziel des Tanzes, sie fundiert vielmehr das Erlebnis des Tanzes von Anfang an." Der Gesichtssinn stellt hauptsächlich den Apparat dar, mittels dessen das Wachbewußtsein des modernen Menschen das Geschehen um sich und in sich zu begreifen sucht, wenn er die Fülle der Erscheinungen, ob

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sie sichtbar vorhanden sind oder bildhaft vorgestellt werden, vereinzelt und versachlicht, sondert und zusammenfaßt. Die Anlage dieses SinnesApparates, der das Fließende der Erscheinungswelt nicht zu erfassen vermag, und seine Vorherrschaft zwingt dem heutigen Menschen das sog. logische distanzierende Denken auf und nötigt ihn, für das Geschehen an Personen und Gegenständen ein Milieu sich zu schaffen, das Raum und Zeit genannt wird. Beide Denkkategorien sind ineinander verzahnt und gelten als sicherstes Zeichen unseres logischen Denkens. Obwohl dieses raum-zeitliche Denksystem die Stabiütät des distanzierenden Weltbildes sichern soll und obwohl es uns Jetzigen als selbstverständliche Grundlage unseres praktischen Handelns und unserer wissenschaftlichen Gedankengänge gilt, ist sein Aufbau nur halbwegs, nämlich für den Raum gelungen. Der Teil des Systems, der Zeit genannt wird, ist ja dem Augenschein entzogen. Die Zeit wird aber, als ob sie räumlich und sichtbar wäre, in ein Rückwärts und ein Vorwärts gegliedert. Dem Rückwärts in seiner Gliederung gilt die historische oder die genetische Betrachtungsweise. Das Vorwärts, die Zukunft kann nur aus der Analogie mit bereits früher wahrgenommenen Vorgängen erschlossen werden. Da setzt — wie die Utopie zeigt — die schöpferische Phantasie ein. Ich-bezogene Wünsche bevölkern daher oftmals das verhüllte Künftige. Raum und Zeit erscheinen dem naiven Denken des jetzigen Menschen als Dinge, die er sogar messen kann. Erst seit Leibniz werden sie von der Philosophie nicht mehr als ein Seiendes verstanden, sondern als Bedingung für das Geschehen, als Ordnungsbegriff. Diese Erkenntnis erweist sich als fruchtbar für die strukturelle Betrachtungsweise. Wenn nämlich Mythos, Kunst, Religion und Traum nicht dem Auffinden eines praktischen Zweckes oder eines wissenschaftlichen Zieles dienen, so kann und muß ein anderes Ordnungsprinzip für sie in Anspruch genommen werden, als es Zeit und Raum darstellen. Die Unzulänglichkeit rein logischen Denkens offenbart sich recht deutlich daran, daß es dem Jetzt des Augenblicks nicht gerecht zu werden vermag. Vergangenheit und selbst Zukunft sind denkbar. Aber das am Stärksten wirkende Jetzt ist nicht als Vorstellung zu distanzieren, nicht zu versachlichen. Der fliehende Moment ist einzig im unmittelbaren Erleben erfaßbar. Die Tendenz des Gesichtssinns ist fernend. Nur ausnahmsweise stellt er sich, im Wachzustand wenigstens, in den Dienst des Menschen als eines fühlenden Wesens, ihm Illusionen oder Halluzinationen vorgaukelnd. In ganz anderer Weise entspricht der sübjektivierende Gehörssinn der Gegenwart unmittelbaren Erlebens. Wird das Auge durch den Tastsinn wirksam unterstützt, so besitzt das Ohr einen ihm eng verbundenen Helfer am Vibrationssinn, dessen Empfangsorgane über den ganzen Körper verbreitet sind, dessen wichtigster Teil aber in das Gehörsorgan selbst eingebaut zu sein scheint. So meint v. Hornbostel: „Man wird förmlich dazu gezwungen, das Gehörsorgan als ein höher entwickeltes Vibrationsorgan anzusehen 1 ." 1

Psychologische Forschung" 5, 1924 S. 370.

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Haben wir früher die Tastempfindung, wenigstens in einer gewissen Phase ihres Vollzugs als ich-bezogen kennengelernt, so ist die VibrationsEmpfindung ausschließlich ein subjektivierender Vorgang. Ist der Vibrationssinn aber dem Gehör so eng verbunden — hierfür spricht außer dem Musikgenuß der Taubstummen auch die biologische Tatsache, daß an den Gehörsnerven das Gleichgewichts-Gefühl in den Bogengängen und der Schnecke des Ohrs gekoppelt ist —, so dürfte es kaum mehr angängig sein, Gesicht und Gehör einfach als Fernsinne zu bezeichnen, ohne der vorwiegend objektivierenden Tendenz des einen und der mehr subjektivierenden Tendenz des anderen Sinnes-Apparates zu gedenken. J e mehr man das Gehör in seiner Hauptsache als vibratorische Empfindung zu begreifen sucht, um so verständlicher, ja geradezu selbstverständlich wird es einem, daß jedes akustische Erlebnis die raum-zeitliche Ordnung schwächt und die Ich-Beziehung stärkt. Insofern aber die durch Vibration erzeugte und in ihr wirkende Rhythmus-Bewegung den Vorgang der Symbolisierung und damit den Aufbau der anderen Wirklichkeit so entscheidend beeinflußt, ist auch der deutliche Hinweis gegeben auf das ordnende Prinzip, das in, an und mit der schöpferischen Phantasie zum Ausdruck gelangt. Sichtbar im Tanz, hörbar in der Dichtung und noch stärker beim rein musikalischen Erlebnis gewahren wir die rhythmische Bewegung bis hinein in den Schlaftraum. Hier verlauten zuweilen sinnlose, aber rhythmische Sprachwendungen (Vidibesco-Lidibesco, Antonaton). Aber auch die Anordnung der Bilder-Serien im Schlaftraum, die etwa dem Wachbewußtsein später als zwei Geschehnisse mit negativem Sinn erscheinen, denen dann ein positiv akzentuiertes Geschehnis folgt, sind vielleicht als rhythmische zu deuten. Gerade das Fließende der Traumvisionen, das sich in der Darstellung so scharf unterscheidet von der stoßweisen Artikulation in der Lautsprache, leitet zu der Vermutung, daß die virtuelle Bewegung der Glieder im Schlaftraum und ihre Gebärdensprache durch den Rhythmus bewirkt und geordnet wird. Wenn aber bei Weckreiz-Träumen nicht ganz selten mehrere Inhalte im Verlauf von wenigen Sekunden erscheinen, so ist die Vermutung zwar kühn, aber nicht ganz abwegig, daß die Traumerlebnisse dann im Sinne der Mehrstimmigkeit, also gleichzeitig sich vollziehen. Zum Zweck wissenschaftlich systematisierender Deutlichkeit wurden Auge und Ohr in einen Gegensatz gestellt. Dieses künstliche EntwederOder entspricht jedoch keinesfalls dem natürlichen Verhalten beim Individuum, dessen verschiedene Sinne einander unterstützen und ergänzen. Beim zivilisierten Menschen der Jetztzeit entsteht nur in Ausnahmefällen und dann nur vorübergehend das reine akustische Erlebnis. Trotz seiner Ergriffenheit ist der Hörer einer Sinfonie sich bewußt, auf einem Stuhl im Konzertsaal zu sitzen. Auch das hingegebenste Tänzerpaar trägt Sorge, nicht mit einem anderen zusammenzustoßen. Andererseits begleiten den eifrigsten Beobachter am Mikroskop oder am Fernrohr WortvorStellungen, die noch in ihrer verblaßten und abstrakten Form Gehörs-Eigenschaften, also subjektivierenden Charakter aufweisen.

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Wenn nur die Alternative Auge oder Ohr gelten sollte, blieben auch manche Erscheinungen im Leben ganz ungeklärt. Die rhythmischen Vorführungen eines Tänzers auf der Bühne werden z. B. mit dem Auge lustvoll erblickt. Hinwiederum entbehrt die Umgangs-Sprache, wenn sie durch Fernsprecher oder Radio verlautet, der sichtbaren Mimik des zu uns Redenden, die so oft über die Art der Mitteilung entscheidet. Endlich darf nicht vergessen werden, daß ebenso wie der Gehörssinn objektivierende Tendenzen, auch der Gesichtssinn subjektivierende in sich birgt, wie das physiognomische Sehen beweist. Dem Problem der Sprache wird die Alternative Auge oder Ohr gewiß nicht gerecht. Eher wird dem natürlichen Tatbestand Rechnung getragen durch die gleichzeitige Annahme von zwei Weltbildern, demjenigen der Ich-Nähe und demjenigen der Ich-Ferne. Indem stabilisierten Weltbild der ichfernen Realität herrscht das logische, nach Wahrheit strebende Denken. Das Ordnungs-Prinzip für das fließende, symbolisierende Denken in der anderen Wirklichkeit, das den Stempel der Gewißheit trägt, stellt die Phantasie dar. Diese aber ist dem rhythmischen Erleben auf das Engste verbunden. Die Frage, ob der durch die Vibration rhythmisch erschütterte Körper die Phantasie anregt oder ob die Phantasie ihrerseits das rhythmische Erleben erst ermöglicht, ist für die strukturelle Betrachtungsweise belanglos, die nur dem Sinn von Lebenserscheinungen nachgeht. Die enge Beziehung von Rhythmus und Phantasie besteht aber deutlich als lebendiger Zusammenhang. Recht erkennbar wird dieser Zusammenhang an der Sprache im Affekt. Sicherlich bedeutet schon die hörbare Sprache eine kinetische Entspannung für das Gefühlsleben. „Wess das Herz voll ist, dess gehet der Mund über." Wenn aber ein Gefühl allzu mächtig wird, dann pflegt die übliche Umgangs-Sprache nicht selten zu versagen. Zuweilen beginnt der erregt Redende zu stocken oder zu stottern. Freudige Erregung gewinnt dann wohl ihre kinetische Entspannung im gesteigerten Pathos des Tonfalls, manchmal erst im Singen oder Pfeifen. Schmerz und Trauer, wenn sie sich nicht in Tränen lösen, zeigen in der Klage oftmals eine rhythmische Modulation und sogar eine Melodisierung des sprachlichen Ausdrucks. Der Zusammenhang mit Lied und lyrischer Dichtung wird offensichtlich. Um den übermächtigen Affekt abzureagieren, genügt jedoch selbst die stimmhafte Äußerung in ihrem rhythmischen und sogar musikalischen Tonfall nicht mehr. Die GefühlsSpannung lockert sich erst, wenn Gesichts-Mimik und gebärdehafte Bewegung zu Hilfe gezogen werden. Damit tritt die Gebärdensprache und mit ihr jenes von Rhythmus und Phantasie gesteuerte Denken hervor, dem die intensivierende pathische Subjekthaltung entspricht. Der Boden der Realität wird weitgehend verlassen zugunsten der ichbezogenen anderen Wirklichkeit. In lebhafter, oftmals tänzerischer Bewegung äußert sich freudige Ausgelassenheit. Aber auch der Zorn, der Schmerz und die Klage entladen sich nicht selten in rhythmischer Bewegung der Glieder, die deshalb im künstlerischen Tanz von allen ver-

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standen wird. Um so besser gelingt die kinetische Entspannung der Affekte, je mehr das rhythmische Bewegungs-Element zum Ausdruck kommen kann. Wie sehr die Phantasie auf die Beteiligung des Rhythmus angewiesen ist, wie ohne ihn sogar ihr Schwung erlahmt und alsdann distanzierendem Denken das Feld räumt, ist durch das Experiment nachgewiesen worden 1 . Es wurde festgestellt, daß beim musiklosen Tanz die Kunsttänzer „bei ihren Bewegungen entweder kanonähnliche Übungen wiederholen (z. B. Sprünge) oder Leitvorstellungen z. B. intellektueller Art in Anwendung bringen, um die Bewegung zu manifestieren." In Hinsicht auf solche experimentelle Feststellung möchte man fast zweifeln, ob etwa der Anblick eines Gemäldes, einer Skulptur, eines Bauwerkes die Phantasie und zugleich das rhythmische Gefühl so zu erregen vermögen wie das akustische Vibrations-Erlebnis am Gedicht oder in der Musik. Das geringe Verständnis des Publikums für Malerei, Skulptur und Architektur unterstützt solchen Zweifel. Andererseits behaupten einwandsfreie Selbst-Beobachter und besonders die schöpferischen Künstler dieser Werke mit Bestimmtheit ein rhythmisches Erlebnis. Wenn bei diesen Menschen nicht etwa die Anlage der Synästhesie vorhegt, wo also visuelle Eindrücke solche akustischer Art hervorrufen, müßte man vermuten, daß bei dem rhythmischen Erlebnis über den Gesichtssinn Vibrations-Vorgänge stattfinden, die vielleicht von halbbewußten Wortklängen herrühren. Beim schaffenden Künstler mag man auch annehmen, daß beim Gebrauch von Zeichenstift, Pinsel oder beim Formen von knetbarem Material feinste Vibrations-Empfindungen in der Hand sich geltend machen. Wenn ferner moderne Künstler das seit der Renaissance gewohnte perspektivische Sehen außer Acht lassen, wenn zeitlich auseinander hegende Vorgänge im Bilde zugleich dargestellt werden, wenn die Figuren Lehmbrucks zu schweben scheinen oder wenn in Bauwerken von Le Corbusier die verschiedenen Räume ineinander fließen, so ist hier offenbar das statische Moment zurückgetreten und dafür macht sich ein dynamisch-fließender Ausdruck im Kunstwerk bemerkbar, der wohl als rhythmisch gedeutet werden kann. Solche künstlerischen Bestrebungen weisen vielleicht in eine Zukunft» in der die These Lessings von zeitlich und räumlich geordneten Künsten als überholt gelten wird. Für die Mehrzahl der jetzigen Menschen aber scheint ein rhythmisches Erleben vom Auge her nur selten oder gar nicht möglich, während fast jedermann für den über das Ohr und den Vibrationssinn vermittelten Rhythmus sich empfänglich zeigt. Im Hinblick auf die vorher erwähnten Bekenntnisse von Dichtern, wonach dem motivischen Schaffen ein halbbewußtes, musikahsch-rhythmisches Erlebnis vorangeht, möchte man vom Rhythmus als dem schöpferischen Ur-Erlebnis sprechen. Auch für das menschliche Individuum im all1

Fritz Giese, Zeitschrift f. Ästhetik u. Kunstwissenschaft 1927, Bd. XXI., Heft 3, S. 289.

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gemeinen kann er zeitlich als Ur-Erlebnis betrachtet werden; denn schon beim 2—4 jährigen Kind pflegt beim Anhören von Musik ein lebhafter Drang zu rhythmischer Betätigung zu erwachen. Kann es nicht nach der Musik tanzen, so will es doch mitspielen oder mitsingen. Selbst schwerfällige und geistig zurückgebliebene Kinder pflegen zur Melodie einer Schallplatte mit Bleistift oder Stock zu hantieren, wie sie es beim Geigen und Blasen gesehen hatten. Man weiß endlich, wie auf den innerhalb einer Masse wieder kindlich und primitiv gewordenen Erwachsenen ein Lied, ein Hymnus von stark rhythmischem Gehalt begeisternd oder aufreizend wirkt. Man denke an politische Versammlungen, Umzüge oder kirchliche Prozessionen! Ein Marschgesang wie die Marseillaise belebt die ermatteten Soldaten zu neuer Leistung und feuert sie an. Auch in der Redeweise des einfachen Mannes aus dem Volke zeigt sich die Ursprünglichkeit des Rhythmus. Seine Sprache verfügt über einen geringeren Wortschatz als diejenige der sog. Gebildeten. Dieser Mangel wird ausgeglichen durch ortsübliche prägnante Redewendungen, die in ihrer Kürze an Stelle eines Satzes oder einer ganzen Satzfolge stehen. Zum Unterschied von den Individuen der wirtschaftlich gehobenen Schichten pflegt der Arbeiter meist laut zu sprechen. Auch spart er weniger mit der Mimik und mit Gebärden beim Bericht von Tatsächlichem. Er ähnelt darin dem Südländer und vielleicht auch dem weiblichen Geschlecht, die beim Sprechen das eigene Ich mit seinem GefühlsAusdruck nur schwer zurückhalten können. Man denke ferner an stehende Wortfiguren, wie „Tausendsasa, Herrjemineh, Himmelkreuzdonnerwetter, Pfui Teufel", die manchmal nur einen mäßigen Affekt des Staunens, des Bedauerns, der Mißbilligung, der Verachtung ausdrücken, deren daktylischer, anapästischer oder jambischer Tonfall aber in fast dichterischem Rhythmus schwingt. Ein den Teufel beschwörender Ausruf wie „Gottseibeiuns" zeigt sogar die Übermacht des musikalischen Rhythmus über den logischen Satzsinn, wenn der Akzent auf das unwichtigste Wort „bei" gelegt wird. Nicht nur die Wahl der Worte, Fehler der Grammatik oder des Satzbaus, sondern auch der eigenartige Tonfall sind oft bezeichnend für eine niedere soziale Stellung des Redenden. Ebenso verraten sich häufig Beruf und Stand durch Besonderheiten ihrer Sprechweise. Der Offizier, der Geistliche, der Beamte, der Handlungsreisende sind auch außerhalb ihres Wirkungskreises leicht am Tonfall zu erkennen. Kühles und lebhaftes Temperament äußern sich anders im Rhythmus der Sprache, der dann noch bei einem gelegentlichen Affekt sich ändert. Alles der persönlichen Sphäre Angehörende, auch Charaktereigenschaften wie Vorsicht, Eitelkeit, Selbstbewußtsein, erst recht krankhafte Reizbarkeit, Hemmung oder Hemmungslosigkeit prägen sich im Tonfall der Sprache aus. Über solche Kennzeichen des einzelnen unterscheiden sich die Dialekte einer Sprachgemeinschaft durch ihre verschiedene Musikalität. Ohne die einzelnen Worte inhaltsmäßig zu verstehen, erkennt man so leicht den Niederdeutschen, den Sachsen oder den Bayern. Sogar der Hochdeutsch-

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sprechende kann seine örtliche Herkunft nur selten im Tonfall verleugnen. Zusammgefaßt: mehr als Wortwahl und die sinnvolle Gliederung der Sätze enthüllt die Stimmführung, das Tempo, der Rhythmus der Umgangssprache das Wesentliche des einzelnen und seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Selbst in den logischen Satz-Bau erstreckt sich der Einfluß des Rhythmus. Zum Unterschied vom einfachen Aussage-Satz, an dessen Schluß die Stimme sinkt, wird sie z. B. im Fragesatz am Ende gehoben. Wieder einen anderen Tonfall hat der ausgesprochene Befehl. Gewiß besteht bei den letztgenannten Sätzen eine deutliche Distanz zwischen dem sprechenden Subjekt und dem hörenden Objekt, aus dem veränderten Tonfall ist jedoch zu vermuten, daß in der Frage wie im Befehl affektives Denken bereits einwirkt und die Distanz zwischen den an solchem Gespräch Beteiligten im Sinne einer Spiel-Partnerschaft verringert. Im Falle des Befehls mag vielleicht das Gefühl der Überlegenheit oder der Ungeduld, mögen auch ich-bezogene Wünsche sich auswirken, im Frage-Satz könnte etwa Erwartung oder selbst Furcht den Angeredeten nicht mehr als Objekt, sondern als beziehungsvolles Gegenüber im Sinne des SpielPartners erscheinen lassen. Wie diese wenigen Beispiele zeigen, vermag die strukturelle Betrachtungsweise auch im Alltagsgespräch den Wechsel der seelischen Haltung zu erkennen, der so mühelos und fast unbemerkt erfolgt, weil Logos und Phantasie sich fruchtbar ergänzen. Durch die Fixierung des zeitvergänglichen Sprech-Vorgangs im räumlichen Schriftbild mußte aus dem rhythmischen Gefüge des gesprochenen Satzes das Einzelwort sich mehr und mehr herausschälen. Der Abstand zum unveränderlichen Bilde der Schrift oder des Drucks ermöglichte erst die Klarheit begrifflichen Denkens. Dieser Abstand schuf zugleich die Grundlage zu wissenschaftlicher Forschung, wenn Form oder Bedeutung eines Wortes zwar entseelt, dafür aber durchgeistigt wurde. Ebendieser objektivierende Abstand zum fixierten Wortbild verführte aber auch dazu, die Sprache als einen Seins-Zustand zu betrachten, gleichsam als ein Gebäude, dessen Bausteine die Worte seien. Gegen solche Verkennung wendet sich die bekannte Xenie: „Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver; Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell." Allzuoft wird es vergessen, daß auch das gedruckte Wort noch Hörwert besitzt, daß es von ihm seine Leuchtkraft und seine manchmal zauberische Wirkung empfängt. In jedem Sprach-Ausdruck, mag er durch den täglichen Gebrauch abgeschliffen oder als wissenschaftliche Bezeichnung dem leibhaftigen Erleben entrückt erscheinen, ist der vibratorische Hör-Anteil enthalten, dessen potentielle Kraft sich irgendwo und irgendwie als lebendig erweisen kann. Im unbedeutendsten Partikel schwingt noch der ursprüngliche, von der Phantasie gespeiste und sie wiederum speisende Rhythmus. Darum heißt es bei Rilke: „Die armen Worte, die im Alltag darben, die unscheinbaren Worte lieb ich so." Und: „Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen, erneut sich deutlich, daß es jeder sieht." Freilich wird der Einfluß des Rhythmus abgeschwächt

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durch das gleichzeitige Streben nach Abstand, der allein schon durch das Sprechen an sich, als einen expiratorischen Vorgang gegeben ist. Daher kann auch in der Anordnung der Worte zum Satz niemals das reine Bewegungs-Erlebnis statthaben wie in der absoluten Musik. Das Wort als Einzel-Individuum anzusehen, ist das traurige Vorrecht der Grammatik und der notwendige Verzicht der Etymologie. Aus seinem natürlichen Zusammenhang herausgerissen, läßt es nicht so leicht das labile Gleichgewicht zwischen Logos und Phantasie erkennen, der doch das Wesen der Sprache ausmacht. Um so schwieriger ist die Einsicht in dieses Spiel zentrifugaler und zentripetaler Kräfte, weil das einzelne Wort als Teil des Satzes nicht für sich allein wirkt, sondern anderen Worten beigesellt ist oder sich von ihnen abhebt, die ihrerseits ebenfalls zur Rhythmik und zum Logos des Satzes beitragen. Nimmt man das Wort aus diesem lebendigen Zusammenhang heraus, der gar nicht verwickelt genug gedacht werden kann, so kann es dem Forscher so viel Belehrung geben wie eine getrocknete Herbariums-Pflanze. Es gehört dann zur Kategorie der Wörter, aber nicht der Worte.

V. DIE DOPPELNATUR DER SPRACHE Mit der Erfindung der Schrift wurde erst wissenschaftliches Denken möglich, zunächst freilich nur innerhalb eines begrenzten Kreises von Lesekundigen. Durch den verbreiteten Gebrauch von gedruckten Lettern wurden viele wissenschaftliche Stoffgebiete einem größeren Kreise zugänglich und konnten sogar Gemeingut werden. Schulunterricht und Lehrbücher, Zeitungen und zuletzt das Kino erzogen uns Jetzige vorwiegend zu Augenmenschen. Das mit dem Gesichtssinn Wahrgenommene bedeutet für das Durchschnitts-Individuum der Gegenwart das Wirkliche, soweit es der Nachprüfung standhält, zugleich das Richtige und meistens damit das Wahre. Die Fraglichkeit solcher einseitigen Auffassung, die nur ein distanziertes Weltbild anerkennt, ist der Mehrzahl unserer Zeitgenossen kaum aufgegangen. Dennoch, gerade für den Gelehrten — und es sind darunter nicht nur die Naturforscher verstanden —ist der Gesichtssinn das vorzügliche Organ des Erkennens. Vom Auge her sucht der Mann der Wissenschaft das vielverschlungene Weltgeschehen zu erfassen als Weltbild, als Idee, als Eidos oder als Theorie. Alle diese Ausdrücke beziehen sich auf das Sichtbarmachen von Vorgängen durch die Anschauung. Solchem folgerichtigen, aber einseitigen Forschen im Sinne der Ratio müssen jedoch manche Gebiete des Lebens ihrem Wesen nach sich gänzlich entziehen. Die Religion, die Kunst in ihrer Gesamtheit, der Schlaftraum sind z. B. Erscheinungen, die nicht nur auf sichtbare Erfahrung sich gründen. Ihnen ist die Bestätigung ihrer Richtigkeit oder ihres Wahrheitsgehalts nicht gemäß, da sie in sich selbst die Gewähr der Gewißheit tragen. Daß zu diesen Erscheinungsformen des Lebens auch das Problem der Sprache gehört, mag bestritten werden unter dem Hinweis, daß sie in Schrift und Druck zu objektivieren ist, daß der Form- und BedeutungsWandel des Einzelwortes an augenscheinlichen Beispielen historisch sich verfolgen läßt, daß endlich die Grammatik ihr Urteil „richtig-falsch" durch festgelegte Regeln zu begründen vermag. Solchem Einwand darf man entgegengehalten, daß es nur Äußerlichkeiten der Sprache sind, die auf dem Weg über den Augenschein und auf der Suche nach der Wahrheit sich erklären lassen. Das eigentliche Wesen der Sprache, als eines stetig sich erneuernden, schöpferischen, also lebendigen Vorgangs entzieht sich einer nur rationalen Betrachtungsweise, die auf das Gebiet des objektiv Feststellbaren sich beschränkt, die Sphäre des Subjektiven jedoch als unwissenschaftlich vermeidet, als ob in ihr nur Zufall und Willkür herrschten.

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E s ist das Verdienst Wilhelm v. Humboldts, daß er die Sprache als ein Werdendes, nicht als ein Seiendes erfaßte. S t a t t einer systematisierenden Grammatik rückte so das Dynamische in den Vordergrund. Als ein Anhänger der romantischen Schule u m 1800 ahnte er, daß die K r a f t der Sprache unterirdisch aus der subjektiven Sphäre des Menschen ströme. Bei Cassirer 1 heißt es: „Humboldt h a t für die Sprache niedergelegt, wie in ihre Bildung und ihren Gebrauch die ganze Art der subjektiven Wahrnehmung der Dinge übergeht. Denn das Wort sei niemals ein Abdruck des Gegenstands an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes." Obgleich hier von „subjektiver Wahrnehmung" die Rede ist, verrät die Formulierung — gleichviel, ob es sich um Humboldt oder Cassirer handelt —•, daß über den Gesichtssinn als Primat eine Erklärung f ü r den Sprachvorgang gesucht -wird. Es scheint nämlich, als ob bei der Entstehung von Sprach-Ausdrücken eine Entfernung zwischen dem wirklichen Gegenstand und dem redenden Menschen vorhanden sei wie beim eindrucksvollen Anschauen eines tatsächlichen oder auch nur vorgestellten Bildes. Hingegen scheint das künstlerisch begabte Volk der Griechen nicht die begriffliche Ferne, sondern die unmittelbare lebendige Nähe zwischen Mensch und Gegenstand herausgefühlt zu haben, so daß vom Gegenstand eine leibhaftige Einwirkung auf das Individuum stattfand. Heißt es doch bei Cassirer 2 , daß „in der Erkenntnislehre des Sensualismus in der griechischen Philosophie die Eidola stoffliche Partikel sind, die sich von den Dingen loslösen, um in das Ich, in die Seele einzudringen". Ganz anders bei Humboldt 3 : „Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so t r i t t die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende N a t u r . " Oder bei Cassirer 4 : „Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder t r i t t dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich ihnen gegenüber in selbständiger Fülle und ursprünglicher K r a f t . " Oder endlich bei Cassirer 5 : „Und doch begibt sich im Tun des Geistes beständig das Wunder, daß diese K l u f t (sie!) sich schließt; daß das Allgemeine sich mit dem Besonderen gleichsam in einer geistigen Mitte begegnet und sich mit ihm zu einer wahrhaft konkreten Einheit durchdringt." Wie es scheint, wird hier eine Entfernung zwischen Gegenstand und Mensch angenommen, die zu überwinden ist, so daß die Sprache gleichsam die Brücke bildet zwischen objektiver Welt und Individuum. Von solcher Auffassung, die eine reale Außenwelt und einen innerlich frei arbeitenden Geist als ursprüngliche Gegebenheiten annimmt, mag für den Forscher sich wohl die Frage erheben: Welchen Wahrheits1 „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften." Ernst Cassirer. Bibliothek Warburg, Vorträge, 1921/22. B. G. Teubner, Leipzig, 1923. S. 15. 2 Cassirer, S. 23. 3 „Einleitung zum Kawi Werk", Werke, Akademie-Ausgabe VIL S. 60. 4 Cass. S. 15. 5 Cass. S. 17.

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gehalt besitzt das aus der freien (Feistigkeit stammende Wortzeichen in bezug auf den bezeichneten Gegenstand ? Die strukturelle Betrachtungsweise leugnet gewiß nicht die Bedeutung des Gesichtssinns für das Seelenleben überhaupt und zweifelt nicht daran, daß optische Eindrücke maßgebend sind für das Entstehen der Sprache. Aber wir denken dabei mehr an den subjektivierenden Anteil des Gesichtssinns, wie er vom physiognomischen Sehen etwa bekannt ist. Wir wissen aber auch, daß im Weltbild der handnahen anderen Wirklichkeit der Gesichtssinn noch nicht die Vormachtstellung besitzt oder sie sogar einbüßt, sobald der vibratorische Gehörssinn die Führung übernimmt, wobei dann Zeit- und Raum-Vorstellungen, statt verstandesmäßig gegliedert zu werden, zu leibhaftigen rhythmischen Erlebnissen sich gestalten. Die dualistische Trennung von Subjekt und Objekt, die Kluft zwischen Seele und realer Welt mit dem Zwischenreich der Sprache besteht bloß für denjenigen, der sich allzu einseitig des geistigen Auges für sich selbst bedient und daher auch, weil er die distanzierende Haltung als die ursprüngliche annimmt, sie beim primitiven Menschen oder beim Kleinkinde voraussetzt. Dieser Dualismus wird unhaltbar, wenn man den Hörwert des stimmhaften Ausdrucks in seiner Wichtigkeit für das Entstehen und die Entwicklung der Sprache erkannt hat, so daß Rhythmus, Tonfall, Akzent an die ihnen gebührende erste Stelle rücken. Alsdann fällt auch, die Frage nach der Richtigkeit, also nach dem Wahrheitsgehalt des bezeichnenden Ausdrucks gegenüber dem durch ihn Bezeichneten in sich zusammen, beruht doch der Sinn des sprachlichen Ausdrucks auf unanzweifelbarer Selbstgewißheit. Ohne einen kausalen Zusammenhang, ohne die Möglichkeit einer Beweisführung entspricht das Bezeichnende dem Bezeichneten mit zwingender Notwendigkeit. Hingegen mag die Richtigkeit der Bezeichnung erwogen werden, wenn etwa einer neuentdeckten Schmetterlings-Art der wissenschaftlich passende Name gegeben werden soll. Um so eher wird freilich der Hörwert des sprachlichen Ausdrucks unterschätzt und sogar verkannt werden, wenn man statt des sinnhaft tönenden Satzes das Einzelwort als das Urelement der Sprache ansieht. Der oft beobachtete Form- und Bedeutungswandel des Wortes verführt leicht zu solcher Annahme. Wenn aber das Einzelwort, seinem natürlichen Zusammenhang im Satz entrissen, selbst sinnsetzende begriffliche Bedeutung beanspruchen sollte, so kann dieser auf logischem Denken beruhende Machtzuwachs erst eingetreten sein, als das Wort zum Bereich der augenscheinlichen Realität gehörte, d. h. erst auf jener Entwicklungs-Stufe, als das zeitvergängliche Erlebnis der gehörten Sprache in räumlich sichtbaren Schriftzeichen festgelegt werden konnte. Nimmermehr jedoch besaß das Einzelwort realen Charakter und damit Identitätswert in jener vorangegangenen, langen dumpfen Zeitspanne, in der die stimmhafte Sprache und ihr Tonfall dem magischen Denken der Redenden wie der Hörenden gemäß war. J a , die Tabuierung einzelner Worte bei den Primitiven weist geradezu darauf hin, daß der zu vermeidende Ausdruck nur in einem sakralen Zusammenhang denkbar war.

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Als ursprünglich kann daher nicht freies geistiges Schaffen oder eine objektivierende, zielgerichtete Haltung der Sprache gelten. Sicherlich ist einem Philosophen, der die Grundphänomene der Sprache, der mythologisch religiösen Form und der Kunst nebeneinander nennt, das ihnen gemeinschaftliche Moment des Subjektiven nicht verborgen geblieben. Aber es erweckt den Anschein, als wisse er nichts von der pathischen Muß-Haltung in der Tiefe der subjektiven Sphäre. So zeugt ihm die Sprache von einer „subjektiven Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder" (S.15), oder es heißt, daß der Mensch „jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks durchdringt" (S. 17). Cassirer scheint also an eine souveräne Willenshaltung zu denken, während doch der sprachschöpferische Akt im Zeichen zwangsläufiger Notwendigkeit sich vollzieht, der keine freie Entscheidung gestattet. Der von einem Stimmungserlebnis überwältigte lyrische Dichter ist gewiß nicht Herr seiner Gedanken und Worte, und wenn ein Ausdruck als „gesucht" getadelt wird, so deshalb, weil der rechte, überzeugende und prägnante Ausdruck nicht gefunden wurde. Denn diesen schenkt nur die Gunst der Stunde. Der wahre Dichter unterliegt zunächst der Gewalt des Rhythmus, feurig und tönend werden die Worte und Sätze herausgeschleudert, um erst dann zu erstarren. Alsdann mag es sich sogar ereignen, daß der rechte Ausdruck den elementaren Reim-Regeln widerspricht. In Goethes „Selige Sehnsucht" reimt sich z.B. „Zeugtest" und „ L e u c h t e t " . Solche Beispiele lassen sich häufen. Sie beweisen deutlich, wie der Dichter im schöpferischen Akt nicht die Freiheit der Wahl besitzt, daß er einem Zwang unterliegt, den man ebensogut Gnade wie Besessenheit nennen kann. Hingegen beweist die Tabulatur der Meistersinger, daß es ihnen trotz genauer Kenntnis aller Reim-Regeln nur gelang, die Kunst im Sinne eines Handwerks zu bemeistern. Den gleichen Fehler macht die einseitig distanzierende Betrachtungsweise gegenüber dem mythischen Denken. Bei Cassirer1 heißt es: „Das mythische Denken hat seine „Kategorien", wie das logisch-wissenschaftliche Denken sie hat. Vor allem ist es die grundlegende und beherrschende Kategorie, die Kategorie der Kausalität, die sich auch in ihm wirksam erweist. Daß es dem Mythos an dem allgemeinsten Begriff der Kausalität, an dem bloßen Verhältnisgedenken von „Ursache" und „Wirkung" keinesfalls mangelt, tritt in seiner ständigen Tendenz zur Ableitung und Erklärung der Welt deutlich zu Tage." Der Irrtum solcher Sätze besteht darin, daß hier die Berichte des Mythos auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht werden, während doch gerade die auf Richtigkeit einer Aussage zielenden Kategorien der Lautsprache im mythischen Denken durch ihre Abwesenheit glänzen. Der Satz „Credo, quia absurdum" zeigt vortrefflich, daß die ich-ferne Wahrheit und die ich-nahe Gewißheit in ganz verschiedenen Ich-Bereichen wurzeln. Der Satz von der Kausalität ist nun eine Behauptung, die auf die merkbare Veränderung von Gegenständen 1

S. 92.

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sich bezieht, wenn sie unter dem ordnenden Prinzip des raum-zeitlichen Denkens gesehen werden. Er beruht auf der angenommenen Identität realer Gegenstände, die ohne zureichenden Grund ihre Form oder Lage nicht ändern. Der Anschein, als ob im mythischen Denken Tendenzen zur Ableitung und Erklärung walteten, wird dadurch hervorgerufen, daß die Vorgänge des Mythos lautsprachlich mitgeteilt werden, diese Form des Berichts aber an die üblichen Denkkategorien gebunden ist. Eigentlich entspricht sie nicht mehr dem mythischen Denken, wenn sie als Sage oder Märchen erzählt oder sogar in Wortbildern fixiert wird. Nur im bedeutungsvollen Ritual, in der wortlosen Zeremonie des kultischen Tanzes, in der Weihehandlung des Mysteriums und fast immer unter den Klängen von Musik kann der Mythos dem Menschen nahegebracht werden. Wenn Siegfried unverwundbar wird, nachdem er sich im Blut des Drachen gebadet hat, so ist dieser neue Tatbestand aus den vorangegangenen Geschehnissen weder abgeleitet noch rational erklärt. Einerseits ist die reale Existenz von Drachen unbewiesen, andererseits die härtende Eigenschaft von solchem Blut unbekannt. Wie kann man von Kausalität sprechen, wenn die Ursache völlig in der Luft hängt 1 Gewiß ist die Unverwundbarkeit des Helden als „Wirkung" der Tötung des Fabeltieres und des Badens in seinem Blut aufzufassen. Aber nicht im Sinne von Ursache und Folge, sondern als rein magische Wirkung. Der Vorgang, der zeitlich und ursächlich durch die äußere Form der Lautsprache drapiert ist, bleibt logisch unverständlich. Daher ist er einmalig und nicht als Regel zu verallgemeinern. Der genannte Tatbestand zeigt ebensowenig Tendenzen zur Wahrheit, die abgeleitet und erklärt werden kann, als wenn im „Rotkäppchen" der Wolf mit menschlicher Stimme redet oder die Kleidung der Großmutter anlegt. Beide Male sind es Berichte von wunderbaren Begebenheiten, die einzig kraft der Überlieferung den Stempel der Echtheit, der Gewißheit an sich tragen. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt solcher Berichte ist ebenso unsinnig wie der Versuch, einen mythologischen Tatbestand durch Augenschein, Demonstration oder logische Beweisführung zu erhärten. „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind." In den mythologischen Berichten, hinter denen manche Forscher die Allegorisierung kosmischer Ereignisse oder sinnfälliger Naturgewalten vermuten, ist häufig ein Kern enthalten, den wir Jetzigen „schön" nennen, weshalb diese Vorgänge des religiösen Mythos gern in den Bereich der Kunst eingehen. — Ein anderes Beispiel, wenn wir mythisches und magisches Denken einander gleichsetzen, liefert der Totem-Glaube. Hier ist deutlich das Gesetz der zeitlichen Ursache und Folge sowie der Identität außer Acht gelassen. Ein jetzt lebendes Känguruh kann logischer Weise nicht der längst verstorbene Ahnherr sein und zugleich unsichtbar in den Mitgliedern einer Stammes-Gruppe sich verkörpern. Also: I m mythisch-religiösen Denken ist der geistige Zusammenhang nicht durch kausale Verknüpfung oder sonstige lautsprachliche d. h. logische Kategorien bedingt. Eher könnte man ihn als gestalthafte

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Gegebenheit erfassen. Der mythische Vorgang erscheint mit und trotz allem Wunderbaren in sich so geschlossen, so glaubhaft und selbstverständlich wie uns Jetzigen eine leichtfaßliche Melodie, bei der die Frage nach dem Wahrheitsgehalt oder nach der Kausalität keinem Menschen in den Sinn kommt. Dabei ist im mythischen Denken der Zufall ausgeschaltet; denn Verwandlung und Wunder liegen im Bereich symbolhafter Möglichkeiten, sobald gewisse Tiefen des Spiel-Ichs angerührt werden. Mit Recht sagt Nietzsche 1 : „Dem Mythos liegt nicht ein Gedanke zu Grunde, sondern er selber ist ein Denken . . ." Die Lautsprache ist daher, wie schon erwähnt, dem mythischen Denken gar nicht gemäß, wohl aber das Opfer, das Ritual, Gesang und Tanz. Aus der Körper-Gebärde, aus der undurchsichtigen, dennoch sinnvollen Bewegung und Handlung erwächst dann der Anreiz zum stimmhaften Ausdruck, dessen Tonfall und Rhythmus zunächst wichtiger war als die Gestalt des Ausdrucks. Sprache ist nicht gewollte oder gekonnte Wiedergabe und freie Bearbeitung von wahrnehmbaren Eindrücken, sondern zwangsläufige Bewegungs-Reaktion auf intensives Erleben. Nicht aus der Erfahrung oder aus der Beobachtung realer Erscheinungen, sondern aus der leidenschaftlichen Hingabe an wandelbare affektgeladene Symbole und aus dem magischen Sinn eines logisch undurchsichtigen Vorgangs entsteht der reaktive Antrieb zu bewegter Äußerung in Gebärde und Stimme. Insofern hierbei die pathische Subjekthaltung vorherrscht, war im Anfang der Sprache nicht der Logos, sondern der Rhythmus. Wir erinnern uns, daß im Rhythmus das Präsentische des fließenden Weltgeschehens erfaßt und ausgedrückt wird. So werden die schwingenden Laute der Sprache zu sinnlichen, fast greifbaren Zeichen von etwas Gegenwärtigem. Aus diesem Gefühl fragt ein vierjähriges Mädchen: „Warum können wir nicht sehen, was ich eben gesprochen habe 2 ?" Noch jüngere Kinder spielen mit kürzlich gelernten Worten und verdrehen die Laute, als seien sie plastisches Material. Das Gefühl für das Gegenständliche der Sprache äußert sich auch im archaischen Denken der Schizophrenen. ,,So kann ein Patient die Worte seiner Frau in den Einkaufskorb werfen; mit Worten können Möbel und Klavier beschmutzt werden. Bei einem anderen Patienten nützen sich die Worte durch den Gebrauch ab, so daß sie schließlich wieder gereinigt und geputzt werden müssen. Ein anderer wäscht sich die Worte ab, die ihm an den Kopf geworfen werden 3 ." Gegenständliche Erlebensnähe fühlen wir Jetzigen vielleicht noch im Namen der Blume „Vergißmeinnicht" und seinem jambischen Tonfall oder im daktylischen Versmaß des „Rührmichnichtan". So abgeschwächt 1

„Richard Wagner in Bayreuth". Abschnitt 9. K. Koffka: „Die Grundlagen der psychischen Entwicklung". Verlag: A. W. Zickfeld, Osterwiek am Harz 1925. S. 245. 3 Paul Schilder: „Wahn und Erkenntnis". Zitiert aus der „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie", Bd. 118, Heft 5, S. 739, Berlin 1929. 2

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M a y e r . Schöpferische Sprache

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die Wirkung solcher verbietender Befehlssätze auf uns sein mag, eröffnet sich doch das Verständnis für mythisches Denken, als noch der Name des Schwertes ebenso eine Eigenschaft der Waffe war wie ihre Schärfe. Im Märchen vernichtet Rumpelstilzchen sich selbst, nachdem die Menschen seinen Namen erfahren haben, an den seine Macht gebunden war. Bezeichnung und Gegenstand stehen in magischer Beziehung zueinander, aber auch zu demjenigen, der um den heimlichen Namen weiß. So sehr kann im mythischen Denken der sachliche Augenschein zurücktreten vor der subjektivierenden Einsicht, daß man der Waffe die sonst nur dem Menschen zukommende Fähigkeit selbständiger Entschließung oder affektmäßigen Erlebens zuschreibt. Das Schwert kann z. B. nicht eher in die Scheide zurückkehren, bis es Blut getrunken hat. Wenn die Enthüllung des Namens den Zauber bricht, den Kobold seiner Macht, das Schwert seiner Schärfe beraubt, so bedeutet dieser Zusammenhang eine Durchbrechung der üblichen kausalen Verknüpfung. Dabei scheint aus der Verheimlichung des Namens hervorzugehen, daß dem Hörwert des tönenden Wortes mehr Gewicht beigelegt wird als dem bezeichneten Gegenstand selbst. Einen schwachen Abglanz von der Wichtigkeit der Bezeichnung erfahren wir noch jetzt, wenn in der Jägersprache die Ohren des Hasen „Löffel", die „Augen „Lichter" heißen. Wenn der schizophrene Kranke fürchtet, daß die Worte durch den Gebrauch abgenutzt werden, so steht er dem archaischen, mythischen Denken mancher primitiven Volksstämme recht nahe. Die Völkerkunde lehrt, daß bei ihnen die Namensbezeichnung ihre präsentische K r a f t nur für eine gewisse Zeitspanne bewahrt. Bei Koffka heißt es 1 : „In den primitiven Gesellschaften ist der Name, den man einem Kinde gibt, nicht Geschmack und Willkür der Eltern überlassen, er wird überhaupt nicht gegeben, sondern gefunden, d. h. das auf die Welt kommende Kind hat schon einen Namen, da es die Reinkarnation eines verstorbenen Vorfahren ist. Aber zu diesem Namen bekommt der Mann bei vielen Völkern im Laufe seines Lebens noch andere und wichtigere. Bei jedem wichtigen Ereignis, bei den Mannbarkeitszeremonien, der Heirat, wenn er seinen ersten Feind getötet hat, in eine geheime Gesellschaft eintritt, immer bekommt er einen Namen, der der mystische Träger der neuen „Partizipationen" ist, die für ihn entstanden sind." Aus der Bibel ist bekannt, daß der Erzvater Abram von einem gewissen Zeitpunkt an den Namen Abraham trägt und Jacob Israel genannt wird. Hingewiesen sei auch auf die Sitte der Juden, einem Schwerkranken einen neuen Namen zu geben, als ob die so veränderte Person nunmehr vom Todesengel nicht erkannt würde. Aus der Präsenz, der rhythmischen Leibhaftigkeit und der Gegenständlichkeit des sprachlichen Ausdrucks, der mit dem zu Bezeichnenden zu einer natürlichen Einheit verschmilzt, erwächst das Gefühl unerschütterlicher Gewißheit über die Treffsicherheit des Wortes. Ein Zweifel 1

„Grundlagen der psychischen Entwicklung". S. 244.

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an der Richtigkeit einer Bezeichnung kann so wenig aufkommen wie bei einer Berührungs-Empfindung des eigenen Körpers. Daher kann auch der Name einer Person zum unveräußerlichen Bestandteil werden, der dem Träger anhaftet wie seine Haut. Die Schädigung des Namens schädigt die leiblich-seelische Person. So eng ist die magische Beziehung, daß die Trennung des Bezeichneten von seinem Namen nur durch einen magischen Akt erfolgen kann. Es ist klar, daß bei solchem ich-haften Erleben der persönlichen oder gegenständlichen Umgebung, wie es in der Namensgebung sich zeigt, ein sachliches Interesse sich nicht entwickeln kann. Vor lauter Ichhaftigkeit kann sich daher ein reales Weltbild nicht herausbilden, das der logischen Nachprüfung standhält. Im mythischen Stadium der Lautsprache kann es keine Gattungsnamen geben wie Vogel, Baum oder Fisch, sondern nur Individualnamen1. Die Identität, die in den vorgeschrittenen Sprachen durch das Wort gewährt wird, tritt in den Schatten gegenüber der erlebbaren und immer wieder erlebten Ich-Beziehung zu den Menschen und Dingen. Ihr Augenschein ist unwichtiger als der Hörwert des sie bezeichnenden Ausdrucks. Wie wenig die Identität des Wortes noch bedeutet, zeigt sich, wenn bei brasilianischen Stämmen Feuer und Holz dieselbe Bezeichnung hat, ebenso Durst und Wasser. Daß selbst bei höher entwickelten Sprachen, in denen das Streben nach einer gewissen logischen Systematik sich bemerkbar macht, der subjektivierende Affekt und gefühlsmäßige Bewertungen hervortreten, glaubt Meinhof an den Bantu-Sprachen zu erkennen. Es gibt dort in der Grammatik eine Klasse der Personen und eine der Sachen. Aber in die Klasse der Sachen wird alles versetzt, was irgendwie verächtlich ist: der Blinde, der Taube, der Krüppel, der Dummkopf. Unwillkürlich denkt man an unsere herabsetzende Bezeichnung „das Mensch". Erst bei gewissen entwicklungsfähigen Sprachen mag schließlich jenes Stadium eintreten, das Voßler meint: „Sprache erscheint hier als polare Struktur zwischen Schöpfung und Entwicklung, freier Phantasie und Mechanismus, Stil und Grammatik, Sinnbild und Bezeichnung." Für die ursprüngliche Sprache erscheint es aber charakteristisch, daß Entwicklung, Mechanismus, Grammatik und Bezeichnung in ihr noch fehlen, während die dem subjektivierenden Spiel-Ich zugehörenden Tendenzen wie Schöpfung, Phantasie, Stil und Sinnbild bereits hervortreten. Die von Voßler angenommene Polarität der Struktur kann sich erst herausbilden, wenn das distanzierende Vermögen bei einem Volke so stark geworden ist, daß zum Rhythmus das Metrum, zum sich wandelnden Symbol der mit Identität behaftete Begriff ergänzend sich gesellen mußte. Indem die strukturelle Betrachtungsweise für das Werden einer Sprache dem an Tonfall und Rhythmus beteiligten Gehör größeres Gewicht beilegt als dem Gesichtssinn, meint er letzteren nur, insofern er dem objektivierenden, sachlichen Denken dient. Diese Fähigkeit des Auges ist aber eine späte Erwerbung. Im Beginn einer Sprachkultur muß 1

Brough Smith: The aborigines of Victoria", II, S. 27.



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es hauptsächlich ein subjektivierendes Vermögen besessen haben. Wenn ein Erlebnis den ganzen Menschen beansprucht, wie es durch den Vibrations - Vorgang geschieht, und dieses Erlebnis in einem zwar nicht logischen, jedoch sinnvollen Zusammenhang sich darbietet, so erscheinen dem Gesichtssinn Personen und Gegenstände als Glieder eines Gesamt- Vorgangs, aus dem sie nicht als Vereinzelungen, d. h. als Objekte der Beobachtung herausgerissen werden können. Nicht nur, weil sonst der Gesamtvorgang seines Sinnes beraubt würde, sondern auch, weil die Personen und Gegenstände nur innerhalb eines magischen Kreises Anteilnahme erwecken, während sie allein und außerhalb dieses Rahmens belanglos sind. Ebenso wie der Rhythmus als stimmhafter Bewegungs-Ausdruck ein in sich geschlossenes Gesamterlebnis bedeutet, also „Gestalt" besitzt, kann auch das Auge einen Vorgang zunächst nur als geschlossene Einheit, also „gestalthaft" erleben. Darum ist auch der Begriff „Prägnanz" der Gestaltspsychologie gleichbedeutend mit demjenigen der „Intensität", welcher der pathischen Subjekthaltung innewohnt. Beide Male ist gemeint, daß Personen und Gegenstände nicht vereinzelt und sachlich gesehen werden, sondern daß sie — und dies bezieht sich bloß auf die Struktur-Psychologie —• nur innerhalb eines magischen Kreises und in magischem Zusammenhang als affektgeladene Symbole hingebend erlebt werden. Den so im Schauen erlebten Wesen fehlt die Identität. In einem anderen Zusammenhang bedeuten sie etwas anderes. Ein gewisses Symbol entspricht dem Kinde, demselben Individuum aber nicht mehr, wenn er seinen ersten Feind getötet hat. Darum paßt nunmehr der alte Name nicht für ihn. Der neue Name bedeutet die Wandlung des Symbols. Bis in das Reich der Traum-Symbole kann das pathisch-gestalthafte Sehen verfolgt werden. Im Schlaftraum, als dem höchsterreichbaren SymboUsierungs-Vorgang ist das Ausgeliefertsein an die Traumbilder, die willenlose Muß-Haltung des erlebenden, nicht mehr beobachtenden Menschen, am deutlichsten zu bemerken. Da nun im primitiven Denken Traumwirklichkeit und Realität noch nicht genügend unterschieden sind, Traumerlebnisse mit augenscheinlichen realen Vorgängen und diese auch mit jenen verwechselt werden, so ist wohl anzunehmen, daß Personen und Gegenstände der realen Umgebung auf den primitiv Erlebenden einen ähnlich zwingenden Bann, eine Faszinierung ausüben, wie wir alle es vom Traume her kennen. Von freier Gedankenschöpfung kann in diesem Urzustand des Menschen, wenn Sprache hervorbricht, nicht die Rede sein. Dabei soll keinesfalls behauptet werden, daß auf dieser frühen Kulturstufe das Beharrungs-Moment, an dem der Begriff der Identität haftet, völlig fehle. Wie wäre sonst die Herstellung von Bogen und Pfeil oder von Wirtschaftsgeräten denkbar, deren Material so gewählt wird, daß es eine gewisse Zeit standhalte ? So sind die Keime von logisch-distanzierendem und planendem Denken schon auf früher Kulturstufe zu erkennen. Auch wenn ein symbolischer Name über eine Zeitspanne von Jahren dem Mitglied eines Volksstammes entspricht, darf hierin ein kulturelles Beharrungs-Moment erblickt werden, das sich

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sprachlich äußert. Die Uranfänge distanzierender Haltung sind also in einer Früh-Kultur nicht zu leugnen. Sie sind aber noch so keimhaft, so sporadisch und so sehr in magisches Denken eingebettet, daß der Gesichtssinn als beobachtendes Organ im Gesamtleben des Primitiven nicht die führende, entscheidende Rolle zu spielen vermag. Auf solcher frühen Entwicklungsstufe der Sprache wird daher nicht das ruhende Sein, sondern das flutende Werden zum Ausdruck gelangen. Als Beispiel diene ein Zeugnis Humboldts 1 über die Indianer-Sprachen: „Hier dagegen liegt ein Konglomerat vor, in dem die einzelnen Bestimmungen unterschiedslos nebeneinander liegen und ineinander verfließen. Neben der verbalen Bezeichnung, neben dem Ausdruck für die qualitative Eigenart eines Vorgangs oder einer Tätigkeit wird im Wortganzen eine Fülle zufälliger Nebenbestimmungen des Tuns oder des Vorgangs zum Ausdruck gebracht. Diese Modifikationen verschmelzen mit der Bezeichnung des Hauptbegriffs und wachsen gleichsam völlig mit ihm zusammen . . . " „So geht z. B. in die sprachliche Bestimmung der Tätigkeit jeder besondere Umstand des Orts, der Zeit, der individuellen Art und Weise und der Richtung des Tuns ein. Das Verbum ändert durch Einverleibung von Partikeln, durch eine Fülle von Suffixen und Infixen seine Form, je nachdem das Subjekt der Handlung sitzt, steht oder liegt, je nachdem es in die Klasse der beseelten Wesen gehört, je nachdem die Handlung mit diesem oder jenem Werkzeug erfolgte." Hinter den Sätzen eines Forschers, der in der Sprache vor allem das Begriffliche sucht, daher von „Konglomerat" und „zufälligen Nebenbestimmungen" spricht, erkennt man die Schilderung eines subjektivierend-gestalthaften Sprach-Vorgangs, welcher der Fülle der auf den Menschen zugleich eindringenden Erlebnisse zu entsprechen sucht durch präsentisch geballte Fülle des Ausdrucks, der in seinem gleichzeitigen Nebeneinander an die Schaffensweise des Malers erinnert. Daß dabei ein Geschehnis im Sitzen, Liegen oder Stehen jedesmal anders ausgedrückt wird, ist kennzeichnend für das subjektive Erleben. So ist die sprachliche Ausdrucksweise hier vom sachlichen und logischen Standpunkt her nicht zu verstehen. Wie kann eine Identität durch die Sprache gewährleistet werden, wenn derselbe Gegenstand im Sitzen, Liegen oder Stehen eine andere Bezeichnung trägt ? Man mag die in den Indianer-Sprachen hervortretende Darstellung als malerische Stilisierung bezeichnen. Denn die Worte erscheinen in der Gleichzeitigkeit ihres vielfachen Bezuges wie Farbflecken auf einem Gemälde, wenn sie neben- oder übereinander aufgetragen die Mannigfaltigkeit der Eindrücke in einem Augenblick wiedergeben. Gleichwie bei den Überschneidungen auf dem Bilde Fernstes unmittelbar neben dem Nächsten steht, und wie die fremdesten Dinge zur malerischen Einheit verwoben werden, so schafft das Auge des Indianers formend mit am Aufbau seiner Sprache. Nur drückt die Stilisierung in der Sprach1

Cassirer, S. 35.

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formung nicht einen ästhetischen Zusammenhang aus, sondern einen magischen. Mit dem hier gebrauchten Begriff der Stilisierung ist gemeint, daß die primitive schöpferische Sprachleistung in einer ähnlichen seelischen Haltung sich vollzieht wie das Schaffen des Künstlers. Aus dem Beispiel Humboldts ist freilich nichts zu schließen über den vibratorischen Gehörs-Anteil bei der Sprachformung, den wir überall zuerst wirksam glauben. Es zeigt sich nur, daß hier auch das Auge an der Stilisierung beteiligt ist, nicht als distanzierendes Organ der Beobachtung, sondern im ich-nahen subjektivierenden Sinne. Will man den Vergleich mit der Malerei fortführen, so darf man vermuten, daß in den verschiedenen Sprachen bald die realistische, die impressionistische oder auch die expressionistische Stilisierung sich geltend macht. Denkbar wäre es, daß wie in der bildenden Kunst auch in der Entwicklung ein und derselben Sprache ihr malerischer Stil sich ändert. Da auch der Rhythmus im Lauf der Zeiten sich wandelt, sind viele Möglichkeiten gegeben, wie rhythmisches und malerisches Erlebnis mit- oder gegeneinander im Werdegang einer Sprache sich auswirken. Vermag man in der Sprachbildung denselben symbolisierenden Vorgang zu erkennen, dem Kunst, Religion und Traum ihr Dasein verdanken, so leuchtet es ein, daß die Sprache nicht erfinderisch oder frei unter Möglichkeiten wählend, also zielbewußt ihre Begriffe und Ausdrücke für das Wahrgenommene prägt, daß sie überhaupt nicht auf nützliche, praktische, zeitlich abgeschlossene Zielsetzung ausgeht. Wenn aber jede Sprach-Äußerung zunächst und vornehmlich in spielerischer, manchmal traumhafter, jedenfalls in intensivierender, pathischer Subjekthaltung sich vollzieht, kann die Sprache ursprünglich nur im Dienst der IchEntfaltung stehen, während die Ich-Entäußerung, also das Streben nach Sachlichkeit erst im Verlauf der Sprachentwicklung und nicht einmal immer erfolgt. Da in einer Früh-Kultur Religion und Kunst mit dem Drang zu sprachlicher Äußerung so eng zusammenhängen, darf man auf dieser Entwicklungs-Stufe die Sprache nicht für sich allein betrachten. Man wird die bei ihrem Entstehen tätigen und an ihrem Aufbau beteiligten seelischen Kräfte nur richtig einschätzen, wenn man die gesamte Kultur eines Sprachkreises und die seelische Haltung, der sie entstammt, genügend berücksichtigt. Diese umfassende Betrachtungsweise ist aber auch notwendig für jene spätere Zeitspanne, in der die vordem winzigen Anlagen distanzierenden Denkens sich mächtig entwickeln und das Stadium der Zivilisation herbeiführen. Für den Anfang einer Kultur läßt sich soviel sagen: Die Poiesis betrifft nicht allein die Sprache. Vielmehr sind alle Handlungen und Lebensverrichtungen des primitiven Menschen mit Magie durchtränkt. Selbst die auf Lebenserhaltung gerichtete Arbeit des einzelnen, der Familie oder des Stammes vollzieht sich unter magischen Voraussetzungen und kann fast nur in sakralem Zusammenhang begriffen werden. Man denke an die Ackerbau-Zeremonien, bei denen Mann und Frau nicht etwa nur

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im Gleichnis oder gar als Vertreter einer Analogie sich paaren. Weil für das Denken auf dieser Kultur-Stufe Ähnlichkeit und Identität, die uns selbstverständliche Anschauungs-Formen bedeuten, noch gar nicht existieren, erscheint der Schoß der Frau und die Furche des zu bestellenden Ackers als verschiedener Ausdruck desselben Fruchtbarkeits-Symbols, das in seiner Verwandlungsfähigkeit zugleich die Furche und den Schoß bedeutet. Ebenso sind Form und Schmuck der Waffen, Form der Wirtschaft und der sozialen Gemeinschaft nicht beliebige Schöpfungen der freien Wahl, sondern empfangen Form, Sinn und Bestimmung vom zwangsläufig magischen Zusammenhang her. Wenn hier das Gesprochene noch als präsentisch und gegenständlich empfunden wird, dienen z. B. die ArbeitsGesänge nicht etwa dem Vergnügen oder der Aufmunterung, sondern Wort und Melodie sind Bestandteile der Arbeit selbst. Durch solche unzerreißbare Bindung von Werk und Wort ist ein sicherer Riegel vor die Möglichkeit geschoben, daß die Sprache aus der subjektivierenden Sphäre gleitet und distanzierende, objektivierende, individualisierende Kräfte entwickelt. Arbeit und Sprache sind in gleicher Weise Ausfluß einer sakralen Haltung. Sogar die persönliche Tätigkeit des einzelnen ist auf den magischen Zusammenhang mit der Gruppe bezogen. Soweit hier Arbeit Sprache entstehen läßt, andererseits Sprache als notwendiger Bestandteil der Arbeit erscheint, kann nicht der Eindruck eines Gegenstandes z. B. eines Werkzeugs im Sinne einer anschaulichen Begriffsbildung wirksam sein. Erst die Hantierung mit ihm schafft denjenigen Sprach-Ausdruck, der —• eingereiht in das übrige Brauchtum — von der gesamten Gruppe verstanden, noch mehr: in seiner tieferen Bedeutung auch gewürdigt wird. Ein solcher Ausdruck kann sogar den Nimbus des Heiligen oder des Gespenstischen annehmen und vielleicht tabuiert werden. Die das Leben erhaltende oder sichernde Tätigkeit des primitiven Menschen ist ebensowenig profan wie eine rituelle Handlung. Wenn aber bei allen Arbeits-Verrichtungen der Körper sich rühren, insbesondere die Hand tätig sein muß, so versteht man, daß der Rhythmus der bewegten Glieder, vor allem der Hand als eines poietischen Organs am Aufbau der Sprache beteiligt ist. So ergibt sich die selbstverständliche Folgerung, daß der letzte Inhalt aller Urwurzeln der Sprache das Tätigkeitswort ist. Dies ist kein neuer Fund. Ein Sprachforscher bemerkte in dieser Hinsich 1 : „Menschliche Tätigkeit ist der letzte Begriffsinhalt aller Urwurzeln — wie sollte es anders sein, wie konnte man eine Tätigkeit eines fremden unbekannten Wesens ausdrücken, wofern man sie nicht — damals wie heute — durch die eigene Tätigkeit erst sich verständlichte . . . " Solche Verständlichmachung und begriffsbildende Analogisierung lehnt die strukturelle Betrachtungsweise durchaus ab. Für die Anfänge einer Sprache kann der rationale Inhalt der Ausdrücke keine Geltung beanspruchen. Denn für das primitive Denken existiert noch nicht unsere von Traum oder Religion sorgsam unterschiedene reale Welt. Der Bezirk 1

Noiré: „Ursprung der Sprache". Verlag Engelmann, Leipzig 1885, S. 368.

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primitiven Denkens ist der magische. Innerhalb dieses Bezirkes gibt es keinen profanen Alltag. Deshalb ist jeder Sprachausdruck ursprünglich der Weihe teilhaftig. In seiner intensivierenden pathischen Subjekthaltung ist der primitive Mensch niemals ein Praktiker, sondern stets ein Poietes. Grammatikalische und etymologische Forschung erkannte das Tätigkeitswort als Grundwurzel aller Begriffsbildung (vgl. dero, derma, drüs, dorü). Aus der Mannigfaltigkeit der aus dem Verbum schließlich entstandenen Begriffe geht hervor, welche Fülle der Beziehungen im ursprünglichen Stammwort aufgespeichert ist. Fern von jeder logischen Tendenz weist dieser erste Sprach-Ausdruck nur komplexes Denken auf. Nur in solchem kann der magische Zusammenhang tätigen und leidenden Erlebens erfaßt und stilgemäß geformt werden. Die poietische Ausdrucksweise auf früher Kulturstufe meint in ihrer Subjektivierung nicht den Begriff für einen realen Gegenstand, deutet auch nicht im Gleichnis auf ihn. Denn dieser Gegenstand existiert nur, insofern er eine Beziehung, und zwar eine magische, zum Sprechenden und Handelnden besitzt. Das Wort schafft also die magische Verbindung zwischen dem Ich und dem Ding, ebenso aber auch die gleiche Verbindung zwischen dem Ding und dem Ich. Im Wort kann daher eine Wirkung, eine Nahe-Wirkung sowohl in dieser wie jener Richtung erfolgen. Zunächst besitzt das Wort nur Hörwert, ist dinghafter Bestandteil der leibhaftig empfundenen, vibratorisch-rhythmischen Tonfolge eines Satzes, der bewegtes Erleben im Tonfall der Stimme oder in Gebärden, vor allem in der Hand ich-haft ausdrückt. Dabei wird wahrscheinlich das leibhaftige Ich meistens im Gefühl der magischen Zusammengehörigkeit mit einer Gruppe von einem „Wir" überschattet gewesen sein. Ferner ist zu vermuten, daß der Rhythmus der stimmhaften Sprache im Anfang von rhythmischen Gebärden begleitet wurde, die —• man denke an die „Handsprachen" — das Wort noch gegenständlicher, weil sichtbar darstellten und es so wirksam ergänzten. Die überwiegende Funktion der r. Körperhälfte mag durch Akzentuierung hierbei mitgewirkt haben. Auch vom rein physiologischen Standpunkt ist anzunehmen, daß in der Lautsprache Klang und Körperbewegung sich vereinen. Der italienische Physiologe Pietro Tullio vertritt auf Grund exakter Experimente die Meinung, „durch akustischen Reiz werde nicht allein der Höranteil unseres Labyrinths erregt, also die Schnecke, sondern auch ein bestimmter Teil des Raumsinn-Organs im Vorhof. Durch Kombination beider Reize würde zugleich auf Hör- und auf Bewegungs-Zentren ein gemeinschaftlicher Eindruck hervorgebracht, z. B. ein Wortbild erzeugt, das zugleich aus akustischer und motorischer Komponente bestehe 1 ". Gewiß ist die körperliche Arbeit nicht, wie Bühler es zu einseitig betonte, als einzige Gelegenheit zur Sprachentstehung beim primitiven 1

Alfred Peyser: „Vom Labyrinth aus gesehen", Verlag Oprecht, Zürich/New York, 1942.

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Menschen anzusehen. Es ist aber leicht vorstellbar, daß gemeinschaftliche und besonders harte körperliche Arbeit einem stimmbegabten Wesen, wie der Mensch es ist, nicht selten Lautäußerungen entpreßte, die durch ihre Höhe und Tiefe, Länge und Kürze, endlich durch das Intervall entsprechend der Atemlosigkeit bei Anstrengung rhythmische Güederung verrieten. Es ist auch denkbar, daß solche zuerst unwillkürliche Stimmäußerungen im Takt mit der Tätigkeit geschahen und sich einprägten. So mochten sie den Teilnehmern an einer Arbeit bei dieser und auch später zur Verständigung dienen und endlich in die allgemeine Umgangs-Sprache aufgenommen werden. Ähnlich mögen Gefühlsausbrüche sich ausgewirkt haben, wenn bei anderer Gelegenheit der primitive Mensch erstaunte, erschreckte, Freude oder Trauer empfand und seinem Drang zur Entladung des Affekts in Äußerungen der Stimme und der Gebärden nachgab. Da beim Menschen als einzigem Lebewesen die Sprachbegabung vorlag, war die Sprachäußerung eine notwendige Folge. Auch beim Kleinkinde entwickelt sich Sprache ohne den Einfluß von redenden Erwachsenen. Jespersen berichtet von ganz kleinen Kindern, die in der ausschließlichen Umgebung von Taubstummen sich selbst eine Kauderwelsch-Sprache schufen, in der sie sich verständigten. Leicht ist eine glaubhafte Hypothese aufzustellen, wie gelegentlich ein magisch gemeinter Ausdruck seinen sakralen Sinngehalt einbüßt, und daß dieser Verlust in der Richtung versachlichenden Denkens sich auswirkt. Dabei mag man sich erinnern, daß bereits durch den Vorgang des Sprechens während der Ausatmung, ferner durch das im wiederholten Gebrauch eines Wortes hervortretende Moment der Stabilisierung der Weg zur Ich-Entäußerung, zur Versachlichung also freigegeben wird. Wenn ein Volk von einem anderen unterworfen wird, so wird oft der Sieger jenem seine Kultur aufzwingen. Mit manchem Brauchtum, das so hinfällig und gleichgültig wird, schwindet dann die sakrale Beziehung zu gewissen Personen und Gegenständen. Losgelöst aus ihrem magischen Zusammenhang können deren Bezeichnungen zu etwas Nebensächlichem werden, soweit nicht der ursprünglich verehrungswürdige Ausdruck einen schlimmen, teuflischen Sinn erhält. Des sakralen Gehalts beraubt, mag alsdann ein kultischer Gegenstand zu einem des täglichen Gebrauchs werden, das ihn bezeichnende Wort aber wird als Folge der mangelnden Ich-Beziehung zu einem sachlichen werden. An die Stelle der Poiesis tritt die Praxis. J e mehr Worte einer Sprache der Profanierung anheimfallen, um so mehr wird im Denken statt der intensivierenden pathischen Subjekthaltung klare Nüchternheit und kritisches Urteil sich geltend machen. Damit ist dann der Sprachentwicklung die Richtung gewiesen, in der neben dem rhythmischen auch das logische OrdnungsPrinzip zu seinem Recht gelangt. Daß aus dem Zusammenwirken von Phantasie und Logos eine ungeahnte Höchstleistung im Sprechen und Denken erwächst, dafür bieten die Sprachen der zivilisierten Nationen den besten Beleg. Wenn aber so viele Sprachen der Primitiven nur die Stufe „gegenständlicher Abstraktion" und „komplexen Denkens" er-

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reichen, so darf man wohl den Schluß ziehen, daß trotz ihres schöpferischen Vermögens Phantasie und Rhythmus allein nicht imstande sind, neben der Kultur auch die Zivilisation hervorzubringen. Indem der Rhythmus als der Motor und als das ursprüngliche sinngebende Ordnungs-Prinzip angesehen wird und sich damit als Träger jener Energeia ausweist, der auch späterhin der Sprache lebendige Verwandlungsfähigkeit und ein stets bereites Anpassungs-Vermögen sichert, gewinnen wir zugleich eine nachprüfbare d. h. wissenschaftliche Unterlage für das Wesen der Phantasie. Im Rahmen der Sprache dem vibratorischen Rhythmus eng gepaart, stellt sich die Phantasie dar als ein subjektivierender Bewegungs-Vorgang, den der Mensch leibhaftig an sich erfährt, wenn die Erscheinungen der umgebenden Welt in die eigene körperliche Ich-haftigkeit einbezogen an dieser Ich-haftigkeit teilhaben; diesa unterscheidet sich nicht starr logisch als Subjekt von der objektiven Wahrnehmungswelt, sondern ist mit ihr affektiv auf das Engste verknüpft. Vom Standpunkt abendländischen Denkens mag es vielleicht als Erniedrigung seelischer Eigenschaften erscheinen, wenn die Phantasie, die als schöpferische bezeichnet und so zugleich ausgezeichnet wird, mit den scheinbar mehr körperlichen Vorgängen des Gefühls und der Wahrnehmung in eine Reihe treten soll und gleich ihnen nur als ein natürlicher allen Menschen gemeinsamer Lebens-Vorgang zu gelten hat. Seltsam mag es auch anmuten, daß die Phantasie, die so gern als die freischweifende bezeichnet wird, nunmehr als zentripetale Strebung erklärt wird. Aber die Phantasie erscheint nicht mehr seltsam in ihrem Vermögen, reale Gegenstände ihrer Identität zu entkleiden und sie zu Spiel- oder Traum-Symbolen zu verwandeln, wenn man sie ernsthaft als natürliche biologische Gegebenheiten betrachtet und sie mit anderen Lebens-Vorgängen vergleicht, die abendländisch-dualistisches Denken zu bloß körperlichen Funktionen erniedrigte, während indisches Denken sie von Geist und Seele nicht trennt. Gemeint sind die Vorgänge des Essens und des Zeugens. „Speise verwandelt sich in Fleisch und Blut, in Samen und Kot, in Bewegung und Wärme, Gefühl und Geist. Der Keim wird zur Gestalt, zum eigenlebigen Wesen. Beide Vorgänge sind als Wandlungswege dem Auge entzogen 1 ." Essen und Zeugen „sind große ewige Vorgänge der Wandlung, wie Leben währende Wandlung ist: dauernde Aufhebung der Identität." Solche Auffassung liegt durchaus in der Richtung struktureller Betrachtungsweise, die Körper, Seele und Geist als lebendige Einheit zu begreifen sucht. Selbst der vorwiegend logisch Denkende wird wenigstens die Analogie anerkennen zwischen dem Verdauungs-Prozeß einerseits, der feste wahrnehmbare Gegenstände verflüssigt und sie in verwandeltem Zustand dem Organismus irgendwie zu eigen macht, und andererseits dem Prozeß der Symbolisierung als der Betätigung des die gegenständliche Form verwandelnden Spieltriebes. 1 Heinrich Zimmer: „Ewiges Indien", aus der Sammlung „Daa Weltbild", Müller und Kiepenheuer-Verlag, Potsdam, S. 12 u. 13.

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Wenn so die Phantasie in den Vordergrund des seelisch-geistigen Stoffwechsels rückt und damit die intensivierende pathische Subjekthaltung der distanzierend-willensmäßigen Haltung zeitlich und ursprünglich vorangestellt wird, wenn ferner die poietische Ich-Entfaltung den Vorrang erhält gegenüber der praktisch-sachlichen Ich-Entäußerung, wenn also für die Sprache dem vibratorischen Rhythmus die entscheidende Rolle zufällt, während der Logos erst später als wichtiger Gegenspieler hervortritt, dann wird man in der Sprache nicht mehr ein Zeichen für die „Besonnenheit" des Menschen erblicken. Ebensowenig wird man aber auch die Sprache als „schöpferischen Willen" und als „erlösende Tat" preisen dürfen, durch die der Mensch eigenmächtig und selbstherrlich von dem biologischen Erbzwang der Tierreihe sich befreite. Im übrigen ist „schöpferischer Wille" ein Unding. Denn das Schöpferische ist nicht an die willensmäßige distanzirrende Haltung geknüpft, sondern jeder Schaffende steht zunächst unter dem Zwang illusionären Hingegebenseins oder sogar halluzinatorischer Besessenheit. In den vorhin genannten überschwenglichen Wendungen tauchen wohl Erinnerungen auf an die biblische Überlieferung, nach der Gott durch sein Wort das Weltall erschuf und dessen sichtbare Teile durch seine Namengebung für ewig festlegte. Wenn ein Forscher wie Huizinga meint, daß im Beginn „alle Kultur gespielt wird", so gelangt von ganz anderen Erwägungen her die strukturelle Betrachtungsweise zu demselben Ergebnis. Darüber hinaus aber kann behauptet werden, daß bei primitiven Volksstämmen noch im Wachzustand die vertiefte pathische Haltung des Schlaftraums vorherrscht, obgleich winzige Ansätze zu distanzierendem Denken nicht völlig fehlen. Aus der Traumgebundenheit im Wachzustand, aus dem Ausgeliefertsein an das Numinose, das den Primitiven überall gespenstisch umgibt, dabei mehr bedroht und ängstigt als beruhigt und beglückt, lernen wir verstehen, daß im Beginn einer Kultur tönende Sprache und bedeutungsvolle Gebärde nicht Tat, also Actio, sondern Re-actio d. h. Bewegungs-Ausdruck auf leibhaftiges Erleben darstellen. Oft genug wird solches Erleben und der ihm entsprechende Ausdruck ängstlich oder schreckhaft gefärbt sein, manchmal wird er den Spuk bannen und gleichsam als Schutz dienen. Aus der Lebensangst, aus der Sorge um die Existenz, aus dem Schutzbedürfnis, das den primitiven Menschen einen Windschirm bauen, Früchte sammeln, ein Wild erbeuten heißt, ist die Entstehung der Sprache zu denken. Sein gegenwärtiges Sein ist bedroht. So wird ihm der Bewegungs-Ausdruck der Sprache aufgenötigt wie sein Handeln. Aber auch in Hinsicht auf den hauptsächlich beteiligten vibratorischen Gehörssinn ist im Anfang jede sprachliche Äußerung Zeichen des erschütterten Menschen. Wer aber im präsentischen Rhythmus und in der Bewegungsphantasie des mehr erregbaren als wahrnehmenden Menschen den Keim aller Sprachwerdung erkennt, muß Erklärungsbegriffe ablehnen, die wie z. B. Ähnlichkeit und Analogie erst entstanden sind, als das Individuum zu

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seiner Umgebung Abstand zu nehmen vermochte. Es sei an das Beispiel des Marquesas-Insulaners erinnert, der in seinem naturgetreuen Porträt die eigene Person nicht wiedererkannte und aufgefordert, von sich aus sein Bild zu entwerfen, sein Tätowierungs-Muster hinzeichnete. Bei Koffka heißt es 1 : „Parkinson berichtet aus der Südsee, daß Figuren, die man für Schlangen gehalten hatte, ein Schwein darstellten, eine andere, die allenfalls als Gesicht gelten konnte, aber eine Keule. Und dabei sind die Eingeborenen höchst erstaunt, wenn man sie nach der Bedeutung dieser Zeichnungen fragt. Sie können sich gar nicht vorstellen, daß nicht jedermann sofort die Bedeutung dieser Ornamente versteht." Ebenda heißt es ferner: ,,In Zentral-Australien machten Spencer und Gillen die folgende Beobachtung: von gewissen Zeichnungen behaupten die Eingeborenen, daß sie absolut gar nichts bedeuteten, nur im Spiel gemacht sind; genau die gleichen Zeichen aber haben eine sehr bestimmte Bedeutung, wenn sie sich auf einem Ding auf geweihtem Boden befinden. Die Erklärung dieses Sachverhalts und des Wunderbaren, Unverständlichen, das er für uns hat, hegt darin, daß für uns die maßgebende Beziehung zwischen Abbild und Wirklichkeit die der Ähnlichkeit ist, für den Primitiven dagegen die gemeinsame Anteilnahme an den gleichen mystischen Kräften. Daher ist eine Zeichnung auf einem heiligen Gegenstand mehr als ein Bild; sie nimmt teil an dessen Heiligkeit und an seiner Kraft. Dieselbe Zeichnung wo anders, auf einem nicht heiligen Gegenstand, ist weniger als ein Bild. Da sie keine mystische Bedeutung hat, hat sie überhaupt keine." Aus den genannten Beispielen geht zur Genüge hervor, daß bei einer Denkweise, die ein Abbild nicht kennt, ja nicht einmal anerkennt, auch die sprachlichen Ausdrücke nicht der Ähnlichkeit oder gar der Analogie ihren Ursprung verdanken können. Insofern aber auch unsere modernen Sprachen aus einer primitiven Sprachkultur sich entwickelt haben, darf man selbst für die sog. Onomatopoetica annehmen, daß sie keine nachahmenden Wortgebilde sind. Der „rollende Donner", der „zuckende Blitz", das „Murmeln des Baches" oder das „Summen der Biene" besitzen als Worte keine objektive Qualität, sind vielmehr als reaktive Sprach-Äußerungen anzusehen, die in der Musikalität tiefe Hingegebenheit, in Tonfärbung und rhythmischem Tonfall das Präsentische unmittelbaren Erlebens uns jetzt nur noch von ferne ahnen lassen. Was früheren Geschlechtern heftig bewegtes Erlebnis bedeutete, das vielleicht mit Schaudern und Ehrfurcht verbunden war und zwecks kinetischer Entspannung des übermächtigen Affekts die Äußerung in Gebärde oder Sprachlaut einfach erzwang, verblaßte den Menschen von heute zum spielerischen Gleichnis. Jetzt kann etwa der Lehrer einen Schüler „andonnern", oder im Eisenbahnverkehr spricht man von „Blitzzügen". Solche Ausdrücke geben nur die Ähnlichkeit wieder, die aus vergleichender Beobachtung oder der Überlegung stammt. In der 1

„Die Grundlagen der psychischen Entwicklung". S. 264.

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Umgangs-Sprache des Alltags wird uns Jetzigen Tonfall und Tonfarbe der Worte nur selten bewußt. Verfolgt man jedoch, eine moderne Sprache rückwärts, so zeigt sie auf früherer Entwicklungs-Stufe gesteigerte Musikalität. Noch mehr tritt der Hörwert einer Sprache, ihr Tönen hervor, solange sie noch im primitiven, poietischen Stadium verharrt. Wenn uns, den Vertretern einer kalten Nüchternheit der Hörwert unserer Sprache und ihr rhythmischer d. h. nicht-logischer Sinngehalt so sehr in Vergessenheit geriet, daß viele Menschen jetzt nicht mehr für Gedichte empfänglich sind, so bedeutet dies nicht, daß in vergangener Zeit nicht auch das umscheinbarste Wort Weihe und Wert besaß. Magische Kraft eignete dem Wort sogar noch, als man bereits die Schrift gebrauchte. Der geschriebene Zaubersegen wurde auf die zu heilende Wunde gelegt. Auch die Gelehrten der Kabbalah und der spät-hellenischen Gnosis empfanden das Wort als Mysterium. Sie lösten es in seine Buchstaben auf, die zu Zahlen in Beziehung gebracht wurden, und verliehen ihm so einen Sinn, der logisch unverständlich war, aber einem symbolhaften Weltgeschehen entsprach. Mit dem Begreifen der Phantasie als einem natürlichen Lebens-Vorgang, der reale Personen und Gegenstände nicht nur zum Besitz, sondern sogar zu Bestandteilen unseres eigenen Ichs machen kann, wird auch eine Erscheinung verständlich, die wie keine andere den Unterschied zeigt zwischen primitivem Denken und dem Alltags-Denken des modernen Menschen. Diese Erscheinung würden wir vielleicht nicht einmal verstehen, wenn nicht jedermann auch heute sie im Schlaftraum zu erleben pflegte, da er sich alsdann des primitiven oder archaischen Denkens bedienen muß. Es ist die „Einsfühlung". Für das Denken des primitiven Menschen besteht sie auch im Wachzustand und prägt seine Welt-Gesinnung, Für das Wachbewußtsein des zivilisierten Durchschnitts-Menschen ist die „Einsfühlung" jedoch undenkbar. Die Überzeugung, in einem anderen Wesen sein Ich verkörpert zu fühlen oder aber das Wesen eines anderen in sich lebendig und leibhaftig zu verspüren, widerspricht allen Erfahrungen und Denkgesetzen, aus denen die Wissenschaft ein objektives Weltbild errichtet hat, das für die Mehrzahl der zivilisierten Menschen als das richtige und einzig wahre gilt, weil es durch den Augenschein nachgeprüft werden kann. Denn die Ausdrucksweise der modernen Sprachen fördert die Ich-Entäußerung, also das Fremdgefühl gegenüber den wahrnehmbaren Dingen und Geschehnissen, da sie ja nach Möglichkeit versachlicht werden sollen. Die scharfe Eindeutigkeit der Wortbezeichnungen hindert sogar den Vorgang der Einsfühlung, der die unverwechselbare Identität realer Personen und Gegenstände in Frage stellt. Nur „nachfühlend" vermögen wir daher im Wachzustand mehr zu ahnen als zu begreifen, was längst vergangenen Geschlechtern unbezweifelbar war und jetzt noch lebenden Volks-Stämmen sichere Gewißheit bedeutet. Die Psychoanalyse, die den Traum als wissenschaftliches und therapeutisch verwertbares Material zu behandeln lehrte, hat vorzüglich die

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Aufmerksamkeit gelenkt auf den Vorgang der Einsfühlung oder Identifizierung. An unzähligen Schlafträumen konnte nachgewiesen werden, daß Wünsche oder Ängste des Träumenden an scheinbar fremden Traumfiguren erlebt wurden, die bei späterer Deutung zum Teil oder im Ganzen als die Person des Träumenden sich enthüllten. Aber auch an manchen Erscheinungs-Formen der Neurose, in denen die distanzierende Haltung des Erwachsenen zugunsten einer subjektivierenden Haltung des primitiven Menschen oder des Kindes zurücktritt, hier also im Wachzustand, konnte der Vorgang der Identifizierung nachgewiesen werden. An der sog. Regression des Neurotikers, der in der Art des Kleinkindes dann fühlt und sich benimmt, an dem Krankheitsbild des Sado-Masochismus, wenn der Peiniger die Schmerzen des Gepeinigten als seine eigenen lustvoll empfindet, an der sog. Ödipus-Situation, wenn das 4 bis 5 jährige Kind mit einem Eltern-Partner sich identifiziert und dabei zuweilen sogar die eigene Geschlechts-Rolle vertauscht, wurde dargelegt, daß die sonst durch die Lautsprache festgelegte Identität des eigenen Ichs sowohl als auch der realen Personen und Gegenstände unter gewissen Bedingungen schwindet und die Einsfühlung bewirkt. I n solcher seelischleiblichen Verschmelzung ist die in der Spielhaltung schon verminderte Distanz zu einem Partner völlig aufgehoben. Ein Du als Fremdwesen existiert nicht mehr. Damit ist aber jede Frage nach Ursache und Wirkung, nach Vorher und Nachher, nach Hier und Dort erledigt. Da wir Jetzigen, wenigstens als einzelne und gesunde Erwachsene, solche von keinem Zweifel beschwerte Einsfühlung nur im Schlaftraum erleben können, ist er dem archaischen Denken beizuzählen. In dieser Tatsache findet aber auch unsere Behauptung ihre Stütze, daß im Beginn jede Kultur in der Haltung des Schlaftraumes sich vollzieht. Erst durch das Wissen um die Einsfühlung empfängt der Totemismus für uns einen Sinn. Das gemeinschaftliche Verzehren des geopferten Tieres scheint wie ein Beweis dafür, daß die Einverleibung durch das Essen und der SymboUsierungs-Vorgang durch die Phantasie auf denselben Ursprung zurückgehen. Die Wandlung beherrscht das magische Weltbild, ob das Opfertier durch die Einverleibung zu neuem Leben ersteht, oder ob der das Opfer Verzehrende damit selbst zu dessen Inkarnation wird. Zu Aufnahme-Organen nach Art des Verschlingens werden zugleich alle Sinne, die sich am Opfermahle beteiligen. Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken, wenn sie im Dienst der sakralen Handlung stehen, bewirken und bestätigen zugleich die Ein fühlung,die als der Gipfel der intensivierenden pathischen Subjekthaltung zu gelten hat. Wir Späteren können nur mit Mühe nachfühlen, welcher bedeutungsträchtige, für uns transzendentale, damals wirklich erlebte Sinngehalt jeder Gebärde und jedem Sprachausdruck innewohnte, der die Einsfühlung bei solcher Weihe-Handlung kundgab. Im Rhythmus und in der Tonfarbe der Worte verkörperte sich das sakrale Erlebnis. Aus solcher Einsfühlung mit dem geopferten Dionysos entstand die klassische Tragödie der Griechen. Hinter dem seltsamen Rhythmus des Chors

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ahnen wir feierliche Tanzschritte. Wir wissen aber nichts mehr von dem Bezug scheinbar gekünstelter u n d verschnörkelter Redewendungen im T e x t des Chors zur sakralen, weihevoll erlebten Gebärde 1 . Nach Scheler 2 ist es ein Grundsatz aller Gefühlsentwicklung, sowohl vom Kind zum Erwachsenen als auch vom Primitiven zum Zivilisierten, daß im unentwickelten Zustand noch Einsfühlung gefunden wird, während m a n in vorgeschrittenen Kulturen n u r Nachfühlung antrifft. Auch dieser Befund mag beweisen, daß die Entstehung u n d die Anfänge einer Sprache sich ausschließlich in der subjektivierenden H a l t u n g unter der Herrschaft des vibratorischen R h y t h m u s und der zum Ich gerichteten Phantasie vollziehen. Später unter dem Einfluß der modernen Erziehung, die den nachprüfbaren Augenschein in den Vordergrund stellt, entwickelt sich beim Kinde regelmäßig das distanzierende Sprachdenken, das auf I d e n t i t ä t und erkennendes Unterscheiden abzielt. N u r in pathologischen Fällen bleibt das gefühlsmäßige Beziehungsdenken mehr oder weniger noch beim Erwachsenen erhalten, beschränkt oder verhindert das folgerichtige Denken u n d schafft so den Typus des Schwachsinnigen. Auch t r i t t das Beziehungsdenken wieder auf, wenn etwa durch organische Krankheit das Sprachzentrum geschädigt wurde (Aphasie). Hingegen verharren manche Sprachkulturen als Ganzheit auf dieser primitiven Stufe. Ihnen bleibt daher unser raum-zeitliches Denken fremd, und so ist dort die Einsfühlung bestimmend f ü r das gesamte Denken und Handeln. Allerdings erfährt der moderne Erwachsene den Vorgang der Identifizierung auf denjenigen Lebensgebieten, wo er bewußt das logische Denken ausschaltet und auch das Wunder gelten läßt, also etwa im Bezirk der Religion. Mancher strenggläubige Mensch vermag den Vorgang symbolhafter Verwandlung u n d Verschmelzung noch heute beim kirchlichen Abendmahl zu erleben. Aber das sind Ausnahmen. N u r selten verspürt der Durchschnittsmensch von heute als einzelner die Einsfühlung im R h y t h m u s der Sprache, wenn ihn ein dichterischer Ausdruck packt und erschüttert. Dem Dichter ist jedoch die archaische H a l t u n g wohl vertraut. Reim und R h y t h m u s werden ihm zum zwingenden Muß, und die Gestalten seiner Schöpfung sind eines Bluts mit ihm. Nicht nur Faust und Tasso sind Goethe selbst, sondern auch Iphigenie. „Denn diese himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib." Insofern wir übrigen Menschen zuweilen unter gewissen Umständen das distanzierte Weltbild zurücktreten lassen können, vermögen wir zeitweise mit solchen Figuren auf der Bühne uns einszufühlen. I m rhythmischen Tonfall ihrer Worte, der uns beschwingt oder erschüttert, erkennen wir unsere eigenen Gefühle und Gedanken wieder. Manchmal nehmen uns Verse gefangen, bevor wir ihren Sinn noch recht begriffen haben. So sehr sind sie durch den Tonfall schon unser Eigentum. 1 Die Haltung der Zuschauer im griechischen Theater, die „zwischen Trug und Wahrheit schwebet", schildert Schiller in den „Kranichen des Ibykus". 2 Max Scheler: „Wesen und Formen der Sympathie", Verlag Friedrich Cohen, Bonn 1923.

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Aber meistens reicht es nicht zur Einsfühlung; wir bringen es nur zum Nachfühlen. Dieses entspricht aber bereits der distanzierenden Haltung. Sie vertritt schon Aristoteles, wenn er das Drama ausdrücklich als Nachahmung bezeichnet1 und als seine vorzügliche Wirkung das Erregen von Furcht und Mitleid nennt. Häufiger und leichter als an der Dichtung, deren Hörwert vielen verlorengegangen ist, verspürt der Mensch von heute die Einsfühlung im musikalischen Erlebnis. Ein Lied, das gepfiffen, eine Volksweise, die gesungen oder auch nur gesummt wird, ist Ausdruck der eigenen Stimmung und Laune. Deutlich macht sich die Einsfühlung oftmals bemerkbar beim Anhören instrumentaler Musik. Im Konzertsaal wird die Einsfühlung freilich erleichtert durch das Massen-Erlebnis. Aber weit wichtiger ist ein anderes Moment. Die reine Instrumental-Musik ist nicht nur ein Erzeugnis der Neuzeit, sondern zugleich ein Kennzeichen ihrer neuen Gesinnung. Das Mittelalter fand seinen Abschluß, als distanzierendes Denken ein neues Weltbild schuf, in dem ausschließlich der von der Tradition befreite Logos herrschte. Damit wurde aber auch die bisher mit dem Logos vermischte Phantasie frei. Nun erst konnte sich eine Kunst frei und selbständig entwickeln, deren Ausdrucksmittel die Töne waren, die jedoch auf die Lautsprache und das sinnvolle Wort verzichten durfte. So fand in der reinen Instrumental-Musik an neuen Ausdrucksmitteln archaisches Denken eine ungeahnte Form, Gefühle und Gedanken zu gestalten, für welche die anderen Künste keine Ausdrucksmöglichkeit besaßen und welche in ihrer Eindringlichkeit, ihrer Zartheit, ihrem Überschwang und ihrer verschlungenen Mannigfaltigkeit vorher kaum vorhanden gewesen oder doch nicht bewußt geworden waren! Spiel-Symbole von zuweilen traumhaftem Charakter bahnten sich den Zugang zu wachenden Menschen, die freiwillig ihrer distanzierenden Alltags-Haltung sich entäußerten und wieder ganz Ohr waren. Als Noten und Takte, in Schrift oder Druck fixiert, gehört das Zeichen-System der Musik der Realität an. In weit höherem Grade als an den Worten, die von einem Inhalt beschwert gelegentlich etwa im Wortspiel des Witzes oder in den Versen eines Dichters ihre tänzerische Beweglichkeit bewähren, haftet an dem Zeichen-System der Musik die ungeschriebene Aufforderung, sie in ichhafte Bewegung zu verwandeln, also der dringliche Auftrag zum Spiel. Weil Noten und Takte nicht mit dem Inhalt eines wahrnehmbaren oder denkbaren Tatbestandes belastet sind, gelingt der Vorgang der spielerischen Symbolisierung um so viel leichter und vollkommener, als an den Worten der Lautsprache. In der reinen Instrumental-Musik gewinnt der für das Wachbewußtsein höchstmögliche Spiel-Vorgang Form und Gestalt. In seiner Unabhängigkeit vom Alltag und der wahrnehmbaren Realität wird zuweilen sogar die Haltung des Schlaftraumes erreicht. 1

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Doch kehren wir noch einmal zurück zu den Sprachen der Primitiven! Da das Problem des Werdens und der Entwicklung der Sprache nur psychologisch betrachtet werden sollte, wurde im ganzen auf WortBeispiele verzichtet. Denn das jeweilige Denken und die ihm gemäße seelische Haltung findet seinen Niederschlag ebenso in den sichtbaren kulturellen Formen wie in der Äußerung durch die Sprache. Einen lehrreichen Einblick in die Denkweise der Primitiven gewährt es aber, wenn wir erfahren, wie sie gegenüber einer zivilisierten Sprache, die auf versachlichende Darstellung zielt, noch ihre subjektivierende Haltung bewahren und, ungeachtet der bereits gebrauchsfertigen Worte, das sie interessierende Material ihrer Umgebung in der fremden Sprache zu ichhaften, bilderreichen Erlebnissen gestalten. Es handelt sich um das sog. Beach-la-mer, nämlich um dasjenige Englisch, das entstand, als infolge des Sklavenraubes Eingeborene verschiedener Inseln auf einer Pflanzung zusammengebracht wurden, und wegen der Verschiedenheit ihrer Sprachen das einzige Verständigungsmittel das Englisch wurde, das sie von den Weißen zu hören bekamen. Der Wortschatz dieser Südsee-Insulaner soll nur beschränkt gewesen sein. So berichtet Jespersen, dessen Lehrbuch ich die Beispiele ihrer originellen Ausdrucksweise entnehme. Jedenfalls schaffen sie sich seltsame Zusammensetzungen, um auszudrücken, wofür in der englischen Sprache festgeprägte einfache WortBegriffe bereits vorhanden sind. So heißt z. B. big fellow bokus (box) you fight him he cry = eine ganz große Kiste, schlägst du sie, schreit sie: das Klavier. Oder: Grass belong pigeon = Gras gehört der Taube: Vogelfeder. Oder: Grass belong head belong him all he die finish = das Gras des Kopfes von ihm ist alles abgestorben, fertig: Kahlköpfigkeit. Oder: Give me brother belong tomahawk he come he go = Gib mir den Bruder der kleinen Hacke, der hin und hergeht: gib mir die Säge! Jespersen nennt solche Sprache: „Notbehelfs-Sprache". Der strukturellen Betrachtungsweise erscheinen die genannten Ausdrücke als Zeichen einer kulturellen Stufe, die für die eindeutigen Wortbegriffe einer zivilisierten Sprache, ihre Abstraktionen und komplizierte Sinnbeziehungen, wie sie in Casus, Tempus, Genus u. a. sich äußern, noch kein Verständnis aufbringt. Die Bezeichnung „Klavier" wird aufgelöst in die Vorgänge des Schlagens und Schreiens, die wohl ohne Zwang affektiven Erlebnissen beigeordnet werden können. Dabei zeigt das Wort „fellow" zwischen big und bokus, daß Gegenstand und Person noch nicht voneinander unterschieden werden. Im Beispiel der „Vogelfeder" fällt es auf, daß pigeon=Taube für den Vogel im allgemeinen steht. Man denkt an die Sprache des Kleinkindes, wenn in einem frühen Stadium der Ausdruck „Wauwau" nicht nur den Hund, sondern alle beweglichen Gegenstände, z. B. auch den Vater meint. Daß „Grass" sowohl Feder wie Haar bedeutet, ist nicht im Sinne eines Gleichnisses zu verstehen. Vielmehr weist der Ausdruck auf den Vorgang der Identifizierung, wie er in der Gleichsetzung von Ackerfurche mit dem weiblichen Genitale vorher erwähnt 6

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wurde. Das Wort „fellow" -wird viel gebraucht. So heißt es: that fellow hat = jener Hut, this fellow knife = dieses Messer, me fellow = ich, you fellow = du. Es steht auch zwischen Adjektiv und Substantiv und hinter den meisten Pronomina. Auch adverbial wird es gebraucht, z. B. that man he cry big fellow = jener Mann schreit laut. Das Wort „fellow" = Kamerad scheint darauf hinzuweisen, das der Redende durch solche ausdrückliche Bezeichnung als Kamerad die Beziehung zum eigenen Ich hervorhebt, wodurch ein Tatbestand erst Gültigkeit empfängt. Für die Präsenz der Sprechweise ist bezeichnend, daß es keine Formen für die Tempora gibt, mit Ausnahme des Ausdrucks „been". Das Futurum wird ausgedrückt durch ,,by and by". So heißt es: brother belong me by and by he dead = mein Bruder wird sterben. Es gibt ferner keine Unterscheidung des Geschlechts. Daher: the woman he brother belong me = sie ist meine Schwester. Es gibt keine eigentliche Mehrzahl; denn der Plural behält die Form „he" bei, nur wird ein „all" vorangestellt, also: all he talk = sie sagen. Endlich sei ein Zitat des Sprachforschers Churchill wiedergegeben: „eine Steigerung beim Adjektivum sei unbekannt, die Insulaner wissen nicht, wie sie vergleichend denken sollen — wenigstens mangeln ihnen die Wortformen, wodurch ein Vergleich angegeben werde; this big — that small sei das Äußerste, wodurch sie an den Ausdruck der Vorstellung herankommen können, daß ein Ding größer als ein anderes sei." Auch dieses Zitat bezeugt, daß trotz der verfügbaren englischen Worte in der Redeweise der Insulaner dieselbe pathische Subjekthaltung hervortritt wie in der Gebärdensprache. Der bildhafte Ausdruck für „Säge", die umständliche und doch reizvolle Umschreibung von „Feder" und „Kahlkopf" lassen erkennen, wie wenig diese primitiven Menschen das Auge als Beobachtungs-Organ gebrauchen, sondern daß sie mittels des Gesichtssinnes einen wahrgenommenen Tatbestand zum gegenwärtigen Erlebnis gestalten. Seltsam mutet es an, wenn der genannte Sprachforscher die Meinung äußert: ,,. . . diese Abweichungen vom richtigen Englisch, diese Verderbtheiten der Aussprache und diese Vereinfachungen der Grammatik . . . fallen gerade so den Engländern wie den ... Polynesiern zur Last, und in vielen Punkten nehmen sie ihren Ausgang eher von den ersteren als von den letzteren". Denn der strukturellen Betrachtungsweise erscheint das Beach-la-mer als eine Sprache, die auf ganz anderen Voraussetzungen sich aufgebaut hat als die Sprache der zivilisierten Europäer. In der umständlichen, aber eindringlich bildhaften Ausdrucksform jener Insulaner finden wir, um mit Jacob Burckhardt zu sprechen, „ein wundersames Weiterklingen des uralten Saitenspieles". Wenn die nüchterne, auf sachliche Ziele gerichtete UmgangsSprache so urwüchsig und treffsicher behandelt wird, erinnert sie an manches kühne Gleichnis bei Shakespeare und gibt uns so gleichzeitig die Lehre, daß der wahre Dichter seiner Sprache nur in der archaischen Subjekthaltung gerecht werden kann.

VI. K R I T I K DES MODERNEN WELTBILDS Man mag ein begeisterter Anhänger der modernen Zivilisation sein und im Hinblick auf die Großtaten neuzeitlicher Wissenschaft und Technik berechtigten Stolz fühlen; dennoch wird ein kritischer Kopf sich zuweilen fragen, ob denn das Weltbild der Gegenwart, das der Intellekt errichtet hat, unanfechtbar ist. Indem die optische Distanz zum geistigen Abstand und damit zum wertenden Maßstab innerhalb unserer Zivilisation wurde, errang der beobachtende Gesichts-Sinn die Vorherrschaft im Denken. Aber bedeutet es nicht eine Vergröberung unserer Denkweise, daß in der Neuzeit immer mehr das periphere Seh-Organ und so der Beobachtungs-Sinn geschärft wurde, hingegen der schauende, der subjektivierende, das ich-hafte Erlebnis bewirkende Gesichts-Sinn so sehr an Geltung verloren hat ? Die Erlebnis-Armut, nicht selten zur Erlebnis-Unfähigkeit gesteigert, ist beim wachenden Individuum der Jetztzeit die Kehrseite seines übermäßigen Vermögens und Verlangens, alles zu objektivieren. Ist jedoch überhaupt — so lautet die Frage — das Auge imstande, allen jenen Vorgängen zu folgen, die als lebendiges Geschehen bezeichnet werden, an dem durch unsere leibhaftige Bewegung teilzunehmen wir als Freude am Dasein empfinden, und dessen Verlust wir am schmerzlichsten beklagen: das Leben ? Jeder Verlauf eines Tages, die Pflanzen-Welt in unserem Umkreis, die Erfahrungen am eigenen Körper zeigen uns deutlich, daß alles Leben um uns und in uns fließendes Geschehen ist, nur manchmal ruckweise sich bemerkbar macht. Unser peripheres Seh-Organ, das Auge, kann aber nur eine bestimmte Anzahl von Licht-Reizen in der Sekunde bewältigen. Folgen sie zu rasch aufeinander, so verschwimmen die Eindrücke zu einem undeutlichen oder ganz anderem Ganzen. Das beobachtende Auge ist also nur fähig, gleichsam Moment-Aufnahmen aus dem vorübergleitenden Geschehen zu liefern. Es erfaßt nur diskontinuierliche Veränderungen und Unterschiede statt kontinuierlicher Verwandlung und fließender Übergänge. So ist das Weltbild der Augenferne ein stabiler Hintergrund, von dem die Bewegungen der realen Gegenstände vornehmlich stoßweise oder taktmäßig sich abheben. Es spricht gewiß nicht für die Schärfe des beobachtenden Denkens oder für seine Fähigkeit, der lebendigen Bewegung gerecht zu werden, daß die Flugbahn eines Balls aus seinen Ruhepunkten abgeleitet wird. Auch die Identität der realen Gegenstände, die in dem Satz gipfelt: „Jede Größe ist sich selbst gleich", ist nur ein ArmutsZeugnis für unser Beobachtungs-Vermögen, stellt eigentlich nichts dar als eine gute Spiel-Regel für das praktische Denken, ist im Grunde also nur ein Erzeugnis der vielgelästerten und stets verkannten Phantasie. Dem 6*

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Weltgeschehen, als einem fließenden Vorgang, werden die Visionen des Schlaf-Traumes viel besser gerecht, also in einem biologischen Zustand, wenn der zentrale Gesichts-Sinn unter Ausschaltung des peripheren SehOrgans sich betätigt. Auch die Spiel-Haltung, in der die Ergebnisse objektivierender Beobachtung minder oder mehr vernachlässigt werden, entspricht eher dem fließenden Verlauf des Weltgeschehens, da die realen Gegenstände in die ich-hafte Bewegung der eigenen Körperglieder einbezogen werden. Diese wird sogar als lustvoll empfunden. Denn nicht nur verlieren die Gegenstände der Realität dadurch ihre Fremdheit und Unnahbarkeit, werden also zu vertrauten Dingen, sondern der spielende Mensch fühlt sich in seiner ganz auf die Gegenwart eingestellten ErlebnisHaltung selbst als lebendigen Teil des fließenden und sich wandelnden Weltgeschehens. Nur als Bewegungs-Vorgang d. h. als Ausdruck der das Leben kennzeichnenden und mit seinem Abschluß erlöschenden selbständigen Bewegung hat der Intellekt, der Logos einen biologischen Sinn. Ihn verlöre er jedoch, wenn er des ich-haft gefühlten, lebendigen Rhythmus und damit der Phantasie als seines Gegenspielers sich vollkommen entäußern wollte. Nur zeitweise und nicht einmal immer ganz ungetrübt von persönlichen Erwartungs-Vorstellungen oder Affekten gelingt dem jetzigen Menschen die rein sachliche, die Beteiligung des Ichs ausschließende Bewußtseins-Haltung. In der entseelenden Distanz der Augenferne werden alsdann die fließenden, durch den Rhythmus oder einen gestalthaften Sinn miteinander verbundenen Gebilde zu bewegungslosen, oft starren Körpern, die zu messen, zu wägen und auf ihre Unterschiede zu prüfen sind. J a , nachdem durch die Untersuchung ihrer Eigenschaften ihre Identität festgestellt worden ist, lassen sie in Sätzen der Lautsprache sich sogar definieren. Denn das künstlich und begriffsmäßig Zusammengefügte läßt sich auch wieder begrifflich trennen und teilen. Freilich setzt die körperliche und seelische Anlage, die dem Menschen kein Überschreiten der dritten Dimension gestattet und seinen Sinnes-Organen die Wahrnehmung der Ultra-Schwingungen verwehrt, dem Streben nach ich-loser Wahrheit rasch eine Grenze. Unwillkürlich berücksichtigt das Weltbild der Augenferne das Reich der Phantasie und der Ich-Nähe, wenn die Physik von „Körpern" und „Kräften" handelt, die im Gleichnis selbstgefühlten, lebendigen Eigenschaften des Individuums entliehen sind. Wenn aber nach Gesetzen physikalischer Vorgänge geforscht wird, die mittels des Verstandes zu erklären sind, so entsteht zugleich die Illusion einer gesetzgebenden Instanz, die unter dem Namen Gott oder Natur nicht etwa Beweisbares darstellt, sondern dem Spiel der ethisch, ästhetisch oder sonstwie formenden Gedanken entstammt. Die schöpferische Begabung der menschlichen Artgemeinschaft liegt nicht im Intellekt, vielmehr in der Bewegungs-Phantasie, als dem eigentlichen Motor ihres Seelenlebens. Daß die Phantasie ohne den Logos sich schöpferisch auszuwirken vermag, zeigen die Visionen des Schlaf-Traumes. J e tiefer er ist, um so mehr ermangelt er des zeiträumlichen Denkens und

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des logischen Anteils der Lautsprache. Im Schlaftraum, d. h. als sprachunbegabtes Wesen bietet der Mensch ein Analogon zum sprachunbegabten Tier. Vielleicht, daß vom archaischen Denken eine Brücke sich schlagen läßt zu jener uns ganz unbekannten Welt, die sich nicht erschließt, wenn die Funktionen des Oberflächen-Ichs wie logisches Handeln, Auswahl oder Kombinations-Fähigkeit an Ameisen oder Affen geprüft werden. Hingegen zeigt die Reaktion vieler Tiere auf musikalische Klänge oder Geräusche, auf den Tonfall der Lautsprache, auf Mimik und Gebärden, daß über das Tiefen-Ich Beziehungen zwischen Mensch und Tier anzuknüpfen sind. „Klar sieht, wer von ferne sieht, und nebelhaft, wer Anteil nimmt." So sehr die klare Fernsicht eine dringende, fast moralische Forderung für den modernen Menschen geworden ist, wurde er durch sie nur klüger, jedoch nicht weiser. Zugleich wurde er durch die entseelende Versachlichung des Weltgeschehens erlebnisärmer und so als vereinzeltes Individuum immer mehr der Kultur-Gemeinschaft entzogen. Das unsagbare Glück der Geborgenheit innerhalb einer religiösen Glaubens-Gemeinde kam den meisten Menschen abhanden, je mehr durch die Aufklärung das Verhältnis zu Gott persönliche Sache des einzelnen wurde. Bei früheren Generationen bestand eine Gemeinschaft in der Kunst, insofern sie dem religiösen Kult diente und ihre Spiel-Symbole von den sakralen TraumSymbolen kaum oder gar nicht sich unterschieden. Diese Kultur-Gemeinschaft ist aber verschwunden, seitdem der moderne Mensch den Unterschied zwischen Traum- und Spiel-Haltung verspürte und für sein tägliches Leben nur noch jene Gebilde der Phantasie als berechtigtes Spiel gelten ließ, die unter der Kontrolle des Wachbewußtseins geschaffen wurden. Die Anteilnahme, die als ich-haftes Erlebnis nebelhaft sehen ließ, kam zustande, solange der Gehörs-Sinn und die Vibrations-Organe den Vorrang hatten vor dem Auge, dem peripheren Aufnahme-Apparat des Gesichts-Sinnes. So war das antike Drama der Griechen dem Namen des Theaters zum Trotz hauptsächlich zum Hören bestimmt. Die Maske bedeckte die Gesichtszüge des Schauspielers, verdeckte seine Mimik. Der natürliche Schritt war auf der Bühne gehemmt durch den Kothurn. I m Rhythmus der Verse, deren Klang durch Sprach-Trichter verstärkt die Hörenden leibhaftig bewegte und erschütterte, erlebten sie traumhaftgegenwärtig den Mythos des Dionysos, den Bocksgesang, die Tragödie. Wie weit entfernt von solchem sakralen Gemeinschafts-Erlebnis ist das Drama bei Shakespeare! Geschehnisse und Gestalten der Landesgeschichte oder der Welt-Historie werden auf der englischen Bühne des 17. Jahrhunderts dargestellt. Interessante Novellen-Stoffe werden dramatisiert. Noch herrscht der jambische Rhythmus. Aber die humoristischen Stellen der Dramen und vor allem große Teile der Lustspiele bevorzugen die prosaische Umgangs-Sprache. Die durch Kulissen, Kostüme oder plakatartige Anschläge für das Auge bestimmte Szene meint nicht

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mehr die TraumWirklichkeit des antiken Theaters, sondern die unterhaltende, aufregende oder ergötzliche Spielwirklichkeit, deren Illusionen die Zuschauer sich willensmäßig hingeben. Freilich geschieht dies auf die Gefahr hin, daß zeitweise ihr bewußtes Ich verlorengeht, wenn sie in die Ereignisse auf der Bühne sich hineingerissen fühlen oder auf dem Weg über den Affekt die traumhafte Identifizierung mit einer Figur des Dramas vollziehen. In der Hauptsache aber sind es lustvolle Spiel-Erlebnisse an Spiel-Symbolen, die, um glaubwürdig zu sein, die andere Wirklichkeit des Märchens oder der Sage nicht überschreiten dürfen. Wichtig wird jetzt die Schilderung eines Charakters nicht nur beim Helden, sondern auch in den Nebenrollen, die den Wahrheitsgehalt des künstlerischen Porträts besitzen muß, also in bezug der Ähnlichkeit eines Abbildes bereits den Ansprüchen des geistigen Abstands der Augenferne zu genügen hat. In diesen Bahnen bewegte sich auch das klassische Drama der Deutschen. Goethe als Theater-Direktor suchte in seinen Anweisungen an den Schauspieler allerdings einer drohenden Naturalistik entgegenzuwirken und der Schönheit des dichterischen Wortes, also seinem Hör-Wert mehr zu dienen. Als dann mit dem Fortschreiten der Technik Kulissen, Requisiten und Licht-Effekte die ursprüngliche HörBühne zur modernen Schau-Bühne umschufen, kam das Auge als Apparat der Beobachtung erst recht auf seine Kosten. Selbst nachdem der schlimmste Naturalismus der Jahrhundert-Wende überwunden war, blieb die naturwahre Darstellung auf dem Theater selbstverständlich. Nicht mehr Spiel-Symbole, sondern naturgetreue Abbilder täglich zu beobachtender oder denkbarer Gestalten bevölkerten die Szene. Der Dialog wurde geistreich. In dieser Stil-Form, die mehr den geistigen Abstand als die einfältige Herzens-Nähe meint, wäre der arienhafte Monolog ein Unding. So sehr nimmt, die Erörterung zeitbewegender Themen oder seelischer Komplikationen die Aufmerksamkeit des Publikums in Beschlag, daß es höchstens gerührt oder aufgeregt, selten im Tiefsten erschüttert, an sensationellen Auftritten teilnimmt. Vor lauter Beobachtung gelangen die Zuschauer nur selten zum lustvollen Spiel-Erlebnis, das die Beteiligung des Tiefen-Ichs und der in ihr wirksamen Phantasie voraussetzt. Diese aber ist durch die übertriebene Sachlichkeit der dramatischen Handlung, der Personen auf der Szene, ihrer dargestellten Reaktionen und nicht zuletzt ihres pointierten Gespräches allzuoft zur Untätigkeit verurteilt. Kein Wunder, daß schließlich in unserer Zeit das ganz auf die Beobachtung berechnete Kino dem Theater den Rang streitig machen konnte. Wenn Kultur die Lebensform heißt, in der die Phantasie und zum Ich gerichtete Tendenzen vorherrschen, so nennen wir Zivilisation jene andere Lebensform, in der vom Ich hinwegstrebende, versachlichende Tendenzen das Übergewicht erlangt haben oder wenigstens nach außen sich bemerkbar machen. Von Kultur überhaupt kann erst vom Standpunkt der Zivilisation gesprochen werden. Es bedurfte einer hohen Entwicklung des Oberflächen-Ichs, um die historische Blickrichtung zu ge-

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Winnen, die Vergangenheit und Gegenwart sachlich voneinander unterscheidet und vorurteilslos miteinander vergleicht. Nicht auf einmal trat die neue Gesinnung hervor, die schließlich in unseren Tagen Sachlichkeit als Ideal verkündete. Es dauerte geraume Zeit, bis das Abendland zur Pflanzstätte der Zivilisation sich entwickelte. Als Geburtsland der neuen bewußten und bald auch selbstbewußten Haltung hat Italien zu gelten, wo bereits seit dem 14. Jahrhundert geistige Erscheinungen zu verzeichnen sind, die von der subjektivierend-pathischen Lebenshaltung des Altertums abweichen und von der zeitgenössischen, in der Tradition wurzelnden Lebensform des übrigen mittelalterlichen Europa sich merkbar abheben. Mit der Entdeckung Amerikas und der Erfindung des Buchdrucks, die beide das Streben des modernen Menschen nach Ferne und Distanz verwirklichten, breitete die Zivilisation auch im übrigen Europa sich aus. Wo ein einzelner durch Wissen und Können von der traditionellen Gemeinschaft sich absonderte, trat die neue Gesinnung ans Licht. Seit dem der Weg zur objektiv feststellbaren Wahrheit nicht mehr durch geheiligte Tradition und religiöses Vorurteil versperrt wurde, konnten sich die besten Köpfe an wissenschaftlicher Forschung erproben. Freilich mußten die neugefundenen Ergebnisse zunächst noch den Widerstand der Kirche und weiter Volkskreise überwinden, die ihr bedrohtes magisches Weltbild mit Inquisition und Hexenprozessen verteidigten. Am Ende siegte jedoch die neue Gesinnung auf der ganzen Linie. Indem das moderne Individuum die Natur und sich selbst im geistigen Abstand sehen lernte, änderte sich auch sein Verhältnis zur Lautsprache. Hatte im Mittelalter das Lateinische vornehmlich auf den Gebrauch in der Kirche und ihre Diener sich beschränkt, so wurde es durch den Humanismus zur internationalen Gelehrten-Sprache und blieb es bis in das 18. Jahrhundert hinein. Über die Scheidewände der nationalen Sprachen und Gegensätze erhob sich die Möglichkeit eines rein geistigen Weltbürgertums. Machten die aus dem Tiefen-Ich stammenden Anziehungskräfte die zu einem Kulturkreis Gehörenden leicht eigenbrödlerisch, überheblich und unduldsam gegen das Fremde und Ungewohnte, so erscheint dem klaren geistigen Überblick des Oberflächen-Ichs das Fremde nicht mehr als das schlechthin Feindliche, das abzulehnen oder gar zu bekämpfen ist. Daher bemühte man sich jetzt um das Erlernen und das Verstehen fremder moderner Sprachen. Zunächst schienen allerdings nur der reisende Kaufmann und der Gelehrte Nutznießer zu sein, wenn sie gelegentlich zu praktischen Zwecken der gewohnten Muttersprache und ihren Gefühlswerten entsagten. Bald aber wurde nicht ohne Einfluß der Mode die Beherrschung der französischen Sprache zum Prüfstein der Bildung und sogar des gesellschaftlichen Niveaus, so daß man auch in den Kreisen des Bürgertums, die etwas gelten wollten, weitgehend dieser Sprache sich bediente. Der Einfluß der romantischen Zeitströmung um 1800 erweckte das Interesse für moderne Fremdsprachen in weiteren Kreisen. Französisch, später auch Englisch

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wurden um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Lehrfach in den mittleren Schulen. Im Verlauf solcher Strebungen, nicht zuletzt dank dem mit dem Aufschwung der Technik gesteigerten internationalen Reise-Verkehr erfaßte der Wunsch nach Kenntnis moderner Fremdsprachen immer breitere Volksschichten. So aufnahmefähig für das Fremdsprachliche wurde auch der einfache Mann, daß selbst lateinische und griechische Namen, besonders für technische Erfindungen populär wurden (Lokomotive, Auto, Kino). Zum Schutz gegen eine gefürchtete Überfremdung der heimischen Sprache waren übrigens schon in jener Zeit, als der Gebrauch französischer Ausdrücke Modesache wurde, Tendenzen bemerkbar geworden, die den Ersatz fremdsprachiger Bezeichnungen durch Worte der eigenen Sprache anstrebten. Oft genug schoß man dabei über das Ziel hinaus und erntete eine nicht gewollte komische Wirkung, wenn es sich um Ausdrücke handelte, die in der heimischen Sprache Bürgerrecht gewonnen hatten, aber in der Übersetzung zu gezwungen oder unbeholfen lauteten. Selten bewirkte der Unterricht in den modernen Fremdsprachen mehr als eine Erweiterung des geistigen Gesichtskreises. Die Sorgfalt, die der Grammatik gewidmet wurde, machte die Schüler über das Auge, dem die fremde Sprache sich als Lesestoff darbot, in der Regel zu verständnisvollen Lesern. Nur in Ausnahmefällen reichte die erworbene Kenntnis über die einfachste Konversation hinaus. Ganz zu eigen pflegten sich die fremde Sprache nur diejenigen zu machen, die sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hatten. Aber selbst wem die fremde Sprache ein Mittel zur gegenseitigen Verständigung geworden ist, darf sich nicht rühmen, sie zu beherrschen. Nur derjenige ist wirklich im Besitz einer Sprache, dem sie als unmittelbarer und notwendiger Ausdruck seiner Gedanken und Gefühle dient. Es ist jedoch bemerkenswert, daß solche Besitzergreifung der neuen Sprache fast immer auf Kosten der Muttersprache geschieht, selbst wenn jemand als reifer Mensch im Ausland seßhaft geworden ist. Daß sich das schulmäßige Verständnis fremder moderner Sprachen im Sinne der Völker-Verständigung und damit des Friedens auswirken könnte, hat sich als Irrtum erwiesen. Die Ich-Entäußerung im Logos der erlernbaren Fremdsprachen schafft nur eine äußerliche Verbindung zwischen den Menschen verschiedener oder gar feindlicher Nationen. Auch der Gebrauch derselben Vokabeln für Gegenstände des täglichen Bedarfs, des Vergnügens oder der Wissenschaft und Technik bedeutet für die gegenseitige Annäherung nicht mehr als der internationale Gebrauch von Messer und Gabel. So lebhaft man die Segnungen der Zivilisation preisen mag, darf man sich doch nicht verhehlen, daß ihre Sachlichkeit oft von Gleichgültigkeit nicht zu unterscheiden ist. Sofern in der modernen Gesinnung sich aber noch Ansprüche des Tiefen-Ichs regen in Form der sog. Lebenswerte, erscheinen sie unter der Vorherrschaft des logisch denkenden Oberflächen-Ichs oft in seltsamem Licht. Das Glück wird gleichsam meßbar gemacht. Statt der Intensität des Erlebens gilt

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die Extensität, die Quantität der Beglückten. I n ihrem Bemühen, der großen Masse Glücksgüter zu schenken, deren vorher nur wenige teilhaftig wurden, muß die Zivilisation die Bedürfnisse des einzelnen vernachlässigen. Trotz eines erhöhten Lebens-Standards, im Vollgenuß aller möglichen Errungenschaften der modernen Technik fühlt sich das Individuum vereinsamt und, wenn ihm der Erfolg versagt ist, tief unglücklich, da es im Vergleich zu den Erfolgreichen sich minderwertig vorkommt und mit dem Denken seines Oberflächen-Ichs dem Leben keinen höheren Sinn abzugewinnen vermag. Zum Unterschied von der Kultur, die nur intensiv durch Erleben erworben werden kann, verbreitet sich die Zivilisation durch Lehren und Lernen. Der allgemeine Schulzwang des modernen Staates rottete das Analphabetentum aus. Da bereits das Kind durch den Unterricht im Lesen und Schreiben vorwiegend zum Augenmenschen erzogen wird, änderte sich auch das Verhältnis des zivilisierten Individuums zur eigenen Muttersprache. Zwar fühlt es sich durch die hörbaren Worte und die sie begleitende Mimik oder Gebärde mit seinen Landsleuten eng verbunden, allzuoft aber steht es seiner Muttersprache nur visuell gegenüber und vernachlässigt dann ihren Hörwert. So sehr gewann sie an Sehwert, daß sich bald die Forderung nach einer Rechtschreibung erhob, durch die das Wort einen Zuwachs an Identität erhielt. Da so das geschriebene, mehr noch das gedruckte Wort seine Identität schärfer hervorkehrte und zum sichtbaren Bestandteil der Realität wurde, machte die logisch arbeitende Grammatik erhöhte Ansprüche geltend. Die Verwechslung von „mir" und „mich", die mancher Gebildete des 18. Jahrhunderts sich noch leisten durfte, kann jetzt einen Menschen für gewisse Gesellschaftsschichten unmöglich machen. Als natürliche Folge des allgemeinen Schulzwangs wurde für die Masse des Volkes die Tageszeitung zum hauptsächlichen Bildungsträger. Über der Geschwindigkeit, die mit dem beschleunigten Nachrichtendienst vom Zeitungsschreiber verlangt wurde, sank das Niveau des Sprachstils. Bei der Jagd nach Sensation, die künstlisch geschürt wurde, legte man weniger Wert auf die sprachliche Darstellung als auf die Neuheit und Genauigkeit der mitgeteilten Sachverhalte. So sehr zielte man auf den nachprüfbaren Augenschein, daß oftmals die Bild-Reportage wichtiger wurde als der Text. Die Bezeichnung „Schriftsteller", den die Verfasser solcher Artikel sich selbst beilegten, besagt wohl genug über das oberflächliche Verhältnis des berufsmäßig Schreibenden zu seiner Muttersprache. Durch den großen Leserkreis drang der Zeitungsstil in die Umgangssprache. Auch Bücher von Autoren, denen das Erzählen nicht Sache des Herzens war, sondern Mittel zum Gelderwerb, verdarben den Geschmack des Publikums. Sprachliches, also tiefinnerliches und unveräußerbares Kulturgut wurde zur gangbaren Handelsware. Andererseits erniedrigte der nur praktische Zweck in vielen Berufszweigen die Sprache zum Jargon. Durch ihre Fassung allein sind die meisten Geschäftsbriefe für den Nicht-Kaufmann unverständlich. Nur dem aufmerksam Lesenden enthüllt sich viel-

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leicht der Sinn von behördlichen Verfügungen oder von juristischen Verträgen. Dunkel bleiben auch die meisten gelehrten Abhandlungen, wenn man sie vorgetragen hört. Oft scheinen die Schreibenden vergessen zu haben, daß die Sprache eigentlich für das Ohr bestimmt war. Bis in das Gespräch hinein findet man statt des unmittelbaren, vom Erlebnis durchtränkten Ausdrucks abgeblaßte, begrifflich registrierende Wendungen, die den Schein der Sachlichkeit vortäuschen. Die Stärke der in der neuen Lebensform hervortretenden, vom Ich hinwegstrebenden, also zentrifugalen Kräfte zeigte sich auch darin, daß eine Schriftsprache von der Umgangssprache sich schied. Der deutschen Schriftsprache merkt man noch jetzt an, daß sie aus den Amtskanzleien stammt. Gewisse würdevolle Floskeln haben sich bis heute noch im Briefstil bewahrt. J e mehr die Zivilisation ihre Massenwirkung entfaltete, so daß jedem Individuum das Lesen der Zeitung zum täglichen Bedürfnis wurde, um so mehr mußte diese fragwürdige Schriftsprache auf die Umgangssprache verderblich sich auswirken. Hingegen vermochte die urwüchsige Sprache des täglichen Umgangs die Schriftsprache nur wenig zu beeinflussen. Denn diese vertritt ja autoritativ das Prinzip ich-loser Sachlichkeit, während in der Unterhaltung, die für das Ohr bestimmt ist, gerade das affektive Moment zu Worte kommen will. Und wer könnte von seinem lieben Ich sogleich den objektivierenden Abstand gewinnen ? Dennoch hat, wie schon erwähnt, die abgeblaßte Schriftsprache der Umgangssprache, die den Reiz des Tonfalls und oft auch des Dialekts besitzt, und von der die Sprache sich lebendig erneuert, schon manchen Abbruch getan. Als einziges Beispiel diene die Entwertung des Zeitworts! Sein Kern und Saft verrät den guten unmittelbar ansprechenden Stil des Redenden oder Schreibenden. Im Deutschen zeigt sich an den großen Anfangs-Buchstaben der Substantiva, welchen Wert die Schriftsprache ihnen, als den Vertretern der augenscheinlichen Identität beimißt. Was aber die Zeitworte anlangt, die klein geschrieben werden, so werden diese jetzt mit Vorliebe substantiviert, also künstlich aufgeblasen und mit abgenutzten Zeitwörtern wie „nehmen, geben, machen" verbunden. Daher „nimmt" man jetzt eine Abschrift, „gibt" Unterricht, „macht" einen Besuch. Die Saftlosigkeit solcher Redensarten nimmt dem Gespräch manchen persönlichen Reiz. Die Passade der Sachlichkeit, mit der jetzt die Sprache prunkt, mag eine vergängliche, zeitbedingte Erscheinung sein. In ihrer übertriebenen Distanz-Haltung ist solche Art des Redens und Schreibens aber trefflich geeignet, den Unterschied aufzuweisen zur intensivierenden pathischen Subjekthaltung und zum Tiefen-Erlebnis in Religion, Kunst und im Traumgeschehen. Gerade die Sprache der Jetztzeit bot sich daher der strukturellen Betrachtungsweise als Beispiel, den Gegensatz zu beleuchten zwischen Zivilisation und Kultur oder zwischen verstandesmäßiger Auseinandersetzung des Oberflächen-Ichs und formaler Auseinandersetzung des Tiefen-Ichs mit der Umwelt. Wenn aber die Wissenschaft zu heuristischen Zwecken die unterscheidenden Merkmale der

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jeweiligen seelischen Haltung, der zum Oberflächen-Ich und zum TiefenIch gehörenden Seins-Sphären oder Weltbilder der Augenferne und der Handnähe hervorhebt, ist sie sich dennoch bewußt, daß im lebendigen Geschehen nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-Als auch regiert 1 . Gleichwie in den Anfängen einer Sprachkultur oder einer Kultursprache sich schon die Ansätze zu Beharrungs-Elementen finden, die später das stabile Weltbild aufrichten, fordert noch in der neuen Gesinnung der Zivilisation archaisches, symbolhaftes Denken seine Rechte. Ohne sein Wissen und oft genug gegen seinen Willen bleibt auch der zivilisierte Mensch Träger und Empfänger urtümlicher Kultur, die nicht gelehrt, sondern immer wieder erlebt werden muß. Trotz aller Bemühungen zu kühler Sachlichkeit unterliegt auch das moderne Individuum Stimmungen und Affekt-Ausbrüchen, die ihm zuweilen die intensivierende pathische Subjekthaltung mit ihrem archaischen Zubehör aufzwingen. Die Neurose, ein Produkt des letzten Jahrhunderts, ist ein deutliches Zeichen dafür, wie in demselben Menschen subjektivierendes und objektivierendes Denken, formale und verstandesmäßige Auseinandersetzung mit der Umwelt zu einem krankmachenden inneren Konflikt führen. Es ist auch bemerkenswert, daß gerade in unserer Zeit die Welt von Strömungen überflutet wird, die gegen die Freiheit des Individuums sich wenden, und daß im Widerspruch zu lange vorausschauendem, planendem, sachlichem Denken das Fremde zum Feindlichen gestempelt wird. Wie hier im Haß, zeigt sich auch im überschwänglich verklärenden Nimbus eines Führers, in der Verehrung urtümlicher Symbole archaisches Denken in Reinkultur. Das gleichzeitige Auftreten solcher sich scheinbar widersprechender Sinnesarten mag zunächst befremden. Wer aber strukturell zu sehen gelernt hat, erkennt in der Gleichzeitigkeit solcher Kontrasterscheinungen einen tieferen Zusammenhang. Das reale und das magische Weltbild, so wenig sie einander in ihrem Aufbau und ihrem Ordnungsprinzip gleichen, sind Ausdruck menschlichen Bestrebens, mit der Umwelt sich auseinanderzusetzen. I n ihrer Richtung entgegengesetzt, sind die zentrifugalen wie die zentripetalen Strebungen zugleich dynamischer Ausdruck einer übergeordneten undefinierbaren Einheit, die sich als selbständige geistige Bewegung, d. h. als Leben erweist. Biologisch gesehen, ist es nur die Gewichtsverteilung der seelischen Kräfte, die über die jeweilige seelische Haltung entscheidet und die zeitliche Erscheinung der Lebensform wie der Sprache gestaltet. Wenn die seelischen Kräfte, welche die beiden Weltbilder und die ihnen entsprechende Ich-Haltung bedingen, rein biologisch begriffen werden, entfällt von selbst jedes Werturteil. Da die Phantasie eher und ausgiebiger sich entfaltet als der kritische Verstand, setzt sich noch heute das Kleinkind mit seiner der Hand erreichbaren Umgebung zunächst ausschließlich, später vorzugsweise formal auseinander. Es bewältigt sie in Spiel und Traum, ähnelt daher in seiner seelischen Haltung und seinen 1

Vgl. das auf Seite 51 Gesagte.

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Äußerungen den Menschen primitiver Gesinnung oder seinen Vorfahren, die aus ihrer Traditions-Gebundenheit erst allmählich den Weg fanden zur objektivierenden, vorurteilslosen Betrachtungsweise. Das geistig und körperlich äußerst bewegliche Kind wird dann durch Lehre und Beispiel der Erwachsenen, nicht immer ohne Gewalt, im Sinne des starren Weltbildes der Gegenwart erzogen. Deshalb gehören in der Schule Gesang und Körper-Übungen zu den Nebenfächern, der Gebrauch der freien Rede wird kaum gepflegt. Alles ist darauf angelegt, die Welt mit dem Auge zu erfassen und geistige Distanz zu den Gegenständen zu gewinnen. Nur wenige sind es, die nach solcher einseitigen Erziehung kraft ihrer Veranlagung, nämlich durch eine besondere Stärke ihres Tiefen-Ichs dem erwünschten Zivilisations-Schema sich nicht einordnen, sondern den heftigen Drang zum Erlebnis in sich verspüren und damit den Drang, mit der sie umgebenden Welt vorzugsweise oder doch gleichfalls formal sich auseinanderzusetzen. Diesen wenigen ist die Gewißheit der Religion oder der Kunst ebenso dringendes Bedürfnis wie die Wahrheit verstandesmäßiger Erkenntnis. Ohne sich immer bewußt zu sein, daß sie sowohl das Weltbild der Ich-Ferne wie der Ich-Nähe in sich tragen, bevorzugen sie aus einem inneren Muß dasjenige, das ihnen durch die Bewegungs-Phantasie Freude am Dasein gewährt oder sie wenigstens jenseits des praktischen Erfolg einen tieferen Sinn des Lebens ahnen läßt. Als Künstler z. B . bleiben sie oft Einzelgänger. Oft ist ihnen die Anerkennung der Zeitgenossen versagt. Dennoch sind sie die Träger der Kultur und formen beinahe unbemerkt das Antlitz künftiger Zeiten. Die anderen sehen in ihnen, weil ihnen der Erfolg fehlte, gern Entgleiste. Denn der arbeitende und erfolgreiche Mensch ist ihr Ideal. Das Recht auf Arbeit, aber auch die Pflicht zur Arbeit betonen sie als selbstverständlich. Obgleich sie sonst nur die Ergebnisse des Intellekts als Wahrheit gelten lassen, huldigen sie aber dem Glauben, das Glück der Allgemeinheit sei das höchste Ziel. Die strukturelle Betrachtungsweise hat nicht die Aufgabe zu richten. Als Äußerungen des Tiefen-Ichs bzw. des Oberflächen-Ichs erscheinen ihr Kultur bzw. Zivilisation. In ihnen sieht sie Lebensformen der Völker, die durch die Vorherrschaft zentripetaler bzw. zentrifugaler Strebungen gekennzeichnet sind, in der Entwicklung des Individuums sogar nur Lebens-Phasen, die bedingt sind durch die besondere Art oder Schaltung seiner Sinnesorgane und damit seiner Ausdrucks-Möglichkeiten. Die sinnhaften Gebärden und Laute der frühesten Lebens-Phase sind strukturell aufzufassen als reaktive, zunächst fast reflektorische Äußerungen des Tiefen-Ichs, das beim Kleinkinde ebenso wie beim primitiven Menschen noch weltoffen liegt. Die als porös zu denkende Deckschicht des Oberflächen-Ichs, die den seelischen Organismus später schützt, indem sie willensmäßig Wahrnehmungen der Sinnesorgane distanziert und nur einen Teil der Sinnes-Eindrücke dem Tiefen-Ich zuströmen läßt, wo sie zu gefühlsbetonten Erlebnissen werden, ist beim menschlichen Säugling wohl nur in der Anlage vorhanden, beim Kleinkind und beim Primitiven aber noch nicht so weit entwickelt, daß sie den Ich-Kreis völlig um-

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schließt. Auf dieser ersten Stufe treten daher die vom Spieltrieb gespeisten, rein ich-bezogenen Kräfte des Traum-Ichs und des Spiel-Ichs in Wettbewerb mit den noch schwach entwickelten, versachlichenden Tendenzen des Oberflächen-Ichs. Die lebhafte, weil leibhaftige Intensität subjektivierender Strebungen, die ich-haft und formal die von außenher kommenden Eindrücke verarbeiten, besiegt leicht den noch unsicher und langsam sich vortastenden Schritt des verstandesmäßigen Denkens. Die durch eine Laut-Äußerung bestätigte Gegenwart eines Erlebnisses verschmilzt Laut und Erlebnis zu einer unanzweifelbaren Einheit. Daß hierbei die zentripetal gerichtete Phantasie tätig ist, bezeugt der rhythmische Doppellaut der meisten frühkindlichen Ausdrücke, von denen manche in der familiären Redeweise der Erwachsenen erhalten bleiben. Die IchBezogenheit des Wortes zeigt sich auch darin, daß zunächst beim sprachfähigen Kleinkinde derselbe Ausdruck für zwei, vom Verstand betrachtet, entgegengesetzte Tatbestände oder Eigenschaften gebraucht werden kann. Der sog. Gegensinn der Urworte (z. B . altus = hoch = tief) deutet auch in der allgemeinen Sprachentwicklung auf eine Stufe, auf der die unverwechselbare Identität der Bezeichnung noch nicht erreicht ist; denn die Stärke des Tiefen-Ichs berücksichtigt noch allzusehr den wechselnden Standpunkt des Beschauers. Die Bewegungs-Phantasie, die den Beschauer bald oben, bald unten stehen läßt, an demselben realen Gegenstand also die Erlebnisse von „hoch" und „tief" fast zugleich und abwechselnd ermöglicht, verhindert jenen geistigen Abstand, der nur von einem festen Standort ein eindeutiges Urteil gestattet. Wenn auf dieser Entwicklungs-Stufe der Sprache die Phantasie die Ausformung der Identität und damit das Zustandekommen eines stabilen Weltbildes verhindert oder mindestens verzögert, ist sie es hinwiederum, die den Gedanken beflügelt. Das Kleinkind faßt etwa mit dem Ausdruck „Wauwau" alles zusammen, was der Verstand des zivilisierten Erwachsenen als bewegliche Wesen definiert. Mit dieser Beschränkung sprachlichen Denkens, die in dem vieldeutigen Wort hervortritt, ist aber zugleich der Grund gelegt für die Freiheit im kindlichen Spiel, das jeden wahrgenommenen oder vorgestellten Gegenstand mit vielen anderen in engsten sinnvollen Zusammenhang durch das Erlebnis bringen kann, ohne daß die für den Erwachsenen so wichtige Ähnlichkeit zwischen ihnen besteht. Die Vieldeutigkeit des sprachlichen Ausdrucks birgt in sich das schöpferische Moment der Spielfreiheit. So befähigt die noch uneingeschränkte Macht und Stärke des Spieltriebes, der die Realität nur im ich-haften Erlebnis gelten läßt, das Kleinkind, die gesamte handnahe Umwelt sich spielgerecht, d. h. sich zu eigen zu machen, und dies in einer Weise, daß der langsamer, weil mit dem Verstand denkende Erwachsene, stets wieder über das Tempo und die Originalität solcher geistigen Besitzergreifung staunt. Dem zentripetal gerichteten Spieltrieb gesellt sich jedoch von Anfang an ein Beharrungs-Element, das in der Wiederholung des Erlebens der gleichen biologischen Lust- und Unlust-Reize liegt. Auf solche gleichsam

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sich einhämmernden Eindrücke reagiert der Säugling mit tierisch signalhaften Gebärden oder stimmhaften Äußerungen. Sie weisen auf besondere Erlebens-Situationen hin, welche die Mutter oder die Pflegerin aus der Art der Bewegung oder aus dem Tonfall sogleich erkennt. Es kennzeichnet das geistige Erwachen des Säuglings, daß diese Signale samt ihrer auf ein Erlebnis hinweisenden Bedeutung sich ihm einprägen und im Sinne einer Wirkung nach außen angewandt werden. Damit ist der Weg gefunden für eine Verständigung mit der Umwelt. Zentripetale und zentrifugale Strebungen treten also bereits im ersten Beginn der Sprachbildung hervor. Noch sind die physiologischen und psychologischen Bedingungen nicht erforscht, die einzig die menschliche Artgemeinschaft sprachbegabt machten. Wenn aber einmal solche Sprachbegabung vorliegt, ist wohl anzunehmen, daß bald das vibratorische Hörerlebnis den Vorrang gewinnt gegenüber den Erlebnissen des Tastsinnes. Denn dieser samt der Eigenbewegung bleibt am Körper haften, während der Klang der Stimme sich von ihm loslöst und damit die ersten Bestandteile einer Außen-Realität schafft, die wohl geeignet sind, über die lustbetonte Neugierde den Beobachtungs-Sinn beim Kleinkind anzuregen. Insofern der hörbare Sprach-Ausdruck eine merkliche Reaktion veranlaßt und der geformte Klang innerhalb gewisser Grenzen zeitbeständig und wiederholbar ist, erscheint der Klangkörper als eine für das Auge zwar unsichtbare, für das Ohr jedoch deutlich vorhandene Realität. Sie dient dem Kleinkind zum Spielen, wenn es in einem bestimmten Alter die Laute selbstherrlich verwandelt, als ob sie aus knetbarem Material beständen. Die hörbare Realität wird durch solches Verquatschen der Worte wieder subjektiviert. Der Drang zur selbständigen Bewegung, der uns als Zeichen des Lebens gilt, pendelt bald in der Richtung zum Ich und bewirkt das Erlebnis, bald in der Richtung vom Ich hinweg und schafft die Bausteine der Realität. Bald äußert sich der dem Menschen angeborene Bewegungsdrang in der Sprache als Objektivierung, bald verinnerlicht er sich zum Gefühl. Ebenso wie schon im Ursprang der Kultur der Mensch dem Holz oder Stein ich-haften Sinn verleiht, diese aber durch ihren Nutzen oder bloß durch ihre Dauer sachliche Werte darstellen, bedingen in der Entwicklung und im augenblicklichen Zustand einer Sprache subjektivierende und objektivierende Strebungen sich wechselseitig. Nur das Kräfte-Verhältnis ist im besonderen Fall des Volkes oder des Individuums ein anderes. Wer sich darauf versteht, wird aber selbst im geschriebenen oder gedruckten Satz den lebendigen Atem der Sprache, ihren rhythmischen Anteil verspüren. Der Klang des Wortes sucht einen Hörenden, weist jedoch zugleich zurück auf denjenigen, der es ausspricht, ihm Sinn und Bedeutung gibt. Wenn jetzt der zivilisierte Mensch in seinem einseitigen Streben nach Sachlichkeit den Klang des Wortes im Druckbild nicht mehr vernimmt und über der Wichtigkeit einer Mitteilung vergißt, daß die sie sprachliche Äußerung eines anderen Menschen ist, sei deshalb hier auf die entgegengesetzte Situation verwiesen. Im Falle, daß der Hörende fehlt, ent-

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wickelt sich im Zwiegespräch mit sich selbst das Spiel der Gedanken. Gesprächs-Partner ist alsdann das eigene Tiefen-Ich. Dieses, in dem die Bewegungs-Phantasie herrscht, beflügelt die Gedanken, fügt zur logischen Auseinandersetzung die formale hinzu. Gewinnt letztere die Überhand, so entsteht die Traumhaltung. In der Tiefe des Schlaftraumes vermag die Phantasie, nicht mehr gezügelt von den Kategorien raum-zeitlichen Denkens, Figuren und Situationen hervorzuzaubern, die den Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Realität sogar widersprechen. Der gesunde Erwachsene leistet sich solche Extravaganz nur im Schlaf. Dem neurotischen Individuum ist das formale Traum-Denken in einem bestimmten Sektor seines Gesamt-Ichs aufgezwungen. Daher bewahrt er auf gewissen Lebensgebieten auch im Wachzustand die Traumhaltung. Aus dem Zusammenstoß des Traum-Ichs mit dem Oberflächen-Ich entsteht der neurotische Konflikt. Es ist die Eigenart des Künstlers, daß er die formale Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen der logischen vorzieht. Dichtung und bildende Künste fußen noch auf den Wahrnehmungen und Vorstellungen der realen Welt. Bewußt verzichtet auf sie allein die absolute Musik. Von der Struktur aus betrachtet kann die reine Instrumental-Musik recht wohl als eine Analogie zur Traumhaltung bezeichnet werden. Sie entbehrt nicht nur der Sprache, sondern ihre Darstellungsform kann mittels der Lautsprache nicht weiter- oder wiedergegeben werden. So gesehen, erscheint die Phantasie den Kräften des distanzierenden Logos überlegen. Sie vermag im Schlaftraum oder in der absoluten Instrumental-Musik auch ohne Beteiligung des Logos zu wirken und schöpferische Gebilde hervorzubringen, während der Logos immer auf die Hilfe der Phantasie angewiesen ist. Daher ist der Phantasie der Hauptanteil an jedem schöpferischen Vorgang zuzuerkennen. Im Bereich der Sprache ist dies zu beweisen; die Sprachen der Primitiven verfügen oft über so wenig Objektivierungs-Vermögen, daß es nicht zur Entstehung eines fixierbaren Sprachbildes, also einer Sprachschrift kommt. Andererseits ist es der musikalische Anteil im Tonfall, im Rhythmus oder Dialekt, der den modernen Sprachen immer wieder neuen Aufschwung gibt. Gerade das nicht im Schriftbild Festzuhaltende, der lebendige Puls oder Atem einer Sprache reizt eine junge Generation, die anders empfindet als ihre Eltern, nach neuen Ausdrucksmitteln zu suchen, die sowohl der neuen Zeit als auch der besonderen Gefühlslage des einzelnen entsprechen. So vollzieht sich ein dauernder Stilwandel als ganz natürlicher Vorgang und sogar als Zeichen für den Lebenswillen der Sprache. Vor allem sind es die Dichter, also die Zeitgenossen, die durch die Stärke ihres Erlebens und die Fülle ihrer Phantasie von den übrigen sich abheben, die neue Ausdrucksmöglichkeiten auch in der Sprache des Alltags finden und sie mit dem Herzblut ihrer Persönlichkeit tränken. Zuweilen empfangen vorher nicht beachtete Worte einen vertieften Sinngehalt und dringen mit ihrer neuen Bedeutung in die Umgangs-Sprache ein, zuweilen ist es der Verzicht auf Satz Wendungen, die im täglichen Ge-

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brauch sich zu sehr abgeschliffen hatten. Der Möglichkeiten sind viele. Manchmal sind es nur geringfügige, zuerst kaum bemerkte Nüanzierungen des Tonfalls, welche die neuartige Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen andeuten. Mehr, als er selbst es sich eingesteht, ist der zivilisierte moderne Mensch in Sprachkultur eingebettet. In der Tatsache, daß die Muttersprache seine geistige Heimat ist, liegt schon eine Gewähr, daß der nivellierenden Zivilisation gewisse Grenzen gesteckt sind. Das Tiefen-Ich und seine zentripetalen Strebungen wurden als das Bereich der schöpferischen Kultur angenommen, das Oberflächen-Ich und seine versachlichenden zentrifugalen Tendenzen als das Bereich der Zivilisation. Die höchste Entfaltung der Bewegungs-Phantasie zeigt sich im Schlafträum. Der Traum, als Begleiter des vom Wachzustand biologisch scharf unterschiedenen Schlafes, erhält so seinen besonderen Sinn. Es ist zu vermuten, daß durch die regelmäßige Wiederkehr des Schlafes und der in ihm auftretenden Träume die Fähigkeit formaler Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen, also das schöpferische Vermögen beim wachenden Menschen gestärkt wird. Die Phantasie in Gestalt des frühkindlichen, primitiven, symbolisierenden Denkens wirkt allnächtlich unbemerkt auf das logische Denken und praktische Handeln auch des heutigen Menschen. So wird der Schlaftraum zum Hüter der Kultur und bewahrt dem nüchternen, oft allzu sachlichen Individuum der Gegenwart die Eigenart des Schöpferischen. Andererseits ist es gewiß kein zeitlicher Zufall, daß die Zivilisation in den wenigen Jahrhunderten ihres Daseins der Menschheit nicht nur die vorurteilslose Wissenschaft und die staunenswerte Technik schenkte, sondern auch ein ganz neues Ausdrucksmittel für vordem unaussprechbare Stimmungen und Gefühle in Gestalt der reinen Instrumental-Musik. Was sonst nur im willenlosen Zustand des Schlaftraumes bei aufgehobener lautsprachlicher Fähigkeit möglich war, die rein formale Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen, vollzieht sich in der absoluten Musik zwar nicht unter der Vorherrschaft, jedoch unter der Teilnahme des Oberflächen-Ichs und muß sogar auf dessen Kritik gefaßt sein. Strukturell gesehen, reicht im Falle der Instrumental-Musik das Spiel-Ich des modernen Menschen in die Tiefe des Traum-Ichs. Vermutungsweise läßt sich sagen: Mit dem optisch-geistigen Abstand, der ein Weltbild der Augenferne errichtete und zugleich das eigene Ich zum Objekt der Beobachtung machte, empfing das Individuum eine neue Freiheit. Erst durch die Unterscheidung einer Innen- und Außen-Welt empfing der neuzeitliche Mensch das Vermögen der freien Entscheidung. Ohne daß er begrifflich über die verschiedenen Ich-Bereiche sich klar zu sein brauchte, lernte er aus den Erfahrungen des objektivierenden und den Erlebnissen des subjektivierenden Denkens diejenige seelische Haltung wählen und einnehmen, die seinem Belieben und einer gegebenen Situation entsprach. Die neugewonnene Freiheit der Entscheidung trug dazu bei, daß Traum-Ich, Spiel-Ich und Oberflächen-Ich voneinander

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sich deutlicher abzeichneten. Damit vollzog sich eine reinliche Scheidung von Logos und Phantasie. Im Mittelalter und seinem traditionsgebundenen Denken hatte das Tiefen-Ich die zentrifugalen Kräfte gefesselt und so die Ergebnisse der zeiträumlichen Logik und der Erfahrung verfälscht oder gar vereitelt. In der neuzeitlichen Gesinnung konnte sich nunmehr nicht nur der Logos ungehemmt entfalten, sondern auch die Bewegungs-Phantasie hatte soviel Freiheit empfangen, daß sie unter gewissen Umständen auch im Wachzustand das lautsprachliche Denken vernachlässigen konnte. Während der Schlafträum Besitztum des einzelnen gewesen war und nur auf primitiver Kulturstufe, als das Oberflächen-Ich noch nicht genügend entwickelt war, die Menschen miteinander verbunden hatte, konnte in der reinen Instrumental-Musik das erlebende Tiefen-Ich eines schöpferischen Menschen die anderen in dem Rhythmus seiner Phantasie mitreißen, vermochte ihr Tiefen-Ich anzurühren und in den Hörern selbst schöpferische Kräfte zu erwecken. So steigerte sich die Erlebnisfähigkeit des modernen Individuums, das rhythmische Gefühl verfeinerte sich. Dem künstlerisch veranlagten Menschen war ein neues Gebiet erschlossen, das ihm zeitweilig zur Rettung werden konnte gegenüber den aufdringlichen Forderungen des praktischen Alltags. Hier scheint eine der vielen Möglichkeiten zu liegen, durch die das moderne Individuum seiner Vereinzelung, seiner Verlassenheit entrissen den Weg zur Gemeinschaft mit ähnlich fühlenden Mitmenschen findet. Man ahnt den Tiefsinn des Schluß-Chors in der I X . Symphonie: „Alle Menschen werden Brüder." Wer seine Muttersprache nicht nur als eine selbstverständliche Gegebenheit betrachtet und in ihr mehr als ein bequemes Werkzeug gegenseitiger Mitteilung erblickt, so daß er über ihre Form sich Gedanken macht und auf die Erhaltung ihrer Schönheit bedacht ist, wird mit den letzten Jahrzehnten unseres Zeitalters nicht gerade zufrieden sein. Das Gefühl für den Hörwert der Sprache hat sich vermindert. Der Jargon der Zeitungen hat überall auf die Umgangs- und die Schrift-Sprache abgefärbt. Auch persönliche Briefe sind nicht selten im Telegramm-Stil abgefaßt. Es ist, als spüre der moderne Mensch einen Überschuß seiner distanzierenden Kräfte, durch die er besonders auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und der Technik ungeahnte Fortschritte erreichte. Gegenüber einem erstrebten, vorzüglich wirtschaftlichen Glück des Kollektivs wiegt das Seelenglück des Individuums federleicht. Es wird gern als Sentimentalität d. h. als unechtes Gefühl verspottet. Man möchte fast von einer Pubertät der Zivilisation sprechen, wenn man an die wenigen Jahrhunderte ihres Daseins denkt. Jetzt einseitig auf den Augenschein eingestellt, wird sie sich vielleicht eines Tages darauf besinnen, daß auch das Weltbild der Nähe dem modernen Menschen etwas zu bieten hat. Das Beispiel der reinen Instrumental-Musik zeigt ja zur Genüge, welche neue Glücksmöglichkeiten noch heute in den subjektivierenden Kräften der Seele schlummern. Die brutale Vorherrschaft des Intellekts in der 7

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jetzigen Zivilisation ist also vielleicht nur eine Zeit-Erscheinung. Es ist zu vermuten, daß diese Flut abebbt, und daß sich neue Wege eröffnen, um der Phantasie zu ihrem Recht zu verhelfen und so die Zivilisation mit der Kultur in Einklang zu bringen. Die Aufgabe der strukturellen Betrachtungsweise ist es nicht zu prophezeien. Sie will nur eine Wissenschaft des Lebens sein. Das Leben selbst und seine Äußerungen, unter denen die Sprache nicht die geringste ist, halten uns, denen das Erleben so viel gilt, in Bann. Erst, wenn wir den rechten Abstand zu ihm gewonnen haben, können wir einen sachlichen Maßstab an die mannigfaltigen Erscheinungsformen legen und sie kritisch beurteilen. Heute erst vermögen wir den Subjektivismus der Romantik recht zu verstehen. Nur ein Wegweiser zu bisher unbebautem Gelände ist bisher unsere Wissenschaft. Vielleicht gelingt es einer späteren Zeit, dort ein Gebäude zu errichten.

NACHWORT DES HERAUSGEBERS Unter allen Kulturwerten ist keiner, der sich, mit der Sprache messen könnte. Dem historischen Rückblick erscheint auch das Tiefste, was über das „Geheimnis der Geheimnisse" (Hebbel) — die Sprache gesagt worden, selber des Geheimnisses voll. Denn die Feststellung Herders, der Mensch ist Mensch nur durch die Sprache, wiewohl bis heute unübertroffen, führte im Munde W. v. Humboldts zu der berühmten Ergänzung: um aber die Sprache zu erfinden, müßte er schon Mensch sein. Der göttliche Atem und das göttliche Rätsel, als welche die Sprache sich dem denkerischen Versuch j enes darstellten, mußten unter der Kühle der mehr naturwissenschaftlichen Anschauung dieses zur bloßen Antinomie erstarren. Aus dieser haben noch keine philologische Akribie und kein philosophischer Scharfsinn sie erlöst. Was aber im Kategorialen zum Widersprüchlichen führt, wird unter psychologischen Aspekten einer Amalgamierung im Sinne eines Kompromisses fähig, indem verschiedene Modalitäten sich gegenseitig ergänzen können, was behaviouristisch als simultane Appetenz und Aversion, tiefenpsychologisch als Ambivalenz bezeichnet wird, und diese von Sprachforschern und Philosophen als Psychologismus in Frage gestellte Betrachtungsweise hat in dem nachgelassenen Werk von Felix Mayer eine neue und vertiefte Darstellung erfahren. Ebensowenig, wie die älteren tiefenpsychologischen Bearbeitungen mythologischer, religionsgeschichtlicher, literarischer und folkloristischer Themenkreise, um nur die historisch ältesten zu nennen, sich über die Wissenschaftsgebiete, die sie mit neuen Erkenntnissen bereicherten, stellten oder sie gar ersetzen wollten, erhebt eine solche Erforschung des Wesens der Sprache diesen Anspruch. In der vorliegenden Arbeit geht es nicht einmal um etymologische und symbolhafte Deutungen des sprachlichen Ausdrucks, wodurch viele psychoanalytische Versuche auf diesem Gebiet sich unwillkürlich in einen Gegensatz zur Sprachphilologie setzten, die Strukturpsychologie Mayers sieht vom Inhaltlichen überhaupt ab. Durch seine Methode gewinnt er eine Position, von der aus er die Auffassung derjenigen Sprachforscher, die das Gebilde der Sprache nur mit Hilfe des Intellekts zu erklären und mit logischen Kategorien zu begründen versuchen, als irrig nachzuweisen vermag, und er schafft sich in ihr ein Instrument, mit dessen Hilfe er zeigt, daß die bloß historisch-genetische Ableitung nicht zureicht, das Wesen der Sprache zu erfassen. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Sprache beruht auf der falschen Voraussetzung, daß die logische Verknüpfung zwischen Gegenstand und Ausdruck das Kriterium sei, nach dem über ihn entschieden werden könnte. Aus diesem Grunde mußten die scharfsinnigsten UnterT

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suchungen über diesen Gegenstand scheitern, wie die Analyse Ernst Cassirers; ihren Methoden haften die Mängel jeder Oberflächenpsychologie an, und sie zeigen den Abgrund auf, der zwischen der geisteswissenschaftlichen Auffassung des Symbols und seinen tiefenpsychologisch erkannten Determinanten besteht. Denn das Unbewußte bleibt noch heute, weit über fünfzig Jahre nachdem es als eine „Instanz" der menschlichen Seele verstanden und in seinem abartigen Wesen erforscht wurde, das Schibboleth, das nicht nur die Wissenschaft von der menschlichen Seele in zwei Gebiete spaltet; die Frage seiner Anerkennung und das Verständnis seiner Art entscheiden darüber, ob zwischen der Tiefenpsychologie und anderen Wissenschaftsdisziplinen überhaupt eine Verständigung möglich ist. Das Babel der in vielen Zungen redenden Richtungen der Psychologie kann zu einem großen Teil auf die Verwirrung zurückgeführt werden, die aus diesem einzigen Streit entstanden ist, denn da d.as Unbewußte nicht mehr geleugnet werden kann, formt eine jede es nach ihrem eigenen Ebenbilde. In der lebendigen Sprache kommt es nicht in erster Linie auf logische Gesichtspunkte an, die notwendig einer distanzierenden Haltung entstammen, sondern auf das handnahe ichhafte Erlebnis des Sprechenden und Hörenden. Die Gesetzmäßigkeiten, die dabei herrschen, sind von anderer Art, nämlich von der der unbewußten Seelenvorgänge, wie sie die Psychoanalyse erschlossen hat. Die Kriterien dieser anderen intrapsychischen Welt sind nicht Wahrheitsgehalt und Kausalität, sondern innere Gewißheit und zwingend erlebte Notwendigkeit, wodurch sich die als Primärvorgang bezeichnete seelische Tätigkeit von den verstandesmäßigen Denkvorgängen aufs schärfste unterscheidet. Diese betätigen sich vor allem als Isolieren, Distanzieren, Identitäten setzend, als Vergleichen und logisches Verknüpfen des Nebeneinander im Raum und des Nacheinander in der Zeit, jene hingegen hat es mit solchen Prozessen zu tun, mit denen jeder Mensch aus seinen Träumen vertraut ist. Hier erscheinen ein jedes Wesen und ein jedes Ding mit einer erhöhten Potentialität, sie treten aus der vom lautsprachlichen Verstandesdenken festgelegten Isolierung und aus ihrer Identität heraus, sind austauschbar geworden, können wie im Märchen verwandelt, zu Vorstellungsreihen verdichtet und verschoben werden, so daß wie durch Magik hingezauberte Szenen auf der Bühne, die das Traum-Ich errichtet, abrollen; diese Bühne kann gleichzeitig hier und dort stehen, und was sich auf ihr abspielt, geschieht unabhängig von der Vorstellung des zeitlichen Ablaufs eines Vorher und Nachher, wie sie im Wachbewußtsein verankert ist; beides kann zu einem Jetzt verschmelzen, und dieses wiederum einer längst vergangenen Epoche angehören; die gewohnte Kausalität ist aufgehoben, es herrschen die Streufreiheit und die Unbestimmtheitsrelationen, wie sie höchstens noch dem atomaren Geschehen eignen. Spricht nicht der Augenschein gegen eine solche Auffassung, muß sie nicht die alltägliche Erfahrung als bloße Gedankenspekulation verurteilen ? Widerspricht ihr nicht die tief in uns wurzelnde Überzeugung,

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daß gerade durch die Lautsprache mit ihren kategorialen und grammatikalisch ausdrückbaren Beziehungssetzungen, dank ihrer objektivierenden Kraft, die sichtbare Welt als ein System der Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten gedeutet werden konnte, wie Mayer formuliert ? Man darf nicht die Erkenntnis außer Acht lassen, daß einer der mächtigsten Beweggründe der menschlichen Seele das primäre Bestreben ist, das beängstigend Unbekannte, die bedrängenden Erscheinungen der Außenwelt und die unlustvollen Spannungen der Innenwelt von sich abzuwehren. Unter dem Blickwinkel der urtümlichen Abwehrvorgänge muß auch die Entwicklung der rationalen Verstandeskräfte gesehen werden bis hin zum Aufbau der kompliziertesten Denkmodelle, deren sich die Wissenschaften bedienen. Der geistige Wille kann, wie Max Scheler in Übereinstimmung mit den Lehren der Psychoanalyse erkannt hat, nur hemmen oder enthemmen, aber er ist nicht der wirkliche Motor des Geschehens: nur die Triebe sind die realen Kräfte des Psychischen. Da sie eine ursprüngliche Richtungsbestimmtheit besitzen, ist es verständlich, daß sie auch unsere Vorstellungstätigkeit beeinflussen. Diese also auch von Seiten der phänomenologischen Philosophie geteilten psychoanalytischen Gesichtspunkte bereiten den Boden für das Verständnis einer biologisch aufgeklärten Auffassung vom Wesen der Sprache und der logischen Lautsprache im besonderen. Wir werden nicht mehr davon überrascht sein, daß in ihr andere alsnur distanzierende,begriffsbildende Kräfte am Werke sind, vielmehr auch solche, die jener anderen Welt zugehören, triebentbundene, ichnahe und das Gefühl angehende. Der Raum, innerhalb dessen das lautsprachliche, rein logische Denken ausschließlich legitim ist, erweist sich als eng umgrenzt, als viel kleiner selbst, als die grundlegenden Arbeiten von Richards und Ogden erkennen ließen, denn auch sie bewegen sich im Rahmen der Oberflächenpsychologie. Keine der beiden Haltungen hat Anspruch auf Ausschließlichkeit. „Schöpferische Sprache und Rhythmus" ist vorzüglich eine Untersuchung über ihre Verzahnung und ihre wechselseitigen Beeinflussungen. Die hauptsächliche Folgerung, die wir zu ziehen haben, ist, daß die Sprache eine Doppelnatur hat und ihre Energien aus der polaren Spannung bezieht, die beide Teile zusammenhält. Denn die distanzierende Haltung des lautsprachlichen Verstandesdenkens findet ihre Enantiodromie in der ursprünglichen intensivierenden pathischen Subjekthaltung, die wie im Traum am reinsten im archaischen Beziehungsdenken sich verkörpert. Nur unter dem Blickpunkt des jetzigen Menschen mit seinem auf Distanzierung, analysierende Vereinzelung und ebenso auf konstruktive Synthese bedachten Denken, dessen Zielsetzung in der feststehenden, unverwechselbaren Bezeichnung im Koordinatensystem von Raum, Zeit und Kausalität gipfelt, kann jene Haltung als paranoid entwertet werden. Den primitiven Kulturen bedeutet sie das natürliche Bezugssystem, das zu einer vollen Anpassung an die Umwelt befähigt. Bisher wurde von der Wissenschaft der objektivierende Charakter der Sprache und, daraus folgend, die Neigung der modernen Sprachen zur

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Abstraktion in den Vordergrund gerückt. Durch die Vorherrschaft des zentrifugalen Denkens konnte das Mißverständnis der Philosophie entstehen, als ob ein vom Ich abgezogenes Räsonieren möglich sei, eines das nur in objektiven Formen sich abwickle, nur von logischen Kategorien geprägt, als ob die Sprache nicht von ihrem Beginn als Lallen und Ruf bis zu ihrer höchsten Stufe wissenschaftlicher Ausprägung in erster Linie Ich-Entfaltung wäre. Die größte Konzession, zu der man bereit war, bestand in der Anerkennung von Anschauungsformen, die man aus der vermeintlichen Natur des Menschen abstrahierte, die aber eher von psychologischen Erkenntnissen wegführten. Darum wußten weder die Philosophie noch die Sprachforschung und auch die Bewußtseinspsychologie nicht mit jener in keine Kategorie zu zwingenden Erscheinung und Fähigkeit der menschlichen Seele etwas anzufangen, die mit Recht der „ursprüngliche seelische Motor" genannt wird, mit jener von Anfang an immer tätigen Bewegungsenergie, die zentripetal zum Ich gerichtet ist, primär lebenseigentümlich das menschliche Dasein in allen seinen Äußerungen, also auch im sprachlichen Bereich, wesenhaft bestimmt: der Phantasie. Immer eine Bewegungsphantasie,nämlich virtueller innerer Bewegungen, im Sinne von M. Palagyi, stellt sie ein Bindeglied dar zwischen körperlicher Motorik und geistigen Akten. Die Psychologie hat auch den Wahrnehmungsvorgang als einen rhythmischen erkannt. Jede Perzeption ist mit Motilität unlösbar verbunden, es handelt sich dabei immer auch um kinästhetische Sensationen, propriozeptive Empfindungen. Man kann die Phantasie als das Instrument bezeichnen, das aus dem Zusammentreffen von neuro-physiologischen Verrichtungen und und psychischer Energie entsteht. Sie gehört den Ich-Funktionen an, und daraus erklärt sich die Aufladung mit libidiniösen Valenzen, mit denen jede Phantasietätigkeit ausgestattet ist. Im Gehorsam gegenüber den Ichtrieben macht sie sowohl die realen, dem eigenen Körper wie die der Außenwelt zugehörigen, als auch die bloß vorgestellten Objekte und Vorgänge des Innen- oder des Weltgeschehens zu ichhaften Bestandteilen. Die Tätigkeiten der primären Bewältigung und Aneignung, der Ein-Bildung nach Scheidt, sind nichts anderes als die Introjizierung und — auf verschiedenem Niveau — der Identifizierung, als welche sie in der Psychoanalyse beschrieben werden. Auf der Stufe des Denkens kennzeichnet diesen Vorgang das subjektive Gefühl unerschütterlicher Gewißheit, der gegenüber jedes Fürwahrhalten auf Grund logischer Beweise des lautsprachlichen Verstandesdenkens verblaßt. Die beiden Seinsbezüge, der aktiv distanzierende und der intensivierende pathische, in welche die analytische Betrachtung den Menschen hineingestellt sieht, liefern ein anderes Beispiel für den unausweichlichen Zwang unseres Denkens zum Dualismus, den wir in allen großen Lehrsystemen unabhängig von ihren Inhalten beobachten können, und der genetisch auf die Ichgefühle, auf das Unterscheidungsvermögen von Innen- und Außenwelt zurückgeht. Er kommt in den philosophischen Theorien seit Plato ebenso zum Vorschein wie in den religiösen Ideen-

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entwickhingen aller Zonen und Zeiten, auch in vielen monistischen Systemen wirkt er oft versteckt fort, und wir erkennen ihn noch in dem von Freud erforschten Gegensatz von Lebens- und Todestrieben. Die beiden Bereiche menschlicher Haltung stellen zwei getrennte Welten dar, die bis auf unsere Tage voneinander gesondert und ohne echte Beziehung nebeneinander um sich selber kreisen, wovon die Gegensatzpaare Geist und Materie, Soma und Psyche Zeugnis ablegen. In der modernen Geistesgeschichte belastete das Erbe Descartes' 200 Jahre lang das philosophische Denken der westlichen Zivilisation, und diese Hypothek wird erst allmählich, so dürfen wir sagen, durch die Schaffung neuer Denkmodelle gelöscht werden können. Die der klassischen Naturwissenschaften erweisen sich als unzureichend für die Erklärung der psychischen Gestaltungskräfte. Was sich von diesen mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erforschen läßt, wird entweder einfach geleugnet oder doch nicht für erforschbar gehalten, was verhängnisvollerweise oft bedeutete, es aus dem Bereich der physischen Welt in die Metaphysik abzuschieben. Dort möge es als Pneuma, ontologisches Prinzip oder unter irgendeinem anderen Namen „existieren" und kann den Operationen der verschiedenartigen ontologischen Betrachtungsweisen unterworfen werden. Der Dualismus lebt so weiter fort. Wir haben erst jetzt genügend Abstand gewonnen, um in den vielfältigen Vorstellungen der unser Denken beherrschenden großen Naturforscher der zweiten Hälfte des X I X . Jahrhunderts die großen historischen Leitbilder aufzudecken, das heißt zu verstehen, daß es sich bei den Problemstellungen der klassischen Naturwissenschaften im Grunde häufig um die gleichen die Menschheit bewegenden Fragen handelt, freilich in neuem Gewände und mit der Methode des naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchs der Welt. Der vielbesprochene Siegeszug der Naturwissenschaften seit hundert Jahren stellt sich in dieser Sicht dar als ein Vorstoß zur Emanzipierung von einer Vormundschaft, die die Philosophie seit der Renaissance über alle anderen Wissenschaftszweige errungen hatte, und die schon Reuchlin, Melanchthon und Ulrich von Hutten zurückwiesen. Aber noch fehlen die neuen Leitbilder und Denkmodelle, die unserer Ahnung von der unitären Natur aller Lebensvorgänge die wissenschaftliche Fundierung gäben und uns befähigten, mit Geist und Materie, Psyche und Soma als mit einer Einheit zu operieren. Wir brauchten dann als Ärzte nicht mehr den Ausweg, seelische Erkrankungen auf organische „Ursachen" zurückzuführen oder somatische mit nervösen Funktionsstörungen zu „erklären". Denn jede Form des sogenannten psycho-physischen Parallelismus oder Okkasionalismus sieht sich der unlösbaren Schwierigkeit gegenüber, die gegenseitige Beeinflussung der beiden Sphären plausibel zu machen, und muß in der einen oder anderen Form auf eine, letztlich göttliche, Intervention, einen deus ex machina zurückgreifen. Deshalb wird heutigen Tags zwar gern verkündet, daß der psycho-physische Parallellismus als Erklärungsprinzip aufgegeben ist, aber der Begriff des Simultangeschehens, der an seine Stelle getreten ist, bedeutet gegenwärtig

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nicht mehr als ein Programm und eine Forderung, solange man in praxi doch weiter so verfährt, als lebe jener Parallelismus noch weiter fort. Denn wir besitzen noch kein Denkmodell, nach dem Beschreibung und praktisches Handeln ausgerichtet werden könnten. In dem Ringen um eine adäquate Anschauungsform können die Arbeiten E. Machs und seiner Nachfolger insofern als ein Höhepunkt bezeichnet werden, als sie es waren, die den Weg zu den Positionen von Ryle und des logischen Positivismus der Wiener Schule und Bertrand Russelscher Prägung erschlossen. Der Dualismus als Grundanschauung scheint erst in der Kybernetik N. Wieners, W. R. Ashbys und anderer zu einer Aufhebung gelangen zu wollen. In diese Zusammenhänge muß das Werk Felix Mayers hineingestellt werden. Indem er, wie sogleich zu zeigen sein wird, wenigstens für die beiden Prinzipien des seelischen Geschehens einen unitären Darstellungsentwurf schafft, prägt er dem Begriff des Simultangeschehens einige anschauliche Züge auf. Wollte man nämlich die beiden Arten menschlicher Haltungen und Denkweisen, die archaisch-pathische und die lautsprachlich-distanzierende, als zwei getrennte Welten beschreibend setzen, es wäre wenig für ein vertieftes Verständnis vom Wesen der Sprache gewonnen und nichts für die Auffassung von der Einheitlichkeit alles Lebendigen. Erst in der schöpferischen Synthese der so gründlich voneinander verschiedenen Weltbilder der Augenferne des logischen und der Handnähe des ichhaften Denkens vollendet sich die formale, nur methodologisch begründete Unterscheidung, indem sie in das rhythmische natürliche Lebensgeschehen zurückgenommen wird, aus dem sie die systematische Untersuchung isoliert hatte. Nur einer Persönlichkeit, die in sich diskursives Denken und sprachschöpferische Begabung vereinigte, konnte diese gegenseitige Ergänzung und Einswerdung von wissenschaftlicher Beschreibung und fließendem Erlebnis gelingen, dieses Aufspüren physiologischer Abläufe in den symbolhaften Darstellungsformen seelischer Vorgänge, als wäre das Zentralnervensystem dahin angelegt, deren Entfaltung durch neurophysiologische Projektionsmechanismen zu bewerkstelligen, wodurch sie unserem inneren Anschauen zugänglich werden. Nehmen wir das Wort von der Einheit des psychischen und somatischen Geschehens in seiner ganzen Schwere, dann ist diese Darstellungsform mehr als eine Metapher, dann erscheint der Gedanke, daß der biologisch nervöse Funktionsablauf im Psychischen und Geistigen den in dieser Sphäre adäquaten Ausdruck finden muß, nur folgerichtig. Gestimmtheit, Gefühl, Vorstellung, Intention, Bild und Wort stellten die im Großhirn sich manifestierenden Projektionen jener biologischen Vorgänge dar. Wie anders wäre die rationale Erfassung von irrational Erlebtem möglich oder auch nur die bewußte Aufnahme einer Grundstörung der Homöostase, die entweder als körperliche oder psychische Abweichung registriert wird, wie anders sollte Unbewußtes bewußt werden 1 Diese mechanistisch-dynamischen Vorstel-

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hingen finden eine aktuelle Entsprechung in der Lehre W. Scheidts von den Leitwerkverrichtungen der Leibseele, in dem Versuch H. Rohrachers über die Arbeitsweise des Gehirns und in jüngster Zeit in der Auffassung von F. S. Rothschild vom Zentralnervensystem als einem Symbol des Erlebens, das im Hirnbau vorgebildet ist. F. Mayer begegnete solchen Gedankengängen in Gesprächen, die er wenige Monate vor seinem Tode mit dem Herausgeber führte, mit ungeteilter Zustimmung. Die gleichen Eigenschaften, die ihn zu seiner originellen Synthese befähigten, ließen ihn die Gesetzmäßigkeiten der seelischen Dynamik herausarbeiten, die der motivischen Antriebe im schöpferischen Schaffensprozeß entraten können. Nicht daß er den hohen Wert psychoanalytischer Deutung von Kunstwerken, und im besonderen der dichterischen, gering ansetzte, aber der eigenartigen Verschmelzung von künstlerischer Persönlichkeit und Denker, die ihm eigen war, schien die Untersuchung der Form, der zugrundeliegenden Struktur, das Allgemeine des Schöpfungsvorgangs wesentlich als die Grundlage, auf der die Beschäftigung mit dem Einzelfall ruhen müsse. Wohl verbergen sich hinter seiner eigenen Ausdrucksweise oft die Begriffe der Psychoanalyse. Bei ihrer Entfaltung verschmelzen die gegensinnig gestalteten Erlebnisweisen, indem sie sich gegenseitig durchdringen und ergänzen, nicht zu einer Einheit im dialektischen Verstände; die jeder von ihnen adäquate Denkform kann in ihren dynamischen und funktionellen Vollzügen keine Amalgamierung eingehen, sondern nur einen Kompromiß herbeiführen. Sie stellen vorzüglich die beiden Prinzipien des seelischen Geschehens dar, welche wir in der Terminologie von Freud das Lust- und das Realitätsprinzip nennen. Aber während Freud anläßlich der Formulierung dieser beiden Prinzipien sich damit begnügt, ihr Wirken in acht Resultaten zu beschreiben, die sich bei der Umwandlung des ursprünglichen Lust-Ichs in ein Real-Ich ergeben, geht es in dem vorliegenden Werk um die Herausarbeitung derjenigen Strukturelemente, deren jenes Wirken sich bedient. Und wiederum: die beiden so unterschiedlichen Welten des Traum- und Spiel-Ichs mit seinem zentripetalen Beziehungs- und Bedeutungsdenken und des Ichs der distanzierenden Denkweise der artikulierenden Lautsprache entsprechen —• aufs Ganze gesehen —, wie schon angedeutet, den psychoanalytischen Instanzen des Unbewußten mit dem Primärvorgang einerseits und der Ich-Instanz mit seinem realitätsangepaßten logisch erklärenden begrifflichen Denken auf der anderen Seite. Aber indem die Psychoanalyse, die sowohl den topographischen Raum dieser Systeme wie auch die dynamisch-funktionalen (und ökonomischen) Vollzüge ausgemessen und erforscht hat, diese beiden — neben der Instanz des Über-Ich — als die legitimen Modelle psychologischen Bemühens betrachtet, an denen das psychische Geschehen vorzüglich studiert werden kann, macht sich für eine universale Betrachtungsweise ein freiwilliger Verzicht Freuds fühlbar, den er einmal so formuliert hat, daß während der psychoanalytischen Arbeit biologische Gesichtspunkte zu schweigen haben und auch nicht zu heuristi-

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sehen Zwecken zu verwenden seien. Diese Abstinenz hat Freud der psychologischen Arbeit aber nur temporär auferlegt, was oft unbeachtet geblieben ist. E r selber hat es als Ziel der psychoanalytischen Forschung bezeichnet, nach vollzogener Arbeit den Anschluß an die Biologie zu finden. Dieser ist längst fällig geworden. Es gab auch seit S. Ferenczi immer Strömungen in der Psychoanalyse, die ihn suchten, aber im Ganzen war Freuds einschränkende Weisung für die Arbeitsrichtung der analytischen psychologischen Wissenschaft bestimmend. Die strukturelle Betrachtungsweise hingegen achtet diese Begrenzung keineswegs, sie verfolgt die psychologischen Abläufe in ihre physiologischen Quellen, dorthin, wo sie von der somatischen Organisation Richtung und Prägung erhalten, und sie versucht, von hier aus wenigstens die sinnesphysiologischen Faktoren mittels einer psychologischen Methode zu deuten. Der Doppelnatur der Sprache entspricht die unserer Sinne. Sie befähigt sie, im Dienste beider Haltungen des Ich, der distanzierenden-objektivierenden-zentrifugalen und der intensivierenden-pathischenzentripetalen, zu funktionieren. Gesichts-Gehörs- und Tastsinn sind einerseits Erkenntnisorgane, zeigt Mayer auf, andererseits Erlebnisorgane. Lediglich Geruchs- und Geschmackssinn dienen zum überwiegenden Teil der Übermittlung von Ich-Erlebnissen. Dem ichhaften Weltbild entspricht das symbolisierende Denken, das dem logischen, nach Wahrheit anstatt nach Gewißheit strebenden, entgegengerichtet und dem rhythmischen Erleben Untertan ist. Der Rhythmus oder die rhythmische Vergegenwärtigung der Zeitlichkeit des Lebens, wie Rothschild sich ausdrückt, diese Erlebniszeit hat mit der Uhrzeit nichts zu tun, ebensowenig mit dem Takt in der Musik und dem Silben- und Versmaß in der Dichtkunst. „Im Anfang der Sprache war nicht der Logos, sondern der Rhythmus", sagt Mayer. Wenn wir die bedeutsame Entdeckung von K . Lorenz aus dem Bereich der Verhaltenswissenschaft hinzufügen, wonach aus der unendlichen Fülle möglicher Bewegungen nur die rhythmisch geformten in den „Auslösern" Verwendung finden, auf welche die Artgenossen mittels angeborener Empfangsanlagen hochselektiv, instinktgemäß reagieren, stünde der Rhythmus sogar am Anfang j e g l i c h e r Kommunikation auch der Tiere als sozialer Wesen. Die Wahrnehmung des Rhythmus wird physiologisch durch einen eigenen Sinn vermittelt, den Vibrationssinn, der durch das vorliegende Werk gleichsam eine Ehrenrettung erfährt. Dennoch kann, infolge der innigen Verbundenheit des Vibrationssinnes mit dem Gehörsorgan und weil dieses zum Teil auch dem fern enden Verstandesdenken dient, ebenso das rhythmische Erleben dem Erkenntnisstreben nicht völlig fremd sein, ob die beiden gleich unserem Auffassungsvermögen nach sich als Gegensätze gebärden. Die Doppelnatur der Sinne ist vorbildlich für die Organisation der psychischen Verrichtungen, sie befähigt sie erst zu den zwei entgegengesetzten Möglichkeiten der psychischen Betätigung überhaupt, oder wenigstens entspricht sie doch den zwei Prinzipien: Lust — Unlust und

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Realität. So wandelt sich das Auge, das bedeutungsvollste Organ im Wachbewußtsein für die fernende objektivierende Funktion, gleichwohl im Schlaftraum zum eminent wichtigen Organ der inneren Bilderschau und des affektiven Erlebens. Es hat eine subjektivierende Funktion auch im physiognomischen Sehen. Ja, diese Doppelnatur der meisten Sinnesorgane ist recht eigentlich das heuristische Prinzip, mit dessen Hilfe der Aufbau der Synthese, von der wir gesprochen haben, vor sich geht. Was so vielen systematischen Untersuchungen zum Unheil ausschlägt, daß zugunsten der Deutlichkeit und Abgrenzung oft der lebendige Zusammenhang mit den übrigen Lebenserscheinungen geopfert wird, daß eine solche notwendigerweise einseitige Betrachtung den Widerspruch herausfordert, — diesen Gefahren entgeht die angewandte Betrachtungsweise, indem sie bei der Erarbeitung ihres Materials die sich auftuenden Gegensätzlichkeiten als solche der Methode erkennt und sie sofort an den natürlichen Verhältnissen des Lebens korrigiert, wie an dem Gegensatz von Auge und Ohr. Nur in der Untersuchungsmethode, aber nie in der natürlichen Haltung des Individuums gibt es ein Entweder-Oder. Dabei wird der synthetischen Wendung der vorliegenden Untersuchung an keiner Stelle das Opfer klarer Unterscheidungen gebracht, der Leser erlebt die Aufhebung des logisch Widersprüchlichen im höheren Prinzip des Lebendigen lustvoll als ein Beispiel anmutig zu nennender Bewegungsphantasie, und dieses dynamische Wechselspiel der Darstellungsform macht nicht zuletzt ihren intellektuellen Reiz und ihre denkerische Anziehungskraft aus. Insofern der strukturpsychologische Beitrag Mayers von allem Inhaltlichen und Motivischen absieht, ist er dem Streit der verschiedenen Schulen enthoben und erweist sich als ein Bezugssystem, in welches Sprachforschung, die allgemeine Kunsttheorie und die verschiedenen Richtungen der Tiefenpsychologie ihre Positionen einzutragen vermögen. Mit den Mitteln der Strukturanalyse Mayerscher Observanz geüngt es, zahlreiche Einzelfragen aus diesen Gebieten einer Lösung näher zu führen. Hier sei nur auf einige von ihnen Bezug genommen, die das Arbeitsgebiet des Herausgebers nahe berühren. Während seiner 16jährigen Tätigkeit unter den Bantunegern Ostafrikas hat ihn eine Beobachtung immer wieder beschäftigt. Wo immer man einem lesenden Bantuneger begegnet, da liest er laut vor sich hin, auch wenn keine Zuhörer da sind 1 . — Die Sprachforscher, denen dieser Umstand nicht entgangen ist, sehen sich außerstande, eine einleuchtende Erklärung dafür zu geben (Ernst Dammann). I m Lichte der strukturellen Betrachtungsweise bieten sich folgende Überlegungen an: Die Bantuneger haben keine eigene Schrift entwickelt. Die schriftliche und drucktechnische Fixierung ihrer Sprache mittels der lateinischen Buchstaben geschah ohne ihr Zutun, sie ist ihnen vor etwa 50 Jahren durch 1

Dies bezieht sich nicht auf den Neger von einer bestimmten Bildungsstufe an.

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die Europäer zuteil geworden und zwar sozusagen mit einem Male, ohne allmähliche Entwicklung. Die Bantu —- als Sprachgemeinschaft — sind also für die Fertigkeit des Lesens in keiner Weise vorbereitet gewesen, als sie plötzlich sich vor die Aufgabe gestellt sahen, mehrere Stadien, die für die Umstellung zum lautsprachlichen Verstandesdenken nötig sind — denn dieses setzt die geschriebene Sprache voraus —, zu überspringen, sie sollten lesen, während ihre psychische Konstitution noch darauf angelegt war, die Bewältigung und Aneignung der Außenwelt, soweit sie mittels der Sprache vor sich geht, vorzüglich durch das Ohr und den Vibrationssinn zu bewältigen. Das distanzierende Denken mittels des „fernenden Gesichtssinns", das beim Lesen in Tätigkeit tritt, muß beim Bantuneger viel weniger entwickelt sein als bei einem Menschen des gegenwärtigen europäischen oder asiatischen Kulturkreises. Seit je auf das hörbare Wort angewiesen, dessen Urbilder die sakrale Poetik und der Mythos sind, bleibt er weitgehend dessen Wirkungen unterworfen. Mit Hilfe des vibratorischen Sinns vollzieht sich jene fließende RhythmusBewegung, die der schöpferischen Phantasie jedesmal die lebendige Fülle der intensivierenden pathischen Erlebnismöglichkeiten, wie im Schlaftraum, vermittelt. In dieser Rolle der Subjekthaltung, wo das Gehörte mehr das archaische Beziehungs-, das magische Denken weckt als das distanzierende Identitäten setzende, in dem die Eindeutigkeit angestrebt wird, vermag der Bantu noch kaum, sich als lesend Aufnehmender zu verstehen. Seine Welt ist weitgehend noch bis zum heutigen Tage die Welt des sich wandelnden Symbols, der Vieldeutigkeit des sprachlichen Ausdrucks 1 . Ähnliches ist bei dem eben lesen lernenden Kind und solchen Erwachsenen der zivilisierten Völker zu beobachten, die des Lesens ungewohnt und in dieser Tätigkeit ungewandt der Schwierigkeit besser Herr werden, indem sie laut vor sich hinlesen. Ja, selbst der Gebildete unseres Kulturkreises nimmt zuweilen zum Lautlesen seine Zuflucht, wenn er sich schwierigen Satzbildungen oder Inhalten seiner Lektüre gegenübersieht oder einer Störung der Aufmerksamkeit von innen oder außen begegnen will. Auch er wird mit Hilfe des vibratorischen Sinns in seiner Gesamtstruktur mehr erfaßt, als es durch das Auge allein geschehen kann, und dadurch dem inneren Rhythmus des Textes mehr zugänglich. Denn je mehr Anteile seines Ichs angesprochen werden, um so eher kann er solche Einflüsse abwehren, die seiner Aufmerksamkeit im Wege stehen, um so erfolgreicher aber auch vermag er den Sinn einer dunklen Textstelle zu erfassen, der sich dem rein logischen Sprachdenken nicht 1 Es wird gesagt, daß in der Antike und bis ins Mittelalter hinein allgemein laut gelesen wurde. Das widerspricht in keiner Weise dem hier gegebenen Erklärungsversuch, wenn man bedenkt, daß die Menschen jener Zeit nach Mayer dem zentripetalen Denken noch viel mehr verhaftet waren als die modernen, und daß nur eine verhältnismäßig dünne Schicht der damaligen Gesellschaft die Kunst des Lesens beherrschte.

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erschließen will, selbst wenn er sich als Teil eines logischen Zusammenhanges begreifen läßt. Hingegen kann auch die strukturelle Methode keine Antwort auf die Frage geben, weshalb die Bantu es nicht zu einer Fixierung ihrer Sprache gebracht haben. Was die primitiven Sprachen betrifft, hat Mayer einen beachtlichen Erklärungsversuch unternommen, der sich an dem lebendigen Wechselspiel zwischen den beiden Welten orientiert, je nach der vorwiegenden Haltung von Spiel- und Traum-Ich, unter der Vorherrschaft der Phantasie oder des Realitäts-Ichs mit den Identitäten ausdrückenden Wortbegriffen, die erst ein versachlichendes Denken gewährleisten. Dabei wird die Möglichkeit erörtert, daß vielleicht eine eidetische konstitutionelle Anlage darüber entscheidet, ob den erlebnisnahen Anschauungsbildern der Vorzug gegeben wird, oder ob eine Sprache in der Richtung auf Logik und Versachlichung fortschreiten kann. Aber die Bantusprachen sind nichts weniger als primitive. Schon von der Gabelenz hat ihren großen Wohlklang, ihre entzückende Farbigkeit und ihr glänzendes und kompliziertes Congruenzsystem hervorgehoben, die unzähligen Abschattierungen, deren sie dank einer freien, lebendigen Agglutination in Tempus und Modus fähig sind. Ihre zum Teil für uns ganz fremdartigen grammatikalischen Formen geben ihnen eine überraschende Modulationsfähigkeit, der doch eine Prägnanz eigen ist, der man in den indogermanischen Sprachen nur durch Umschreibungen und Hilfskonstruktionen gerecht werden kann. Daß die Bantuneger keine eigene Schrift entwickelt haben, muß gegenwärtig ebenso rätselhaft bleiben wie beispielsweise das Versagen der Inka, denen das auch nicht gelang trotz ihrer stupenden kulturellen Leistungen. Wahrscheinlich kann man sich diesem Problem nur durch eine polymethodische Betrachtungsweise nähern. Ein Wort zu der Neigung Mayers, seine Haltung gegenüber der psychoanalytischen Arbeitsrichtung abzugrenzen und sich von ihrer motivisch und inhaltlich bestimmten Methode auf dem Gebiet der Kulturforschung zu distanzieren. Dieses Bestreben wird auch in seinem Werk „Dynamische Tiefenpsychologie" (1953) deutlich. Es ist hier nicht der Ort, auf die Hintergründe dieser Haltung einzugehen. Sein Werk bewegte sich doch innerhalb des Denkmodells, das die Psychoanalyse geschaffen hat, wenn sich auch in ihm eine weitgehende, meistens subtile, Differenzierung erkennen läßt. Während aber so viele Fortsetzer und vermeintliche Reformatoren oft nur längst von der Psychoanalyse Entdecktes in abgewandelter Form wiedererstehen lassen, führen die Untersuchungen Mayers zu durchaus selbständigen und originellen Resultaten, auch wo er nur die Fäden in neuartiger Weise verknüpft, die im Gewebe der psychoanalytischen Forschung lose gelassen worden sind. So gelangt man bei dem Versuch, für sein Werk den Standort im Corpus des gegenwärtigen psychologischen Wissens aufzuweisen, zu der Feststellung, daß Mayer malgré lui einen bedeutsamen Beitrag zur psychoanalytischen Forschung geleistet hat. Dafür die folgenden Beispiele.

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In dem Streit der Meinungen über die Wahrnehmung, die noch heutigentags von vielen physiologischen und selbst psychologischen Schulen als ein passiver Vorgang verstanden wird, fügt er der Auffassung Freuds, daß es sich dabei um einen aktiven seelischen Prozeß handelt, einen neuen strukturanalytischen Beweis hinzu. Selbst Freud hat die Mahnung aus seiner „Metapsychologie", die Bedeutung des Bewußtseins nicht zu überschätzen, nicht so scharf gefaßt wie Mayer: „Nicht durch Akte praktischer Erfahrung, sondern durch Poiesis wird das Ich im Menschen errichtet — erdichtet." Der Stellenwert der psychischen Realität im Gesamthaushalt der Seele als ein der äußeren gleichberechtigter wird strukturell untersucht und auf die Funktion der Organe mit Doppelsinn zurückgeführt. Die erst von der Psychoanalyse gebührend gewürdigte Rolle der Motilität für das Seelenleben wird durch den Gedanken unterstrichen, daß schon die hörbare Sprache eine kinetische Abfuhr emotioneller Spannungen bedeutet. Das Wechselspiel und die gegenseitige Befruchtung von bewußter und unbewußter Phantasie und logischem, lautsprachlichem Denken, also von Primär- und Sekundärvorgang, wird dargestellt als einer der dynamisch-genetischen Faktoren des kinetischen Prinzips: „Der Drang zur selbständigen Bewegung, der uns als Zeichen des Lebens gilt, pendelt bald in der Richtung zum Ich und bewirkt das Erlebnis, bald in der Richtung vom Ich hinweg und schafft die Bausteine der Realität." Hat man sich mit der strukturellen Betrachtungsweise vertraut gemacht, so wird man freimütig anerkennen, daß sie die allgemeine Neurosenlehre um einige Gesichtspunkte erweitert. Freilich ist der Blickwinkel verschoben, wenn Trieb und Hemmung, Verdrängung und Konflikt weder inhaltlich noch motivisch anvisiert werden, aber das Bild, das sich ergibt, steht in keinem Punkt im Widerspruch zur gewohnten Betrachtung. Die psychoanalytische dynamische, genetische und ökonomische Verknüpfung in der Ätiologie der Neurosen, das Verständnis ihrer Symptomkreise, das Schicksal der Affekte, der Verdrängungen, der Objektinstanz sowie das mannigfache Wechselspiel der psychischen Dynamismen, vor allem die Abwehrvorgänge, der Kompromißcharakter der Neurosen u. a. bleiben von ihm völlig unberührt. Damit grenzt sich die strukturpsychologische Betrachtungsweise scharf gegen die neo-analytischen Neurosenlehren ab. Sie macht nur das Formale zum Gegenstand ihrer Untersuchung und beschränkt sich auf die Beschreibung bestimmter elementarer seelischer Vorgänge, sie kümmert sich nicht um ihre kausalgenetische Verknüpfung in speziellen Lehrsystemen; aber sie macht uns besser verstehen, weshalb sie so ablaufen, wie es die psychoanalytische Forschung herausgearbeitet hat. Die Lehre von der Wesenseinheit von Mythos, Traum und Neurose erfährt eine Stütze und Bestätigung durch die Darstellungsform der Wechselwirkung der beiden Grundhaltungen der menschlichen Seele, die als eine Ausweitung der von Freud erkannten und 1938 von ihm end-

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gültig formulierten Einstellungen im Seelenleben der Person verstanden werden wollen, von denen die eine dem Ich und die gegensätzliche dem Es angehört. In die Verhältnisse und Eigentümlichkeiten jenes sind die Erscheinungen der distanzierenden und objektivierenden lautsprachlichen Haltungen einzutragen, während dieses mehr dem Verhalten der subjektivierenden magischen Erfahrungsweise des Primitiven und Kindes entspricht. So wird es nicht mehr fremdartig erscheinen, daß ein Kennzeichen der Neurose und — noch stärker — der Psychose in der Verschiebung des natürlichen Gleichgewichts zugunsten der subjektivierenden Haltung gesehen und in der Regression ganz allgemein ein Vorgang im Sinne des Schwindens der durch die Lautsprache festgelegten Ich-Identität festgestellt wird, wenn auch die Anwendung dieser Auffassung auf die ödipussituation und die Perversionen als ungewohnt berührt. Aber formal-genetisch ordnet sich der folgende Satz durchaus der analytischen Grundanschauung ein: „Die Neurose ist ein deutliches Zeichen dafür, wie in demselben Menschen subjektivierendes wie objektivierendes Denken, formale wie verstandesmäßige Auseinandersetzung mit der Umwelt zu einem krankmachenden inneren Konflikt führen". Man möchte wünschen, daß manche Erkenntnisse der strukturellen Betrachtungsweise vom psychoanalytischen Begriffsapparat assimiliert werden. Das gilt nicht zuletzt für die Erklärungsversuche auf dem Gebiete der Kunst. Wenn diese auch zu den bedeutsamsten ihrer Art gehören, so finden sich doch im Gedankengewebe der Psychoanalyse nirgends mehr von jenen lose gelassenen Fäden, die noch der gültigen Verknüpfung harren. Seit den großartigen, von Groddek geahnten, von Freud und 0 . Rank gefundenen Erkenntnissen und trotz der von J. Sadger, H. Sachs, O. Pfister, E. Kris und anderen weitergeführten Untersuchungen hat die Forschung hier auf der Stelle getreten. Darum kann sie kaum die Anregungen außer Acht lassen, die von der Strukturpsychologie ausgehen. Auch wenn man das Diktum Freuds, daß das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist, immer wieder bestätigt findet, erheben sich doch Zweifel an dem absoluten Primat einer kausalgenetischen Verknüpfung von Triebumwandlung und Sublimierung mit künstlerischem Schöpfertum; auch wenn man der Meinung ist, daß die motivische Deutung einer stets zugrunde liegenden Konflikthaltung bis heute noch nicht die ihr zukommende allgemeine Annahme unter den Gebildeten gefunden hat, da die seelische Determiniertheit der Elemente des Kunstwerks allenthalben ängstlich geleugnet wird, muß man die Aufzeigung nicht-motivischer Strukturelemente begrüßen, die geeignet sind, die Verbindung zwischen vitalen Ursprüngen und Formkräften der künstlerischen Persönlichkeit ergänzend auf anderen Wegen zu beschreiben. Eine morphologische und phänomenologische Darstellung der menschüchen Haltungen, die zwar auf das Inhaltliche, aber nicht auf die eigentümlichen innigen Wechselbeziehungen zwischen den beiden Welten verzichtet, muß ihren Platz in der tiefenpsychologischen Arbeit finden.

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Der zweigleisige Verkehr zwischen Primär- und Sekundärvorgang wird von Mayer eingehend erforscht. Die Phantasie, sagt er, so sehr sie, bewußt oder unbewußt wirkend, Neues schaffend, in jeder Hinsicht eine dem logischen Denken entgegengerichtete Kraft ist, erweist ihr wahrhaft schöpferisches Wesen vorzüglich dann, wenn sie in kürzeren oder längeren Intervallen mit lautsprachlichem Denken abwechselt. Dann nämlich vermag die Einbildungskraft des Dichters eine neue erlebnishafte Welt symbolhaft zu gestalten, was als die Entfaltung von Sachverhalten der einen Wirklichkeit in jene andere höhere verstanden werden kann, und diese schöpferische Verknüpfung von vorher nicht oder doch nicht auf diese Weise Verknüpftem, diese Gestaltung von vorher nicht so Gestaltetem befähigt diese symbolische Projektion ihrerseits, zum Bestandteil unseres realen kausalgerechten Weltbildes zu werden. In diesem Prozeß erfahren wir eine Ausweitung unseres Bewußtseins und eine Bereicherung unseres Begreifens. Hier dämmert vielleicht ein Stück der Erkenntnis jenes Geheimnisses der schöpferischen Leistung, die Freud als unerforschbar bezeichnete. Mayer formuliert so: „Hauptsächlich im intermittierenden und selbstoszillatorischen Wechsel zwischen Spiel-Ich und Wahrnehmungs-Ich, zwischen Phantasie und Logos, wird das Spielsymbol zum Ausgangspunkt und zum Kennzeichen schöpferischer Kunst und Wissenschaft". Dieses Wechselspiel liegt als allgemeines psychologisches Prinzip den Lebensäußerungen des Menschen zugrunde. In allen Entwicklungsstufen menschlicher Kulturen und in allen Altersstufen des Individuums begegnet man, nur in verschiedenen Graden und in verschiedenem Mischungsverhältnis, gleichzeitig Phantasie und Realismus, Animismus und Logik, Magik und mechanistisch körperlicher Kausalität, autistischem Denken und exakter Beobachtung—,mit einem Wort: der archaischen Beziehungs- und der lautsprachlichen Verstandeshaltung. Die verschiedenen Entwicklungsstufen des kindlichen Geistes äußern sich niemals, wie J . Piaget anzunehmen scheint, unveränderlich einem bestimmten Lebensalter entsprechend, und die angeblich ganz von Magik und Animismus beherrschten Primitiven sind gleichzeitig zu scharfen Beobachtungen und in der Realität wurzelnden Leistungen befähigt. Es kann sich immer nur um einen graduellen Unterschied handeln, je nachdem die eine oder andere Haltung vorwiegend die Herrschaft ausübt. Insofern hat die Lautsprache selbst ein mystisches Vorstadium gehabt, wo, wie in den von Mayer herangezogenen Beispielen, Durst und Wasser, Feuer und Holz noch dieselbe Bezeichnung hatten oder die Urworte nach K. Abel immer auch ihren Gegensinn bedeuteten, „den Zwilling seines Gegensatzes". Aber schon in den frühesten Stadien, in denen die Anfänge einer Entwicklang der Sprache sich abzuzeichnen beginnen, ist sie zweiseitig, kommt in ihr der subjektivierende und gleichzeitig schon der objektivierende Anteil hervor. Wenigstens für den Bereich der Sprache wird so ersichtlich, daß Schöpfertum und Menschsein, Kunst und Leben ursprünglich nicht in zwei getrennte Welten zer-

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fallen. Die Strukturpsychologie „vermenschlicht" den Dichter, indem sie zeigt, daß die Phantasie als Ordnungsprinzip des fließenden symbolischen Denkens dem allgemein menschlichen Erleben aufs engste zugehört. Gleichzeitig läßt sie uns die Andersartigkeit einer Dichtung verstehen, denn sie ist insofern von einer anderen Welt, als in ihr nicht Wahrheit erstrebt wird, sondern ichnahe Gewißheit, nicht Kausalität, die Logik v o n R a u m und Zeit herrschen, sondern die Wirkungsmechanismen von magischen Beziehungen. A u c h die Einmaligkeit des K u n s t werks weist darauf hin, daß es aus einer anderen als unserer gewöhnlichen W e l t stammt. Schon dem einfachen Empfinden scheint der Gesichtsp u n k t der Wiederholbarkeit wie in anderen menschlichen Verrichtungen, etwa den beruflichen oder gar den technisch-maschinellen Produktionen, für das Kunstwerk absurd. Die A r s poetica besteht nicht nur darin, wie der Dichter uns L u s t bereitet — so meinte Freud — , sondern vorzüglich in seiner Fähigkeit, die Verschmelzung zweier verschieden gearteter Welten widerspruchslos zu Wege zu bringen und sie uns, eben lustvoll, erleben zu lassen. Des Geheimnisvollen im Wesen der Dichtkunst bleibt genug, aber die Grenzen des Geheimnisses werden durch die strukturelle Betrachtungsweise insofern eingeengt, als sie zeigt, daß ihre Voraussetzung nicht nur in einer mystischen, unerschließbaren Fähigkeit des Dichters hegt, sondern wenigstens im Moment der Doppelnatur der Sprache erfaßt werden kann. Die Wortsprache jeglicher A r t , die gefühlsgetragene, Wunscherfüllung heischende oder die Mitteilungssprache und selbst die logische wissenschaftliche vermag, in abgestuften Intensitätsgraden, die pathisch erlebende wie die Weltentwürfe planende Instanz in uns anzurühren: in der Dichtung werden die Grenzen zwischen den verschiedenen Bereichen des Ichs beseitigt. U m in der Sprache des pathischen Erlebens zu reden: der das Ich ergreifende innere R h y t h m u s verschmilzt mit der objektivierenden Gesetzlichkeit des Metrums zu einer Einheit. U n d wie der R h y t h m u s in der echten Dichtung vor dem Motiv wirksam wird, bereichert sich unser Verständnis der Dichtung aus den strukturellen Elementen der Sprache vor jeder motivischen Betrachtung. Beide Erklärungsversuche stehen in einem Verhältnis fruchtbarer Ergänzung. Ohne die v o n der klassischen Psychoanalyse erforschten inhaltlichen Wechselwirkungen zwischen Kunstwerk und Aufnehmendem gäbe es keine befriedigende Antwort auf die Frage, weshalb wir von einer bestimmten Dichtung so nachhaltig ergriffen und erschüttert werden; wir spüren nämlich, daß die K o n f l i k t e und Sehnsüchte des Dichters unseren eigenen unbewußten Wünschen und Seelenkämpfen entsprechen. E s versteht sich aus der N a t u r der Musik von selbst, daß in ihr der beschriebene Wirkungsmechanismus in viel reinerer und ursprünglicherer Weise vorhanden ist, denn ihre Beziehung z u m R h y t h m u s ist noch viel enger. A b e r auch für die Malerei und die bildenden K ü n s t e bedeutet die strukturpsychologische Betrachtung eine Bereicherung unseres Wissens durch die Erkenntnis der Rolle der Hand. Sie ist keineswegs nur aus-

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führendes Organ des Künstlers. Schon die schreibende Hand steht nicht nur im Dienst eines mechanischen Vollzugs, wie eine landläufige und auch gelehrte Auffassung es will. In actu scribendi geschieht eine gewaltige Steigerung des formalen Gestaltungsvermögens, eine Förderung des Gedankenablaufs und eine schöpferische Anregung der Phantasie, wie jeder Schreibende an sich erfahren kann. Zwischen den Intentionsantrieben der Einbildungskraft und dem motorischen Erfolgsorgan laufen in beiden Richtungen Bewegungsimpulse, die man sich gar nicht fein genug abgestimmt vorstellen kann. In einer Sammlung von Aussprüchen zeitgenössischer erfolgreicher Autoren über ihre Arbeitsweise („Writers at Work", London 1958) liest man mehrfach solche wie, „ich muß anfangen zu schreiben, um Ideen zu bekommen". Diese wechselseitige Durchdringung des phantasievollen Vorsatzes und der ausführenden Hand zeigt sich in noch viel stärkerem Maße beim Maler. Selbst für die gegenständliche Malerei seit der Renaissance, der es auf wirklichkeitstreue Wiedergabe ankam und die mit Maaßen und Relationen der Realität möglichst nahe zu kommen trachtete, trifft dies zu und kann gerade mit Hilfe neuerer musealer Untersuchungstechniken auch objektiv nachgewiesen werden. In den modernen Richtungen wie dem Expressionismus tritt dieser Zusammenhang viel sinnfälliger in Erscheinung, und die Tachisten messen geradezu der poietischen Tätigkeit der Hand das Übergewicht bei der Entstehung des Bildes zu und erblicken darin das Wesen ihres Künstlertums. Die quasi autonomen Tendenzen der Hand bei der Kunstausübung müssen dem Bildhauer ganz besonders eindringliche Erlebnisse und je nach der kunst-und weltanschaulichen Einstellung und dem Temperament des Künstlers auch schmerzensreiche Erlebnisse vermitteln; noch im vollendeten Werk bleiben solche Unterschiede deutlich, wer spürte sie nicht bei einem Vergleich der Plastiken etwa eines Rodin mit denen Mascherinis oder der Bildnisse Lionardos mit denen El Grecos ? J . P . Sartre hat den „kopernikanischen Umsturz", den er in Giacomettis Bildhauerkunst erblickt, auf ähnliche Vorgänge zurückgeführt. Die strukturelle Betrachtungsweise hat, wie man sieht, mit der Psychoanalyse die Fähigkeit zu einer Befruchtung der verschiedensten Wissensgebiete gemein. Sie führt die formenden Kräfte der kulturellen Erscheinungen auf die lebendigen Vorgänge der menschlichen Seele zurück, indem sie die hinter den mannigfaltigen Formen wirkenden Strukturen und Mechanismen aufdeckt. Das letzte Kapitel des vorliegenden Buches stellt eine Anwendung ihrer Methode auf die im gegenwärtigen Kulturbild erkannten Fehlentwicklungen dar, auf die Wurzeln einer allgemeinen Malaise unserer Zeit, die in zahlreichen Darstellungen aus verschiedenen Arbeits- und Anschauungsgebieten behandelt worden ist. Vor allem wird mit dem kritischen Apparat, den die Erkenntnis von den zwei seelischen Grundhaltungen liefert, die Fehlentwicklung analysiert, die das übermäßige Vermögen und Verlangen, alles zu objektivieren, zum Schaden der Menschen eingeleitet haben. Insofern stellt die Untersuchung einen

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strukturellen Beitrag zu der kulturkritischen Schrift Freuds „Das Unbehagen in der Kultur" dar. Die Erlebnisarmut so vieler Menschen der Jetztzeit ist nach Mayer eine besonders greifbare Wirkungsfolge der Vernachlässigung der schauenden, ichhaft erlebenden Persönlichkeit zugunsten der unter Führung des peripheren Sehorgans und der optischen Distanz stehenden Beobachtung und der Hinneigung zur objektivierenden ich-entäußernden Denkweise. Hier t u t sich ein schicksalträchtiges Dilemma auf. Alles sträubt sich in uns, irrationalen Bestrebungen eine Geltung im Bereich unseres Weltbildes zuzugestehen und für die Gestaltung zwischenmenschlicher, vor allem der Gruppen-Beziehungen andere als rationale, verpflichtende, entmythisierende Leitlinien zuzulassen, weil die kaum gebannten Gefahren einer primitiven Weltauffassung, die auf dem großen erklärenden Mythos beruht, uns erschauern lassen. Darum trägt die strukturpsychologische Betrachtungsweise zu dem praktischen Aufgabenkreis der Psychohygiene und des Gesundheitsschutzes bei, die diesen Gefahren zu begegnen haben, vorzüglich durch die Erkenntnis, daß im lebendigen, natürlichen Geschehen die beiden Weltbilder in wohlabgewogenem Ausgleich zur Entfaltung kommen. Sie teilt mit der Psychoanalyse und der psychoanalytisch orientierten Psychohygiene das Ziel, die Mächte der Tiefe nicht zu verdrängen, sondern dem rationalen Ich einzubauen. Die ausschließliche Erziehung zum ichfernen distanzierenden Weltbild auf der anderen Seite führt zu der vielbeklagten, als Zeitkrankheit diagnostizierten Unfähigkeit der Heutigen, die Gegenwart im Sinne des Jetzt gebührend zu erleben; die Möglichkeiten des unmittelbaren Erlebens werden durch die Zivilisation, welche die ichnahen Ordnungsprinzipien vernachlässigt, immer mehr eingeengt. Denn Vergangenheit und Zukunft sind, wie Mayer sagt, denkbar und können im Sinne des logischen Denkens versachlicht werden, aber das Jetzt ist nicht in gleicher Weise als Vorstellung zu distanzieren. Darum kann der füehende Moment einzig im unmittelbaren Erleben erfaßt werden. Das aber verlernen die Menschen mehr und mehr. Aus dem simultanen Geschehen, das als Erfolg des ständigen oszillatorischen Herüber und Hinüber auftritt, ergibt sich auch ein Verständnis für die großen Pendelschwingungen von Objektivität zur Subjektivität, vom Skeptizismus zum Glauben, vom klassischen Geist zur Romantik, die Fritz Wittels in der Geistesgeschichte der Menschheit gefunden hat. Die Schwankungen der Philosophie und der gesamten kulturellen Atmosphäre sind die Schwankungen in den beiden menschlichen Grundhaltungen, studiert am Kollektiv. Das Werk Felix Mayers ist aber der Psychologie zugehörig nicht nur durch den Gegenstand seiner Untersuchung, man möchte den Ductus des Gedankenablaufs, ja den Stil selbst eminent psychologisch nennen. Diesem Erlebnis des Lesers kann freilich nur in tastenden Annäherungen und durch metaphorische Umschreibungen Ausdruck verliehen werden, etwa indem man sagt, dieser Stil sei seinem Gegenstand eigentümlich angepaßt, wie von ihm geprägt, hier haben das Dargestellte und das Dar8»

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stellende eine reine Entsprechung gefunden, als ob die hauptsächlichen Themen der Untersuchung sich gleichsam selber ins Wort umsetzten und als ob die reine Bewegungsphantasie und der schöpferische Rhythmus selbstdarstellerisch sich dem Vibrationssinn mitteilten. Vielleicht schwebte Mayer diese mehr dem Kunstwerk adäquate Rezeptivität vor, wenn er vom Rhythmus als dem schöpferischen Ur-Erlebnis sprach. Mit den mannigfaltigsten Ansätzen vermag seine Betrachtungsweise in die Erforschung kultureller Phänomene vorzudringen. Sie betrachtet die kontrollierte und dem sachlichen Denken sinnvoll eingestufte phantasiebeherrschte Wirksamkeit des Traum-Ich, also den Primärvorgang, als denjenigen Faktor, der noch heute die Gewähr für eine freie schöpferische Fortentwicklung des Menschengeschlechts abgibt. Erschien der Traum Freud als der Hüter des Schlafs, so kann Mayer ihn mit Recht den „Hüter der Kultur" nennen. Dr. Felix Mayer (1874—1957) wirkte in seiner Vaterstadt Berlin zunächst als praktischer Arzt und erwarb dann 1907—1918 als Assistent von Toby Cohn an der von diesem geleiteten Poliklinik eine nervenärztliche Fachausbildung. Er leitete 5 Jahre eine Abteilung an dem Goldsteinschen Nervensanatorium und betreute 1922—1933 als städtischer Schularzt seelengestörte und schwachsinnige Kinder. Bis zu diesem Jahre übte er daneben eine nervenärztliche und psychotherapeutische Praxis aus. Die Erforschung der Sprache beschäftigte ihn sein ganzes Berufsleben hindurch, wovon eine Reihe Veröffentlichungen Zeugnis ablegen. E r promovierte bei David Katz mit einer Dissertation über die Gebärdensprache, die ihn bekannt machte. 1935 folgte „La Structure du Rêve", die von Claparède ins Französische übertragen worden war. 1937 erschien unter dem deutschen Titel „Die Struktur des Traumes" eine erweiterte Fassung der Arbeit in den „Acta Psychologica" und gleichzeitig als Monographie, die auch Fragen der Neurose, der Religionswissenschaft, Pädagogik, Ästhetik und Ethnologie behandelte. 1953 gab er (bei Paul Haupt, Bern) seine „Dynamische Tiefenpsychologie" heraus. Der Beschäftigung mit der Sprache blieb er auch im Exil treu, in dem er 83jährig verstarb. Sie bedeutete ihm in der geistigen Vereinsamung, in der er sich in den letzten 20 Jahren seines Lebens befand, das Bindeglied zu der geliebten Heimat, die Muttersprache wurde ihm zu dem, was ihm niemand rauben konnte. Frau Charlotte Naschelski kommt in erster Linie das Verdienst daran zu, daß dieses nachgelassene Werk im Druck erscheinen konnte. Ihr sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Zu danken ist auch hier Frau Oberstudienrätin Erna Zoller für das Lesen der Korrekturen. Die Besorgung des Werkes hat Felix Mayer dem Herausgeber, mit dem ihn freundschaftliche und berufliche Beziehungen seit über 30 Jahren verbanden, wenige Monate vor seinem Tode anvertraut. Dieser zeichnet für geringfügige Änderungen des Textes, für die Kapitelüberschriften und den Index verantwortlich. Erich Simenauer.

NAMENREGISTER Amman, J . C. 48 Anaxagoras 24 Aristoteles 24, 78 Bachofen, J . J . 22 Berkeley, G. 12 Bühler, K . 70 Burckhardt, J . 80 Cassirer, E . 13 f., 59, 61, 67 Churchill 80 Claparède 5 Le Corbusier 54 Düthey, W. 5 Eichendorff, J . 41 Falkenfeld, H . 11 Freud, S. 7, 10 Gabelenz, v. d. 10 Gauss, K . F. 21 Gehlen, A. 31 Giese, F . 54 Goethe, J . W. v. 39, 45, 61, 84 Grimm, J . 9 Güntert, H . 7 H a m a n n , J . G. 10 Harnack, H . v. 21 Hebbel, F. 33 Helmholtz, H . 43 Herder, J . G. 8, 10, 31 Herodot 46 Hertz, H . 13 Hornbostel, 51 Huizinga, J . 20 Humboldt, W. v. 10, 35, 59 f., 67 Jakobson, R . 23 Jespersen, O. 71, 79 Jung, C. G. 5, 12 K a n t , I . 11 Katz, D. 48

Keller, H . 48 Klages, L. 46 Koffka, K . 63 f., 74 Laotse 5 Lehmbruck, W. 54 Leibniz, G. W. 51 Lessing, G. E. 54 Lipschütz, E. M. 7 Lommel, H . 6 Lüders 32 Meinhof 65 Nietzsche, F. 63 Noire 69 Otto, R . 10 Palägyi, M. 28, 29 f. Paul, H . 7 Petersen 46 Peyser, A. 70 Plato 25 Proust, M. 42 Rilke, R . M. 56 Saussure, F. de 6 Scheler, M. 77 Schilder, P . 63 Schiller, F. v. 39, 77 Shakespeare, W. 80, 83 Siewers, E. 39 Smith, Brough 65 Steinthal, H . 7 Strauss, E. 49 Tullio, P. 70 Uexküll, J . v. 31 Vaihinger, H . 18 Vossler, K . 7 f., 65 Weber, E. H . 48 Ziehen, Th. 44 Zimmer, H . 72

Von

den

gleichen

im

Verfassern

Verlag

Paul

erschienen

Haupt,

FELIX

Bern:

MAYER

Dynamische Tiefenpsychologie 343 Seiten •

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ERICH

SIMENAUER

Rainer Maria Rilke Legende und Mythos 760 Seiten, 1 photographische Abbildung, Register, 19 j 3

Auslieferungsstelle f ü r Deutschland: F. A .

B R O C K H A U S,

G . m. b. H .

S T U T T G A R T , Räpplenstr. 20