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German Pages [314] Year 2010
SCHRIFTENREIHE KOMMISSION FÜR PROVENIENZFORSCHUNG Hinweise zur Open Access-Ausgabe Band 2: Folgender Beitrag darf aus rechtlichen Gründen in der Open Access-Version nicht zur Verfügung gestellt werden: Julia Jungwirth, Juristische Aspekte der Kunstrückgabe, S. 249–272. Open Access-Publikation im Sinne der CC-BY-NC-ND 4.0
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Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung 2 Herausgegeben von Christoph Bazil und Eva Blimlinger
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schneidern und sammeln Die Wiener Familie Rothberger
Herausgegeben von Christina Gschiel/Ulrike Nimeth/Leonhard Weidinger
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
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Gedruckt mit Unterstützung durch: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur
Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung
Wissenschaftliches Lektorat: Eva Blimlinger, Harald Wendelin Covergestaltung: Leonhard Weidinger
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78414-2 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien . Köln . Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Széchenyi István Nyomda Kft., H-9027-Győr
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Inhaltsverzeichnis 9 11
Editorial Einleitung
Christina Gschiel, Ulrike Nimeth, Leonhard Weidinger 17
Die ersten Jahre der Familie Rothberger in Wien
Leonhard Weidinger 31
Konsumkultur, Warenhaus und Geschlecht im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Monika Bernold 49
Die Familie Rothberger vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938
Ulrike Nimeth, Leonhard Weidinger 61
Moritz Rothberger
Ulrike Nimeth 83
Heinrich Rothberger – der Porzellansammler
Leonhard Weidinger 95
Kunstgeschichtliche Betrachtung repräsentativer Stücke der Porzellansammlung Heinrich Rothberger
Christina Gschiel 117
Europäische Porzellanmanufakturen
Christina Gschiel 141
Porzellan im MAK – von der Aufhebung der „k. k. Aerarial-Porzellanmanufactur“ zur Mustersammlung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie
Rainald Franz, Leonhard Weidinger
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Inhaltsverzeichnis
153
Die Grafiksammlung Heinrich Rothberger – Vorlagen für Porzellane und autonome Grafik
Rainald Franz 157
Carl Julius Rothberger
Monika Löscher 167
Die Familie Rothberger in der NS-Zeit – eine Chronologie
Christina Gschiel, Ulrike Nimeth, Leonhard Weidinger 183
Die „Aktion Gildemeester“ – eine Auswanderungsaktion für Jüdinnen und Juden nichtmosaischen Glaubens im besetzten Österreich
Alexandra-Eileen Wenck 205
Die Entziehung und Aufteilung der Sammlung Heinrich Rothberger in der NS-Zeit
Christina Gschiel, Leonhard Weidinger 225
Rückstellungen nach 1945
Christina Gschiel, Ulrike Nimeth, Leonhard Weidinger 241
Die Anfänge der Provenienzforschung
Julia König 249
Juristische Aspekte der Kunstrückgabe
Julia Jungwirth 273
Rückgaben von Objekten aus den Sammlungen Heinrich und Moritz Rothberger seit 1998
Christina Gschiel, Ulrike Nimeth, Leonhard Weidinger 285
Interview mit der Tochter von Carl Julius und Leopoldine Rothberger
293
Eine Zwischenbilanz?
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Inhaltsverzeichnis
294
Stammbaum der Familie Rothberger in Wien
297
Glossar zu Porzellanen und ihrer Erzeugung
303
Bibliografie
325
Archive
329
Verzeichnis der AutorInnen
332
Bildnachweis CD-ROM (am Buchdeckel)
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Editorial Der vorliegende zweite Band der Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung widmet sich unter dem Titel schneidern und sammeln der Wiener Familie Rothberger, die bis zum „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 das kulturelle und wirtschaftliche Leben Wiens mitprägte. Bereits am Beginn der Recherchen im Rahmen der Kommission für Provenienzforschung im MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst fanden sich Hinweise auf die umfangreiche Porzellansammlung von Heinrich Rothberger, die 1999/2000 zu ersten Dossiers für den Kunstrückgabe-Beirat führten. Die damalige Provenienzforscherin im MAK Julia König schildert ihre Eindrücke von diesen ersten Recherchen. Wenig war damals über die Familie Rothberger bekannt. Einige Zeit später wurden Objekte aus der Sammlung von antiken und prähistorischen Gegenständen, die im Eigentum Moritz Rothbergers, Heinrichs Bruder, gewesen waren, im Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museum entdeckt. Auch in diesem Fall wurde ein Dossier erstellt und dem Kunstrückgabe-Beirat übermittelt. Nach und nach wurden weitere Hinweise und Materialien über den Entzug der Sammlungen, die erzwungenen Emigrationen, die nicht oder nur teilweise erfolgte Rückstellung von Objekten gefunden. Den HerausgeberInnen und AutorInnen dieses Bandes Christina Gschiel, Ulrike Nimeth und Leonhard Weidinger ist es gelungen, dieses in zahlreichen Archiven, Museen und Bibliotheken verstreute Material zu finden, zu sichten und damit ein Bild der Familie zu entwerfen, das zugleich auch einen paradigmatischen Einblick in die Wiener bürgerliche Gesellschaft von der Mitte des 19. bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts erlaubt. Gemeinsam schreiben die HerausgeberInnen über die ersten Jahre der Familie Rothberger in Wien, ihre Erfolge und Vorlieben, über ihr expandierendes und beliebtes Warenhaus am Stephansplatz, ihre Wohnungen und Häuser, über ihr Schicksal während des Nationalsozialismus, die Entziehung und Aufteilung der Sammlung Heinrich Rothberger in der NS-Zeit, über die Rückstellungen nach 1945 und die Rückgaben von Objekten aus den Sammlungen Heinrich und Moritz Rothberger seit 1998. Es sind im Wesentlichen die Männer der Familie Rothberger, über deren Leben, deren Sammelleidenschaft und deren Geschäfte hier erzählt wird. Die Spuren der Frauen sind zum großen Teil verschwunden oder lassen sich kaum finden. Ulrike Nimeth portraitiert Moritz Rothberger, den Sammler von antiken und prähistorischen Gegenständen, Leonhard Weidinger Heinrich Rothberger und seine umfassende Porzellansammlung und Monika Löscher den Mediziner und leiden-
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Editorial
schaftlichen Fotografen Carl Julius Rothberger. Christina Gschiel wirft einen Blick auf repräsentative Stücke aus der Porzellansammlung von Heinrich Rothberger und die Geschichte europäischer Porzellanmanufakturen. Rainald Franz und Leonhard Weidinger widmen ihren Beitrag der Porzellansammlung des MAK und skizzieren die Sammlungsgeschichte von der Aufhebung der k. k. Aerarial-Porzellanmanufactur bis zur Mustersammlung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie. Rainald Franz analysiert die Grafiksammlung Heinrich Rothberger, die neben autonomer Grafik auch Vorlagen für Porzellane beinhaltete. Im Interview, das Christina Gschiel und Leonhard Weidinger mit Bertha, der Tochter von Carl Julius und Leopoldine Rothberger, die heute in den USA lebt, führten, eröffnet sich noch einmal die Welt von damals, Erinnerungen an das Geschäft am Stephansplatz, „besonders an den Eingang, die Doppeltreppe hinauf und die Büste des Gründers, Jacob, und an die großen Auslagen; es erschien mir elegant und hat mir sehr imponiert.“ Ergänzt wird diese umfangreiche, vielfältige Familiengeschichte durch Beiträge, die einzelne Aspekte genauer beleuchten und in allgemeine Bezüge setzen. Monika Bernold erzählt eine Geschichte der Konsumkultur und der Warenhäuser im 19. und frühen 20. Jahrhundert, über Stafa, Gerngross und Herzmansky. Alexandra-Eileen Wenck stellt in ihrem Beitrag die sogenannte Aktion Gildemeester vor, eine Auswanderungsaktion für „Jüdinnen und Juden nichtmosaischen Glaubens“ im besetzten Österreich, an der auch Mitglieder der Familie Rothberger teilnahmen. Julia Jungwirth beleuchtet juristische Aspekte der Kunstrückgabe seit dem Kunstrückgabegesetz 1998. Beigefügt ist dem Band eine CD-ROM, auf der rund 500 Objekte aus den umfangreichen Sammlungen von Moritz und Heinrich Rothberger gezeigt werden. Abschließend wollen wir vor allem den HerausgeberInnen danken, die mit wissenschaftlicher Akribie und Detailgenauigkeit, großem Sachverstand und Engagement diesen Band ermöglicht haben. Wien, im Jänner 2010 Eva Blimlinger und Christoph Bazil
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Einleitung C h r i s t i n a G s c h i e l , U l r i k e N i m e t h , L e o n h a r d We i d i n g e r
Als die Stadt Wien im Jahr 2002 damit konfrontiert wurde, dass die gegenüber des Riesentors des Stephansdoms gelegenen Gebäude Stephansplatz 10 und 11 nach Plänen des Architekten Hans Hollein saniert und aufgestockt werden sollten, war dies für die Wiener FPÖ Anlass zu einiger Aufregung. Der Landtagsabgeordnete der Freiheitlichen Partei Dr. Herbert Madejski forderte eine Überprüfung, ob das Zentrum Wiens durch die Umbauten nicht den Platz auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO verlieren würde. Weiters sprach er sich dafür aus, die gemeinsame architektonische Struktur der Häuser 9, 10 und 11 am Wiener Stephansplatz zu erhalten.1 Was in der Pressemeldung nicht erwähnt worden war: Genau diese noch heute erkennbare Struktur der losen architektonischen Fassaden-Klammer, die die Häuser 9, 10 und 11 verbindet, und die von der Wiener FPÖ für so erhaltenswert erachtet wurde, umreißt die ehemalige Fassade des Warenhauses Jacob Rothberger, das sich bis zu seiner Arisierung in den Jahren 1938/39 an dieser Adresse befunden hatte und wohl den meisten WienerInnen bekannt gewesen war. Das Kaufhaus, in den 1860er Jahren vom gebürtigen Ungarn Jacob Rothberger zunächst als Kleidermagazin gegründet, entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor für Wien und ermöglichte die Etablierung der Familie Rothberger in der Wiener Gesellschaft. Die Söhne Jacob Rothbergers, Alfred, Heinrich, Julius und Moritz, waren in ganz unterschiedlicher Weise – als Sammler, Wissenschafter oder Künstler – Teil dieser Gesellschaft, gerieten allerdings nach 1945 mehr oder weniger in Vergessenheit. Während die Namen anderer Wiener jüdischer Familien auch heute noch präsent sind und das ehemals jüdische Kaufhaus Gerngross – natürlich vor allem wegen seines Weiterbestehens – nach wie vor bekannt ist, ist die Existenz des einstmals so bedeutenden Warenhauses Rothberger und der dahinter stehenden Familie aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden. Unweit des Stephansplatzes, an der Stelle, an der heute das von Alfred Hrdlicka gestaltete Mahnmal gegen Krieg und Faschismus steht und an die Opfer des NS-Regimes er1
http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20020207_OTS0065 (Stand 18.1.2010).
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innert, befindet sich ein weiterer Ort, der mit dem Namen Rothberger verbunden ist. An der städtebaulich wichtigen Stelle neben der Albertina in unmittelbarer Nähe zur Hofburg, stand der Philipphof, ein repräsentatives Miethaus, das ein beredtes Zeugnis des veränderten Selbstbewusstseins des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert darstellte. Bereits ab Mitte der 1880er Jahre hatte die Familie Rothberger dort gewohnt. Bei dem Bombenangriff, der das Haus 1945 zerstörte, kamen auch Carl Julius Rothberger und seine Frau Leopoldine ums Leben. Die Luftlinie über den Ring hinaus weiter verfolgend gelangt man an den nächsten Ort, der mit der Familiengeschichte in Verbindung steht. Nahe der Technischen Universität, in der Margaretenstraße 30, wo sich seit 1971 ein Studentenheim befindet, stand auf einem noch größeren Grundstück ein Gebäude, das Julius und Moritz Rothberger gehörte. Letzterer hatte im hinteren Teil des Hauses ein großzügiges Bildhaueratelier eingerichtet gehabt, das heute, wie das Haus auch, verschwunden ist. An seiner Stelle findet man einen Teil des sogenannten Planquadrat-Gartens, der 1977 auf Bemühungen von ORF-MitarbeiterInnen, AnrainerInnen, PlanerInnen und StadtpolitikerInnen hin als Parkanlage mit großzügigen Grünflächen und Spielplätzen eingerichtet worden war.2 Diese und noch andere Orte sind mit dem Namen Rothberger verbunden. Der vorliegende Band folgt den Spuren, die die Mitglieder der Familie Rothberger hinterlassen haben. Ausgangspunkt für das Interesse an der Familie Rothberger war die Arbeit der Kommission für Provenienzforschung, die seit 1998 die Bestände der Bundesmuseen und -sammlungen in Bezug auf in der NS-Zeit entzogene Objekte überprüft. Im Jahr 2000 empfahl der Kunstrückgabe-Beirat auf Grundlage eines Dossiers von Julia König, der Provenienzforscherin im MAK, dem Österreichischen Museum für angewandte Kunst, erstmals die Rückgabe von Objekten aus der ehemaligen Sammlung Heinrich Rothberger.3 Heinrich Rothberger war, wie sich nun zeigte, ein bedeutender Sammler von Porzellanen gewesen. 2003 befürwortete der Beirat die Rückgabe von antiken Fundgegenständen aus dem ehemaligen Eigentum Moritz Rothbergers, die sich zu dieser Zeit im Kunsthistorischen Museum und Naturhistorischen Museum befanden und Teil einer umfassenden Sammlung von antiken und prähistorischen 2 3
http://de.wikipedia.org/wiki/Planquadrat-Garten (Stand 19.1.2010). Beiratsbeschluss Heinrich Rothberger vom 26.6.2000, Die Beiratsbeschlüsse sind publiziert auf der Website der Kommission für Provenienzforschung: http://www.provenienzforschung.gv.at.
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Gegenständen gewesen waren.4 Tatsächlich ist die Zusammenschau der Fälle von Heinrich und Moritz Rothberger, die sich im Kleinen schon zu einer fragmentarischen und sehr eng fokussierten Familiengeschichte zusammen fügten, bereits als Grundstein für den vorliegenden Band zu sehen. Ein interessanter und für den Beirat wesentlicher Teil der gemeinsamen Entziehungsgeschichte war die Versteigerung der beiden Sammlungen beim Auktionshaus Hans W. Lange in Berlin 1938 bzw. 1939 gewesen. Die MitarbeiterInnen der Kommission konnten belegen, dass diese Auktionen Teil der Beraubungspolitik des NS-Regime gewesen waren. Ausschlaggebend für die Publikation war aber schließlich die von Christina Gschiel verfasste kunstgeschichtliche Diplomarbeit über die ehemalige Sammlung Heinrich Rothberger gewesen, welche sich mit der Person Heinrichs, mit seiner Familien- und der Firmengeschichte des Warenhauses sowie mit der Struktur der Porzellansammlung befasst.5 Da die Arbeit durch ein Praktikum beim Provenienzforscher im MAK, Leonhard Weidinger, angeregt worden war, war sie a priori nahe am Interessensfeld der Kommission angesiedelt. Die aufwendig recherchierte Diplomarbeit zum zweiten Band der Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung auszuweiten, wurde von Leonhard Weidinger initiiert. Ulrike Nimeth aus dem Büro der Kommission, die im Jahr 2003 die Recherchen zu Moritz Rothberger durchgeführt hatte, konnte als Mitherausgeberin und Autorin gewonnen werden. Während die Artikel der HerausgeberInnen die Familiengeschichte und die Entwicklung der Sammlungen und Sammlungsinteressen in den Blick nehmen, stellen die Beiträge von Monika Bernold, Rainald Franz, Julia Jungwirth, Julia König, Monika Löscher und Alexandra-Eileen Wenck jeweils vertiefende Exkurse zu Themenbereichen dar, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise sowohl direkt als auch indirekt mit der Familie Rothberger in Zusammenhang stehen. An dieser Stelle sei diesen KollegInnen ganz herzlich für ihre engagierte Mitarbeit gedankt, die die Vielfalt dieses Buches erst ermöglichte. Der Name der Familie Rothberger taucht in der einschlägigen Literatur nur selten auf. Als Beiträge, die schon in der ersten Annäherung an das Thema greifbar sind, ist zum einen der Artikel zum „Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger“ von Edith Hann im Buch „Wiener Warenhäuser 1865–1914“ zu nennen,6 zum anderen die 4 5 6
Beiratsbeschluss Moritz Rothberger vom 20.11.2003. Christina GSCHIEL, Sammlung Heinrich Rothberger aus Sicht der Restitution, Diplomarbeit, Graz 2008. Edith HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, in: Andreas LEHNE, Wiener Warenhäuser 1865–1914. Mit Beiträgen von Gerhard MEIßL und Edith HANN, Wien 1990, S. 85–120.
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jeweiligen Beiträge zu Heinrich und zu Moritz Rothberger im Buch „Was einmal war ...“ von Sophie Lillie.7 Edith Hanns Artikel von 1990 ist unter anderem deswegen verdienstvoll, weil er zahlreiche Quellen anführt. Deren Auswertung und Interpretation erfolgte allerdings vielfach so, dass eine nochmalige Überprüfung und Durchsicht unumgänglich war. Sophie Lillie, die sich in ihrem umfangreichen „Handbuch“ vielfach auf die Ergebnisse der Kommission für Provenienzforschung beziehen konnte – was die beträchtliche Leistung der Autorin keinesfalls schmälern soll –, bleibt schon aus platzökonomischen Gründen in ihren Beiträgen summarisch. Ihre Texte wurden wie auch der Artikel von Hann zur Abgleichung heran gezogen. Als Quellen wurden Meldedaten, Adressbücher, Akten und anderes Archivmaterial im Österreichischen Staatsarchiv, im Wiener Stadt- und Landesarchiv, in den Archiven des MAK und der Albertina und im Archiv des Bundesdenkmalamtes heran gezogen, des weiteren zahlreiche Publikationen, die aus wechselnder Perspektive und mit unterschiedlichen Fragestellungen recherchiert wurden. So spiegelt sich in der Bibliographie dieses Bandes die Interdisziplinarität aus Zeitgeschichte, Kunstgeschichte und Rechtswissenschaften wider, ohne die Provenienzforschung nicht möglich wäre. Rund zwanzig Objekte der Sammlung Heinrich Rothberger befinden sich nach verzweigten Wegen über Auktionshäuser, Kunsthandlungen und PrivatsammlerInnen heute im Metropolitan Museum of Art in New York. Diesen oft heterogenen Geschichten der Objekte vor Ort nachzugehen, wurde durch eine USA-Reise von Christina Gschiel und Leonhard Weidinger im September 2009 möglich. Hauptziel dieser Reise war es aber, die Tochter von Carl Julius und Leopoldine Rothberger und Nichte von Moritz, Heinrich und Ella Rothberger zu treffen. In Wien geboren, war sie im Kreis der großbürgerlichen Familie aufgewachsen und hatte hier NS-Zeit und Krieg erlebt. Sie spielte eine ganz besondere Rolle im Entstehungsprozess dieses Bandes. Der Kontakt mit ihr begann mit den ersten Rückgaben von Objekten aus dem MAK und vertiefte sich in den folgenden Jahren. Von ihrer Bereitschaft, ihr Wissen, ihre familiären Quellen und nicht zuletzt ihre Zeit und Energie zu teilen, haben schon die Diplomarbeit von Christina Gschiel und die Ausstellung Recollecting. Raub und Restitution, die 2008/09 im MAK stattfand, profitiert. Für ihre Gastfreundschaft, für ihre Offenheit und ihr Interesse sei ihr, ihrer Tochter und der übrigen Familie aufs Herzlichste gedankt. Wesentliche Teile des Buches, nicht zuletzt diejenigen, die dem Bild von der Familie am meisten Farbe verleihen, wären ohne sie nicht zustande gekommen. 7
Sophie LILLIE, Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Wien 2003, S. 990–997 und S. 998–1000.
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Einleitung
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Die Struktur und die Schwerpunkte des Buches tragen seinem Entstehungsprozess Rechnung. Das meint nicht nur, dass die Schwerpunkte je nach Ergiebigkeit des Quellenmaterials gelegt wurden und werden mussten, sondern bedeutet auch Folgendes: Die Entziehungsgeschichte stellt – ausgehend von den Forschungen der Kommission für Provenienzforschung – das Kernthema des Buches dar. Als Gegenstand der Entziehung waren wiederum die Sammlungen und das Sammlungsinteresse der Familienmitglieder von primärem Interesse. Heinrich und Moritz Rothberger, die beiden Sammler der Familie, waren damit mehr oder weniger von selbst in den Mittelpunkt gerückt. Heinrich Rothberger selbst blieb auch nach Abschluss der Recherchen als gesellschaftlicher und privater Mensch nur wenig fassbar, allerdings sind die Spuren seiner Sammlung beeindruckend. Moritz hingegen, über dessen Sammlung wir nur wenige Details kennen, wurde als Person sehr lebendig. Nicht zuletzt als außerordentliches Mitglied des Wiener Künstlerhauses und Mitbegründer des ersten Rotary-Klubs in Wien war er offenbar reger Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben in Wien. Julius Rothberger, dem als renommiertem Mediziner ein Artikel über dessen berufliche Leistungen gewidmet ist, ist wiederum nicht als expliziter Sammler bekannt. Allerdings war er passionierter und auch einigermaßen anerkannter Fotograf. Vermutlich war es auch er, der die bis heute erhaltenen Fotografien des großbürgerlichen Interieurs in der Wohnung am Stephansplatz mit der Wiedergabe von Teilen der Sammlung Heinrich Rothberger anfertigte. Folglich ist also auch er Teil der Sammlungsgeschichte und -geschichten. Anfangs war nicht damit zu rechnen, dass das Familienbild derart facettenreich ausfallen würde. Allein mit der Firmengeschichte, die fast 90 Jahre vor dem „Anschluss“ Österreichs einsetzt, kann ein repräsentatives Beispiel einer zunächst patriarchal strukturierten Erfolgsgeschichte einer assimilierten jüdischen Familie mit Migrationshintergrund gezeigt werden. Die Geschichte der gesellschaftlich etablierten Söhne spannt ein Netz über den Themenbereich des Sammelns, im Speziellen des Sammelns von Porzellanen und antiken Fundstücken, über die Geschichte der Wiener Schule der Medizin und des Wiener Künstlerhauses. Um die Sammlungen von Moritz und Heinrich Rothberger, soweit heute rekonstruierbar, umfassend darstellen zu können, entschieden sich die HerausgeberInnen, eine interaktive Präsentation auf CD-ROM zu produzieren und dem Band beizulegen. Dieses Medium ermöglicht es, auf die einzelnen Objekte einzugehen und sie insbesondere ausführlich zu bebildern. Mit historischen und aktuellen Beschreibungen
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und Abbildungen sowie Texten zur Objektgeschichte werden über 180 Porzellane und neun Grafiken bzw. Aquarelle aus der Sammlung Heinrich Rothberger und rund 300 prähistorische und antike Objekte aus der Sammlung Moritz Rothberger vorgestellt. Abschließend möchten wir uns ganz herzlich bedanken bei: Wladimir Aichelburg, Henry Arnhold, Kjell Berg, Alfred Bernhard-Walcher, Reinhard Buchberger, Hermine Carbo, Emma Darbyshire, Aileen Dawson, Max Doppelbauer,Wolf-Erich Eckstein, Peter Eppel, Katharina Fischbach, Ferdinand Gutschi, Ingrid Kastel, Deborah Kempe, Beatrix Kriller-Erdrich, Claudia Lehner-Jobst, Jan Limpens, Sabine Loitfellner, Regina Luxbacher, Heinrich Marchetti-Venier, Suzannah Massen, Thomas Matyk, Iris Meder, Jeffrey Munger, Natalie Musser, Waltraud Neuwirth, Rikard Nordström, Eva Orosz, Claudia Österreicher, Martin Peche, Sabine Petraschek, Romhányi Balázs, Bernadette Reinhold, Inge Reist, Beba Restelli, René Schober, Johannes Seidl, Rudolf Strasser, Elisabeth Sturm-Bednarczyk, Melinda und Paul Sullivan, Rita Tezzele, Susanne Uslu-Pauer, Harald Wendelin, Elfriede Wiener, Julie Zeftel.
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Die ersten Jahre der Familie Rothberger in Wien L e o n h a r d We i d i n g e r
Quellen wie Melderegister und Matriken helfen HistorikerInnen, die Eckdaten eines Lebens, wie Geburt-, Heirats- und Todesdatum, aber auch einen Wechsel des Wohnsitzes oder der Religion, festzustellen. Stand eine Person allerdings im „Licht der Öffentlichkeit“ – und davon kann bei Jacob Rothberger als Herrenschneider und Eigentümer eines großen Wiener Warenhauses1 wohl ausgegangen werden –, scheint die Annahme begründet, dass sich Berichte zu dieser Person auch in Zeitungsmeldungen, Almanachen und ähnlichen Texten finden. Für Jacob Rothberger trifft diese Annahme kaum zu. Wenn sein Name in zeitgenössischen Berichten auftauchte, dann galt das Interesse nicht seiner Person oder gar seinem Privatleben, sondern fast ausschließlich seinem Unternehmen, dem Kleidermagazin und späteren Warenhaus am Stephansplatz. Erst nachdem Jacob Rothberger am 30. März 1899 nach kurzer Krankheit im 74. Lebensjahr verstorben war, stand er als Person im medialen Fokus. Die meisten Wiener Zeitungen2 widmeten ihm einen Nachruf und schrieben über sein Leben und seine Verdienste. Auch wenn davon auszugehen ist, dass aus Gründen der Pietät die positiven Seiten Jacob Rothbergers betont wurden, ist es doch auffällig, dass sich die Texte in zwei Punkten gleichen: zum einen die nahezu einheitliche Charakterisierung eines Vaters von acht Kindern, der sich aus einfachsten Verhältnissen zum Unternehmer und k. & k. Hoflieferanten hinaufgearbeitet hatte, zum anderen die ähnlich ausgewählten Stationen seines Lebens: in den 1840er Jahren nach einem Aufenthalt in Paris nach Wien gekommen, Eröffnung eines Schneiderladens am Stephansplatz, in dem Jacob 1
2
Die wichtigste Publikation zu Jacob Rothberger und dem von ihm gegründeten Kleidermagazin ist ein Aufsatz von Edith Hann aus dem Jahr 1990. Hann beschreibt in ihrer Fallstudie die Geschichte des Unternehmens von der Mitte des 19. Jh. bis zu seiner Arisierung 1938 und der Zerstörung des Warenhauses im April 1945. Sie setzt sich mit dem Warenhaus, seinem Angebot, seiner wirtschaftlichen Entwicklung, den Produktionsverhältnissen und der sozialen Lage der für das Warenhaus Arbeitenden auseinander, wobei einige Darstellungen fehlerhaft bzw. mangels eindeutiger Quellenbelege nicht nachvollziehbar sind. Edith HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, in: Andreas LEHNE, Wiener Warenhäuser 1865–1914. Mit Beiträgen von Gerhard MEIßL und Edith HANN, Wien 1990, S. 85–120. Eingesehen wurden: Illustrirtes Wiener Extrablatt, 31.3.1899, S. 3; Neue Freie Presse, 31.3.1899, S. 7; Neues Wiener Tagblatt, 30.3.1899, S. 5; Wiener Zeitung, 30.3.1899, S. 5.
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Leonhard Weidinger
Rothberger Konfektionskleider verkaufte, und Ausbau dieses Geschäfts zum Warenhaus. Jacob Rothberger hatte offenbar nur für seine Firma und für seine Familie gelebt, aber auch die gesamte Familie ihrerseits lebte für die Firma bzw. sollte nach den Vorstellungen des Vaters für die Firma leben – doch dazu später.
Jacob Rothbergers Ankunft in Wien Jacob Rothberger wurde am 9. Dezember 1825 in Alberti Irsa, Ungarn geboren.3 Während Alberti nur einen kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil aufwies, lebten im Nachbardorf Irsa, dessen jüdische Glaubensgemeinde bereits 1783 erwähnt worden war, in den 1840er Jahren bereits mehr als 400 Jüdinnen und Juden.4 Auch wenn noch heute der dörfliche Charakter des Ortes betont wird,5 lag Alberti Irsa in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus nicht abseits der gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklungen, schon allein aufgrund seiner Nähe zu Pest, das seit 1723 Sitz der administrativen Verwaltung des Königreichs Ungarn war. Zudem war mit der Eröffnung der Strecke von Pest nach Szolnok am 1. September 1847 Alberti Irsa an das Eisenbahnnetz des damaligen österreichischen Kaiserreichs angebunden. Über Jacob Rothbergers Eltern, über seine Kindheit und Jugend, seine Schulund frühe Berufsausbildung ist nichts bekannt, ebenso wenig, wann er Alberti Irsa verließ, ob bzw. wann er nach Paris kam, wie lange er dort blieb und wie seine Schneiderlehre verlief. Das revolutionäre Klima im Europa der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte er aber sicher. 1848 hatte die Februarrevolution in Frankreich den 1830 als Bürgerkönig angetretenen Louis Philippe gestürzt und europaweit Erhebungen gegen die restaurativen Regime ausgelöst, so auch in Wien. In Jacob Rothbergers ungarischer Heimat hatte Lajos Kossuth am 3. März 1848 die Umwandlung des Kaiserreichs Österreich in eine konstitutionelle Monarchie und Verfassungen für die einzelnen Länder gefordert. Im Lauf des Jahres 1848 spitzte sich der Konflikt der ungarischen Revolutionäre mit der habsburgischen Zentralmacht, aber auch mit anderen Volksgruppen, zu. Nach der Niederschlagung des Aufstands in Wien 3 4
5
Sämtliche Lebensdaten zu den Mitgliedern der Familie Rothberger so nicht anders angegeben laut Aufstellung von Wolf-Erich Eckstein / Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. GERÖ László (Red.), Magyarországi zsinagógák [Synagogen Ungarns], Budapest 1989, S. 158–160. Wie groß die Gesamtbevölkerung von Alberti und Irsa war, wird nicht erwähnt. Zum ungarischen Judentum siehe: Raphael PATAI, The Jews of Hungary. History, Culture, Psychology, Detroit 1996. http://en.wikipedia.org/wiki/Albertirsa (Stand 20.7.2009).
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durch österreichische und kroatische Militärverbände am 31. Oktober 1848 trat am 2. Dezember 1848 Kaiser Ferdinand I. zugunsten seines Neffen Franz Joseph zurück. Die ungarische Regierung aber verweigerte Franz Joseph die ungarische Königskrone und stellte sich damit gegen den Herrschaftsanspruch des Hauses Habsburg. Den Versuch Franz Josephs, Ungarn im März 1849 eine Verfassung in seinem Sinne aufzuzwingen, beantwortete Kossuth am 14. April 1849 mit der Ausrufung der Unabhängigkeit Ungarns. Konnte sich die ungarische Revolutionsarmee vorerst noch gegen die österreichischen Truppen behaupten, setzten sich diese schließlich mit Hilfe von kroatischen und russischen Verbänden durch. Im Oktober 1849 war auch die ungarische Revolution endgültig zerschlagen.6
Dieses Gemälde galt und gilt in der Familie als Jugendbildnis Jacob Rothbergers. Eindeutig belegt ist dies nicht. Das Bild ist signiert mit „Moritz Adler 1848“. Moritz Adler geboren 1826 in Altofen, ungarisch Óbuda, begann seine Ausbildung zum Maler 1842 in Wien und setzte sie in München und ab 1846 in Paris fort. Von 1848 bis zu seinem Tod 1902 lebte er in Budapest.6 Dass sich Moritz Adler und Jacob Rothberger kannten und der junge Maler den um ein halbes Jahr älteren Schneider entweder in Paris oder in Ungarn portraitierte, ist nicht unwahrscheinlich.
Wenn auch die politischen Ziele nicht erreicht worden waren, gesellschaftlich und vor allem wirtschaftlich hatten die europäischen Revolutionen eine neue Epoche eingeleitet. Mit Verspätung setzte nun auch in der Habsburgermonarchie die Industrialisierung ein. Der Staat schuf für die Modernisierung der Produktions- und Vertriebsbedingungen durch die Einrichtung des Handelsministeriums 1848 und der Handels- und Gewerbekammern 1849 neue Rahmenbedingungen. Mit dem kaiserlichen Patent vom 20. Dezember 18597 wurde schließlich eine neue Gewerbe6
7
Ulrich THIEME, Felix BECKER (Hg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Unveränderter Nachdruck der Originalausgaben Leipzig 1907 und 1908, MünchenLeipzig 1992, Bd. 1, S. 85f. RGBl 1859/227, in Kraft getreten am 1.5.1860.
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ordnung eingeführt, die das bisher regional geregelte Gewerberecht vereinheitlichte – ein weiterer wesentlicher Schritt zur Beseitigung des Zunftwesens und in Richtung einer wirtschaftlichen Liberalisierung.8 Wien als Haupt- und Residenzstadt wuchs laufend, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Zahl der EinwohnerInnen um zirka 85.000 Menschen zugenommen und betrug rund 417.000 im Jahr 1848.9 In den folgenden Jahrzehnten wuchs Wien durch die Vereinigung mit den 34 Vorstädten innerhalb des Linienwalls 1850 und der Eingemeindung der Vororte 1892. Es änderte sich auch die soziale Zusammensetzung der Wiener Bevölkerung, Gruppen, die im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben der Stadt bisher benachteiligt waren, wie die Jüdinnen und Juden, strebten nach Verbesserung ihrer Situation. 1838 lebten nach offizieller Zählung in der Stadt 2010 Jüdinnen und Juden, zehn Jahre später waren es 4000, also doppelt so viele.10 Ein großer Teil der jüdischen ImmigrantInnen stammte aus Ungarn, u. a. weil es in Westungarn große jüdische Gemeinden, wie jene in Pressburg und Eisenstadt, gab. Wahrscheinlich kam Jacob Rothberger gegen Ende der 1840er Jahre nach Wien.11 Anfang der 1850er Jahre war sein Gesuch um Zulassung eines Schneidergewerbes noch abgewiesen worden und er kam wegen „Störerei“, der Ausübung einesHandwerks ohne Gewerbeberechtigung, mit den Behörden in Konflikt. Dann arbeitete Jacob Rothberger hintereinander bei zwei Schneidermeistern als Gesellschafter und Geschäftsführer, bevor er im November 1855 erneut um die Gewerbeberechtigung als Schneider für die Innere Stadt ansuchte, die er am 20. Jänner 1856 erhielt.12 Wahrscheinlich noch 185513 eröffnete er sein erstes Kleidermagazin. 8
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Siehe dazu u. a. Günther CHALOUPEK, Peter EIGNER, Michael WAGNER, Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938. Teil 1: Industrie (= Geschichte der Stadt Wien, Bd. IV), Wien 1991, S. 370–377; Roman SANDGRUBER, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Österreichische Geschichte, Bd. 10), Wien 1995, 256f. Akos LÖW, Die soziale Zusammensetzung der Wiener Juden nach den Trauungs- und Geburtsmatrikeln 1784–1848. Dissertation, Wien 1951, S. 161–163. LÖW, Die soziale Zusammensetzung der Wiener Juden, S. 163. Wann Jacob Rothberger nach Wien kam, konnte nicht eruiert werden. In den Nachrufen nach seinem Tod 1899 werden meist die 1840er Jahre genannt. Die bei Hann angeführte Jahreszahl 1853 für Jacob Rothbergers Ankunft in Wien ist nicht belegt. HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 85. Im Protokoll zum Gesuch um ein Schneidergewerbe werden sowohl die fachlichen Qualifikationen als auch der einwandfreie Lebenswandel Jacob Rothbergers betont, der nach der Beanstandung wegen Störerei nun keinen Grund zur Beschwerde mehr gebe. WStLA, Gewerbeakten A51a, Ass. Nr. 16.622. Die bei Hann abgedruckte Anzeige zum 50-Jahr-Jubiläum nennt 1855 als Gründungsjahr. HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 99 = Neues Wiener Tagblatt, Nr. 138, 20.5.1905, S. 21.
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Bei seinem Aufenthalt in Paris hatte er offenbar auch die Kleidermagazine kennengelernt, die die wachsende Bevölkerung der französischen Hauptstadt mit vorgefertigten Kleidungsstücken versorgten. In Wien versuchte Jacob Rothberger sich als Herrenschneider zu etablieren, übernahm aber auch das Pariser System und bot Konfektionsware an. Kurz zuvor, am 5. Mai 1855, hatte Jacob Rothberger die 1829 geborene Rosalia Welisch geheiratet, die wie er aus Ungarn stammte.14 Am 24. April 1856 – die Familie wohnte zu dieser Zeit in Wien, Landstraße 515 – brachte Rosalia Rothberger die erste Tochter, Caroline, zur Welt. Nachdem das nächste Kind, ein am 17. August 1857 geborener Sohn, mit nur sieben Monaten gestorben war, folgten drei Töchter: Bertha, geboren am 5. März 1858, Ida, geboren am 3. August 1860 und Eugenie, genannt Jenny, geboren am 25. Juli 1862.
Das Kleidermagazin am Stephansplatz Nachdem Jacob Rothberger seit 1858 seinen Betrieb in der Mansarde des Hauses Schlossergasse 9 in der Inneren Stadt untergebracht hatte,16 übersiedelte er im Jahr 1861 mit seinem Geschäft an die prominente Adresse am Stephansplatz Nr. 9, vorerst in den dritten Stock, wo er seine innovative Idee der „Kleiderschwemme“ verwirklichte. Jacob Rothberger ermöglichte es seinen KundInnen, alte Kleider zurückzugeben und dafür neue Waren zu vergünstigten Preisen zu erwerben. Die abgegebenen alten Kleider wurden in seinem Betrieb abgeändert oder modernisiert und anschließend weiterverkauft. Die eigentlichen Schneiderarbeiten wurden nicht 14 Rosa Welisch wurde in Alt-Ofen, ungarisch Óbuda, geboren. Heute liegt Óbuda im dritten Bezirk der ungarischen Hauptstadt Budapest. Ob sich Rosa Welisch und Jacob Rothberger in Ungarn kennengelernt hatten, ist nicht bekannt. 15 Mit Landstraße 5 ist das Haus Landstraßer Hauptstraße Nr. 9 = Gärtnergasse 34 gemeint. Der Bezirksteil gehört zum 1850 eingemeindeten 3. Wiener Gemeindebezirk und bezeichnete ursprünglich die von der Stadt Wien auswärts in Richtung Ungarn führende Land- und Heeresstraße. Speziell in der sehr nahe gelegenen Ungargasse hatten lange Zeit ungarische Kaufleute gewohnt (INSTITUT FÜR ÖSTERREICHISCHE KUNSTFORSCHUNG des Bundesdenkmalamtes (Hg.), Österreichische Kunsttopographie. Band XLIV. Die Kunstdenkmäler Wiens. Die Profanbauten des III., IV. und V. Bezirkes, Wien 1980, S. 163) – die Landstraße 5 scheint durchaus passend als erste Adresse der Familie Rothberger in Wien zu sein. 16 HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 87, Fußnote 17; Adolph LEHMANN (Red.), Allgemeines Adreß-Buch nebst Geschäfts-Handbuch für die k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien und dessen Umgebung. 1. Jg., Wien 1859, S. 668. Die Schlossergasse verlief vom Graben zur Goldschmiedgasse und verschwand 1866 im Zuge der Regulierung des Viertels um den Stock-im-Eisen-Platz. Siehe Felix CZEIKE, Historisches Lexikon Wien, Bd. 5, Wien 1997, S. 101f.
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von Angestellten vorgenommen, sondern von sogenannten StückmeisterInnen. Die StückmeisterInnen oder ZwischenmeisterInnen waren nicht bei der Firma Rothberger angestellt, sondern waren Selbständige mit einer eigenen Gewerbeberechtigung und beschäftigten selbst meist zwei oder drei ArbeiterInnen, waren aber de facto von ihrem Auftraggeber abhängig.17 Das kaufmännische Geschick und der geschäftliche Weitblick Jacob Rothbergers führten zu einer raschen Expansion des Kleidermagazins, das bald auch die ersten zwei Stockwerke des Hauses belegte. Jacob Rothbergers Idee fand Nachahmer: Im Branchenverzeichnis des Allgemeinen Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und Umgebung für das Jahr 1864 schien erstmals die Rubrik „Kleider-Magazin f. Herren“ auf und dies bereits mit Einträgen zu 19 Betrieben.18 Dass Jacob Rothbergers Geschäft florierte, zeigte sich auch darin, dass er im Jahr 1863 ein Sommerhaus in Neuwaldegg, einem Vorort im Wienerwald, kaufen konnte.19 Die Familie Rothberger wohnte mittlerweile ebenfalls im Haus Stephansplatz 9, und sie wuchs weiter: Am 6. September 1863 wurde Berthold geboren, am 24. Dezember 1865 Moritz,20 am 1. Februar 1867 Emma, am 13. September 1868 Heinrich, am 24. Oktober 1869 Helene, am 14. Oktober 1871 Carl Julius, der oft nur Julius genannt wurde, und am 24. Oktober 1873 Alfred. Aber auch Schicksalsschläge trafen die Familie: 1869 starb Berthold mit nicht ganz sechs Jahren, 1874 Helene mit viereinhalb Jahren und 1886 Emma mit 19 Jahren.21 Innovatives Geschäftskonzept und Engagement brachten dem Kleidermagazin Jacob Rothberger nicht nur wirtschaftliche Erfolge, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung. Jacob Rothberger wurde u. a. auf den Weltausstellungen 1862 in London und 1867 in Paris ausgezeichnet. 1867 suchte er gemeinsam mit Heinrich Lichtner, einem Leinenfabrikanten, und Anna Schadlbauer, der Besitzerin der Nürnbergerwarenhandlung22 Leopold Schadlbauer, erfolgreich um den Titel eines „Hoflieferanten“ an.23 17 HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 100. 18 Adolph LEHMANN, Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und Umgebung. 4. Jg., Wien 1864, S. 553. 19 HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 94, Fußnote 50. 20 Zu diesem Namen finden sich in den Quellen zwei Schreibweisen: „Moritz“ bzw. „Moriz“. Die HerausgeberInnen dieses Bandes haben sich für die durchgängige Schreibweise „Moritz“ entschieden. 21 Die Todesursachen konnten nicht eruiert werden. 22 Nürnberger Waren waren kleine Figuren aus verschiedenen Materialien, meist als Spielwaren genutzt, die in Nürnberg erzeugt wurden. 23 Vgl. HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 94; Catharina CHRIST, Jüdische k. und k. Hoflieferanten in der Textilbranche mit Niederlassung in Wien in der Zeit von 1870 bis 1938, Diplom
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Nach langen Jahren des Wirtschaftswachstums, der sogenannten Gründerzeit, brachte die Wirtschaftskrise von 1873 einen Einbruch, von dem sich die Weltwirtschaft nur langsam erholte. Die folgenden Jahre der „Großen Depression“ konnten allerdings der bereits fest etablierten Firma Rothberger kaum etwas anhaben. Mit ihren zwei Standbeinen – der Kleiderschwemme und dem gehobenen Herrenkleidersegment – verfügte sie über eine breite ökonomische Basis und war nur wenig von Importen abhängig. Die Firma expandierte auch weiterhin. Als Filialen für sein Kleidermagazin übernahm Jacob Rothberger u. a. zwei Wiener Geschäftslokale von Adolf Welisch,24 eines im Februar 1876 in der Mariahilferstraße, das zweite im Juli 1880 in der Wiedner Hauptstraße. Auch in Prag und in Budapest hatte Jacob Rothberger mittlerweile Filialen gegründet,25 zum Jahreswechsel 1880/81 wurde in Prag eine neue Filiale eröffnet.26
Die Errichtung des Warenhauses Jacob Rothberger Um halb zwölf Uhr Mittag am 13. August 1881 stürzte das Haus Stock-im-EisenPlatz Nr. 2 an der Ecke zur Singerstraße ein. Das Unglück forderte ein Todesopfer, zwei Personen wurden schwer, zwei leicht verwundet.27 Das Medienecho auf dieses Ereignis war wenig überraschend ein großes, lag doch die Einsturzstelle nur wenige Meter vom Stephansdom entfernt, und damit auch in der Nähe des Kleidermagazins Jacob Rothberger am Stephansplatz Nr. 9. Nach dem Abbruch der Basteien, die als Wehranlagen das Wiener Stadtzentrum umschlossen hatten, war in den frühen 1880er Jahren die Errichtung der Ringstraßenbauten im Gange bzw. zum Teil bereits abgeschlossen. Auch zahlreiche andere Häuser in Wien wurden abgetragen und neu gebaut.28 Die dem Stephansdom zugewandte Barockfassade des Rothberger-Hauses wies keinerlei offensichtliche Schäden
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arbeit, Wien 2000, S. 56. Das Geschäft von Anna Schadlbauer war im Haus Stephansplatz 9 untergebracht, von dem ihr zum Zeitpunkt der Antragstellung angeblich ein Drittel gehörte. Ob es sich hier um einen Verwandten von Rosalia Rothberger handelte, konnte nicht geklärt werden. Neues Wiener Tagblatt, 20.10.1872, S. 15, abgedruckt bei HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 95. WStLA, Gewerbeakten A51a, Ass. Nr. 16.622. Illustrirtes Wiener Extrablatt, 14.8.1881, S. 2. Zeitungen berichteten häufig über den Abriss von Gebäuden im Wiener Zentrum, z. B. Illustrirtes Wiener Extrablatt im Frühjahr 1886 über das St. Annengebäude, die Reste des alten Schottentors, das sogenannte „Rothe Apfel“-Haus am Franz-Joseph-Quai etc., aber auch über eine Mühle in Hietzing, die angeblich von ihrem Eigentümer in Brand gesteckt wurde.
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Rudolf von Alt, Stephansplatz und Geschäft Rothberger, Aquarell, 32 x 43 cm, 1879, signiert „R. Alt“. Bis 1940 in der Sammlung Heinrich Rothberger, derzeitiger Verbleib unbekannt.
auf, allerdings dürfte der an der Jasomirgottstraße gelegene Gebäudetrakt relativ desolat gewesen sein.29 Die Gemeinde Wien versuchte Jacob Rothberger zum Abriss und Neubau des Gebäudekomplexes zu drängen, der wiederum mit den Bedingungen seitens der Gemeinde nicht einverstanden war. Die Angelegenheit mündete schließlich in einen langwierigen Rechtsstreit,30 und so sollten noch einige Jahre bis zum Baubeginn vergehen.31 Bereits 1880 war der Umbau des Hauses Stephansplatz 10 zum Warenhaus A. Kranner abgeschlossen worden. Entworfen hatte diesen Bau das Architekturbüro Fellner & Helmer.32 Ferdinand Fellner und Hermann Helmer hatten 1873 ihr ge29 Zeichnung des an der Jasomirgottstraße gelegenen Teils des Rothberger-Hauses siehe: Illustrirtes Wiener Extrablatt, Nr. 227, 19.8.1881, S. 1. 30 Illustrirtes Wiener Extrablatt, 19.8.1881, S. 1. 31 HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 90. 32 F. LEONHARD, Warenhäuser, in: Paul KORTZ (Red.), Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts. Ein Führer in technischer und künstlerischer Richtung. Wien 1906, S. 361–369, hier S. 365.
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meinsames Büro gegründet und sich mit Theaterbauten, Schlössern, Wohn- und Geschäftsgebäuden etabliert. Unter anderem hatten sie bereits die Sternwarte in Wien (1874–1880) und das Theater in Varaždin (1870–1883) geplant und errichtet.33 Diese beiden Architekten beauftragte Jacob Rothberger nun mit dem Umbau seines Kleidermagazins zum Warenhaus. Wie schon beim Haus Nr. 10 in Ansätzen ausgeführt, wurde beim Haus Nr. 9 der Fassade eine über die gesamten unteren drei Etagen reichende Glaswand vorgestellt. Dieses Gestaltungselement, das im Warenhaus Rothberger zum ersten Mal in Wien umgesetzt worden war, wurde um die Jahrhundertwende „Portal“ genannt und ermöglichte die Nutzung der gesamten Gebäudefront als Schaufenster. Für Wien war dies eine Neuheit, die sich gerade im Vergleich mit den in der Nähe gelegenen Warenhäusern zeigte, dem der Teppichhandlung Ph. Haas & Söhne an der Ecke Graben, Stock-im-Eisen und Stephansplatz, erbaut 1865–1867, und jenem der Firma Ernst Wahliss in der Kärntnerstraße 17, errichtet 1878–1879.34 Um sein Geschäft nur möglichst kurz schließen zu müssen, zog Jacob Rothberger mit seinem Kleidermagazin für die Zeit des Umbaus in das Haus Stephansplatz Nr. 8. Für den Rücktransport der Kleider wurde auf der Höhe des ersten Stockwerks eine auf allen Seiten geschlossene Holzbrücke über die Jasomirgottstraße errichtet, um unabhängig von Witterung und Verkehr arbeiten zu können.35
Unter dem Titel „Die RothbergerBrücke am Stephansplatze“ zeigte das Illustrirte Wiener Extrablatt in seiner Abend-Ausgabe vom 25. Februar 1886 auf dem Titelblatt die Verbindungsbrücke zwischen den Häusern Stephansplatz 8 und 9.
33 Günter MEIßNER (Hg.), Saur. Allgemeines Künstler-Lexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. 38, München-Leipzig 2003, S. 107f. 34 LEONHARD, Warenhäuser, S. 364f. 35 Beschreibung und Zeichnung siehe: Illustrirtes Wiener Extrablatt, Abend-Ausgabe, 25.2.1886, S. 1.
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Bevor das neue Warenhaus eröffnet wurde, veranstaltete Jacob Rothberger – wohl auch in Hinblick auf möglichst große öffentliche Wirksamkeit – am Samstagabend davor eine sogenannte Probebeleuchtung der Räume. Für die zahlreichen Schaulustigen war auf diese Weise bereits von außen erkennbar, wie prachtvoll das Interieur gestaltet war. Auch die Vertreter der Presse waren vorab informiert und offenbar bereits durch das Warenhaus geführt worden. So berichteten die Zeitungen schon vor der eigentlichen Eröffnung am Montag, dem 8. März 1886, und wurden damit zu Werbeträgern für Jacob Rothbergers Firma: Eine luftige, schwungvoll geführte Freitreppe verbindet zwei Souterrains mit drei Stockwerken. Das Parterre, das Mezzanin, der erste Stock und das Souterrain dienen als Verkaufshalle, der zweite Stock als Schneiderei, während der zweite Keller als Maschinenraum für die Heiz- und Beleuchtungsanlage verwendet wird. Die zwei Stock hohe Verkaufshalle mit ihren Loggien wird Abends von 380 elektrischen Glühlampen taghell erleuchtet.36
Auch wenn sich die Räume des Warenhauses prachtvoll und nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet präsentierten: Jacob Rothberger blieb seinem Geschäftsmodell treu. Nach wie vor gab es im Souterrain die populäre „Kleiderschwemme“, darüber befanden sich in zwei Etagen die Verkaufsräume, in denen die Kundschaft eine Vielzahl an Produkten in allen Preisklassen vorfand: Reise-, Jagdund Stadtkleidung, Herrenpelze sowohl für die Stadt als auch für die Reise, Fracks und Gehröcke, Livreen, Kamelhaarschlafröcke, Turneranzüge, Knabenbekleidung sowie Priesterröcke. Das breite Angebot und auch die Öffnungszeiten des Warenhauses Rothberger und der im Gebäudekomplex eingemieteten Firmen Riedel & Beutel, einem Wäschegeschäft, sowie dem Süßwarengeschäft Victor Schmidt & Söhne durchgehend von 7 bis 24 Uhr machten das Haus am Stephansplatz zu einem Symbol für die aufstrebende Weltstadt Wien.37 Im Zuge der Umbauten am Stephansplatz wechselte die Familie Rothberger auch ihre Wohnung und zog in den Philipphof um, ein von Architekt Karl König geplantes und 1883/84 errichtetes Gebäude zwischen Augustinerstraße, Tegetthoffstraße und Führichgasse, das im Bereich der abgetragenen Basteien gebaut worden war. Im zweiten und dritten Stock befanden sich Mietwohnungen, im ersten Stock und 36 Wiener Zeitung, 7.3.1886, S. 4. 37 HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 92.
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Jacob Rothberger. Foto von 1892.
einem Teil des Mezzanins war der Jockey Club für Österreich38 untergebracht und im Parterre fanden Geschäftslokale Platz.39 Insgesamt gab der Bau Zeugnis vom veränderten Selbstverständnis des Großbürgertums; hier eine Wohnung zu beziehen war ein weiteres Zeichen für den Aufstieg der Familie Rothberger.40 Um sicherzustellen, dass das Kleidermagazin auch in der Zukunft als Familienunternehmen weitergeführt werden konnte, wurden die drei Söhne Moritz, Heinrich und Alfred zu Schneidern ausgebildet und traten in den väterlichen Betrieb ein.
38 Der Jockey Club für Österreich wurde 1867 gegründet und war ein Herrenklub, der in erster Linie aristokratische, aber auch großbürgerliche Mitglieder hatte. 39 F. LEONHARD, Mietshäuser, in: KORTZ (Red.), Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts, S. 402–426, hier S. 418. 40 Bemerkenswert ist, dass der Philipphof als Symbol des aufstrebenden Großbürgertums 1895 vom kaiserlichen Familienfonds gekauft wurde (HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 96, Fußnote 53). 1897 errichtete Karl König ein dem Philipphof ähnliches Gebäude, das Palais Herberstein direkt am Michaelerplatz, in dem heute das Café Griensteidl untergebracht ist. Das Cafe hatte sich bis 1897 im Vorgängerbau des Herberstein, im Palais Dietrichstein befunden, und ist u. a. als „Heimat“ der Literatenvereinigung Junges Wien in die Wiener Kaffeehausgeschichte eingegangen.
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Rosalia Rothberger. Foto aus den 1890er Jahren.
Das neue Warenhaus war ein so großer Erfolg, dass es bereits acht Jahre später erweitert wurde. Jacob Rothberger hatte 1893 das sogenannte Arthaber-Haus am Stephansplatz 11 erworben und ließ es wieder vom Architekturbüro Fellner & Helmer umbauen. Der Gebäudekomplex, errichtet in drei Etappen über einen Zeitraum von 15 Jahren, präsentierte sich nach der Fertigstellung 1895 mit seiner Fassade zum Stephansplatz hin als durchkonzipiertes Ensemble: Nahezu symmetrisch flankierten die Häuser Nr. 9 und 11 mit ihren über drei Etagen geführten großflächigen Glasfronten sowie den oberen Geschossen im Stil der deutschen Renaissance das schmale Haus Nr. 10, das sich nicht nur durch die unterschiedliche Aufteilung der Geschosshöhen, sondern auch durch die Gestaltung abhob.41 Verbunden waren die Häuser Nr. 9 und 11 durch einen „hinter“ dem Haus Nr. 10 verlaufenden Gebäudetrakt. Von der Eröffnungsfeier am 23. März 1895 und der Ausgestaltung des Warenhauses berichtete Die Presse: (Eröffnung des neuen Rothberger-Hauses.) In festlicher Weise wurde heute das zweite Rothberger-Haus auf dem Stephansplatze seiner Bestimmung als Waarenhaus über41 Siehe dazu auch die Fotografie des Warenhauses Jacob Rothberger am Stephansplatz um 1900 im Beitrag „Die Familie Rothberger vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938“ in diesem Band.
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geben und mit der Beleuchtungsprobe fand eine kleine intime Eröffnungsfeier statt. Die zahlreichen Festgäste wurden im Vestibule von dem Director des Etablissements, Herrn Neirath, empfangen und von Angestellten des Hauses in den zweiten Stock geleitet, wo der Chef des Hauses, Herr Hoflieferant Rothberger, umgeben von seinen Söhnen Moriz und Heinrich, die Honneurs machte. Herr Rothberger geleitete seine Gäste durch die Räume des neuen Hauses. Dasselbe communicirt mit dem bereits bestehenden, die Ecke der Jasomirgottstraße bildenden Rothberger-Hause. Durch den Neubau hat vor allem die volksthümliche Abtheilung des Waarenhauses, die „Schwemme“, eine bedeutende Erweiterung erfahren. Im Souterrain sind die riesigen Magazine für Pelze und Stoffe untergebracht, die Garderoben und Waschräume für die Bediensteten, wie die sonstigen Wohlfahrtseinrichtungen. Das Parterre ist den Reise-Ueberröcken, Ueberziehern und sonstigen Saison-Ueberkleidern und den Schlafröcken eingeräumt, indeß im Mezzanin die Spezial-Abtheilungen etablirt sind. Im ersten Stock finden wir die Maßabtheilung, eine Ankleide- und Probierloge, die Arbeitstische der Zuschneider und den Manipulationsraum für die im Hause erzeugten Gegenstände. Im zweiten Stockwerk sind die ausgedehnten Reservemagazine untergebracht. Beim Champagner begrüßte der Herr Hoflieferant Rothberger seine Gäste mit einigen herzlichen Worten, worauf Herr Moriz Rothberger in einer launigen Ansprache die Architekten Helmer und Fellner, die Erbauer des Hauses, und alle Mitarbeiter leben ließ. In stimmungsvoller Weise antwortete Herr Baurath Fellner. Director Neirath beglückwünschte Herrn Rothberger und überreichte dem Chef ein Tableau in prachtvollem Rahmen, welches die Porträts sämmtlicher Angestellten und Bediensteten vereinigt und dessen Passepartout eine Widmung trägt.42
Mit 69 Jahren stand Jacob Rothberger auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Mehr war für einen zugewanderten Schneider im Wien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum zu erreichen. Auch die Zukunft seines Unternehmens schien gesichert: Die Söhne Moritz und Heinrich waren, wie der Bericht der Presse erwähnt, bereits in der Firma tätig, und der jüngste Sohn Alfred trat ebenfalls in den Familienbetrieb ein.
42 Die Presse, 24.3.1895, S. 14.
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Konsumkultur, Warenhaus und Geschlecht im 19. und frühen 20. Jahrhundert Monika Bernold
Das Warenhaus als paradigmatischer Ort moderner Konsumkultur existiert nicht mehr. Als ältestes Modell moderner Betriebsformen des Einzelhandels wurde es weitgehend von neueren Handelsformen abgelöst.1 Einkaufszentren, Discounter, spezialisierte Handelsketten, Shopping Malls und elektronische Einkaufsportale sind an seine Stelle getreten. Woolworth, Kaufhof oder Karstadt waren in den letzten Jahren mit Insolvenzen oder Schließung konfrontiert,2 die dort arbeitenden Menschen mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze. Die Geschichte der Warenhäuser war bereits seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert von Konjunkturen und Diskontinuitäten geprägt und verlief in verschiedenen Ländern und Regionen höchst unterschiedlich. Einschneidend war die Zäsur des Nationalsozialismus. Ein großer Teil der europäischen WarenhausunternehmerInnen jüdischer Herkunft wurde beraubt, zur Emigration gezwungen oder ermordet. Traditionsreiche Namen wie Wronker,3 einstige „Warenhauskönige“ im Süden Deutschlands, oder Rothberger4 in Wien kennt heute kaum jemand mehr. Die jahrzehntelange profitable Geschichte der Warenhausketten nach 1945 in Deutschland gründete in vielen Fällen auf Notverkäufen und fehlender Rückstellung an die früheren EigentümerInnen. Gegenwärtig scheint eine mehr als 120-jährige Geschichte zumindest zu einem vorläufigen Endpunkt zu kommen, weil die Idee Warenhaus selbst nicht mehr funktio1 2 3
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Detlef BRIESEN, Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main-New York 2001, S. 52. Vgl. u. a. Hagen SEIDEL, Horrorjahre für Herthie, Woolworth & Co., 2.4.2009, http://www.welt.de/ wirtschaft/article3489273/Horrorjahr-fuer-Hertie-Woolworth-und-Co.html (Stand 10.7.2009). Gründer des 1891 eröffneten und über Jahrzehnte größten Warenhauses in Frankfurt am Main, vgl. Stefan APPELIUS, Lili und die Kaufhauskönige, http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/589/lili_und_die_kaufhauskoenige.html (Stand 9.8.2009). Edith HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger. Eine Fallstudie zur Entwicklung der Wiener Herrenkonfektion, in: Andreas LEHNE, Wiener Warenhäuser 1865–1914. Mit Beiträgen von Gerhard MEIßL und Edith HANN, Wien 1990, S. 85–120.
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niert, „das Zugpferd nicht mehr zieht“, wie unlängst in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war.5 Wenige prunkvolle Einkaufspaläste wie das GUM in Moskau, Au Bon Marché in Paris, das KaDeWe in Berlin oder Harrods in London dokumentieren noch einen Einkaufsstil, der heute als populäre Einkaufsform Vergangenheit ist.6 Die verbliebenen berühmten Warenhäuser der europäischen Metropolen fungieren weitgehend als Relikte der Konsummoderne des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Noch lange bevor das Partizipationsversprechen Wohlstand für alle durch ein am (Massen)Konsum orientiertes Modell des (demokratischen) Liberalismus in einem kleinen Teil dieser Welt zumindest partiell eingelöst wurde, wirkte das Warenhaus in den großen Städten Europas als architektonische Verheißung der Teilhabe an einem besseren Leben. Im Spannungsfeld klassen- und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung formierten sich eine neue Handelsform und eine neue Einkaufspraxis, die kollektive Differenzierungs- und Identitätsbildungsprozesse in Gang setzten und neue Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit transportierten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts präsentierten sich in Paris, London oder Berlin in teils monumentalen Bauten die Ding- und Warenwelten einer Gesellschaft, die sich langsam von einer Produktions- in eine Konsumgesellschaft verwandelte.7 Was bedeutete dieser Wandel und wodurch wurde er symbolisiert? Geschwindigkeit und Beschleunigung aller Lebensbereiche waren vielleicht die zentralsten Ausdrucksformen der sukzessiven Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Mobilisierung von Waren, Ideen und Menschen, von Kunden und von Arbeitskräften korrespondierte im Kapitalismus des ausgehenden 19. Jahr5
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„Das Zugpferd zieht nicht mehr“, „Rolltreppe ins Mittelmaß“, „Kaufhäuser neu ausrichten oder zusperren“, so die Online-Kommentare zum Thema Warenhaus bereits 2004 (http://www.Sueddeutsche.de, Stand 29.6.2004). Einige prominente und architektonisch interessante Warenhausneubauten der letzten zwanzig Jahre signalisieren Versuche, mit einer auch symbolischen Aufwertung der Warenhausform im Luxussegment den ökonomischen Abwärtstrend zu stoppen: Dazu zählen etwa das von Hans Hollein errichtete Haas Haus am Stephansplatz in Wien (1990), die Fünf Höfe in München von den Schweizer Architekten Herzog/de Meuron (2001f ), Renzo Pianos „Gürteltier“ genanntes Weltstadthaus in Köln für Peek & Kloppenburg (2005) oder der exzentrische Selfridge Kaufhaus-Palast in Birmingham des Londoner Architektenteams Future Systems (Jan Kaplicky und Amanda Levete) (2003). Die USA waren spätestens in den 1920er Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Gesamtnachfrage die erste Massenkonsumgesellschaft der Welt geworden. Vgl. Victoria DE GRAZIA, Amerikanisierung und wechselnde Leitbilder der Konsum-Moderne (consumer-modernity) in Europa, in: Hannes SIEGRIST, Hartmut KAELBLE, Jürgen KOCKA (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums. (18.–20. Jahrhundert), Frankfurt am Main-New York 1997, S. 109–139, hier S. 109f.
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Konsumkultur, Warenhaus und Geschlecht
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hunderts mit neuen Organisationsformen der Produktion, des Handels und der Verteilung von Waren. Gewinnmaximierung basierte zunehmend auf der Standardisierung, Vereinfachung und Spezialisierung der Produktion. Die langsam wachsende Konsumnachfrage auf der Grundlage erhöhter Kaufkraft korrespondierte mit neuen Ausstellungs- und Werbemethoden des Handels und mit der tiefgreifenden Rationalisierung der Warendistribution. Die entstehende Konsumgesellschaft im 19. Jahrhundert war zunächst ja im Wesentlichen noch eine des Bürgertums. Das sich erst langsam verbreiternde Mittelschichtmodell des alltäglichen Lebens und Konsumierens beruhte auf einem geschlechtlich segregierten Arbeits- und Gesellschaftsmodell, wonach Frauen Konsumentinnen und Verwalterinnen des Haushaltsbudgets sein sollten, Männern dagegen die Aufgabe zugedacht war, außer Haus das Geld zu verdienen. Die Erfolgsgeschichte des Warenhauses war eng mit dem Übergang vom bürgerlichen zum Massenkonsum und ebenso mit tiefgreifenden Veränderungen gesellschaftlicher Geschlechterordnungen verknüpft. Darin repräsentierte und beschleunigte das Warenhaus die dynamischen Modernisierungsprozesse der Industrienationen weit über die Rationalisierung des Einzelhandels hinaus.
Kaufhaus/Warenhaus: Soziale Differenzierungen und (trans)nationale Form Die Warenhäuser waren ein Effekt der grundlegenden Neuordnung der Warendistribution im Laufe des 19. Jahrhunderts. Veränderte Verkaufspraktiken des Großhandels, die Entstehung von Konsumvereinen und Versuche der genossenschaftlichen Organisierung des Konsums als Antwort der ArbeiterInnenschaft8 waren ebenso Teil dieser Modernisierung wie die Gründungsgeschichten des Warenhauses selbst. Die Passage als überdachte Ladenstraße mit einer Folge von Einzelhandelsgeschäften auf beiden Seiten, die ein Stück öffentlichen Raums zu einer Art Interieur des Geschäftslebens machte, kann ebenso als Vorform der europäischen Warenhäuser gedacht werden wie der Bazar und die städtische Markthalle. Die vielschichtige Entwicklung hin zum Warenhaus und dessen vielfältige Ausprägungen erlauben keine eindeutige 8
In Österreich kam es 1905 zur Gründung der GÖC Großeinkaufsgesellschaft für österreichische Consumvereine. Damit begann der Einstieg der Konsumgenossenschaften in den Großhandel. 1930 befanden sich bereits rund 20 Warenhäuser im Eigentum der GÖC, darunter auch jenes der Staatsangestellten-Fürsorge-Anstalt (Stafa) in der Mariahilferstraße. Vgl. Eva SINGER-MECZES, Andrea ELLMEIER, Einkaufen in Wien 1918–1938. Greißler, Konsumgenossenschaften, Warenhäuser, Wien 1987.
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Charakterisierung. Wirtschaftliche Organisationsform, Architektur, Betriebsgröße, Sortiment und Preisgestaltung, ideologische Zugehörigkeit und soziale Funktionen variierten und veränderten sich im Laufe der Jahre oft an ein und demselben Standort. Dies wird am deutlichsten, wenn von der Abgrenzung vom Kaufhaus gegenüber dem Warenhaus die Rede ist. Die Grenze blieb je nach regionalem und kulturellem Kontext fließend, auch wenn gesetzliche Bestimmungen wie die Warenhaussteuer auf Vereindeutigung und Reglementierung zielten. Mit dem preußischen Waren haussteuergesetz von 1900 zum Beispiel wurde die Unterscheidung im wilhelminischen Deutschland durchgesetzt. Das Kaufhaus führte demnach nur Waren aus einer der Hauptwarengruppen, zum Beispiel Möbel oder Textil, jene Häuser, die mehr als eine Hauptwarengruppe anboten, waren demnach Warenhäuser. Michael John unterscheidet in Bezug auf die Habsburgermonarchie und die Erste Republik drei Warenhaustypen, die Großhandelsbetriebe, die genossenschaftlich organisierten Warenhäuser und schließlich die ländlichen Krämerwarenhäuser, die oftmals Monopole in den Gemeinden innehatten.9 In jedem Fall bedeutet die Bezeichnung Warenhaus, dass eine große Fülle von verschiedenartigen Waren unter einem Dach angeboten wurde, zumeist in einem mehrstöckigen Haus, in Abteilungen gegliedert und mit fixen und angeschriebenen Preisen. Das Warenhaus hatte seinen Ort fast ausnahmslos im Zentrum der Stadt, in deren wichtigsten und prächtigsten Geschäftsstraßen. Im Warenhaus, auch das scheint wesentlich, herrschte kein Kaufzwang, es war möglich, die Waren und Artefakte anzuschauen, ohne sie zu erwerben. Die Warenhausgeschichte hatte also verzweigte und vielfältige Anfänge. In den USA entwickelten sich die Warenhäuser seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus den großen Lagerhausbauten. In Kontinentaleuropa gründete die Entwicklung zumeist in sich vergrößernden Einzelhandelsgeschäften. Umbau, Ausbau und Erweiterung von bestehenden Geschäften waren ebenso Teil dieser Geschichte wie die prunkvollen Neubauten insbesondere um die Jahrhundertwende. Die europäische Warenhausgeschichte begann in Paris mit dem Ausbau des Mitte der 1850er Jahre gegründeten Geschäftes Au Bon Marché.10 Gründer und Gründerin des initialen Warenhauses in Paris waren das Ehepaar Aristide und Marguerite 9
Michael JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus. Zur Etablierung moderner Konsumkultur in einer österreichischen Provinzstadt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Torsten MEYER, Reinhold REITH (Hg.), Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 21), Münster 2003, S.181–209, hier S. 191f. 10 Der Architekt des 1869–1872 erbauten Magasins des Au Bon Marché war vermutlich Alexandre Laplanche, den Erweiterungsbau der 1870er Jahre hatte Gustav Eiffel mitentworfen.
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Boucicault (geborene Guerin). Nach dem Tod Aristides leitete Marguerite Boucicault das prosperierende Unternehmen. Au Bon Marché realisierte die für die großen Warenhäuser typische Trennung von Wohn- und Geschäftsraum und etablierte ein Haus nur für die Ausstellung von Waren. Gerade in den berühmten Warenhausgründungen der Metropole Paris spielten Frauen als Unternehmerinnen eine wichtige Rolle. Die Warenhausentwicklung war eng mit der prosperierenden Textilbranche und insbesondere mit dem expandierenden Damenmodesortiment verknüpft, was Frauen als Unternehmerinnen wahrscheinlich entgegenkam. Marie-Louise Jaÿ (geborene Samoens) war gemeinsam mit ihrem Ehemann Ernest Cognac die erfolgreiche Gründerin des Warenhauses La Samaritaine, beide waren zuvor im Bon Marché angestellt gewesen. Damen- aber auch Herrenkonfektionsbetriebe waren oftmals nicht nur Ausgangspunkte für Warenhausgründungen, sondern statteten durch die zunehmende Verbindung von Mode, Visualisierung und Werbung moderne Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit mit Stoff und Bildern aus.11
Plakat des Wiener Warenhauses Jacob Rothberger, 1937.
11 Insbesondere für England ist der historische Zusammenhang von Männlichkeit, Mode und Konsumkultur bereits eingehend untersucht, vgl. u. a.: Frank MORT, Cultures of consumption: masculinities and social space in late twentieth-century Britain, London-New York 1996; Christopher BREWARD, The hidden consumer: masculinities, fashion and city life 1860–1914, Manchester u. a. 1999; Paul JOBLING, Man appeal: advertising, modernism and men’s wear, Oxford 2005.
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In den Metropolen London, New York und Brüssel waren ebenfalls seit den 1870er Jahren Geschäfte entstanden, die bereits Elemente des Warenhauses aufwiesen. Philipp Haas & Söhne eröffneten das erste sogenannte Warenhaus in Wien im Jahr 1867. In Tokyo tauchten die ersten Vorläufer des Warenhauses in den späten 1880er Jahren auf.12 1877 wurde das erste Warenhaus in Italien, in Mailand, eröffnet. In Deutschland begann die Entwicklung 1891 mit dem Berliner Kaiser Bazar etwas später. Das Warenhaus Wertheim in der Leipzigerstraße wurde in Berlin 1896/97 errichtet, das legendärste und größte Warenhaus, das Kaufhaus des Westens (KaDeWe), eröffnete 1906/07. Viele Warenhausbauten in Europa folgten. Der Erste Weltkrieg und die folgenden Jahre der Rezession bedeuteten den ersten Einschnitt und die erste Unterbrechung des Warenhausgründungsbooms der Jahrhundertwende.13 Die unterschiedlichen nationalen und regionalen Entwicklungen der Warenhausgründungen allerdings hatten eines gemein, sie waren eng mit den dynamischen Urbanisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts verknüpft. Das Warenhaus wurde zum Synonym für die moderne Großstadt und war darüber hinaus auch ein transnationales Projekt. Die Waren, die hier zu kaufen waren, kamen oftmals aus verschiedenen Ländern der Welt und einzelne Unternehmen bauten von Beginn an internationale Filialnetze auf.14 Die Konzepte und Modelle der Organisation der modernen Handelsform Warenhaus wurden in zahlreichen Ländern aus Frankreich oder den USA übernommen, um sich dann in den jeweiligen nationalen und historischen Kontexten an lokale Gegebenheiten und Konsumgewohnheiten anzupassen.15 12 Die Warenhäuser Tokyos waren Orte der Innovation, zum Beispiel wurden die ersten Telefone der Stadt in Warenhäusern aufgestellt. Vgl. Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 342. 13 Nach der Unterbrechung der Warenhausgründungen durch den Ersten Weltkrieg und die nachfolgende Rezession kam der Warenhausbau erst wieder in den 1920er Jahren in Schwung. Konzentrationsbewegungen (Karstadt, Kaufhof, Schocken, H. Tietz, Wertheim) und die Architekturavantgarde im Warenhausbau kennzeichnen die Entwicklungen der Weimarer Jahre. Vgl. Hans-Georg PFEIFER, Entstehung und Entwicklung der Kauf- und Warenhäuser von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, in: Architektur für den Handel. Kaufhäuser, Einkaufszentren, Galerien. Geschichte und gegenwärtige Tendenzen. Mit einem Werkbericht der Architekten RKW, Basel-Boston-Berlin 1996, S.14–63. 14 1996 eröffneten die Galeries Lafayette als eines der ersten Unternehmen nach der Wiedervereinigung Deutschlands im ehemaligen Ostteil von Berlin ein Warenhaus. Das Kaufhaus ist die einzige Niederlassung der Galeries Lafayette außerhalb Frankreichs und wurde von dem französischen „Star“-Architekten Jean Nouvel entworfen. 15 Vgl. Alexander SEDLMAYER, From Department Store to Shopping Mall. New Research in the Transnational History of Large Scale Retail, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2005), S. 9–17. In Wien war es 1890 ein Pariser Kaufmann, der beim Handelsministerium um eine Konzession für die Gründung einer französischen Warenhaus-Aktiengesellschaft ansuchte, die aber aufgrund intensiver Proteste des Mittelstands vor Ort vom Handelsministerium nicht erteilt wurde. Das große Haus Zur grossen Fabrik,
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Eine weitere Dimension der transnationalen Form des Warenhauses lag in frühen Formen des Einkaufstourismus, zu dem es aufgrund der unterschiedlichen Preisniveaus schon in den 1930er Jahren kam, etwa aus Oberösterreich in die Warenhäuser von Budweis und Prag.16 Das Warenhaus mit seinen potentiell günstigen Preisen und verschiedensten Massenartikeln unter einem Dach wurde schon bald nach seiner Entstehung zu einem privilegierten Ort eines neu entstehenden Konsumregimes, das tendenziell immer größere Bevölkerungsgruppen adressierte. Die sich dort präsentierende Warenwelt avancierte zu einem Integrationsangebot in eine national kodierte materielle Kultur.17 So wie der Stummfilm und das frühe Kino eröffnete das Warenhaus MigrantInnen und insbesondere auch Frauen verschiedener sozialer und kultureller Herkunft eine über Klassen- und Sprachgrenzen hinweggehende Form der Teilhabe an öffentlichen Räumen, von denen sie sonst ausgeschlossen waren. Das Warenhaus ermöglichte Erfahrungen, in denen sich soziale Asymmetrien scheinbar in individuelle Handlungsoptionen transformierten und wurde damit zu einer Chiffre für die Versprechungen des modernen Massenkonsums schlechthin. Die sich etablierende Warenhausgeografie in den einzelnen Städten und Metropolen Europas wirkte gleichzeitig immer auch sozial differenzierend und konstruierte und repräsentierte soziale Hierarchien mit. Im Deutschen Kaiserreich bot Tietz Waren für den Mittelstand, Wertheim eher Luxusartikel für die Wohlhabenden und Jahndorf die Produkte für die unteren Mittelschichten. Soziale Differenzierung allerdings fand auch innerhalb der Filialnetze einzelner Warenhausketten statt und orientierte sich dann an der sozialen und kulturellen Umgebung in der Stadt.18 In Berlin zum Beispiel gab es Wertheim Warenhaus-Filialen für die Wohlhabenden und das 1895 in der Mariahilferstraße 17 eröffnete, wurde durch den belgischen Unternehmer Stefan Esders gegründet, der bereits Warenhäuser in einigen anderen Metropolen Europas betrieb. 16 JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 192. 17 Vgl. DE GRAZIA, Amerikanisierung und wechselnde Leitbilder der Konsum-Moderne, S. 118. Andererseits haben, das verweist auf den kolonialen Aspekt der Formierung moderner Konsumkulturen, die zirkulierenden Bilder des Fremden in der Reklame für Kolonialprodukte wesentlich zur Formierung der jeweiligen nationalen Identitätsbildungen in Europa beigetragen. 18 Vgl. Michael JOHN, Warenhaus und Massenkonsum. Zur Etablierung moderner Konsumkultur in der oberösterreichischen Landeshauptstadt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Herbert KALB, Roman SANDGRUBER (Hg.), Festschrift Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, S. 97–120.
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solche für den Mittelstand. Heute ist Le Bon Marché in Paris ein hochpreisiger Ort für Pariser BürgerInnen und die Galerie Lafayette führt eher das Warenhausangebot mit Billigpreisen, das auch insbesondere die MigrantInnencommunities bedient. Sowohl die günstigeren Preise im Vergleich zum Einzelhandelsgeschäft19 wie auch die attraktive Einkaufsatmosphäre mitten in der Stadt haben viele KonsumentInnen bis in die 1930er Jahre gegenüber politischen, ideologischen und sehr oft antisemitisch gefärbten Reden gegen das Warenhaus immunisiert. Die seit 1900 propagierte und oftmals rassistisch motivierte Differenz zwischen „bösem“ Warenhaus und „gutem“ kleinem Ladengeschäft nebenan fand in der täglichen Einkaufspraxis vieler Mittelschichtfrauen zunächst nicht unbedingt den von den WarenhauskritikerInnen gewünschten Anklang.20 In den 1930er Jahren allerdings wurden die nationalsozialistischen Aufrufe zum Boykott der Warenhäuser, Schmierereien und tätliche Angriffe gegen ihre Besucher in Deutschland und Österreich zur alltäglichen Realität.21 Die kritischen Debatten und Diskurse über das Warenhaus haben schon lange vor 1933 in verschiedenen sozialen Feldern begonnen und dauerten Jahrzehnte lang an.22 Diese Diskurse waren teils rassistisch, teils ökonomisch, teils ideologisch motiviert, jedenfalls dokumentieren sie grundlegende Verhandlungen und Auseinandersetzungen um die Moderne.
AkteurInnen und Diskursfiguren: Konsumentin, Verkäuferin, Kleptomanin Das Warenhaus war ein sozial und insbesondere auch ein geschlechtlich kodierter Raum. Im Zentrum der Entwicklung von einer Produktions- zu einer Konsumgesellschaft stand in den USA wie auch in Europa die langsame Herausbildung und breite Durchsetzung der modernen Konsumfamilie als Konsumeinheit. Das Warenhaus wurde parallel dazu zu einem wichtigen Ort der Berufstätigkeit von Frauen, die zunehmend zum Einkommen der modernen Konsumfamilien beizutragen 19 Au Bon Marché, der Name des ersten Warenhauses, verweist auf diese Funktion der Preisgünstigkeit. 20 Vgl. Gerhard MEIßL, Altväterisches oder modernes Wien. Zur Diskussion um die Warenhäuser und die Warenhaussteuer in Wien zwischen 1890 und 1914, in: LEHNE, Wiener Warenhäuser, S. 61–84, hier S. 76. 21 Vgl. u. a. JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 193f. 22 Vgl. BRIESEN, Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral, S. 151ff.
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hatten. Sie arbeiteten im Warenhaus primär als Verkäuferinnen, die Managementaufgaben blieben zumeist den Männern vorbehalten.23 Frauen waren damit sowohl als einkaufende und als flanierende Bürgerinnen wie auch als arbeitende und verkaufende Frauen zentrale Akteurinnen im Warenhaus und als solche auch Objekte vielfältiger Warenhausdiskurse.24 Insbesondere als potentielle Konsumentinnen wurden Frauen zu primären Adressatinnen neuer Werbe- und Ausstellungsmethoden. Das Warenhaus, so Angela Carter, verstärkte die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Emanzipationsbewegungen für Frauen im Bereich der Politik und der Bildung insofern, „als es Frauen aus der Mittelschicht durch die Teilnahme am Konsum eine weitere Arena unabhängigen sozialen Handelns und öffentlicher Präsenz erschloss“.25 Die geschlechterrelevante Innovation des Warenhauses bestand ja unter anderem darin, dass Frauen der sich verbreiternden Mittelschicht sich hier unbeobachtet und losgelöst von den tradierten und patriarchalen Regeln des Einzelhandels bewegen und handeln konnten. Während in den unzähligen Kleinhandelsgeschäften, den „Läden“, die sich aufgrund von gestiegener Kaufkraft und zunehmenden Urbanisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts in den europäischen Städten ausbreiteten, primär Frauen der unteren und mittleren Schichten einkauften und kommunizierten, adressierten die Warenhäuser zunächst insbesondere bürgerliche Frauen. Im Warenhaus wurde es für sie möglich, sich zu zeigen und öffentlich zu flanieren, was in anderen Bereichen der Öffentlichkeit noch als unschicklich galt. Die vielfältigen Praxen, mit denen Frauen den öffentlichen Raum des Warenhauses für sich nutzten, waren von Diskursen zum Warenhaus begleitet, in denen stereotype und widersprüchliche Konzepte von Weiblichkeit eine bedeutende Rolle spielten. Zumeist oszillierten die Argumentationen der zeitgenössischen BeobachterInnen zwischen „den Bildern der gesellschaftlich unerwünschten Verschwenderin und der aufopfernden Hausfrau als guter Konsumbürgerin.“26 Die kulturkritischen Stimmen gegen das Warenhaus, wie sie sich seit Emile Zolas Warenhausroman Pa23 Vgl. Susan PORTER BENSON, Counter Cultures. Saleswomen, Managers & Customers in American Department Stores. 1890–1949, Urbana 1986. 24 2008 schrieb eine Supermarktkassiererin in Frankreich, also eine im Nachfolgemodell des Warenhauses arbeitende Frau, selbst einen Bestseller über ihre Arbeit mit den KundInnen: Anna SAM, Les tribulations d’une caissière! [Die Leiden einer jungen Kassiererin], Paris 2008. 25 Erica Carter verwies weiters darauf, dass auch zeitgenössische Sozialwissenschafterinnen wie Irma Wolff diese Tatsache bereits registrierten. Vgl. Irma WOLFF, Die Frau als Konsumentin, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 34 (1912), S. 893–904, zit. nach: Erica CARTER, Frauen und die Öffentlichkeit des Konsums, in: Heinz-Gerhard HAUPT, Claudius TORO, (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main-New York 2009, S. 158. 26 Vgl. CARTER, Frauen und die Öffentlichkeit des Konsums, S. 158.
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radies der Damen in vielfältiger Weise und unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern artikulierten, diente oftmals der Absicherung männlich-patriarchaler und ökonomischer Interessen.27 Die Figur der Kleptomanin, wie sie in vielen Diskursen rund um das Warenhaus zur Jahrhundertwende auftauchte, entwarf ein Weiblichkeitsbild, das moralische und ökonomische, aber auch sexuelle Fantasien auf Frauen im Warenhaus projizierte. Dort, wo diese, wie im Fall des Ladendiebstahls, die ihnen zugeschriebene Konsumentinnenrolle eigenwillig interpretierten, diente der gesellschaftliche Diskurs über die Kleptomanie zu ihrer Disziplinierung. Kriminalisierung im Falle von mittellosen und Psychopathologisierung im Falle von bürgerlichen Frauen wurden zu dominanPlakat des Wiener Warenhauses Gernten gesellschaftlichen Antworten auf das Phägross, um 1930. nomen der Kleptomanie. Die insistierende Verbindung der Konzepte Konsum und Weiblichkeit hat eine lange und verbindliche Tradition. Diese wirkt auch in der aktuellen Phase des neoliberalen globalisierten Kapitalismus weiter und verbindet sich mit Konzepten des Orientalismus und des Othering,28 wie Anette Baldauf unlängst am Beispiel der Warenhäuser für Frauen in Abu Dhabi und Rhiad gezeigt hat.29
27 Werner GARSTENAUER, Tempel der Kauflust. Wiener Zeitung, 30.1.2004. 28 Der Begriff Othering bezeichnet den Prozess der Benennung und Markierung von spezifischen gesellschaftlichen Gruppen als ‚anders‘, um dadurch die ‚eigene‘, zumeist hegemoniale Identität zu stabilisieren. 29 Anette BALDAUF, Der Gruen Effekt, in: dies., Entertainment Cities. Unterhaltungskultur und Stadtentwicklung, Wien-New York 2008, S. 163.
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Stadt-Raum, Architekturen, Blickordnungen Das Warenhaus war ein Kristallisationspunkt insbesondere der neuen Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen der modernen Großstadt. Das Leben in der Großstadt des späten 19. Jahrhunderts war von der Beschleunigung der Sinne und einer Mobilisierung der Körper gekennzeichnet, die Viele faszinierte, aber Viele auch zutiefst verunsicherte. Die Menschen auf den Straßen wurden zu Passanten. Moderne Verkehrsmittel wie die Tramway (in Wien nahm die „Elektrische“ nach der Pferde- und Dampftram im Jahr 1897 ihren Betrieb auf ), die UBahn und das Automobil prägten die moderne Raumerfahrung ebenso wie eine zunehmende Bebilderung und Kommunikation der Stadt. Die Neuordnung des urbanen Raums unter dem Primat der Sichtbarkeit initiierte Exzesse der Oberfläche, wie sie in den Fassaden und Reklameschildern zelebriert wurden. Die neuen semi-öffentlichen Erfahrungsräume Kino, Kaffee- und Warenhaus funktionierten gleichermaßen als Symptom des pulsierenden Großstadtlebens wie auch als dessen Gegenentwurf, in dem sich moderne Varianten von Vertrautheit und geschütztem Innenraum inszenierten. Presse, Fotografie und Film wurden dabei zu bedeutenden Kommunikatoren der Warenhäuser und der in ihnen angebotenen Produkte.30 Im Zentrum dieser Konstellation stand eine neue Blickordnung, in der der Schauwert der Waren zunehmend an Bedeutung gewann.31 Die Warenhäuser waren also Ausstellungsorte der neuen Produkte. Sie adressierten nicht nur neue Funktionen einer modernen Handelsform, sondern auch und als Teil derselben Emotionen und Gefühle. Die sinnliche Anziehung der Warenwelt zwecks Schaffung und Bedienung von Bedürfnissen wurde auch zur Grundlage architektonischer Programme des Warenhausbaus als Handelsarchitektur. Das Warenhaus fungierte als eine Art Bühnenraum für Dinge und ihre öffentliche Präsentation als eine Art „Weltausstellung im Kleinen“.32
30 In den 1910er Jahren wurde der Terminus „Warenhausfotograf“ zu einer Chiffre für den Abstieg der Atelierfotografie. Souvenirbilder wurden zum Beispiel 1911 an jene Kunden des Warenhauses Gerngross verschenkt, die um 30 Kronen Einkäufe besorgt hatten. Vgl. Bodo KRALIK, Lexikon der Wiener Fotografen 1840–1900, Wien 2004, S. 32. 31 Vgl. Lena LAPSCHINA, Dekorativ-ästhetische Funktionen des Schaufensters im Stadtraum am Beispiel Österreichs, Dissertation, Moskau 1995. 32 OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt, S. 341.
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Wenn Warenhäuser häufig als Konsumkathedralen, Konsumtempel oder Konsumpaläste bezeichnet wurden, so verweisen diese Architekturmetaphern aus dem sakralen und dem aristokratischen Bedeutungsfeld auf den modernen Herrschaftsanspruch von Handel und Konsum, der sich seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich durchzusetzen begann. Viele große Warenhausbauten insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg bedienten sich in der Tat einer am Palastbau orientierten Grundstruktur und Formensprache, die großen Häuser in Frankreich setzten dabei auf eckbetonende Turmbauten, die das Stadtbild akzentuierten, in Berlin hingegen fanden sich bis in die 1920er Jahre eher geschlossene Architekturkomplexe mit einer aufwendigen Lichthofarchitektur.33 Die Palastarchitektur wurde erst durch Bauten wie das Karstadt Warenhaus des Architekten Philipp Schaefer (1929) in Berlin von einer Sprache der Neuen Sachlichkeit abgelöst. Der theatralische Rahmen der Warenpräsentation verlor an Bedeutung, als die Vergrößerung der Präsentationsflächen zunehmend in den Mittelpunkt des wirtschaftlichen Interesses rückte. „Vom Traumpalast zum Warencontainer“ hat Rainer Stommer diese Entwicklung der Warenhausarchitektur entlang ökonomischer Erfordernisse während der 1920er Jahre am Beispiel Berlins genannt.34 Die sukzessive Ausdehnung der Warenhaus-Bühne auf den gesamten Stadtraum schließlich bedeutete die Verkehrung der Idee von der Welt im Warenhaus zur Gestaltung der Welt als Warenhaus. Die Weltkugel als Markenzeichen, das vom Dach des Warenhauses Tietz (1899/1900) in der Leipzigerstraße ragte,35 mag dafür ein sinnfälliges Beispiel sein. Die Stadt als Schauraum und Bühne, wie das Warenhaus sie seit Ende des 19. Jahrhunderts modellhaft vorgab, sollte sich schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Form des Einkaufszentrums und der Shopping Mall in zahlreiche Einkaufsstädte vor den Toren der Stadt verwandeln.
Wiener Warenhäuser, Warenhäuser in Österreich In den Städten der österreich-ungarischen Monarchie entwickelte sich die neue Warenhausform eher langsam.36 1902, als es in Paris oder Berlin bereits Warenhäu33 PFEIFER, Entstehung und Entwicklung der Kauf- und Warenhäuser, S. 48f. 34 Rainer STOMMER, Vom Traumpalast zum Warencontainer. Die Warenhausarchitektur der 20er Jahre, in: Deutsche Bauzeitung, 10 (1990), S. 134, zit. nach PFEIFER, Entstehung und Entwicklung der Kaufund Warenhäuser, S. 48. 35 1899/1900 von Berhard Sehring entworfen. 36 Vgl. MEIßL, Altväterisches oder modernes Wien, S. 66ff.
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ser mit jeweils mehreren Tausend Beschäftigten gab, hatte Wien erst ein Warenhaus mit knapp über 300 Beschäftigten.37 Ein kleinbetrieblich strukturierter Einzelhandel, lange tradierte und gewohnte Einkaufspraxen, Reglementierungen des Warenvertriebs sowie eine bis in die 1890er Jahre noch nicht wirklich ausgebildete kaufkräftige Nachfrage verhinderten eine rasante Durchsetzung der neuen Handelsform, wie sie etwa für Frankreich typisch war.38 Gerhard Meißl hat darauf hingewiesen, dass die Expansion im Detailhandel in Wien insbesondere für jene Betriebe interessant war, die sich auf ein Produktionsstandbein stützen konnten.39 So waren es in Wien vor dem Hintergrund des Florierens der Konfektionsindustrie die Inhaber von Textil- und Konfektionsfabriken selbst, die zu den Warenhauspionieren zählten. Die Teppichwarenfabrik Philipp Haas & Söhne eröffnete das erste sogenannte Warenhaus Wiens im Jahr 1867.40 Auch die Kaufhaus- und Warenhausgründungen von Jacob Rothberger, Ludwig Zwieback und M. Neumann in den folgenden Jahrzehnten im Zentrum der Stadt waren Effekte der seit den 1850er Jahren expandierenden Konfektionsproduktion in Wien. Es waren Kaufleute und Fabrikanten mit Erfahrung im Großhandel und mit dem Betreiben von Magazinen, die an der Entwicklung der modernen Handelsform Warenhaus partizipierten. Unter ihnen waren viele Juden, erfahrene Geschäftsleute, die den Möglichkeiten der liberalen Marktwirtschaft offen gegenüberstanden. Im Gegensatz zu vielen kleinen Gewerbe- und Geschäftstreibenden, die der zünftischen Tradition verbunden blieben und auf der Absicherung alter Privilegien und Strukturen beharrten, wussten die Warenhausgründer die Chancen der entstehen37 Ergebnisse nach der Gewerblichen Betriebszählung vom 3.6.1902 in Niederösterreich (Statistische Mitteilungen der niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer, H. 9), Wien 1909, die alle Betriebe nach der Beschäftigtenzahl erfasste. Zit. nach MEIßL, Altväterisches oder modernes Wien, S. 72. 38 In Wien zum Beispiel eröffnete Ende der 1850er Jahre Johann Ranftl vorerst gegen den Widerstand der Behörden in einem Magazin in der Praterstraße einen Handel mit Artikeln des täglichen Gebrauchs. Er experimentierte mit neuen Werbemethoden wie Plakaten und Zeitungsinseraten. Vgl. JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 182. 39 Vgl. MEIßL, Altväterisches oder modernes Wien, S. 62. 40 Das Warenhaus der Teppichfirma Philipp Haas & Söhne am Stock im Eisenplatz, Ecke Graben, kann als erster Warenhausbau der Stadt bezeichnet werden. Der prunkvolle Bau gegenüber dem Stephansdom wurde 1867 nach den Plänen von August Siccard von Siccardsburg und Eduard van der Nüll errichtet, die in jenen Jahren auch die Wiener Staatsoper, das Arsenal und die Sophiensäle konzipierten. Das sechsgeschossige Geschäftshaus in Eisenständerbauweise mit dreiteiliger Fassade war ein prunkvoller mit Gasbeleuchtung ausgestatteter Bau. Es wurde nach der Zerstörung 1945 zunächst 1953 durch den Bau Carl Appels, Max Fellerers und Wörles ersetzt und nach neuerlichem Abriss schließlich 1990 mit dem Neubau des Architekten Hans Hollein als Haas Haus wiedereröffnet. Vgl. LEHNE, Wiener Warenhäuser, S. 124.
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den neuen Märkte für sich zu nutzen.41 Kritische Diskurse zum Warenhaus wurden seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts insbesondere im deutschsprachigen Raum und insbesondere im christlichsozialen und deutschnationalen Umfeld mit rassistischen Argumenten geführt. Insbesondere im Umfeld von Kleingewerbe und Mittelstand formierte sich ein Antisemitismus, der sich mit anti-modernistischen und anti-kapitalistischen Reflexen verband. Im Kontext der Wiener Entwicklung allerdings war noch um die Jahrhundertwende wohl auch im Zusammenhang mit der ökonomischen Rückständigkeit nicht so sehr das Warenhaus im Zentrum anti-kapitalistischer und antisemitischer Diskurse im Umfeld der mittelständischen Interessenpolitik, sondern eher das Filialwesen, der Hausiererhandel oder auch die Konsumvereine. Das änderte sich nach 1903, als die Warenhäuser auch in der Metropole der Habsburgermonarchie zu florieren begannen. Insbesondere im Zuge der christlichsozialen Forderung nach einer Warenhaussteuer kam es 1905 zu wüsten antisemitischen Ausfällen im niederösterreichischen Landtag.42 Die Steuer wurde bis ins Jahr 1910 hinein gefordert, allerdings nicht umgesetzt. Bereits Ende der 1890er Jahre prosperierte in Wien der Kaufhaus- und Warenhausbau erstmals.43 1886 eröffnete das neue Haus von Jacob Rothberger44 und 1895 das des Konfektionärs Zwieback45 sowie jenes des Teppich- und Modewarenbetriebs 41 Vgl. MEIßL, Altväterisches oder modernes Wien, S. 63, JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 182. 42 Bei einer Erhebung 1906/1907 wurden für Wien 24 Warenhäuser erfasst. Vgl. MEIßL, Altväterisches oder modernes Wien, S. 75ff. 43 Das Warenhaus Wahliss-Porzellanhaus in der Kärntnerstraße 17 wurde im unteren Geschäftsbereich mehrmals, zuletzt 1986 von den Architekten Coop Himmelblau verändert. Das Warenhaus Haas und Czijzek wurde 1883 von Heinrich Claus und Josef Gross auf der Kärntnerstraße 5 errichtet und war ein Porzellanerzeugungsbetrieb, der über einen langgestreckten Grundriss verfügte; große Schaufenster markieren die Geschäftsgeschosse, die sich deutlich von den Wohngeschossen unterscheiden. Das Warenhaus Pollak, das von Friedrich Schön 1909 auf einem schmalen Grundstück am Kohlmarkt für die Modefirma Pollak errichtet wurde, ist bis heute mehr oder weniger unverändert erhalten. Vgl. LEHNE, Wiener Warenhäuser, S. 150ff. 44 Siehe den Beitrag „Die ersten Jahre der Familie Rothberger in Wien“ in diesem Band. 45 Das Warenhaus Zwieback in der Kärntnerstraße 11 wurde 1895 erbaut. „Der Architekt Friedrich Schön schuf mit diesem Warenhausneubau ein innovatives und richtungsweisendes Gebäude“. Vgl. LEHNE, Wiener Warenhäuser, S. 160. Friedrich Schön war auch der Architekt eines Warenhauses der Jahrhundertwende in Kairo, sowie des Warenhauses Pollak. Friedrich Schön wurde 1941 – mit 84 Jahren – gemeinsam mit seiner Tochter Klara aus Wien deportiert und sofort nach der Ankunft in Litauen/Deutsches Reich ermordet. Vgl. http://www.architektenlexikon.at/de/564.htm (Stand 15.6.2009).
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Das Warenhaus Herzmansky in der Wiener Mariahilferstraße, Weihnachtszeit 1934.
Schein am Bauernmarkt 12. Das Warenhaus Neumann, als Vorfahre des Warenhauses Steffl, wurde von Otto Wagner errichtet und am 24. September 1896 als Herrenkonfektionshaus auf der Kärntnerstraße 19 eröffnet. 1949 wurde das Warenhaus Neumann aufgrund von Kriegsschäden abgebrochen und 1949 von Carl Appel für die Firma Neumann wiederaufgebaut. 1897 schließlich kam es zu dem großen Neubau des Textilhauses Herzmansky in der Mariahilferstraße.46 Die Mariahilferstraße, so hieß sie seit 1862, davor trug sie andere Namen wie Kremser Strass, Bayrische Landstraße oder Laimgrube,47 etablierte sich neben der Inneren Stadt als zweites Zentrum der Modernisierung des Handels in Wien. Bereits im April 1894 wurde der von Friedrich Schachner geplante Bau des Warenhauses Stephan Esders, Mariahilferstraße/Karl Schweighofer46 MEIßL, Altväterisches oder modernes Wien, S. 67f. 47 Hubert KAUT, Die Mariahilferstraße. Geschichte einer Straße (Führer durch die Sonderausstellung des Mariahilfer Heimatmuseums. Den Besuchern und Kunden gewidmet von der A. Gerngross KaufhausGesellschaft m.b.H. anlässlich der Eröffnung des Neuen Hauses 1966), S. 17.
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gasse, errichtet. Der Belgier Esders war Inhaber von Bekleidungs-Textilfirmen in verschiedenen Großstädten in Europa. Die Straßenfassaden schlicht späthistoristisch gegliedert, beherbergte der fünfgeschossige Bau in den Obergeschossen auch einen Betrieb zur Herstellung von Konfektionen und die Wohnung der Eigentümer.48 Das Haus wurde mehrmals umgebaut und ist seit 1964 in Besitz der Möbelfirma Leiner. Das Warenhaus Gerngross auf der Mariahilferstraße, errichtet von den Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, wurde 1904 eröffnet. Das fünfgeschossige Gebäude verfügte über fünf Aufzüge und eine Rolltreppe sowie eine Glas-Metall-Fassade. Nach einem Großbrand 1979 wurde es durch einen von Architekt Georg Frankl geplanten Neubau ersetzt. Das letzte vor dem Ersten Weltkrieg eröffnete Warenhaus der Stadt lag an der Ecke Mariahilferstraße/Kaiserstraße und wurde im August 1911 als ein von Jakob Wohlschläger entworfener, kreisrunder neungeschossiger Bau errichtet. Unter dem Titel Erstes Wiener Warenmuster- und Kollektivkaufhaus wurde der Mariahilfer Zentralpalast (später Stafa und im Eigentum der Konsumgenossenschaften) eröffnet.49 Der Zentralpalast wurde ebenfalls mehrmals radikal umgebaut, und auch die Eigentümerstruktur wechselte mehrmals. Die an der Außenfassade angebrachten Steinreliefs von Anton Hanak sind bis heute erhalten. Nach einer langen Phase unterschiedlich motivierter Warenhauskritik seit der Jahrhundertwende kam es in den 1930er Jahren zu nationalsozialistischen BoykottAufrufen und Schmierereien gegen Warenhäuser sowie Beleidigungen und Übergriffe gegen deren KundInnen auch in Österreich – als Beispiele seien etwa der Brandanschlag auf das Kaufhaus Gerngross im Jahr 1932 oder der versuchte Weihnachtsboykott des Kaufhauses Kraus & Schober in Linz im Jahr 1937 genannt.50 Nach 1938 wurden die großen Betriebe Gerngross51 und Herzmansky sogleich in kommissarische Verwaltung genommen, Kastner & Öhler in Graz wurde teilarisiert und in Alpenland Kaufhaus umbenannt.52 Kraus & Schober war das größte Waren48 49 50 51
Vgl. LEHNE, Wiener Warenhäuser, S. 150. Vgl. LEHNE, Wiener Warenhäuser, S. 188. Vgl. JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 193ff. Vgl. zur Geschichte der Arisierung und Rückstellung der Gerngross A.G.: Markus PRILLER, Arisierungen in der Textilindustrie, in: Ulrike FELBER, Peter MELICHAR, Markus PRILLER, Berthold UNFRIED, Fritz WEBER, Ökonomie der Arisierung. Bd. 2: Wirtschaftssektoren, Branchen, Falldarstellungen (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 10/2), WienMünchen 2004, S. 84–103. 52 JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 194.
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Konsumkultur, Warenhaus und Geschlecht
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haus in Linz und eines von drei privaten Warenhäusern, die in jüdischem Besitz waren. Die anderen zwei 1933 bestehenden Warenhäuser in Linz waren konsumgenossenschaftlich organisiert (GÖC). Die Geschichte der Linzer Warenhäuser vor, während und nach dem Nationalsozialismus sind durch die Arbeiten Michael Johns gut dokumentiert.53 Das Salzburger Stammhaus von Kraus & Schober, Samuel Loew Schwarz, wurde 1938 liquidiert.54 In Linz wurde nach 1945 nicht nur das konsumgenossenschaftliche Warenhaus GÖC wiedereröffnet, auch der erste Selbstbedienungsladen Österreichs eröffnete hier im Jahr 1950. 1959 wurde am Linzer Hauptplatz das Donau-Kaufhaus als Filiale einer deutschen Warenhauskette errichtet. Nach der weiteren Diversifizierung des privaten Konsums wurde 1963 das über Jahrzehnte größte Warenhaus der Stadt, das Passage-Kaufhaus in Linz gebaut, das 2000 geschlossen und nach einem Umbau wiedereröffnet wurde. Die Modernisierung des Handels in Linz jedenfalls wurde seit den 1960er Jahren von Investitionen aus der benachbarten BRD und staatsnahen Banken bestimmt.55 Anders als in Deutschland, wo die Warenhausketten nach 1945 das Gesicht der wiederaufgebauten Städte entscheidend prägten und auch ökonomisch eine herausragende Rolle einnahmen, spielten in Österreich, aber auch zum Beispiel in Frankreich, die Warenhäuser nach 1945 keine so bedeutende Rolle in der Nachkriegsökonomie. In Österreich blieb insbesondere Kastner & Öhler in Graz eines der wenigen Warenhäuser mit der spezifischen Tradition des Familienunternehmens. Dieses wurde 1873 in Troppau, in der heutigen Tschechischen Republik, von Carl Kastner und Hermann Öhler gegründet, es folgten Niederlassungen in Wien und Zagreb sowie 1883 die Unternehmensgründung in Graz, 1912 kam es zu einem groß angelegten Umbau durch die Architekten Fellner & Helmer.56 Viele andere traditionsreiche Häuser, geprägt von den Spuren der Vertreibung und Vernichtung ihrer oftmals jüdischen Eigentümer, konnten nach 1945 nicht oder 53 54 55 56
Vgl. Bibliografie in diesem Band. JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 195. JOHN, Vom Krämerladen zum Warenhaus, S. 206. Kastner & Öhler 1873–2008. Die ersten 135 Jahre, Graz 2008. In den letzten Jahren expandierte Kastner & Öhler in den Südosten, nach Slowenien und in die Slowakei, 2009 erfolgt die Grundsteinlegung für den großen Ausbau als fashion department store.
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nur bedingt an ihre frühere Bedeutung anschließen. Das Wiener Vorstadt-Warenhaus Dichter57 ist hier ebenso zu nennen wie das Warenhaus der Familie Roth berger,58 die im Mittelpunkt dieses Buches steht. Bei den traditionsreichen Häusern Herzmansky, Gerngross, Stafa und Steffl kam es nach 1945 mehrmals zu Eigentümerbzw. Betriebsformwechseln, an deren Geschichte u. a. auch der Konsum Österreich seinen wesentlichen Anteil hatte.59 Seit 1997 gibt es das Warenhaus Herzmansky unter diesem Namen nicht mehr. Die anfängliche Rede vom gegenwärtigen Ende des Warenhauses ist daher zu relativieren. Die Geschichte des Warenhauses ist schon mehrmals zu Ende gegangen. Als ein Ort der Imagination,60 der das Warenhaus jenseits aller seiner konkreten Geschichten immer auch gewesen ist, bleibt es jedenfalls eher mit den Anfängen der modernen Konsumkultur verknüpft, als mit deren nicht abzusehendem Ende.
57 Das Warenhaus Dichter wurde um 1890 von Leopold Dichter gegründet. Es war in den 1930er Jahren das größte Warenhaus in Wien außerhalb des Gürtels. 1935 wurde es von Philipp Diamandstein umgebaut. Bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung wurde das Warenhaus als Kommanditgesellschaft und Familienbetrieb geführt. 1938 wurde es unter die kommissarische Verwaltung von Arthur Lohre gestellt, im November 1938 wurde es vom Bankhausbesitzer Edmund Topolansky arisiert. Er übernahm es um weniger als ein Drittel seines wahren Wertes und selbst der Kaufpreis wurde nicht aus dem Eigenkapital Topolanskys bezahlt, sondern aus den Erträgen des Kaufhauses. Es blieb in dessen Besitz bis 1949. Es gab ein Rückstellungsverfahren in den Jahren 1949–1951 und infolgedessen wurde es an Oskar Seidenglanz verkauft. Unter dem Namen Osei, der Abkürzung des Namens Oskar Seidenglanz bestand das Geschäft am Brunnenmarkt bis 2003/04. 2005–2007 wurde es als temporärer Kunstraum genutzt, in dem 2007 eine Ausstellung zum Gedenken an die Familie Dichter realisiert wurde. Der endgültige Abriss des Hauses erfolgte im März/April des Jahres 2007. Vgl. http://www.herndlgrafik.at/sammlungdichter/ index.html (Stand 9.8.2009). 58 Siehe dazu den Beitrag „Rückstellungen nach 1945“ in diesem Band. 59 In Wien wird heute der ehemalige Herzmansky auf der Mariahilferstraße von Peek & Cloppenburg bespielt, das Haas Haus beherbergt Einzelhandelsketten und Gastronomie, der Leiner repräsentiert das große innerstädtische Möbelhaus. 60 Vgl. Uwe SPIEKERMANN, Das Warenhaus, in: Alexa GEISTHÖVEL, Habbo KNOCH (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005, S. 207–216, hier S. 207.
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Die Familie Rothberger vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938 U l r i k e N i m e t h , L e o n h a r d We i d i n g e r
Im Jahr vor der Eröffnung des erweiterten Warenhauses Rothberger – am 8. Mai 1894 – war der Umbau des Hauses Stephansplatz Nr. 11 Thema einer turbulenten Sitzung des Wiener Gemeinderats.1 Die Neue Freie Presse berichtete dazu Folgendes: Im Zuge der Erweiterung des Warenhauses und des Umbaus des Hauses Stephansplatz Nr. 11 hatte Jacob Rothberger aufgrund der Baulinien-Bestimmung einen Teil des Grundstückes am Stephansplatz an die Gemeinde Wien abgetreten und erwarb im Gegenzug Straßengrund in der Goldschmiedgasse von der Gemeinde Wien. Der Wert der beiden Grundflächen wurde durch ein Gutachten von zwei Sachverständigen ermittelt. Aus dem Gutachten ergab sich, dass Jacob Rothberger – sein Grundstück war demnach weniger wert, als jenes, das er im Tausch von der Gemeinde erhalten sollte – einen Betrag in der Höhe von 46.878 Gulden an die Gemeinde zu zahlen habe, wozu sich dieser auch bereit erklärte. Allerdings war dies der Kommission, die seitens der Gemeinde die Verhandlungen führte, zu wenig und sie verlangte von Jacob Rothberger die Zahlung von 68.000 Gulden, was dieser wiederum ablehnte. Rothberger erlegte stattdessen eine Kaution von 136.000 Gulden, um die Baugenehmigung zu erhalten und mit dem Umbau beginnen zu können. Gleichzeitig reichte er bei Gericht ein Gesuch ein, dass die Höhe der zu leistenden Zahlung endgültig festgelegt werden sollte. Neuerlich wurde von Streitparteien je ein Sachverständiger nominiert. Diese beiden Fachleute nahmen gemeinsam die Bewertungen neu vor und kamen zu dem Schluss, dass die von Jacob Rothberger abzutretende Grundfläche einen dreimal so hohen Wert darstelle wie im ersten Gutachten angenommen. Die Differenz zwischen den beiden Grundstückswerten war nun deutlich geringer und Jacob Rothberger sollte nach diesem neuen Gutachten nur mehr den Betrag von 428 Gulden 28 Kreuzer an die Gemeinde zahlen. Das Ergebnis dieses zweiten Gutachtens war für die Gemeinde Wien damit noch ungünstiger 1
Vgl. Edith HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, in: Andreas LEHNE, Wiener Warenhäuser 1865–1914. Mit Beiträgen von Gerhard MEIßL und Edith HANN, Wien 1990, S. 85–120, hier S. 92f.
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als jenes des ersten. Über die zu zahlende Summe einen Vergleich zu verhandeln war einer der Tagesordnungspunkte der Gemeinderatssitzung. Im Vorfeld der Sitzung hatten Gemeindevertreter und Jacob Rothberger die Summe von 23.653 Gulden als Verhandlungsbasis vereinbart.2 Im Neuen Wiener Tagblatt wurde zudem noch angeführt, dass das Haus Stephansplatz Nr. 11 auf unerklärliche Weise von einer Liste verschwunden sei, die umgebauten Häusern eine Steuerbefreiung zugestehe.3 In der Debatte im Wiener Gemeinderat erklärte der christlichsoziale Abgeordnete Josef Gregorig,4 dass das zweite Gutachten nur deshalb so günstig für Jacob Rothberger ausgefallen sei, weil im Rathaus das Judentum protegiert werde. Gregorig forderte die Nennung der Personen, die seitens der Gemeinde für das zweite Gutachten und die Bestellung des Sachverständigen zuständig gewesen seien. Nachdem sich Gregorig in weiterer Folge in antisemitischen Tiraden erging, entzog ihm der Vorsitzende, Bürgermeister Dr. Raimund Grübl, das Wort. Dies führte zu lautstarken Protesten der antisemitischen Abgeordneten und schließlich zu einem Tumult und dem Ausschluss des Abgeordneten Stehlik aus der Sitzung.5 Die Gemeinde Wien entschloss sich schließlich, gegen Jacob Rothberger zu prozessieren. Das Urteil fiel erst nach dem Tod Jacob Rothbergers im Juni 1900 und verpflichtete Rosalia Rothberger zur Zahlung von 115.000 Gulden zuzüglich 26.050 Gulden Zinsen.6 In der Gemeinderatsdebatte 1894 war es den Christlichsozialen um Karl Lueger nicht um die Frage gegangen, ob der Vergleich mit Jacob Rothberger tatsächlich zulasten der Gemeinde Wien gegangen wäre, sondern nur darum, durch den Einsatz antisemitischer Klischees die eigene kleinbürgerliche Klientel zu bedienen. Jacob Rothberger kam als Zerrbild des jüdischen kapitalistischen Ausbeuters gerade recht, sein Fall wurde in die Kampagnen der Christlichsozialen integriert. Antisemitismus als Teil der politischen Strategie führte zum Ziel: 1897 wurde Karl Lueger Wiener Bürgermeister.7 Seit der Gegenreformation nutzte das Haus Habsburg die Fronleichnamsprozession in Wien, sich als Vertreter und Verfechter des Katholizismus zu inszenieren. Als Gegenpol zu den 1. Mai-Aufmärschen der SozialdemokratInnen hatten die Fron2 3 4 5 6 7
Neue Freie Presse, 9.5.1894, S. 7f. Neues Wiener Tagblatt, 9.5.1894, S. 3f. Zu Josef Gregorig als einem der Vertreter der antisemitischen Christlichsozialen Partei Karl Luegers vgl.: Brigitte HAMANN, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München-Zürich 1996, S. 410–418. Neue Freie Presse, 9.5.1894, S. 7f; Neues Wiener Tagblatt, 9.5.1894, S. 3f; Illustrirtes Wiener Extrablatt, 9.5.1894, S. 2f. HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 93. HAMANN, Hitlers Wien, S. 410–416.
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Kaiser Franz Joseph I. in der Fronleichnamsprozession am Wiener Stephansplatz 1898.
leichnamsprozessionen über ihre religiöse Motivation hinaus eine zunehmende Politisierung erfahren. Im Prozessionszug, der über Stephansplatz und Graben durch die innere Stadt führte, ging hinter dem Kaiser der Wiener Bürgermeister.8 Bei diesem Ereignis dabei zu sein, zu sehen und gesehen zu werden, war für die Wiener High Society ein Muss. Es war üblich, sich an der Prozessionsroute Fensterplätze zu mieten. Mit die besten Plätze boten die Schaufenster des Warenhauses Jacob Rothberger, in erhöhter Position gegenüber dem Riesentor des Stephansdoms gelegen. Dass der Eigentümer Jude war, stellte in dieser Situation nun kein Problem dar. Die katholische und oftmals auch antisemitische „bessere Gesellschaft“ folgte dem Motto „Wer a Jud is, bestimm i!“. Dieses Zitat wurde Karl Lueger zugeschrieben, weil er, sobald es ihm notwendig erschien, durchaus Kontakte zu Juden und Jüdinnen unterhielt.9 8
9
Siehe dazu auch Christian STADELMANN, Die Demonstration des politischen Katholizismus. Fronleichnam in Wien 1919–1938, in: Olaf BOCKHORN (Hg.), Urbane Welten. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1998 in Linz, Wien 1999, S. 377–402, hier S. 377–381. HAMANN, Hitlers Wien, S. 416f.
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Am 30. März 1899 starb Jacob Rothberger im 74. Lebensjahr. Nach dem Tod ihres Vaters übernahmen die drei Brüder Moritz, Heinrich und Alfred die Geschäftsführung des Familienbetriebes, im Jahr darauf wandelten sie die bisherige Einzelfirma in eine offene Handelsgesellschaft um. Das Unternehmen führte weiterhin den Namen Jacob Rothberger und auch das erfolgreiche Geschäftsmodell wurde beibehalten: Die Stoffe wurden angekauft und von angestellten ZuschneiderInnen nach den Schnittmustern der für die Firma entworfenen Modelle zugeschnitten. Die so vorbereiteten Stoffteile wurden nun an Stück- oder ZwischenmeisterInnen weiterge geben, die daraus die fertigen Kleidungsstücke herstellten. Änderungen und Reparaturen wurden wiederum in den Werkstätten des Unternehmens von angestellten SchneiderInnen ausgeführt. Dazu kamen noch Angestellte in der Verwaltung und Administration. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren über 300 Personen bei der Firma Rothberger angestellt, dazu waren noch zirka 600 weitere – über die StückmeisterInnen – Beschäftigte vom Unternehmen abhängig. 1906 kaufte die Familie Rothberger das Haus Stephansplatz Nr. 10, das bisherige Warenhaus Kranner.10 Die Geschäftsräume dieses Hauses wurden aber nicht in das bauliche System des Warenhauses Rothberger integriert. Die Liegenschaft dürfte zum einen als Anlageobjekt erworben worden sein, zum anderen waren damit alle Gebäude am Stephansplatz, die zwischen Jasomirgottstraße und Goldschmiedgasse lagen, im Eigentum der Familie, womit auch die Kontrolle über deren Nutzung bzw. etwaige Umbauten gewährleistet war. Nachdem die Filiale in Prag 1899 geschlossen worden war,11 verfügte die Firma nur mehr über eine Niederlassung außerhalb Wiens, und zwar in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Diese Dependance wurde von Wien aus mit Waren beliefert. Im Jahr 1909 wurde diese Filiale im Auftrag und nach den Vorstellungen der Brüder Rothberger ebenfalls durch das Architekturbüro Fellner & Helmer neu errichtet, das ja bereits in Wien 1884/85 den Warenhausneubau und 1894/95 dessen Erweiterung übernommen hatte. Die Filialen, die die Firma Rothberger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien eröffnet hatte – u. a. in der Mariahilferstraße, der Wiedner Hauptstraße, der Taborstraße und der Alser Straße –, bestanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle nicht mehr.12 1908 expandierte die Firma aber nach London und eröffnete auch eine Filiale in Paris.13 10 11 12 13
HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 92, Fußnote 33. WStLA, Gewerbeakten A51a, Ass. Nr. 16.622. Warum die Filialen in Wien und in Prag geschlossen worden waren, ist nicht bekannt. HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 102f.
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Das Warenhaus Jacob Rothberger am Stephansplatz, um 1900.
1912 ließen die Rothberger-Brüder die Fassade des Haupthauses der Firma am Wiener Stephansplatz neu gestalten. Nach dem Entwurf von Otto Prutscher14 wurde der von Fellner & Helmer gestalteten Fensterfront eine Metallkonstruktion vorgehängt. Nun liefen über Mezzanin und ersten Stock Fenster, die oben arkadenartig in flachen Bögen abschlossen und von hellen schlichten Platten eingerahmt waren.15 Auch nach dem Tod ihres Mannes wohnte Rosalia Rothberger weiterhin im Phi lipphof neben der Albertina, sie starb am 24. Juni 1914 im Alter von 84 oder 85 Jahren im Haus der Familie in Neuwaldegg. Gerade in den Anfangsjahren des 20.
14 Otto Prutscher war etwa zeitgleich für den Umbau der Villa von Moritz und Karolina Rothberger in Baden zuständig. Siehe den Beitrag „Moritz Rothberger“ in diesem Band. 15 Gemeinde Wien, MA 37 Baupolizei 1. Bez. E.Z. 367 Goldschmiedgasse O. Nr. 2, „Einreichungsplan für die Aufstellung eines eisernen Portales am Hause I., Stefansplatz 11, Herrn Jacob Rothberger gehörig. Wien, Juli 1912“; Architektur und Bautechnik. Zeitschrift für neuzeitliches Bauschaffen, Baukunst, Bautechnik und Baubetrieb, Nr. 4–5/1932, S. 58. Danke für diesen Hinweis an die MitarbeiterInnen der Bibliothek der Akademie für bildende Künste, Wien.
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In der Bildmitte stehend Alfred Rothberger, rechts angelehnt Carl Julius Rothberger und auf der Bank sitzend Heinrich Rothberger in der Wohnung von Ella und Heinrich Rothberger am Stephansplatz 1901.
Jahrhunderts blieb die Familie von Schicksalsschlägen nicht verschont: Am 19. Februar 1902 starb Egon Wieländer, Sohn von Ida Rothberger und Michael Wieländer, im Alter von erst 16 oder 17 Jahren. Am 23. September 1905 starb eine Tochter Rosalia und Jacob Rothbergers, Bertha, 46-jährig, eine weitere Tochter, Jenny, am 20. Dezember 1914 mit 53 Jahren. Jenny, die eigentlich Eugenie hieß, hatte 1891 mit 30 Jahren den aus Ungarn stammenden Ökonomen Martin Stern geheiratet. Das Paar hatte eine Tochter, Julcsa Stern, geboren am 28. Juli 1893, die 1911 Dr. Alexander Denes heiratete.16 Während Julius auch nach seiner Hochzeit mit Leopoldine Wohlfarth 1923 und der Geburt der gemeinsamen Tochter Bertha 1928 weiterhin im Philipphof wohnen blieb, besaßen Moritz und Alfred Rothberger Wohnungen im 4. Wiener Gemeindebezirk, in der Margaretenstraße 30 und in der Wohllebengasse 4. Im Gebäudekomplex des Warenhauses am Stephansplatz bezog einzig Heinrich Rothberger eine Wohnung. Seine Adresse lautete Jasomirgottstraße 1, es handelte sich um den Seiteneingang zum Haus Stephansplatz 9. Am 11. April 1897 heiratete 16 Aufstellung von Wolf-Erich Eckstein / Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.
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Heinrich seine Nichte Ella, die Tochter seiner ältesten Schwester Caroline und deren ersten Ehemanns Johann Friedrich Burchardt. Ella, geboren am 11. September 1878, brachte am 9. Mai 1899 den ersten Sohn Johann Jacob, kurz Hans, zur Welt, am 14. Oktober 1902 den zweiten Sohn Friedrich, Fritz genannt. Alfred, das 1873 geborene jüngste Kind von Jacob und Rosalia Rothberger, war wie seine Brüder Moritz und Heinrich zum Kaufmann und Schneider ausgebildet worden. Alfred dürfte zudem – wie Moritz auch – eine künstlerische Ausbildung genossen haben, ob privat oder im Rahmen eines institutionalisierten Ausbildungsbetriebs ist nicht bekannt.17 Jedenfalls stammen von seiner Hand einige sehr qualitätvolle und fein gearbeitete Bronzemedaillen – so eine Medaille mit dem Portrait des Musikhistorikers Heinrich Schenker (1868–1935), eine Plakette mit dem Bildnis des Gesangspädagogen Otto Iro (1890–1971) und auch ein Portraitmedaillon von dem Komponisten Gustav Mahler (1860–1911).18 Seine künstlerischen Spuren finden sich auch auf Interieurfotos der Wohnung Heinrich und Ella Rothbergers, auf denen verschiedene Reliefplatten zu sehen sind.19 Alfred Rothberger heiratete 1914 die 1892 geborene Hilda Landsberger. Das Ehepaar hatte drei Kinder: Karl Leopold, geboren am 30. November 1915, Albert, geboren am 22. Mai 1917, und Agathe, geboren am 8. Juni 1921. Mit dem bereits erwähnten Heinrich Schenker war die Familie auch privat verbunden. Für den Zeitraum 1929 bis 1938 ist der Briefwechsel zwischen Hilda Rothberger und Heinrich Schenker bzw. dessen Frau Jeanette Schenker erhalten, des weiteren Korrespondenzen zwischen Karl Rothberger und der Familie Schenker. 1934/35 gab Schenker einem/einer „A. Rothberger“ Musikstunden; vermutlich handelte es sich dabei entweder um Agathe oder Albert Rothberger.20 Alfred Rothberger starb am 23. Mai 1932 im Sanatorium Fürth, Schmidgasse 14 in der Josefstadt. Kurz davor, am 17. März 1932 war Caroline Brünn, das älteste Kind von Jacob und Rosalia Rothberger, im 77. Lebensjahr gestorben. Caroline Rothberger war in erster Ehe mit dem gebürtigen Berliner Johann Friedrich Burchardt verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe stammen drei Kinder: die schon genannte Ella, geboren 17 In den Archiven der Universität für angewandte Kunst Wien, der Nachfolgeinstitution der Kunstgewerbeschule, und der Akademie der bildenden Künste Wien finden sich keine Hinweise auf die RothbergerBrüder. 18 Unter dem Namen Alfred Rothberger wurden im Jahr 1910 bei Steingräber in Leipzig Klavierkompositionen unter dem Titel „Märchen“ und „Burlesk“ verlegt. Ob es sich hierbei um den Wiener Kaufmann und Schneider handelt, ist allerdings nicht klar. 19 Siehe dazu den Beitrag „Heinrich Rothberger – der Porzellansammler“ in diesem Band. 20 http://mt.ccnmtl.columbia.edu/schenker/profile/person/rothberger_alfred.html (Stand 24.11.2009).
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1878, die 1897 Heinrich Rothberger heiratete, Wilhelm, geboren 1879, und Alice, geboren 1880, die mit nicht einmal zwei Jahren starb. Nach dem Tod von Johann Friedrich Burchardt 1893 heiratete Caroline 1899 den Kaufmann Wilhelm Brünn, der aus Angerburg in Preußen stammte. Wilhelm Brünn starb nicht ganz ein Jahr nach seiner Frau am 27. Jänner 1933 im 1931 gegründeten Altersheim der Wiener Kaufmannschaft in Wien-Döbling.21 Trotz wirtschaftlicher Krisen entwickelte sich die Firma Rothberger in den 1910er Jahren weiterhin durchaus positiv.22 Selbst der Beginn des Ersten Weltkriegs bedeutete noch keinen schweren Einschnitt23, doch das änderte sich mit dem Verlauf des Krieges. Der Zerfall Österreich-Ungarns 1918 schnitt die Firma Rothberger schließlich von der Textilindustrie ab, die nun im Ausland, zum großen Teil in der neu gegründeten Tschechoslowakei, lag. Die Beschaffung von Stoffen war daher nun schwieriger und durch Zollabgaben belastet. Auch die ökonomischen Probleme der jungen österreichischen Republik und besonders die extreme Inflation in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg beeinträchtigten die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens. Nach dem Tod von Alfred Rothberger im Jahr 1932 führten die Brüder Moritz und Heinrich das Geschäft bis zum Jahr 1938 weiter. Die Firma Rothberger profitierte zwar weiterhin von dem langjährig aufgebauten guten Ruf, dennoch führten zu hohe Fixkosten zu Verlusten, die die Familie durch Zuführung von finanziellen Mitteln aus Einkünften aus diversen Liegenschaften auszugleichen versuchte. Größere Neuanschaffungen waren nur mehr eingeschränkt möglich.24 Zu Beginn der 1930er Jahre gab die Firma Rothberger die meisten ihrer Geschäftsflächen im Haus Stephansplatz 11 auf, die Mitglieder der Familie blieben aber EigentümerInnen der Liegenschaft. Die Geschäftslokale im Erdgeschoss des Warenhauses waren ja schon seit der Eröffnung verpachtet gewesen. Nun wurden die Räumlichkeiten im Mez21 http://web2.cylex.de/firma-homepage/http%3A//www.seniorenwohnanlage.at-4494000.html (Stand 24.11.2009). 22 HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 102–104. 23 Ausgehend von Lehmann’s Allgemeinem Wohnungsanzeiger und dem Industrie-Compass für die Jahre 1908–1919 nimmt Hann an, dass die Filialen in London und Paris nach dem Ersten Weltkrieg aufgegeben wurden (HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 103, Fußnote 93). Da ÖsterreichUngarn sich im Krieg mit Großbritannien und Frankreich befand, ist eher davon auszugehen, dass der Kontakt und vielmehr noch der Waren- und Geldfluss zwischen der Wiener Zentrale und den Filialen bereits mit Kriegsbeginn nahezu vollständig zum Erliegen kam. 24 HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 105.
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Die Familie Rothberger vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938
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Der Stephansplatz in Wien in den 1920er Jahren, rechts das Warenhaus Jacob Rothberger.
zanin und im ersten Stock von Haus Nr. 11 umgebaut und vermietet,25 ab 1933 befand sich im Mezzanin das Café Jungwirth. Die Familie Rothberger war eine assimilierte großbürgerliche Wiener Familie jüdischer Herkunft, deren Mitglieder ihre Religion zwar nicht gänzlich aufgegeben hatten, deren Leben aber kaum noch von religiösen Regeln bestimmt war. Schon Jacob Rothberger war vom „Zentral-Organ für das gesetzestreue Judenthum“ dafür kritisiert worden, dass er als Leiter eines Unternehmens die Sabbatruhe und jüdische Feiertage nicht einhalte und dies auch seinen jüdischen MitarbeiterInnen nicht erlaube.26 Carl Julius Rothberger war 1889 mit 18 Jahren aus der Kultusgemeinde ausgetreten, widerrief diesen Austritt aber bereits zwei Jahre später.27 Da im Austrittsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde keine näheren Informationen 25 Gemeinde Wien, MA 37 Baupolizei 1. Bez. E.Z. 367 Goldschmiedgasse O. Nr. 2, M. Abt. 56/21592/1932. 26 Wiener jüdische Presse. Zentral-Organ für das gesetzestreue Judenthum 15 /14.4.1899, 1. Jg., S. 163, zitiert nach HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 96. 27 Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Bestand Wien, Austrittsbuch.
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zu diesem Austritt vorliegen, sind die Gründe dafür heute unklar. Für keines der Mitglieder der Familie Rothberger konnten Hinweise auf ein Engagement in der Israelitischen Kultusgemeinde oder sonstige Aktivitäten in Zusammenhang mit ihrer jüdischen Religion gefunden werden. Bei allem geschäftlichen Erfolg pflegte die Elterngeneration offenbar einen nur mäßig luxuriösen Lebensstil – zumindest vermittelt der Verlassenschaftsakt Jacob Rothbergers dieses Bild. Als vererbbare Güter finden sich neben den Liegenschaftsanteilen eine Equipage, Pretiosen im Wert von nur 430 Kronen und als einziger auffälliger Bestand von größerem Wert ein stattlicher Weinvorrat, der auf 5510,18 Kronen geschätzt wurde.28 Das Vermögen wurde offensichtlich – durchaus typisch für die Gründerzeitgeneration – vor allem in Liegenschaften investiert. Die nachfolgende Generation, insbesondere die Brüder Moritz und Heinrich Rothberger, die leidenschaftliche Kunstsammler waren, pflegte demgegenüber bereits einen deutlich aufwendigeren Lebensstil. Soweit dies aus den Lebensläufen ersichtlich ist, war die Ausbildung zum Schneider und Kaufmann für die männlichen Familienmitglieder bis zu einem gewissen Grad vorgegeben, eine Tradition, auf die – wie es scheint – in der ersten Kindergeneration noch deutlich mehr Wert gelegt worden war. Von den vier Söhnen von Jacob und Rosalia ergriff nur Julius einen anderen Beruf, er entschied sich für eine medizinische Karriere.29 Dass es Ambitionen auch in andere Richtungen gab, zeigt die intensive künstlerische Betätigung zumindest dreier Brüder, die rückblickend (und wie es scheint auch in der zeitgenössischen Beurteilung) durchaus professionelle Züge hatte. Moritz war als Bildhauer tätig,30 Alfred arbeitete wie schon erwähnt als Medailleur, Julius schließlich war renommierter Amateurfotograf und seit 1907 Mitglied der Photographischen Gesellschaft sowie des Camera-Clubs.31 Unter anderem nahm er mit Landschaftsaufnahmen an den großen fotografischen Ausstellungen in Dresden 1909, Budapest 1910 und Wien 1912 teil.32 Im Katalog 28 WStLA, Verlassenschaftsakt Jacob Rothberger, fol. 74. Verlassenschaftsakten sind als Quellen für die tatsächliche Erbmasse kritisch zu betrachten, da sicher nicht sämtliche Vermögenswerte angeführt wurden, u. a. um sie vor den staatlichen Instanzen zu verbergen. Allerdings spiegeln jene Positionen, die angeführt wurden, durchaus bis zu einem gewissen Grad die Lebensumstände des Verstorbenen wider. 29 Übrigens schlug auch sein Neffe Friedrich, der Sohn Heinrichs, später eine naturwissenschaftliche Laufbahn ein. Er machte sich als Mathematiker einen Namen. 30 Siehe dazu den Beitrag „Moritz Rothberger“ in diesem Band. 31 Friedrich JASPER (Verl.), Die k. k. Photographische Gesellschaft in Wien. 1861–1911, Wien 1911, S. 108. 32 Timm STARL, Lexikon zur Fotografie in Österreich, Wien 2005, S. 409.
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zur Budapester Ausstellung wurde er immerhin als einer der besten „Landschafter“ bezeichnet.33 Es ist anzunehmen, dass die Interieurfotos von Heinrich Rothbergers Wohnung von Julius gemacht wurden – allerdings gibt es hierfür keinerlei Bestätigung. Insgesamt ist bemerkenswert, wie wenig die Brüder in ihrer Funktion als Gesellschafter der Firma öffentlich in Erscheinung traten. Wenn sie als Einzelpersonen Erwähnung fanden, so fast ausschließlich als Künstler oder – wie im Fall Heinrichs – als Sammler. Die Tradition der Herrenschneiderei wurde auch in die nächste Generation weitergetragen. In jedem Fall wurde die Fortführung des Betriebs – so schien es zunächst – mit dem Firmeneintritt von Johann Jacob Rothberger, dem erstgeborenen Sohn Heinrichs – einem gelernten Schneider – im Jänner 1938 bestätigt. Aber auch Albert, der 1917 geborene zweite Sohn von Hilda und Alfred Rothberger, hatte die Schneiderlaufbahn eingeschlagen. Gleichzeitig zeigte sich u. a. an der Berufswahl von Friedrich, dem zweiten Sohn von Ella und Heinrich Rothberger, wie weitgefächert Talente und Interessen innerhalb der Familie waren. Er studierte Mathematik an der Universität Wien und promovierte 1927. 1937/38 arbeitete er an der Warschauer Universität. Schließlich – und auch das sollte Erwähnung finden – ist die Geschichte der Familie Rothberger eine „Männer-Geschichte“. Der enge Zusammenhalt innerhalb der Familie betraf nur die Brüder und deren Familien. Die vier Schwestern, Caroline, Bertha, Ida und Eugenie, ganz zu schweigen von den früh verstorbenen Schwestern, hinterließen nur wenige Spuren.34
33 Siegfried WACHTL, Die internationale photographische Ausstellung in Budapest 1910, in: PhotoSport, VI. Jg., 8 (1910), S. 75–78, hier S. 76. 34 Sie werden vor allem in den Dokumenten zum Vermögensentzug in der NS-Zeit sichtbar.
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Moritz Rothberger Ulrike Nimeth
Das Bild von Moritz Rothberger, dem ältesten der vier Rothberger-Brüder, umfasst verschiedene Facetten und Aspekte, von denen seine Sammelleidenschaft – zumindest aus Sicht der Provenienzforschung – wohl am schnellsten ins Blickfeld gerät: Moritz Rothberger sammelte vorwiegend antike und prähistorische Fundobjekte, besaß darüber hinaus aber auch Bilder zeitgenössischer KünstlerInnen. Schon bei etwas näherer Betrachtung lässt sich aber ein wesentlich feiner profiliertes Bild einer vielschichtigen Persönlichkeit gewinnen, zu deren Eigenschaften wie bei Carl Julius und vor allem auch Alfred1 nicht zuletzt eine ausgeprägte künstlerische Neigung gehörte, die über den üblichen großbürgerlichen Zeitvertreib deutlich hinausging. Im Hauptberuf Schneider und Kaufmann war Moritz Rothberger mit einigermaßen solidem Erfolg auch als Bildhauer tätig. Zu seinem Bekanntenkreis zählten Künstler wie der Bildhauer Hans Bitterlich (1860–1949), der Maler Rudolf Swoboda (1859–1914) und der Karikaturist Fritz Schönpflug (1873–1951).
Moritz Rothberger, um 1920.
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Siehe dazu den Beitrag „Die Familie Rothberger vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938“ in diesem Band.
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Die Quellen zu Moritz Rothberger bestehen im Wesentlichen aus Hinweisen auf seine Kunstproduktion und auf den Kunstankauf, aus kleineren biografischen Texten und einigem historischen Aktenmaterial, das u. a. die Verfolgung und den damit einhergehenden Vermögensverlust dokumentiert. Insgesamt hat das biografische Gesamtbild, das rekonstruiert werden konnte, eine Schlagseite in Richtung der künstlerisch ambitionierten Interessen – sowohl, was die aktive Betätigung als Künstler als auch die Rolle als Sammler und Förderer meint; entsprechend lassen sich die Rechercheergebnisse am besten in thematische Kapitel zusammengefasst darstellen, die damit eine chronologische biografische Darstellung ersetzen. Dieses Übergewicht wird wohl nicht ganz der Realität entsprechen, bringt aber vermutlich doch die Bedeutung dieses Aspektes in Moritz Rothbergers Leben zum Ausdruck. Selbst in einem Akt der Wirtschaftskammer wird seine „künstlerisch genial veranlagte Natur“ erwähnt.2 Angesichts der Leitbilder für die Zeit der Jahrhundertwende, die u. a. in Form des Salons der Berta Zuckerkandl (1864–1945) und von Künstlern wie Arthur Schnitzler (1862–1931) und Stefan Zweig (1881–1942) bestehen, ist es verleitend, darin die typische Ausprägung eines großbürgerlichen Lebenskonzepts im liberalen, assimiliertjüdischen Milieu zu sehen. Allerdings sollte man mit derartigen Zuschreibungen im Rahmen einer ersten Annäherung vorsichtig sein, weil sie vorschnell Klischees bedienen und ein noch vorläufiges Bild fixieren. Der Verweis auf andere Lebensläufe und die Schriften von ZeitgenossInnen, die ihre Leben in Wien um die Jahrhundertwende autobiografisch festgehalten haben, bietet sich zwar an. Allerdings können solche Texte nicht viel mehr als ein unverbindliches Angebot darstellen, mit dem biografische Lücken frei assoziierend aufgefüllt werden können.3
Berufliches und Privates Moritz Rothberger wurde als siebtes Kind und dritter Sohn4 von Jacob und Rosalia Rothberger am 24. Dezember 1865 in Wien geboren. Nach der Schule in Wien5 2 3
4 5
Archiv der Österreichischen Wirtschaftskammer, Akt E 33978 der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie von 1931. Autobiografische Schriften von Wiener Zeitgenossen Moritz Rothbergers sind etwa: Arthur SCHNITZLER, Jugend in Wien, Wien 1920 (hg. 1968); Stefan ZWEIG, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1942. Auskunft des Matrikenamtes der Israelitischen Kultusgemeinde zur Familie Rothberger. Laut Prominenten-Almanach von Oscar FRIEDMANN (Bd. 1, Wien-Leipzig 1930, S. 232) absolvierte Moritz Rothberger die Gymnasialmatura. Die Unterstufe besuchte er nachweislich im Akademischen
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Moritz Rothberger
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und Ausbildungsjahren in den USA und Schottland6 trat er 1886, also zur Zeit des Neubaus des Warenhauses Rothberger durch das Architektenduo Fellner & Helmer, in den väterlichen Betrieb ein, in dem er von 1889 bis 1891 die Schneiderlehre absolvierte7 und den er im Jahr 1900 zusammen mit seinen Brüdern Heinrich und Alfred als Gesellschafter übernahm.8 Im Vorfeld der Übernahme war es zunächst zu Schwierigkeiten gekommen, die aber bald beigelegt werden konnten: Moritz konnte zwar ein Zeugnis der Kleidergenossenschaft vorlegen, war aber nicht als Gehilfe angemeldet worden. Aussagen einiger Angestellter über seine Tätigkeit im Betrieb verhalfen ihm letztendlich zur nötigen Gewerbeberechtigung und ermöglichten die Übernahme.9 Über seine weitere kaufmännische Karriere sind abseits der allgemeinen Daten zum Kaufhaus kaum Informationen vorhanden. 1931 wird er vom Bundesminister für Handel und Verkehr, dem christlichsozialen Eduard Heinl (1880–1957; Minister 1930–32), für eine Auszeichnung vorgesehen. Die Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie erklärt in dem entsprechenden Unterstützungsschreiben phrasenhaft, dass der „tüchtige Kaufmann“ Moritz Rothberger Seniorchef des auch nach dem Ersten Weltkrieg noch bedeutenden Warenhauses sei; überdies, dass er als langjähriger Generalsekretär des Rotary Club eine „umfangreiche und erfolgreiche Tätigkeit entfaltet“ hätte.10 Tatsächlich war Moritz Gründungsmitglied des ersten österreichischen Rotary Clubs in Wien im Jahr 1925 gewesen. Mit ihm waren u. a. der Industrielle und Agrarfachmann Siegfried Strakosch-Feldringen (1867–1933), der Komponist Franz Lehár (1870–1948), der Gestaltpsychologe Max Wertheimer (1880–1943), Gymnasium (siehe dazu die „Jahresbericht[e] über das k. k. akademische Staatsgymnasium in Wien“, zuletzt für das Schuljahr 1878/79, in welchem Moritz die Klasse IVb absolvierte). Welche Schule er später besuchte, ist nicht bekannt. 6 Hierzu gibt es unterschiedliche Aussagen: FRIEDMANNs Prominenten-Almanach von 1930 (S. 232) spricht von einer fachlichen Ausbildung in einer schottischen Fabrik; Franz PLANER (Jahrbuch der Wiener Gesellschaft, Wien 1928, S. 286) dahin gegen von Ausbildungsjahren in England. Der Almanach ist in diesem Punkt wie auch in der gesamten Darstellung detaillierter und damit glaubwürdiger. Zudem macht die Annahme einer Ausbildung etwa im schottischen Glasgow, das in dieser Zeit ein Zentrum der Industrialisierung darstellte, durchaus Sinn. 7 Edith HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, in: Andreas LEHNE, Wiener Warenhäuser 1865–1914. Mit Beiträgen von Gerhard MEIßL und Edith HANN, Wien 1990, S. 85–120, hier S. 96, Fußnote 55, ohne Angabe der Quelle. 8 WStLA, Handelsgerichtsakten, Ges 51/A bzw. der Beitrag „Die Familie Rothberger vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938“ in diesem Band. 9 WStLA, Handelsgerichtsakten, Ges 51/A, Ass.Zl. 204.146, H 29.773/1899; siehe auch HANN, Herrenkleider-Magazin Jacob Rothberger, S. 115, Fußnote 157. 10 In diesem Zusammenhang sind vielleicht die Verdienste auf „humanitärem Gebiete“ zu sehen, die bei Franz Planer 1928 erwähnt werden. PLANER, Jahrbuch, 1928, S. 286.
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der Dirigent, Komponist, Pianist und Schriftsteller Felix Weingartner (1863–1942) und der oben genannte Eduard Heinl an der Gründung beteiligt gewesen; sie können damit als näheres persönliches Umfeld von Moritz Rothberger benannt werden. Spätestens mit der Arisierung des Warenhauses im Jahr 1938, vermutlich aber durch etappenweise Übertragung der Agenden an Johann Jacob Rothberger schon vorher, hatte seine berufliche Karriere ein Ende gefunden. Ebenfalls nur allgemeine Informationen gibt es zu Moritz Rothbergers Ehe mit Karolina/Carla Anna Rothberger (1870–1921), geborene Huberth, verwitwete Tremel, mit der er ab 1913 verheiratet war, die aber bereits am 18. März 1921 starb.11 Die einzige Ehe des ältesten der Rothberger-Brüder blieb kinderlos.12 Als langjährige Wegbegleiterin ist die Haushälterin Sofie Podsednik zu nennen, die als Erbin und im Zuge der Rückgabevorgänge auch als Anspruchsberechtigte auftrat.
Wohnen Seine Jugend und einen Teil seines Erwachsenendaseins verbrachte Moritz mit seiner Familie im Philipphof, dem 1883/84 durch Carl König errichteten Mietshaus 13 in prominenter nachbarschaftlicher Lage zur Albertina, in dem u. a. die Schriftstellerin Gina Kaus (1893–1985) bis zu ihrer Flucht lebte. Laut Matrikeneintrag der Israelitischen Kultusgemeinde war Moritz Rothberger dort bis 1913, dem Jahr seiner Heirat, wohnhaft geblieben; den Einträgen in Lehmanns Wiener Adressbuch zu diesen Jahren ist für ihn lediglich die Geschäftsadresse am Stephansplatz zu entnehmen.14 1912 erwarb er zusammen mit seinem Bruder Julius die Liegenschaft Margaretenstraße 30 im 4. Wiener Gemeindebezirk, in unmittelbarer Nähe zu den Gründen des Freihauses.15 Die Margaretenstraße bestand bereits seit 1700 und hatte sich im 19. Jahrhundert zu einer der wichtigsten Ausfallsstraßen des 4. und 5. Bezirkes mit zum Teil noch 11 Meldeauskunft der MA 8 (WStLA) betr. Moritz und Carla Rothberger, 8.4.2009. 12 In den Matriken der IKG ist ein Ludwig Rothberger als Kind von Moritz und Karolina Rothberger allerdings ohne Geburts- und Sterbedatum verzeichnet. Das Kind dürfte demnach bald nach oder schon bei der Geburt gestorben sein. 13 Dieter KLEIN, Martin KUPF, Robert SCHEDIWY, Wiener Stadtbildverluste seit 1945, Wien 2001, S. 98–100. 14 Überhaupt kann von einer eindeutigen Trennung von Wohn- und Geschäftsadresse keine Rede sein. Auch 1916 wird in den Verkaufsprotokollbüchern des Künstlerhauses (siehe dazu auch weiter unten) als Adresse Moritz Rothbergers Stephansplatz 9 angeführt, wiewohl es sich um einen Privatankauf gehandelt haben dürfte. 15 Grundbuch Wieden, Einlagezahl 479.
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biedermeierlicher Bebauung entwickelt.16 Durch das 1872 eingerichtete legendäre Atelier Makarts in der Gusshausstraße und das Schikanedertheater, in dem u. a. 1791 Mozarts Zauberflöte zur Uraufführung gekommen war, hatte der Bezirk auch in dieser Hinsicht ein gewisses Flair zu bieten. In der Nähe wohnten u. a. der Kabarettist Fritz Grünbaum (1880–1941), der Maler John Quincy Adams (1874–1933) und die Malerin Olga Wiesinger-Florian (1844–1926). Ebenfalls in unmittelbarer Nähe befanden sich die Karlskirche und die unter Kaiser Franz I. gegründete k. k. Technische Hochschule.17 Während Julius weiter im Philipphof wohnen blieb, der Erwerb der Liegenschaft in der Margaretenstraße aus seiner Sicht also wahrscheinlich eine Art Anlage darstellte oder bereits im Hinblick auf die Bedürfnisse seiner Tochter Bertha geschah, bewohnte Moritz mit seiner Frau eine Wohnung auf der 4. Stiege, in einem abseits der Straße gelegenen Teil des Hauses. Im Erdgeschoss unterhielt er ein Atelier, das mit der Wohnung durch eine Stiege verbunden war. Vermutlich handelte es sich bei der Stiege 4 überhaupt um einen separierten Bau, der im Stil der Wiener Werkstätte eingerichtet war und dem im Hof davor eine vier bis fünf Meter hohe ZyklopenStatue vorgestellt gewesen war.18 Diese Statue stellte mit einiger Wahrscheinlichkeit die Polyphem-Figur dar, mit der Moritz Rothberger im Jahr 1913 an der Adria-Ausstellung teilgenommen hatte.19 Eine vage Vorstellung der Wohnungseinrichtung gibt ein Akt des Bundesdenkmalamtes aus dem Jahr 1921, der im Zuge des Ansuchens um Befreiung von der Zugriffsmöglichkeit durch das Wohnungsamt entstanden war. Die damit gemeinten sogenannten Wohnungsanforderungen waren Folge der allgemeinen Wohnungsnot, durch eine Vollzugsanweisung von 1918 bzw. das Mietengesetz von 192220 geregelt 16 INSTITUT FÜR ÖSTERREICHISCHE KUNSTFORSCHUNG des Bundesdenkmalamtes (Hg.), Österreichische Kunsttopographie. Band XLIV. Die Kunstdenkmäler Wiens. Die Profanbauten des III., IV. und V. Bezirkes, Wien 1980, S. 316f. 17 Zur Aktualität dieser Konnotationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe u. a.: [August] AICHHORN, FUCHS, [Hans] KAINDLSTORFER, SCHWALM, [Edgar] WEYRICH, Die Wieden, Wiener Heimatbücher, Heft 4, Leipzig-Wien 1913. 18 Diese Annahme beruht u. a. auf einer – allerdings sehr rudimentären – Grundrisszeichnung im Kunsthistorischen Atlas Wiens aus dem Jahr 1913, auf der der Baukomplex der Liegenschaft Margaretenstraße 30 – insgesamt einen Hof umschließend – in zwei U-Teile unterteilt ist: einen vorderen, der über die Legende dem Zeitraum „von 1770 bis zum Beginn des 19. Jahrh.“ zugeordnet ist, und einen hinteren, dem Zeitraum „aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. u. dem Anfang des 20. Jahrh.“ zugeteilt; Hugo HASSINGER, Österreichische Kunsttopographie. Band XV. Kunsthistorischer Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Und Verzeichnis der erhaltenswerten historischen Kunst- und Naturdenkmale des Wiener Stadtbildes, Wien 1916, „Kunsthistorischer Plan des 4. Bezirkes Wieden“. 19 FRIEDMANN, Prominenten-Almanach, S. 232. 20 BGBl 1922/872.
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gewesen und in der Durchführung im Übrigen wie vieles nicht frei von antisemitischen Ressentiments und Interessen:21 So schrieb 1919 Emmerich Siegris (1886– 1946), Architekt und zuständiger Mitarbeiter des Bundesdenkmalamtes,22 in einem Akt über die bevorstehende Anforderung einer Wohnung in der Wieden, welche teils von polnischen Juden bewohnt war, dass ihm die Teilung „[s]chon mit Rücksicht auf die angenehme Hoffnung, dass diese Räume einer unterstandslosen deutsch österreichischen Familie nunmehr zufallen dürften, [...] eine besondere Befriedigung“ darstelle.23 Auf der Grundlage der Besichtigung durch eben jenen Siegris dokumentiert der Akt nun für die Wohnung Moritz Rothbergers Herrenzimmer, Kabinett, Speisezimmer und das Atelier samt Vorräumen im Erdgeschoss, mit über die gesamte Wohnung verteilten „hervorragende[n]“ Gemälden, der Sammlung prähistorischer Objekte im Herrenzimmer, mit chinesischem und Alt Wiener Porzellan, zahlreichen Kleinkunstwerken, kunstgewerblichen „sehr gute[n]“ Möbeln und festen kunstgewerblichen Einbauten. Alles in allem vermittelten die „Interieurs“ einen „künstlerischen Gesamteindruck [...], so dass deren Schutz und gesicherte Erhaltung im Interesse der Denkmalpflege liegen“. Detaillierte Angaben zu den Kunstgegenständen fehlen aber leider völlig. Ein besseres, weil dichter dokumentiertes Bild der Einrichtungs- und Repräsentationsbedürfnisse von Moritz Rothberger gibt der Sommersitz des Ehepaares Karolina und Moritz Rothberger in Baden.24 Das spätestens durch die Sommerresidenz Kaiser Franz I. (1768–1835) zum Nobelkurort avancierte Baden war beliebter Sommersitz der aristokratischen und großbürgerlichen Wiener Gesellschaft. Die Villa in der Radetzkystraße 10 / Friedrichstraße 14 war 1912 von Karolina Tremel erworben worden und blieb auch nach der Heirat Karolinas mit Moritz im Jahr 1913 in ihrem Eigen-
21 Die Akten des Bundesdenkmalamt-Archivs umfassen im Wesentlichen den Zeitraum 1919 bis 1929 (ein einzelner Akt stammt aus dem Jahr 1937). Zum Gesetz siehe auch Georg GRAF, Brigitte BAILERGALANDA, Eva BLIMLINGER, Susanne KOWARC, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 14), Wien-München 2003, S. 99f. Allgemein zum Thema Wohnungsanforderungen siehe: Wolfgang HÖSL und Gottfried PIRHOFER, Wohnen in Wien 1848–1938. Studien zur Konstitution des Massenwohnens, Wien 1988, S. 91–97, insbesondere S. 95–97. Siehe dazu auch den Vorgang der Wohnungsanforderung bei Heinrich Rothberger im Beitrag „Heinrich Rothberger – der Porzellansammler“ in diesem Band. 22 Theodor BRÜCKLER und Ulrike NIMETH, Personenlexikon zur österreichischen Denkmalpflege, Horn 2001, S. 255. 23 BDA-Archiv, Wohnungsanforderungsakten, Kt. Wien III., IV. Bezirk, Gz. 1898/1919. 24 Der Hinweis auf die Nutzung als Sommersitz u. a. bei PLANER, Jahrbuch, 1928, S. 286.
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tum.25 1918 taucht sie bei einer Meldung in Baden als Unterstandgeberin für ihren zweiten Ehemann auf,26 und erst 1922, nach dem Tod Karolinas im Jahr 1921, wurde das Eigentumsrecht für Moritz einverleibt.27 Das Haus war in den Jahren 1902/03 durch Josef Schmidt (1838–1910), den Stadtbau- und Kammerbaumeister Erzherzog Rainer Ferdinands (1827–1913) errichtet worden.28 Bereits im Jahr des Erwerbs durch Karolina, also nur wenige Jahre später, wurde der Bau durch Otto Prutscher rundum erneuert.29 Dass Moritz Rothberger Karolina laut Matrikeneintrag freilich erst 1913, also ein Jahr nach Erwerb und Umbau heiratete, die Umgestaltung aber in der einschlägigen Literatur stets als Umbau
Die Villa Rothberger in Baden nach dem Umbau durch Otto Prutscher 1912.
25 Grundbuch Baden, Einlagezahl 996. 26 Historisches Meldezettel-Archiv im Rollettmuseum-Stadtarchiv Baden, Meldezettel Carla Rothberger vom 9.7.1918. Im Adressbuch der Kurstadt Baden, Jahrgang 1929/30, ist die Friedrichstraße auf Moritz Rothberger eingetragen, die Radetzkystraße (mit der selben Konskriptionsnummer und Einlagezahl) auf Karolina Rothberger. 27 Grundbuch Baden, Einlagezahl 996. 28 ÖSTERREICHISCHES BUNDESDENKMALAMT (Hg.), Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Niederösterreich südlich der Donau, Teil 1 (A bis L), Horn-Wien 2003, S. 212. Zur Person Josef Schmidts siehe Österreichisches Biographisches Lexikon. 1815–1950, Bd. X, Wien 1994, S. 261 (im Artikel zu Franz X. Schmidt [Schmid]). 29 Fritz SAXL, Zwei Wohnungen von Otto Prutscher, in: Das Interieur. Wiener Monatshefte für angewandte Kunst, Heft 14/1913, S. 33; Julia EGLIN-BLAHA, Otto Prutscher (1880–1949). Möbel und Kunsthandwerk, Dissertation, Graz 2002, S. 93–96.
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Das Speisezimmer der Villa Rothberger in Baden nach dem Umbau durch Otto Prutscher 1912.
der Villa Rothberger aufscheint, irritiert etwas; diese Diskrepanz konnte aber durch die vorliegende Arbeit nicht aufgelöst werden. Otto Prutscher, 1909–1938 Professor an der Kunstgewerbeschule und laut Matthias Böckl neben Josef Hoffmann eine Schlüsselfigur der modernen Designbewegung, war zum Zeitpunkt des Umbaus bereits ein renommierter Künstler, der sich vor allem durch die Gestaltung von Ausstellungs- und Geschäftsräumen – u. a. auch für das Warenhaus Rothberger30 und für das Geschäftslokal Munk am Stephansplatz 11, beide um 1910 – einen Namen gemacht hatte. Immer noch präsent im Stadtbild ist Prutschers sachlich-kühle Gestaltung des italienischen Feinkostgeschäfts Piccini [1934] beim Wiener Naschmarkt. 31 Im Zuge der Umgestaltung der Rothberger-Villa blendete Prutscher dem Bau eine Fassade im neoklassizistischen Stil vor, die angesichts der relativ bescheidenen Dimensionen des Baus aber keine allzu repräsentative Erscheinung erzeugen konnte. Das gut dokumentierte Innere unterzog Prutscher einer kompletten Neuordnung und Neugestaltung im Sinn secessionistischer Wohnvorstellungen mit zahlreichen Zitaten zeitgenössischer Raum- und Objektgestaltungen und unter Nutzung dichter 30 Siehe dazu den Beitrag „Die Familie Rothberger vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938“ in diesem Band. 31 Matthias BOECKL, Otto Prutscher, in: Renée PRICE (Hg.), Neue Welten. Deutsche und österreichische Kunst. 1890–1940, Köln 2001, S. 500–502, mit der Bewertung als „Schlüsselfigur“ auf S. 501; detaillierter zu einzelnen Themen und Fragestellungen in Prutschers Oeuvre siehe: Matthias BOECKL (Red.), Otto Prutscher. 1880–1949. Architektur – Interieur – Design, Ausstellungskatalog Hochschule für angewandte Kunst in Wien, Wien 1997, mit einer Chronologie der Lebensdaten und Werke auf den Seiten 140–147. 1910 hatte Otto Prutscher – wie Moritz Rothberger auch – an der Internationalen Jagdausstellung teilgenommen; vielleicht hatte es also auch hier schon Berührungspunkte gegeben.
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Oberflächentexturen als Gestaltungselement.32 Teil des ansonsten modernen Interieurs war eine Bauernstube im ersten Stock des Hauses. Sie bildete eine Art rustikaler „Insel“, die auf den ausdrücklichen Wunsch Moritz Rothbergers eingerichtet worden war,33 und die wohl eine konzentrierte Reminiszenz an den Heimatstil darstellt, der in den Jahren und Jahrzehnten zuvor als Leitstil des rekreatürlichen Landlebens der Wiener Gesellschaft aktuell gewesen war.34 Der Umbau des Hauses hatte in den Folgejahren u. a. dem Vergleich mit der benachbarten Villa Bienenfeld standzuhalten, die 1912/13 ebenfalls von Prutscher gestaltet worden war.
Moritz Rothberger als Künstler Wo und in welcher Art Moritz eine künstlerische Ausbildung als Grundlage seiner vor allem kunstgewerblich-bildhauerischen Tätigkeit genoss, ist unklar,35 ebenso, unter welchen Umständen es zu einer solchen Ausbildung gekommen war, deren Ausrichtung vermutlich in gewisser Konkurrenz zu den Plänen des Vaters gestanden war. In jedem Fall ist Moritz Rothberger bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ausreichendem Maße in den Kunstbetrieb involviert, um 1897 durch Vorschlag u. a. der eingangs erwähnten Künstler Swoboda und Bitterlich für eine Aufnahme als „Theilnehmer“36 der 1861 gegründeten Genossenschaft der bildenden Künstler
32 Zum Umbau siehe u. a. Matthias BOECKL, Kubus, Zeltdach ... Zu Otto Prutschers Villen und Wohnhäusern, in: ders. (Red.), Otto Prutscher, S. 95–97. Zur Innengestaltung siehe u. a. EGLIN-BLAHA, Otto Prutscher. Zur Unentschlossenheit Prutschers in der Verwendung von verschiedenen Stilsprachen siehe u. a. Matthias BOECKL, Die gespaltene Moderne. Otto Prutschers architektonische Entwurfsstrategie, in: ders. (Red.), Otto Prutscher. 1880–1949. Architektur – Interieur – Design, S. 89–94. Hinsichtlich der Zitate zeitgenössischer Raum- und Objektgestaltungen siehe EGLIN-BLAHA, Otto Prutscher, S. 94. An dieser Stelle sei u. a. auf den formalen Zusammenhang zwischen der Wandgestaltung im Café Heinrichshof (BOECKL (Red.), Otto Prutscher. 1880–1949, Abb. S. 132) und derjenigen der Vorhalle und des Speisezimmers in der Villa Rothberger verwiesen (SAXL, Zwei Wohnungen von Otto Prutscher, Abbildungen Tafel 128). 33 EGLIN-BLAHA, Otto Prutscher, S. 95. 34 Zum Heimatstil siehe u. a. Eva PUSCH, Marion SCHWARZ, Die Architektur der Sommerfrische, Wien 1995. 35 Weder konnte ein Besuch der Kunstgewerbeschule nachgewiesen werden, noch der der Wiener Akademie für Bildende Künste, zu der bis 1904 auch die Medaillenkunstschule gehörte. Alternativen wären der Besuch einer der anderen Gewerbeschulen, eine Ausbildung in Amerika oder Schottland, des Weiteren eine private Ausbildung, wovon allerdings nichts verifiziert werden konnte. 36 Als „Theilnehmer“ war man im Wesentlichen zum Besuch von Ausstellungen und geselligen Veranstaltungen berechtigt.
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Interieur der Wohnung von Heinrich und Ella Rothberger. Links die Büste einer Frau auf einem Foto von 1903, rechts die Napoleon-Figur auf einem Foto von 1901. Beide Objekte sind Werke von Moritz Rothberger.
Wiens, der Künstlerhausvereinigung, vorgeschlagen zu werden.37 Aus ihrem Verständnis als Standesvertretung von Berufskünstlern38 kam eine ordentliche Mitgliedschaft in der Genossenschaft für den Kaufmann grundsätzlich nicht in Frage. In Anbetracht der gesellschaftlichen Stellung der Familie Rothberger ist es naheliegend, in der Aufnahme in erster Linie eine Würdigung einer fördernden und mäzenatischen Haltung Moritz Rothbergers zu sehen – tatsächlich lassen sich regelmäßige Ankäufe im Künstlerhaus belegen, wie im Folgenden noch ausgeführt wird; ob aus ihr auch auf eine zumindest grundsätzliche Akzeptanz seiner Person als Künstler geschlossen werden kann, ist fraglich, kann aber immerhin vermutet werden. Sehr viel später, 1929, erfolgt die Aufnahme als außerordentliches Mitglied der Künstlerhausvereinigung.39 Im selben Jahr verleiht die Künstlergenossenschaft Moritz Rothberger die 37 Künstlerhausarchiv im WStLA, PM Moritz Rothberger. 38 Das Künstlerhaus behielt im Wesentlichen bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine ablehnende Haltung gegenüber weiblichen Mitgliedern bei. Dazu: Sabine PLAKOLM-FORSTHUBER, Künstlerinnen in Österreich 1897–1938. Malerei. Plastik. Architektur, Wien 1994, S. 64f. 39 Künstlerhausarchiv im WStLA, PM Moritz Rothberger, Beitrittserklärung Moritz Rothbergers vom 23.10.1929.
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Silberne Ehren-Medaille,40 nachdem ihm schon in den Jahren zuvor diverse Preise von verschiedener Seite für seine künstlerischen Erfolge verliehen worden waren.41 In zeitgenössischen biografischen Texten wird seine Bedeutung als Bildhauer immer wieder betont; allerdings ist deren Aussagekraft in Anbetracht ihrer vor allem gesellschaftspolitischen Funktion – als eine Art „Who is who“ der Wiener Gesellschaft – mit Vorsicht zu genießen.42 Die künstlerische Tätigkeit Moritz Rothbergers ist heute nur anhand weniger Beispiele nachvollziehbar. Bei den bekannten, zumeist durch Interieurfotografien der Familie dokumentierten Stücken handelt es sich ausschließlich um figürliche Objekte, die in der Formgebung etwas konventionell, aber durchaus qualitätsvoll gestaltet sind. Bekannt ist eine Napoleon-Figur von 1898, die bei der k. k. Kunstgießerei gefertigt worden war und den Feldherrn in sitzender Pose zeigt;43 zwei Frauendarstellungen, in welchen sich Moritz der gerade im 19. Jahrhundert besonders beliebten Büstenform bediente und elegante, idealisierende Figuren fertigte, die sich – soweit die Fotos erkennen lassen – durch Renaissance-Rezeptionen ebenfalls des 19. Jahrhunderts inspiriert zeigen und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind.44 Weiters ist die Figur einer Kaffee trinkenden Krinolinendame bekannt, die deutliche Anlehnungen an Schöpfungen des Biedermeier aufweist und 1906 für die von Alexander Förster (geb. 1861) gegründete Wiener kunstkeramische Fabrik A. Förster resp. für die Österreichische Gesellschaft zur Förderung der Kleinplastik und Medaillenkunst entworfen worden war.45 Ebenfalls auf einem Interieurfoto zu sehen ist Moritz Rothbergers Figur eines pirschenden Jägers46, die auf der Ersten Internationalen Jagd-Ausstellung von 1910 im Wiener Prater gezeigt worden war – einer im übrigen prestigeträchtigen, weil unter dem Protektorat des jagdbegeisterten Kaisers Franz Jo40 Künstlerhausarchiv im WStLA, PM Moritz Rothberger, Dankschreiben Moritz Rothbergers an die Genossenschaft vom 21.3.1929; sowie: Rudolf SCHMIDT, Das Wiener Künstlerhaus. Eine Chronik. 1861–1951, Wien 1951, S. 250. 41 PLANER, Jahrbuch, 1928, S. 286. Planer erwähnt, dass Moritz Rothberger „in Salzburg mit der großen goldenen, und in Petersburg mit der silbernen Medaille ausgezeichnet“ worden sei. 42 PLANER, Jahrbuch, 1928, S. 286; FRIEDMANN, Prominenten-Almanach, 1930, S. 232. 43 Die Figur ist auf einem Interieurfoto von 1901 zu sehen, und taucht auch im Kunsthandel auf. Siehe: http://www.artnet.de/Artists/LotDetailPage.aspx?lot_id=801978BF4A2831D1 (Stand 1.12.2009). 44 Terminus ante quem ist in beiden Fällen die auf 1901 bzw. 1903 datierte Interieurfotografie, auf denen die Büsten überliefert sind. 45 Waltraud NEUWIRTH, Wiener Keramik. Historismus – Jugendstil – Art Déco, Braunschweig 1974, S. 88 und Abb. 44. 46 Siehe dazu die erste Abbildung im Beitrag „Heinrich Rothberger – der Porzellansammler“ in diesem Band.
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seph stehenden, aber in Anbetracht von zeitgenössischer Wohnungsnot und Teuerungen wenig realitätsnahen Veranstaltung.47 Dass es sich bei der am 1901 entstandenen Interieurfoto zu sehenden Figur um die rund zehn Jahre später auf der Ausstellung gezeigte handelt, bzw. dass beide auf den selben Entwurf zurückgehen, ist gesichert, da das „Gedenkbuch“ zur Jagdausstellung eine Abbildung enthält.48 Es bleibt also nur die Feststellung, dass hier auf einen alten Entwurf zurückgegriffen wurde. Für die Gestaltung kann die Verwendung eines recht gediegenen Naturalismus festgehalten werden und eine möglichst lebensnahe Wiedergabe der pirschenden Haltung.49 Dass die Figur in annähernd lebensgroßer Ausführung im Gesträuch gegenüber dem Norwegischen Pavillon aufgestellt war und mit ihr die Jagdsituation möglichst lebensecht nachgeahmt werden sollte, damit also aus Gründen der inszenatorischen Wirkung auf einen gewissen Naturalismus Wert gelegt wurde, zeigt wie sensibel die Figur für den Ort oder der Ort für die Figur ausgesucht worden war. Angesichts der Tatsache, dass Moritz Rothberger und seine Figur im Gedenkbuch besonders lobend erwähnt werden und die entsprechende Passage etwas abseits der übrigen Abhandlungen zur Kunst steht, kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass die Auswahl der Figur und des Künstlers, der ja auch als Funktionär der Ausstellung agierte, auch eine gesellschaftspolitische Note hatte.50 Stilistische Einflüsse der seit 1897 bestehenden Secession oder solche der 1903 gegründeten Wiener Werkstätte sucht man bei den Objekten des nebenberuflichen Künstlers in jedem Fall weitgehend vergeblich. Angesichts des Umstandes, dass Moritz Rothberger frei von existenziellen Zwängen die Rahmenbedingungen seines künstlerischen Schaffens vermutlich großteils selbst definieren konnte, muss in der Entscheidung für konservative Formlösungen eine deutliche Willens- und Ge47 Trotz des verfolgten Zwecks, „die Bedeutung der Jagd vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus darzutun, Verständnis und Sympathie für ihren kulturellen Wert in die großen Massen zu tragen“. Aus: Die erste internationale Jagd-Ausstellung Wien 1910. Ein monumentales Gedenkbuch, Wien-Leipzig 1912, S. 5. Zur Ausstellung siehe ansonsten den Katalog: Erste Internationale Jagd-Ausstellung Wien 1910. Offizieller Führer, Wien 1910. 48 Die erste internationale Jagd-Ausstellung Wien 1910, Wien 1912, S. 58. 49 Womöglich stammt auch eine Heraklesstatue von ihm, die ebenfalls auf einem Interieurfoto Heinrich Rothbergers zu sehen ist (vor 1904); wie im Zusammenhang mit der Wohnsituation Margaretenstraße 30 bereits erwähnt, fertigte Moritz Rothberger eine Polyphem-Figur für die Adria-Ausstellung von 1913, von der allerdings keine Abbildung bekannt ist. 50 Der Hinweis, dass Moritz Rothberger an der Jagd-Ausstellung nicht nur als Künstler, sondern auch als Funktionär mitgewirkt hatte, findet sich im Prominenten Almanach; FRIEDMANN, ProminentenAlmanach, 1930, S. 232.
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schmacksentscheidung gesehen werden. Sie entspricht in gewissem Maße dem Bild, das von der – laut Arthur Rössler – „viel befehdeten“51 Künstlerhausvereinigung in vermeintlich konservativer Opposition zu Secession und Hagenbund bestand. Dieser Eindruck wird durch die Modernisierung der Villa in Baden zwar relativiert, allerdings muss einschränkend festgehalten werden, dass Moritz Rothberger hier in der völlig anderen Rolle des Auftraggebers fungierte, der sich an zeitgleichen Villenbauten zu orientieren und daran zu messen hatte und als weltgewandter Kaufmann auftreten wollte. Aufschlussreich ist, dass er mit den für die Reproduktion in Keramik oder Bronze gedachten Arbeiten, die – wie die Jägerfigur und der Polyphem – z. T. auch im Rahmen von eng definierten Ausstellungskonzepten zu funktionieren hatten, deutlich im Warenbereich blieb. Wenn man so will, bewegte er sich damit zumindest in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahe seiner ursprünglichen kaufmännischen Profession und damit in einem Umfeld mit vertrauten Bedingungen.52
Seite 5 aus der Publikation „Alte Welt. Sylvester 1908“ (links) und John Quincy Adams, Portrait des Industriellen Kurz mit seiner Tochter/Frau, 1908 bzw. vor 1908 (rechts).
Vielleicht das außergewöhnlichste und in seiner Aussagekraft vielseitigste Produkt seiner künstlerischen Tätigkeit ist eine Publikation gemeinsam mit Fritz Schönpflug, die unter dem Titel „Alte Welt. Sylvesterfeier 1908“ bzw. „Der brave Benk, Hans u. Quincy, die bösen Buben, Florian Schamperl oder die getäuschte Hoffnung“ anlässlich der 51 Arthur RÖSSLER, John Quincy Adams, in: Westermanns Monatshefte. Illustr. Zeitschrift fürs deutsche Haus, 58. Jahrgang, September 1913, S. 92–104, hier S. 97. 52 Ähnliches kann im Übrigen auch für Alfred Rothbergers Medaillen festgehalten werden.
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Jahreswende 1908/09 im Selbstverlag veröffentlicht worden war. Auf den ersten Blick scheint der Titel eine gewisse Programmatik im Bezug auf die Jahreswende zu verraten, allerdings nimmt er Bezug auf seine Veröffentlichung im Umfeld des Klubs bildender Künstler „Alte Welt“. Den Statuten aus dem Jahr 1889 nach zu schließen stellte der Klub eine gesellige Umfeldorganisation des Künstlerhauses dar, in der nun auch nebenberufliche Künstler wie Moritz Rothberger als ordentliche Mitglieder aufgenommen werden konnten.53 Der Vereinsname Alte Welt schließt das zumindest ideelle Vorhandensein einer „Neuen Welt“ ein und legt damit eine zu diesem Gegenbild kontrastierende, wohl konservative Position des Klubs fest. Ob er als konkrete Paraphrase auf Vereinigungen wie den Zusammenschluss progressiver Wiener Literaten unter dem Titel Junges Österreich, 1891 auf Junges Wien umbenannt, zu lesen ist, ist aber unklar.54 Präsident des kaum bekannten Klubs Alte Welt war laut Dresslers Kunstjahrbuch im Jahr 1911 der Maler Raymund Ritter von Wichers, mit dem vermutlich der Künstler und Makartschüler Raimund Ritter von Wichera gemeint war (1862–1925); als Vize-Präsident fungierte im selben Jahr John Quincy Adams, als Schriftführer Fritz Schönpflug.55 1912 hatte der Klub seinen Sitz in der Schleifmühlgasse 3, also nicht allzu weit entfernt von der Wohnung Moritz Rothbergers in der Margaretenstraße. 1915 residierte der Klub in der Windmühlgasse 16, im 6. Bezirk. Fritz Schönpflug, der Co-Herausgeber Rothbergers, war Karikaturist, Grafiker und Maler, seit 1907 Mitglied des Künstlerhauses und ständiger Mitarbeiter der humoristischen Wochenschrift Muskete,56 für die Schriftsteller wie Egon Friedell (1878–1938), Joseph Roth (1894–1939), Robert Musil (1880–1942) und die bereits erwähnte Gina Kaus schrieben und u. a. Franz Wacik (1883–1938), Karl Alexander Wilke (1879–1954), Josef Danilowatz (1877–1945) und Alfred Kubin (1877–1959) illustrierten.57 Der mit Moritz Rothberger veröffentlichte schmale Band 53 Statuten des Clubs bildender Künstler in Wien „Alte Welt“, Wien 1889. 54 Dabei handelte es sich um den durch Hermann Bahr initiierten Zusammenschluss junger österreichischer Literaten, die zunächst mit dem Naturalismus sympathisierten, sich aber schon bald als dem Ästhetizismus verschriebene Folgegeneration dazu verstanden und deren Vertreter unter dem wohl prominenteren Begriff der Wiener „Kaffeehausliteraten“ subsumiert sind. Ihm gehörten u. a. Hugo von Hoffmansthal, Felix Salten, Arthur Schnitzler und kurze Zeit auch Karl Kraus an. Dazu u. a.: Gotthard WUNBERG (Hg.), Das junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902 Jung-Wien, 2 Bde., Tübingen 1976. Und: Jens RIECKMANN, Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siecle, Königstein 1985. 55 Willy Oscar DRESSLER, Dresslers Kunstjahrbuch. Ein Nachschlagebuch für deutsche bildende und angewandte Kunst, Leipzig, 6. Jg. (1911/12), S. 441. 56 Die Wochenschrift Muskete erschien 1905 bis 1941. 57 Dazu Murray Gordon HALL, Die Muskete. Kultur- und Sozialgeschichte im Spiegel einer satirischhumoristischen Zeitschrift. 1905–1941, Wien 1983.
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enthält drei satirische Gedichte, die spöttische Seitenblicke auf das Wiener akademische Kunstleben werfen, die für eine deutliche Involvierung, aber auch kritisch-humorvolle Distanz zum zeitgenössischen Kunstbetrieb sprechen. Im Blickpunkt stehen dabei die Künstler Johannes Benk (1844–1914),58 Alois Hans Schram(m) (1864–1919) und John Quincy Adams59 sowie Heinrich Angeli (1840–1925),60 allesamt profilierte Künstler, die sich im Rahmen der Arbeiten für die Ringstraße oder als Auftragnehmer der besseren Wiener Gesellschaft einen Namen gemacht hatten. Benk wird dabei u. a. als eifriger Reproduzent eigener Motivik dargestellt; Quincy und Schram(m) als beflissene Portrait- und Historienmaler und als – der Ironie des Textes folgend – nur fraglich verdienstvolle Träger des Franz-Josephs-Ordens. Besonders originell ist das Stück über den Portraitisten Angeli, in welchem sich der wohl fingierte Fremdenführer und Mäzen Herr Schamperl (vielleicht als Verballhornung von „Champagner“) für den Maler auf der Suche nach portraitwürdigen Königen und Stammesfürsten auf Weltreise begibt, dies aber ohne jeden Erfolg. Der angeschlagene Ton ist teilweise so scharf, dass ohne das Wissen um den Entstehungskontext schwer zu sagen wäre, inwieweit die Gedichte noch als liebevoll spöttisch zu bezeichnen sind. Enthalten sind auch Seitenblicke auf die Wiener Gesellschaft. So heißt es an einer Stelle im Bezug auf ein Werk Adams’: „Auszusetzen allerhand Hat die Berta Zuckerkand; Die Erklärung ist: Na, ja! Sie schwärmt nur für Kokoschka“. Neben den typisch Schönpflug’schen Karikaturen ist eine Illustration von Moritz Rothberger zu sehen. Von ihm stammt eine sehr freie und zügig gestaltete Reliefplatte, deren Gestalten vielleicht etwas ungeschickt proportioniert sind, die aber wesentlich mehr von seiner Handschrift verrät als die zuvor erwähnten Objekte.61 Ihren besonderen Witz erhält die Platte erst in Zusammenschau mit dem karikierten Vorbild, einem Portrait des Fabrikanten Kurz aus Jägerndorf/Krnov in Nordmähren mit seiner Ehefrau oder Tochter von der Hand John Quincy Adams.62 Aus der lässigen und etwas distanzierten Pose des Fabrikanten auf dem Original wird kurzerhand die Rückenansicht eines an den Baum urinierenden Mannes; die Dame klammert sich halb nach 58 59 60 61
„Der brave Benk“. „Hans und Quincy, die bösen Buben“. „Florian Schamperl oder Die getäuschte Hoffnung“. Die Signatur ist insgesamt schwer zu lesen, das „Moritz“ aber eindeutig entzifferbar. Unter Berücksichtigung des Zusammenhangs erscheint die Ergänzung durch einen anderen Nachnamen nicht sinnvoll. 62 RÖSSLER, John Quincy Adams, 1913, S. 93 und 96f. Arthur Rössler spricht in dem Aufsatz von „Mr. und Mrs. Kurz“, Moritz Rothberger und Schönpflug gehen in ihrem Gedicht aber offensichtlich von einer Vater-Tochter-Beziehung der beiden Dargestellten aus. Bei dem Fabrikanten Kurz in Krnov/ Jägerndorf in Schlesien handelt es sich vermutlich um den Tuchfabrikanten F. Kurz, für den Leopold Bauer 1902/03 eine Villa errichtet hatte. Siehe: http://www.architektenlexikon.at/de/21.htm (Stand 2.12.2009).
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vorne gesunken – vielleicht durch den Anblick schockiert – an ein Pferdebein, nicht ohne die Szene im Auge zu behalten. 1908 hatte Sigmund Freud (1856–1939) in seiner Abhandlung „Über infantile Sexualtheorie“ erstmals die Penisneidtheorie formuliert. U. a. war er darin auch auf den Neid des Mädchens im Bezug auf die Möglichkeit des Urinierens im Stehen beim Mann eingegangen; des weiteren auf eine der kindlichen Definitionen des Verheiratetseins als eine Hinwegsetzung über die Scham durch den Akt des Voreinander-Urinierens. 1909 schließlich – und in kurzen Erwähnungen schon vorher – war Freuds Analyse der Geschichte vom „Kleinen Hans“ erschienen, in der u. a. die panische Angst eines Fünfjährigen vor Pferden als beißende Stellvertreter der väterlichen Sexualität thematisiert werden.63 Der öffentliche und halböffentliche Diskurs sowie Kommentare zu derartigen Theorien werden gerade innerhalb geselliger Männerrunden nicht immer spottfrei geblieben sein und so scheint es nicht ganz abwegig, die Motive der Bildplatte u. a. vor dem Hintergrund dieser Debatten zu lesen.64 Stefan Zweig, der Freud in seinen Wiener Jahren – also noch vor 1919 – kennengelernt hatte, charakterisierte die gesellschaftliche Wertung Freuds dahin gehend, dass dieser als „eigensinniger und peinlicher Eigenbrötler“ aufgefasst worden wäre. Es sei die ganze „alte Welt [!] gewesen, [...] die ganz Epoche, die in ihm den Entschleierer“ gefürchtet hätte; und da seine Thesen nicht zu widerlegen gewesen wären, versuchte man diese „nach wienerischer Art zu erledigen, indem man sie ironisierte oder banalisierte zum scherzhaften Gesellschaftsspiel.“65 Insgesamt ist es bestimmt nicht verfehlt, die Machart des Bandes aus dem Konzept der Muskete heraus verstehen zu wollen. Inwieweit Moritz Rothberger auch für die Texte zuständig war, ist leider unbekannt. Ohne Zweifel aber kann seine Übereinstimmung mit den Inhalten vorausgesetzt werden. In jedem Fall verrät der Band etwas über seine humorvolle und kritische Seite und vielleicht auch über eine zumindest grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Ideen der Psychoanalyse – wenn auch nur in gesellschaftlich-opportuner Form.
63 Sigmund FREUD, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (>Der kleine HansDer kleine Hans