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German Pages 262 [273] Year 2003
Maximilian Bergengruen Schöne Seelen, groteske Körper Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie
MAXIMILIAN
BERGENGRUEN
Schöne Seelen, groteske Körper
STUDIEN
ZUM
ACHTZEHNTEN
JAHRHUNDERT
Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft
für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 26
FELIX
MEINER
VERLAG
: HAMBURG
MAXIMILIAN
BERGENGRUEN
Schöne Seelen, groteske Körper Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie
FELIX MEINER
VERLAG
: HAMBURG
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4165-8 ISBN eBook 978-3-7873-2377-7
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INHALT
70 3 :3\ 720 3 ‚4
re
EINLEITUNG
D,(
.......2cesunseeeeeessssessnenseneenensenersenesnernee
|
Erstes KarıTer. Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen (Satiren und frühe Aufsätze) ..........22ccneeeeeeeneneeseennenennnen
9
Zur Forschungslage ...............--.2eeeesereeeeeenenenereennnnen
I
Die Reduktion auf die Materie .............eceseeeeseseeseneneneneen
12
Anwendung I: Peristaltik des Schreibens und Exkrementalpoesie
.........
15
Anwendung Il: Sex, Drogen —- und Krankheiten .......................
17
Der französische Materialismus, die Fortsetzung des Karnevals
mit anderen Mitteln und Diogenes von Sinope ................0.... Teuflische Methoden
...........-
19
222222 eeeeeeneeneneeenennnnnnne
2
Impliziter Materialismus und die Immaterialität der Seele ...............
29
Der hohe Mensch, sein Spiritualismus, seine Empfindsamkeit
...........
35
..............eer00..
39
Kleine Entwicklungsgeschichte der schönen Seele im 18. Jahrhundert .....
39
Schöne Seelen, hohe Menschen
...........2222ceeeeeeneneenenennnnnnn
44
.............2.2202eeseneesensnnnnnennnn
47
Schwache Nerven ..........222222000eeeneeeeeeeennnnnnnnnenene Staatsmaschinerie ....... 222222022 sseeeeseeeeesneneenenennenenne Ökonomie oder die Liquidierung des Körpers .........222222ec22...
47 04 59
Exkurs über die Ähnlichkeit von Autor, Erzähler und Figuren .........
66
Empfindsame Selbsttherapie: der himmlische Körper auf Erden ..........
70
Der »freundschaftliche Zirkel« von Lilienbad ....................... Das feudum schöner Seelen ..............222222eeseeeeeneneennen
70 79
Ästhetische
BO
ZWEITES KAPITEL. Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper (Unsichtbare Loge, Hesperus, Siebenkäs)
Diagnose: der kranke Körper
Metamorphosen
.......222222eeseeeseseeeeeeeenennenn
VI
Inhalt
Humoristische Ko-Therapie und Parodie der Therapie
.................
89
Von der humoristischen Diätetik zur Abbindung der körperlichen Warzen ...........2222sseeeeeeeeneeneennnenn Von der humoristischen Therapie zu den unheilbaren Blähungen des inneren Menschen .............-222eseeeeeeenn Von der Einschiebtragödie zur Performance .......................
95 101
Exkurs: Leibgeber, die gestische Parodie und die Intertextualität
......
107
....................
109
DrıTTeEs Kapıter. Träume der Philosophie — Träume der Literatur (Briefwechsel und kleinere poetische Schriften) .......................
111
Philosophisch-literarischer Fürstenbund (Resümee)
Anschluß an die Debatten um die Transzendentalphilosophie
89
...........
111
Bisherige Forschung und eigener Ansatz .........22.222seseeenn en.
111
Der Lehrer des Innersten: Friedrich Heinrich Jacobi ................ Was kannte Jean Paul? ............2222ceseeseeeeeeeseeesseeennee
112 114
Jacobis briefliche Einführung in die Philosophie: Methode, Idealismus-Kritik, Gegenentwürfe
............e..22220..
118
Jacobis Methode: Dialog und performativer Widerspruch ............ Kritik an der Philosophie der Reflexion ..............crsssssen....
118 120
Idealismus als invertierter Materialismus
.........222222eceesece...
121
Traum und Wahnsinn der Transzendentalphilosophie ............... Inkonsistenz zwischen Moralphilosophie und Spekulation ........... Gegenentwurf: Individualität und Selbstgefühl .....................
123 125 127
Die Außenwelt .......2.222ceseeseeseeeeeesensesenesereeseneee Gott und das Unendliche .............22222sessenseesenseneeenenn. Jean Pauls Kritik an der Reflexion in der Sprache ...................
131 134 137
Träume
....... 22222 oenseeenenenesneesseeenseeseesesereesereeeeneee
Leseungenauigkeit
............222220esseeeeenensnerenenensnnne
Exkurs: Einbildungskraft und Phantasie
................22...2220..
141
14]
143
Poetischer Idealismus und realistische Korrektur:
die Metapher des Traums
...............22220eeeesseeenennnn
147
VIERTES KarıTter. Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns (Titan, Vorschule) .......222222eseeseeeseeeseeeenenen
199
Materialisten, Idealisten ..........2222222ceeseeeseeeseseensenenenee
199
Die schöne Seele und die Titanen ...........22222ceseeeeeeeseeennnen
199
Roquairol oder der Verlust der Moral ................-..2222022s0.....
161
Inhalt
vi
..............222essseeeeeeeenn.
170
Das Ende der schönen Seele ..........222222eecseeseeeseeeeeenne Exkurs: die natürliche Magie ...........:22ceeesseeeeeeerennnnee
170 175
Die Wunder der Optik in der Außenwelt .............. 222200000. Die Wunder der Optik in der Seele ................ce22sceeenenne Katoptrik und Idealismus ................222ceesseeeeeeenennnnn
176 183 188
Illusion und Ästhetik ...........222eeeccsseeeeeeneeeeseennenenen Illusion und Staatskunst ............2 22222 ceeeeseeseeeeeeenennen
190 192
Albano oder die Kunst der Illusion
Schoppe oder der unendliche
Humor ..................22222220000.2.
200
Wahnsinn ..........22222sesseseeeneesennenseeseneesensennene Was ist romantischer Humor? .........22222esseeeeeeeeeeeeenene Jean Paul und die Romantiker ...........22222ceceseseeeeeseenen
200 212 219
EPILOG
.....2oceeeeeeeeeeeeeeeneeneneesseneesenenseseneensnenenenne
229
ZITIERWEISEN...ooeceeeeeeeeeeseeeeeeseseeseneeseneneeseeseenenene
231
LITERATURVERZEICHNIS
......2eceeeeeeeeeeseeeeseseeneneesenenen
23
SACHREGISTER ......2eceeeeeeeeneeseeeeseeseneeseeseneeseensenenee
293
PERSONENREGISTER
260
.....2eeeeneeeeeeeeeesessesesnereensesenesnenee
VORWORT
Es ist neuerdings Mode geworden, in Vorworten zu Jean Paul-Dissertationen darüber zu klagen, daß die Arbeit den oder die VerfasserIn bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben habe, von wo aus er oder sie nur durch die aufopferungsvolle und dankenswerte Hilfe einer liebevollen Lebenspartnerin (bzw. ihres männlichen Pendants) wieder in die sichere Mitte des Daseins geholt worden sei.
Mir ist so etwas nicht passiert. Vielleicht müßte ich mich cher bei Jean Paul bedanken...
Soviel zur internen Dynamik dieses Buches. Seine äußere Richtung verdankt es seinen KritikerInnen und Förderern. Ich möchte mich bei meinem Doktorvater Burghard Dedner für die (in keiner Weise selbstverständliche) intensive Betreuung und den langen kritischen Atem, bei meinem Mentor im Gießener Graduiertenkolleg »Klassizismus und
Diskussionen,
und
Romantik«,
Gerhard
Kurz,
für die ausführlichen
Lektüren
bei den zwei Leitern dieser Institution, Christine Lubkoll
und
Günter Oesterle, für ihre äußerst motivierenden Anstöße, bei der Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und beim Schweizer Nationalfonds für das Zustandekommen dieses Buches und bei allen, die sich (mitunter sehr zeit- und kraftraubend) mündlich und schriftlich mit dieser Arbeit befaßt haben, bedanken. Die Spannung, die das Wort »bedanken« im letzten Satz ertragen mußte, spiegelt
vielleicht ein wenig die der genannten KritikerInnen und Förderer während der dreijährigen Arbeitsphase wieder. Ich hoffe, etwas von dieser Spannung in das vorliegende Buch hinübergerettet zu haben, so daß ich sie jetzt zurückgeben kann. Basel, im März des Jahres 2003
EINLEITUNG!
Jean
Paul
galt lange
Zeit als verschrobener
Humorist
oder,
wenn
man
ihn
ernst
nahm, als ein Autor, an dem man die ganz große Metaphysik abhandeln konnte: die Ich-Problematik,? den Tod,? das Böse.* Natürlich
»lebte« alles, was Jean Paul dar-
stellte, »aus Jean Paul«.? Sich darauf zu verständigen, hatte den Vorteil, so mag man im nachhinein unterstellen, daß man die quellenphilologischen Recherchen und die Rekonstruktion intertextueller Bezüge umgehen konnte. Dazu kam: Jean Pauls Na-
me hatte den Charakter eines Schibboleth für wenige Eingeweihte.° Ein esoterischer Metaphysiker also — unter diesem Etikett wurde er bis in die siebziger Jahre hinein gehandelt. Kurzzeitig wurde er dann für einen linken politischen Autor und radikalen Verfechter der französischen Revolution gehalten,’ gleichzeitig entwickelte sich jedoch eine Forschungsrichtung, die »Jean Pauls geschichtlicher Stellung« auf eine ganz andere Weise Rechnung zu tragen suchte. Auslöser war Wolfgang Proß’ gleichnamiges Buch von 1975.® Angestrebt war nicht eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise, sondern die Lokalisierung Jean Pauls in den wissenschaftlichen, insbesondere den anthropologischen Diskursen seiner Zeit. Unterstützt durch eine allgemeine anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft,? wurden
nun Jean
Pauls
Exzerpthefte,
die die ausufernde
Lektüre
und
Wissensaneignung des Autors detailliert dokumentierten, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Jean Paul hatte, so stellte man erstaunt fest, einfach alles rezipiert: Philosophie, Physiologie, Psychologie, Theologie, Pädagogik, aber auch Astronomie, Ökonomie und vieles mehr.! An diesem Autor konnte und kann man exemplarisch ! Im folgenden ist lediglich eine exemplarische, keinesfalls eine vollständige Darstellung der Forschungsliteratur angestrebt. 2 Rohde, Titan, S. 81.
3 Hamburger, Todesproblem. %* W. Rehm, Roquairol. 5 Kommerell, Jean Paul, S. 213.
6 So argumentiert z. B. implizit Staiger, Jean Paul: Titan. ” Harich, Revolutionsdichtung. 8 Proß, Geschichtliche Stellung.
? Ich nenne hier nur fünf der wichtigsten Bücher in diesem Zusammenhang: Schings, Melancholie und Aufklärung; Riedel, Anthropologie des jungen Schilder; Pfotenhauer, Literarische Anthropologie; Sagarra, Barkhoff, Anthropologie, und Schings, Der ganze Mensch.
I0 Vgl. hierzu: Exzerpte.
2
Einleitung
studieren, was Anthropologie
um
1800
ist: die Aufweichung
der bisher gezogenen
wissenschaftlichen Grenzen und die Neuordnung eines Wissensgebiets, das weit über die Universität hinausreicht. Die fakultäre Partialisierung des Menschen in Seele (Theologie), Leib (Medizin) und Besitz (Jura) — dazu die Proschola der Philo-
sophie!! — mußte aufgegeben werden, um sich der Antwort auf die Frage, was der ganze Mensch sei, nähern zu können.'?
Doch bleiben wir bei Jean Paul: In der Nachfolge von Proß und Schings!? wurden seine Exzerptsammlungen ausgewertet und mit seinen theoretischen und literarischen
Schriften
in Verbindung
gebracht.!*
Dabei
ging die Forschung
in zwei
Richtungen: Die eine untersuchte Jean Pauls Position in naturwissenschaftlichen Fragen!? und in den Debatten um den kantischen und nachkantischen Idealismus.!® Die andere, jüngere Richtung analysierte das metaphorische
Potential, das der Re-
kurs auf die verschiedenen Wissenschaften und Parawissenschaften in literarischen Texten freisetzte. Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei Jean Pauls poetologische
Autoreferenz, ausgedrückt z. B. durch die Metapher der Ökonomie!” oder der Apokalypse.'? In der hier vorliegenden Arbeit möchte ich zeigen, daß beide Ansätze miteinander
verbunden werden müssen.!? Jean Pauls Position in philosophischen bzw. anthropologischen
Fragen,
die Bauweise
seiner Fabeln
und
die metaphorische
Selbstthe-
matisierung seines Schreibens stehen in einem engen Verhältnis, das aus einem Spiel mit »Figuren des Wissens«?° erwächst. Grundlage dieses Spiels ist die Einsicht, daß Wissen immer tropisch organisiert ist: in universitären Veröffentlichungen genauso Il Vgl. hierzu: Brandt, D’Artagnan, $. 126ff. 12 Zur Organisation der anthropologischen Debatte um 1800 vgl. Vf. et al., Einleitung.
13 Schings, Der anthropologische Roman. 14 Natürlich gibt es daneben wichtige Arbeiten, in denen Jean Paul unabhängig von seiner anthropologischen Selbstpositionierung untersucht wird. Vgl. dazu vor allem Wölfel, Jean-PaulStudien. An neueren Arbeiten sind zu nennen: Kaiser, Jean Paul lesen, und Golz, Welt. 15
G. Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie,
und Kosenina,
Platners Anthropologie.
16 Brose, Verhältnis, und Wiethölter, Illuminationen. 17 Vgl. Pross, Falschnamenmünzer. 18 Vgl. Wirtz, Ich komme bald.
19 Der einzige Ansatz, der die Verbindung von Philosophie und ihrem metaphorischen Ausdruck bei Jean Paul untersucht, ist Sinn, Jean Paul. Sinn berücksichtigt jedoch meiner Meinung nach nicht die für Jean Paul zentralen Metaphern und Theoreme. Goebel, Philosophische Dichtung,
erfüllt, soviel ich sehe, seinen im Titel formulierten Anspruch, das Verhältnis von Dichtung und Philosophie bei Jean Paul zu analysieren, nur zu einem geringen Teil. Es ist zwar richtig, daß Jean
Pauls Befürwortung eines freien »Spiel[s] mit Ideen« als eine Überführung der Philosophie ins Literarische zu verstehen ist (S. 107). Damit ist aber lediglich die philosophische Perspektive berücksichtigt (und auch die nur auf einem sehr allgemeinen Niveau). Die entscheidende Frage, welche ästhetischen Strategien in einem solchen Projekt angewandt und welche literaturtheoretischen Konsequenzen daraus gezogen werden können, wird bei Goebel nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet. 20 Foucault, Ordnung der Dinge, S. 46.
Einleitung
3
wie in parawissenschaftlichen Texten und natürlich auch in der Literatur.”! Diese Örganisationsform
determiniert das Wissen
auf einer allgemeinen
Ebene
(es ist
nicht ablösbar von seiner sprachlichen Inszenierung), macht es jedoch, was seine spezifische
Formation
betrifft,
beweglich:
Metaphorische
Ordnungen
sind gerade
nicht an einen bestimmten Diskussionszusammenhang, an eine bestimmte Veröffentlichungsform gebunden, sondern ubiquitär ein- und übersetzbar — auch jenseits diskursiver Grenzen und inhaltlicher Bindungen. Aufbauend schen
auf diesen Überlegungen,
Figuren
des Wissens,
sollen in dieser Arbeit die Analogien
wie sie im anthropologischen
Diskurs
zwi-
(mit all seinen
Nebenzweigen von der Ökonomie über die Staatstheorie bis zur Transzendentalphilosophie) und in den literarischen Texten Jean Pauls auftauchen, untersucht werden. Das Ziel der Untersuchung liegt dabei nicht allein im Aufweis tropischer Wissensordnungen in den literarischen Texten, die sich auch im nicht-literarischen Dis-
kurs
finden
Unterstellung,
lassen
(das
reflektieren
versteht und
sich
von
inszenieren
selbst).
Die
Romane,
so
meine
ihre Verwandtschaftsbeziehungen
ihre Übersetzungsleistungen, indem sie sich, manchmal
und
mehr, manchmal weniger
explizit, im anthropologischen Netzwerk verorten. Darüber hinaus ist mit dieser Inszenierung eine Veränderung — oder genauer: eine Transfiguration?? — und natürlich die Inszenierung dieser 'Iransfiguration verbunden. Wenn in den Romanen Jean Pauls innerhalb anthropologischer Gedankenfiguren das figürliche oder figurative Moment
der
Gedanken
stark gemacht
wird,
dann
werden
dadurch
nicht nur
die
Ähnlichkeiten in der Familie tropischer Wissensordnungen, sondern auch die genetischen Unterschiede, die eine Verwandlung mit sich bringt, markiert.
Es sind in der Hauptsache zwei Differenzkriterien, die die Texte aufweisen. Das erste betrifft das Verhältnis von Toleranz und Ausschließlichkeit der Lektüre.??
Wenn Leibniz in seiner Beschreibung der Monaden-Strukturen eine soziale Metaphorik anschlägt bzw. implizit damit arbeitet, dann wird dadurch eine Lesart evoziert, innerhalb derer dieses Ordnungsmodell nur (oder eben: ausschließlich) meta-
phorisch verstanden werden soll. Spielt hingegen Jean Paul in seinen Romanen mit der sozialen
Metaphorik
des Monaden-Modells,
ist tatsächlich von
einer sozialen
2?! Vgl. Vogl, Einleitung, S. 13.
22 Zum
Begriff der Transfiguration vgl. Danto,
Die Verklärung des Gewöhnlichen,
S. 256.
Danto unterscheidet, mit Rückgriff auf eine alchemische Basis-Differenz, Transfiguration (Wandel der äußeren Erscheinung) und Transformation (Umwandlung). 23 Vgl. Vf, Ästhetische und rhetorische Metapher. Dort versuche ich zu zeigen, daß rhetorische Metaphern die logische Form einer Prädikation (»xey«), ästhetische Metaphern die einer Identifi-
kation (»x=y«) besitzen. Im letzteren Fall ist der metaphorische Ausdruck ein logisches Subjekt, d. h. er besitzt wie der zu beschreibende Ausdruck Referenz. Bei rhetorischen Metaphern haben wir es nur mit einem Gegenstand zu tun, auf den der zu beschreibende Ausdruck verweist. Das metaphorische Prädikat, d. h. der literale Ausdruck, referiert selbst nicht. Daher implizieren rhetorische Metaphern eine ausschließliche, ästhetische eine tolerante Lektüre.
4
Einleitung
Gemeinschaft die Rede (nämlich von dem Verhältnis der Figuren des Romans untereinander, die, je nach Sympathie, den Körpermonaden oder den Geistmonaden
zugerechnet werden) und zugleich von Leibniz verwegenem philosophischen Versuch, das Verhältnis von Leib und Seele rein idealistisch zu denken — und das evo-
ziert eine tolerante Lesart. Das zweite Differenzkriterium liegt in der Entwicklung und Entfaltung eines narrativen Potentials aus einer wissensorganisierenden Metapher, also in der allegorischen Ausformung.?* rhetorischen
Figuren
Anhand
der Romane
Romanfiguren,
aus
Jean
Pauls
epistemischen
läßt sich zeigen, Konstellationen
wie
aus
die Kon-
stellationen dieser Figuren und aus theoretischen Vorgaben schließlich ganze Handlungsverläufe der Romane entstehen. Z. B. macht das Kapitel »Ästhetische Metamorphosen« deutlich, daß in der Gedankenfigur der anima stahlii, also Stahls
angeblicher Theorie, daß sich die Seele lungselemente des Siebenkäs vorgegeben te) Inszenierung seines Scheintods und in Bayreuth und Vaduz lassen sich in all
ihren Körper selbst baut, schon alle Handsind: Siebenkäs’ (von Leibgeber unterstützdie Neuorganisation einer zweiten Existenz ihren Details als eine Schaffung eines neuen
Körpers (im Sinne von Sozialkörper) durch die eigene Seele (des Protagonisten) verstehen. Die inszenatorische Kraft der Romane
besteht also darin, die einzelnen Ele-
mente einer tropischen Wissens-Ordnung zu einer Textbewegung anzustoßen, durch die, vielleicht flankiert durch andere bewegte Gedankenfiguren, schließlich eine ganze Romanhandlung vorangetrieben wird. In diesem Sinne möchte ich von Jean Pauls Romanen als einer ästhetischen Dynamisierung anthropologischer Theorien sprechen. Für ein solches Unternehmen benötigt man Gedankenfiguren mit einer hohen und flexiblen Metaphorizität — wie man sie z. B. in den zeitgenössischen Theorien zum Leib-Seele-Problem findet. Jean Paul nutzt die sozialen Implikationen der hier entworfenen metaphorischen Ordnungen, um in seinen Romanen den physiologischen in einen sozialen Körper oder eine Körperschaft zu transformieren, innerhalb derer sich die Protagonisten bewegen. Zur gleichen Zeit wird aus dem physiologischen oder sozialen Körper auch ein Text-Körper,
dessen Zusammenhang
mit der
Text-Seele, d. h. der Bedeutung, in den Romanen immer wieder reflektiert wird.
Die hier skizzierten Verschiebungen des Körpers — von der anthropologischen Theorie in die soziale Praxis und von dort aus in die literaturtheoretische Reflexion — machen deutlich, daß in Jean Pauls Romanen genauso wie in seinen Untersuchungen”? die alte platonische Trias des Wahren,
Guten
und Schönen
reformuliert und
ihre metaphorische Verbindungslinie nachgezeichnet wird: Es findet sich eine epi-
24 Vgl. Kurz, Metapher, $. 37.
25 Jean Pauls Untersuchungen sind in philosophische, ästhetische und politische eingeteilt (vgl. HKA 11.7).
Einleitung
5
stemische Position, in erster Linie Aussagen über den Zusammenhang von Leib und Seele, eine moralische,
exemplifiziert?° an den Geschichten
der Romane,
und eine
ästhetische, die als Schreibweise angewandt und als Theorie ausgedrückt?’ wird.
Ich lese Jean Pauls Romane dementsprechend als Philosophie (bzw. Anthropologie) in Metaphern. Mit diesem Ausdruck soll weder gesagt werden, daß bei Jean Paul Philosophie auf Literatur, noch daß Literatur auf Philosophie eingezogen wird. Jean Paul wahrt die Differenzen von Literatur und Philosophie in Erkenntnisanspruch und Darstellung und setzt auf ihre Synergieeffekte. Die oben erwähnte Toleranz der ästhetischen Verwendung von Metaphern bzw. metaphorischen Ordnungen macht
es möglich,
daß die literale Dimension
der Metapher,
die in den
theoreti-
schen Texten von untergeordneter Bedeutung ist, in den Romanen beim Wort genommen wird, ohne die übertragene (aus dem philosophischen oder wissenschaftlichen Kontext) zu vernachlässigen. Die ästhetische Dynamisierung schließt nicht im geringsten aus, daß die Gedankenfiguren den ursprünglichen argumentativen Stellenwert theoretischer Texte behalten (und darüber auch noch Rechnung ablegen). Ich gehe in dieser Untersuchung davon aus, daß Jean Pauls Synthese aus Philosophie/Anthropologie und Literatur weder ein Zufall noch ein Betriebsunfall ist, sondern eine literarische und philosophische Notwendigkeit, genauer: die wechselseitige
Überbrückung systeminterner Probleme. Von philosophischer Seite aus wird die literarische Anleihe nötig, da Jean Pauls anthropologisches System auf Objekt- und Theorie-Ebene mit einem Widerspruch arbeitet, den der traditionelle philosophische Diskurs und dessen Regelsystem zu denken und formulieren nicht zuläßt: die Unvereinbarkeit materieller und spiritueller Momente im Menschen bzw. in der Theorie vom Menschen. Gleichzeitig bietet das literarisch-theoretische Joint-venture Jean Paul die Möglichkeit, seine Geschichten
und die dafür notwendigen
Schreib-
weisen aus dem luftleeren Raum holen und auf den Boden philosophischer Reflexion stellen zu können. Er benötigt also die Verbindung von Philosophie und Literatur, weil seine philosophischen Positionen ohne den Transfer in die Literatur inkonsistent, seine Romane ohne ihre anthropologische Dimension ungesättigt”® wären. Erst durch die metaphorische Überführung der Philosophie in Erzählung wird diese wieder konsistent, erst durch die Sättigung der Erzählung durch Theorie wird die perennierende Unlust am Fabulieren?? ausgeglichen. Die Romane besitzen, so meine These weiter, inmitten der Fülle von Gedankenfiguren, die sie präsentieren, einige, die für den gleitenden Wandel durch die drei Ebenen des Sprechens und Schreibens eine Leitfunktion übernehmen. Auf der einen Seite: Platons Gesetz der Adrasteia (die Befiederung der Seele), Rousseaus Idee von 2° Zum Begriff der Exemplifikation vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, S. SYff. 27 Zum Begriff des Ausdrucks vgl. ebd., S. 53ff. und 88ff.
28 Den Begriff entlehne ich: Frege, Über Begriff und Gegenstand, S. 72. 2 Vgl. hierzu Wölfel, Die Unlust zu fabulieren.
6
Einleitung
der Liebe zur Pflicht, Platners und Bonnets Theorie vom
himmlischen
Körper, Ja-
cobis Gleichsetzung von Idealismus und Materialismus und sein Diktum, daß die idealistische Philosophie eine Theorie des Wahnsinns und des Traums sei, und wie schon erwähnt: die »anıma stahlii« (JP 1.5, 43) und Leibniz! Monaden-Theorie. Auf
der anderen Seite: die materialistische Reduktion des Geistes bzw. alles Geistigen eines
La
Mettrie,
Diogenes
Philosophie
des
öffentlichen
Anstoßes,
die
mimische
Nachäffung des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen karnevalistischen Komikers und die Logik der satura perennis. Die Aufzählung der Leit-Gedankenfiguren macht deutlich, daß bei Jean Paul schr unterschiedliche und vor allem widersprüchliche Theoreme miteinander in Verbindung gebracht werden. Die in den Romanen zum Ausdruck gebrachte Philosophie in Metaphern besteht aus einem kalkulierten und kalkuliert unlösbaren Widerspruch — und zwar in allen drei Dimensionen. Jean Pauls bekannter Ausspruch, daß
»Hesperus-Rührung und Schoppens-Wildheit« die »zwei Brennpunkte« seiner »närrischen Ellipse« darstellen, bezieht sich nicht nur auf einen — in der Forschung oft festgehaltenen — Wechsel der Töne zwischen Empfindsamkeit und Humor? sondern auch auf einen Wechsel der Philosophien. Jean Paul geht nach eigenen Aussagen zwischen den beiden »ziehenden Punkte[n]« gerade nicht nur verzählend«, sondern auch »philosophierend, erkältet auf und ab«.?! Diese Selbstbeschreibung deckt sich mit den Befunden meiner Arbeit. Auf der epistemischen Ebene findet sich nicht nur eine spiritualistische Theorie über Gott und die Unsterblichkeit der Seele, sondern auch eine materialistische, die alles Vorgeblich-Geistige auf die nackte Materie reduzieren zu können glaubt. Der »stoischen« Moral von der Loslösung der Seele von allem (Sozial-) Körperlichen, die von den Protagonisten der Romane
(von Gustav bis Albano)
gelebt wird, stehen Fenks und
Leibgebers ebenfalls gelebte Maximen des Körperlichen und ihre Praxis der Entlarvung des falschen geistigen Scheins gegenüber. Und wie die idealistischen oder spiritualistischen Modelle in narrative Formationen transfiguriert werden können, so auch die materialistischen. Auch aus ihnen können Textbewegungen entstehen, die
den oben genannten wie z. B. der anima stahlii entgegenlaufen bzw. parallel zu ihnen zu laufen scheinen, bis sich herausstellt, daß diese Begleitung nur bzw. auch ein
parodistischer Scherz war. Die ästhetische Dynamisierung wird noch einmal poetologisch reflektiert. Schließlich schreiben die Protagonisten der Romane (inklusive »Jean Paul«) empfindsame
(proto-)literarische Texte,
deren Materialität
und
Medialität neutralisiert
werden soll — ganz im Gegenteil zu Fenk, Leibgeber oder dem satirischen »Jean 30 Vgl. Miller, Erzähler, S. 319; Proß, Geschichtliche Stellung, S. 174ff.; Scholz, Welt und Form, S. 211ff.; Lindner, Auktorial-subversiver Autor, $. 27; G. Müller, Jean Pauls Asthetik und Naturphilosophie, S. 256, und Oschatz, Humor, S. 119. 3l Jean Paul, Brief an Knebel, 16.1.1807, HKA III.5, 126.
Einleitung
7
Paul« (der er auch ist), deren Hinweis auf den Körper nur eine Schreib- bzw. Sprechweise zuläßt, die ihn und seine Säfte (die humores) genügend berücksichtigt: die humoristische. Nebenbei gesagt: Ich unterscheide im folgenden nicht, wie so oft in der Forschung,?? zwischen Jean Pauls satirischer und humoristischer Schreibweise,
da dieser bereits seine Satiren mit einem sich aus dem Grotesken herleitenden Humor schreibt. Die allgemeine Unterscheidung der Vorschule zwischen »satirische[m] Unwillen« und »lachende[m] Scherz« (JP 1.5, 116) ist keine Unterscheidung zwischen Jean Pauls Satire und Humor. Zurück
zu Jean Pauls dichotomischer
Philosophie:
Die Namen,
die ich zur Be-
schreibung seiner sich ausschließenden literarisch-philosophischen Projekte gewählt habe, tragen dem Charakter des tropischen Wechsels von der Anthropologie in die Ästhetik Rechnung: schöne Seele und grotesker Körper. Damit ist nicht nur die intri-
kate Frage nach dem Zusammenhang von Seele und Körper aufgerufen, nicht nur das Verhältnis zweier Moralsysteme
thematisiert, die auf der Prämisse der Existenz
bzw. Nichtexistenz geistiger Entitäten aufbauen, sondern auch die Beziehung von schöner und — im Sinne Bachtins (und Jean Pauls)?® — grotesker Literatur angesprochen. Mit der schönen Seele greift Jean Paul die allegorische Figur eines geradezu modisch zu nennenden Kulturmodells der Empfindsamkeit auf, dessen Renaissance mit Rousseaus Julie-Roman begann. Jean Paul schreibt dieses Modell weiter und um, wenn er die historischen Verbindungslinien, die in dieser Figur zusammenlaufen, freilegt (Plato, Rousseau,
Empfindsamkeit,
Sensualismus)
und
ihre epistemischen,
moralphilosophischen und ästhetischen Komponenten ausbaut. Vor allem stellt er der Figur einen Doppelgänger oder Zwillingsbruder zu Seite, der ihr bis aufs Haar gleicht — allerdings spiegelbildlich gesehen:
den Humoristen
mit dem
grotesken
Körper. Dessen philosophisch-ästhetische Konzepte passen wie die Faust aufs Auge seines empfindsamen Gegenübers. Überflüssig zu betonen,
daß diese beiden
Konzepte
im Laufe der Zeit Verände-
rungen erfahren. Insbesondere die Diskussion um die 'Iranszendentalphilosophie und Jean Pauls stärkere Hinwendung zu Jacobi ab 1798 verändern die Programme in sich und ihr Verhältnis zueinander. Eines bleibt jedoch immer bestehen: Spiritua-
lismus und Materialismus schließen sich aus — und zwar auf epistemischer Ebene (entweder gibt es geistige Entitäten oder nicht; tertium non datur) genauso wie auf
32 Vgl. Berend, Jean Pauls Ästhetik, S. 232£.; Köpke, Erfolglosigkeit, S. 294, und Wiethölter, Iluminationen, S. 223ff. 33 Jean Paul thematisiert das Groteske als Basis-Element seines Humors. So wird zum Beispiel Schoppe ein »groteske[s] Naturell« (JP 1.3, 1020) zugeschrieben und Siebenkäs’ Larve des Humors als »grotesk[] komisch[]« (JP 1.2, 292) bezeichnet. Als Quelle dient Jean Paul Flögels Geschichte des
Grotesk-Komischen, in der — genauso wie bei Bachtin — die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Narrenfeste als Ursprung des Grotesk-Komischen beschrieben werden.
8
Einleitung
der moralischen: Zine Fabel als Exemplifizierung zweier sich ausschließender Moralkonzepte stößt erzählend auf die gleiche Aporie wie eine apophantisch argumentierende Philosophie, die beide Konzepte zu integrieren sucht. Das gleiche gilt dann auch für die zwei Schreibweisen, in denen die Fabel erzählt wird (und die in der Fabel wiederum
thematisiert werden):
Empfindsamkeit
und Humor
können,
sind sie
an die oben geschilderten metaphysischen Prämissen gebunden, nicht friedlich koexistieren.
Aber es gibt dennoch ein Zusammenleben. Und das liegt in der Inszenierung perennierender philosophisch-literarischer Kriege. Um dieses Konzept des kalkulierten philosophischen und narrativen Widerspruchs in die Tat umzusetzen, legt Jean Paul Fährten für zwei Lesarten aus. Jeder Roman läßt sich als empfindsam geschriebene Geschichte
spiritualistisch
denkender
Personen
lesen,
die die Unsterblichkeit
der
Seele — zumindest ansatzweise — auf Erden inszenieren, oder als materialistisch moti-
vierte Parodie dieser empfindsamen Geschichte und ihrer spiritualistischen Prämissen. Die Anlage zweier komplementärer und korrelierender Denk- und Schreibweisen zwingt Jean Paul, jedes Projekt als agent provocateur des anderen zu inszenieren. Es sind die ätherischsten spiritualistischen Theorien und die härtesten materialistischen Reduktionismen,
die hochgestochenste Empfindsamkeit und der tiefstliegen-
de Humor, die Jean Paul in den Ring seiner Romane stellt. Am Ende des Kampfs der Extreme gibt es jedoch einen doppelten Sieger: einen unerklärlichen und widersprüchlichen ganzen Menschen — aus schöner Seele und groteskem Körper.
ERSTES
KAPITEL
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen (Satiren und frühe Aufsätze)
Zur Forschungslage Für den jungen Johann Paul Friedrich Richter werden, was die Zeit vor der Nieder-
schrift der Romane angeht, in der Forschung im allgemeinen drei philosophische Phasen unterschieden: Nach einer Zeit der dogmatischen, aber größtenteils nicht durch Lektüre gedeckten, Leibniz-Verehrung (1780-1782), die mit einem optimistischen Geschichtsbild einhergeht (vgl. JP II.1, 224-228; 287-288),?* folgt — durch das Studium
in Leipzig bei Ernst Platner initiiert — eine skeptische
Phase,
in der
Richter die Schulphilosophie in Frage stellt.?? In dieser Zeit beginnt er — quasi als Therapie —,?° Satiren zu schreiben. Am
Ende der 80er Jahre überwindet Richter die
skeptische Phase, findet zurück zu Gott und der Unsterblichkeit der Seele und kann
nun mit der Niederschrift von Romanen beginnen, in denen dieser Glauben seinen Ort hat?’ - so das Forschungskonstrukt.
Die These, daß es drei Phasen der philosophischen Genese Jean Pauls gegeben hat, ist nicht zu bestreiten. Allerdings verwendet Richter (bzw. Jean Paul) ab der zweiten, sogenannten
skeptischen Phase, wenn
auch in unterschiedlichen
Gewich-
tungen, zwei verschiedene Erklärungsmodelle?? für den Menschen: ein materialistisches und ein spiritualistisches,”” und entwickelt dafür zwei Sprachen: eine satirische
und eine empfindsame.“"
3 Vgl. Köpke, Erfolglosigkeit, S. 194; Sprengel, Innerlichkeit, $. 79ff.; Weigl, Aufklärung, S. 119ff.; Schmitz-Emans, Bau des Luftschlosses, S. 5Slff., und Kosenina, Platners Anthropologie, S. 71fE.
3 Vgl. Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel, S. 191; 241ff.; Köpke, Erfolglosigkeit, S. 75ff.; 198ff.; Weigl, Aufklärung, S. 100ff., und Kosenina, Platners Anthropologie, S. 74ff. 36
So Voigt, Humoristische
Figur, S. 27.
37 Vgl. z. B. Weigl, Aufklärung, und Kosenina, Platners Anthropologie, S. 107ff. 38 Die skeptische Phase wird auch bei Kosenina, Platners Anthropologie, S. 86, als philosophisch inkonsistent bewertet.
39 Vgl. Proß, Geschichtliche Stellung, S. 175f. #0 Ich gebrauche den Begriff Spiritualismus für die Beschreibung eines Systems, das die Existenz geistiger Entitäten (meist: eine unsterbliche Seele) annimmt, den Begriff Materialismus für die Beschreibung eines Systems, das die Existenz geistiger Entitäten (die unsterbliche Seele) leugnet. Die materialistische Reduktion ist die Technik, angeblich geistige Handlungen, Zustände und Prozesse auf materielle zurückzuführen.
10
Erstes Kapitel
Diese doppelte Theoriebildung und Sprachfindung nicht zu reflektieren, hat der Forschung handfeste Widersprüche eingebracht. Die eine Richtung versucht, den Richter der zweiten Phase als temporären Materialisten einzuordnen,®!
und läßt an-
ders argumentierende Texte der gleichen Zeit unberücksichtigt. Die andere versucht, entweder den Materialismus zu ignorieren®? oder ihn als Gegenstand der Satire zu verkaufen, also Richter für einen, vielleicht etwas wankelmütigen,
Spiritualisten
auszugeben. Um die »skeptische< Phase zu dokumentieren, werden in der Forschung im allgemeinen zwei Briefstellen, eine aus der sogenannten skeptischen Phase und eine im Rückblick, herangezogen.
In beiden Briefen beschreibt Richter seinen »Skeptizis-
mus« mit ähnlichen Kriterien: »Die Philosophie ist mir gleichgültig, seitdem ich an allem zweifle. [...] Ich lache iezt soviel, daß ich zu denken kaum Zeit habe«.* Ähnlich im Rückblick: »Die Geschichte Ihres Skept[izismus] ist meine. [...]. Zum Glük wurd’ ich damals von der WizManie besessen«.* Richter macht deutlich, daß seine damalige philosophische Position mit einer bestimmten Art der Präsentation, dem
Komischen bzw. der »WizManie«, verknüpft ist.
In den gleichen Briefen gibt es — und das wurde bis jetzt übersehen — auch einen Johann Paul Friedrich Richter, der an die Unsterblichkeit der Seele glaubt und dafür
nach einer Sprache sucht: »Aber mein Herz ist mir hier so vol! so vol! daß ich schweige«,“° schreibt er an Pfarrer Vogel und noch deutlicher im Rückblick: »In der
Empfindung war ich gläubig; und blos den Schriftstellern, die mich in iene oft versezten, verdank’ ich meine Transsubst[anziazion]«.?
Richter hat also zur Zeit der Niederschrift der Satiren seine spiritualistische Theorie nicht etwa, wie bisher angenommen wurde, abgelegt, sondern er sucht nach einer
Sprache für sie — einer zweiten neben der »WizManie«. Der »Hauptgrund« für Jean Pauls »Skept[izismus]« war der: ves giebt für iedes Subjekt keine andre Wahrheit als die gefühlte«. Das Gefühl war jedoch für den Richter der frühen 80er Jahre ein unsicherer Kantonist. Erst in dem Augenblick, in dem dem »chamäl[eontischen] Ge-
“U Vgl. Weigl, Rezension Schmidt-Biggemann, S. 178, und ders., Aufklärung, S. 133ff., der den Materialismus teilweise sozial deutet, ansonsten jedoch auch dazu tendiert, ihn für den Gegenstand
der Satire zu halten (S. 166ff.; 175ff.). Dezidierter in Richtung Materialismus argumentieren Lindner, Scheiternde Aufklärung, S. 99, der bei Richter »vulgärmaterialistische« Tendenzen findet, und Sprengel, Maschinenmenschen, S. 78ff. #2 Vgl. Brummack, Satirische Dichtung, S. 86ff. #3 Vgl. Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel, S. 50ff.; Weigl, Aufklärung, S. 166ff.; 175ff.; Schmitz-Emans, Bau des Luftschlosses, S. 67f.; Gerabek, Naturphilosophie, S. 72ff.; 126ff., und Baierl, Transzendenz, S. 2Iff. % Johann Paul Friedrich Richter, Brief an Pfarrer Vogel, 1.5.1783, HKA II.1, 66. 4% Johann Paul Friedrich Richter, Brief an Wernlein, 11.8.1790, HKA IH.1, 305. 4% Johann Paul Friedrich Richter, Brief an Pfarrer Vogel, 1.5.1783, HKA IIl.1, 66. 47 Johann Paul Friedrich Richter, Brief an Wernlein, 11.8.1790, HKA III.1, 305.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
11
fühl«* durch die Philosophie Jacobis eine eindeutige Farbe gegeben werden kann, kann Richter seine partielle Iranssubstantiation zum sensualistisch gestützten Spiritualisten und empfindsamen Autor vollziehen. Das Bestreben, auf eine doppelte Art zu denken und zu schreiben, ist kein Zufall oder eine theoretische Schwäche Richters, sondern Teil eines schon früh ausgearbeiteten Programms. In dem 1781 verfaßten Text aus den Übungen im Denken, Etwas über den Menschen, der nach zweimaliger Überarbeitung (Über das Unverständli-
che in der menschlichen Natur [Fragment; Hl], Vom Menschen [H3]) in die Rhapsodi-
en übernommen wurde,“? wird dieses Projekt bereits skizziert. Richter führt bereits im Originaltext zwei Betrachtungsweisen des Menschen vor: als »Engel« und als »Tier« (JP IL.1, 179) bzw. »Teufel« (JP II.1, 185). In der ersten Beschreibung kann
der Mensch - seine irdische Beschränkung reflektierend — sich selbst und die Natur erkennen, Gott erahnen und in der Kunst dies alles als »Nachamer der Wunder Gottes« (JP II.1, 176ff.; Zitat: 177) in höchster Vollkommenheit vereinigen. Ähn-
lich sieht es in der Moral aus: »Der Mensch ist also gut, wenn ihn nicht traurige Notwendigkeit in Laster stürzt« (JP II.1, 178£.).
Die zweite Betrachtungsweise ist der ersten diametral entgegengestellt. In ihr wird alle Erkenntnisleistung und alle Moral auf niedere Triebe (JP II.1, 183), insbesondere den Gelderwerb (JP II.1, 180; 183f.), zurückgeführt. Beide Beschreibungen zielen auf die Doppelnatur des Menschen, seine »Mischung von körperlichen und geistigen Wirkungen« (JP II.1, 190), und haben, obwohl sie sich ausschließen, gerade in der Gegenüberstellung ihre Berechtigung:
»Wir sind weder Engel, noch "Teufel, wir
sind Menschen; aber dies sind wir nur deswegen, weil wir das rätselhafteste, das ver-
änderlichste, das widersprechende Geschöpf sind. Wir bemerken dieses weniger an uns, weil wir unser Auge zuser auf den gegenwärtigen Zustand heften, und dadurch unfähig werden, uns ganz in den vorhergehenden zu versezen, um den Kontrast beider Zustände durch ihre Vergleichung zu fülen. Nur dan gelingt uns dieses, wenn die vorigen Lagen starke Eindrükke zurüklassen, oder wenn entgegengesezte Zustände durch ihre geschwinde Abwechslung unsre Aufmerksamkeit erregen« (JP IL.1,
185). Der Mensch neigt in der Erklärung seiner selbst zu Extremen, weil sein Wesen nicht zu fixieren ist und er als Erkennender Schwankungen unterworfen ist. Er lebt
im Augenblick, entscheidet sich im »Fülen« für eine Sicht auf sich und kann sich an die andere nicht oder nur schwer erinnern. Um seiner Erinnerungsleistung auf die Sprünge zu helfen, bedarf es einer guten Schreibstrategie: Der »Kontrast beider Zustände« muß ihm in »geschwinde[r] Abwechslung« vor Augen geführt werden. Es ist, wie in dem Text selbst geschehen, das Aufeinanderprallen zweier Theorien, das
#8 Ebd.
% Vgl.JP IL.4, 131f
12
Erstes Kapitel
den Menschen aus seiner epistemologischen Eindimensionalität befreit. Der Widerspruch der zwei Modelle irritiert auf kalkulierte Weise und lenkt so die nötige Aufmerksamkeit auf die perennierenden »Widersprüche im Menschen« (JP IL.1, 189). Ich gehe im folgenden davon aus, daß Richter bis in seine späten Romane hinein
an dem 1781 entwickelten dualistischen Irritationsmodell festhält. In den 80er und frühen 90er Jahren experimentiert er mit diesem Modell. Er entwickelt in den Satiren eine materialistische Denk- und eine satirische Schreibweise sowie — verstärkt ab dem Ende der 80er Jahre — in den frühen philosophischen Texten eine spiritualistische Denk- und empfindsame Schreibweise. Beide literarischen Strategien sind immer aufeinander bezogen.
Die Reduktion auf die Materie Richters Satiren fallen in eine Zeit des Umbruchs des satirischen Schreibens. Die Sicherheit eines moralphilosophischen Systems, die ein Gottsched noch durch die Anlehnung an die Philosophie Leibniz’ und Wolffs besitzt,?° geht im Verlauf des 18.
Jahrhunderts durch den Einfluß des Empirismus und der Philosophie Kants verloren. Dementsprechend kann es nicht ausbleiben, daß auch der Satiriker die Bedingungen seines Schreibens neu überdenkt.?! Er kann die Satire nicht länger lediglich als »moralisches Strafgedicht«?? verstehen, sondern muß seinen Status als Autor, seine theoretische Basis und deren literarische Umsetzung neu erarbeiten. Eine solche Hinwendung zur theoretischen und formalen Selbstreflexion läßt sich auch bei Richter feststellen. In den
Teufelspapieren klagt der »Verfasser« Hasus, viel-
leicht sogar der in ihn inkorporierte Teufel (kurz, der Erzähler): »Es soll mich aber
wundern, wenn ich weis, wo ich iezt bin: denn bey der Hauptsache, merk ich leicht steh ich nicht und ich muß wol seit der Zeit, daß ich den Titel dieser Abhandlung geschrieben, blos einer Ausschweifung nachgegangen sein« (JP II.2, 209). Dem Problem der unendlichen Ausschweifung kann ein Sterne-Adept nicht ent-
gehen; die gerade Linie der Diegese ist nicht einzuhalten. Der einzige Ausweg ist, so suggeriert der Erzähler dem Leser, aus der Not eine Tugend zu machen. Dann wählt man, wenn man schreiben will, kein eigenes Thema,
sondern folgt »ieder Kabiners-
ordre des stoischen Fatums nach«. Statt zu klagen, resümiert der Erzähler leichten Herzens: »Diese Abhandlung ist nichts anders als die erste künstliche Wildnis von Gedanken in Deutschland, und es braucht unsers Bedünkens keines Beweises, daß
50 Zur Rolle der Satire im frühen 18. Jahrhundert vgl. Schönert, Roman und Satire, $. 53ff. 5l Vgl. hierzu ebd., S. 167f., und Seibert, Satirische Empirie, $. 32ff. 52 Vgl. Gottsched, Kritische Dichtkunst, 2. Teil, 1. Abschnitt, 7. Hauptstück, $ 9.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
13
sie des Namens philosophischer Pandekten würdig ist, die wol aus 2000 Materien zusammengebracht sein mögen« (Alle Zitate: JP II.2 210). Die Pandekten, der Hauptteil der Kodifikation des römischen Rech (des corpus iu-
ris civilis), enthalten eine systematische, aber vielschichtige Sammlung der Werke römischer Juristen.?? Das gleiche gilt für die philosophische Satire. Auch in ihr versammeln
sich unzählige »Materien«,
nur — und das macht
den Unterschied
aus —
nicht systematisch geordnet, sondern in »künstliche[r] Wildnis«.
Der Erzähler präsentiert hier sein eigenes literarisches Konzept: 1.) das nicht-lineare digressive Schreiben. In dieser »unzusammenhängendeln] Schreibart« (JP IL.1, 473) wird nicht ein Gedanke von Anfang bis Ende ausgeführt,
sondern ohne Ordnung von einer »Materie[]« zur nächsten gesprungen. Wie es die Satiren-Iheorie
der Zeit vorsieht,
liegen verschiedenste Themen
verschiedenster
Autoren wie Äpfel und Birnen in einer Fruchtschale für die Götter (lanx satura)* 2.) Die digressive Schreibweise führt zu einer vollkommenen Plagiatsunempfindlichkeit. »Der Gelehrte ist das Echo seiner Bibliochek« (JP II.1, 473).?? Bei der satirischen Obstmischung handelt es sich um eine Sammlung von Theoremen, deren
geistiges Eigentum nicht mehr berücksichtigt wird: eine neue Form von Intertextualität.
Die in aller Deutlichkeit skizzierte Schreibweise ist kein origineller Einfall eines Erzählers, sondern besitzt, zumindest wird das suggeriert, eine »eiserne Nothwendigkeit« (JP II.2, 211). Der Erzähler spielt nicht mit den Digressionen, sondern ist ein »Spiel der Digressionen«, und wird wie ein Sklave immer wieder »vermittels ei-
nes Nasenrings zu einer ganz andern Materie geschleift« (JP II.2, 210). Das »stoi-
sche[] Fatum« (ebd.) kann man nur bejahen, dagegen aufbegehren kann man nicht. »Fata volentem ducunt, nolentem trahunt« (den Willigen führt das Schicksal, den
53 Vgl. hierzu den Kommentar in JP II.4, 380.
54 Daneben wird im 18. Jahrhundert die heute aufgegebene Satyr-Theorie diskutiert. Vgl. dazu Herder, der seine Satirentheorie von der damals gebräuchlichen abgesetzt sehen möchte, und zwar unabhängig davon, ob ihr Name »an den Satyr oder an die Brockenschale (lanx satura)« erinnert (Herder, Adrastea, Suphan XXIII, S. 196). Zur Genealogie der Satire aus dem Satyr-Spiel und ihrer
Widerlegung
vgl. Arntzen,
Satire,
S.3.
Endgültig
sind
solche
Widerlegungen
jedoch
nicht.
Kerenyi, Satire, z. B. diskutierte einen Ansatz, der über den Umweg des Dionysos-Kultes die Saty-
ren-Theorie rehabilitiert. Auch wenn seine Ausführungen von der Philologie nicht akzeptiert wurden, so wird neben der gastronomischen Herleitung (Füllsel oder Fruchtschüssel) auch weiterhin die These vertreten, daß die satura auf prototheatralische Wurzeln in Rom zurückgeht. Vgl. dazu neben Knoche, Römische Satire, vor allem Weinreich, Zum Verständnis, der für die satura neben
der kulinarischen Herleitung (S. 287ff.) eine zweite, ebenfalls prototheatralische, angibt: die aus Etrurien importierten /udiones als Vorstufe des römischen Bühnenspiels (S. 292ff.).
55 Zur Tradition des intertextuellen Verfahrens bei Richter bzw. Jean Paul vgl. Proß, Geschichtliche Stellung, S. 37. Zur Intertextualität und zur Frage der Autorschaft bei Jean Paul vgl. die gleichermaßen textnahe und theoretisch fundierte Arbeit von Pross, Falschnamenmünzer, S. 31ff.
14
Erstes Kapitel
Widerstrebenden schleift es mit), heißt ein im 18. Jahrhundert bekannter stoischer
Grundsatz.>® Was
hier vorliegt, ist also zum
einen eine performative
Darstellung der eigenen
satirischen Schreibweise (denn die Theorie wird alles andere als geordnet vorgetragen), zum anderen die Reflexion der philosophischen Implikationen einer solchen Schreibweise:”’ die Unmöglichkeit eines freien Willens (Fatalismus) und die Abhän-
gigkeit von materiellen, d.h. ökonomischen und physiologischen, Faktoren: den »häusliche[n] und körperliche[n] Umständel[n]« (JP II.2, 210). Der Satiriker bedient sich also für seine Schreibweise der Technik der materialistischen Reduktion.?® Er führt angeblich geistige Prozesse, Erzeugnisse und Zustände auf ihre körperliche, so-
ziale oder ökonomische Basis zurück. Platner in der Anthropologie: Man ist Materialist, wenn man »Seelenwirkungen für das Resultat gewisser [körperlicher] Bewegungen« hält (Anthropologie $ 89). Diese materialistische Reduktion wird — mit komischem Effekt und immer mit Blick auf die Entstehung von Texten — in den Prozessen vorgeführt: »Ein Autor
braucht keine Sele; denn sein Körper ist seine Sele — so wie auf einem Kunstwerk des Parrhasius kein Gemählde hinter dem Vorhange verborgen stekte; denn der Vorhang war das Gemählde selbst. Sein Körper schenkt gewissen scheinbar-geistigen Handlungen nicht blos den Namen,[] sondern auch den Ursprung; und nichts ist thörichter, als einen solchen deum ex machina wie die Sele ist zur Verfertigung einer
solchen körperlichen Sache wie ein Buch ist herabzuzaubern« (JP II.1, 509). Das Leib-Seele-Problem ist ein trompe-l'oeil des intellektuellen Auges, und die Spiritualisten fallen auf den Illusionismus des Körpers herein. Sie halten den Körper für das, was er darstellt (die Verhüllung der Seele) und verkennen dementsprechend,
was er eigentlich ist (das, was sie für die Seele halten). Der Körper spielt weiterhin — um die zweite Metapher aufzunehmen — seine Rolle und die der Seele; er agiert nicht nur auf der Bühne des Lebens als Schauspieler, sondern mimt auch diesen Schauspieler. Will man seine Handlung wie die eines Dramas verstehen, bedarf es keines deus ex machina — sondern der Körper-Maschine selbst.
56 Vgl. z.B. Kant, Zum
ewigen Frieden A 58. Zu den Vorlagen: SVF II, 975; Seneca, Briefe an
Lucilius, Brief 107.10; Epiktet, Handbüchlein, Kap. 53; Zur Forschung vgl. Forschner, Stoische Ethik, S. 110f. 57” Zur satirischen Selbstreflexion bei Richter vgl. auch (am Beispiel der Bittschrift) BarbeHammer, Kollaps und Kritik. 58 Sinns These (Jean Paul, S. 21), daß Richter mit den »poetische[n] Konstruktionen« nach »unverbrauchte[n] Möglichkeiten [...], durch Schreiben Denken herbeizuführen«, gesucht und
gefunden habe, so daß sein Text »epistemologischen Zwecken« diene, scheint mir die poetische Eigendynamik der Richterschen Texte nicht genügend zu berücksichtigen. Meiner Meinung nach bedient sich Richter nicht für den Materialismus einer neuen Schreibweise (der satirischen), sondern
andersherum: Seiner Schreibweise ist ein epistemisches System inhärent, auf das er zurückgreifen muß.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
15
Wenn der Körper »die Sele« nur »spiel[t]« JP II.1, 565), so läßt sich das Spiel leicht aufdecken: »Experimentalselenlehre« läßt sich auf »Anatomie« reduzieren, »Ästhetik« kann
nur verstanden werden, wenn
man
die »Eingeweide«
des Körpers
kennt, und die »verschiedene[n] Selenkräfte« sind »die verschiedenen Glieder« des Körpers (alle Zitate: JP II.1, 509).
Anwendung I: Peristaltik des Schreibens und Exkrementalpoesie »Dem leiblichen Hunger der Schriftsteller verdankt das Publikum seine geistliche Sättigung. Einige Ärzte leiten aus dem Magen alle Krankheiten her; ich wollte aus demselben noch leichter den Ursprung der meisten Schriften erklären, und zeigen, daß weniger der Nervensaft des Gehirns als die unbefriedigte Galle des Magens an der Erzeugung eines Buchs arbeiten« (JP II.1, 373). Die Reduktion des Geistigen auf das Körperliche führt direkt durch den Bauch des Denkers. Den Magen als geistiges Zentrum zu bestimmen, ist keine unbekannte Theorie: Der Paracelsus-Schüler van Helmont schreibt in seinem Aufgang der Artzney-Kunst, daß die »sinnliche Seele« (die im Gegensatz zum »unsterbliche[n] Gemüth« keine »unkörperliche Substantz« ist und deswegen lokalisierbar ist) ihr »Ruhe-bette und Lager in dem Lebensgeist des Magens« habe.?? Diese Theorie wird im 18. Jahrhundert wissenschaftlich und satirisch diskutiert? — und von Richter aufgenommen. Stimmt die Annahme, dann ist der Genieästhetiker widerlegt, der glaubt, der »Nervensaft« (JP II.1, 373) setze den Schreibprozeß in Gang. Mit dem Begriff Nervensaft bezieht sich Richter auf die (alte) Anthropologie Platners. Nach ihr wird der Nervensaft, der allerfeinste Teil des Bluts, im Gehirn abgesondert, um über die Ner-
ven-Kanäle eine Verbindung mit dem Körper herzustellen (Anthropologie $$ 146ff.). Gegen diesen feinen Nervengeist setzt der Satiriker etwas Derbes: die humores, d. h. den Saft der »satirische[n] Galle« (JP II.1, 397). Deren Leistung ist dabei eine doppelte: »Sie lehrt die Bücher nicht blos verläumden, sonden auch verstehen — so läst die Schlange ihren Gift in ihren Feind und ihre Speise fliessen, und zödet und verdaut
damit; so ist ein iunger Kälbermagen sowohl zur Versäuerung als Verdauung der Milch geschikt« (JPII.1, 518). Der satirische Säure-Ausguß
verzerrt den Gegenstand
nicht, wie man
denken
könnte, zur Unkenntlichkeit, sondern macht ihn durch seine Verzerrungen erst kon-
5% Van Helmont, Aufgang, Bd. 11, S. 832,; 833.. 60 Vgl. Arnold, Beobachtungen,
Mettries L’homme machine, S. 36.
S. 155ff., und den philosophisch-satirischen
Kommentar
in La
16
Erstes Kapitel
sumabel.
Hier wird ein Gedanke
deutlich, den Richter immer wieder aufgreifen
wird: Der Materialismus des Humors garantiert eine objektive Referenz auf den Gegenstand, über den er spricht, weil die Verzerrung nur den falschen Schein entfernt. Hat man einmal die Direttissima vom Magen zum Text (ohne Umweg über den Geist) gefunden, ist es endlich möglich, die »hochadeliche Dichtkunst zu einer [...] pöbelhaften Abstammung herunter zu würdigen« (JP IL.1, 515): die Peristaltik ist der Ahnherr der Ästhetik. Es sind nur die »von unten aufgestiegnen Dünste«, die
»durch ihre Entzündung das ganze Ideengebiete des Autors so sehr« erhellen, daß »er lauter neue Wahrheiten sieht und dem Drange endlich weicht, sie durch die Presse mitzutheilen« (JP II.1, 373f.).
Die Reduktion der Schreibtätigkeit auf die Tätigkeit von Magen und Darm hat gewaltige literaturtheoretische Konsequenzen. Ein fiktiver Opponent wirft ein, daß in einem solchen System der Magen die »satirische Feder, die gleich ihm und durch ihn zu einem Perpetuum mobile geworden, mit seinen müssigen aber darum schärfern Verdauungssäften« tränke (JP 1.1, 517). Aber wen stört das? Läßt man den
Umweg über die Seele eines Autors weg, bekommt die Schreibtätigkeit endlich die Vitalität von körperlichen Prozessen — in diesem Falle: der Verdauungstätigkeit. Und
noch mehr: Der Magen arbeitet wie jedes Körperorgan im Paradigma Descartes mechanisch.°! Ohne Seelenantrieb besitzt er dementsprechend eine vollendete Eigendynamik,
ist also ein »Perpetuum
mobile« oder (auf der Ebene
des Textes)
eine
Ecriture automatique avant la lettre. Es schreibt im Satiriker, wie es in seinen Einge-
weiden arbeitet. Beides kann er nicht verhindern und nicht vorantreiben. Er kann es nur erleiden.
Es ist nur folgerichtig, daß, wenn die Schreib- mit der Verdauungstätigkeit gleichgesetzt wird, die geistigen Produkte starke Ähnlichkeiten mit den Exkrementen auf-
weisen. Bevor die poetischen Auswürfe eines Autors beim Leser ankommen, können sie auch eine Zwischenstation bei einem hungrigen Koautor machen — Wiederver-
dauung nicht ausgeschlossen. Die Vielschreiberei gleicht dem angeblichen Handel des »Dalai Lama« mit seinen »Exkrementen« Vielschreiber
unausweichlich
begeht,
ähnelt
(JP II.1, 389), und das Plagiat, das der der
Aufbewahrung
und
Wiederver-
wertung des Kotes bei der Tierhaltung. Anders ausgedrückt: Der Autor als Recyclingmaschine bzw. Zweitverwerter schafft »wohlriechende[] Extrakte, die er, gleich dem
Parazelsus[]
aus poetischen Auswürfen
distilliret, und zum
Beweis
der Wirk-
lichkeit des deutschen Zibeths, der Welt mittheilt« (JP II.1, 391£.).
Auch hier verdaut der Erzähler mit seiner satirischen Galle eigene Materien, kurz:
Er thematisiert seinen eigenen Schreibprozeß. Die »Behältnisse der verdauten Ex61 Zum cartesianischen Paradigma des Körpers als Maschine und dessen Rezeption bei Richter bzw. Jean Paul vgl. Schmidt-Biggemann, Lichtenberg, $. 88ff.
Maschine
und
Teufel,
S. 234ff.,
und
Schmitz-Emans,
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
17
zerpten« sind natürlich die »eignen Papiere« (JP 11.1, 391). Durch den Rückgriff auf die rhetorische, karnevalistische und satirische Tradition der Grammatophagie°? beschreibt Richter metaphorisch seine eigenen mnemotechnischen Modelle, die Exzerpte und Zettelkästen, und streicht so deren intertextuelles Moment heraus. Ohne Scham
schreibt er, daß man ja nicht alles zitieren könne, was man lese, da es »nur
auf die Verdauung« ankäme — »aus schmuzigen Lumpen verfertigt man ja schönes weisses Papier« (JP II.1, 477). Der literarische Verdauungsprozeß dreht also die konventionellen Verhältnisse um. Nicht das Gegessene, sondern das Verdaute ist rein und schön, der Körper des Autors behält nicht, wie die Körper anderer Menschen, das beste bei sich, sondern scheidet es, extra für seine exkrementalbegeisterten Leser,
wieder aus. Der gnostische Gedanke, daß Kot zu Gold wird,° wird hier zur litera-
turtheoretischen Metapher umgearbeitet. Diese Art der Verdauung der Verdauung unterscheidet sich fundamental vom Selbstplagiat. Denn es existiert auch die Möglichkeit, die eigenen poetischen Exkremente (und nicht fremde) zu verzehren: »Daher erweitern sie [gemeint sind die
Skribenten] ihre Kenntnisse durch die Lesung ihrer eignen Schriften, so tränkt sich die Kamelziege mir ihrem eignen Speichel, so frist der Strauss seine Exkremente« (JP 11.1, 398). Aber dies ist mehr eine Angewohnheit der Skribenten voller »Aufgebla-
senheit« (JP II.1, 397) und »kalte[r] Gelehrsamkeit« (JP II.1, 398), die ihrer Unwis-
senheit jedoch die lautesten Töne der Belesenheit verleihen.
Anwendung II: Sex, Drogen - und Krankheiten Auch die Deformation der Geschlechtsorgane als Stimulanz zum Schreiben darf in einer Aufzählung materialistischer Reduktionismen nicht fehlen. Boileaus Verstüm-
melung des Penis in seiner Jugend durch einen 'Iruthahn und die daraus resultierende Impotenz führen, so notiert der Satiriker genüßlich bei der Helvetius-Lektüre,* zu der Niederschrift von sittenstrengen Traktaten und zu satirischen Ausfällen gegen
das weibliche Geschlecht. Und solche Argumente kann ein Vulgär-Materialist ebenfalls nicht ungenutzt las-
sen: »Herkulische Lenden sind immer mit einer herkulischen Kehle gepart; wenigstens fliegen die Vögel nicht nur mit den Flügeln, sondern auch mit dem Schwanze« (JP IL.1, 525). Manchmal ist es jedoch auch der Triebverzicht einzelner Autoren, der zum Schreiben anreizt, vor allem dann, wenn
er mit tränenseliger Empfindsamkeit
sublimiert wird: Der Autor kann »vermittelst seiner Verse, des gedämpftern Wieder-
62 Vgl. dazu Butzer, Pac-man, mit Bezug auf Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 188; 220ff.
63 Zum gnostischen und neuplatonischen Gedanken des Kots im Gold vgl. Riedel, Deus, S. 4ff. 64 Helvetius, Discurs über den Geist, S. 254, Fußnote; JP II.1, 555f.
18
Erstes Kapitel
halles der gröbern Wollust, die Thränendrüsen des Publikums mit dem weinerlichen Durchfal anstekken« (JP II.1, 387).
Ähnlich starke Wirkungen auf den Schreibprozeß haben Kaffee und Alkohol. Es ist die Mischung fremder und körpereigener Säfte, auf der aller literarischer Erfolg beruht: Der Kaffee bewirkt das, was man eigentlich der »Phantasie, unsrer herlichsten Selenkraft«, zuschreibt. Schenkt einem die »Aufwärterin« viel ein, kann man auf den »Beifal aller Kunstrichter rechnen«,
bekommt
man
nur wenig davon,
schreibt
man dementsprechend auch mit »weniger Begünstigung der Phantasie« (JP IL1, 522).
Detaillierter noch wird die Wirkung der Säfte-Mischung beim Alkohol geschildert: »Des edlen Gerstensaftes, und der übrigen Getränke, deren Einflus auf den langsamen Nervensaft schon durch gedrukte Zeugnisse verewiget worden« (JP II.1, 382), gedenkt der Erzähler nur en passant. Aber der Wein! »Nur der Überflus daran spricht den Dichter von seinem Verstande los, und spornet ihn über die träge Vernunft hinweg. Diese Hize des Weins stört den Unsin der Phantasie aus seinem Winterschlafe, und wekt die buntscheckkigte Brut der Träume aus ihrem Schlummer [...] und wie Heu durch die Nässe, erhizt sich der zusammengeraubte Haufen von verwelkten Blumen durch das Getränke« (JP II.1, 381).
Richter spielt hier auf die Säfte-T'heorie Galens an, die er (wahrscheinlich mittelbar über Platner) aus Georg Ernst Stahls Über die Mannigfaltigkeit von Gemütsbewe-
gungen (1695) kannte. Dort werden psychologische Krankheiten durch eine hervorstechende Leidenschaft und das Temperament ihrer Träger, d.h. durch die Mischung der Säfte und deren Bewegung, bestimmt. Zur Diagnostizierung einer Krankheit, so Stahl, darf man »nie den Blick auf die Natur des Temperamentes oder der dominierenden Leidenschaft verlieren« (EGK 30).%
Natürlich spielen die Säfte auch bei Krankheiten eine wichtige Rolle: Kann man denn glauben, fragt der Verfasser listig, »daß Krankheit zum
Bücherschreiben
eine
Ursache, wenigstens eine Veranlassung werden könne« (JP II.1, 383)? Und ob: Blähungen stürzen den Optimismus um, Magenverschleimung sind die ideale Grundlage für »blühende Deklamazionen gegen den Luxus«, auf den Harnsteinen sitzt der Lorbeer höher,
und immer wieder sind es die humores,
die die flüssige Grundlage
hochgeistiger Tätigkeiten darstellen: »Sobald das Blut seinen Speichel färbt, so wimmert seine genieartige Lunge in youngischer Melodie. So verkündigen die blutigen Fleken im weissen Kothe der Stubennachtigal, die Ankunft ihres Gesangs« (Alle Zita-
te: JP II.1, 384).
Langsam, aber sicher tastet sich der Erzähler vom allgemeinen Schreiben zur Poesie vor. Dort ist die Reduktion anscheinend besonders einfach: »Predigten schreiben,
65 Zum Zusammenhang von Säftelehre und Humortheorie vgl. Gehrs, Komische Philosophie, S. 129.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen heiss’ ich, den
Durchfall
haben;
dichten,
das Fieber haben;
epigrammatisiren,
19 die
Kräze haben, und rezensiren, die Gelbsucht haben. [...] Des vorteflichen furor poeticus, oder der Tolheit, der heutigen Melpomene,
wird weiter unten gedacht wer-
den« (JP Il.1, 384).
Der französische Materialismus, die Fortsetzung des Karnevals mit anderen Mitteln und Diogenes von Sinope Der »Bewess, [/] daß man den Körper nicht blos für den Vater der Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe, und daß vorzüglich die grösten Geistesgaben die rechte Hand zur glandula pinealis [Zirbeldrüse] gewählet« (JP II, 506), führt bei
Richter zu folgender Aussage: »Ohne Hand kan der Autor das Buch so wenig schreiben als der Sezer sezen, aber ohne Kopf es zu thun, hat der erste dem andern
abgelernet« (JP II.1, 510). Die rechte Hand hat also die Stelle eingenommen, an der
Descartes einst die Seele vermutete. Und so ist das Schreiben von Büchern eine rein körpermechanische Angelegenheit des Handballens und der Finger. Wie so oft führt Richter die Technik der vollständigen materialistischen Reduktion vor: Er schließt von den einzelnen Abhängigkeiten der Seele vom Körper auf eine absolute. So argumentiert auch La Mettrie. Dieser schließt von der Tatsache, daß »die verschiedenen Zustände der Seele [Etats de ’Ame]« immer in »Wechselbeziehung [correlatifs] zu denen des Körpers« stehen, auf eine »ganze Abhängigkeit [dependance]«; darauf also, daß »alle Fähigkeiten der Seele [facultes de l’Ame] [...] von dem eigen-
tümlichen Bau des Gehirns und des ganzen Körpers abhängen«.°° Insofern verwundert es den Leser, daß Richter sein Vorgehen vom vollständigen Reduktionismus des französischen Materialismus abgesetzt sehen möchte: »Ich fürchte übrigens nicht durch den Beweis, daß Körper die meisten geistigen Kinder ediren, den Schimpfnamen eines Materialisten zu verschulden: denn behaupten, daß man ohne Kopf Holz spalten könne, heist darum nicht behaupten, daß man mit den Händen denken könne« (JP IL.1, 509). Richter streicht heraus, daß man in der Reduktion — um mit heutigen Begriffen zu präzisieren — den Existenzquantor mit dem Allquantor verwechsele. Die Tatsache, daß einige Handlungen (z. B. »Holz
spalten«) ganz auf körperliche Prozesse zurückgeführt werden können, heißt nicht, daß dies für alle gilt. Der Gedanke findet sich in den 1792°7° umgearbeiteten Rhapsodien (Teil VI: »Vom Menschen«) wieder: »Man hat Recht, wenn man sagt, daß unsre Sele sich den
meisten Stof zu Ideen nur vermittelst ihres Körpers verschaffe, und daß er das meiste 66 La Mettrie, Zhomme machine, S. 43; 95; Hervorhebung von mir.
6” Zur Datierung vgl. JP II.4, 131£.
20
Erstes Kapitel
zur Entwiklung ihrer Fähigkeiten beitrage; allein man hat Unrecht, wenn man läugnet, daß uns der Körper nur bis zu einem gewissen Grade der Grösse erhebe, und dan ieden Weg zu neuen Fortgängen mit unüberwindlichen Hindernissen verschliesse« (JP II.1, 283). Das Verständnis der Stelle aus den Zeufelspapieren wird nun voll-
ends erschwert, wenn man bedenkt, daß es ja gerade Richters Anliegen ist, zu zeigen »daß
man
mit den
Händen
denken«
(JP II.1,
509)
bzw.
ein Buch
»ohne
Kopf«
schreiben kann (JP 1.1, 510) — obwohl er genau das von sich weist.
Die Aporie läßt sich auflösen. Richter vertritt zugleich einen absoluten und einen begrenzten Reduktionismus. Bei letzterem verläuft die Grenze jedoch nicht zwischen Körper und Seele, sondern zwischen guten und schlechten Autoren. Richters satirisches Objekt sind die »iezigen schriftstellerischen Produkte« (JP II.1, 506) -
und für diese minderwertigen Texte und ihre Entstehungsprozesse gilt ein vollständiger materialistischer Reduktionismus. Für gute Texte gilt die vollständige Reduktion natürlich nicht. In ihnen kann durchaus Geist auftauchen. Die Auflösung der Aporie macht deutlich, daß die vollständige materialistische Reduktion
nach französischem Vorbild ein variables Handwerkszeug
ist,°® dessen
sich der Satiriker im Kampf mit seinen Gegnern bedient. Es ist jedoch ein Handwerkszeug mit begrenztem Anwendungsbereich. Es gilt nur für die Gegenstände, die der Satiriker lächerlich machen möchte. Eine grundsätzliche ontologische Aussage ist damit nicht angestrebt. Die theoretische Position eines Satirikers ist also nicht, wie es Fichte später einmal für den Philosophen formulieren wird, untrennbar mit dem »Menschl[en]« und seinem »Charakter« verbunden, sondern Mobiliar (»Haus-
rath«) oder genauer: Requisit einer Rolle, die »man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte« (Erste Einleitung, Fichte I, 434).
Welcher Art das Rollenspiel ist, darauf verweist schon der Titel der Satirensammlung: Grönländische Prozesse. Die Schreibweise der Satire wird mit der Rolle gleichgesetzt, die die Grönländer nach dem von Richter zitierten Cranz (JP II.1, 485) in
ihrem satirischen Sing-Streit einnehmen. Fehden werden bei den Grönländern nicht im »Zorn«, aber auch nicht im trockenen Disput ausgetragen, sondern in einem spielerischen Wettbewerb, in dem es darum geht, dem Gegner im Gesang die »Be-
schuldigungen« auf »lächerliche Weise« vorzutragen. Den »Prozeß gewonnen« hat nicht der Teilnehmer
mit dem
besseren Argument,
sondern
der mit der größeren
rhetorischen Geschicklichkeit, d. h. der, der im satirischen Streit das »letzte Wort«
behalten hat. »Die Menge der Zuschauer decidirt, wer gewonnen hat und die Parteyen sind hernach die besten Freunde.«”® 68 La Mettrie war seinerseits ein Satiriker, der als agent provocateur mit performativen Mitteln arbeitete. Vgl. dazu Laska, Vorwort, S. IX. Zur La Mettrie-Lektüre Jean Pauls vgl. z. B. JP II.1, 96,
und an Forschungsliteratur: Gerabek, Naturphilosophie, S. 72; 134. 69 Cranz, Historie von Grönland, S. 231f. Zitiert nach JP II.4, 406.
70 Alle Zitate ebd.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
21
Die zitierten Beispiele — von der Exkrementalpoesie zur Kaffee-Theorie — haben deutlich gemacht, daß das satirische Rollenspiel durch den Rückgriff auf das Groteske gekennzeichnet ist: die Überbetonung des Körpers (und seiner Funktionen und Dysfunktionen),”! mit dem — statt dem Geist — der Kontakt mit der Welt aufrechterhalten werden soll. Dieser Rekurs auf das Körperliche und (innerhalb des cartesianischen Paradigmas) auf das Mechanische nimmt vorweg, was Bergson später über das Komische sagen wird: »Der Körper, der sich auf Kosten der Seele breit
macht«’? — allerdings wird der Körper bei Richter nicht als »Versteifung«,”? sondern als überaus beweglich und lebendig verstanden.’ Das Groteske hat bei Richter auch nichts Bedrohliches (wie es die Theorie Kaysers vorsieht),’? sondern ist eine »Rückkehr des Goldenen Zeitalters«’° im Lachen. Das unterscheidet Richters Satiren’’ -
oder besser: seinen Humor — von solchen Satiren, die einen Kampf gegen eine bedrohliche Wirklichkeit’? führen.
Die Bejahung des grotesken Körpers hat ihre Tradition in der mittelalterlichen Lachkultur des Karnevals.’?” Zwei Elemente, so kann man Bachtin entnehmen, sind
für die volkstümliche Lachkultur prägend: zum einen der Spaßmacher, der sich in einer Szenerie befindet, in der noch nicht deutlich zwischen Zuschauern und Handelnden unterschieden wird;®° zum anderen die Zurschaustellung körperlicher Miß-
bildungen.®! Diese Tradition unterliegt — nach Bachtin - in der frühen Neuzeit einem Verfallsprozeß, der im 18. Jahrhundert seinen Tiefpunkt findet.®* Die Volkskultur ist nun beinahe vollständig zurückgedrängt — und findet ihr Reservat nur noch in der Metapher, d. h. im grotesken oder satirischen Text.°>
7 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 15ff. 72 Vgl. Bergson, Das Lachen, S. 4. 73 74 und 75
Ebd., S. 39; 43. Zur Abgrenzung des Grotesk-Komischen seine Welt, S. 121. Vgl. Kayser, Das Groteske, $. 31ff.
von
der Theorie
Bergsons
vgl. Bachtin,
Rabelais
76 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 27. Zur Kritik an Kayser vgl. auch (mit Hinweis auf Richter) Preisendanz, Poetischer Realismus, S. 6f. 77 Zur Abgrenzung von Satire und Groteske vgl. Tschizewskij, Satire oder Groteske, S. 274. Arntzen, Satire, S. 16, definiert den Humor durch seine Affırmation des Gesagten — im Gegensatz zur Satire, in der ex negativo argumentiert wird. Zu letzterem vgl. auch Wölfel, Epische und satirische Schreibweise, S. 296ff.; Preisendanz, Negativität, S. 414, und Gehrs, Komische Philosophie, S. 24. 78 Zur Satire als Kampf gegen eine bedrohliche Wirklichkeit vgl. Gaier, Satire, S. 340ff.; 351ff.
79 Auch Köpke, Erfolglosigkeit, S. 311ff., bezeichnet den Humor der Satiren als grotesk. Allerdings greift er auf die Kaysersche Bedeutung des Grotesken zurück (das grauenvolle andere) und verkennt 80 Vgl. 8! Vgl. 82 Vgl. 8 Vgl.
damit das karnevalistische Moment bei Richter. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 54ff. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 52. für den Prozeß in Deutschland, Dedner, Vergnügen, S. 9-16. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 84ff.
22
Erstes Kapitel
Jean Paul reiht sich in diese karnevalistische Traditionslinie ein, wenn er in der
Vorschule die »Narrenfeste« zu Prototypen des Humors erklärt, weil in ihnen »ohne alle unreine Absicht Weltliches und Geistliches, Stände und Sitten« (JP 1.5, 132)
umgekehrt würden. In den Prozessen selbst wird die prototheatralische Volkskultur immer
wieder
herbeizitiert,
z.B.
wenn
der
karnevalistische
Arzt,
der
»Pillen
austheilet«, mit dem Argument in Anspruch genommen wird,3* sein »Körper« spiele den »Harlekin[]« und »buntschekkigen Diener« (JP 1.1, 467). Und auch mit seiner
dritten geplanten Satiren-Sammlung (der Baierischen Kreuzerkomödie) greift Richter — schon im Titel — auf die Lachkultur des Volks und ihre theatralen Formen zurück.®° Richter verlegt damit die in seiner Zeit noch immer diskutierte Heimat der
Satire im Satyr-Spiel,®° ebenfalls ein prototheatralischer Akt, direkt in die Lachkultur der frühen Neuzeit.?7
Richter setzt seine Kombination aus Philosophie und Schreibweise in der Satire synkretistisch aus vielen Traditionsbausteinen zusammen. Neben den französischen Materialisten
und
der mittelalterlichen
bzw.
frühneuzeitlichen
Lachkultur®®
fin-
det sich noch ein drittes Vorbild: Diogenes von Sinope, ein Philosoph aus der sokratischen Enkelgeneration (Diogenes’ Lehrer Antisthenes war der Gegenspieler Platons in der sokratischen Schule), der die spiritualistische Philosophie Platons (als die falsche Sokrates-Interpretation) auf performative Art widerlegt haben soll. Die Philosophie, die auf ihn zurückgeht, heißt im 18. Jahrhundert Zynismus
(die
heute gebräuchliche Trennung zwischen Kynismus und Zynismus ist erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts),®?” weil Diogenes den Beinamen xbwv trug. Jean Paul
nimmt den Zynismus auch für sich in Anspruch und versteht darunter — das kann man aus der Vorschule (JP 1.5, 427ff.) und Dr. Katzenbergers Badereise (JP 1.6, 82f.)
erfahren — die Thematisierung von an sich tabuisierten Körperteilen und Körper-
84 Zum heiteren Arzt und karnevalistischen Arzneiverkäufer vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 220ff., und ihm folgend, Butzer, Pac-man, S. 239. 85 Zum karnevalistischen Charakter der Kreuzerkomödie und Richters Wissen darüber vgl. Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel, S. 232. Auch V.U. Müller, Narrenfreiheit, weist auf die karnevaleske Herkunft des Humors Richters hin, bezieht die Konsequenzen dieses Hinweises je-
doch nicht in seine Überlegungen ein. 86 Vgl. hierzu Fußnote 54. 87 Montigls These (Der Körper, S. 18), daß Jean Pauls Humor die Sinnlichkeit in die Metapher
überführe und dort vernichte, ignoriert die frühen Satiren und das literale Vokabular der satirischen Humoristen in den Romanen.
88 Zu weiteren satirischen Vorbildern vgl. Johann Paul Friedrich Richter, Brief an Pfarrer Vogel, 8.3.1782, HKA IIl.1, 38: »Ich änderte nun die Art meines Studirens; ich las wizzige Schriftsteller, den Seneka, den Ovid, den Pope, den Young, den Swift, den Voltaire, den Rousseau, den Boileau und was weiß ich nicht alles?«
8° Zur Unterscheidung der Begriffe vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, S. 11ff.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
23
funktionen:?® das Eklige und das Sexuelle. Diese an sich tabuisierte Darstellungmuß dabei einer moralischen Absicht (»Sittlichkeit« statt der französischen Ausmalung der »Laster zu glänzenden
Sünden«;
JP
1.6,
82)
dienen
und
mit
der komischen
Schreibweise der Satire verbunden sein (»satirisches Schlammbad«; »Komisch-Ekle«;
JP 1.6, 83; »Zynismus des Witzes und des Humors«; JP 1.5, 428).?! Das eine hängt mit dem anderen zusammen:
Die komische, satirische Schreibweise promoviert die
eklige Gestalt oder die Darstellung des Geschlechtsaktes bzw. der Selbstbefriedigung zum »Mittel« (JP 1.5, 428) eines moralischen Zwecks. Unter dem Namen des »Diogenes« (JP 1.6, 82) verbindet Jean
Paul also zy-
nische Philosophie und satirischen Humor: »Der Humor ist, wie die Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates« (JP 1.5, 140). Und auch der junge Richter ist ein Zyniker in diesem Sinne. Er kennt die Diogenes-Anekdoten über den ro-zynischen Montaigne?” und den eher kritischen Bayle, dessen Historisches prO-zy 8 y und critisches Wörterbuch er oft benutzt.” Immer wieder zitiert Richter in seinem Frühwerk Diogenes (den er für einen Vorgänger Rousseaus hält) und nimmt auch
für sich
die
»stolze
Philosophie
im
zynischen
Mantel«
(JP
II.1,
468)
in
Anspruch. Richter konnte von seinen zwei Gewährsmännern
erfahren, daß Diogenes
die
spiritualistische Philosophie Platons, insbesondere die Lehre von den Ideen und der unsterblichen Seele, verwarf?” — aber nicht argumentativ,
sondern performa-
tiv?
Essen,
und
auf dem
genes
durchaus
mit
Humor?”
(durch
Marktplatz
etc.).
Damit
sollte zum
einem
anderen
moralischen
Gesetz
Geldfälschungen, Ausdruck
als dem
der
kommen,
Onanieren
daß
sich
(Schrift-)Kultur
Dio-
unter-
warf: dem (man verzeihe mir den Neologismus) animal mensura-Satz.”® Nicht der Mensch, sondern das Tier bzw. das Tierische waren für Diogenes das Maß aller Dinge. Sein Ziel war es dementsprechend, angeblich geistige Handlungen
% Vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, S. 340ff.
91 Vgl. hierzu ausführlich Vf., Mißgeburten. 92 Montaigne, Essais, Buch I, Nr. 50. Vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, S. 224. 23
Vgl. JP II.1, 96, und den Kommentar
in JP II.4, 109.
94 Diogenes war für seinen groben Mantel bekannt. Weitere Bezüge: JP II.1, 206; JP II.1, 296;
JP IL.1, 192; JP 11.2, 153; JP 11.2, 3898.
°5 Vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, S. 174ff.
96 Der performative Aspekt wird auch in heutigen Interpretationen betont: Diogenes’ Anliegen war es, als sokrates mainomenos die Sokrates-Rezeption Platons zu parodieren und über diesen theatralischen Akt in seine materiellen Einzelteile zu zerlegen. Vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, $S. 96-147.
97” Vgl. Bayle, Wörterbuch, Bd. II, S. 311,, der Diogenes als »Possenreißer der Comödie« bezeichnet, und Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, $. 206ff.
8 Bayle billigt Diogenes einen moralischen Impetus zu, lehnt aber seine Sexualmoral ab. Vgl. Bayle, Wörterbuch, Bd. II, S. 314,. Zur Moral des animal mensura-Satzes vgl. Bayle, Wörterbuch, Bd. II, S. 314,. Zur neueren
Forschung vgl. Niehues-Pröbsting,
Der Kynismus,
$. 96.
24
Erstes Kapitel
auf den Genuß?” am Essen, an der Sexualität und den eigenen Fäkalien!® zu reduzieren.
Wie gesehen, verfolgt Richter in den Prozessen genau das gleiche Ziel, wenn er den Magen, die Lenden und die Exkremente an die Stelle der Autorenseele setzt. Er muß nur Diogenes’ Problemstellung in seine Zeit übersetzen: Die Platoniker von heute sind die Empfindsamen und Spiritualisten wie Bonnet oder Lavater. In der Kritik an ihnen kann sich Richter der von Diogenes gelernten Technik, der Verbindung aus körperbetonter Ideologiekritik und humoristischem Ausdruck, bedienen (wobei Diogenes animalische Handlungen Richters literarischen Handlungen mit animalischem Vokabular entsprechen). Jean Paul scheint sich nicht daran zu stören, daß die hier skizzierten Wissensord-
nungen, die Philosophie des Diogenes, die Lachkultur der frühen Neuzeit und der französische Materialismus, eigentlich sehr unterschiedliche Körper-Konzepte trans-
portieren. Ihn interessiert lediglich der Gedanke des Primats des Körpers — und auf dieser abstrakten Basis versucht er, die historisch und inhaltlich heterogenen Theori-
en zur Deckung zu bringen. Die Funktion dieses Synkretismus liegt in der Thematisierung der eigenen Methode in der Form einer Genealogie: Wie der Narr auf dem Karneval, der grönländische Spötter oder Diogenes eine Rolle innehat, so verfügt der Verfasser der Grönländischen Prozesse über eine Schreibweise!®! — die des Satirikers. Deren Implikationen (die Reduktion des Geistigen auf die Materie oder den Körper) sind mit seiner eigenen Einstellung nicht unbedingt identisch, mit ihnen kann er jedoch seine Interes-
sen performativ,!” auf komische Weise und in markierter Übertreibung am besten verteidigen.
Das
Spiel ist begrenzt wie der Karneval.
Die
»komische[]
Larve«
soll
»ohnehin niemals lange das menschliche Gesicht selbst sein« (II.2, 467).
9% Niehues-Pröbsting verwirft die lang gepflegte geisteswissenschaftliche Tradition, die Selbst-
genügsamkeit (Autarkie) des Kynismus mit Askese (im christlichen Sinne) gleichzusetzen. Der Kyniker verweigert sich nur der Gesellschaft und ihren Vergnügungen, nicht aber dem Genuß des Lebens; vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, S. 191ff. 100 Vgl. Bayle, Wörterbuch, Bd. 11, S. 313, , ,. Hier werden mehrere Anekdoten zum
Essen, zu
den Fäkalien, zur öffentlichen Liebe und zur Selbstbefriedigung zitiert. Zur Forschung vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, S. 148; 195. 101 Vgl. hierzu Lachmann, Gedächtnis, S. 254ff., die den Begriff der karnevalistischen Schreibweise auch über Bachtins Literaturtheorie entwickelt. Sie versucht, den Begriff über die »Interaktion zweier Zeichensysteme«, das des voraufklärerischen Karnevals und das des literarischen Textes,
herzuleiten. Zum
Übergang von der Gattung Satire zur Schreibweise im
18. Jahrhundert vgl.
Schönert, Roman und Satire, S. 8ff. Zur systematischen Diskussion der satirischen Schreibweise vgl. Lazarowicz, Verkehrte Welt, S. 312; Gaier, Satire, $. 422ff.; Arntzen, Satire, $. 4ff., und Gehrs, Komische Philosophie, $. 9. 1022 Vgl. Preisendanz, Humor, $. 269ff.; Stierle, Philosophie, S. 431, und Gehrs, Komische Phi-
losophie, S. 6ff.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
25
Teuflische Methoden Richters zweite Satirensammlung, die Auswahl aus des Teufels Papieren, weist durch die lange Umarbeitungszeit Inkohärenzen auf.!° Es läßt sich jedoch, wie bei den Grönländischen Prozessen auch, bereits aus dem Titel eine methodische Figur her-
auslesen, die alle Textstufen mit einschließt: der Teufel und seine Schreibtätigkeit. Richters Konzept des Teufels ist auf seine literale Bedeutung hin detailliert er-
forscht worden.!%* Wichtiger jedoch als dessen metaphysische Beweggründe scheinen mir seine — bis jetzt unbeachteten — performativen Tecniken zu sein. Pferdefuß und Schwanz sind für den Richterschen "Teufel Insignien einer karnevalistischen Rolle. Er hat diese »poetische[] Einkleidung [...] einem Hanswurst [...] auf dem
lezten Jahrmarckt« (JP 11.2, 188f.) abgenommen und gibt nun selbst den Humoristen.
Diese Entwicklung wird in den Prozessen — nur spiegelverkehrt — schon angedeutet: Die »Satyren« verwandeln sich zu »Teufeln« (JP IL.1, 555), um eine neue karne-
valistische Technik gegen ihren alten Gegner, das »Empfindungswesen« (JP ILL, 556), auszuprobieren: »So wie der Teufel in dem Körper des Studenten, den er getödet hatte, auf Befehl des Magikkers Agrippa einige Zeit die Stelle der Sele vertrat, und mit den fremden Füssen einen Tag spazieren gieng, eben so schenkt unsre Ironie der Empfindsamkeit, die sie hingerichtet, verlängertes Leben, und redet die tode
Sprache der weinerlichen Makulatur« (JP Il.1, 557). Sich ein »Behältnis[]«!% dieser Art zu suchen, gehört zu den Routine-Übungen des Teufels von alters her. Doch hier stellt er seine Kenntnisse zusätzlich in den Dienst des Karnevals. Dessen Logik läßt sich so rekonstruieren: In der für diesen kulturellen Kontext typischen »mimische[n] Nachäffung« (JP 1.5, 115) wird eine fremde Person so nachgeahmt, daß sie lächerlich wird. Das heißt: Der Humorist
übernimmt die körperlichen Gesten eines anderen und legt ihnen statt der (bzw. zu den) ursprünglichen (ernsthaften) eine neue (komische) Intention unter. Genauso,
nur besser, arbeitet der Teufel. Er ahmt nicht nur einzelne Gesten der
Figur nach, sondern spielt sie mit Haut und Haaren und erhöht damit den Illusionseffekt. Durch die teuflische Inbesitznahme der Seele ist die Person ihrer eigentli-
chen Intentionen vollkommen beraubt und muß denen des Teufels gehorchen. Wie der Satiriker möchte auch der Teufel die in Besitz genommene Figur lächerlich machen — am liebsten dadurch, daß er sie über die unsterbliche Seele schwärmen läßt,
deren Position er längst eingenommen hat. 105 Darauf weist Köpke, Erfolglosigkeit, S. 140ff., hin. Zu den verschiedenen Phasen der Überarbeitung vgl. Berend in HKA 1.1, XI-XLIV. 104 Vgl. Schmidt-Biggemann, Maschine und
mentär, Köpke, Erfolglosigkeit, S. 134ff. 105 Paracelsus, Astronomia magna, S. 276.
Teufel,
S. 162ff.;
217ff.,
und,
wenn
auch
rudi-
26
Erstes Kapitel
Das rekonstruierte Verfahren gilt nicht nur für Personen, sondern auch für Theorien und literarische Texte. Der teuflischen Inkorporation oder »mimische[n] Nach-
äffung« (JP 1.5, 115) entspricht die literarische Parodie (Richter spricht hier allerdings noch von
»Ironie«; später, rhetorisch angemessener,
die Seele, d.h. die Intention und Bedeutung,
von
empfindsamer
»Parodie«):!% Auch oder spiritualistischer
Text-Körper läßt sich teuflisch gut in Besitz nehmen, ohne daß dies sofort bemerkt würde. Durch dieses Verfahren wird das satirische Moment aus zwei Gründen verstärkt: Der Effekt der simulatio wird vergrößert
(die falsche, d. h. teuflische, Seele
kann man nur schwer erahnen), und die Parodie arbeitet performativ: Sie entzieht der Empfindsamkeit das, wovon sie schwärmt: ihre Seele. Die in den Prozessen nur angedeutete teuflische Parodie wird — der Titel läßt es erahnen - in der Auswahl aus des Teufels Papieren zum grundlegenden Mittel der satirischen Schreibweise. Im »Nötigen Aviso« — einer verschlüsselten immanenten Poetologie des Textes — merkt Mendel
B. Abraham
an, daß sein Schuldner Hasus, der
angebliche Autor der Satiren, eigentlich sehr »weichherzig«
(JP II.2,
112)
und für
die Satire völlig ungeeignet war: »Nimmermehr hat wie gesagt, Hasus diese Stachelschriften aufgesetzt: aber der Teufel ist zu Nachts in den guten Körper meines Schuldners wie in eine Schreibmaschine gefahren [Fußnote: »Unsere Rabbinen lch-
ren uns nemlich, daß aus iedem schlafenden Menschen die Seele austrete, um im Himmel ein Haupthandelsbuch über ihre Handlungen zu führen und zu schreiben: während dieser nächtlichen Entseelung lässet sich der Teufel in den Körper nieder. Daher müssen wir schnell nach dem Erwachen den befleckten Körper waschen.«] und ist während die Seele im Himmel die besten Sachen und ihre eigne Lebensbeschreibung abfaste, mit dem Körper oft bis der Nachtwächter abdankte aufgesessen [...] und hat im Namen und mit der Hand des Verstorbnen Sachen hingeschrieben,
die nun natürlich aus der Presse kommen und in denen er spashafterweise alle Menschen und einige Teufel und sich selbst angreift und rauft« (JP II.2, 113f.). Diesmal ist es der jüdische Glaube, der dem Teufel den Eintritt in den fremden (Iext-)Körper verschafft. Das parodistische Element, den empfindsam scheinenden
Körper als »Schreibmaschine« zu benutzen, und die satirische Technik, über den Entzug der Seele die Rede über ihre Unsterblichkeit performativ lächerlich zu machen, sind jedoch geblieben. Denn es ist — wie man aus den Prozessen weiß — natürlich der Körper, der schreibt: Auch
»Adam,
Isaak, Jakob, Abraham«
hatten »Leiber
an, die große Schriftsteller waren« (ebd.; Hervorhebung von mir).!” In den Teufelspapieren ist zu der alten Technik der Prozesse eine neue hinzugetreten: Statt die eigene materialistische Theorie aus komischen Gründen zu übertrei-
106 In der »Parodie«, heißt es in der Vorschule, setzen wir »uns poetisch als Toren« (JP 1.5, 136; vgl. auch JP 1.5, 114 u. ö.). 107 Vgl. auch JP 11.2, 653.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
27
ben, aber dennoch zu vertreten, wird in der Parodie die spiritualistische Theorie der Gegner
übertrieben — aber nun so, daß sie desavouiert wird.
Die Satire setzt nicht
mehr auf die explizite reductio ad materiam, sondern — mit dem Mittel der Parodie — auf eine implizite deductio ad absurdum.!® Die Absurdität besteht dabei darin (und hier schließt sich der Kreis), daß die spiritualistischen Texte — in Darstellung und Dargestelltem — auf ihre materiellen Bedingungen zurückgeführt werden. Zur Technik der Parodie gehört es weiterhin, die groteske Entstellung der gegnerischen Theorie in der Wiedergabe (d.h. die teuflische Inkarnation) in kalkulierter Koketterie als minimalen Eingriff darzustellen: »Den[] geistigen Einflus des Körpers
beweiset ausser der ganzen Welt auch der Teufel. Denn es wäre nichts schweres, den Katheder zu besteigen und da gegen die ältesten Opponenten die Thesis durchzusetzen, daß der Teufel zu dem meisten Bösen blos durch den menschlichen Körper, den er bei seinen unentbehrlichen Erscheinungen statt einer Karaktermaske um sich schlagen muß und den er besonders wilden Jägern abborgt, zu seinem grösten Schaden angehezet werde« (JP II.2, 454). Der eigentliche Teufel ist nämlich der Körper selbst. Er zwingt seinen Insassen, den traditionellen Teufel, zu den angeblich teufli-
schen Handlungen: die Simulation einer Seele aus Gründen ihrer Zerstörung und Offenlegung der alleinigen Herrschaft des Körpers über den Menschen. Übersetzt man das in die Literatur zurück, so gewinnt der bisher skizzierte realisti-
sche Anspruch der Satire weiter Kontur: Der Satiriker erfindet nicht, sondern findet nur. »Die alte Behauptung: difficile est, satiram non scribere« (JP 1.1, 534). Der Gegenstand der Satire ist avant la lettre satirisch; die einzige Aufgabe des Satirikers besteht darin, genau das herauszupräparieren. Schleicht sich der Text-Teufel mittels der Parodie in eine andere Gestalt, z. B. in eine andere Schreibweise oder eine ande-
re philosophische Position, so nimmt er nur, was er findet: die körperlichen Mechanismen ihrer Argumentation.
Von der performativ vorgetragenen Theorie zur Praxis: Georg ist das vierte von fünf Ungeheuern, die der Verfasser seinem Publikum unbedingt vorführen will — und eine »Misgeburt« (JP II.2, 158)! dazu. Die ganze Welt reist, ihn zu sehen. Und dieses Ungeheuer hält, quasi um seinen Marktwert anzuheizen, eine Rede, in der der Körper eines Schriftstellers als sehenswert angepriesen wird. Um seinen Ar-
gumenten die richtige Unterfütterung zu geben, zitiert er Georg (!) Ernst Stahls Theorie,!!® daß »die Seele ihren Körper im Mutterleibe selbst« zimmere (JP 11.2, 160). Richter spielt damit auf einen Gedanken aus Stahls Disputation an: »Die Seele
108 Zum »Stilmittel der absurden Konsequenz« in der Satire des 18. Jahrhunderts vgl. Schönert, Roman und Satire, S. 16.
109 Vgl. hierzu ausführlich: Vf., Mißgeburten. 110 Zu Jean Pauls Rezeption der Werke Stahls (vermittelt über Platner) vgl. Proß, Geschichtliche Stellung, S. 253ff.
28
Erstes Kapitel
baut sich den Körper, ernährt ihn und handelt in allem in und mit ihm auf ein bestimmtes Ziel hin, wenn sie zuweilen auch von diesem Ziel abirrt« (EGK 37).
Und weil also die Seele sich ihren Körper selbst zimmert, so läßt Richter Georg fortfahren,
»wollen eben Personen,
die die Seele eines großen
Mannes
noch
nach
ganz andern und zuverlässigern Probstücken als seine Schriften sind, welche sie erst in ihrem spätern und kraftlosern Alter, oft 20 Jahre nach der Geburt verfertigte, zu schätzen und zu richten begehren, daher wollen solche gern zum Meisterstücke der Seele selber reisen und blos ihren Körper betrachten«
(JP 11.2, 160f.). Auch die
Schriften sind also Teil der Verkörperung, die die Seele (angeblich) selbst durchführt. Gegenüber ihrem Meisterstück, dem physiologischen Körper, müssen die literarischen Produkte jedoch zurückstehen. Schaut man sich Georgs Körper an (der wie gesagt eine Mißgeburt ist), sieht man sofort, daß diese Theorie offensichtlicher
Unsinn ist. Genauer gesagt: Hasus (unterstützt durch den Teufel) läßt hier das vierte Ungeheuer seiner Sammlung Stahls Theorie nachäffend so zuspitzen, daß sie dem gemeinen Menschenverstand absurd vorkommen muß. In einem Augenblick wird dem
Leser (wie früher dem Jahrmarktszuschauer)
deutlich,
daß
eine Theorie,
die
»den Körper« nicht »in seine alten Rechte eingesezt« hat (JP Il.1, 526), nicht haltbar ist, da sie ohne den körperlichen Menschen, der sie ausspricht, nicht möglich ist. Ein zweites Beispiel: Der Verfasser hat sich eine Ehefrau aus einer Kirchenfigur und
einem
Haubenmacher-Kopf
zusammengenietet,
hat sie angemalt,
mit
Haut
überzogen und in die neueste Mode gesteckt. Nun ist er auf sie ob der unermüdlichen Arbeit verständlicherweise sehr stolz. Damit die Ehe nicht annulliert werden muß (bzw. vollzogen werden kann), soll die Puppe auch eine Seele haben — und das will bewiesen sein. Für dieses Unterfangen werden die gängigen Theorien für den Beweis der Existenz der Seele aufgerufen und desavouiert: »Ich schliesse daraus nur so viel, daß da die Beseelung lebendiger Damen zwar recht starke Gründe für sich hat, allein doch nicht wie der leblosen ihre gegen alle wichtigen Zweifel gerettet werden kann« (JP 11.2, 409). Die »starken Gründe« für den Beweis der Existenz der Seele von Holzpuppenlie-
fert z. B. die Physiognomik Lavaters, die von körperlichen Merkmalen aufseelische schließt. Der Haubenkopf verspricht, da er gut geraten ist, »Witz, einwenig Nachdenken und andere Seelengaben« (JP II.2, 395), da das »Gesichte[...] der Anschlagzettel der innern Geschicklichkeit ist« (JP II.2, 409). Ebensoverhält es sich mit der
»Physiognomik der Hände«, die der Verfasser aus den Physiognomischen Fragmenten deduziert und ihrem Autor Lavater, da dessen Theorie so viele Feinde und deswegen »so viele Schattenköpfe als die Hydra undso viele Schattenhände als Briareus vonnöthen hat« (JP 11.2, 413), als neues Beweisglied schenkt.
Ähnliche »Beweisstücke« liefern Bonnets Betrachtungen über die Natur,\! in denen It
Vgl. Bonnet, Betrachtungen, S. 366ff.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
29
sogar den Blumen eine Seele gegeben wird,!!? was den Analogieschluß auf die Damen, die schließlich auch »schmückende Blumen« sind, nahelegt (JP 1.2, 406). Evi-
denter noch scheint die Weiterführung eines Gedankens aus Edelmanns Göttlichkeit der Vernunft zu sein:!!? »Wahrhaftig der menschliche Körper ist, wie schon Edelmann bewies, nichts als ein wahrer Ausflus und Sohn und ein Gespinst der darin übernachtenden Seele: bei meiner leblosen Frau ist nun aber dieser Körper, dieser Ausflus wirklich da und es sieht ihn ieder: folglich kann doch warlich die Seele nicht fehlen oder weit weg sein, der dieser so sichtbare Ausflus entgieng und die Schnecke mus blos im Gehäuse, das sie ausschwizte, sich etwann nur verstecket halten« (JP 11.2, 407). Auch in diesem Beispiel wird (wie in der Rede Georgs) der gesunde Men-
schenverstand (Holzfiguren haben keine Seele‘) und ein grotesker Gegenstand zu Hilfe genommen, um die zitierten T'heorien ihrer Absurdität zu überführen.!!* Der Teufel und sein Kompagnon, der Satiriker, wissen natürlich, daß man ihr Verfahren irgendwann entdecken (und langweilig finden) wird. Daher haben sie sich etwas besonderes ausgedacht: eine unendliche »Entlarvung« (JP 11.2, 191) in Form
einer dosierten Autoaggression (vgl. hierzu auch das Aviso; JP II.2, 114). Wenn der Teufel nämlich eines Tages seine Teufelshaut aufknöpft, ist er von einem (vielleicht sogar empfindsamen) Menschen wie Hasus nicht mehr zu unterscheiden. Aber natürlich ist der Teufel, der nun »wie ein ordentlicher leibhafter Mensch« aussieht (JP II.2, 191), um so teuflischer, da man ihn nicht erkennt. Wenn im Teufel ein Mensch, in dem aber (wie bekannt) wiederum der Teufel steckt, so ist die bis ins
Unendliche gehende Entlarvung des Teuflischen und des Empfindsamen nicht mehr aufzuhalten. Dieses Modell der empfindsam-humoristischen Alternanz überträgt Jean Paul auf seine Romane, insbesondere den Titan (s. auch das Kapitel »Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns«).
Impliziter Materialismus und die Immaterialität der Seele Der Satiriker, der sich der teuflischen Parodie bedient, möchte nachweisen, daß die
angeblichen Spiritualisten materialistisch argumentieren müssen, wollen sie nicht absurd werden. Um
dieses Beweisziel zu verfolgen, muß
man
kein Materialist sein.
112 Zur Richterschen Lektüre der Betrachtungen vgl. seine Exzerpte, S. 70: »Die Pflanzen haben
auch — - Seelen«. 113 Es handelt sich um eine freie Interpretation einer Passage aus Edelmann, Sämtliche Schriften, Bd. VIII, S. 565. 114 Dangel-Pelloquins Versuch, aus der Satire den Prototext eines Frauen-erschaffenden Mannes, der aus der weiblichen »Unbelebtheit [...] Vorteile« zieht (Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. 17f.), herauszulesen, macht meiner Meinung nach die humoristische Ebene des Textes nicht stark genug.
30
Erstes Kapitel
Ein wahrhafter Spiritualist oder ein empfindsamer Autor könnten sich der gleichen Mittel bedienen, um die schwarzen Schafe der Zunft kenntlich zu machen. Die Parodie der Empfindsamkeit kann durchaus deren Ziele verfolgen. Dieser Schwebezustand zwischen Konfrontation und Zusammenarbeit von satirischem Humor und Empfindsamkeit zeigt sich in der oben analysierten Passage über den französischen Materialismus oder in den ernsthaften (spiritualistisch argumentierenden) Anhängen der an sich materialistisch-parodistischen Teufelspapiere — und bleibt in allen späteren 'Iexten Jean Pauls erhalten. Diese vorläufige und hypothetische Zusammenarbeit ermöglicht es Richter am Ende der 80er Jahre, für seine spiritualistische Position eine Schreibweise zu finden, die empfindsame, ohne die satiri-
sche (und deren Implikationen) aufgeben zu müssen. In einem Brief an Pfarrer Vogel vom Dezember 1787 schreibt Richter: »Indessen Scherz und Astronomie bei Seite, ich wil ernsthaft sein, wenn die 3 Loth Kaffee, die ich getrunken habe, nichts darwider haben. »So sehr lebt der Geist unter der Subordinazion der Materie und findet an seinem und fremden Körper[n] seine unbekanten Obern und die Windlade des Unterleibs ist sein verstekter Soufleur.< Sehen Sie,
solche gute Gleichnisse und elende Schlüsse hätt’ ich sonst gemacht; iezt mach’ ich den: so wenig die Seele entehrt wird, wenn sie keine äussere Bilder ohne den Bei-
stand des Sehnervens überkommen kan: eben so wenig wird sies, wenn sie zu ienen das Gehirn bedarf. [...] was thuts? Materie ist Materie und Samenfeuchtigkeit nicht
unedler als Nervensaft. Die Samenfeuchtigkeit ist doch nicht die Empfindung, der bewegte Nervensaft nicht der Gedanke, hat schlechterdings gar nichts ähnliches und ist blosses Werkzeug: Die Niedrigkeit des Werkzeugs benimt dem Adel des Geschäfts nichts«.11> Die Auseinandersetzung beginnt mit einer Reflexion auf den Sprechakt: Richter thematisiert die Abhängigkeit seiner eigenen Argumentation von der körperlichen Verfassung bzw. den körperlichen Einflüssen. »Die Beziehung auf sich« ist immer »komisch«, heißt es in den Ästhetischen Untersuchungen $ 2, HKA 11.7, 237; vgl. auch Vorschule der Ästhetik, JP 1.5, 179). Dementsprechend steht alles folgende unter humoristischem Vorbehalt. Danach referiert Richter seine Position, wie er sie in den
Grönländischen Prozessen vertreten hat (»Der Geist ist nur das Sprachrohr des Magen-Darm-Trakts«) und formuliert deren kritische Revision. Die ehemalige Haltung wird auf ihre philosophischen Implikationen (Materialismus) und ihre Schreibweise (die satirische) hin bewertet: Die Schreibweise wird gelobt (»gute Gleichnisse«), die
philosophische Implikation für falsch (»elende Schlüsse«) befunden. Das hätte Richter allerdings auch — außerhalb der Rolle des Satirikers — schon zu Beginn der 80er Jahre sagen können.
115 Johann Paul Friedrich Richter, Brief an Pfarrer Vogel, 16.12.1787, HKA III.1, 233f.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
31
Neu ist, daß die Rolle des Satirikers — wenn man einmal von dem humoristischen
Vorbehalt des ganzen Briefs absieht — noch aus einem anderen Grund als defizitär und überholt (»hätt’ ich sonst gemacht«;
Hervorhebung von mir) gekennzeichnet
wird. Auch für dieses neue Argument setzt Richter bei La Mettrie an. Dessen Theorie besagt ja nicht nur, daß man von einigen Abhängigkeiten der Seele auf alle, son-
dern von dieser absoluten Abhängigkeit auf leib-seelische /dentität schließen kann: »Alle Fähigkeiten der Seele« hängen »so sehr von dem eigentümlichen Bau [Organisation] des Gehirns und des ganzen Körpers ab[], daß sie offensichtlich nur dieser
organische Bau selbst sind«.!!° Auch diesen zweiten Schritt geht Richter nicht mit. Er hält es für einen logischen Fehler, von der Abhängigkeit der Seele von
Gehirn,
Sehnerven,
Samenfeuchtigkeit
und Nervensaft auf eine /dentität der Seele mit diesen Körperorganen zu schließen. Nicht mal der partiale Schluß ist erlaubt: Körper und Geist haben »schlechterdings gar nichts ähnliches«. Das Argument der Nicht-Identität von Körper und Seele wird im Fortdauer-Aufsatz von 1791 (JP 11.2, 783) und — teilweise im gleichen Wortlaut - ın der Unsichtbare Loge (JP 1.1, 221ff.) von 1793, ım Hesperus (JP 1.1, 1100ff.)
von 1795 sowie im Kampaner Tal (JP 1.4, 601f.) von 1797 weitergeführt. Es scheint für Richter bzw. Jean Paul eine große Wichtigkeit zu haben. Richter führt im Fortdauer-Aufsatz weiter aus: »Leute von Welt, d.h. die besten Beobachter und elendesten Philosophen, verkörpern sogleich ihre Seele mit ihren
Schlüssen, weil sie in der Laune, Empfindung, Tugend p. sie sooft als das Repetierwerk des Körpers befinden — das ist soviel als wenn ein Tanzmeister, der fände, daß er in bleiernen Schuhen plump, in hölzernen besser, und in seidnen am flinkesten tanzte, fragen wolte, ob ihn nicht offenbar seine Schuhe,
die besondre ihm
unbe-
kante Springfedern haben müsten, emporschnelten und ob der wohl ohne alle Schuhe
es zu einem
Pas bringen würde,
da er schon
mit bleiernen
es kaum
ver-
möchte« (JP II.2, 788).
Die Abhängigkeit der Seele vom Körper wird von Richter zugegeben, allerdings ist der Schluß, daß die Seele damit zum »Repetierwerk« des Körpers würde, falsch. Man verwechselt »Werkzeug[]«!!7” oder Hilfsmittel (Tanzschuh) mit demjenigen, der sich der Werkzeuge
bedient (Tanzmeister).
Die Erfolge der modernen
die Richter über Platner zur Kenntnis genommen
Physiologie,
hat, können nur, wie es in der
Ausschmückung der Argumentation im Hesperus heißt, die »Alarmonie des Gehirns und des Geistes« bzw. das »Akkompagnement beider« darlegen. Dieses ist dem Menschen »begreiflich« (JP I.1, 1103). Einer der »Irrtümer«, vor dem »der Himmel« Viktors (und Richters) »Freunde« jedoch bewahre (JP I.1, 1102), ist der, aus der
116 La Mettrie, Z’homme machine, S. 95; Hervorhebung von mir. 117 Johann Paul Friedrich Richter, Brief an Pfarrer Vogel, 16.12.1787, HKA
Ill.1, 233f.
32
Erstes Kapitel
Gleichzeitigkeit auf eine »/dentität« (JP 1.1, 1103) zu schließen und sich damit auf die Prämissen des Materialismus einzulassen.
Diesen Vorwurf macht Richter dem Physiologen und Philosophen Charles Bonnet:!18 „Gegen den elenden Materialismus oder auch Bonnetismus« (JP Il.2, 782) versucht Richter eine Lösung zu finden, bei der nicht der Fehler begangen wird, »die Gehirnfibern zu Sizstangen und Obiektenträgern der Ideen und den Nervensaft zu einer Gedanken-Goldsoluzion« zu erheben (JP 11.2, 782). Richter bzw. Jean Paul hat
sich sein ganzes Leben mit Bonnet auseinandergesetzt.!!? Seine Gedanken kreisen dabei um dessen evolutionistische Präformationslehre, die dieser selbst so erläutert:
»Es kann seyn, daß alle Keime von einerley Art ursprünglich in einander eingeschlossen gewesen,
und daß sie sich nur von Geschlecht zu Geschlecht,
nach einer
Progreßion entwickelten«.!2° Sämtliche Lebewesen (und sämtliche Teile eines Lebe-
wesens) sind also schon immer vorhanden, nur mikroskopisch klein in einen Keim von Gott eingeschlossen.!?! Diesen Gedanken führt Bonnet mit seiner Lösung des Leib-Seele-Problems eng.!?? Der »Sitz der Seele« befindet sich nach Bonnet im corpus callosum, das er für
das »unmittelbare Werkzeug der Verrichtungen der Seele« hält. Das Gehirn bzw. der callöse Körper sind aber nur »Futteral«!?? oder »Umschlag« für einen inneren Körper, den Bonnet als »kleine ätherische Maschine« bezeichnet.!?? Die ätherische Maschine ist jedoch nicht nur das Verbindungsglied zwischen Leib und Seele, sondern auch »der Keim dieses geistischen und verklärten Leibes, den die
Offenbarung dem thierischen und groben Leibe entgegen setzet«.!?? Die Auferstehung ist also auch nur ein Teil in der, präformistisch gedachten, Entwicklung des Lebewesens. Die ätherische Maschine ist dabei der Körper, den die Seele im Jenseits bewohnen wird und der — wie immer in der Präformationslehre — schon vorher, und das heißt in diesem Fall: bereits auf Erden, existent sein muß.!?° Auf diesen Gedan-
ken vom himmlischen ätherischen Körper spielt Richter in Über die Fortdauer der
118 Zu Richters Rezeption der Präformationslehre Bonnets vgl. Esselborn, Universum, S. 101ff. Die Rekonstruktion der poetischen Transformation der Gedankenfiguren Bonnets fehlt allerdings. 119 Vgl. z.B. Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi,
JP 1.4, 413.
10.11.1799,
HKA
III.3, 251, und
120 Bonnet, Betrachtungen, S. 157. 12 Zur Einordnung Bonnets in die Tradition der Präformation vgl. Jantzen, Physiologische Theorien, S. 599f. Jantzen sieht Bonnet von der Theorie der Einschachtelung abweichen und eher eine »Strukturtheorie« (S. 601) der Präexistenz vertreten.
122 Zur Debatte um den Sitz der Seele vgl. Hagner, Homo cerebralis, S. 33ff. Allgemein zum commercium-Problem im 18. Jahrhundert: Linden, Untersuchungen, $. 36-61; J. Heinz, Wissen vom Menschen, S. 55-75. 123 Bonnet, Philosophische Untersuchungen, S. 12. 124 Bonnet, Betrachtungen, S. 85. Vgl. hierzu auch ders., Philosophische Untersuchungen, S. 10OfF.
125 Bonnet, Betrachtungen, S. 85. 126 Bonnet, Philosophische Palingenesie, S. 5%..
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
33
Seele an, wenn er sich über die »Platnerischen und Bonnetischen inkorporierten Unterziehkörpergen« (JP 11.2, 779)?7 lustig macht. Ernst
Platner
wird
im
gleichen
Atemzug
genannt,
da
dessen
Arbeit
stark
von Bonnet beeinflußt ist. In der alten Anthropologie macht sich Platner für eine Influxus-Theorie stark, die er mit dem Nervensaft begründet ($$ 148-155). Er argumentiert, daß der Sitz der Seele im Gehirnmark ($$ 159f.) und nicht im ganzen Körper liegt ($ 167), und spricht sich für die Immaterialität der Seele aus, begründet durch das Selbstgefühl ($ 45) und die Einheit der Seele als Substanz ($$ G61ff.). Bei der Materie schwankt er jedoch zwischen einer mechanischen
(die
»Elemente«
sind
»Atomel[]«;
$
81)
und
einer
spiritualistischen
Er-
klärung (die »Elemente« sind »Monaden«; $ 82). Für beide Systeme gibt es von der Sache her keine Präferenz (sie sind »unentschieden und gleichgültig«; $ 82).
Ausschlaggebend ist lediglich ein methodisches Argument: Die »Stetigkeit der Wesen« ist mit der spiritualistischen Theorie der Monaden »Jleichter« zu erklären ($ 85).
In der Neuen Anthropologie, die Richter bei Niederschrift seines Aufsatzes vorgelegen hat,!?® sind einige Veränderungen eingetreten. Der Sitz der Seele ist weiterhin das Gehirn (NA $ 255), weil dort »der Zusammenfluß der Nerven« stattfindet (NA $ 244). Die Verbindung von Leib und Seele wird durch das ätherische »Seelenorgan« garantiert. Dieses ist »nur allein das feine, unsichtbare Prin-
cip, welches die Fibern des Nervenmarks durchdringt. Denn dieses Princip ist es allein,
was
von
der
Seele
zunächst
gefühlt
und
bewegt
wird;
fähig
ist Vorstel-
lungen in ihr zu erwecken, und Thätigkeiten von ihr aufzunehmen und zu äußern [...]. Man nennt es Nervengeist« (NA $ 186). Den Gedanken, daß Leib und Seele über den Äther verbunden werden, versucht Platner nun /.) mit Leib-
niz Monadblogie, 2.) mit Bonnets These vom himmlischen Körper als Sitz der Seele und 3.) mit Stahls Theorie von der Verbreitung der Seele im ganzen Körper in Einklang zu bringen.
ad 1.) Der entscheidende Gedanke für die Harmonisierung mit Leibniz’ Monadologie ist der, daß der Nervengeist, wie alle Materie, aus Monaden bestehen muß (NA $ 203). Platner unterscheidet zwischen dem tierischen und dem geistigen Seelenorgan und teilt beide noch einmal in einen inneren und einen äußeren
Bereich ein. Die monadologische Konsistenz des inneren geistigen Seelenorgans ist besonders gut. Da es sich um »allerfeinste Materie« handelt, ist es van das Geschlecht der Seelen am allernächsten angrenzen[d]« (NA $ 205). Das äußere tie-
rische Seelenorgan ist dagegen in seiner monadologischen Konsistenz so grob, daß es beinahe identisch mit allgemeiner körperlicher Materie ist. Leib und Seele sind 127 Vgl. auch die fast gleichlautende Formulierung im Kampaner Tal: JP 1.4, 60. 128 Vgl. Kosenina, Platners Anthropologie, S. 113.
34
Erstes Kapitel
also über eine feingestufte Kette von Monaden miteinander verbunden. Mit und gegen Leibniz ist damit der Influxus physikus wieder eingeführt.!? ad 2.) Dieser abgestufte Nervengeist wird von Platner in einem zweiten Schritt mit Bonnets »ätherische[r] Maschine« (dem eigentlichen »Sitz der Seele«) identifiziert. Für Platner ist nämlich »jener ätherische Körper«, der die Seele »vom Anfang
der Schöpfung umkleide[t]«, nichts anderes als »der innere Theil des sogenannten geistigen Seelenorgans, [...] welches sich weiter umher durch die Werkzeuge der Sinnen und der Phantasie verbreitet« (NA $ 245). Das bedeutet aber, daß sich die Seele nicht mehr nur im ätherischen Innenumschlag des Gehirns, sondern in dem durch den ganzen Körper fließenden Nervengeist befindet. ad 3.) Durch die Gleichsetzung von Seelen-Sitz und Nervengeist (bzw. dessen feinstem Teil) versucht Platner, den Anımismus-Gedanken Stahls!30 in seine An-
thropologie zu integrieren. Dem Körper als bloßer »Werkstätte« der Seele kann — so Stahl — kein »selbständiges Leben beigelegt« werden, da er immer nur den »Träger einer höheren Wirkungsmacht«,
d. h. der Seele, »abgiebt«. Dementsprechend
ist je-
doch nach Stahl kein Vermittlungsinstrument, kein »Mitteldinge« oder »Medium« zwischen Leib und Seele anzunehmen (alle Zitate: TH 63), sondern eine »unmittel-
bare Verknüpfung« (TH 77), die die Verteilung der Seele über den ganzen Körper garantiert. Stahl lehnt aus diesen Gründen die Debatte um den Sitz der Seele ab. Da Platner nun durch seine Theorie des Seelenorgans den Ort der Seele nicht nur ins
Gehirn, sondern auch gleichzeitig in den ganzen Körper gelegt hat, glaubt er an Stahls Vorgaben anschließen zu können: Die Seele und ihre himmlische Hülle sind im Menschen ubiquitär (NA $ 225).'3! Man muß dazu sagen, daß der innere, ätherische Körper oder (weitergedacht) der
innere Mensch keine Erfindungen Bonnets sind. Es handelt sich um einen wahrscheinlich aus der stoischen nveßua-Theorie herrührenden Gedanken (SVF II, 826; 858; 866; 871),'?? der sich im Mittelalter entfaltete und in der frühen Neuzeit in
der natürlichen Magie des Paracelsus ausgearbeitet wurde. Von da aus wurde er über die Paracelsus-Schule in die frühneuzeitliche Medizin übertragen.!?? Bei Paracelsus heißt es, daß »zum ersten zwei corpora vom limo terrae genommen werden sollen, das eine sichtbar, das andere unsichtbar. Das sichtbare ist von dem Sichtbaren und
das unsichtbare von dem Unsichtbaren genommen. So ist ein corpus materiale und
129 Zu den Folgen bei Richter bzw. Jean Paul vgl. ebd., S. 107ff. 130 Vgl. dazu auch die Dissertation Stahls in: EGK 48ff. 131 Zu Stahls Animismus und Platners Anschluß daran vgl. Jantzen,
$. 423-432.
Zu Platners Stellung in der anthropologischen
Physiologische Theorien,
Debatte des 18. Jahrhunderts vgl.
J. Heinz, Wissen vom Menschen, $. 38-40. 132 Immer noch einschlägig: Sambursky, Physics, und Forschner, Stoische Ethik, S. 54-66.
133 Einen sehr skizzenhaften Überblick über die Geschichte des Atherkörpers bieten Rothschuh, Hoffmann, S. 235-270, und Walker, Astral Body. Genauer ist Pagel, Smiling Spleen, S. I8ff.
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
35
ein corpus spirituale, und beide sind von der Natur gemacht.«!3? Das »/umen naturae«
findet seinen Niederschlag im »szdus« und im »unsichtbaren Leib«, da es selbst unsichtbar ist: »Aber der unsichtbare Leib hat einen sichtbaren, im selbigen liegt jetzt das Werk«.13° Über den unsichtbaren Leib wird der sichtbare zum »instrument|um]«!3° des Menschen als Teilhaber des natürlichen Lichts. Genau diesen Rückgriff auf den spiritualen oder ätherischen Körper kreidet
Richter Bonnet und Platner an. Er schreibt: »Denn ein Wunder ist der neue Körper, den wir der entlaubten Seele sofort umhängen — ein Wunder ist das zweite Seelenorgan, das der herausgebornen Seele, wie das Amnioshäutgen,
ankleben sol, weil alles
was vom Zusammenhang des Körpers und Geistes auf beider lezten Zusammenhang in der Zerrüttung geschlossen wird, auch vom Zusammenhang des Körpers und Seelenorgans oder Bonnetischen Leibgens auf beider lezten Zusammenhang im Untergange mus geschlossen werden, da alle diese Platnerischen und Bonnetischen
inkorporierten
Unterziehkörpergen
alle Schicksale des lebendigen
Hauptkörpers
theilen, und mithin des zodten — ein Wunder ist die ganze Exportazion der Seele in
einen anderen Ort« (JP 1.2, 779).
Der »Bonnetismus« oder Platnerismus ist deswegen ein impliziter »Materialismus«, weil durch die Vermittlung des ätherischen Körpers die Seele letztendlich materiell gedacht wird. Sie muß unter dieser Prämisse »alle Schicksale des lebendi-
gen Hauptkörpers theilen«, und ihre Thätigkeit wird — durch die Vermittlung der intellektuellen Materie — eben doch als identisch mit der körperlichen angesehen.
Der hohe Mensch, sein Spiritualismus,
seine Empfindsamkeit Will man dem Vorwurf des »Bonnetismus« entgehen, so Richter im FortdauerAufsatz, muß die »Immaterialität« (JP 11.2, 783) der Seele bewiesen werden. Diesen Beweis sieht Richter mit Leibniz! Monadologie geführt (JP 11.2, 783-785). Sein ei-
genes Beweisziel ist jedoch nicht nur die »Fortdauer« der Seele und die »Möglichkeit« ihres »Bewustseins« (JP 11.2, 785). Vielmehr möchte er zeigen, daß die unsterbliche Seele tatsächlich von sich Bewußtsein hat. Dafür bedarf es neben des (von Leibniz) geleisteten »metaphysische[n] Beweis[es]« eines »moralischen« (JP II.2, 789). Das Thema des moralischen Bewußtseins findet Richter in Friedrich Heinrich Jacobis David Hume, den er nach dem Erscheinen sogleich exzerpiert.!?7 Die prästabi134 Paracelsus, Astronomia magna, S. 39. 135 Fbd., S. 40f. 136 Ebd., S. 41.
137 Köpke, Erfolglosigkeit, S. 227, macht auf den Einfluß von Jacobis Leibniz-Interpretation aufmerksam, ohne dies jedoch anhand der Texte Richters zu belegen. Weigl, Aufklärung, S. 185ff.,
36
Erstes Kapitel
lierte Harmonie, so Jacobis Leibniz-Interpretation,!?® läßt sich nur denken, wenn man von einer Unzertrennlichkeit von Leib und Seele (Fume 247) ausgeht. Auf den
Erkenntnisprozeß angewandt, heißt das: »Jede Wahrnehmung drückt zugleich etwas äußerliches und etwas innerliches, und beydes im Verhältniß zu einander aus« (Aume 263). Das Äußerliche sind die Perzeptionen, das Innerliche die »schlechterdings allgemeinen Begriffe[]« (Yume 260) »von Einheit und Vielheit, von Thun und Lei-
den, von Ausdehnung und Succession« (Hume 261), die Jacobi mit Leibniz’ »angebohrnen Begriffen« (Hume 260) gleichsetzt. Auf angeborene Ideen zu rekurrieren, beinhaltet jedoch
nach Jacobi
nicht,
daß wir die Gegenstände
unserer Wahrneh-
mung mit den Begriffen erst herstellen. Jacobi geht vielmehr davon aus, daß die Gegenstände der Begriffe uns durch das »Handeln« oder die »I'hat« (Hume 200f.) »nie
blos in der Vorstellung, sondern immer auch wirklich gegenwärtig« (Hume 261f.) sind.
In der Wahrnehmung (als Teil einer Handlung) gelangen wir also zu dem Gegenstand der Wahrnehmung und zu uns selbst, die wir uns mit diesen Begriffen als etwas von dem Gegenstand Verschiedenes begreifen: Wir erreichen das »Bewußtseyn« (Hume 263) oder das »Gefühl von uns selbst [...], als indem wir uns von etwas außer uns unterscheiden« (F/ume 262). Das sich in der Handlung mit anderen Dingen bewußt werdende Ich ist — Jacobi bezieht sich auf Leibniz!?? — ein vernünftiges und
freies Wesen (Hume 278). Das erweiterte Selbstgefühl ist dabei — verkürzt gesprochen - eine Folge der »Gotzesahndung« (Hume 285), die sich ebenfalls in der Handlung offenbart. Diese Ausführungen zum moralischen Bewußtsein benötigt Richter als letzten Baustein seiner Theorie. Schon in einer Fußnote weist er sich als Jacobi-Kenner aus,
indem er dessen Argument aus dem Spinoza, daß der Spinozismus (bei Jean Paul: jede Philosophie) »Qualitäten« zu »Quantitäten« herabwürdige (JP 11.2, 783),!% für übersieht diesen Einfluß Biggemann,
Maschine
ganz.
Schmitz-Emans,
Bau
des Luftschlosses,
und Teufel, S. 255ff., leiten dagegen
$. 52; 66,
und
die Leibniz-Interpretation
Schmidt-
Richters
aus
Jacobis Philosophie her. Beide Autoren versuchen jedoch, auch die Satiren durch die LeibnizJacobische Position zu erklären, und müssen, da sie keine zwei Schreibweisen annehmen, die materialistischen Prämissen der Satiren ignorieren. Schiewer (Cognitio symbolica, S. 199ff.) macht zu-
sätzlich auf einen möglichen Lambert-Einfluß bei Richters Leibniz-Interpretation aufmerksam. 138 Zu
Jacobis
(teilweise
fragwürdigem)
Leibniz-Rekurs
vgl.
Baum,
Vernunft,
S. 86ff.;
112;
Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel, S. 265ff.; G. Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 30f., und Hammacher, Vernunft, S. 213-224; 215ff. 139 Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace $ 4.
140 Spinoza? 248; 258. Zur Übernahme des Gedankens und zu dessen Verallgemeinerung bei Richter vgl. die Eintragungen in die Untersuchungen $ 111, HKA 11.7, 108 und $ 152, HKA II.7, 116f. Dies gegen Goebel, Philosophische Dichtung, S. 85ff., der Jean Pauls Auseinandersetzung
mit der Quantitäts-Problematik — immerhin eines der prominentesten Argumente Jacobis! — fälschlicherweise lediglich mit Herder in Verbindung bringt. Hier wie an anderen Orten (Beispiel Sprachphilosophie: S. 72ff.; 86ff.) verwundert der einseitige Herder-Bezug, da Goebel behauptet, eigentlich Jean Pauls Jacobi-Lektüre stark machen zu wollen ($S. 153).
Geburt und Jugendjahre des doppelten Menschen
37
seine Leibniz-Interpretation heranzieht. Nun leitet er — ebenfalls mit Jacobi — das moralische Bewußtsein der von ihm so genannten »hohen Menschen« über eine Gottesahnung her, die durch Handlung in der Welt erfahren wird. Die hohen Menschen hängen nicht einer »thatenlosen Beschaulichkeit« an, sondern sind »thätig aus
Tugend«. Und diese Tugend erfährt der hohe Mensch durch seinen »Blik [...] über den Wolken« der physischen Welt (JP II.2, 789). Richters (zu diesem Zeitpunkt) lediglich kursorisches Studium der Jacobischen
Schriften läßt ihn jedoch im folgenden von der Leibniz-Interpretation Jacobis abweichen. Jacobi hatte den bekannten $ 81 der Monadologie (mit Verweis auf das »par impossibile«; Zlume 248) so interpretiert, daß die dort beschriebene Trennung von Leib und Seele eine metaphysische Fiktion sei, und dementsprechend argumentiert, daß das moralische Bewußtsein des Menschen nicht aus der Trennung von Körper und Seele, sondern aus der Untrennbarkeit entsteht. Gerade in der Wahrnehmung
der Außenwelt erfährt der Mensch sich selbst und erhält Ahndung vom Übernatürlichen. Richter hingegen läßt seine hohen Menschen durch eine imaginierte "Irennung von Seele und Körper zu einem Gefühl von Moralität gelangen. Der hohe Mensch unterscheidet sich gerade vom
»thierischen
Menschen«
dadurch,
daß er nicht die
»ewig wiederkommenden Forderungen der Haut und des Magens« befriedigt, sondern den »Widerspruch unsrer Anlagen«, gemeint ist die Moral, »und unsers Schicksals«, gemeint sind die Anforderungen der physischen Welt (JP II.2, 790), deutlich spürt.
Aus den so erworbenen moralischen Erfahrungen werden ästhetische Texte. Die hohen Menschen (bzw. ihre Prototypen) sind nicht aus Zufall allesamt Schriftsteller: »Aber die Schilderung solcher vom hohen menschlichen Adel bleibt einem geräumigern Ort und sie erspar’ ich, wenn ich einige Originale derselben nenne, den Sokrates — den Plato — (den grossen Kato nicht) — den Antonin — (den Epiktet nicht) —
den Pikus von Mirandula — I.I. Rousseau — am meisten Shakespear und überhaupt viele Engländer pp. Die empfindsamen Romane haben hundertmal von Menschen, die für diese Erde nicht gut genug waren, vorgegeben, sie wären zu gut für sie — gleichwohl ist der Ausdruk wahr« (JP 11.2, 789f.).
Auch Richter wird als Jean Paul von nun an empfindsame Romane schreiben,'*! in denen Menschen vorkommen, »die für diese Erde [...] zu gut« sind. Für ihn ist
allerdings die im Fortdauer-Aufsatz entwickelte empfindsame Schreibweise nur möglich, da mit Jacobis David Hume eine neue moralphilosophische Grundlage vorhanden ist, die die für Richter fragwürdig gewordene der Leibnizschen Schulphiloso141 Richter befindet sich damit in einer Phase der Empfindsamkeit, die in der Forschung als zweite Sterne-Welle bezeichnet wird. Vgl. dazu Sauder, Empfindsamkeit,
arten, S. 111f.
S. 234, und ders., Spiel-
38
Erstes Kapitel
phie und der Bonnet-Stahl-Platnerischen Anthropologie!*? ablöst. Damit ist ein Hauptanliegen
der Empfindsamkeit,
die Fundierung der Ethik über das Gefühl, !*?
erfüllt. Gleichzeitig sind die damit verbundenen methodischen Probleme durch Ja-
cobis Philosophie des Selbstgefühls reflektiert und beseitigt. An diesem Punkt ist Jean Pauls platonische Trias — zumindest in ihren Grundzügen — vollständig: eine epistemische Theorie (Immaterialität der Seele und Bewußtsein davon), ihr moralisches Pendant (die Lebensweise der hohen Menschen)
und
deren ästhetische Entsprechung (die Schreibweise der Empfindsamkeit). Ihr gegenüber steht eine — manchmal teuflisch-feindliche, manchmal harmonierende — antiplatonische Trias, deren epistemische Prämisse die Materialität des Menschen,
des-
sen Moral die Enttarnung des vorgeblich Geistigen und dessen Schreibweise satirisch (bzw. karnevalistisch-humoristisch) ist. Der nie zu fixierende Antagonismus zwischen den beiden Modellen ist der Stoff, aus dem Jean Pauls Romane sind.
1422 Zum Zusammenhang von Empfindsamkeit und Anthropologie vgl. Jäger, Empfindsamkeit, S. 15f.
143 Vgl. dazu Sauder, Empfindsamkeit, S. 84, und ders., Spielarten, $. 106f. Zur Entkräftung der Irrationalitätsthese vgl. auch Hohendahl, Der europäische Roman, S. 9. Deren Argumente übergeht Pikulik, Leistungsethik, der die Empfindsamkeit als »Gefühlskult« versteht, der unabhän-
gig von der praktischen Existenz des Individuums und den politischen Verhältnisse (S. 240), quasi als Kompensation ohne Grund (S. 249£.), entsteht. Auch Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, S. 110ff., übersieht die philosophischen Selbstkorrekturen der Empfindsamkeit, wie sie z. B. in Jacobis Romanen stattfinden. Zur Empfindsamkeitskritik Jacobis in seinen Romanen
Romanprojekte, $S. 82ff.
vgl. Vollhardt,
ZWEITES
KAPITEL
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper (Unsichtbare Loge, Hesperus, Siebenkäs)
Kleine Entwicklungsgeschichte der schönen Seele im 18. Jahrhundert'*
Rousseaus in Europa begeistert aufgenommener Roman Julie oder die neue Heloise (1761)! kann als Initial der empfindsamen Neuerfindung der schönen Seele! gelten. In der sogenannten zweiten Vorrede weist »Rousseau« seinen Gesprächspart-
ner explizit auf das Modell der »schönen Seelen« in Clarens hin (Julie 10). Es handelt sich um eine entsexualisierte m&nage & trois, die entsteht, weil Herr von Wol-
demar den Liebhaber seiner Frau, Saint Preux, einlädt, mit ihnen in Clarens zu le-
ben. Hinter dem riskanten Unternehmen steckt eine ausgeklügelte Moraltheorie. Von Woldemar erläutert: »Ich erfuhr [...], daß nicht Eigennutz [inter£t], wie ich geglaubt hatte, die einzige Iriebfeder menschlichen Handelns ist [...]. Ich sah, daß des
Menschen allgemeine Wesenbeschaffenheit eine an sich unschuldige Eigenliebe [amour-propre] ist, die erst durch die Umstände, welche ihr eine bestimmte Richtung geben, gut oder böse wird« (Julie 513). Ein Gedanke aus dem Naturrecht: Um der Selbstliebe die richtige »Richtung« zu geben, muß sie mit den Interessen der Gemeinschaft harmonisiert werden. D. h.:
Die Leidenschaften der einzelnen werden »in eine gewisse Ordnung gebracht« — also reguliert (Julie 517).'47 In diesem Falle geschieht dies durch das Gebot der Öffentlichkeit oder Transparenz.!*® Von Woldemar:
»Mein Grundsatz ist es, daß zwischen
Freunde keine Geheimnisse treten dürfen« (Julie 534), denn: »Der erste Schritt zum
144 Die neuere Forschung zur Geschichte der schönen Seele wird repräsentiert durch: Konersmann, Die Liebhaber; ders., Die schöne Seele; ders., Seelenschönheit, sowie Norton, Beautiful Soul. Wichtige Hinweise zum Thema der Seelenschönheit finden sich auch in der älteren Forschung: H.E Müller, Zur Geschichte, und W. Müller, Der Begriff. Zur schönen Seele bei Leibniz
vgl. Franke, Das richtige Leben. Daß es sich bei dem Rousseauschen Entwurf um ein Sozialmodell handelt, wird allerdings in allen Ansätzen ignoriert. 145 Zur Rezeption der Julie vgl. Norton, Beautiful Soul, S. 166f. u. 174ff., und Konersmann, Die schöne Seele, $. 156.
146 Das empfindsame Modell der schönen Seele ist mit dem platonischen und plotinischen Begriff der wux naar (vgl. hierzu Konersmann, Die Liebhaber, S. 148ff.) nur bedingt kompatibel. 147 Rousseaus Rekurse auf das Naturrecht, vermittelt durch Jacques Abbadie, werden abgehandelt bei Vollhardt, Romanprojekte, S. I1ff.
148 Jauß, Ästhetische Erfahrung, S. G11ff.; Galle, Geständnis, $. 137ff.; Vollhardt, Romanprojekte, S. I6f.
40
Zweites Kapitel
Laster ist der, aus unschuldigen Handlungen Geheimnisse zu machen« (Julie 443). Die schönen Seelen haben, wenn sie in das Bündnis eintreten, ihre Selbstliebe und
ihre leidenschaftliche erotische Liebe zur »Liebe zu ihrer Pflicht [amour de son de-
voir]« (Julie 514) verwandelt. Nach von Woldemar hat die erfüllte Pflicht die gleichen Vorteile für den Handelnden wie die erfüllte Liebe — und ist außerdem mit den
Interessen der Gemeinschaft vereinbar.!* Die Gemeinschaft und ihre psychologische Struktur spiegelt sich in dem nach dem Vorbild englischer Parks angelegten Garten der von Woldemars wider. »Die Natur hat alles getan; aber unter meiner Anleitung«, sagt Julie, die »Oberaufseherin«
(Julie 492£.), stolz. Gleich einem englischen Park scheint im Bündnis der schönen Seelen die Natur des Menschen (seine Leidenschaften und seine Liebe zu sich) vollkommen erhalten. Natürlich handelt es sich dabei um eine illusionistische Kulturleistung. Doch die vermittelte Illusion ist sanft. Wir haben es immer noch mit Natur (bzw. natürlicher Leidenschaft) zu tun — nur eben »unter [...] Anleitung«.!?°
Die moralisierte und verrechtlichte Form der Affekte (als Verbindung des einzelnen und des übergeordneten Interesses) ist nicht nur die Basis für das Dreierbündnis von Julie, von Woldemar
und St. Preux, sondern gilt auch für die Bewirtschaftung
des großen Hausstandes der von Woldemars und kann, wie St. Preux an Eduard schreibt, auch auf die Organisation eines »Staatswesens« übertragen werden (Julie 482). Der Transfer von der schönen Seele zum guten Staat wird in dem Brief an Eduard
nicht weiter ausgeführt. Wir finden ihn in dem ein Jahr später veröffentlichten, jedoch wesentlich früher entwickelten, Gesellschaftsvertrag, laut dem »jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens |volonte generale]« stellt (CS 1.6, 18). Die Veräußerung der Freiheit durch die einzel-
nen ist jedoch (wie in der familiären Situation des Hauses auch) »einzig zu ihrem Nutzen [utilite]« (CS 1.2, 7).1?'
Dieses — bei Rousseau als staatstauglich angesehene — Modell der Geselligkeit wird in der Empfindsamkeit aufgegriffen,!?? jedoch stärker auf die »petite societe«,!?? die »kleine Gesellschaft«,!%* angewandt. Beispiele für einen Bund schöner Seelen nach 19 Eine ausführliche Interpretation der Julie und der Rückbezüge Jean Pauls auf sie finden sich in: Vf., Von der schönen Seele. 150 Ähnlich argumentiert auch Koschorke, Körperströme, S. 431Ff.
151 Die in der Forschung festgestellte Differenzierung von kleiner und großer Gesellschaft Hinblick auf die Moral und das Recht in der Mitte des 18. Jahrhunderts (vgl. Meyer-Krentler, Bürger, S. 42; Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. I, S. 148) läßt sich bei Rousseau — und, wie später zeigen werde, auch bei Jean Paul — nicht wiederfinden. Zur Modifikation dieser Position
im Der ich vgl.
auch Vollhardt, Freundschaft und Pflicht, S. 295ff. 152 Vgl. Norton, Beautiful Soul, S. 175. 153 Rousseau, Discours sur L’Inegalite, Teil II, S. 182.
154 Der Rousseausche Terminus der »petite societe« wird von Mendelssohn mit »kleine Gesellschaft« wiedergegeben, und zwar zunächst in der Übersetzung des Zweiten Diskurses (Mendelssohn,
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
41
dem Vorbild der Neuen Heloise sind der empfindsame Darmstädter Kreis oder der von Leuchsenring erfolglos propagierte Freidenkerbund.!?? Diese gelebte Interpretation ist an sich nicht mit Rousseau vereinbar, da für ihn die »kleine Gesellschaft«, z. B. die der Familie,
nur eine Schwundstufe
in der Genese
der großen
darstellt
(CS 12). Die klassizistische Auseinandersetzung mit der schönen Seele ist dementsprechend auch durch die kritische Haltung gegenüber dem empfindsamen Hang zur Dissoziation geprägt. Schiller unterscheidet in Über Anmut und Würde die schöne und die erhabene Seele (Schiller V, 474f.). Jene ist Trägerin der Anmut,
diese der Würde.
Die schöne Seele hat ihre unteren Vermögen so geordnet, daß diese den Willen steu-
ern können, als ob es die Vernunft wäre: »Eine schöne Seele nennt man es; wenn
sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf« (Schiller V, 468).
Den Affekten die Leitung des Willens zu übertragen, ist als ein Vertrauensvorschuß seitens der Vernunft zu verstehen. »In der Anmut [...] sieht die Vernunft ihre Forderungen in der Sinnlichkeit erfüllt« (Schiller V, 482); es wurde »der Sinnlichkeit das Steuer nur anvertraut|]« (Schiller V, 475). Wie bei Rousseau (und nicht nur bei
ihm) handelt es sich also um einen Versuch, die unteren Seelenvermögen durch Modifikation moralfähig zu machen. Aus Rousseaus »Liebe zur Pflicht ist eine »Neigung zu der Pflicht« (Schiller V, 464) geworden. Der Unterschied ist allerdings, daß bei Rousseau die Transformation von der Liebe zur Liebe zur Pflicht öffentlichkeitsfähig ist. Letztendlich kann sogar der Staat nach diesen Regeln regiert werden. Schiller hält jedoch an der Dichotomie von oberen und unteren Seelenvermögen fest. Eine Steuerung des Willens durch die unteren Seelenvermögen kann nur quasimoralisch und damit nicht öffentlichkeitsfähig sein. Konsequent bedarf die schöne der erhabenen Seele als Ergänzung. Bei dieser üben die oberen Seelenvermögen nach einer erfolglosen Revolte der unteren eine rigorose Herrschaft aus und stellen somit Moral- und Öffentlichkeitsfähigkeit wieder her. Beide Zustände korrelieren miteinander:
»Vielmehr
ist es nur die Anmut,
von der
die Würde ihre Beglaubigung, und nur die Würde, von der die Anmut ihren Wert empfängt« (Schiller V, 480). In den Bekenntnissen einer schönen Seele im sechsten Buch des Wilhelm Meister be-
nutzt Goethe den Begriff der schönen Seele in Anlehnung an Schiller. Die Stiftsdame verlangt für ihr Handeln »völlige Freiheit« (Goethe VII, 379) gegenüber ihrem
Vater, der sie mit »seinem Verstande« bedrängt. Sie hingegen beruft sich auf das
Gesammelte
Schriften,
Bd. VI.2, S. 129), dann,
wenn
auch
abgewandelt,
im 86. der Briefe, die
neueste Litteratur betreffend (ebd., S. 22£.). Vgl. dazu Behle, Heil dem Bürger, S. 175-201. 155 Vgl. dazu Bräuning-Oktavio, Schreiben eines Freidenkers.
42
Zweites Kapitel
»Gefühl meines Rechts« (Goethe VII, 380) — eine Variante zu Schillers »Neigung zu
der Pflicht«. Goethe betrachtet jedoch stärker als Schiller die sozialen und physiologischen Momente. Die schöne Seele ist dissoziiert,!°° d. h., sie vertauscht die soziale
Welt durch die ihres Geistes: »Statt der großen Welt, die ich verlassen hatte oder vielmehr die mich verließ, bildete sich eine kleinere um
mich her, die weit reicher
und unterhaltender war« (Goethe VII, 383). Goethe denkt Körper und soziale Welt analog. Der Grund der Dissoziation liegt
bei der Stiftsdame in einer anhaltenden körperlichen Schwäche seit ihrer Jugend: »Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz gesundes Kind, weiß mich aber von dieser Zeit so wenig zu erinnern als von dem 'Tage meiner Geburt. Mit dem Anfange des
achten Jahres bekam ich einen Blutsturz, und in dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Gedächtnis« (Goethe VII, 358). Diese körperliche Schwäche läßt die Kranke eine Trennung der Seele vom Körper imaginieren: »Es war, als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des Körpers dächte; sie sah den Körper selbst als ein ihr fremdes Wesen an, wie man etwa ein Kleid ansieht« (Goethe VII, 415).
Mit dieser leib-seelischen Trennung geht eine Trennung von der Gesellschaft einher: Im weiteren Verlauf des sechsten Buches sind es immer wieder körperliche Krankheiten, die die schöne Seele vom gesellschaftlichen Umgang abhalten. Wegen ihrer chronisch schlechten Gesundheit kann die Stiftsdame nicht an »heftigen Tänzen« (Goethe VII, 365) teilnehmen und glaubt, auch Gesprächen fernbleiben zu
müssen: »Im Laufe des geselligen Kreises darf man nicht stocken, ohne unhöflich zu sein« (Goethe VII, 386).
Die körperliche Krankheit führt zu einer erneuten Dissoziation von der Gesellschaft und zur Hinwendung zu einer absoluten Welt des eigenen Ich:!?7 »Nichts fes-
selte mich an die Welt, und ich war überzeugt, daß ich hier das Rechte niemals finden würde, und so war ich in dem heitersten und ruhigsten Zustande und ward, indem ich Verzicht aufs Leben getan hatte, beim Leben erhalten« (Goethe VII, 386). Wie bei Schiller (Schiller V, 469f.) ist bei Goethe die schöne Seele weiblich. Sie nimmt allerdings nicht die Zuordnungen zu den Bestimmungen des Geschlechts-
charakters!?® auf sich. Im Gegenteil, sie provoziert ihr männliches Umfeld durch Bildung und deren öffentliche Zurschaustellung. Narciß »wiederholte [...] oft die bedenkliche Lehre, daß ein Frauenzimmer sein Wissen heimlicher halten müsse als der Calvinist seinen Glauben im katholischen Lande« (Goethe VII, 374). Sie hinge-
gen schaltet sich ungefragt in einen Disput zwischen Narciß und dem »geschätzte[n] 156 Vgl. Koopmann,
Lehrjahre, S. 180. Goethe möchte
nicht nur, wie Norton,
Beautiful Soul,
S. 262, glaubt, den Bedeutungsschwund des aufklärerischen Bildungskonzepts vor Augen führen, sondern eine ganz spezifische Position, nämlich die empfindsame, im moralphilosophischen Diskurs seiner Zeit kritisieren. 157 Vgl. hierzu Greiner, Wahnsinn, $. 59f.
158 Zum Begriff des Geschlechtscharakters vgl. Hausen, Polarisierung.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
Weltmann«
43
(ebd.) über die weibliche Tugend ein und beeindruckt diesen so sehr,
daß er ihre Meinung höher als die ihres Mannes stellt. Als Abschluß des Disputes schickt der Weltmann Narziß einen längeren Brief, »worin ihres freundschaftlichen Streites gedacht war, und mein Freund [Narciß] am Ende glücklich gepriesen wurde, daß er nach so manchen Zweifeln und Irrtümern in den Armen einer reizenden und tugendhaften
Gattin, was Tugend sei, am sichersten erfahren würde«
(Goethe VII,
375). Allerdings enden die emanzipatorischen Bewegungen hinsichtlich des Geschlechtscharakters nicht in einer Befreiung von den,!°? sondern in einer Potenzierung der
weiblichen Zuschreibungen. In ihrer inneren Welt befindet sich die schöne Seele in einer Privatheit, die die weibliche Häuslichkeit noch weit übersteigt. Die Selbstbetrachtung ist ihr letztes und vor den Menschen nicht mehr zu rechtfertigendes Ziel, das schließlich jede Öffentlichkeit ausschließt. Auch Hegels Konzept der schönen Seele ist nicht ohne die soziale Dimension zu verstehen, die dem Modell seit der Empfindsamkeit anhaftet. Seine Kritik an der — epistemisch und praktisch verstandenen — Dissoziation der schönen Seele in der Phänomenologie des Geistes ist zugleich eine Auseinandersetzung mit der Romantik. Hegel wirft dort der schönen Seele vor, daß sie nur ein »seiner selbst gewisse[r] Geist« und damit »wirklichkeitslos[]« sei. Sie kann »nicht zur Gleichheit mit dem
zurückgestoßenen Bewußtsein und also nicht zur angeschauten Einheit ihrer selbst im andern, nicht zum Dasein gelangen«. Aufgrund ihrer vollständigen Selbstbezüglichkeit ist ihr intersubjektives Handeln unmöglich gemacht und damit der Weg zur Wirklichkeit versperrt. Da sie sich dieses Widerspruches schmerzlich bewußt ist, bleibt ihr nur die »Verrücktheit«.!% Hegel beschreibt in der Phänomenologie natürlich nicht nur ein Sozialmodell, sondern auch dessen philosophische Bedingungen. Er zielt damit, wie die Forschung
heraushebt,!°! auf die gesamte nachkantische idealistische Philosophie. Er muß sich jedoch von seinen Kritikern den Vorwurf gefallen lassen, daß er mit der Figur der schönen Seele auch das eigene Spiegelbild bekämpft. Feuerbach unterstellt ihm in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft, daß er — in Nachfolge des Neuplatonismus — ebenfalls dem Konzept der Welt- und Körperlosigkeit verhaftet sei.!° Mit
der anekdotischen Reminiszenz, daß sich Plotin geschämt habe, einen Körper zu besitzen, !°% trifft Feuerbach mit gezielter Lakonik auch die Philosophie des Geistes von
Hegel, die er nicht weit von dem Konzept der schönen Seele verortet. 159 So Becker-Cantarino, Bekenntnisse, S. 78f. 160 Alle Zitate: Hegel, Werke, Bd. III, S. 491.
161 Vgl. Norton, Beautiful Soul, S. 280. 162 Zum Zusammenhang von Feuerbachs Hegel-Kritik und der Theorie der schönen Seele vgl. Konersmann, Die schöne Seele, S. 172f. 163 Feuerbach, Werke, Bd. III, S. 295.
44
Zweites Kapitel
Schöne Seelen, hohe Menschen
Gehen wir noch einmal zu der grotesken weiblichen Holzpuppe, die der Erzähler der Grönländischen Prozesse vorgeblich beseelen will (obwohl er die Theorien um sie
herum eher entseelt). Auch vor der platonischen Liebe der schönen Seelen macht er nicht halt. Er behauptet, daß es von jeher sein Interesse gewesen sei, »Damen von Holz zusammen[zu]setzen«, um der »platonischen Liebe wahre Dienste« zu leisten.
Und weiter: »die platonische Liebe fodert [...] nicht sowol den Körper irgend einem Menschen men
ab, als seine so schöne Seele. Es ist aber ein betrübtes Schicksal für Da-
und für ieden, daß es, wenn
man
sie ungemein
platonisch liebt, nicht lange
währet, und die grösten Denker saßen deswegen bis nach Mitternacht auf, um
die
Ursache davon aufzuiagen; allein ich hörte noch nicht, sie hätten etwas herausgebracht« (JP 11.2, 418).
Der Erzähler schlief wohl bis zum frühen Morgen nicht und hat so die Lösung für
die Kontinuität der platonischen Liebe gefunden. Man darf sich auch als platonischer Liebhaber getrost auf den Körper konzentrieren, denn: »Nennt man freilich
die Seelenliebe mit Plato die Flügel der Seele, und die Körperliebe, dieses bekannte Anhängsel
derselben,
mit
mir
den
Schwanz
der
Seelenflügel,
so
wie
gewissen
Schmetterlingsflügeln ein langer Schwanz ansizt: so würde ich mich allerdings mit unnöthigen
Besorgnissen
martern, wenn
ich dächte, auch lebloser Damen
Seelen-
flügel würden am Ende so fatal geschwänzt[]« (ebd.). Die Liebe zu Holzpuppen ist frei von sexuellem Begehren. Zwar üben die Puppen auf den Betrachter eine hohe Attraktivität aus, aber die äußeren Zeichen verweisen
ja lediglich auf die inneren: »Nichts bringt wol grössere Vorstellungen von der innern Schönheit, in die sich der petrarchische Liebhaber sehr verlieben muß, bei, als
die äussere und mit dieser wächset in Einem fort die Liebe für eine« (ebd.). Damit ist
die Möglichkeit der Seelenliebe zu seelenlosen Puppen bewiesen — und die platonische Physiognomik satirisch ad absurdum geführt. Es ist jedoch aufschlußreich, daß der Satiriker Richter mit dem Begriff der schönen
Seele nicht nur den
empfindsamen
Diskurs,
sondern
auch
den
platonischen
Hintergrund thematisiert. In den zitierten Passagen wird detailliert auf Gedankentfiguren aus dem Symposion und dem Phaidros angespielt. Zuerst der Mythos von der Schau des Seienden (Phaidros 248a-249d). Durch ihre Flügel, genauer: das Gefieder, hat die Seele vor ihrer Verkörperung eine zumindest unvollkommene Anschauung des Seienden erhalten. Die Erfahrung der irdischen Schönheit und der dadurch entfachte Eros regen den Menschen an, sich an die damals geschauten Ideen zu er-
innern (Phaidros 250bc).!°* Die göttliche Gerechtigkeit und die Besonnenheit ist in hiesigen Abbildern kaum zu erkennen, ihr Bild wäre auch zu hell für das mensch164 Vgl. Gräser, Sophistik, S. 167.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
45
liche Auge. Die irdische Schönheit hingegen ist als ein eiöwAov des ehemals Geschauten verfügbar (Phaidros 250cd). Ein Betrug also, oder genauer: eine kalkulierte Verwechslung, die den Menschen zur wahren Erkenntnis des göttlichen Weisen, Schönen und Guten (Phaidros 246e) auffordert. Der Gedanke, daß es der öatuwv Eros ist, der — neben dem Widerspruch (Evavıiworg,
vgl. Politeia 436b)!°° — den Menschen
zur Erkenntnis
der Ideen an-
regt, wird auch im Symposion erörtert. Eros ist, wie der Philosoph Sokrates,! der
Geburtshelfer für die Zeugungslust (Symposion 206de), in der sich die (geistige und körperliche) Unsterblichkeit verwirklicht. Die körperliche Unsterblichkeit wird durch
die Fortpflanzung,
die geistige durch
den
literarischen
Ruhm
der Dichter,
Philosophen und Gesetzgeber erreicht (Symposion 209a).
Die epistemologischen Probleme, die bei dem Gedanken der Kalokagathie (des Zeugens des Guten im Schönen) auftreten, nämlich die Überkreuzung von sinnlicher und intellektueller Erkenntnis, werden bei Platon mitberücksichtigt: Die Erkenntnis des Schönen
basiert auf einer Einheit, die die Wahrnehmung
allein nicht
herstellen kann. Die Wahrnehmung geht auf das einzelne: die Schönheit eines Körpers oder einer Seele. Der Schauende muß jedoch — und hier beginnt der Weg über die Wahrnehmung hinaus — das vielfältige (oder genauer: das allgemeine, das in der Einheit eines Mannigfaltigen bestehende)!” Schöne erkennen (Symposion 210c) — erst bei den Körpern, dann bei den Seelen. So kann er erfahren, was das Schöne ist,
nämlich die Einheit in einer diffusen Vielfalt von Erscheinungsformen.!°® Durch die Herausforderung einer intellektuellen Leistung wird das Schöne zum Gegenstand der vönoıg.!®
Rezeptive und produktive Seite werden dabei zusammengedacht: Die Erkenntnis des Schönen ist eine wechselseitige Erhebung von Objekt und Subjekt!’ (Phaidros
253bc). Die Stiftung der Einheit innerhalb der mannigfaltigen Sinneswahrnehmung, die der Liebhaber evoziert, ist eine Leistung, die die Schönheit im Erkennen-
den selbst hervorruft. Die Erkenntnisleistung des Schönen außerhalb impliziert also die Ausbildung des eigenen Schönen im Innern.
Zurück zu Johann Paul Friedrich Richter bzw. Jean Paul: Als empfindsamer Autor kann er das Wissen, das er sich für die Satire angeeignet hat, nun ernsthaft verwen-
den. Die schönen Seelen werden die poetischen Nachfolger der im Fortdauer-Aufsatz inaugurierten hohen, d. h. moralischen, Menschen. Jean Paul nimmt dabei die aktuelle, d.h.
165 166 167 168 19 170
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
sensualistische,
Bedeutung
auf, die der Begriff der schönen
Schmitt, Das Schöne, $. 285. R. Rehm, Eros, S. 88. Schmitt, Klassische und Platonische Schönheit, S. 417. ebd., S. 420. Schmitt, Das Schöne, $. 291. R. Rehm, Eros, S. 93.
Seele im
46
Zweites Kapitel
18. Jahrhundert hat, und vermischt sie synkretistisch mit historischem, d.h. platonischem,
Inhalt.!7!
(Ganz
ähnlich — nur unter umgekehrten
Vorzeichen
— war er
beim Konzept des grotesken Körpers vorgegangen, wenn er Diogenes mit La Mettrie enggeführt hatte). Die Idee eines sensualistischen Idealismus übernimmt Jean Paul
von Herder,!”? in der Ausführung dieser Idee orientiert er sich allerdings mehr an Jacobi. Im Fortdauer-Aufsatz lautet die Passage über die hohen Menschen — wie bekannt —
so: »Aber die Schilderung solcher vom hohen menschlichen Adel bleibt einem geräumigern Ort [vorbehalten] und sie erspar ich, wenn ich einige Originale derselben nenne, den Sokrates — den Plato — (den grossen Kato nicht) — den Antonin — (den
Epiktet nicht) — den Pikus von Mirandula — I.I. Rousseau — am meisten Shakespear und überhaupt viele Engländer pp.« (JP II.2, 789). Für die Unsichtbare Loge stellt Jean Paul ein wenig um: »Könnte man die Gräber eines Pythagoras (der schönsten Seele unter den alten) — Plato’s — Sokrates’ — Antonins (aber nicht so gut des großen Kato oder Epiktets) — Shakespeares (wenn sein Leben wie sein Schreiben war) — J.J. Rousseau’ etc. in Einem Gottesacker zusammenrücken: so hätte man die wahre Fürstenbank des hohen Adels der Menschheit
(Loge 251)«.17° Herausgefallen sind die vielen Engländer und der Naturmagier Pico della Mirandola, neu hinzugekommen ist Pythagoras. Interessant sind die hinzugefügten Klammern. Shakespeare ist jetzt nur noch unter der Bedingung, daß sein Leben wie sein Schreiben war, Mitglied des moralischen Adels, und Pythagoras wird wegen seiner »schönen Seele« in die Reihe der Originale der hohen Menschen aufgenommen.
Daß die Seele des hohen Menschen auch schön sein kann, ist nicht verwunderlich, wirft man einen Blick auf die Reihe der »Originale«. Bei ihren Werken handelt
es sich um mündliche oder schriftliche Veröffentlichungen, die im Zeichen der platonischen Kalokagathie stehen,!7* d. h. über literarische oder literarisierende (also »schöne«) Darstellungen dem Menschen den Weg zu den moralischen Ideen eröffnen. Die schönen Seelen unterscheiden sich also von den hohen Menschen dadurch,
daß sie nicht nur — wie diese — eine feste spiritualistische Ontologie besitzen und aus
171 Jean Pauls Synkretismus der Empfindsamkeit ist ausführlich in Vf., Von der schönen Seele, dargestellt. 172 Vgl. hierzu Simon, Gedächtnis der Interpretation, S. 28ff.
173 Jean Pauls Werke sind nicht gut ediert. Beide großen Ausgaben, die historisch-kritische und die von Miller, drucken nicht die Erstausgaben der frühen Romane und der Vorschule ab, Varianten werden nur sporadisch angegeben. Lediglich die Zoge und der Siebenkäs liegen in Editionen vor, die die Erstausgaben angemessen berücksichtigen (K. Pauler). Nach ihnen wird auch zitiert. 174 Die Kompatibilität von hohen Menschen und Platonismus stellt auch Kiermeier, Der Weise,
S. 83, fest.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
47
ihr eine stoisch-moralische Praxis ableiten, sondern darüber hinaus diesen Prozeß literarisieren. Die literarische Umsetzung hat jedoch, wie ich zeigen werde, Rückwirkungen auf die transportierte Metaphysik. Jean Paul fällt von der Position, die er mit Jacobi und Leibniz im Fortdauer-Aufsatz einnahm, zurück auf die Stufe von Platner,
Bonnet
und
Stahl
(vor allem
in bezug
auf die Theorie
des himmlischen
Körpers). Er weiß zwar, daß deren Theorien ontologisch nicht haltbar sind, er weiß aber auch, daß sie durch ihren höheren Grad an Metaphorizität wesentlich mehr Material für den Transfer ins Ästhetische besitzen — außerdem bieten sie für die Satire in den Romanen eine bessere Angriffsfläche. Die Entwicklungsgeschichte dieser hier noch im Schatten der hohen Menschen stehenden schönen Seelen (und ihre
Auseinandersetzung mit dem grotesken Körper) soll im folgenden dargestellt werden. Ich führe an der Loge, dem
sich nach eine
einem
Diagnose
Hesperus und dem
medizinischen
rekonstruiert,
Schema
die
aus
Siebenkäs drei Lektüren
richten.
In der ersten
empfindsamer
und
vor, die
Lektüre
wird
humoristischer
Sicht
gleichermaßen gestellt wird: Das Leiden der schönen Seele ist eine Folge der Unangemessenheit ihres körperlichen und sozialen Umfelds. In der zweiten Lektüre versuche ich, die Therapie, die sich die schönen Seelen selbst verordnen, dar-
zustellen: die Selbsterzeugung eines himmlischen Körpers auf Erden. Hier werden die im letzten Kapitel rekonstruierten Jean-Paulschen Interpretationen von Stahl, Platner und
Bonnet
in literarische Handlung
übersetzt.
In der dritten Lek-
türe beschreibe ich die humoristische Korrektur dieser Therapie nach dem Modell des grotesken Körpers: die Rückführung der schönen Seele zum irdischen Körper und sozialen Umfeld. Gleichzeitig legt der Text jedoch noch eine zweite Lesart nahe, in der nach dem Muster der frühen Satiren die empfindsamen Denksysteme der schönen Seele nicht behutsam korrigiert, sondern durch Parodie desavouiert werden. Diagnose: der kranke Körper Schwache Nerven »Jeder Arzt muß
eine Favorit-Krankheit haben, die er öfters sieht als eine andre —
meine ist Nervenschwäche. Reizbare, schwache, überspannte Nerven, hysterische Umstände und deine Hypochondrie — sind viele Taufnamen meiner einzigen Lieblingskrankheit[]« (Loge 406) — dieser Blick des Doktor Fenk ist auch der Blick des
Erzählers »Jean Paul«, dem jener beim Abfassen der Unsichtbaren Loge zur Seite steht. Schwache
Nerven
haben
alle Protagonisten
des Romans,
einschließlich
des Er-
zählers, dessen »Hypochondtrie« (z. B. Loge 329; 390) — ganz im Sinne der zeitgenös-
48
Zweites Kapitel
sischen Debatte!” — mit Nervenschwäche gleichgesetzt wird. In einer Digression führt »Jean Paul« seine Kenntnisse über Nervenphysiologie aus: »Sanktorius wars [Fufßnote: »In Hallers großer Physiologie steht es, daß der Mensch
nach Sanktorius
alle 11 Jahre den alten Körper fahren lasse — nach Bernoulli und Blumenbach, alle 3 Jahre — nach dem Anatomiker Keil jedes Jahr.«], der sich auf einen delphischen Nachtstuhl sezte und da die Wahrheit aussas, daß der Mensch alle 11 Jahre einen neuen Körper umbekomme
- der alte wird [...] stückweise flüchtig, und es bleibet
von der ganzen Mumie nicht so viel sitzen, als ein Apotheker klein geschabt in einen
Theelöffel eingeben will. Bernoulli widersprach gar diesem ganz und rechnet’ uns vor, es hinke, denn nicht in 11, sondern in 3 Jahren dampfe der eine Zwilling-
Bruder weg und schieße der andere an. Kurz Russen und Franzosen wechseln den Körper öfter als das Hemd des Körpers« (Loge 64f.). Satirisch argumentiert »Jean Paul«, daß Ehebruch und Ehescheidung für zulässig erklärt werden müssen. Die Ehe ist unter den geschilderten Bedingungen ein »Streich über alle Streiche«. Denn »die arme Braut steigt freudig mit der Statua curulis von einem Bräutigamskörper unter den Bethimmel und denkt, — was weiß sie von guter Physiologie —, am Körper habe sie etwas Solides, ein eisernes Stück, ein
Immobiliargut, kurz einen Kopf mit Haaren, von denen sie einmals sagen könne: an meinen und an meiner Haube sind sie grau geworden! Das hoft sie; indes schaft unter ihrem Hoffen der Schelm von einem Körper seine sämmtlichen Glieder, wie ein Student sein verschuldetes Studentengut, nach 3 Jahren infinitesimaltheilgenwei-
se bei Nacht und Nebel fort« (Loge 65). Jean Paul wendet hier die satirische Technik aus den Grönländischen Prozessen an:
materialistische Reduktion in komischer Übertreibung. Er argumentiert dabei enthymematisch. Die versteckte und als versteckt markierte Prämisse lautet: Es gibt keine (unsterbliche) Seele (mit der man verheiratet sein könnte), sondern nur einen
extrem flüchtigen Körper. Hinter dieser satirischen Digression steckt eine Denkfigur, die den ganzen Roman auch in den (überwiegenden) empfindsamen Passagen durchzieht: das Absterben und Vertrocknen des Körpers: »Der alte [Körper] wird [...] stückweise flüchtig, und es bleibet von der ganzen Mumie
nicht so viel sitzen,
als ein Apotheker klein geschabt in einen Theelöffel eingeben will« (ebd.). Die Verflüchtigung des Körpers wird mit dem Begriff der »Mumie« beschrieben — und so lautet auch der Nebentitel der Unsichtbaren Loge. Damit sind, wie Jean Paul in der zweiten Auflage erklärend hinzufügt, die »ägyptische[n] Mumien« (JP I.1, 20) gemeint. Allerdings schwingt auch der Begriff der Mumie mit, wie er in der Paracel-
sus-Schule im 17. Jahrhundert verwandt wird. In der Diskussion über magische Eigenschaften toter Körper unterscheidet Tenzel zwischen der körperlichen und der 175 Vgl. Büsch, Geschichte meiner Hypochondrie, »Kennzeichen der Hypochondrie« wertet.
S. 584, der die »Schwäche
der Nerven«
als
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
49
»geistlichen Mumie«.!7° Letztere ist »demnach [...] das allerdünneste, zarteste, geistliche und himmlische Wesen des Körpers oder Leibes, so einem jeden nach seiner Natur und Art angeboren, in und nach dem Tod einigermaßen noch beständig«.!77 Die »geistliche Mumia« ist ein »Zu- und Uebergang« zwischen dem Leib und dem »innerliche[n] Principium«. Durch die Mumie erstreckt sich das Geistige zu »denen äußersten Theilen ihres Leibes«. Damit wird eine Wirkung erzielt, »eben als wann das innerliche Principium [...] allenthalben selbsten zugegen wäre.« Die Seele ist durch sie »in die neue Materie [...] ein[ge]kleidet«.17® Davon wird bei Tenzel die
»leibliche [...] Mumie«!”? als verbleibender Teil des physischen Körpers unterschieden. Jean Paul führt diese zwei Mumienbegriffe mit seiner Leib-Seele-Theorie eng: die Vorstellung von dem Abbröckeln und Zu-Staub-Werden eines toten Körpers!? (körperliche Mumie) und die Vorstellung von dem inneren Körper, der Seele und Leib verbinden soll!®! (himmlische oder geistliche Mumie). Die Seele ist nur für die
himmlische Mumie gemacht, die körperliche Mumie hingegen ist ein bröckelndes und totes Gebilde.
Entsprechend dem neurophysiologischen Paradigma, in dem sich Jean Paul im ausgehenden 18. Jahrhundert bewegt,!®? wird die körperliche Mumie, wie ich im folgenden zeigen werde, mit dem Nervengeflecht (als dem innersten Teil des physischen Körpers) gleichgesetzt. Man geht zu Beginn der 80er Jahre davon aus, daß bei Nervenschwachen die Nerven (wie Mumien) hart und brüchig werden. Eine solche
These findet sich z. B. bei dem Brownianer und Anthropologen Melchior Adam Weickard. Dieser ist einer der ersten, die auf die Entdeckung reagieren, daß Nerven keine »Röhren«
sind, sondern
»Fasern«.!®? Um
die Frage beantworten
zu können,
176 Tenzel, Schriften, S. 26.
177 Ebd., S. 27. 178 Alle Zitate: ebd., S. 25f.
179 Ebd., $. 23. 180 Auch die Paracelsus-Schule kennt die ägyptische Herkunft des Begriffs: Tenzel weiß, daß die »balsamische Beizung der Leichen« mit »Asphalto« aus »Egypten zu uns gebracht« wurde (ebd., S. 16). Die körperliche Mumie wird (genau wie im alten Ägypten) durch »gelinde und allmächliche
Austrocknung, welche die wässerige Feuchtigkeit ausdämpfen machet«, herauspräpariert (ebd., S. 21f.). 181 Der Begriff der himmlischen Mumie ist jedoch nicht mit dem des himmlischen Körpers, wie er sich im 18. Jahrhundert bei Bonnet und schließlich bei Platner und Jean Paul findet, in allen Teilen identisch. Tenzel geht davon aus, daß die geistliche Mumie nach dem Tod »verpflüge« (ebd., S. 20). Sie ist also (noch) nicht der Körper der unsterblichen Seele in der zweiten Welt — aber be-
reits jenes ätherische Bindeglied zwischen Materie und Seele. 182 Zum Übergang von der Humoralpathologie zur Neurophysiologie und zu den ästhetischen Folgen vgl. Koschorke, Körperströme, S. 112ff. 183 Weickard, Der philosophische Arzt, Bd. II, S. 93; ders., Vermischte medicinische Schriften, Bd.
II, S. 153ff. Zum Verhältnis von Gehirnphysiologie und Anthropologie vgl. Hagner, Homo cerebralis, S. 48f. Zu Weickards Stellung innerhalb der anthropologischen Debatte vgl. J. Heinz, Wissen vom Menschen, S. 38-40.
50
Zweites Kapitel
wie
unter dieser Voraussetzung
Informationen
durch
die Nerven
geleitet werden,
verwirft Weickard die Nervengeist- Theorie aus Platners erster Anthropologie (der sich
die Nerven noch als markige Röhrchen dachte) und setzt statt dessen auf »Phlogiston« bzw., angeregt durch galvanische Experimente,'®* auf »elektrische[] Erscheinungen« als Kommunikationsmittel.1% Weickard unterscheidet dabei — die Terminologie von Haller!?° benutzend, aber
(mit Brown) abweichend denotierend — zwei Typen von Nerven: empfindliche und reizbare.!®’ Die ersten sind »weiche, die zweiten
»krause,
mehr
trockne
sehr leicht bewegliche, [...] Nerven«.!8®
biegsame,
Beide Typen
oder zarte«,
haben
eine ver-
schiedene Anlage zur »Nervenschwäche«!®? und, wenn sie mit »Schärfe« konfrontiert werden, zur »Nervenkrankheit«.!?° Aufbauend auf Forschungen von Morgagni,
der
»die Narren aufgeschnitten« hat,!?! konstatiert Weickard, daß »Narrheit«, »Stupidi-
tät« und Trägheit mit einer »Erstarrung oder Erhärtung« der Nerven einhergehen!?? — also auf reizbare Fasern zurückzuführen sind. Demgegenüber stehen phantasievolle und geistig bewegliche Menschen, deren Nerven im gesunden Fall nur empfindlich,
im Krankheitsfall jedoch »beweglicher«, »geschwinder« und »leichter« sind, als sie sein sollten.1?3
Menschen mit empfindlichen Nerven können jedoch im Krankheitsfall die gleichen Symptome wie die Stupiden aufweisen. Befunde, die ein »trockenes, gelbes Hirn, welches man zerreiben könnte [...] und Nerven, die in ihrem Ursprunge trok-
ken und hager waren«, zutage brachten,!?* können durchaus auch auf eine hohe Beweglichkeit der Nerven zurückgeführt werden.
Es kann nämlich
im Krankheits-
falle »geschehen, daß die Fasern des Gehirnes in der angenommenen
Bewegung
gleichsam erstarret stehen bleiben, so wie ein Muskel, der in der Zusammenziehung bleibet,
ohne
zu gehöriger
Zeit wieder
nachzulassen«!?
— wenn
man
so will: ein
neurologischer Hexenschuß.
184 Weickard, Vermischte medicinische Schriften, Bd. 11, S. 179fF. 185 Weickard, Der philosophische Arzt, Bd. Il, S. 93; 96.
186 Vgl. dazu Jantzen, Physiologische Theorien, S. 402ff. Zum Vergleich mit den französischen Theorien über das menschliche Nervensystem vgl. Moravia, Vernunft, S. 40-50. 187 188 189 190 191 192
Weickard, Vermischte medicinische Fbd., S. 175. Weickard, Der philosophische Arzt, Weickard, Vermischte medicinische Weickard, Der philosophische Arzt, Ebd., S. 159.
Schriften, Bd. II, S. 175. Bd. Il, S. 127. Schriften, Bd. Il, S. 172. Bd. U, S. 159.
193 Weickard, Vermischte medicinische Schriften, Bd. II, S. 179. 194 Weickard, Der philosophische Arzt, Bd. U, S. 127. 195 Weickard, Der philosophische Arzt, Bd. 1, S. 76. Vgl. auch Weickard,
Vermischte medicinische
Schriften, Bd. II, S. 187: Empfindliche Nerven haben im Krankheitsfall die Anlage, »auch reizbar zu werden, und die Nervenkrankheit in ihrer Vollkommenheit zu erhalten«.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper Auf diesen zweiten
Krankheitstypus — der Phantasievolle, dessen Nerven
51 eigent-
lich weich und beweglich sind, im Krankheitsfalle jedoch hart und brüchig werden — spielt Jean Paul in seinem Roman immer wieder an und verbindet dieses Bild mit der körperlichen Mumie. Die Nerven des Nervenschwachen bröckeln wie ein ausgetrockneter, entseelter Körper. Diese unangenehme Mumienhaftigkeit der Nerven oder des Körpers bekommen die »schönen Seelen« der Loge, Gustav, Beata (Loge 294; 383; 418; 420; 433) und Amandus
(Loge? 213) schmerzlich zu spüren: Der
Körper ist zu hart, zu trocken, zu eng.
Paradebeispiel ist der »Nervenfabrikant[]« bzw., wie in der zweiten Auflage hinzu-
gefügt wird, der »Nervenschwächling« (Loge und Loge? 232) Amandus. Dessen Seele liegt in der »Seelen-Scheide« ganz und gar »nicht sanft« (Loge 312). Sein »Sitz der Seele«, also der Teil des Körpers, der die Seele direkt umfängt (Nerven und Gehirn),
ist »verteufelt hart, ausgepolstert mit keinen drei Rindshaaren« (Loge 232). Außerdem
ist der Nervenkörper
zu trocken,
was zur Folge hat, daß Amandus’
»Lilien-
Mumie sich auseinander gebröckelt hat« (Loge 312) und nun »wurmstichig[]« (Zoge
310) ist. Darüber hinaus ist der Nervenkörper auch noch zu eng, was Amandus zum »Austritt aus dem Leben« (ebd.) und vorher in die Dissoziation treibt: Der Erzähler
bedauert, daß Amandus »unsterbliches Ich [...] mehr in seinem knappen Nervenals im weiten Weltgebäude« (Loge 312) leben mußte. Auch für die schönen Seelen Gustav und Beata gilt die gleiche Krankheitsdiagnose — mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, daß die der Seele unangemessene körperliche Mumie
nicht mehr das »Nerven-«, sondern — in einer metonymi-
schen Erweiterung!?® — das »Weltgebäude« bzw. der Hofstaat ist.!?7 Die soziale und staatliche Gemeinschaft als Körper zu verstehen, ist ein spielerischer Rückgriff auf Leibniz, der bekanntlich zwei Arten von Substanzen unterschei-
det: seelische und körperliche.!?® Die seelischen sind unteilbar, die körperlichen sind ein »aggregatum des simples« (Monadologie $ 2), eine Ansammlung von Lebewesen.
Bekanntlich sind die Monaden, aus denen der Körper zusammengesetzt ist, nicht mit den Seelenmonaden identisch: »Ich urteile jedoch, daß man die Geister [les Esprits] und die vernünftige Seele [l’ame raisonnable] mit diesen anderen Formen oder Seelen [formes ou ames] nicht unterschiedslos vermischen oder verwechseln dürfe, da sie von höherer Ordnung sind und unvergleichlich viel mehr Vollkommenheit [un ordre superieur] haben als jene in die Materie versenkten Formen, die sich nach
196 Ich spreche deswegen von einer Metonymie — und nicht von einer Metapher —, weil Körper und soziales Umfeld, wiewohl geschieden, im Cartesischen Paradigma und von der res cogitans aus gesehen, beide zur res extensa gehören.
197 Nells Darstellung der poetischen und poetologischen Konsequenzen der Hofkritik in den frühen Romanen ist meiner Ansicht nach zu pauschal (»poetische Welthervorbringung« als Reaktion auf die prosaische Welt des Hofs; Nell, Synthesis, S. 35). 198 Leibniz, Principes de la Nature $ 1.
52
Zweites Kapitel
meiner Meinung überall finden« (Neues System, Leibniz I, 206f.). Die Unterschiede der Monaden liegen in den »degres des perceptions distinctes«, den Graden der distinkten Wahrnehmung (Monadologie $ 60), und in den unverlierbaren »qualites morales« (Neues System, Leibniz I, 210), die den niederen Monaden natürlich nicht
zukommen. Jean Pauls Spiel mit Leibniz besteht nun darin, das Personal seiner Romane als
Monaden zu verstehen und sie dementsprechend in zwei Klassen einzuteilen: diejenigen, die einen hohen Grad an distinkter Wahrnehmung und unverlierbare moralische Qualitäten
besitzen
(die schönen
Seelen und
Protagonisten),
und
diejenigen,
die diese epistemische und moralische Qualität nicht besitzen (vor allem die Hofjunker). Die letztere Gruppe des Monaden-Personals macht — »streng« nach Leibniz — den Körper aus, der ja nichts anderes als ein Aggregat von moralisch niederen Monaden ist, während die schöne Seele — wie der Name schon sagt — die Seele zu diesem Monaden- oder Sozialkörper darstellt. Die Übertragung von Körper- und Seelenmonaden auf Personen(gruppen) hatte Jean Paul schon relativ früh, in den
Übungen im Denken von
1780, vorgenommen:
»Man teilte sonst die ganze Schöpfung in Geist und Materie ein. Leibniz hat erwiesen, daß es gar keine Materie giebt — daß alles Geist ist, nur durch Stufen von einander verschieden.
Vielleicht giebt's Wesen,
die sich gegen
uns verhalten, wie wir
uns zur Materie — die uns so zu sagen für Materie halten. [...] Es kan Arten von Wesen geben, die in unsern Augen, ın den Augen noch höherer Wesen, nicht Geister sind;
die’'s aber demohngeachtet in den Augen Gottes sind« (JP IL.1, 46).
Der Autor besitzt natürlich den Scharfblick Gottes. Der Gedanke, daß moralisch niedriger stehende Menschen die Sozialmaterie für moralisch höher stehende Seelenmonaden bilden, findet sich dementsprechend in der zweiten Auflage der Vorschule wieder — nur vom Metaphysischen ins Poetologische übertragen: »Die Geschichte ist nur der Leib, der Charakter des Helden
die Seele darin, welche jenen
gebraucht, obwohl von ihm leidend und empfangend. Nebencharaktere können oft als bloße historische Zufälle, also nach dem vorigen Gleichnis als Körperteile den seelenvollen Helden umgeben, wie nach Leibniz die schlafenden Monaden
(als Leib)
die wachende, den Geist« (JP 1.5, 268). Den Gedanken, daß die Körpermonaden
schlafen, verdankt Jean Paul übrigens seiner souverän-produktiven Fehllektüre der Neuen Anthropologie Platners. Platner schreibt nämlich lediglich, daß die Materie aus Monaden bestehe, die »wie die Seelen im Schlafe, ohne alles Bewußtseyn« $ 203; Hervorhebung von mir) sind.
(NA
Und auch in der Loge selbst benutzt Jean Paul diese Gedankenfigur, um die sozialen und moralischen Strukturen in seinem Roman zu markieren. In einer Reflexion über die Staatsaffären schreibt der Erzähler — als schriftlicher Wink mit dem Zaun-
pfahl — von dem »Klumpen von Ich, woraus ein Staatskörper wie aus Monaden besteht« (Loge 392). Diese freie Adaption der Monadologie wird mit dem sich aus dem
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
53
Mittelalter forschreibenden Satz der »Zwei Körper des Königs«!? enggeführt: Der öffentliche feudale »Leib« besteht in der Zoge (und im Hesperus) aus Körpermonaden oder »Nebencharaktere[n]« — mit dem Unterschied, daß der König (als Privatmann)
durch die moralisch geadelten Protagonisten abgelöst wird und der feudale Körper krank ist. Die schönen Seelen Gustav und Beata leiden also unter genau der gleichen Krankheit wie Amandus, nur, im Gegensatz zu ihm, nicht unter der Nervenschwä-
che des physischen, sondern des Staats- oder Hofkörpers. Beata fühlt in sich eine »Krankheit«
(Zoge 228), nämlich die Melancholie über ihre Situation am Hof, und
Gustav spürt ein »geistiges Wundfieber« (Loge 225), das ebenfalls auf den HofKörper zurückgeht. Die soziale Heilung ist ähnlich schwierig wie die physische bei Amandus. Das »Mediziniren des Nerven-Schwächlings« gleicht, heißt es in einer Fußnote, dem »Mediziniren eines kakochymischen Staatskörpers« — beide Kuren sind nicht ätiologisch gedacht, gehen also nur gegen die »Symptome und nicht gegen die Krankheitsmaterie« vor. Dem zerrütteten Nervensystem Amandus entsprechen die (gestörten) Nervenbahnen
des Staats, in dem
Beata und Gustav leben: seine defiziente politi-
sche, kulturelle und vor allem moralische Infrastruktur. Harmlose Kuren wie »wegschwitzen, wegklystiren, weglaxiren, wegtrepaniren« (alle Zitate: Zoge 216, Fußnote) bringen natürlich keine Heilung, weil sie das psychologische Moment
nicht berück-
sichtigen. Auch der soziale Körper ist wie sein physiologisches Vorbild eng: Es »drückt«, schreibt Gustav in einem Brief aus der Rekrutenschule, »jedes Zimmer, jedes Haus, jedes Gesicht auf mich herein« (Loge 215). Für jemanden, der bei dem empfindsamen Erzieher »Jean Paul« nach den Prinzipien des Emile und der Politeia erzogen
wurde, muß das höfische Militär wie ein falscher und harter Sozialkörper wirken. Das Spiel mit dem Monaden-Körper ist variantenreich: Die Sexualtechniken des Hofs rufen zwar kein unmittelbares Leiden hervor (ganz im Gegenteil), bergen aber die Gefahr, daß die schöne Seelenmonade Gustav ihre moralischen Qualitäten verliert. Gustav, der den Verführungskünsten der Residentin erlegen ist, ist in Gefahr, Teil des »Automate[n]« (Monadologie $ 64) des Hofs zu werden: »Was hat denn: — fragt er [der Leser] — »die Residentin vor? will sie aus Gustav ein gezähntes Kamrad schnitzen, das sie in irgend eine unbekannte Maschine setzet [...]«« (Loge 280)?
Doch der Erzähler kann seine Leser beruhigen: Wie Seele und Körper im Menschen »schlechterdings gar nichts ähnliches«?° haben, so sind auch Gustav und der Hofkörper bzw. die Residentin von Grund
auf verschieden:
»Ihre [Bouses]
Seele
fühlt nicht nur den Tonus aller empfindlichen Teile des Körpers, sondern auch den 199 Kantorowicz, Zwei Körper, S. 27ff. 200 Jean Paul, Brief an Pfarrer Vogel, 16.12.1787, HKA III.1, 233.
54
Zweites Kapitel
der unempfindlichen,
der Haare und der Kleider — mit Einem
Welt ist nur ein Welttheil, ein Abdruck der äußern.
Worte:
ihre innere
[/] Bei Gustav aber nicht; seine
innere Welt steht weit abgerissen neben der äußern, er kann von keiner in die andre, die äußere ist nur der Irabant und Nebenplanet der innern. Seiner Seele — in den Gehirn-Weltglobus, den der Hut bedeckt, eingesperret [-] verbauen die bunten eignen Gewächse, auf denen sie sich wiegt und vergisset, die Aussicht auf die Gegenstände jenseits ihres Körpers« (Loge 290). Die Residentin von Bouse hat — kurz gesagt — keine Seele. Ihr Körper und dessen metonymische Erweiterung (»Haare«, »Kleider«) täuschen vielmehr nur eine vor (»ihre innere Welt ist nur ein [...] Abdruck der äußern«) — eine Variation der satiri-
schen Feststellung aus den Prozessen, »daß bei der Frau der Körper die Sele spiele« (JP II.1, 565). Dagegen leidet die (tatsächliche) Seele Gustavs unter dem Einge-
sperrtsein im Körper, d. h. literal gedacht: im »Gehirn-«, metonymisch: im »Weltglobus«. Als Kompensation baut sie sich (sozusagen als Fortsetzung des Gedankens der anima stahlii mit anderen Mitteln) einen eigenen, ihr entsprechenden Körper (die »bunten, eignen Gewächse«), der den falschen Sozialkörper vergessen macht. Gemeint sind natürlich ihre Phantasie-Leistungen. Dieses hier angedeutete Konzept wird in den folgenden Romanen, insbesondere im Siebenkäs, immer mehr ins Zen-
trum rücken. Staatsmaschinerie Jean Pauls frühe Romane gleichen sich in der Anlage stark.??! Aus dem SchöneSeelen-Paar Beata und Gustav ist im Alesperus der Verbund der »schönen Seelen« Klotilde (JP 1.1, 596; 1049; 1058; 1116) und Viktor (JP 1.1, 905; 972; 1014; beide
zusammen: JP I.1, 549) geworden. Die Rolle des Amandus ist zweigeteilt: Den Part des Eifersüchtigen übernimmt nun Flamin; der nervenschwache Freund und Stifter
des Bundes schöner Seelen heißt nun (metaphysisch aufgewertet) Emanuel, auch er eine schöne Seele (JP I.1, 684;
1137). Dieser ist jedoch gleichzeitig der Nachfolger
des Erziehers »Jean Paulk«. Im Hesperus wird die medizinisch-physiologische Metonymik als Beschreibung für
den Hof beibehalten und die Maschinen-Tropik verstärkt. Wenn der Körper — nach Descartes und (in gewissen Sinne auch) Leibniz — eine Maschine oder ein Automat
ist, so ist es die um den Körper herumliegende Welt (der Staat, der Hof) auch. Gleichzeitig werden im Hesperus stärker als in der Loge die einzelnen Rädchen in der
Hofmaschinerie — die Junker und Hofdamen - in den Blick genommen. Identisch bleibt jedoch die Argumentation, daß die schönen Seelen von dem literal (Emanuel)
201 Zur Ähnlichkeit der Fabeln der Staatsromane vgl. G. Müller, Der verborgene Prinz.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
55
oder metonymisch verstandenen Körper (Viktor und Klotilde) gedrückt und gequält werden. Emanuel schreibt an Viktor: »O die ablaufenden Gewichte meiner Maschine fal-
len langsam und sanft auf das Grab hinauf« (JP 1.1, 788). Emanuels Tod, das Auseinanderfallen der »Maschine« seines Körpers, ist nicht zuletzt eine Folge seiner »schlaffen Nerven« (JP I.1, 1148).?2”% Auch Klotilde wird von Viktor für eine Ner-
venkranke erklärt. Allerdings — und hier ist wiederum der Übergang von der literalen zur metonymischen Bedeutung des Körpers markiert — ist die Nervenschwäche eigentlich nur ein tropischer Ausdruck für die Unerträglichkeit des Hofs. »Viktor zauderte mit seinem Gange zur Fürstin nicht, um bei ihr die schweigende für eine vollständige Nervenpatientin zu erklären. Er lachte selber innerlich Ausdruck — und über die Ärzte — und über ihre Nervenkuren [...]. - Hier gab er sie [...] für eine Nervenleidende aus: [...] um für sie die Aufhebung
Klotilde über den indessen der Hof-
Leibeigenschaft, wenigstens
zu erlan-
die Befreiung vom
genauen
Hofdamen-Amt
gen« (JP 1.1, 858). Klotilde ist keine »Nervenpatientin«, wie auch an anderer Stelle (JP I.1, 838f.)
ausdrücklich gesagt wird. Viktor möchte sie nur als solche klassifizieren, um es ihr zu ermöglichen,
ihr Amt als Hofdame
niederzulegen. Er lügt deswegen nicht, son-
dern spricht nur metonymisch: Es ist nicht der Leib, sondern die »Hof-Leibeigenschaft«, nicht die Qual der Zugehörigkeit zu einem nervenschwachen Körper, sondern zu einem moralschwachen
Hof, vor dem der Arzt Viktor Klotilde erretten
will.
Auch Viktor selbst hält seinen Körper - literal und metonymisch — für inadäquat und sehnt sich nach Befreiung von ihm: »Oft besah er abends vor dem Bettegehen seinen bebenden Körper so lange, daß er ihn von sich abtrennte und ihn als eine
fremde Gestalt so allein neben seinem Ich stehen und gestikulieren sah: dann legte er sich zitternd mit dieser fremden Gestalt in die Gruft des Schlafes hinein, und die
verdunkelte Seele fühlte sich wie eine Hamadryade von der biegsamen Fleisch-Rinde überwachsen«
(JP I.1, 712). Dieses Gefühl der Körperlosigkeit überträgt Viktor auf
den sozialen und moralischen Bereich. Er hält, so expliziert Jean Paul seinen eigenen Roman in der zweiten Auflage, »den Mangel an poetischem Gefühle sogar für ein
Zeichen [...], daß der moralische Mensch noch nicht alle Raupenhäute weggelegt — er, der das ganze Leben und den ganzen Staatskörper für die Hülse ansah, worin der Kern des zweiten Lebens reift — — o! wer so denkt, ist zu einsam unter denen, die anders denken! [/] — So lag die Welt um ihn« (JP 1.1, 762).
202 Diese, meiner Meinung nach für die Logik des Romans entscheidende, materialistische Reduktion wird in der Forschung gerne übersehen. Berhorst, Anamorphosen, z. B. nimmt nur die empfindsame Ebene, Emanuels »Wunsch« nach »Unsterblichkeit« (S. 292), wahr und baut allein darauf seine Überlegungen auf.
56
Zweites Kapitel
An dieser Stelle wird der Rekurs auf die Präformationstheorie Bonnets deutlich: Im Keim ist bereits der ganze Mensch bis über seinen Tod hinaus angelegt. Es bedarf nur einiger Entwicklungen (Reifungen des Keims), die als Metamorphosen beschrieben werden (»Raupenhäute«/»Hülse«), um die Absicht der Schöpfung freizulegen: den »moralische[n] Mensch[en]« (irdisch) und das »zweite[] Leben[]« (überirdisch). Und diese Handlung ist eine des »poetische[n] Gefühl[s]«. Bonnets Präfor-
mationstheorie wird hier also mit einem stärkeren moralischen Akzent und mit einer sozialen Metonymik versehen: Auch
der »Staatskörper« ist Teil der Metamorphose,
auch er muß erst abgeschüttelt werden, um das, was im Keim angelegt ist, freizuset-
zen. Die Raupenhäute und der Tierkörper — das ist der »flachsenfingische Hofstaat«. Von Viktor wird an einer anderen Stelle gesagt: »Er hielt sich nahe an den Schwanz des ganzen Corps, der noch auf der Straße aufstreifte, indes der halbe Rumpf schon im Schlosse steckte. Der nachfahrende Schwanz war etwas kurz und dünn« (JP L.1,
629). Die symbolische Erscheinung des Hofs als Körper spiegelt sich in der Analyse seiner maschinellen Funktionen wider. Der Fürst hat die »Unart, Menschen zu Werkzeugen zu machen« (JP I.1, 983), und dieses mechanistische Politikverständnis
hat sich auch nach unten hin durchgesetzt. Flamins Erfahrungen mit dem politischen System werden im Hesperus so beschrieben: »Es war ihm etwas Neues, daß ganze Kollegien und Kommissionen das tun mußten, was einer hätte machen können — daß die Glieder des Staats (wie es doch die Glieder des Körpers auch sind) am kurzen Arme des Hebels bewegt werden,
um mit größerer Kraft weniger zu tun, und daß besonders ein Kollegium dem Leibe gleiche, der nach Borellus 2900mal mehr Kraft bei einem Sprunge anwendet, als die
Last erfodert, die er zu heben hat« (JP I.1, 826).
Hier wird die Mechanik des Staatskörpers genauer unter die Lupe genommen. In diesem Falle geht es um das Prinzip der Delegation (in »Kollegien und Kommissio-
nen«), das mit einer Hebeltätigkeit verglichen wird. In der 'Iropik liegt mehr als nur eine Kritik an der Mechanik des Kameralismus als solchem verborgen. Der Erzähler
bzw. Flamin will nachweisen, daß der Hof-Apparat deswegen nicht funktioniert, weil er seine eigenen (Natur-)Gesetze nicht kennt. Sogar das Hebelgesetz wird außer acht gelassen. Das Verschleudern der Kräfte durch unsachgemäße Bedienung der Apparate (exemplifiziert durch den Kräfteverschleiß beim Sprung statt beim Hub) läßt sich schließlich darauf zurückführen, daß es am Hofe niemanden gibt, der den Hofapparat sinnvoll bedienen könnte, da jeder Adlige selbst nur Rädchen im Getriebe ist. Dem
Körper-Automaten des Hofs mangelt es, so die spiritualistische Kri-
tik, an einer handelnden Seelenmonade. Er ist nur ein sinnloses Ineinandergreifen von Apparaten. Was
bleibt,
mühung[]«
stiftet die Intrige:
In
einer Anmerkung
heißt
es, die einzige
»Be-
der Teilnehmer am politischen System sei es, »den Staats-Körper zu
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
einem
Anagramma
Avayodpw
auszurenken«
(JP
I.1,
758).
Ein
57
vieldeutiges
heißt eigentlich, etwas öffentlich niederschreiben
Wortspiel:
bzw. in die Staats-
urkunden und Denkmäler einschreiben. Gleichzeitig hat der Begriff Anagramm die Bedeutung einer Umstellung der Buchstaben eines Wortes oder auch eines Begriffs — im politischen Kontext: zum Zwecke der Geheimhaltung. Hinter dem Festhalten am Buchstaben unter Mißachtung seines Geistes (im Anagramm bleiben schließlich alleBuchstaben erhalten, nur in einer anderen Reihenfolge) steckt
ein durchaus zielgerichtetes — nur nicht auf das Gemeinwohl bezogenes — Handeln, nämlich der Ausschluß der Öffentlichkeit (durch die Verschlüsselung),
um
eigene Interessen zu wahren. Durch das Verfahren der Geheimhaltung wird der (zumindest in seiner Anlage) gesunde Hofkörper verrenkt bzw. fehlbuchstabiert - also beschädigt. Eine Kritik, die ungefähr zur gleichen Zeit auch Kant in seiner Schrift Zum
ewigen Frieden üben wird (Genaueres über die Bezüge zwischen
Kant und Jean Paul in der Frage des Staatsrechts im Kapitel »Illusion und Staatskunst«). Die Mechanik des Hofs zeigt sich nicht nur im Gesamtsystem, allen Teilen. Der Hofmann
sondern auch in
ist nicht mehr als ein Automat: Mimik, Gestik, Sprache
und Habitus sind lediglich mechanistische Verhaltensweisen, wie Viktor an seinen
Adoptivvater schreibt: »Aber bei Hofleuten ist die Zunge die Pulsader ihres welken Lebens, die Spiral- und Schwungfeder ihrer Seelen; alle sind geborne Kunstrichter, die auf nichts als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache sehen. Das macht, sie ha-
ben nichts zu tun; ihre gute Werke sind Bonmots, ihre Meßgeschäfte Besuchkarten, ihre Hauswirtschaft eine Spiel- und ihre Feldwirtschaft eine Jagdpartie, und der kleine Dienst eine Physiognomie« (JP 1.1, 740).
Der geistige Inhalt der Worte ist nur ein Anschein, in Wirklichkeit, so die Logik Viktors, werden nicht die Worte durch die Seele hervorgebracht, sondern durch die
Körpermaschine, »die Spiral- und Schwungfeder« der Zunge. Durch diese mechanische Erzeugung (unter Vortäuschung einer geistigen) bekommen die Handlungen jedoch nicht, wie man erwarten könnte, einen doppelten Sinn. Die Vortäuschung des Geistigen ist so offensichtlich, daß es keine Täuschung mehr gibt: »und da jeder dem
andern
Gift zutraut,
[kann]
keiner belügen, sondern jeder nur überlisten«
(JP
1.1, 742). Lord Horion ist in dieser Maschinerie der Maschinenmeister, von dem man berichtet: »er hält [...] wie alle Welt- und Geschäftmänner das Menschen geschlecht
für einen Apparat zu Versuchen, für Jagdzeug, für Kriegsgeräte, für Strickzeug — diese Menschen sehen den Himmel nur für die Klaviatur der Erde und die Seele für die Ordonnanz
[den Befehlsübermittler beim Militär] des Körpers an« (JP 1.1, 669).
Der Lord ist, wenn die referierte Meinung über ihn stimmt,ein reduktionistischer Materialist in physiologischer (»Seele« als »Ordonnanz des Körpers«) und theologischer »Himmel« als »Klaviatur der Erde«) Hinsicht. Seine Handlungen gleichen ei-
58
Zweites Kapitel
ner »Maschinerie«, die er benötigt, »um seinem Gelübde der Verschwiegenheit mehr Festigkeit zu geben« (JP 1.1, 671).2% Weil der Hof nichts anderes kennt, apostrophiert er auch Viktor als »Maschinen-
gott« (JP I.1, 909), d. h. als deus ex machina, oder auch für ein Rädchen im System. Zeusel »hielt Viktor für ein Zifferblatt- oder Stundenrad bei der Sache und sich für
den Perpendikel. Daher sagte Viktor mit einem aus Wehmut und Stolz gemischten Unwillen: ‚Meine Seele erhebt sich zu weit über eure Hof-Kleinigkeiten, über eure Hof-Spitzbübereien,
mich ekelt euer Kram
unaussprechlich
[...]|« (JP L.1, 909).
Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Der Erzähler läßt keinen Zweifel daran, daß durch die Tatsache, daß Viktor (wie vor ihm schon Gustav) Teil des Hofs geworden ist, seine Seele in Gefahr ist, von den Uhr-Gewichten beschwert zu werden.
Dies wird anhand der Essens- und Diätmetaphorik deutlich. Beim Fürsten ist der innere Mensch physisch organisiert (d. h.: es gibt keinen). Von der »Durchlaucht« sagt man, daß sie »beständig aß« (JP 1.1, 731) — und gerade dann nach dem Essen klingelte, wenn ihr »innerer Mensch«, also der moralische, »nichts mehr zu mahlen
hatte« (JP 1.1, 732). Die fehlende Moralität des Fürsten wird also durch physische
Tätigkeit kompensiert. Genau andersherum ist es bei Viktor. Bei ihm - als Leibnizianer — ist das Essen psychisch und - als Arzt — diätetisch eingeteilt: »Er nahm bloß das Leibnizische Monaden-Mahl aus der Tasche, Zwieback und Wein, und speisete damit den an den Geist gehangnen ziehenden Magen ab, um die helle, mit Himmelblau und Himmelrot ausgewölbte See seines Innern durch keine hineingeworfne
Fleischstücke dunkel und schmutzig zu machen. Überhaupt haßte er Fresser als Menschen von zu grobem Eigennutz, so wie alle lebendige Speckkammern, wo Fettlagen den Geist, wie Schneeklumpen eine Hütte, einquetschen. Die Seele, sagt’ er, nimmt von den Inlagen des Körpers, wie der Wein vom Obst, das neben ihm im Keller ist, den Geruch an, und im mephitischen Dampfe, in welchem die Seelen der
Flachsenfinger über den ihre Kartoffeln und Biere siedenden Braukesseln ihrer Ma-
gen zappeln, müssen wohl die armen Vögelchen besoffen und erstickt in dieses Tote Meer herunterfallen« (JP I.1, 620f.).2%%
Eine weitere Variation der »Monadoludie«. Im Magen grenzen Leib und Seele an-
einander. Die Zufuhr und Ablagerung von fetthaltiger Monaden-Materie beein203 Der Erzähler distanziert sich allerdings teilweise von der opinio communis über den Lord, weil dessen mechanische Tricks, willentlich oder nicht, auf ein »zauberische[s]« Ergebnis (JP L1, 657) hinauslaufen. Horion war, wie der Erzähler hinzufügt, »in der Jugend ein Tragödiendichter« — und seine Maschinerie ist, wie in dem Bühnenbild einer Oper, eine »dramatische« (JP I.1, 671).
Vgl. zur Wiederaufnahme dieses Themas im Titan das Kapitel: »Die Wunder der Optik in der AuBenwelt«.
204 Es handelt sich um ein Spiel mit einer von Jacobi in einer Fußnote überlieferten (und von Jean Paul exzerpierten) Anekdote,
in der von
»Leibnitz«
behauptet wird, daß er von einer Tasse
Kaffee gesagt habe, daß in ihr »Monaden seyn, die einst als vernünftige Menschliche Seelen leben würden« (Spinoza? 32). Vgl. hierzu den Kommentar in JP 1.1, 1279.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
59
trächtigt auch den Geist: Er wird eingequetscht, eingeräuchert und nimmt den Cha-
rakter (»Geruch«) der Körpermonaden an. Um die Differenz zwischen Körper und Geist aufrechtzuerhalten, muß der Geist seinem Körper eine Diätetik ä la Zückert?” verordnen. So kann gewährleistet werden, daß der Körper nur Nahrung zugeführt bekommt, die dem Geist in seiner monadologischen Konsistenz am ehesten entspricht. Der Gedanke, daß es eine feingestufte Reihe monadologischer Konsistenzen gibt, geht auf Platner zurück. Der hatte — wie bereits ausgeführt (s. das Kapitel »Impliziter Materialismus und die Immaterialität der Seele«) — in der Neuen Anthropologie mit Bezug auf »Leibnitzen«
(NA
$ 203)
geschrieben,
daß das innere Seelenorgan,
d. h. der Ätherkörper, »an das Geschlecht der Seelen am allernächsten angrenzen« würde (NA $ 205), während das tierische Seelenorgan eine monadologische Konsi-
stenz habe, die denen der Körpermonaden sehr nahe komme - so sei der Übergang von der Seele zum Leib gewährleistet. Auch Jean Paul bzw. Richter glaubt, daß die Körpermonade »von meiner geistigen vielleicht nur im Grad« verschieden ist (JP II.2, 783). Daß Monaden sich in ihrer Einstufung jedoch verändern können, geht über Platner hinaus. Jean Paul hat dabei
die fehlenden »qualit&s morales« der Adligen im Auge. Die schöne Seele Viktor ist — wie schon vorher Gustav - in der Gefahr, sich an der moralischen Liederlichkeit der Hofschranzen
anzustecken,
seine monadologische
Feinstruktur
Grad
für Grad
zu
verlieren und schließlich auch Körpermonade zu werden. Er benötigt, um dem zu entgehen, eine soziale Diät — und die besteht im Rückzug auf die eigene Phantasie.
Ökonomie oder die Liquidierung des Körpers Die metonymische Erweiterung des Körpers auf die soziale Ebene ist nicht allein für die Beschreibung des Hofs reserviert. Auch die bürgerliche Gesellschaft des Siebenkäs — exemplarisch dargestellt am Reichsmarktflecken Kuhschnappel - ist ein kranker und krank machender Körper. Dagegen stehen die »schönen Seele[n]« Natalie (7k 346; 378) und Siebenkäs (7% 292; 7k 326; 412), die im Laufe des Romans zu
»entkörperte[n] schönen Seele[n]« (7% 333) werden.
Der alte abzuwerfende Körper ist — wie in den letzten Romanen auch - der schönen Seele inadäquat: eine Körper-Maschine (1.) bzw. — und das ist neu — ein ökonomisches System (2.).
ad 1.) Wenn auch etwas abgeschwächt, bleibt die Körper- und Maschinentropik im Siebenkäs erhalten. Einige Beispiele: Die Menge beim Schützenfest wird als Blut205 In Zückerts Medicinischem Tischbuch wird die Diätetik auf die Nahrung, also das, was wir heute unter Diät verstehen, reduziert.
60
Zweites Kapitel
kreislauf, der Heimlicher von Blaise als »Aorte des ganzen Adersystems« (7k 239) beschrieben. Auch die Maschinenterminologie taucht wieder auf: Das Schicksal, dem
die schöne Seele Siebenkäs entgehen will, ist eine »Drill-Maschine« (7% 126) bzw. eine »Säe- und Spinnmaschine« (7& 141), ein Skalpell (»Die Wunden, die die Maschinen des Schicksals in uns schneiden«; 7k 287) bzw. der »Maschinist« der politi-
schen Maschinerie (7k 451). Die Kuhschnappler spielen untereinander ganz gerne Schicksal, indem sie den anderen zum Rädchen im Getriebe der eigenen Maschinerie machen wollen. Der Heimlicher möchte den Venner zu einer »Spinnmaschine« gebrauchen und wundert sich, daß er auf einmal — nachdem dieser bemerkt hat, daß
eine Heirat mit Natalie nicht möglich ist — einer »Kriegsmaschine« (7k 405) gegenübersteht. Der Venner versteht sich weiterhin, wie die zweite Auflage hinzufügt, als
ein dem Schicksal adäquater »Maschinenmeister« (7% 381). Auch Lenette (und mir ihr die ganze Ehe) ist ein solcher maschinell zu denkender Körper. Siebenkäs Frau gehört zu den »weiblichen Maschinen« (7% 112) und ist
deswegen je nach Bedarf mal »Sprachmaschine« (7& 129), mal »Waschmaschine und Fegemühle« (7% 194) .20° ad 2.) Neu ist, daß die Ökonomie?” für die Beschreibung des (erweiterten) Kör-
pers in den Vordergrund gestellt wird. Dies beginnt bereits in der Vorrede. Es ist Weihnachten
1794, »Jean Paul« ist bei Jakob Oehrmann,
einem rein ökonomisch
und materialistisch denkenden Kaufmann, eingeladen und versucht, dessen reizender Tochter, die wohl nicht ganz zufällig Johanna Pauline heißt, aus dem
esperus
vorzulesen. Dafür muß aber erst der Alte durch ermüdende Theorie-Zufuhr zum
Schlafen gebracht werden: »Ich näherte mich sogleich nach dem Tischgebete so weit es thunlich war der Unverständlichkeit und legte dem Handelshause der Oehrmannischen Seele, ihrem Körper die Frage vor, ob es nicht mehr
Kartesianer als New-
tonianer unter den Fürsten gebe. »Ich meine gar nicht in Betreff der Thiere — fuhr
ich langsam und langweilig fort — welche Kartesius für unempfindliche Maschinen hielt, worunter also das edelste Thier, der Mensch,
auch mit käme unverschuldet —
sondern meine Meinung und Frage soll die seyn: setzen nicht mehre das Wesen ei-
nes Staats, wie der große Kartesius das der Materie, in Ausdehnung und wenigere dasselbe wie der größere Newton das der Materie, in Solidität?« Er erschreckte mich mit der lebhaften Antwort: »nur der flachsenfingische und der **er Fürst wären solide Männer, welche zahlen[]« (7% 43f.). 206 Ich bin hier nicht der Meinung Dangel-Pelloquins (Eigensinnige Geschöpfe, S. 218), die behauptet, Lenette bewahre sich, obwohl sie sich innerhalb »eines zur Zeit des Romans bereits obsoleten Weiblichkeitsmusters« bewegt, dennoch ihre Selbständigkeit. 207 Das »Bildfeld der Ökonomie«, gerade im Siebenkäs, wird
bei Pross,
Falschnamenmünzer,
ausführlich untersucht. Allerdings geht es Pross mehr darum, die Zirkularität der Zeichen (über die des Geldes; S. 64ff.) und die Intertextualität (über den Tauschhandel; S. 79ff.) herzuleiten. Es fehlt
der Rückbezug auf die ökonomische Theorie der Zeit und das Körperkonzept Jean Pauls. Dies soll im folgenden geleistet werden.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
61
In einer »langweilig[en]« Digression vollzieht »Jean Paul«, wie nun schon mehr-
mals rekonstruiert, die metonymische Erweiterung vom tierischen Körper auf den Staat (die Materie oder der Tierkörper als Beschreibung des Hofstaats), die er aber als irrelevant verwirft (»Ich meine gar nicht in Betreff der Thiere«). Statt dessen va-
riiert er die Metonymie mit anderen Bildern. Er führt zwei naturwissenschaftliche Theorien der Materie an: Descartes‘ Dichotomie von der res cogitans und der res extensa sowie die hier Newton zugeschriebene frühneuzeitliche Unterscheidung von
fluidum und solidum. Deren Begriffe überträgt er, in einer kalkulierten homonymischen?0® Verwechslung, auf die Politik: Aus der Ausdehnung der Materie (res extensa) wird die territoriale Ausdehnung, aus der Solidität der Materie die Solidität der Grenzen. Oehrmanns Unwissenheit und rhetorische Plumpheit führen dann zu einer zwei-
ten — für den Siebenkäs entscheidenden — homonymischen Kaufmann
kennt Oehrmann
nur die ökonomische
Verwechslung:
Als
Solidität (Zahlungsfähigkeit).
Und über dieses Mißverständnis wird eine zweite Trope für die Beschreibung des sozialen Umfelds der schönen Seele eingeflochten: Wir haben es nicht nur mit einem
Körper oder einer Maschine, sondern mit einem ökonomischen System zu tun.?® Die Etablierung dieser neuen TIrope wird durch die Formulierung verstärkt, daß der »Körper« Oehrmanns das »Handelshaus[] der Oehrmannischen Seele« ist. Hier spielt Jean Paul — ebenfalls mit homonymischer Spitzfindigkeit (wenn man die Übersetzung mitberechnet) — mit dem Begriff des commercium mentis et corporis. Kein Zufall ist es, daß »Jean Paul« aus dem Aesperus vorlesen möchte bzw. Oehr-
mann selbst gerade den flachsenfingischen Fürsten, eine Person aus dem vorangegangenen Romanwerk, als soliden Käufer bezeichnet. Damit wird eine konsequente literarische Weiterentwicklung markiert: Im feudalen Hesperus wird die 'Iropik der fürstlichen Politik (Hofkörper), im bürgerlichen Siebenkäs der Ökonomie (ökonomischer Körper) angepaßt.2!% War das Absterben des falschen Sozialkörpers in der Unsichtbaren Loge über das Austrocknen und Abbröckeln der Mumie beschrieben worden, so findet sich im Siebenkäs die Entkörperung durch die entgegengesetzte
TIropik dargestellt: Die Verflüssigung, d. h. Liquidation (von körpererweitertem Eigentum in Geld — das »Ausmünzen« oder Verpfänden des Besitzes). In beiden Fällen
geht es jedoch um eine Verflüchtigung des erweiterten Körpers. 208 Ich gebrauche
Homonymie
nicht im Sinne der strukturalistischen
Linguistik,
dort würde
man eher von Polysemie sprechen, sondern im philosophischen Sinne. Homonymie bedeutet allgemein, daß ein Name auf verschiedene Referenz-Gegenstände verweist. 209 In der Trias »Körper/Maschine«, »soziales Umfeld: und »ökonomisches System« stehen sich ‚Körper/Maschine« und »ökonomisches System: symmetrisch als Metaphern, »Körper/Maschine« und »soziales Umfeld: symmetrisch als Metonymien und »soziales Umfeld: und »ökonomisches System« symmetrisch als Synekdochen gegenüber. 210 Insofern geht die Thematisierung der Öffentlichkeit rungsmodell (Golz, Alltag, S. 176) weit hinaus.
im Siebenkäs über ein reines Aufklä-
62
Zweites Kapitel
Jean Paul spielt hier mit der Theorie des bekanntesten deutschen Ökonomen seiner Zeit: Johann Georg Büsch. In seiner Abhandlung von dem Geldumlauf hält dieser eine »Lobrede des Geldes« (Abhandlung, S. 90). Nach Büsch ist die »Cirkulation des Geldes« (ebd., S. 62) die »Iriebfeder« (ebd., S. 61) für den »Wolstand[] einer bürgerlichen Gesellschaft« (ebd., S. 91). Sie besitzt eine »Zauberkraft« (ebd., S. 87), weil
der »flüssige Uebergang des Geldes« (ebd., S. 62) mit einer nützlichen »Täuschung« verbunden ist (ebd., S. 83): Der einzelne glaubt, nur seinen »Eigennutz« zu befriedigen und »sich selbst zu dienen« (ebd., S. 61). Ohne daß er es merkt, wird er jedoch »für andre arbeiten (ebd., S. 91) und deren »Bedürfnisse erfüllen« (ebd., S. 61). Der Grund ist, daß das Geld (im Gegensatz zum Tauschhandel) eine unendliche Steigerung der »Bedürfnisse« (ebd., S. 88) und, damit diese erfüllt werden können, eine »unbeschränkte Arbeitsamkeit« (ebd., S. 90) hervorruft. In Konsum- und Arbeits-
rausch gefangen, verbessert der einzelne das gesamte, d. h. nationale, Gefüge »wechselseitiger Dienste« (ebd., S. 62), wovon wiederum alle »Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd., $. 9) profitieren.
Auf dieses Hohe Lied der Staatsökonomie und der Überführung des festen Kapitals in den Geldfluß ist die ökonomische Liquidierung des (erweiterten) Körpers Siebenkäs ein trauriger Abgesang. Zwar stimmt Siebenkäs mit einem BüschAdepten wie Werner (aus dem Wilhelm Meister) darin überein, daß bürgerlicher Besitz »tote[s] Kapital« (Goethe VII, 287) bzw. die »Scheinleiche« des »Kapitals« (7&
101) darstellt. Während die Fluktuation des Kapitals jedoch dem metaphorisch erweiterten Körper eines Frühkapitalisten (»Nur nichts Überflüssiges im Hause! [...] Nichts als Geld«; Goethe VII, 287) zu einer neuen Lebendigkeit verhilft »Das ist also mein
lustiges
Glaubensbekenntnis:
seine
Geschäfte
verrichten,
Geld
geschafft,
sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht mehr bekümmert,
als insofern man
sie nutzen kann«;
ebd.), wird für Siebenkäs,
der nicht
teilhat an der Zirkulation des Geldes, der Körper immer weniger und weniger. Er
verflüssigt sich ohne Neukonsolidierung. Siebenkäs’ Satiren werden nicht verkauft, und die Gegenstände, die er zu Geld macht, landen nicht im Geldfluß, sondern auf
Jahre bei der Pfandleiherin.
Auch Nataliens Körperlosigkeit bzw. »nackte [...] Seele« (7% 377) ist eine Folge ihrer finanziellen Blöße. Nachdem sie sich weigert, Rosa von Meyern zu heiraten, ist
sie ganz und gar mittellos (vgl. 7% 376ff.). Um in der Metapher zu bleiben: Siebenkäs und Natalie werden durch ökonomische Liquidation sozial liquidiert. Die Verbindung der beiden Tropen, der metonymischen Erweiterung des Körpers als Sozialwesen
und der Metapher
des Geldes,
wird im Szebenkäs gleich nach
der
Vorrede weitergeführt: »Nur hatt er [Siebenkäs] leider aus den Alten und aus seinem Humor eine unläugbare Verachtung gegen das Geld, dieses metallne Räderwerk des menschlichen Getriebes, dieses Zifferblattsrad an unserm Werthe, geschöpft, indes doch
vernünftige
Menschen,
z. B. die Kaufleute,
einen
Mann
eben
so hoch
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper schätzen,
der es einnimmt,
leuchtenden
Heiligenschein
als den,
der es wegschenkt,
um
Kopf bekömmt,
den
wie
63
ein Elektrisirter den
der Aether
mag
in ihn ein-
oder aus ihm ausströmen« (7% 65). Das Geld ist ein Teil der (erweiterten) Maschine des Körpers, in der die Seele ge-
fangen ist. Noch mehr: Es ist der Antrieb dieser Maschine. Der Kreislauf des Geldes, die Liquidierung des Soliden und dessen Fluktuation,
ist das Moment,
das die an
sich starre Maschine der Welt (oder auch nur des Reichsmarktfleckens Kuhschnap-
pel) in Bewegung setzt. Siebenkäs Haltung gegenüber diesem Motor der WeltMaschine ist — gemäß seiner zwei (kurz darauf genannten) Lieblingsautoren aus der
Stoa, Epiktet und Antonin (die »Alten«), — natürlich verachtend. Dadurch unterscheidet er sich von denjenigen ökonomisch denkenden Menschen, die selbst die an sich nicht-ökonomische Geste, die karitative Ausgabe, in die Zirkulation des Geldes einbinden. Nach Büsch kann man nämlich von den Bürgern keine »Wohlthaten [...] ohne [...] Rücksicht auf [ihren] eignen Nutzen« fordern (Abhandlung, S. 9£.). Auch hier wird die Gedankenfigur des Kreislaufs ihrerseits dy-
namisiert und durch den Kreis mehrerer Diskurse getrieben: Der Heiligenschein wird durch eine naturwissenschaftliche Theorie — nämlich die Zirkulation des
Äthers — erklärt. So beschrieben, ist er natürlich nichts anderes als Betrug. Übertragen heißt das: Wer frei ausgibt und die Einnahme mitberücksichtigt, ist ein guter Ökonom nach Büsch - aber ein Scheinheiliger. Siebenkäs’ ökonomische Praxis dagegen ist ganz anderer Natur. Es ist kein Zufall,
daß er die Armut im nächsten Abschnitt mit der Handlung eines Sklaven vergleicht, der »das eigne Bein zum Zerschlagen« (7% 65) hinhält. Das (physische) Vorbild für sein eigenes Verhalten bieten ihm — mit bitterem Humor festgestellt — die Veteranen und kranken Bettler. Diese können, so der Satiriker Siebenkäs (in Verein mit dem
Satiriker Jean Paul), ihre fehlenden oder kranken Körperteile in Geld umtauschen: »Wen
der Himmel
mit dem Talente der Bettler, mit Krankheit, besonders mit den
Armen-Vapeurs, mit Gicht, mäßig ausgesteuert hat, der nimmt sein Pfund und seinen zur Krankheit gehörigen Körper und erhebt damit seine Römermonate
[ge-
meint ist ein Monatssold eines Soldaten] von Gesunden. — Wer nur überhaupt als Kupferstich vorn vor Pathologien so gut stehen könnte wie vor Thoren: der tritt unter diese und berichtet, was ihm fehlet, und das ist vor der Hand das fremde Geld« (7k 117£.).
Mit fehlenden Körperteilen läßt sich der Ertrag des Bettlers erhöhen. Je stärker man »zusammengeschossen« ist, um so höher ist das »Almosen« (7% 118). Nach dem
gleichen Prinzip wie diese Bettler geht letztendlich auch die schöne Seele Siebenkäs vor. Nur ist es nicht ihr physischer, sondern ihr tropisch extendierter Körper, näm-
lich der bürgerliche Besitz, der in Geld umgewandelt wird. Der Verlust des Besitzes wird mit dem Verlust des Körpers, also dem physischen Tod, assoziiert: »Die Meublen, die er neulich gleichsam wie der Tod berühret oder mit dem Waldhammer sei-
64
Zweites Kapitel
ner Hand angeplätzet hatte, wurden nach und nach ausgeholzet und abgetrieben« (7k 224). Die ökonomische Komponente des Verlustes des tropisch erweiterten Körpers macht folgendes Zitat deutlich: »Es war kein Geld mehr da. Er hätte eher alles verkauft, sogar seinen Körper, wie der alte Deutsche, eh’ er bei seinem wachsenden Unvermögen, heimzuzahlen, seine Ehre und seine Freiheit zu heimfallenden Pfändern verschrieben, ich meine, eh’ er geborgt hätte. Man sagt, die englische Nationalschuld
könne, wenn man sie in Thalern auszahle, einen ordentlichen Ring um die Erde wie ein zweiter Gleicher geben; ich habe diesen Nasenring am englischen Löwen,
oder
diese ringförmige Finsternis, oder diesen Hof um die britische Sonne noch nicht gemessen. Siebenkäs, das weiß ich, hätt’ einen solchen Pechkranz
[7%°: »eine solche
negative Geldkatze«], gesetzt er wär ihm nur um den Leib gegangen, für einen Stachelgürtel, für einen Eisenring der Schiffzieher und für einen Herz und Magen zusammenschnürenden Schmachtriemen gehalten« (7 201f.).
Siebenkäs verpfändet oder verkauft »Meublen«, um liquide zu bleiben. Um dies zu beschreiben, ordnet der Erzähler die Lockesche Trias von liberty, life und estate neu.
Besitz (estate) und Körper (life) gehören zur materiellen Substanz und lassen sich daher verkaufen: »Er hätte [...] alles verkauft, sogar seinen Körper«. Nur die Seele, »seine Ehre und seine Freiheit« (liberty), ist unverkäuflich. Auch die Schulden, die Siebenkäs besitzt, werden als eine solche metaphorische
Erweiterung des physischen Körpers, sogar bildlich, beschrieben: als »Pechkranz« oder »negative Geldkatze um den Leib«. Noch stärker als der physische Körper selbst ist seine ökonomische Erweiterung im Kreditwesen ein »Schmachtriemen« und »Stachelgürtel«, der die »Ehre und Freiheit« der Seele »zusammenschnürft]«.
Der
ökonomische Körper drückt Siebenkäs wie die Nerven den Nervenkranken in der Loge.
Teil dieser extensiv verstandenen körperlichen Materie ist der grillierte Kattun. Siebenkäs will ihn gegen Lenettes Widerstand verkaufen: »Er wußte längst, daß sie eher das Kleid ihrer Seele als das grillierte Ueberkleid jenes Kleides verpfände, aber er wollte
absichtlich,
wie
der
römische
Hof,
um
die ganze
Hand
anhalten,
um
leichter den Finger zu bekommen, nämlich den Mörser« (7k 216). Die Kleidungsstücke, die Siebenkäs versetzen will, um zu Geld zu kommen,
sitzen Lenette enger
an (und sind ihr teurer) als ihr eigener Körper (das »Kleid ihrer Seele«). Eine 'Iren-
nung von ihnen Kampf geht um Rappee [Tabak] Mörsers war in sam
das
entspricht einer Trennung von Körperteilen (»Finger«). Der nächste den Gewürzmörser: »Nach einer guten halben Stunde kam endlich — Bier — Geld — und Freude in die Stube: die Glockenspeise des eine bessere für den Magen umgesetzt und diese Glocke war gleich-
Wandelglöckchen
gewesen,
das hier nicht blos wie bei den
Papisten
eine
Transsubstanziazion oder Brodtverwandlung anzeigte, sondern sogar eine selber erfuhr« (7% 218).
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
65
Durch einen Trick hat es Siebenkäs geschafft, daß Lenette den Gewürzmörser doch noch liquidiert oder ausgemünzt hat. Der Rat Stiefel bittet um eine Stange Rappee — und um diese bezahlen zu können, muß Lenette, soll Stiefel nicht ihre Armut gezeigt werden, den Gewürzmörser in die Pfandleihe bringen. Die Liquidation von Siebenkäs’ Besitz wird als »Brodtverwandlung« beschrieben. Dabei wird die traditionelle Bedeutung des Begriffs, daß nämlich der Laib in den Leib (Christi) verwandelt wird, vice versa verwandt, denn hier haben wir es mit einer »Iranssub-
stanziazion« des erweiterten Körpers (des Mörsers oder Glöckchens) zur »Speise« zu tun. Geld und Körper stehen nicht nur in einem metaphorischen, sondern auch in einem kausalen Zusammenhang. Der Geldmangel und der daraus resultierende Streit mit Lenette machen den an sich geldverachtenden Siebenkäs krank am (physischen)
Körper und melancholisch: »Das Geld gieng auf. Aber noch mehr: der arme Firmian hatte sich sowohl krank gekümmert, als krank gelacht. Ein Mensch, der immer mit
den Oberflügeln der Phantasie und mit den Unterflügeln der Laune über alle Prellgarne und Fanggruben des Lebens weggezogen ist, dieser schlägt, wenn er einmal an die reifen Spitzen der abgeblühten Disteln angespießet wird, über deren Himmelblau und Nektarien sonst geschwebet hat, blutig und hungrig und epileptisch um sich« (7k 296). Siebenkäs sieht jedoch die beschriebene Kausalität nicht, sondern identifiziert das
Leiden an seiner Finanznot mit dem an seinem Körper. In seinem Abendblatt schreibt er über seinen Prozeß: »Ich hoffe den Staat-Schalken[], oder vielmehr den
Pürschmeistern mit dem Weidmesser oder Knebelspieß des Themisschwertes schon durch das Jagdzeug der Prozeßordnung und durch die Jagdtücher und Prell- und
Spiegelgarne der Akten durchzuwischen, nicht sowohl durch meinen wie ein Fühlfaden dünngezogenen Geldbeutel, den ich etwan wie einen ledernen Zopf durch alle engen
Maschen
der Justiz-Garnwand
zöge; nicht damit sowohl,
hoff’ ich, als mit
meinem Leibe, der sich nahe an den hohen Netzen in Todtenstaub verwandeln, und dann frei durch und über alle Maschen fliegen wird« (7% 334£.). Siebenkäs möchte dem - als ein sich zuziehendes Netz verstandenen — Prozeß mit dem Heimlicher entweichen. Bei der Erörterung der Fluchtmöglichkeiten werden
Geldbeutel und Körper analog gesetzt. Beide Gegenstände sind auf ein Minimum an Materialität geschrumpft. Der Geldbeutel ist nur noch ein »Fühlfaden« in der »Garnwand«, der Leib hingegen ist schon — hier taucht die alte Metapher wieder auf — (wie eine Mumie) ausgetrocknet. So von fast aller Materie entbunden, hofft die schöne Seele Siebenkäs, sich aus der ökonomisierten und verrechtlichten Welt ganz
befreien zu können. Während in den Hof-Romanen ein nervenkranker Freund physisch vorlebt, was sozial folgen wird, teilt sich Siebenkäs in seiner Phantasie beide Rollen in Personalunion zu. In seiner bis zur Todesvorstellung gesteigerten Hypochondrie alludiert er,
66
Zweites Kapitel
was er mit dem Scheintod auf sozialer Ebene wirklich ausführen wird: Die Befreiung
vom falschen Sozialkörper.
Exkurs über die Ähnlichkeit von Autor, Erzähler und Figuren In allen Texten Jean Pauls findet sich ein raffiniertes Spiel mit der Identität von Autor, Erzähler und Figuren,?!! das für die Programme
der schönen körperlosen
Seele (und des grotesken Körpers) von entscheidender Bedeutung ist. Ich möchte diese Verästelungen nicht für alle Romane aufzählen, sondern anhand eines Beispiels, der Autor-Fiktion im Flesperus, ein methodisches Argument erläutern, das für den Fortgang meiner Ausführungen entscheidend ist. Im Umkreis des Hesperus haben wir es mit einer juristischen Person, Johann Paul
Friedrich Richter, zu tun, dem die Honorare für das Buch bezahlt werden. Des weiteren haben wir einen Autor namens Jean Paul, der die erste Vorrede (JP I.1, 490) unterschreibt. Man hat sich angewöhnt, Jean Paul als mit der juristischen Person Richter
identisch
anzusehen.
Aber
das
ist nicht ganz
unproblematisch,
weil Jean
Paul als Autorenkonstrukt ausgewiesen ist. So gesehen wäre auch I. P E Hasus (aus den Teufelspapieren) oder R. (aus den Grönländischen Prozessen) mit der juristischen Person Richter identisch.?!? Dazu kommt
ein teilnehmender Erzähler, der sich selbst auch »Jean Paul« nennt
(und in dieser Arbeit durch Anführungszeichen vom Autor Jean Paul unterschieden wird).?!? Er ist »bestallter Historiograph« (JP 1.1, 521), d. h., er schreibt eine Geschichte, die — so die Fiktion — nicht fıktiv ist und für die Prätexte existieren. Denn »Jean Paul« hat einen »Korrespondent[en]« (JP 1.1, 541): den Satiriker Fenk, den man schon aus der Loge kennt. Aus dessen ext fertigt »Jean Paul« lediglich einen »pragmatischen Auszug[]« (JP I.1, 820) an. Fenk ist »parteiisch« (JP I.1, 761) und macht »satirische Note[n]« (JP I.1, 662), ist aber anscheinend doch genauer als »Jean Paul«. Fenk mißtraut nämlich der »Phantasie« (JP I.1, 541) seines Nachschrei-
bers und sendet deswegen objektivere Bilder der Personen, nämlich Schattenrisse. Während Fenk auch sonst auf eine realistische Schreibweise drängt, übernimmt der Erzähler »das biographische Werk, unter der Bedingung, daß darin die Wahrheit nur meine Gesellschaftdame, aber nicht meine Führerin sei« (JP I.1, 509). Aber Fenk ist 2!! Zur Autorschaft bei Jean Paul vgl. Wirtz, Ich komme
bald, der über die poetologische Meta-
pher der Apokalypse eine »Selbstdekonstruktion Jean Pauls« (S. 72, Fußnote) feststellt, und Pross, Falschnamenmünzer, die die Autorschaft Jean Pauls über das Bildfeld der Ökonomie herleitet.
212 In dieser Arbeit wird der Autor, zugegebenermaßen etwas vereinfachend, vor seiner Umbenennung Richter, danach Jean Paul genannt. Damit ist jedoch weder eine Identität mit der juristischen Person Richter noch mit dem Erzähler »Jean Paul« impliziert. 213 Ich
folge
der
Dreiteilung
S. 23ff., allgemein vornimmt.
der Autorschaft,
wie
sie Lindner,
Auktorial-subversiver
Autor,
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
67
nicht der erste Autor des Textes. Den eigentlichen Roman schreibt Viktor, aus des-
sen »Tagebuch [...] mein Korrespondent alles zieht« (JP I.1, 865).?'* Dazu kommen Klotildes
Briefe und Viktors satirische Texte und
Briefe, die Fenk
auch »Jean Paul«) vorliegen. Statt daß der »Autor« im Sinne seiner empfindsamen
(und
demnach
Genieästhetik?!? seine
»Werkherrschaft« festigt und ein alleiniges Besitzrecht am Geist seiner Texte beansprucht,?!° macht er das Gegenteil: Fast alle seine Figuren sind Teilhaber am Urhe-
berrecht. Sie erstellen vorläufige Inskriptionen, die dann zur endgültigen Inskription des Hesperus zusammengefügt und ineinander geschrieben werden.?!’
Wir haben es also mit dem Erzählmodell eines Palimpsest oder, wenn wir den Standpunkt des Autors einnehmen, einer russischen Puppe zu tun: Jeder Erzähler schreibt über einen Erzähler, der schreibt. Und so korrigieren und manipulieren die Erzähler die Texte ihrer Vorgänger. Den Autoren an der Außenseite der russischen
Puppe, den Endredaktoren des Palimpsest (Richter und Jean Paul), bleibt kaum mehr Raum für Eigenes. Fenk schreibt Viktors Texte ab, gibt ihnen aber eine satirische Note. »Jean Paul« ist der Redaktor?!? für die Texte seines Korrespondenten mit der Freiheit der rhetorischen Ausschmückung. Jean Pauls Text schließlich (von Johann Paul Friedrich Richter gar nicht zu reden) ist lediglich ein Produkt, das von
dem seiner Vorgänger schwer zu unterscheiden sein dürfte. Die Marginalisierung des Autors durch die Streuung seines Urheberrechtes an sein Personal wird dadurch aufgefangen, daß sich die Autoren untereinander sehr ähneln: vom Namen her (Johann Paul Friedrich Richter, Jean Paul, »Jean Paul«),?!? durch Hinweise auf Geistesverwandtschaften (Fenk, »Jean Paul«) oder durch bewußte Her-
stellungen von Ähnlichkeit. Zum Beispiel erfährt der Leser, daß der Autor Viktor, »der Held« der »Posttage«, nach »Jean Paul« »selber gebosselt« ist (JP I.1, 1218).
214 Die Vervielfältigung des Autors geht weit über die in der Literatur oft konstatierte Doppelung Jean Pauls in Autor und handelnde Figur (z. B. Scholz, Welt und Form, $. 219) hinaus. 215 Auch Erb, Schreib-Arbeit, S. 40ff., und Pross, Falschnamenmünzer, S. 39f., bemerken einen
solchen (vorläufigen) Widerspruch zwischen Genieästhetik und fremder Teilhabe am Text. 216 Bosse, Werkherrschaft, S. IIFF. 217 Zum Begriff der Inskription und der Autorschaft einer Inskription vgl. Goodman,
Elgin,
Revisionen, S. 85f.
218 Zum Verständnis des Autors als Übersetzer und Redaktor vgl., mit Rückbezug auf Plato und Hamann, Borsche, Wer spricht, S. 44f. 219 In der Forschung herrscht über die Frage nach der Identität zwischen den verschiedenen Jean Pauls Uneinigkeit. Für eine Identität sprechen sich Profitlich, Der selige Leser, S. 8f.; (innerhalb
des Kommunikationsmodells »Jean Paul«) Lindner, Scheiternde Aufklärung, S. 159f., und (innerhalb des »Jean-Paul-Kontinuums«) Niehaus, Der Erzähler, S. 57ff. aus. Dagegen argumentieren Wilke, Romanautor, und Decke-Cornhill, Vernichtung, S. 40f. Erb, Schreib-Arbeit, $. 63, nimmt
eine Mittelstellung ein und spricht von »Zwillingsfiguren«. Meiner Meinung nach müssen jedoch auch die einzelnen Figuren der Romane in die Identitätsfrage einbezogen werden. Dafür wende ich Wölfels These (Wölfel, Schwierige Geburt, S. 97ff.) von der Analogie von Figuren-Rede und Erzähler-Rede auf die Autorfrage an: Die Figuren schreiben den Roman.
68
Zweites Kapitel Ich schlage,
aufbauend
auf diesen zwei Beobachtungen
(russische Puppe/Palim-
psest, Ähnlichkeit), folgendes Modell vor, um das Spiel mit dem
multiplen Schrei-
ben zu verstehen. Die einzelnen Autoren der russischen Puppe schreiben übereinander wie ein Autor einer Autobiographie
über sich, und zwar nicht im Sinne eines
Lebensberichtes, sondern im Sinne eines Einblicks in die eigene Schreibpraxis. Ein kleiner Unterschied besteht allerdings zur Autobiographie (selbst in der hier vorgeschlagenen Variante der literarischen Selbstthematisierung): Die Texte eines Autors, der über sich und sein Schreiben schreibt, zirkulieren zwischen Wahrheit und Fiktion (und inszenieren diese Zirkulation)??® — aber sie machen durch die Geste der
Selbstkennzeichnung den Anspruch deutlich, daß Autor und beschriebene Person identisch sind.??! Die »Biographien« Jean Pauls über die eigene Schreibpraxis unterscheiden sich von diesen Autobiographien dadurch, daß die übereinander schreibenden Personen vom Anspruch her nicht literal, sondern metonymisch identisch sind. Man könnte dementsprechend auch sagen, daß sich der Autor in seinen Schriften metonymisch erweitert.??? Eine literarische Metonymie besteht (wie die Metapher) aus einer manchmal expliziten, meist impliziten Identitätssetzung (z. B. »Schiller = Wallensteins Lager« in einem Satz wie »Karl liest Schiller«), die auf den ersten Blick als falsch erscheint und irritiert. Falls es — wie im angegebenen
Beispiel — gute Gründe gibt, wird der Leser
diese »falsche< Identifizierung jedoch als kalkuliert einstufen. Um die Metonymie zu verstehen, wird er die Extension der beiden identisch gesetzten Ausdrücke so erwei-
tern, daß die Identität in diesem außerordentlichen Falle gegeben ist.?*? Genau das gleiche gilt für die Autoren im Roman, z. B. Jean Paul und Viktor. Ihre Identifizierung ist literal gesehen falsch. Wie gesehen, gibt es jedoch gute Gründe, die beiden
Autoren auf der Basis einer Metonymie identisch zu setzen. Die Vervielfältigung der Rede führt — so ein Topos in der Autorforschung — zu einer Auflösung der Subjektidentität des Autors.??* Da wir es aber mit Rednern (bzw. Schreibern) zu tun haben, die in der Metonymie miteinander identisch sind, kann man eher von einer rhetorischen oder technischen Vergrößerung des »Autors< spre-
chen. Berücksichtigt man ferner, daß nicht eine »Autobiographie« vorliegt, die das Leben eines Autors, sondern Texte und Schreibprozesse im Blick hat, so läßt sich 220 Vgl. Simon, Zwei Studien, S. 114ff. 221 Vgl. Lehmann, Bekennen, $. 39ff.
222 Die metonymische Erweiterung des Autors gibt es in zwei Varianten: die Fiktion einer Identität (Richter, Jean Paul, »Jean Paul«) und die Fiktion einer Nicht-Identität: Fenk und Viktor sollen
weder untereinander noch mit Richter, Jean Paul oder »Jean Paul« identisch sein. 223 Vgl.
dazu
meine
Metapherntheorie
in Vf., Asthetische
und
rhetorische
Metapher,
die ich
hier auf die Metonymie übertrage. Metapher und Metonymie unterscheiden sich lediglich durch die semantische Distanz ihrer gleichgesetzten Begriffe, nicht jedoch in der Form. 224 Vgl. allgemein: Kleinschmidt, Autorschaft, S. 114f., und auf Jean Pauls Autobiographik bezogen: Wiethölter, Krumme Linie, S. 5S1ff.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper festhalten, daß an den einzelnen
Figuren
und
ihren Handlungen
69 die Schreibweise
und Schreibarbeit des Autors mit all ihren Details wie unter einem Mikroskop be-
trachtet werden kann. Damit wird der gesamte Roman zum Autor.” Alle beteiligten Personen
(Autor, Erzähler, Figuren)
besitzen und exemplifizieren
einen gemeinsamen Pool an Eigenschaften, die sie unterschiedlich akzentuieren: in erster Linie empfindsame und humoristische Schreibweisen (und die dazugehörigen Denkweisen). Die Summe der akzentuierten Eigenschaften bzw. macht dann das Ganze des Romans bzw. seiner Herstellung aus.
Schreibweisen
Was aber ist die Funktion dieser metonymischen Erweiterung des Autors? Meines Erachtens gibt es drei: Erstens können unterschiedliche und streng logisch mitein-
ander nicht verträgliche Konzepte, in erster Linie: Humor und Empfindsamkeit (inkl. der dazugehörigen Denksysteme), verbunden werden, wenn sie auf mehrere Personen verteilt werden (die nicht in dem Zwang stehen, miteinander kohärente
Theorien zu vertreten). Durch diese Aufteilung wird — im wahrsten Sinne des Wortes — eine, mit Bachtin gesprochen,??® dialogische Schreibweise erreicht. Zweitens können durch die Aufteilung auf mehr handelnde und mehr schreibende Personen die verschiedenen Ebenen dieser Konzepte, die anthropologischepistemische,
die
moralische
und
die
ästhetische
(als
poetische
Selbstreflexion),
deutlich gemacht werden. Ein Beispiel: Viktor kann als Arzt (auf der Ebene der Physiologie) Zustände beschreiben (die Funktion der Materie für den Geist), die der Er-
zähler »Jean Paul« in der moralischen Praxis des Adels wiederfindet (die Folgen der materialistischen Handlungen der Adligen für die schönen Seelen) und die Jean Paul wiederum ästhetisch (d.h. in der Praxis des Schreibens) umsetzt (als satirische Schreibweise).
Drittens können die verschiedenen Teil-Inskriptionen des Textes durch Verweise und markierte Analogien einander interpretieren oder zumindest eine Interpretation nahelegen. An Viktors unwillkürliche[r] Dichtkunst« (JP I.4, 978), seinen Träumen, werden z. B. Momente augenscheinlich, die für das Verständnis der willkürlichen Dichtkunst Jean Pauls entscheidend sind. Über seine Subtexte und deren Verwei-
sungsgeflecht macht der Roman sich selbst verständlich.
225 Niehaus’ These (Erzähler als Held, S. 74), daß das Autorsubjekt zum Roman wird, muß also gerade umgedreht werden.
226 Vol. Bachtin, Die Ästhetik des Worts, S. 178ff.
70
Zweites Kapitel
Empfindsame Selbsttherapie: der himmlische Körper auf Erden Der »freundschaftliche Zirkel« von Lilienbad
Das »Bonnetsche Entwicklungssystem einer innern Geschichte« (JP 1.4, 413) gilt auch für die schönen Seelen. Ihre Selbsttherapie besteht in einer künstlichen Erhö-
hung der Geschwindigkeit innerhalb der im Sinne der Präformationstheorie Bonnets gedachten Metamorphosen. Die schönen Seelen entledigen sich schon auf Erden des kranken und krankmachenden Hof-Körpers zugunsten des himmlischen »ätherische[n] [...] Leibes«.?? Literal gesprochen heißt das: Sie versuchen, dem sozialen System des Hofs zu entkommen
und eine »kleine Gesellschaft, die Gemein-
schaft schöner Seelen, zu realisieren.
Die Unsichtbare Loge ist, beabsichtigt oder nicht, Fragment geblieben. Daher läßt sich nicht ausmachen, wie sich Jean Paul die Entwicklung des neuen Körpers der schönen Seelen gedacht hat (bzw. ob er ihre Unmöglichkeit durch den fehlenden Schluß markieren wollte). Es finden sich dennoch bereits alle Elemente, die in den
späteren Romanen wichtig werden: /.) ein Liebespaar, aus dessen sublimierter Erotik eine Gemeinschaft schöner Seelen erwächst, die als »kleine Gesellschaft« der gro-
ßen entgegengesetzt ist; 2.) ein paradiesischer Ort (Lilienbad) weitab von der als
inadäquat empfundenen Gesellschaft (der Hof des Fürstentums Scheerau), der durch seine Abgeschiedenheit die geographischen Möglichkeiten für die Sozialform der »kleinen Gesellschaft« und ihre phantastischen Leistungen bietet, und 3.) die von
den schönen Seelen angestellten Versuche, in Predigten,??® Reden, in der »unwillkürlichen Dichtkunst« der "Träume (JP 1.4, 978) und in den Büchern, »die nicht für das Publikum bestimt worden«?” - d.h. in ihren Briefen —, Produkte zu erzeugen,
in denen die physische Umhüllung der Seele durch eine ätherische (nämlich Literatur) ersetzt wird. Diese Phantasieleistungen können ım paradiesischen Lilienbad in eine, wenn auch begrenzte, Wirklichkeit umgesetzt werden. Am Totenbett von Amandus stehen Gustav und Beata. Amandus beschwört die Liebe der beiden:
»Ja, ihr zwei schönen
Seelen, ihr findet niemand
der euch glei-
chen, der euere Liebe verdienen kann« (Loge 308). Er betet (als indirekte Form der Ansprache an sein Publikum): »Alle schöne Tage, die mir vielleicht hier beschieden waren — ja nimm sie aus meinem künftigen Leben, wenn ich etwan in diesem keine
mehr zu erwarten hatte« (Loge 308). Das Leben, das sich Amandus in der zweiten
Welt erhofft, soll Gustav und Beata in der Liebe hier auf Erden möglich sein. Auch
227 Bonnet, Betrachtungen, S. 85.
228 Vgl. hierzu Naumann, Predigende Poesie. 229 Jean Paul, Brief an Friedrich von Oerthel, 17.6.1783, HKA IIL.1, 75.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
71
sie sollen den nervenkranken (nur metonymisch verstandenen) Körper verlassen und sich in einem himmlisch-ätherischen etablieren. Platners Satz, daß die Seelen, wenn
sie »in ein anders Weltsystem fortgerückt« würden, mit einem »diesen neuen Verhältnissen angemessenen, oder ohne einen andern Körpers, d. h. nur »durch das geistige Seelenorgan«,
fortleben
(NA
$ 223;
Hervorhebung
von
mir),
soll
literarische
Wirklichkeit werden. Dem anderen »Weltsystem« entspricht im Roman Lilienbad, dem »geistige[n] Seelenorgan« bzw. dem »ätherischen Körper« (NA $ 245) die Gemeinschaft schöner Seelen. Diese hatte sich bereits am Hof ansatzweise formiert und wird im träumerisch verklärten »Aether« (Loge 431) der Kurlandschaft Wirklichkeit. Für die nicht-
metonymische Beschreibung dieser Gemeinschaft steht Rousseaus Neue Heloise”?° Pate: In Lilienbad haben die liebenden schönen Seelen (auch Gustav, der mit der
Residentin von Bouse geschlafen hat) ihre sexuellen Leidenschaften reguliert: »Beata und Gustav berührten einander die wunden Stellen wie zwei Schneeflocken; sogar in der Stimme und der Bewegung schilderte sich zärtliches, schonendes, ehrlieben-
des, aufopferndes Ansichhalten.
O wenn die Weigerungen der Koketterie schon so
viel geben: wie viel müssen erst die gegenwärtigen der Tugend geben« (Loge 427)! Jedes Epitheton (»wie zwei Schneeflocken«, »ehrliebend[]«, »aufopfernd«, »Ansichhalten«) weist darauf hin, daß die Liebenden sich nicht mit sexueller Lust, sondern regulierter Leidenschaft berühren. Es sind »Weigerungen [...] der Tugend«.
Diese Tugend geht mit einer Entkörperungs-Phantasie einher: »Die zwei entkörperten Seelen schaueten groß ineinander hinein, und ein vorüberfliegender Augenblick des zärtlichsten Enthusiasmus zauberte sie an den Augen zusammen ...« (Loge 423; Punkte im Original; Hervorhebung von mir). Im Blick der Liebenden wird der Körper durchsichtig und als Sprachorgan neutral. Es gibt zwischen den beiden gerade kein Medium, keine Materie, sondern eine unmittelbare Kommunikation.??!
Daher bedarf es auch keiner verbalen Sprache mehr: Mensch
sich zu groß fühlt, ein Gespräch
»Es giebt Lagen, wo der
heran zu lenken, oder fein zu seyn, oder
Anspielungen zu machen« (Loge 428). Nur noch die Natur ist in die nonverbale Kommunikation eingeschlossen: »Es dämmerte, ... die Natur war ein stummes Gebet ... Der Mensch stand erhabener wie eine Sonne darin; denn sein Herz faßte die Sprache Gottes ... aber wenn in das Herz diese Sprache kömmt und es zu groß wird
230 Zu weiteren Bezügen zwischen der Loge und der Neuen Heloise vgl. Köpke,
Erfolglosigkeit,
. 2618.
j 2
Zur Unterscheidung zwischen dem physiognomischen Ausdruck der hohen Menschen und
der Körpersprache
des Hofs vgl. Käuser,
Physiognomie,
S. 299.
Genauer
arbeitet Och,
der fest-
stellt, daß die hohen Menschen in bezug auf Körpersprache in einem »idealtypischen Modell empfindsamer Kommunikation« bleiben (Och, Der Körper, $. 149f.). Die empfindsame Körpersprache wird zwar problematisiert, letztendlich jedoch zu einem utopischen Projekt der Renaturalisierung
des konventionellen Ausdrucks gesteigert (ebd., S. 152).
72
Zweites Kapitel
für seine Brust und seine Welt: so hauchet der große Genius, den es denkt und liebt, die stillende Liebe zu den Menschen in den stürmenden Busen und der Unendliche
läßet sich von uns sanft an den Endlichen lieben ...« (Zoge 428; Punkte im Original). Die beiden Liebenden sprechen »die Sprache Gottes« bzw. der Natur, die sich weit über die rhetorischen Möglichkeiten des Alltags (und vor allem des Hofs) erhebt. So erleben sie in ihrer Liebe die Liebe Gottes und finden den Weg zur Moralität.
Wie in der Julie, so ist auch hier der Weg von der leidenschaftlichen Liebe zur ‚Liebe zur Pflicht: ein Weg,
der die Bildung eines Gemeinwesens
mit einschließt.
Der Erzähler wählt die Teilnehmer aus: »Nimm uns in dein Blumen-Eden auf, eingehülltes Lilienbad, mich, Gustav und meine Schwester, gib unsern Träumen irdischen Boden,
damit sie vor uns spielen, und sei so dämmernd
einen
schön wie eine
Vergangenheit« (Loge 414). Die Idylle ist demnach nicht nur für Gustav und Beata, sondern auch den Erzieher und Erzähler »Jean Paul« und seine Schwester reserviert. Dazu kommen alle anderen schönen Seelen des Romans (also auch Ottomar):
»Wollte der Himmel, ich faßte statt einer Biographie einen Roman ab: so führt’ ich euch, schöne Seelen, einander näher und konstruirte unsern freundschaftlichen Zir-
kel aus seinen Segmenten wieder; dann bekämen wir hier einen solchen Himmel, daß, wenn der Tod vorbei gienge und uns suchte, dieser ehrliche Mann nicht wüßte, ob wir schon drinnen säßen oder von ihm erst hinein zu schaffen wären ...« (Loge
418f.; Punkte im Original). Die schönen Seelen und der Erzähler bilden also einen »freundschaftlichen Zirkel«
(denn es handelt sich ja tatsächlich um einen Roman), dessen Sozialform — wie bei Rousseau — durch die Formel »zwei Liebende + Freunde« und die Metapher des Himmels auf Erden beschrieben wird. Der Autor Jean Paul hat die Rolle von Herrn
von Woldemar als Gesetzgeber des Bundes schöner Seelen auf sich genommen. Das Gesetz, das er stiftet, heißt auch "Iransparenz oder Öffentlichkeit, gemeint ist aber
keine Offenlegung
der Gedanken
produktionsästhetischen Gründen:
und
Phantasien
aus moralischen,
sondern
aus
»Hast du so viel geschrieben,< — sagte Fenk — »so
reise nach Lilienbad und brauche den Brunnen und den Brunnen-Doktor welches ich bin, und den Brunnen-Gast, welches Gustav ist: denn dieser heilet ohne das Lilien-Wasser und ohne die Lilien-Gegend dort nicht aus; ich muß ihn hinbereden, es mag dort schon seyn, wer will. Freue dich, wir gehen einem Paradies entgegen, und
du bist der erste Autor im Paradiese, nicht Adam« (Loge 412). Der Erzähler Jean Paul kokettiert damit, daß er seinen Figuren einen Raum zuteil
werden läßt, den zu erübrigen über die normalen Leistungen eines Textproduzenten hinausgeht: »Die Kunstrichter ließen«, wände er nicht den Trick an, den Roman als Biographie
auszugeben,
normalerweise
»fünf solche
Personen
auf einmal
wie
uns
nimmermehr ins Bad« (ebd.). Mehrmals betont der Erzähler, daß man sich als Autor im »juristischen oder [im Sinne von: vel| ästhetischen Fache« gleichermaßen aus-
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
73
kennen muß (Loge 317; vgl. auch 394) — um nämlich zu wissen, welche Leistungen
man für welche Zugeständnisse erwarten darf. Für seine überdurchschnittlichen Leistungen kann der »erste Autor im Paradiese« an seine Figuren Forderungen stellen: Gustav, Beata und Fenk müssen sich eine literarische Funktionalisierung durch »Jean Paul« (er darf sie »brauche[n]«) gefallen lassen. Aber was machen die Figuren für ihn? Meine Vermutung ist: Während der Erzähler von sich selbst schreibt, daß die Wege nach und in Lilienbad die Wege seiner
»Feder« sind (Loge 414), gehen seine Figuren den Weg andersherum und fertigen aus ihren Erlebnissen und Phantasien Romanstoff. Die schönen Seelen bekommen -
das sind die Rechte des Bündnisses — die Möglichkeit, den inneren ätherischen Körper aufzubauen, und müssen — das sind die Pflichten — deswegen die dabei entstehenden Phantasieleistungen, seien es verwirklichte Träume oder protoliterarische Texte, auch für das Gemeinwesen des Romans öffentlich machen - als dessen Teil
und als Interpretament für die anderen Teile. »Jean Paul« ist an diesen Phantasien deswegen so interessiert, weil seine Figuren einen privilegierten Zugang zur zweiten Welt und der darin ausgedrückten Moral
besitzen. Gott malt als »magischer Prospektmaler« in diesen Phantasien die »künftigel] Welt [...] auf unsre irdische« (Zoge 445) — und diese Bilder möchte »Jean Paul«, der sich zu den kalokagathonischen Schöne-Seelen-Autoren zählt (JP II.2, 789; Loge 251), auch in seinem Text enthalten wissen.
Außerdem machen die Phantasien der Figuren die Phantasien ihres Autors ver-
ständlich. In Briefen und Predigten wird der Kuraufenthalt in Lilienbad vorbereitet. Beata schreibt Philippine in einem Brief, daß nur ihre »Freundschaft« und der Gang ins »stille Land« ihr die Möglichkeit gäben, die »Rolle« des Hofs, die für sie »zu groß
ist« und sie »niederdrückt« (Loge 227), abzustreifen. Das stille Land ist wie Lilienbad und der Park von Julie ein »englische[r] Garten« (Loge 215, Fußnote). Auch er macht die psychische Technik, die die schönen Seelen an sich anwenden,
sichtbar:
die Modifikation der ursprünglichen Leidenschaften, die »Natur [...] unter [...] Anleitung« (Julie 493).2?? Hier sind es jedoch keine moralischen, sondern ästheti-
sche Regulierungen, die gefordert werden: Die Illusion des englischen Gartens vermittelt die Illusion einer göttlichen Offenbarung in der Natur. Das »stille Land« ist ein, wie
der Erzähler
hinzufügt,
»irdisches
Bild«
eines
überirdischen
Phantasmas
(Loge 227). Auch Gustav verschafft sich durch Phantasieäußerungen Linderung vom »geistigeln] Wundfieber«: »Er trug sein vom bisherigen Bluten erkaltetes Herz zu Amandus, um es an des Freundes heißer Brust wieder auszuwärmen und anzubrüten«. Die 232 Trotha, Angenehme
Empfindungen,
berücksichtigt nicht den Rousseau-Bezug, wenn er die
Funktion des Landschaftsgartens bei Jean Paul untersucht. Seine Ergebnisse, z. B. der Landschaftsgarten als Organisationsprinzip des Erzählens (S. 311), lassen sich jedoch so noch entscheidend präzisieren.
74
Zweites Kapitel
wärmende
Selbstheilung ist eine rhetorische Leistung. Gustav »predigte gern. Ich
kann es anders sagen: seine quellende Seele muste entweder strömen oder stocken, aber tropfen konnte sie nicht — und wenn sich ihr denn ein freundschaftliches Ohr aufthat: so regnete sie nieder im Enthusiasmus über Tugend, Natur und Zukunft. —
Dann wehte eine heitere frische Luft durch seine Ideenwelt — die niedergestürzten Ergießungen deckten den schönen lichten tiefblauen Himmel (Loge 225).
seines Innern auf«
Es sind die Metaphern des Flüssigen (»strömen«, »tropfen«, »regnete«, »Ergießungen«), mit denen sich Gustav gegen den mumifizierten, also trockenen, Hof-Körper
wehrt bzw. sich von ihm heilt. Das Ergebnis ist eine — im wahrsten Sinne des Wortes — Aufklärung, eine Wetterbesserung. Die (Hof-)Welt ist naß und dadurch wieder fruchtbar, die Seele (der »Himmel seines Innern«) hingegen wieder von allem um sie herum befreit, der Äther ist sichtbar.
Eine zweite ätherische Reinigung erlebt Gustav, genau wie Beata, in der Natur und deren literarischer Reproduktion — im Brief. Auch Gustav fühlt sich in der ‚Natur unter Anleitung« des stillen Landes geborgen wie in einem »Aether-Ozean« (Loge 267). Sie dient ihm als »bis ins Nichts hinausreichende[r] große[r] Spiegel«, der sein Inneres und »das Bild des göttlichen Ur-Genius« (Loge 269) zugleich darstellt. Es ist der phantastische Entwurf der zweiten Welt, die die Moral des Phanta-
sierenden wachruft. Gustav imaginiert bereits »die Tage jenseits der Erde«, die ihn »heiligen für die Tugend« (Loge 389). Die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung der zweiten Welt in der Phantasie ist, daß in der Natur — hier wird wieder Leibniz in die metonymische Pflicht genommen
— die Monaden
nicht
wie
in den
»unorganisch
zusammengeleimten
Schutthaufen der getödteten Natur, die eine Stadt heissen« (Loge 215), sondern in einem freien Verbund leben: »Aber dort richtete sich die liegende Riesin der Natur vor mir auf, in den Armen meine
Seele vom
tausend und tausend säugende Wesen tragend — und als
Gedränge
der unzähligen
bald
in Mückengold
gefaßter
Seelen,
bald in Flügeldecken inkrustirter, bald mit Zweifalter-Gefieder überstäubter, bald in
Blumenpuppen eingeschlossener Seelen angerühret wurde in einer unendlichen, un-
übersehlichen Umarmung — « (Loge 268). Die Natur als Organisation vieler »eingeschlossener Seelen« — mit diesem Begriff bringt Jean Paul drei zentrale Denkfiguren seines Theorie-Gebäudes zusammen: die
Monadologie (metonymisch als Sozialtheorie verstanden), Rousseaus Metapher der ‚Natur unter Anleitung: (denn es ist von einem englischen Garten die Rede) und die
Theorie des Ätherkörpers. Wie die einzelnen Monaden harmonisch
miteinander
in der künstlichen Natur eines englischen Gartens
in einem Verbund
leben, so ist auch Gustavs entworfene
Sozialtheorie und die in ihr präludierte Gemeinschaft schöner Seelen in Lilienbad organisiert: eine harmonische und organische Vereinigung von einzelnen Seelenmo-
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
75
naden. In ihr gibt es keine Körpermonaden ohne moralische Qualität, die die Seelenmonaden als unangemessene Hülle bedrängen. Der »Aether-Ozean« (Loge 267) ist nicht mehr, wie bei Platner, »an das Geschlecht der Seelen am allernächsten an-
grenzen[d]« (NA $ 205), sondern stellt einen Organismus dar, in dem jede Seelen-
monade zugleich Seele und Teil eines ätherischen Körpers für die anderen ist. Die schönen Seelen Gustav und Beata erleben also in der künstlichen Natur ein ozeanisches Gefühl avant la lettre und entwerfen ın diesem Zustand und dem Medium des Briefes bereits das Heilungskonzept des »Gesundbrunnen[s]« (Loge 418) von Lilienbad. Alle wichtigen Komponenten,
die »Natur unter Anleitung«, die (klei-
ne) Gesellschaft und die protoliterarischen Formen
(Brief, Predigt, Tagtraum), sind
bereits darin enthalten. Auch
die Phantasieleistungen,
die direkt in Lilienbad produziert werden,
sich auf die Situation, in der sie entstehen, beziehen. Gustavs Traum
lassen
z. B. beginnt
so: »Er starb (kam ihm vor) und sollte den Zwischenraum bis zu seiner neuen Ver-
körperung in lauter Träumen verspielen«. Zwischen der irdischen und der himmlischen Verkörperung der schönen Seele gibt es also einen »Zwischenraum«,
in dem
»der von den Stößen der vorigen Erde noch blutende Mensch [...] unter den Blumen zuheilen [soll] für den künftigen Himmel, wo die größere Tugend und Kennt-
nis eine genesene Seele begehrt« (alle Zitate: Loge 430). Der geträumte Himmel und die beschriebene paradiesische Situation in Lilienbad haben, wie der Erzähler hinzuweisen nicht vergißt, große Ähnlichkeiten: Die »Welt«, in der Gustav nach diesem
Iraum erwacht, ist »ein schönes Gegenspiel seiner geträumten« (Loge 431). Auch Lilienbad
ist, schon
allein weil es ein »Gesundbrunnen«
ist, ein Ort der Heilung
bzw. tropisch gesprochen: ein »Unter-Paradies« (Loge 430) aus »Aether« (Loge 431). Lilienbad ist aber noch nicht der Himmel
auf Erden, die in den Briefen gemalte
»zweite Welt« (Loge 389). Dies ist ein wichtiger Hinweis zur Korrektur der überspannten Phantasien der am Projekt beteiligten schönen Seelen: Der Freundschaftszirkel von Lilienbad ist nicht mehr als ein Kuraufenthalt, um die Krankheiten des
sozialen Lebens besser ertragen zu können. Darauf verweist auch das vorgeblich fragmentarische Ende: »Wir unglücklichen Freuden in Lilienbad« (Zoge 450).
Brunnengäste!
es ist vorbei
mit den
Das feudum schöner Seelen
Der paradiesische Ort als Initial für die Phantasmagorien über die zweite Welt heißt im Hesperus Maienthal. Er bietet den schönen Seelen das gleiche »Genesen« (JP L.1,
959) wie vorher Lilienbad. Doch Genesung gibt es nicht ohne Gegenleistung. Der Erzähler schließt auch hier mit seinen Figuren einen Vertrag ab. Er schreibt: »Es wird überall in jedem Marktfleck, auf jeder Insel schöne Seelen geben [...], die mit
76
Zweites Kapitel
rauhen Menschen umpanzert sind, vor denen sie ihre Idyllenphantasien über das zweite Leben und ihre Tränen über das erste verhüllen müssen — die schönere Tage geben, als sie empfangen — diesem ganzen schönen Bunde mach’ ich das verschenkte Feudum von Maienthal, wovon schon soviel Redens war, endlich auf und gehe als
beleihender Lehnhof mit einigen Freunden und Freundinnen und meiner Schwester vorn an der Spitze voran hinein« (JP 1.1, 1029).
In der Passage wird Maienthal nicht nur Viktor und Klotilde als rechtsfähiger Ort ihres Lebens zuerkannt, sondern allen schönen Seelen — und dazu gehören auch die Leser (JP 1.1, 959).2°° Wie die hohen Menschen moralische Adlige sind, so stehen die schönen Seelen in einem ästhetischen Feudalverhältnis zu ihrem Autor. Für
Lehnsherr und Vasall gilt das wechselseitige »>Schaden wenden, Nutzen trachten« — aber nicht nur im juristischen oder ökonomischen Sinne. Der Erzähler betont, daß für ıhn vor allem der ästhetische Ertrag des feudums entscheidend ist. Denn nur in Maienthal »wachsen [...] himmelblaue Tage, Abende voll seliger Tränen, Nächte
voll großer Gedanken« (JP I.1, 1027). Dementsprechend sind es also »poetische Nutznießungen«, die er »zu Lehn gibt« (JP 1.1, 1028) — und poetische Erträge, die
er erwartet. Allen voran sind es Viktor und Klotilde, die als »Dichter« und »Dichterin« (JP I.1, 990) — und zwar »durch Taten« (JP I.1, 1053) und Briefe - am Roman mitschreiben. Die feudale Vereinbarung mit Jean Paul nobilitiert die beiden schönen
Seelen zu Ersatz- oder Hilfsdichtern, deren poetische Leistungen in der metonymischen Exemplifikation (genauer: in der Zuarbeit zum Selbstausdruck) der empfindsamen Schreibweise des Romans und in der Interpretation anderer Texte durch ihre eigenen bestehen.??*
Um in die Rolle des Hilfsautors zu gelangen, bedarf es der schon aus der Loge bekannten illusionistischen Natur der Idylle (hier: Maienthal), die — als Sinnbild regu-
lierter Leidenschaft — die beiden Liebenden in den Zustand der »Verklärung der Liebe« (JP I.1, 1072) und zur Phantasmagorie der Moralität der »zweiten Welt: bringt: »Denn in ihrem Herzen war Gott; vor ihrem Auge schimmerte die ganze zweite Welt voll auferstandner Seelen« (JP I.1, 1085). Diese Phantasieleistung ist
233 Zur Funktionalisierung des Lesers, des Lesens und des Verlesens in den Romanen vgl. Profitlich, Der selige Leser, S. 82ff., und Schmidt-Hannisa, Lesarten.
234 Eine nicht-tropische Exemplifikation der Schreibweise des Autors wäre ein Text über einen Autor, der Bücher schreibt. Eine metaphorische wäre ein Schornsteinfeger, dessen Bewegungen im Schornstein poetischen Charakter haben. Viktors und Klotildes poetische Handlungen sind dem Schreiben eines Romans verwandt, jedoch nicht damit identisch. D. h. sie exem-
plifizieren das Schreiben eines Romans metonymisch. Nach Goodman, S. 53ff.; 88ff., ist eine metaphorische Exemplifikation ein Ausdruck. Das gilt mische Exemplifikation. Da es sich bei der metonymischen Beschreibung des Selbstbezug handelt, spreche ich von einem Selbstausdruck der (in diesem Schreibweise.
Sprachen der Kunst, auch für die metonySchreibens um einen Falle: empfindsamen)
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
77
nur deswegen möglich, weil, wie der Erzähler »Jean Paul« betont, die schönen Seelen
im Gegensatz zu den Hofschranzen einen für die »zweite Welt [...] organisierten innern Menschen« besitzen (JP I.1, 545).?3?
Im Körper (literal und metonymisch verstanden) kann dieses Moralsystem nicht vollständig realisiert werden. Die Seele war jedoch vor ihrer Verkörperung — Jean Paul verschneidet hier seine ätherische Präformationstheorie mit dem platonischen Motiv der Befiederung der Seele (Phaidros 2483-249c) — der »reine Geist« im »Äther«
und wird dies auch wieder sein, wenn
sie nicht mehr
»mit zusammenge-
krümmten Flügeln in einen befleckten Leib gemauert« (JP 1.1, 952) ist.??° Hat man sich wie Klotilde (und letztendlich auch Viktor) von aller (sozialen) Körperlichkeit befreit, ist man »ein ätherisch verkörperter Engel« (JP I.1, 1082) und damit zur höchsten Moral fähig. Das ist ganz im Sinne Platners, der schrieb, daß die Seele, nur
mit dem inneren Seelenorgan bekleidet, ein »Engel« (NA $ 215) sei. Diese moralische Phantasie wird wiederum in Briefen kanalisiert, die dem Roman
als Beitrag, Reflexion und — durchaus kritisches — Interpretament zugute kommen. Viktor schreibt an Emanuel: »Und so flatter’ ich denn mit ziemlich abgestäubten
Schmetterlingschwingen im unabsehlichen Tempel, der für unser Phalänen-Auge in kleinere zerfällt und dessen Säulen-Laubwerk wir für die Säulen selber halten und dessen Pfeilerreihen durch ihre Größe unsichtbar werden, da flattert der Menschen-
zweifalter auf und nieder — zerstößet sich an Fenstern — rudert durch staubige Gespinste — schlägt seine Flügel endlich um eine hohle Blume — und der große Orgelton der ewigen Harmonie wirft ihn bloß mit einem stummen auf- und niedergehenden Sturme umher, der zu groß ist für ein Menschenohr — « (JP L1, 981£.).
Die Metaphorik ist aus Bonnets Präformationstheorie bekannt. Es sind die Metamorphosen des Schmetterlings, die auch der moralische Mensch Viktor bis zu seinem Tod zu durchleben hat. Auch der Schmetterling, der der Raupe entwachsen ist, muß seine uoo@Y noch einmal verändern, um den moralischen Menschen freizule-
gen. Neu hingegen ist, daß die Zerstörungen (in) der alten Hülle auf einer fehlenden Erkenntnisleistung beruhen. Für die Augen des »Menschenzweifalters« ist das Reich der Wahrheit, ähnlich wie das der Ideen bei Platon, »unabsehlich[]«. Das Leben ist voller visueller Täuschungen. Die Augen des Schmetterlings namens Mensch sehen
nicht eine Natur,
zerfällt«),
235 durch 829); 1040),
sie
können
sondern
keine
viele
(»der für unser
Relationen
angeben
Phalänen-Auge
(Verwechslung
von
in kleinere
»Säulen-
Die Formulierungen zu diesem Thema variieren und führen — was die Metaphorik betrifft — die Akustik und die Kosmologie. In der Seele ist der »Widerhall des zweiten Lebens« (JP I.1, in ihr, so an einer anderen Stelle, »geht der Mond der zweiten Welt nicht unter« (JP L.1, wenn auch die Sonne der ersten wieder scheint.
23° Zum
Vergleich von platonischem
Gleich und Gleich, S. 80f.
Gedankengut
und Leib-Seele-Terminologie vgl. Fenell,
78
Zweites Kapitel
Laubwerk« mit den »Säulen« selbst), so daß Ausschnitte für größere Einheiten ge-
nommen werden. Größere Einheiten sind schließlich gar nicht zu erkennen (»dessen Pfeilerreihen durch ihre Größe unsichtbar werden«). Platonisierend wird von zwei Welten ausgegangen: mundus sensibilis und mundus
intelligibilis. Der Mensch gibt sich jedoch der »gewöhnlichste[n] Täuschung« hin, wenn er sie miteinander verwechselt: »Wäre nicht der Mensch sogar in seinen Begierden und Wünschen so systematisch — ging’ er nicht überall auf Zuründungen sowohl seiner Arkadien als des Reichs der Wahrheit aus: so könnt’ er glücklich sein und mutig genug zur Weisheit — Aber eine Spiegelwand seines Systems, ein lebendi-
ger Zaun seines Paradieses, die ihn beide nicht ins Unendliche sehen oder laufen lassen, sprengen ihn sofort auf die entgegengesetzte Seite zurück, die ihn mit neuen Geländern empfängt und ihn neuen Schranken zuwirft ...« (JP 1.1, 982; Punkte im
Original). Das »Unendliche«, das »Reich[] der Wahrheit«, ist also nicht nur uneinsehbar (in der Erkenntnis) und unbegehbar (im moralischen Handeln), die menschlichen Versuche, das Unendliche in Theorie und Praxis (das »System[]« und der Weg aus dem »Paradies«) hier auf Erden zu erreichen, machen das Leben nicht »glücklich«. Statt sich zu bescheiden mit dem, was man sehen und erreichen kann, wird der nach der
höchsten platonischen Idee strebende Mensch größenwahnsinnig (da er jede Veränderung »für größer ansieht, als sie hinterher ist«; ebd.) und benutzt das Sichtbare zu »Zuründungen [...] seiner Arkadien« und »des Reichs der Wahrheit«. Das Leben in zwei Welten ist unerträglich: Der »vollkommenste« Zustand, schreibt Viktor weiter,
verbiegt »entweder meine irdischen Wurzeln in der Erde oder meine Zweige im Äther« (JP 1.1, 982).
Viktor reflektiert in dem Brief sein eigenes Verfahren der Phantasie, die das Irdische zum Überirdischen »ründet« und damit letztendlich ihren Besitzer und dessen Umwelt »täuscht«. Er endet mit dem Satz: »ich habe nun Mut, mich zu bessern« (ebd.). Davon ist nicht viel zu merken. Der Brief an Emanuel ist, wie der Erzähler hinzufügt (JP 1.1, 983), nur aus dem Anlaß entstanden, »Umschlagtuch« (JP 1.1, 981) für den Brief an Klotilde zu sein. In diesem selbst steht der liebesberauschte
Viktor seinen Phantasieleistungen weniger kritisch gegenüber. Er schildert Klotilde nämlich einen Traum, in dem tatsächlich Gegenstände der
irdischen Erkenntnis zu Darstellungen der Unendlichkeit »geründet: werden: »Wenn aber ein Blitz in unser Auge flatterte: so zog sich unser Herz süß zergehend empor in der Brust,
und
unsere
Körper wurden
leichter zum
Wegschweben.
[...] — Wir
schaueten nach Morgen, und dort hing weit in der Ferne und hoch in der Luft ein weites dunkelglühendes Land aus Duft, das zuweilen blitzte. »Ist das nicht die Ewig-
keit?« sagte Emanuel« (JP 1.1, 984f.).
Der Blick ins Unendliche, in die »Ewigkeit«, der dem Briefschreiber im »Umschlagtuch« noch versperrt schien, ist Viktor hier — zumindest schemenhaft — offen.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
79
Er und Emanuel sehen »ein weites dunkelglühendes Land aus Duft« und eine »helle, von uns abgekehrte Gestalt« — Klotilde, die ihren Blick ebenfalls »gegen Morgen,
gegen die hängende Landschaft« wendet. Durch Klotilde, die »Lieder voll sehnsüchtiger Wonne« singt, können Viktor und Emanuel nun das gelobte Land »ganz sehen« (alle Zitate: ebd.) — wenn auch nur für einen kurzen Augenblick und ohne daß das, was die Augen sehen, fixierbar wäre. Aller »drei Schatten« ist in diesem Augen-
blick auf die im Traum imaginierte zweite Welt »hinübergeworfen« (JP I.1, 986). Die schönen Seelen, so läßt sich der Traum deuten, sind zwar als irdische Existenzen
Teil dieser Welt, aber in ihrer Moralität sind sie bereits Teil der zweiten. Klotilde versteht natürlich sofort, was Viktor eigentlich sagen möchte:
Der Brief
enthält den »eingehüllten Wunsch, sie in Maienthal zu sehen« (JP I.1, 986), — und
um diesem Ziel näher zu kommen, nimmt Viktor mehr metaphysischen Ballast auf sich, als er tragen kann. Das Leben in zwei Welten, der sensiblen und der intellegi-
blen, das Viktor im Brief an Emanuel als unerträglich beschrieben hatte, wird in
diesem Brief als lebbar apostrophiert und indirekt nach Maienthal projiziert. Und als ob sie Viktors nachdenklichen Brief an Emanuel gelesen und für gut befunden hätte, lehnt Klotilde die Bitte (und mit ihr die phantastische Projektion der zweiten Welt nach Maienthal) ab und schreibt statt dessen: »Würdigster Freund! [//] Kein Mädchen ist vielleicht so glücklich als eine Dichterin; und ich glaube, hier in diesem aufgeschmückten Tale wird man zuletzt beides. Sie sind überall glücklich, da Sie so-
gar an einem Hofe ein Dichter sein können, wie mir Ihre schöne poetische Epistel beweiset. Aber die Phantasie malet gern aus Schminkdosen — das wahre Maienthal kann der Ihrigen nicht soviel geben, als Sie in die drei Landschaft-Blätter desselben
zu legen wissen. Sooft ich und Sie einerlei durch Dichtung ersetzen müssen: so ist bloß bei Ihnen der Ersatz größer als das Opfer« (JP I.1, 990f.). Klotilde betrachtet das Dichten, das beide ausüben, als eine Kompensation (durch Dichtung ersetzen«). Die Phantasie des Schreibenden entwirft von etwas
Bilder, die das Auge nicht sehen kann. Das »wahre Maienthal« und die in es projizierten Phantasien von der zweiten Welt haben nicht viel Ähnlichkeit. Im Gegensatz zu Klotildes Bildern — und hier liegt eine Kritik, die der Selbstkritik Viktors ungefähr entspricht — sind diejenigen Viktors »größer« als das, was sie beschreiben. Daß
Viktor auch am
Hofe
ein Dichter sein könne,
ist darüber
hinaus weniger
schmeichelhaft, als es klingt. Klotilde läßt durchblicken, daß seine Phantasie höfisch
geprägt ist: »Die Phantasie malet gerne aus Schminkdosen«. Die Schminke ist das sichtbare Zeichen der betrügerischen Technik der »Veredelung unser Charaktermasken« (JP 1.1, 803),2?7 wie sie am Hofe ausgeübt wird — und Viktor hatte einen lan-
gen Kampf auszufechten, bis Klotilde als Hofdame
keine Schminke
237 Zum Begriff der Charaktermaske vgl. Hörisch, Charaktermasken.
mehr tragen
80
Zweites Kapitel
mußte (vgl. den 24. Hundposttag). Seine Phantasie, obwohl eigentlich ein Vermögen des Inneren, hat, so die Kritik Klotildes, die Techniken
des Äußerlichen ange-
nommen und nimmt für ihre Bilder — statt Pinsel und Wasser — Schminke. Klotilde dagegen wird eine Dichterin, in deren Arbeiten poetische Darstellungen und Gegenstand übereinstimmen. Maienthal dient ihr nicht als Ausgangspunkt für Phantasmagorien vom Himmel auf Erden und vom Leben in zwei Welten, sondern, wie es sich Viktor im Brief an Emanuel eigentlich selbst gewünscht hatte, für irdische Handlungen. Der Erzähler weiß das zu würdigen:
»Aber ich will wieder so schreiben, wie Klotilde sprach, die den dichterischen Geist nur durch
Taten,
nicht durch
Worte
offenbarte,
gleich
Schauspielern,
die den
Reim und das Silbenmaß ihres Dichters im Sprechen zu umgehen wissen« (JP L.1, 1053). Der höchsten Kunst des Schauspielers, nämlich das, was Reim und Silbenmaß
bedeuten, auszudrücken, entspricht die größte poetische Leistung, die »Jean Paul« Klotilde zuschreibt, nämlich die Poesie der Worte in die Handlung umzusetzen, die
sie beschreiben. Und dieses Konzept erhebt auch der Erzähler zu seiner SchreibNorm. Er bezieht damit indirekt die Kritik, die Klotilde an Viktor (und dieser an sich selbst) übt, auch auf sich.
Die Phantasieleistungen nicht nur metonymisches sind darüber hinaus auch Maienthal als Himmel auf schreiben,
kann,
führt man
und Schreibweisen der beiden Protagonisten sind also Exempel (Ausdruck) der Schreibweisen des Autors, sie ein Moment der Reflexion und innerpoetischen Kritik. Erden, als ätherischen Körper für die schöne Seele zu bedie poetischen
Bilder nicht in die Praxis des mundus
sensibilis, eine Täuschung werden, die sich von der des Hofs nicht stark unterscheidet. Ästhetische Metamorphosen Siebenkäs’ Geschichte wird als Metamorphose in Einklang mit der Natur geschil-
dert: In frühneuzeitlicher Iradition der Analogisierung von Makro- und Mikrokosmos??® und ihrer Signaturen???” wird die Entkörperung und die Entwicklung des neuen Körpers der schönen Seele Siebenkäs’ in der Metaphorik organischer Zy-
238 7u Jean Pauls Kenntnis der Gedankenfiguren von Makro- und Mikrokosmos sowie der Me-
tapher des Buchs der Natur vgl. Esselborn, Universum, S. 275ff. 239 Vgl. den (in 7% 438 erwähnten) Croll, De Signaturis internis Rerum, S. 215 : »Von den Corespondentiis oder Vbereinstimmungen der Signaturen der grossen vnd kleinen Welt«. Hier werden Jahreszeiten und Wetter mit Krankheiten analogisiert. Irritierenderweise geht Ohly, Das Buch der Natur, obwohl er über das Buch der Natur bei Jean Paul schreibt, auf diese wichtige Traditionslinie
nicht ein.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
81
klen?*% wiedergegeben. Seine Ehe beginnt im Sommer.”*! Die Liebe stirbt wie eine Pflanze im Herbst und ist im Winter abgestorben (zur Zeit des Jahreswechsels,
der
keimt
die
größte
die neue
Krise
Liebe
in
der
Ehe
zu Natalie
darstellt).
in Bayreuth:
Im
Frühling,
»Denn
d.h.
der erste
zu
Ostern,
Genesungstag
des überwinterten Körpers ist die Blüthezeit einer schönen Seele« (7k 412). In der Phase der Entkörperung hatte sich Siebenkäs — statt seiner Frau Lenette — eine
»schöne,
weiche
Seele«
(7k 346)
gewünscht.
Diese
findet
er in Natalie.
Der
Höhepunkt der neuen Liebe ist im Frühling und Frühsommer des ersten Jahres, das endgültige Zusammentreffen wieder im Spätsommer des darauffolgenden Jahres. Der organische Kreislauf des Jahres wird bereits durch den Titel des Ro-
mans aufgerufen: »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke«. Die schöne Seele verliert ihren alten Körper und gewinnt einen neuen — wie eine Pflanze im Wechsel der Jahreszeiten, nur daß am Schluß dieser Metamorphose der »verklärte[] Leib[]« aus Äther steht. 2% Diese Entwicklung imaginiert Siebenkäs schon im Herbst des ersten Jahres: »Ach da im Freien, da in der Nachbarschaft vor dem Meere des unübersehlichen
Lebens und des hohen Himmels,
da zieht der blaue Kohlendampf unserer er-
stickenden Lage tief unter uns, da fallen die Sorgen wie Blutigel vom blutenden
Busen, da breitet der Erhobene die wundgedrückten losgeketteten Arme wie fliegend im reinen Aether aus« (7k 220). Die materiellen Sorgen haben körperli-
24 In Croll, De Signaturis internis Rerum, S. 230, wird die Entwicklung des Menschen auch als Analogie der Metamorphose gedacht: Da »Adler / Schlangen vnnd andern dergleichen Thiern« möglich ist, »jhre alte Haut alle Jahr ein mal ab[zu]legen«, »warumb sollte es dem Menschen / der nach Gottes Ebenbild erschaffen vnmöglich seyn?« 241 Textbelege: Zu Beginn des Sommers — man hat gerade einen »langen Sommertag« (7k 66) bzw. den längsten »Sommer und Montag« (7k? 66) erlebt — kommt Lenette an. Kurz darauf ist die Hochzeit. Die Injurie mit Blaise beginnt am 20.8.1785 (7k 83). Bis Michaelis (28.9.1785; 7& 111)
ist die Ehe zwischen Siebenkäs und Lenette noch in Ordnung. Die Krise beginnt im Herbst und ist zwischen »Martini-Tag« (11.11.1785) und Andreas-Iag (30.11.1785; 7k 224; 226) bereits im Gan-
ge. Der Höhepunkt der Krise ist um den Jahreswechsel herum (7% 299). Danach ist, wie der Erzähler betont, innerliche und äußerliche Frostzeit (7k 319). Erste Frühlingsboten zeigen sich an Lenettes Geburtstag, dem »11 Feb« (7% 325). Wirklich Frühling wird es jedoch erst in der »Österwoche« (7% 341), in der Siebenkäs Leibgebers Einladung nach Bayreuth erhält und kurz danach abreist. Mit der Frühlingsreise kann Siebenkäs endlich seinen emotionalen »vorige[n] Winter« hinter sich lassen wie den »düstere[n] zugefrorne[n] Südpol« (7k 344). Das erste Treffen mit Natalie ist am 7.5.1786 (7k 346). D. h.: Während der paradiesischen Zeit mit Natalie ist es — wie bei seiner Hochzeit — Frühling und Frühsommer. In den Hochsommer fällt der Scheintod und die darauffol-
gende erneute Reise nach Bayreuth (7% 453 bringt Sommerbeschreibungen, 7k? 453 präzisiert: »August«). Die schmerzensreiche Trennung von Natalie dauert — der Logik der Jahreszeiten entsprechend — den Herbst und Winter des Jahres 1786 über an. Erst im neuen Jahr (1787; Natalie hat zwischenzeitlich einen »Neujahrswunsch« [7% 471] an sich selbst geschrieben) und zwar wiederum im Sommer (noch genauer: kurz vor der Erntezeit; es gibt »Kornähren«;7k 482) kommt es zum zweiten Zusammentreffen der beiden. 242 Bonnet, Betrachtungen, S. 85.
82
Zweites Kapitel
che
Materialität:
Blutigel
und
»wundgedrückte[]
[...]
Arme«.
Der
Körper
als
Medium dieser Sorgen fällt ab (wird »losgekettet[]«), so wie die mit dem Körper parallel gedachte Welt im »Kohlendampf« verschwindet. Statt dessen erscheint der »reine [JÄther« — eine sphärische bzw. quasikörperliche Umhüllung der schönen Seele. Eine ähnliche Entkörperungs-Phantasie, wiederum in der Natur, hat Siebenkäs im
Februar — auf der »Anhöhe«, wo er und Leibgeber sich damals trennten: »Plötzlich
war ihm — und Menschen von Phantasie begegnet es oft, und sie werden daher leichter schwärmerisch — als wohne sein Leben, statt in einem festen Herzen, in einer warmen,
durch
eine
weichen
Zähre,
Kerker-Fuge
und
hinaus
sein beschwerter
und
zerlaufe
Geist dränge
zu einem
Tone,
sich schwellend
zu einer
blauen
Aetherwelle« (7k 324). In und durch die Phantasie wird der Körper weich und durchlässig wie eine Träne, so daß der Geist aus ihm in einer »Ätherwelle« entweichen kann.
Die Hoffnung auf den Ätherkörper wird von Siebenkäs auf Bayreuth projiziert: »Unter diesem Glanze betrat er das Lustlager und die Residenzstadt seines Geliebten, und alle Gebäude kamen ihm wie schimmernde, aus dem Äthergesunkne, festere Luft- und Zauberschlösser vor« (7k 349). Schließlich wählt Siebenkäs die ent-
scheidende Formulierung in bezug auf den Äther, wenn er — während des Scheinsterbens — seine Vision vom zweiten Leben verkündet: »Und dasists eben, was mich an euch bethörten und uneinigen Sterblichen ewig tröstetund freuet, daß ihr euch alle herzlich liebet, wenn ihr euch nur in reiner menschlicher Gestalt erblickt, ohne Binden und Nebel — daß wir alle nur erblinden,wenn wir fürchten, daß wir erkalten, und daß unser Herz, wenn der Tod unsereGeschwister über das Gewölke unserer Irrthümer hinausgehoben, selig undliebend zerfließet, wenn es sie im durchsichtigen Aether, ohne die Entstellungder hiesigen Hohlspiegel
und Nebel, als schöne Men-
schen schweben sieht,und seufzen muß: ach in dieser Gestalt hätt’ ich euch nie verkannt« (7k 430)! Die Argumentation
ist hier wieder
(pseudo-)platonisch.
Die
irdische Wahrneh-
mung des Menschen im Körper ist unzulänglich. Sie gibt nur einen verzerrten Blick auf die Seele des Menschen frei (die Verzerrung ist ausgedrückt durch die Metapher der »Hohlspiegel«; s. das Kapitel »Die Wunder der Optik in der Außenwelt«). Erst wenn die schönen Seelen den physiologischen Körper abgelegt haben und statt seiner in den
»durchsichtigen Aether«
gehüllt sind, kann
man
sie als »schöne
Men-
schen« erkennen.
Die Rede ist im höchsten Maße doppeldeutig. Die Zuhörenden — außer Leibgeber — denken
natürlich, daß Siebenkäs von der zweiten Welt nach dem
Tode spricht.
Siebenkäs lügt jedoch nicht, wenn er diese nicht meint (und scherzt auch nicht, wie Leibgeber). Er spricht von der — angeblich durch Bonnet und Platner garantierten — Möglichkeit, den himmlischen Ätherkörper schon auf Erden zu besitzen. Durch die
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
83
Inszenierung des Scheintods kann Siebenkäs diese Metamorphose tatsächlich durchzuführen.?* Der neue Körper ist die gelebte Liebe mit Natalie, die eigentlich nur nach dem
Tode Wirklichkeit werden kann. Natalie schwärmt in der ersten »Liebesnacht ın
Bayreuth: »[...] auf eine solche Nacht müßte kein Tag kommen, sondern etwas viel schöneres, etwas viel magischeres, etwas viel erhabneres, was das durstige Herz be-
friedigt und das blutende verschließt.« — »Und was ist das? fragt’ er. — »Der Tod!« (sagte sie leise.) Sie hob ihre strömenden Augen auf zu ihm und wiederholte: »edler Freund, nicht wahr der Tod?« (7k 383). Dieses Schicksal ordnete Richter schon als
junger Empfindsamer den schönen Seelen zu: »Nach diesem Leben« wird »deine Geliebte deine Freundin sein, und ihre schöne Sele auch one den schönen Körper geliebt werden« (JP 1.1, 305), heißt es in den Rhapsodien. Das Wiedersehen mit Natalie, ungefähr ein Jahr später, ist interessanterweise wie-
derum ein kleiner Scheintod (nur mit verkehrten Rollen): Natalie hat, als Siebenkäs
sie am Grabe trifft, einen Ohnmachtsanfall, der einer Totenstarre gleicht. Sie ist »ins Eis des Todes eingefroren«, und der Erzähler spricht davon, daß sie »gegen ihn [Sie-
benkäs] hinstarrete«. Ihr Gesicht hat eine totenähnliche Farbe angenommen (vor dem Herbstathem des Todes waren die Lippen und Wangen mit weißer Schmincke angelaufen«) und ihr Blick ist der einer Toten, der nur noch die Augen geschlossen
werden müssen (»die offenen Augen« sind »erblindets; alle Zitate: 7k 487). Siebenkäs will, nachdem
Natalie durch Wiederbelebung
wach
und lebendig ist,
seinerseits sterben, um so, wie sich die beiden das geschworen haben, die radikale Form des Lebens der schönen Seelen, das Leben nach dem Tod, zu wählen: »Leb’ aber wohl! Bei Gott, ich werde doch einmal im Ernste sterben — und dann erschein
ich Dir wieder; aber nicht wie heute, und nirgends als in der Ewigkeit. Dann will ich zu Dir sagen: »o Natalie, ich habe Dich drunten mit unendlichen Schmerzen ge-
liebt: vergilt mirs hier!« (7% 487). Doch das ist alles nicht nötig. Auch das Grab, an dem beide sitzen, ist nur ein Stadium der Metamorphose,
ein »Kokons-Grab[]«, dem Siebenkäs nur »zueilte, um
daraus als frischer Inspektor aufzufliegen« (7k 396). Siebenkäs kann nun seine »Hoffnung einer künftigen Gesellschaft, oder einer jetzigen unsichtbaren« (7% 466) wahr machen. Auch hier wird bis in die Wortwahl hinein die Rousseauisch moti-
vierte kleine »Gesellschaft« der Liebenden mit dem »unsichtbaren« oder »künftigen« Körper als letztem Stadium der Präformation (nach Bonnet) enggeführt. Die Metaphorik aus dem Bereich der Präformation wird auch mit anderen Leitfiguren kombiniert, z. B. der Befiederung der (schönen) Seele aus dem Phaidros. Als sich Siebenkäs in Bayreuth,
für ihn ein Vorort des Paradieses, befindet, wird seine
243 Schulz, Siebenkäs, $. 229, weist darauf hin, daß der Scheintod auch die Auferstehung Jesu Christi konnotiert.
84
Zweites Kapitel
Leib-Seele-Konstitution so beschrieben: »Er mochte die Flügel, die sich gestern zum
erstenmal feucht außer der Puppe ausgedehnet hatten, zusammenlegen wie er wollte, sie blieben immer länger als die Flügeldecken« (7% 386). Auch hier ist das Gefieder der Seele (bei Jean Paul bzw. Richter seit den Satiren: »Flügel«), das nach Plato zur Schau der Ideen bemächtigt (und in der Liebe wächst), gleichzeitig Teil einer
Metamorphose (»zum erstenmal feucht außer der Puppe ausgedehnet«). Nach dem gleichen Prinzip arbeitet auch folgende Beschreibung von Siebenkäs: »Es war eine neue Erde, er ein neuer Mensch,
der durch die Eierschale des Sarges
mit reifen Flügeln durchgebrochen war« (7k 453).?* Etwas später wird die Leibniz-
sche Präformationstheorie (Monadologie $ 72) als Metapher für Siebenkäs’ Zustand benutzt. Dieser äußert sich kurz vor dem Scheintod so: »Die grüne Hülse hält nicht meine Dryade, meinen spiritus rector (den Geist) zusammen, sondern er sie — das
Leben des Körpers hängt eben so sehr vom Geiste als er von jenem ab. — Ueberall drängt sich Leben und Kraft; der Grabeshügel, der modernde Leib ist eine Welt voll arbeitender Kräfte — wir vertauschen die Bühnen, aber wir verlassen sie nicht« (7% 415).
»Der modernde Leib ist eine Welt voll arbeitender Kräfte« — der Körper, die Materie ist nach der Definition Leibniz‘ Hort unzähliger moralisch und epistemisch minderwertiger Monaden, die zusammen mit dem spiritus bzw. der Seelenmonade (hier: »spiritus rector«) eine Entelechie darstellen. Aber auch die Seelen- oder Geistmonade bedarf des neuen Körpers: »Das Leben des Körpers hangt eben so sehr
vom Geiste als er von jenem ab«. Die Seele kann niemals körperlos sein (Monadologie $ 73), auch wenn sie den alten abgeworfen hat, bleibt ihr der innere oder ätherische Körper (ergänzt Jean Paul).
Das Stichwort »Bühnel[]« im obigen Zitat macht deutlich, daß die Erschaffung des neuen Körpers ein Akt empfindsamer Literarisierung der Wirklichkeit ist. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum in der Literatur,% Siebenkäs wäre lediglich ein Humorist. Er
verhängt zwar zu Beginn des Romans »sein schönes Herz mit der grotesken komischen Larve«, aber im weiteren Verlauf setzt sich immer mehr seine »von allen Verhältnissen entfesselte[] freie[] Seele« (7% 286) durch, so daß auch die komische Larve
in der Metamorphose abgeworfen wird. Die Kulmination der Ehekrise an den Tagen der Jahreswende verändert Siebenkäs
Haltung zum Humor grundsätzlich. Er ist jetzt nicht mehr in der Lage, das Leiden 244 Die Metamorphose des Tods ist schon im Frühwerk - allerdings ohne das platonische Element — vorhanden. Vgl. JP II.1, 577: »Um den Lehrsaz [...] von der Auferstehung der Toden we-
nigstens eine kleine Verschönerung zu leihen, könte man so sagen: gleich den meisten Raupen, kriecht der Mensch eine Zeitlang auf der Erde umher, wird dan von der Erde in der hölzernen Ver-
puppung des Sarges aufgenommen, ruhet da einen Winter, durchbricht endlich am Frühling die Puppe, und flattert aus der harten Erde mit neuen und unverletzten Schönheiten hervor«. 2455 Vgl. Berend, Typus, S. 108; Kommerell, Jean Paul, S. 335ff; Profitlich, Eitelkeit, Durzak, Siebenkäs, S. 131, und Och, Der Körper, S. 208.
S. 31;
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper mit Humor
zu kompensieren,
85
statt dessen erkennt er die verfremdende
Funktion,
die diese »Larve« einnimmt. Am Neujahrsmorgen, der auf die heftigsten Szenen des Streits folgt, beschreibt Jean Paul das innere Leiden seines Helden so: »O wie war alles so anders, so kalt, so tödlich kalt! — Ich muß
es irgendwo anders
[...] ausfüh-
ren, warum und wie nach — denn dem Anschein nach ist gerade das Widerspiel zu vermuthen — seine satirische Ader eine [sic] Ferment oder eine Wässerung für sein empfindsames Herz abgab, dessen er sich zugleich freuete und schämte« (7k 313).
Die innere Kälte kommt für den Erzähler unerwartet. Bisher hatte Siebenkäs seiner seelischen Verstimmungen
dadurch
Herr werden
können,
daß er sie in der Satire
potenzierte (»Ferment«) oder verwässerte. Die humores bildeten in diesem Zusam-
menhang eine Art homöopathischen Korrektivs zum »empfindsame[n] Herz«. Doch das Medikament hat seine Wirkung verloren. Die von Jean Paul versprochene Stelle (virgendwo anders«), an der er das Verhältnis von Humor und Empfindsamkeit näher ausführen will, folgt im elften Manipel. In seinem Tagebuch, dem sogenannten »Abendblatt« (7k 334), schreibt Siebenkäs:
»Ich hasse die Empfindelei, aber das Schicksal hat sie mir fast endlich eingepfropft, und das satirische Glaubersalz, das man sonst mit Nutzen dagegen nimmt — wie Schaafe, die von nassen Wiesen Lungenfäule haben durch Salzflecken aufleben — nehm’ ich aus Vorleglöffeln [...], aber ohne merklichen Vortheil ein. Im Ganzen
thuts auch wenig: das Schicksal wartet nicht, wie die peinlichen Schöppenstühle, mit der Hinrichtung von uns Inculpaten auf unsere Genesung. Mein Schwindel und andere apoplektische Vorboten sagen mir zu, daß man mir gegen das Nasenbluten dieses Lebens bald den guten galenischen Aderlaß [Fußnote: »so heißer ein bis zur Ohnmacht getriebener«] verordnen werde. Ich will es deswegen nicht eben haben; mich kann im Gegentheil einer ärgern, der verlangt, das Schicksal soll ihn, wie eine Mutter das Kind — da wir in Leiber eingewindelt und die Nerven und Adern die Wickelbänder sind — so fort aufbinden, weil es schreiet und einiges Leibreißen hat. Ich würde noch gern einige Zeit ein Wickelkind unter Strickkindern [...] bleiben,
zumal da ich besorgen muß, daß ich in der zweiten Welt von meinem satirischen Humor geringen oder keinen Gebrauch werde machen können« (7k 335f.). Die Krankheit der »Empfindelei« manifestiert sich in körperlichen Beschwerden:
»Leibreißen«. Die empfindsame Seele selbst ist nicht krank. Sie wird es nur — hier wird die Metaphorik der Loge aufgenommen — durch einen zu engen Körper aus »Nerven und Adern«. Die Immunität gegen die satirische Arznei wird nochmals bestätigt (Siebenkäs nimmt das »satirische Glaubersalz [...] ohne merklichen Vortheil«) und ein neues Heilmittel erwogen: »del[r] gute[] galenische[] Aderlaß« — eine Heilmethode,
bei der der Patient für eine Zeit wie tot ist, weil er »bis zur Ohn-
macht« getrieben wird. Doch der Scheintod hat für Siebenkäs nichts mehr mit Humor zu tun. Weil er auch »in der zweiten Welt« von seinem »satirischen Humor geringen oder keinen
86
Zweites Kapitel
Gebrauch [...] machen« kann (ebd.), will Siebenkäs bereits im Vorspiel in der ersten
Welt die nötigen Vorkehrungen für einen Wechsel der Schreibweise treffen. Für die neue Therapie bedarf es nicht mehr der satirischen Weltverlachung, sondern der empfindsamen Selbstbeobachtung im Abendblatt. Daß veröffentlichte Selbstbeobachtungen einen therapeutischen Effekt haben können, konnten Siebenkäs bzw. Jean Paul von ihrem Vorbild Karl Philipp Moritz lernen, der in den Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre »eigne wahrhafte Lebensbeschreibungen, oder Beobachtungen über sich selber« aus »dem Innersten der Seele herausgehoben«
nicht nur für die Wissenschaft forderte, sondern zugleich als
Mittel gegen den »eignen besondern Kummer« pries.”*° Auch Siebenkäs denkt mit dem Abendblatt, wie dessen Name verrät, an eine Veröffentlichung (zumindest an eine Veröffentlichbarkeit).
Um den poetologischen Stellenwert der Texte Siebenkäs hervorzuheben, fügt die zweite Auflage ein Argument hinzu, das Richter bereits in den Satiren und in der Loge verwandte. Siebenkäs »schloß [...] auf immer sein Abendblatt, wie er sein Tagebuch nannte, weil ers abends schrieb, um dasselbe und seine Teufels-Papiere — so
weit sie fertig waren — statt seines bald verfliegenden Körpers nach Baireut in Leibgebers treueste Hände zu bringen, welche ja doch lieber, dacht’ er, nach seiner Seele
— die eben in den Papieren wohnte — greifen würden als nach seinem dürren Leibe« (7k? 334). Die entkörperte freie Seele, die sich von ihrem alten, »dürren Leibe« (ge-
meint ist der soziale Körper in Kuhschnappel und die Ehe mit Lenette) getrennt hat, hat bereits einen neuen Körper gefunden und »wohnt[]« nun in den »Papieren« des
Abendblatts. Die schöne Seele betrachtet sich selbst und erstellt sich mit den aus der Betrachtung entstehenden literarischen Produkten einen ihr adäquaten Körper. Dieser Gedanke wurde im Roman schon vorbereitet. Der Erzähler sagt über den Trost, den sich Siebenkäs zuspricht: »Sprecht hier nichts gegen das dünne Spinnengewebe, das uns und unser Glück trägt; haben wir es aus unserem Innern gesponnen
und herausgezogen wie die Spinne ihres, so hält es uns auch ziemlich, und gleich dieser hangen wir sicher mitten darin, und der Sturmwind weht uns und das Gewe-
be unbeschädigt hin und her« (7% 317). Wie die schöne Seele Siebenkäs den Trost aus sich heraus entwickelt, so spinnt sie auch ihren seelischen Faden zu einer emp-
findsamen Textur oder Verpuppung um sich herum. Der Gedanke findet sich bereits in der ersten Auflage der Loge, wo der Seele »dreifacher Überzug« nicht nur aus »Körper[]« und »Kleider[n] besteht, sondern auch aus »Worte[n]« (Zoge 279). Diese
Vorstellung wird auch in der Vorschule aufgegriffen, wo Jean Paul die »Sprache« als das »zweite[] Seelenorgan[]« (JP 1.5, 307), d. h. als den zweiten ätherischen Körper,
bezeichnet. Ebenso in den frühen Satiren: Über die angeblich Stahlsche Theorie, daß sich »die Seele [...] im Mutterleibe selbst« ihren »Körper« zimmere und dieser 246 Moritz, Werke, Bd. III, S. 89; 92; 94.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
87
Körper auch noch aus selbstverfaßter Literatur bestehe, hatte sich Richter bereits in
den Teufelspapieren lustig gemacht (JP II.2, 160; s. das Kapitel »Teuflische Methoden«). Siebenkäs,
der Zweitautor
der
Teufelspapiere, hat diese Satire wahrscheinlich
am
Anfang des Jahres geschrieben. Nun aber, kaum ein Vierteljahr später, ist das, was eben noch satirisch verlacht wurde, ernst geworden.?*’ Denn
der Scheintod, mit
dem Siebenkäs seinen alten Körper abwerfen und den ätherischen hervortreten lassen wird, ist ein durch und durch literarisches Phänomen. Es handelt sich im Gegensatz zu den früheren Romanen nicht mehr um kleinere Textstellen, die das Interpretament für den großen Text liefern. Vielmehr inszenieren sich Leibgeber und Siebenkäs in diesem Falle ihren Roman selbst. Siebenkäs verfolgt noch am Anfang des Romans wie Viktor (JP I.1, 653) das Konzept des Theaters im Kopf. Bei seiner ersten Reise nach Bayreuth kommt ihm das »Leben« immer »theatralischer« vor: »seine Bürden wurden Gastrollen und aristotelische Knoten — seine Kleider Opernkleider — seine neuen Stiefeln Kothurne — sein Geldbeutel eine Theaterkasse — und eine der schönsten Erkennungen auf dem Theater bereitete sich ihm an dem Busen seines Lieblinges zu ...« (7k 344; Punkte
im Original). Eine Entsprechung dieses Gedankens vom Theater im Kopf findet sich in Jean Pauls literaturtheoretischer Schrift Über die natürliche Magie der Einbildungskraft. Dort heißt es: »Dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremde Schmerzen sind ihm süße der Illusion [...], das
Schicksal ist der Theaterdichter, und Frau und Kind sind die stehende Truppe« (JP 1.4, 198). Theatrum mundi und theatrum animae stehen in einem engen Verhältnis. Der Dichter kann als Regisseur seines Seelentheaters zwar die Wirklichkeit dramatisieren, doch ist ihm der Text vom Schicksal — wie dem stoischen Schauspieler im Welttheater — fest vorgegeben. Weiterhin bleibt die »Nicht-Ausstiegsklausel.* und die Trennung von Rolle und Spieler wie beim großen Welttheater bestehen: »und der, für den das äußere (bürgerliche, physische) Leben mehr ist als eine Rolle: der ist ein Komödiantenkind, das seine Rolle mit seinem Leben verwirrt« (JP I.4, 198). War bei den Stoikern das Leben ein Theater-Spiel Gottes (und der Tod das Ende
des Spiels), so ist bei Jean Paul das Seelentheater ein Spiel mit ebenso fest vorgegebenen Regeln. Wer die Rollenhaftigkeit des Daseins (bzw. die Fiktionalisierung durch die Phantasie) anzweifelt, »verwirrt« die Spielebenen. Die strengen Analogien
zwischen Seelen- und Welttheater sind nicht verwunderlich. In der Metaphysik Jean
247 Zur neuplatonischen Wurzel dieser zeitgenössischen Gedankenfigur vgl. Vf., Vita longa. 248 Vgl. Epiktet, Handbüchlein, Kap. 17: »Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist«.
88
Zweites Kapitel
Pauls ist die Phantasie das Verbindungsglied zur zweiten Welt und gehorcht also auch deren Regeln. Auch die literale Bedeutung des Begriffs theatrum mundi spielt im Siebenkäs eine wichtige Rolle. Dies wird nicht nur in Formulierungen wie der von der »Erde« als dem »Nazionaltheater der Menschheit« (7% 249) oder der von dem »Schauspieler im Schuldrama der Erde« (7% 214) deutlich, sondern im »Nachschreiben von Jean Paul«
metaphysisch
untermauert:
»Es giebt schauerliche Dämmerungs-Augenblicke
in
uns, [...] — das Theater des Lebens und die Zuschauer fliehen zurück, unsre Rolle
ist vorbei, wir stehen weit im Finstern allein, aber wir tragen noch die Theaterkleidung und wir sehen uns darin an und fragen uns: »Was bist du jetzo, Ich?« (7% 163). Hier werden alle Momente der stoischen Gedankenfigur”*’ noch einmal zusam-
mengeführt und auf die Metaphysik der schönen Seele übertragen: Körper, körperliche Gegenstände und andere Menschen gehören zum Spiel-Inventar der Vorstellung mit dem Titel »Erste Welt«. Nur die Seele, das »Ich«, tritt nach der Vorstellung ab. Sie befreit sich von Kostümen und Requisiten, verläßt die Kulissen und geht in die reale »Zweite Welt«.
Das Theater im Kopf wird — wenn der Scheintod inszeniert wird — zu einem realen??° (und verwandelt sich dabei zugleich von einer 'Theorie-organisierenden Metapher zum Plot-Generator): Der »Vorhang des Trauerspiels« (7 426) geht im zwanzigsten Manipel auf. Leibgeber führt Regie (er »regiert[]« und hat »schon vor vielen Wochen alle Kulissen und Szenen des Vexier-Sterbens mit der Phantasie erschöpfend ausgewandert«; 7k 366) und spielt, da Siebenkäs ein »müdelr] Figurant[] und Mimiker des Todes« ist, auch noch fast alle »Lügenrollen« selbst (7% 440). Der Tod schließlich ist der »fünfte Akt« (7% 426); das Überlegen der Totenmaske ist »die große Szene« (7k 442) — und Leibgeber wird sogar (wenn auch metaphorisch) »beklat-
schet« (7k 444). Zum Schluß gibt es noch einen Epilog, die Leichenrede, in der nun Siebenkäs (da er als Schauspieler nicht mehr gebraucht wird) den »Souffleur[]« (7% 452) machen soll. Das Theater der Phantasie ist keine Entmachtung
des Schicksals, sondern
folgt,
wie anhand des Einbildungskraft-Aufsatzes gezeigt, dessen Text-Vorgabe. Die Geschichten, die Siebenkäs und Leibgeber spielen, sind nicht willkürlich, sondern fol-
gen den gleichen Regeln wie das Welttheater. Der inszenierte Scheintod ist nur eine 249 Vgl. auch Seneca, Briefe an Lucilius, Brief 77.20. Die beste Darstellung der stoischen Auseinandersetzung mit dem theatrum mundi findet sich bei Christian, Theatrum mundi, S. 11-23.
250 Stärker als
P H. Neumann, Vorgriffe, lese ich den Scheintod als literarische Illusion und
nicht nur als Täuschung. Weitere Momente der Theatermetaphorik bei Bachmann, Umschaffen der Wirklichkeit, S. 111ff. Zur Verwendung der Metapher allgemein vgl. Mauch, Theatermetapher; Döll, Rollenspiel, und Schmitz-Emans, Dramatische Welten. Der Bezug auf die stoische Metaphysik, die mit dem Motiv des theatrum mundi verbunden ist, fehlt allerdings in allen drei Studien.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
89
»Einschiebetragödie, die in der Tragödie des Lebens selber nur eine Szene ist« (7k 427). Wie der Mensch in der fatalistischen Lehre der Stoa seinen Willen an den Aöyog lediglich angleichen kann,??! so ist auch das T'heater seiner Phantasie nicht
mehr als eine Angleichung an das stoisch dahinlaufende Welttheater. Der inszenierte Scheintod und die darauf folgende Inszenierung des irdischen Lebens nach dem Tode folgen den Regeln der großen Metaphysik.
Humoristische Ko-Therapie und Parodie der Therapie Von der humoristischen Diätetik zur Abbindung der körperlichen Warzen »Eine gewisse Person, die fast alle 14 Tage nachlieset, was ich geschrieben, ist sati-
risch und fragt mich, auf welchem Bogen [...] der fernere Liebeshandel zwischen Paul und Beata bearbeitet werde — sie fragt ferner, obs dem Leser schon erzählt ist,
daß der kokettirende Paul Verse, Siluetten, Bouquets und Adagios seitdem gemacht, um sein Herz auf diesen Deserttellern, auf diesen durchbrochnen Compotieren, in
diesen Konfektkörbgen zu bringen und zu präsentieren« (Loge 259). »Herzens-Sachen« kann man, wenn
man
über die »boshafteste Geschicklichkeit«
verfügt, »falsch [...] stellen«, d. h. ganz anders verstehen, als sie der Liebende meint.
Über diese Gabe verfügt Dr. Fenk und liest - als Wink mit dem Zaunpfahl für den »Leser« — die Texte, die der Erzähler geschrieben hat, noch einmal »satirisch« gegen. Die Fragen, die sich aus dieser Gegenlektüre ergeben, zielen darauf, ein nicht ver-
schwiegenes, aber auch nicht hervorgehobenes Wissen »der Welt« darzustellen: das erotische Interesse des Erzählers »Jean Paul« an Beata. Dieses Interesse hervorzuheben, ist deswegen boshaft und satirisch, weil es den
»Jean-Paulschen« Gestus der sympathetischen Teilhabe an der Liebe von Gustav und Beata — eine conditio sine qua non des empfindsamen Erzählens — als vorgeschoben entlarvt. Obwohl der Erzähler heuchelt, vor »Freude« über das Glück von Gustav und Beata kaum zu dessen »Beschreibung [...] gelangen« zu können
(Loge 431),
streut er unterderhand, d. h. in die Digressionen der »Extrablätter«, ein, daß auch er
Beata begehrt. »Ich hatte vorgehabt, gegen Abend nach Monds Aufgang etwas sentimentalisch zu seyn in Beiseyn von Beaten, da sie mir ohnehin der Hof entriß; ich
weiß gewiß, ich hätte hinlänglich empfunden und gefühlt; ich würde unter einem Schatten oder Baum mein Herz hervorgenommen und gesagt haben: prenes [sic. Gemeint ist: »prenez«]; ja ich schien sogar heute Beaten mir weit näher heranzuzie-
hen als sonst, welches bei allen Mädchen gelingt, mit deren Eltern man die Ge251 Vgl. SVF
II, 975; Seneca,
Stoische Ethik, S. 110f.
Briefe an Lucilius, Brief 107.10.
Zur Forschung
vgl. Forschner,
90
Zweites Kapitel
schäfte theilt. — — Das war nun sämtlich zum Teufel; ich mußte kalt und zähe davongehen wie ein Kammergerichtbote und empfand schlecht« (Loge 223f.).
Empfindsamkeit, gibt hier der Erzähler ganz nebenbei zu Protokoll, ist eine Technik, um Frauen zu verführen. Mit dieser Aussage wird die gesamte empfindsame Schreibweise des Romans satirisch in Frage gestellt. Wer als Privatperson Empfindsamkeit heuchelt (und dies auch noch zugibt), der wird dies beim Schreiben ebenso tun. Doch die Selbstdenunziation des Erzählers bzw. die Denunziation des Erzählers
durch Fenk haben ein System. Die Empfindsamkeit ist, so der Erzähler weiter, perennierend kaum zu ertragen. Sie bedarf des satirischen Ausfalls, der — temporären —
Infragestellung ihrer metaphysischen und ästhetischen Prinzipien: »Muß ich nicht, wenn ich so in die Athmosphäre [sic] gerathe, aufspringen, durch die Stube zirkulieren und mitten in den zärtlichsten oder erhabensten Stellen abschnappen und die Stiefel an meinem Beine wixen, oder den Hut und Hosen auskehren, damit es mir nur den Athem nicht versetzt, und doch wieder mich daran machen und so auf eine verdammte Art zwischen Empfindsamkeit und Stiefelwixen wechseln« (Loge 390f.)? Der Erzähler »Jean Paul« klagt laut, daß die »verdammten Kunstrichter« (Loge
391) nicht verstehen, daß die Dichter an der von ihnen selbst produzierten Empfindsamkeit, wird sie nicht unterbrochen, sterben. Sterben wird der Erzähler sicher nicht — diese Übertreibung kann nur ein »Alypochondrist« (Loge 405) machen. Dieser kennt sich jedoch — aufgrund seiner Selbsttherapierung durch medizinische Lektüre (er liest Hallers »große[] und kleine[] Physiologie« und »Nikolars materia medica«; Loge 329) — in Sachen Diagnose sehr gut aus. Vielleicht ist es auch nur Intuition: Nach Zückert entwickeln die Kranken ihre Diätetik oft am besten selbst.” Wie dem auch sei: In keinem der beiden Fälle verwundert es, daß der Arzt Dr. Fenk
»Jean Paul« wenige Seiten später etwas ganz ähnliches verordnen wird, wie dieser sich selbst: die »Bewegung des Körpers« (Loge 409), damit er seinen »armen Leib«, der am »Studierfelsen« (Loge 409f.) angesogen war, »wieder in integrum [...] resti-
tuieren« (Loge 409f.) kann. Jean Pauls »Krankheit« ist der »Herzpolyp[]« (Loge 390f.) — also die Gewebewuche-
rungen des empfindsamen Herzens. Fenks dagegen verordnete Therapien, »Recepte« (Loge 405) und »Arzneien« (Loge 160)??? lassen sich auf einen Nenner bringen: Sie sind »satyrisch[]« (ebd.) bzw. »Satyren« (Zoge 405). Mit seiner »Diätetik« (Loge 409),
dem Verweis auf die Bedingungen des Körpers, wird Fenk notwendigerweise zum Satiriker, weil er so die höchsten Ideen des Geistes unterläuft und lächerlich macht.
Jean Paul greift hier auf historisches Material zurück: Der »heitere Arzt« ist Teil der 252 Vgl. Zückert, Medicinisches Tischbuch, S. 6f.
253 Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, berücksichtigt lediglich die Krankheitsseite der Romane Jean Pauls und übersieht die Therapien. Unverständlicherweise verneint sie darüber hinaus, daß die »somapathologischen Prozesse« die »Sinnstruktur« der Romane trügen (S. 183), obwohl das eindeutig der Fall ist.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
91
karnevalistischen Tradition und ihrer Renaissance in der frühneuzeitlichen Satire (insbesondere bei Rabelais).?°? Jean Paul spielt aber zugleich auf eine im 18. Jahrhundert bestehende Diskussion
über Diätetik an (in Zimmermanns Von der Erfahrung der Arzneykunst oder der Diät für die Seele, im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, ın Zückerts Medicinischem Tischbuch [auf das Jean Paul in Loge 356 selbst hinweist], später auch in Hufelands Makrobiotik), die sich stark an der antiken Diskussion orientiert.?? Bei der Erörterung,
welche
körperlichen
Voraussetzungen
der
Gesundheit
der
Seele
zuträglich
sind, werden bei jedem der Autoren die von Galen in De Sanitate Tuenda so genannten res non naturales (Licht und Luft; Essen und Trinken; Bewegung und Ruhe; Schlafen und Wachen; Stoffwechsel und Ausscheidungen; Gemütsbewegungen) durchbuchstabiert und auf die psychischen Krankheiten der Zeit — die »Hypochondrie, das hysterische Übel«?5° und andere Gelehrten-Malaisen??” — angewandt. Da, wie Zimmermann betont, die »meisten Menschen fast mehr mit dem Leib als mit der Seele denken«,?°® muß man für seelische Krankheiten am Körper ansetzen (ohne
deswegen die Seele auf den Körper zu reduzieren). Die Argumentation der meisten Diätetiken läuft dabei auf ein Plädoyer für den Ausgleich der Kräfte und eine »Enthaltsamkeit«”°? hinaus.
Auch Fenks diätetische Ratschläge — die Abstimmung der Therapie auf den einzelnen? und das Hervorheben der dritten der res non naturales (Bewegung) bei der Hypochondrie?°! — finden sich in der Debatte über Diätetik wieder. Bei Zimmermann führt der »Mangel der Leibesübung« nicht nur zu »Verstopfung« und »Bauchflüsse[n], sondern auch zu »mannigfaltige[n] Zufälle[n] in den Nerven«.?%
Der Unterschied zwischen Fenk und der paramedizinischen Debatte ist jedoch der, daß »Jean Paul«
nicht Maß
zwischen den Extremen
halten soll. Vielmehr
sollen
Empfindsamkeit und Humor als Extreme verbunden werden, so daß zum Schluß eine Lebensweise und eine Schreibweise — aber in Alternanz — entsteht. So macht es Fenk
selbst: »Warum sind die meisten Einwohner dieses Buchs gerade Fenks Freunde? — aus zwei recht vernünftigen Gründen.
[Es]
[...] verquickt sich das humoristische
Quecksilber, das aus ihm neben der Wärme
des Herzens glänzt, mit allen Karakte-
ren am leichtesten« (Loge 256).
254 Vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 220ff., und, ihm folgend, Butzer, Pac-man, $. 239. 255 Vgl. hierzu: Benzenhöfer, Leben und Werk. 256 Zimmermann, Von der Diät, S. 104ff. 257 258 259 260
Vgl. Zimmermann, Von der Erfahrung, S. 481. Ebd., S. 41. Magazin für Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, S. 83. Ebd.
261 Zimmermann, Von der Diät, S. 104. 262 Zimmermann, Von der Erfahrung, S. 481.
92
Zweites Kapitel
Das Bindemittel der Extreme ist die »Toleranz«. Mit ihr läßt sich das »Schöne« und das »Komische«
(ebd.) miteinander vereinen. D. h., der Satiriker kann nicht
nur die übermäßige Empfindsamkeit heilen, sondern dabei zugleich seinen eigenen Jugendsünden ausweichen: Die Diätetik des »multum non multa« (Zoge 401) — die Maxime des »Von Allem ein bißchen — verhindert die Einseitigkeit, der die reine
Satire ohne Verbindung mit dem Schönen ausgesetzt wäre. Durch die »Unmäßigkeit« könnte, so Fenk, »der Magen [...] nach seinen Kräften eine Art von Sceptizis-
mus« (408) hervorbringen — wie beim jungen Richter. Die satirische Diät hingegen führt, so Fenk weiter, nicht nur zu einer gemäßigten Berücksichtigung der körperlichen Belange, sondern — übertragen auf die Ästhetik — zu einer neuen Form von Realismus. Die »Recepte«, die Fenk dem Hypochondristen »Jean Paul« vorschlägt und die dieser annimmt (»Und blos auf deinem Altar will ich meine biographischen Blätter weiter schreiben!«; Loge 410), haben direkte Auswirkungen auf die Objektivität des Schreibens: »Ich würde — sagt’ er [Fenk] — in meiner Biographie, gleich der heißen Zone, den ganzen Winter mit allen seinen Faktis überspringen, da er ohne-
hin nur wie der in jener Zone im Regnen (der Augen) besteht. Ich würde wenn ich an deiner Stelle säße, sagen, der Doktor Fenk wills nicht haben, nicht leiden, nicht
lesen, sondern ich soll statt in einer Entfernung von 365 Stunden der vorausgeschrittenen säenden
Geschichte
keuchend
mit der Feder nachzueggen,
lieber hart
hinter der Gegenwart halten und sie ans Silhouettenbrett andrücken und so gleich abreißen« (Loge 410). Fenks Funktion ist es, eine innere Zensur bei dem Erzähler »Jean Paul« zu installieren (»Fenk wills nicht [...] lesen«!). Durch sie kann man empfindsame Passagen, das »Regnen (der Augen)«, »überspringen« und so zu einer höheren Form des Rea-
lismus gelangen. Der Autor soll sich »hart hinter der Gegenwart halten« und sie am »Silhouettenbrett andrücken«. D. h.: Der satirische Blick auf den Körper garantiert die unbestechliche Genauigkeit eines Schattenrisses. Der Humor ist also ein Korrektiv der empfindsamen Selbsttherapie — im medizinischen wie im ästhetischen Sinne. Wie die Diätetik eine Korrektur einseitiger Lebensweise ist, so ist der diäteti-
sche Humor eine Korrektur der einseitigen Schreibweise der Empfindsamkeit.?° Auch der Humorist, in diesem Falle: Fenk, wird also zur metonymischen Personi-
fikation der Schreibweise des Autors. Und in der sozialen Dynamik aller Figuren wird die literarische Dynamik der Schreibweise Jean Pauls ausgedrückt: »Jean Paul«
steht zwischen den schönen Seelen Beata und Gustav einerseits und dem satirischen Humoristen Fenk anderseits. Die einen fordern und leisten — wie oben gezeigt — empfindsame Beschreibung ihrer selbst, der andere wünscht die körperliche Kehr-
seite dieses Verfahrens satirisch hervorzuheben. Im Ausgleich der Ansprüche, die von
263 Weitere Modelle ästhetischer Diätetik finden sich bei Korschorke, Körperströme, S. 404ff.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
93
diesen zwei Seiten an ihn gestellt werden, liegt die Schreibweise »Jean Pauls« und damit auch Jean Pauls.
Doch das intensive Interesse für Medizin und insbesondere die Kombination mit dem Humor können die »Kunstrichter« (Loge 391), die perennierende Empfindsamkeit fordern, nicht verstehen. Dieser Umstand zwingt den humoristischen Erzähler »Jean Paul« (wie den Autor Jean Paul) von der exoterischen in die esoterische Schreibweise. »Jean Paul« hat sich nämlich von Fenk auch eine satirische Sicht auf
die Empfindsamkeit abgeguckt, die keine cohabitation dieser zwei literarischen Philosophien erlaubt. So macht sich »Jean Paul« im 36. Sektor ziemlich ungeniert über die Gedankenfigur der Entkörperung der (schönen) Seele lustig: »Heutiges Tages muß jede Seele von — Stand desorganisirt und entkörpert werden. Hier hat man nun nicht mehr als zwei ganz verschiedne Operationen. Die kürzeste und schlechteste meines Erachtens ist die, daß sich der Mensch - aufhenkt und daß so die Seele den
Körper von sich wie eine Warze abbindet«. Darauf folgt die Darlegung der metaphysischen Basis dieser ungewöhnlichen Praktik: »Also: der Körper ist nach Philosophen, die auch eine Seele haben, bloß ein Werkzeug, ihre oder unsre auszubilden und sie an die Entbehrung dieses Werkzeugs zu gewöhnen« (Loge 356).
Die Bezeichnung des Körpers als »Werkzeug« der Seele legt einen Bezug auf Platners Anthropologie nahe, in der der Körper — mit Bezug auf Bonnet — als erweitertes »Seelenorgan« (NA $ 186; Hervorhebung von mir) verstanden wird. Die Bezüge zu Platner und
Bonnet werden
deutlicher, wenn
die Isolation des physischen
vom
himmlischen Körper ausführlich vor Augen gestellt wird: »Die Seele muß alle Fäden, die sie an den Klumpen schnüren, nach und nach zerfressen und abbeißen. Er ist ihr das, was den Kindern, die schwimmen lernen, der korkene Kürasl] ist: täglich muß sie diesen Küras zu verkleinern suchen, um endlich ohne ıhn zu schwimmen.
Der philosophische Mann von Welt und das Mitglied geheimer desorganisierender Unionen schafft also von diesem Schwimm-Panzer anfangs nur das Fleisch an Beinen und Backenknochen bei Seite. Das ist noch wenig. Darauf brennt er durch Glühfeuer Gehirn, Nerven und anders Zeug weg, weil sie das Küchenfeuer aushielten. Die Haare oder das menschliche Rauchwerk bringt jeder ohne Mühe weg. [...] Ist das vorbei: so hat man zu jener völligen Ertötung nicht mehr weit, wo der ganze Küras rein herunter ist und wo die Seele im Meere des Seins endlich schwimmen gelernt hat, ohne von ihrem Schwimmkleid nur so viel als man zum Bruchiren einer
Bouteille bedarf, noch um sich zu haben. Nachher wird man beerdigt. So wenigstens trägt man in geheimen Gesellschaften von Ton die menschliche Entkörperung vor« (Loge 356f.).
Die Theorie der Entkörperung der Seele wird von dem durch Fenk geschulten Satiriker »Jean Paul« — der er auch ist — noch einmal erzählt, allerdings mit einer
Verschiebung des Fokus von der Seele auf den Körper. Durch die Darstellung einer martialischen Selbstverstümmelung,
die, was die Schilderung von Grausamkeiten
94
Zweites Kapitel
betrifft, an die Trepanation angrenzt, wird die Nicht-Berücksichtigung des Körpers in der spiritualistischen Anthropologie deutlich gemacht. Die entkörperte schöne Seele als ein groteskes Überbleibsel einer Selbstverstümmelung zu zeigen, führt die Theorie vom himmlischen Körper ad absurdum. Das Augenmerk wird durch mehrere Hinweise von Bonnet und Platner auf die Geschichte des Romans gelenkt. Denn die »Philosophen«, die Theorien wie die eben
geschilderten
vertreten,
sind, wie
Platner
im
Untertitel
seiner Anthropologie
schreibt, »Weltweise«. Und solch ein »philosophische[r] Mann« ist bei Jean Paul »das Mitglied geheimer desorganisirender Unionen« oder »geheime[r] Gesellschaften«, de-
ren eine die »Unsichtbare Loge« ist.?°* Die geheime Gesellschaft der Loge vertritt, so können wir vermuten, eine moralisch-politische Position,?° die der epistemischen Theorie der Entkörperung der Seele entspricht. Gleichzeitig wissen wir, daß die ästhetische Lenkung der Geschichte durch die geheime Gesellschaft des Autorenkollektivs — sofern sie dem empfindsamen Lager zuzurechnen ist — ebenfalls auf den Prinzipien der spiritualistischen Anthropologie aufbaut, wie sie oben satirisch referiert wurden.
Auch das Programm des empfindsamen Autorenkollektivs wird durch diese Digression also desavouiert. Schließlich schreibt es eine Geschichte, in der genau diese Entkörperungs-Phantasien — nur tropisch erweitert — an den schönen Seelen vorgeführt werden. Und auch die Schreibweise, in der die Fabel präsentiert wird, ist,
wie oben gezeigt, durch das Band der Metapher an die Philosophie von der »Entbehrung« des körperlichen »Werkzeugs« (Loge 356) gebunden. Insofern scheint es berechtigt, die satirische Lesart der präsentierten anthropologischen Theorie auf den ganzen Roman auszudehnen. Damit ergeben sich zwei unterschiedliche Lesarten, die der Erzähler dem Leser
nahelegt. »Jean Paul« arbeitet nämlich nicht nur empfindsam-humoristisch nach dem
Prinzip des alternierenden »humoristische[n]
Quecksilbers«
(Loge 256), son-
dern auch nach dem alten Prinzip der frühen Satiren, der Parodie der Empfindsamkeit. Ein empfindsam scheinender Roman (mit diätetisch-humoristischen Korrektu-
ren) entpuppt sich in dieser zweiten Lesart als ein toter Textkörper, dessen empfindsame Seele der teuflische Satiriker (wie im »Aviso« dargestellt) selbst eingenommen
hat. Die ätherische Liebe der Protagonisten, die verschiedenen Versuche der Selbstheilung in Lilienbad und deren sanfte humoristische Korrektur — alles Parodie. Auf dem Weg in diesen Textkörper hat der teuflische Penetrator nur ganz geringe Spuren hinterlassen (z. B. die eben interpretierte Passage). Doch die Spuren sind weitreichend; sie führen zur Inversion des gesamten Romans. 264 Zur Funktion des Geheimbunds vgl. Köpke, Erfolglosigkeit, S. 346ff. 265 Zur politischen Motivation der geheimen Gesellschaft und ihrem Bezug zu den historischen Gesellschaften vgl. Voges, Aufklärung, S. 539ff.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
95
Von der humoristischen Therapie zu den unheilbaren Blähungen des inneren Menschen Die Technik der zwei humoristischen Modelle und der (sich daraus ergebenden)
Lesarten wird im Hesperus beibehalten. In der ersten Lesart wird demzufolge die medizinische Metapher als Beschreibungsinstrument des Humors verstärkt und auf die Leidenssituation der schönen Seele angewandt. Der Arzt Viktor erkennt, daß die Empfindsamkeit »den Körper zerrütte« (JP I.1, 837), stellt eine Diagnose — Unangemessenheit der schönen Seele und des metonymisch erweiterten Hofkörpers — und entwirft eine Therapie: die satirische Entlarvung und Verlachung des maschinell funktionierenden und materialistisch organisierten Hoflebens. Diese Therapie richtet sich jedoch weniger auf eine Zerstörung des Körpers, als auf seine Vermittlung mit der Seele. Im Gegensatz zur Loge liegt im Hesperus der Ausgleich von Empfindsamkeit und Humor nicht allein in der Person des Erzählers »Jean Paul«, der den Ansprüchen seiner empfindsamen und humoristischen Bekannten gerecht werden muß, sondern
auch in der Figur Viktor, der schöne Seele und satirischer Arzt in einer Person ist. Auf epistemischer Ebene wird diese Personalunion in Viktors »Aufsatz«, der Adapti-
on und Weiterführung von Richters Fortdauer-Aufatz, deutlich. Der Mediziner Viktor leugnet die »Abhängigkeit der Seele vom Körper« (JP I.1, 1104) nicht, son-
dern untersucht sie vielmehr. Er argumentiert jedoch, wie schon Richter, gegen den reduktionistischen »Materialisten«. Die »Abhängigkeit« der Seele vom Körper — das ist La Mettries Fehlschluß — läßt nicht auf »/dentität« schließen. Ganz im Gegenteil: Die Bewegungen des Körpers lassen sich ohne »Geist« nicht erklären: »und Leibniz kann leichter die Bewegung aus dunkeln Vorstellungen erklären, als der Materialist
Vorstellungen aus Bewegungen« (JP I.1, 1103). Wenn Viktor eine eher spiritualistische Position vertritt, warum spricht er dann so lange über die Abhängigkeiten der Seele? Meine Vermutung ist, daß er als Arzt und Satiriker die Bedingungen des Körpers (und die Vertreter eines reduktionistischen Materialismus) kennen muß, um der leidenden Seele zu helfen. Durch die metonymische Erweiterung des Körpers ist der Arzt natürlich auch Sozialpsychologe und
muß sich um die sozialen Abhängigkeiten der Seele kümmern. An diesem Punkt schließt Viktor Theorie- und Objekt-Ebene kurz, setzt die Adli-
gen auf dem Gebiet des Zeremoniells und der Politik als Entsprechung der reduktionistischen Materialisten auf dem Gebiet der Anthropologie und Medizin — und macht sie (die Adligen) in dieser Funktion gleich zum Krankheitserreger der Seele.
Er schreibt, daß die »Hofjunker« (die über medizinisch-anthropologische Fragen eigentlich gar nicht nachdenken) wie die Materialisten seinen »Geist in [s]einen Kör-
per verwandeln wollen« (JP I.1, 1100). Die hier skizzierte Gedankenfigur verdankt sich der Vorstellung, daß die gesamte
96
Zweites Kapitel
materielle Welt (und nicht nur der Körper) als mögliches Organ der Seele verstanden werden kann: »So müssen alle körperliche Wesen dem geistigen so gut Empfindungen geben als die Nerven, und eine unverkörperte Seele ist nur darum nicht möglich, weil sie im Falle des abgelöseten Körpers alsdann das ganze materielle Universum als einen plumpern trüge« (JP 1.1, 1101).
Der Arzt muß nicht nur ein Kenner des Körpers, sondern auch ein Kenner des Welt-Körpers sein, da die (schöne) Seele mit diesem genauso empfindet wie mit jenem. Der satirische Humorist wendet deswegen seine gesammelten Kenntnisse über den Körper an, um die grotesken Elemente des Hofs, sein Funktionieren als Maschine und den in ihm gelebten Materialismus
zu entlarven. Von Viktor heißt es,
daß er das »steife Zeremoniell« des Hofes verachtete, »und eben dieser Ekel an der
steifen altklugen dezenten Mikrologie und Maschinerie der Menschen ist die Laune des Satirikers« (JP 1.1, 833).
Die humoristische Satire entsteht — entsprechend der Etymologie und dem Paradigma des Körperlichen — durch die Produktion der humores, d.h. der Magensäfte
und ihrer intellektuellen Verlängerungen: »Noch mehr Sodbrennen und Säure sammelte sich in Viktors Herzen, weil er — der alles duldete, Eitle, Stolze, Atheisten, Schwärmer — gleichwohl keine Menschen
dulden konnte,
die die Tugend
für eine
Art von feiner Proviantbäckerei ansehen, die Wollust für erlaubt, den Geist für einen
Almosensammler des Leibes, das Herz für eine Blutspritze und unsere Seele für einen neuen Holztrieb des Körpers« (JP 1.1, 553).
Wieder ist es der epistemische (»Seele« als »Holztrieb des Körpers«) und moralische Materialismus
(»Wollust«
statt »Tugend«)
der Hofjunker
(in diesem
Falle:
Matthieus), der die Produktion der humores anregt. Gleichzeitig bleibt Viktor eine schöne Seele. Soll der »Leitton« zwischen den »entlegnen Tonarten« namens »Humor und
Empfindsamkeit«
(JP
I.1, 615)
in der inneren
Harmonie
Viktors
gefunden
werden, kann nur eine abgeschwächtere und sanftere Humorkonzeption als bei Fenk oder dem frühen Richter bestehenbleiben. Dazu gehören zwei Elemente: /.) die Duldung der Torheit des einzelnen bzw. die Beschränkung des Angriffs auf allge-
meine Torheiten und 2.) die Einengung der Satire auf das »Kunstwerk« (JP 1.1, 863), statt sie als Instrument der sozialen und politischen Veränderung bzw. der direkten Teilhabe an der Umwelt zu verstehen. ad 1.) Viktor spricht — im Gegensatz zu Flamin — »lieber von Sachen als Personen« (JP 1.1, 593), er ist »tolerant« gegenüber dem »Laster« (JP I.1, 593). Diese Position,
die ihn keine Satire gegen eine einzelne Person oder ein einzelnes Laster schreiben läßt, verdankt er seinem totalisierenden Blick: »Er sah unsere Torheiten mit einem vergebenden Auge, mit humoristischen Phantasien und mit dem ewigen Gedanken an die allgemeine Menschennarrheit und mit schwermütigen Schlüssen an« (JP L.1,
905). Die Position der Schonung des einzelnen in der Satire findet später auch Eingang in die Vorschule der Ästhetik ($ 32).
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
97
ad 2.) Um diese Toleranz und Duldung der tatsächlichen Individuen realisieren zu können, muß Viktor seine Satire in den Bereich der fiktionalen Phantasie heben, da dort die Polemik, die auf eine bestimmte reale Person zielt, automatisch neutralisiert
wird: »Rousseau bauete in seinem Kopfe eine empfindsame Bühne, weil er weder aus der Kulisse noch in eine Loge des wirklichen Lebens gehen wollte — Viktor aber besoldete zwischen den Beinwänden seines Kopfes ein komisches Theater der Deutschen, bloß um die wirklichen Menschen nicht auszulachen« (JP 1.1, 653).
Dementsprechend Ader nicht für seine ja nicht einmal über »Gebrüder Narren«, »Er konnte nie eine
kann Viktor — im Gegensatz zu Matthieu — seine satirische täglichen Auseinandersetzungen im Hofleben nutzbar machen, die zufällige Komik des Hofes lachen. Der Streit zwischen den Zeusel und Matthieu, hat für Viktor kein komisches Element. Tierhatze zwischen zwei Narren anlegen: nur der Entwurf eines
solchen Schlachtstücks kitzelte seine Laune, aber nicht die Ausführung, so wie er
Prügelszenen gern in Smollet (dem Meister darin) las und dachte, aber niemals sehen mochte« (JP I.1, 905).
Der empfindsame Humorist Viktor kennt also nur das schon anhand des Siebenkäs entwickelte Modell des ‚Theaters im Kopf, wie es auch in Über die natürliche Magie der Einbildungskraft beschrieben wird — durchaus mit Bezug auf die »komischen Akteurs«
(JP 1.4,
199).
Der
Schonung
der Umwelt
durch
die fiktionale
Phantasie liegt dabei — das ist ein satirisches Bonmot des Erzählers — ein physiologisches Moment zugrunde. Viktor gehört zu den oben anhand der Anthropologie Weickards skizzierten Personen mit »weichen Nerven«. Solchen Leuten werden »komische Szenen durch das physische Leiden, das sie in der Wirklichkeit bei sich führen, zu hart und grell« (JP L.1, 630). Durch seine »Toleranzmandate« (JP I.1, 971) und seine Verlagerung der Satire ins
Fiktionale nem der mehr das verfolgt — gefunden,
macht die schöne Seele Viktor den Humor für sich und Klotilde zu eiEmpfindsamkeit entsprechenden Instrument. Mit ihm wird zwar nicht Konzept eines protektionistisch gedachten feudums der schönen Seelen das ohne Humor funktionieren könnte -, aber ein Zustand gesucht und mit dem die Empfindsamkeit der schönen Seelen im Sozialkörper gelebt
werden kann. Viktor kann damit als Humorist an die — oben beschriebenen — emp-
findsamen Selbstkorrekturen am Modell des ätherischen Körpers anschließen. Und so ist das Ende des Romans ein deutlich markierter Kompromiß. Viktor und Klotilde heiraten trotz des Standesunterschieds. Diese Ausnahme innerhalb des absolutistischen (wenn auch jetzt aufgeklärten) Regelsystems erkaufen sich die beiden allerdings durch Unterordnung: »Da sank er [Viktor] gern vor Klotildens Mutter, die um ihre Einwilligung in seine Liebe noch nicht gebeten war, mit den Worten auf
das Knie: »Wenn Sie meine Bitte nicht erraten: so hab’ ich nicht den Mut, sie anzufangen.« Sie hob ihn auf und sagt: »Bitten, die so stillschweigend geschehen, werden ebenso still erfüllt — aber jetzt kommen
Sie lieber und sehen zu, womit
ich meine
98
Zweites Kapitel
Tochter beschenke.< — Aber er mußte erst lange die Hand benetzen und küssen, die ihm den Lindenhonig eines ganzen Lebens reichen will« (JP 1.1, 1213). Die schönen Seelen Viktor und
Klotilde werden
zwar von
ihren Leiden
befreit, deswegen
aber
keineswegs unabhängig von den höfischen Strukturen in Flachsenfingen. Viktor muß, wie die Metapher vom »Lindenhonig« zeigt, seiner Gönnerin, der Lady, im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hand fressen.
Im Roman wird also ein Konzept entworfen, in dem der Versuch unternommen wird, eine den ganzen Menschen - als grotesken Körper und schöne Seele — berücksichtigende Erkenntnis-, Lebens- und Schreibweise zu entwickeln. Der Selbstausdruck der Schreibweise legt dabei eine ausgeklügelte Sprachtheorie und Ästhetik of-
fen, die eine doppelte Verweisungsebene von Begriffen berücksichtigt: die von einem
Individuum
gestiftete
Bedeutung
und
die
Referenz
auf
einen
allen
zugänglichen Gegenstand. Die Rekonstruktion einer solchen Theorie muß bei der Philosophie ansetzen: Diese, insbesondere die kritische, hat lediglich, so der »Jakobi«-Schüler Jean Paul
durch den Mund von Viktor, einen »Kunstwörterstil« zur Verfügung, dem der Weg zu Referenz und Bedeutung abgeschnitten ist. Man muß also auf die — als vorgängig gedachten — »Bilder« und »Anschauungen« der Dichtung (JP 1.1, 800) zurückgehen,
um die Sprache mit dem zu verbinden, was sie bezeichnet: »die Philosophie mach[t] nur
die Silberhochzeit
zwischen
Begriffen,
die Dichtkunst
aber
die erste — leere
Worte geb’ es, aber keine leere Empfindungen« (JP L1, 841). Die individuelle Bedeutung eines Begriffs oder einer Kombination von Begriffen wird durch die »Empfindungen« des Dichters hergestellt. Die Arbitrarität in der Beziehung des »Zeichens«
(des Körpers,
einer Geste, eines Wortes)
mit »der bezeich-
neten Sache« (der Seele, dem Intendierten, der Bedeutung) wird durch die »Farben,
die sie [die Seele] im Drange der Empfindung ergreift«,?°7 zumindest teilweise aufgehoben. Dichtung und Alltagssprache unterscheiden sich dabei in der Art der Empfindung. Ein Dichter wie Viktor, der »erwas Höheres fühlt[]«, gibt dementsprechend
auch mehr als »Alltags-Empfindungen« (JP I.1, 686) wieder. Eine so verstandene Dichtkunst ist also eine Philosophie in Metaphern: »Dichtkunst« und »Philosophie« bewegen sich beide »wie Kometen und Planeten um dieselbe Sonne (der Wahrheit)« und unterscheiden »sich nur in der Figur ihres Umlaufs [...], da Kometen und Dichter bloß die größere Ellipse haben« (JP I.1, 588). Der Gebrauch von Begriffen
und Metaphern, die durch individuelle Empfindungen gesättigt werden, entfernt
266 Insofern hat der Roman durchaus den Anspruch, auch Bildungsroman zu sein. Dies gegen Jacobs, Wilhelm Meister, $S. 108f., der den frühen Romanen Jean Pauls diesen Charakter abspricht,
da er nur die empfindsame Lesart (d. h. das Modell der schönen Seele) berücksichtigt. 267 Jean Paul, Brief an Emanuel, 23.4.95, HKA 111.2, 78.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
99
den philosophierenden Dichter etwas weiter von der Sonne der Wahrheit, ohne daß er sich jedoch von ihr trennen würde.?°® Die philosophischen
Begriffe sollen jedoch
nicht nur durch
die empfindsame
Dichtung mit individueller Bedeutung gefüllt werden, sondern durch den Humor auf reale Gegenstände bezogen werden. Weil »Gegenwart« und Phantasie sich gegenseitig einschränken, muß der Satiriker »Jean Paul« warten, bis die Kraft der Phantasie nachläßt, so daß er, wie es sein satirischer Vorerzähler Fenk fordert, die erzählte
Gegenwart »an dieses Silhouettenbrett anpressen und dann abschatten« kann (JP 1.1, 1046). Der Erzähler hat also, wie sein Miterzähler Viktor, »drei verschiedne närrische Seelen«:
die
»humoristische,
empfindsame
und philosophische
Seele«
(JP
1.1,
590).
Dem allgemeinen philosophischen Denken und Sprechen wird eine empfindsamindividuelle und eine humoristisch-referentielle Bedeutung gegeben. Mit dieser Sprach- und Dichtungstheorie hat Jean Paul zwei Gedanken späterer Sprachtheoretiker vorweggenommen: auf der einen Seite die von Frege herrührende Unterscheidung von Sinn und Bedeutung?” (im heutigen Sprachgebrauch: Bedeutung und Referenz) und die von Frank bei Schleiermacher rekonstruierte Theorie der Sprache
als »individuelles Allgemeines«.?’° Auch Jean Paul denkt das Verstehen von Sprache als eine Dialektik der individuellen und der überindividuellen Bedeutung eines Begriffs. Im Gegensatz zu Frank (bzw. Schleiermacher) leitet Jean Paul die überindivi-
duelle Bedeutung — als Konsequenz eines körper- und weltorientierten Humors — jedoch
noch
nicht von
der Sprachgemeinschaft,
sondern
vom
materiellen
Gegen-
stand ab. Und das auf doppelte Weise: Satirische Hofkritik (als Zuarbeit zur Vervollkommnung des empfindsamen Modells) und die (der zweiten Lesart zuzurech-
nende) satirische Kritik am empfindsamen Modell kann an ein und demselben Gegenstand praktiziert werden. Viktor entlarvt in seiner sanften, ästhetisch sublimierenden Art den ganzen
Hof
als ein im wahrsten Sinne des Wortes aufgeblasenes System. Wie so oft steht der Körper des Fürsten für den Hof-Körper. Jenner hat nämlich keine Podagra, wie sein Leibarzt Kuhlpepper behauptet, sondern Blähungen. Dies erkennt der konsultierte 268 Bis hierhin stimme ich mit Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten, S. 395ff.; 449ff., überein. Da Schmitz-Emans jedoch nur den empfindsamen und spiritualistischen Jean Paul heranzieht, leitet sie den Realismus — statt über den Humor — auch über die Empfindsamkeit her (was meiner Meinung nach nicht möglich ist). Konsequenterweise kommt sie zu der Auffassung (S. 487), daß
Jean Paul keine stimmige Theorie vertrete. Ich versuche jedoch, unter Zuhilfenahme einer zweiten Lesart das Gegenteil zu erweisen. Auch Allerts (Metapher, $. 19ff.) Rekonstruktion der MetaphernTheorie Jean Pauls ignoriert die Dimension der zwei konträren Schreibweisen. Ottos Versuch einer Nachzeichnung der Jean Paulschen Zeichentheorie — zwei Leitdifferenzen: sinnlich/nicht-sinnlich; Phantasie/Witz
(Otto, Witz-Begriff,
S. 42,
187) — fügt der Forschung
(außer einer schönen
sammenfassung der Luhmannschen Medientheorie) keine neuen Ergebnisse hinzu. 269 Frege, Über Sinn und Bedeutung; ders., Über Begriff und Gegenstand. 270 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, S. 29.
Zu-
100
Zweites Kapitel
Arzt Viktor sofort: »denn ans Podagra ist hier gar nicht zu denken«, sagte er. Er tat ihm dar, seine ganze Krankheit sei Wind,
figürlich und eigentlich gesprochen - in
den erschlafften Gefäßen haus’ er und schleiche sich wie die Jesuiten unter allen Ge-
stalten in alle Glieder ein — selber sein Schmerz in der Wade sei solcher versetzter Menschen- oder Gedärm-Äther«
(JP 1.1, 729£.). Soweit die Satire gegen den Hof
und den (diesen repräsentierenden) Fürsten als Windbeutel. Doch die Satire richtet sich nicht nur gegen den Hof, sondern zugleich gegen das Modell der schönen Seele (also auch gegen Viktor selbst). Äther ist — wie bekannt — ein verräterisches Stichwort. Immerhin wünscht sich Viktor selbst in einen ätheri-
schen inneren und himmlischen Körper (biologisch wie sozial). Doch als Arzt geht er mit seinem eigenen Leiden wie mit dem seines Fürsten satirisch um: »Viktor eilte in der Freude
über die leichte Krankheit zum
Rezeptieren
davon,
nachdem
er an
Trostes Statt behauptet hatte: »ein ätherischer Leib sei noch mitzunehmen und diene der Seele zwar zu keinem himmlischen Grahams-, aber doch zu einem Luftbette, das sich selber mache [...]« (JP 1.1, 730). Blähungen, fruchtbarkeitssteigernde Maßnamen
(das »Grahamsl[...]bette«)
und
den ätherischen Körper miteinander zu vergleichen, ist im empfindsamen Kontext ein Sakrileg. Es zu begehen, heißt zu behaupten, daß die Hoffnung der schönen Seele auf einen selbst geformten Ätherkörper nicht nur korrekturbedürftig (das wäre der sanfte Humor), sondern eigentlich nur ein lächerlicher Selbstbetrug ist, der schnell aufdeckt werden
kann,
betrachtet man
die materiellen Bedingungen
dieser
physiologisch nicht zu haltenden Denkfigur. Wenn Viktor normalerweise »seine satirische Intoleranz [...] durch eigne Toleranzmandate« aufhebt (JP I.1, 971), so gibt es doch einige Stellen, an denen die der
Satire eigentlich inhärente Intoleranz, d. h. die deductio ad absurdum, zum Vorschein kommt. Diese Stellen geben — genauso wie in der Loge — Anstoß, den ganzen Roman als empfindsamen Textkörper zu sehen, der vom parodistischen Teufel in Besitz genommen wurde. Die Geschichte der schönen Seelen mitsamt ihren sensualistischspiritualistischen Implikationen wäre nur ein rhetorischer Schein, den es zu desavouieren gälte. Allerdings behält Viktor dieses radikal-humoristische Wissen meist für sich und bietet (wie hier) nur sanfte Anhaltspunkte für eine zweite parodistische Lesart,?’! die 271 Sinns These (Jean Paul, S. 113ff.), daß Jean Paul nur eine satura perennis schreibt, unter die
auch der nur vorgeblich empfindsame Bestseller Hesperus fällt, übersieht die von Jean Paul emphatisch verteidigten spiritualistischen Prämissen der empfindsamen Schreibweise. Auch Sinns jüngster Versuch, Stoizismus und Humor gegen eine Ästhetik der Leidenschaften zu setzen (Sinn, Überzeugen und Rühren,
$. 154ff.), scheint mir nicht stimmig.
Leidenschaft und Stoizismus gehören
für
den Rousseauisten Jean Paul zusammen, da das empfindsame Modell eine Domestizierung (aber Beibehaltung) der Leidenschaften nach dem Prinzip der Julie vorsieht. Der Humor hingegen kennt nur die Bedürfnisse des Körpers, d. h. weder die innerlichen Leidenschaften, Domestizierung.
noch deren stoische
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper auch den sanften Humor
101
(der sich mit dem System der schönen Seele aussöhnt)
noch einmal unterläuft. Ein eindeutiger Hinweis auf eine Entscheidung für eine der beiden Lesarten wird im Roman jedoch nicht gegeben.
Von der Einschiebtragödie zur Performance Der Name »Leibgeber« ist sprechend:?’? Leibgeber gibt der sich entkörpernden schönen Seele Siebenkäs durch Überlassen der bürgerlichen Existenz als Inspektor in Vaduz einen neuen Sozialleib, innerhalb dessen Siebenkäs nicht nur seiner Ehe mit
Lenette ent-, sondern schließlich eine Verbindung mit Natalie eingehen kann. Der Prozeß dieser Neuverkörperung wird — in der Selbstauslegung des Textes in der zweiten Auflage — so beschrieben: »Das hereingeworfne Hemd wurde dem Advokaten auf einmal der Zeichendeuter Leibgebers, er erriet, daß dieser mit der Körper-
wanderung in Kleider auf etwas höheres ausgelaufen als auf einen Rollenanzug für Vaduz; nämlich auf das Bewohnen des Gehäuses oder der Hülle, die seinen Freund umschlossen hatte« (7% 459).
Deutlich wird hier die Verbindung von Leib und Seele angesprochen. Mit dem Tauschen der Kleider wird eine Transsubstantiation vollzogen, an deren Ende die schöne Seele Siebenkäs einen neuen Körper hat. Die Kleider stehen für die neue soziale Existenz (»Rollenanzug«), die wiederum als metonymisch erweiterter Körper (»Gehäuse
oder
Hülle,
die seinen
Freund
umschlossen
hatte«,)
konnotiert
wird.
Damit wird die Beschreibung der beiden Freunde am Anfang des Romans, die besagt, daß diese in einer »Gütergemeinschaft des Körpers und des Geistes« (7k 103) leben, wahr gemacht. Die schöne Seele Siebenkäs und der eine neue Sozialität verheißende Körper des Humoristen Leibgebers (Materialisten müssen konsequenterweise mit dem »Nichtsein ihrer Sele« [JP II.1, 510] leben) bilden tatsächlich ein commercium mentis et corporis.
Verfolgt man die Fährten für diese Lesart (Humor als körperliche Hilfe der empfindsamen schönen Seele) weiter, kann man
beobachten, daß Leibgeber die cohabi-
tation mit seinem Freund Siebenkäs auch deswegen eingeht, um den Scheintod für eine humoristische Performance zu nutzen, deren milde satirische Stoßrichtung ge-
gen das Bürgertum geht. Leibgeber braucht deswegen das metaphysisch schwerfällige »Welttheater« nicht so ernst zu nehmen wie Siebenkäs. Vielmehr sagt er von sich selbst, er »pfeife« es sogar »aus« (7k 460). Er wird zu einem Regisseur, der die engen Grenzen des vom »Schicksal« diktierten Textes (JP 1.4, 198) überspringt und statt
dessen improvisiert: »Ein praktischer Humorist ist bloß ein satirischer Improvisatore« (7k 286f.). Das Theaterstück wird für Leibgeber deshalb auch nicht zur »Ein272 Vgl. Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 218.
102
Zweites Kapitel
schiebtragödie [...] der Tragödie des Lebens« (7k 427), sondern zum sich ewig wie-
derholenden komischen extempore. Mit »Hallers Physiologie« (7k 439) — quasi als Spielvorlage — in der Hand, kann
sich Leibgeber an der bürgerlichen Sozialmaterie satirisch gütlich tun: Oelhaven (als medizinischer Sachverständiger) und Blasius (als Treuhänder) werden durch die sati-
rische Improvisation tel betrogen werden: so oft aus Satire und heit intolerant[] an«,
als Betrüger entlarvt, indem sie ihrerseits durch poetische MitLeibgeber »log« — wie sein Vorbild, der Teufel?7? — »so gern und Humor« und »feindete ernste Unredlichkeit und Verschlagenheißt es im 20. Manipel (7% 428). Diese Handlungen gegen
den bürgerlichen Sozialkörper basieren auf drei Techniken, das Leben humoristisch
zu poetisieren: der theatralischen Improvisation — dem Vortäuschen bestimmter Zustände aus Gründen des Scherzes —, der »satirischen Injurie[]« (7 371) — der Über-
führung des juristischen Tatbestandes der Beleidigung über die Zwischenstation des »Pasquill«
(7% 48)
in die literarische Satire — und
dem
Abschatten,
d.h.
dem
Schneiden eines Schattenrisses. Die erste Form der satirischen Poetisierung ist, wie gesagt, die »Einschiebetragödie«, die bei Leibgeber zur Komödie wird. Durch die scherzhafte Poetisierung werden die Zuschauer und Mitspieler literarisch getäuscht und auf höherem Niveau entlarvt. Über die anderen zwei Formen ist noch genauer zu reden. Bei dem »Besuch«, den Leibgeber und Siebenkäs dem Heimlicher abstatten, beginnt Leibgeber eine Beschimpfung, die er juristisch absichert: »Blutigel, "TIränenigel, solche Nomi-
naldefinizionen sind keine Injurien und beleidigen nicht, erstlich weil man nach L. $. de injur.[] die größten Injurien ganz gut im Scherze sagen kann, und ich scherze
hier — und zur Vertheidigung seines Rechts kann man stets injuriieren« (7k 89). Die satirische Injurie ist — wie der Grönländische Prozeß — zweierlei: Mit ihr wird ein realer Zweck, die Verteidigung des eigenen Anspruchs, verfolgt — allerdings nach
anderen als den juristischen Regeln. Es ist nicht mehr allein das bessere Argument, sondern die höhere rhetorische und literarische Geschicklichkeit, die im Prozeß den
Ausschlag gibt.
Nachdem Leibgeber seine satirische Technik am Heimlicher performativ dargelegt hat, »zog« er »Scheere und schwarzes Papier heraus« und »nahm [...] einen richtigen Schattenriß von dessen Gesicht« (7% 90). Durch diese Technik der Abbildung wer-
den die Gegner im satirischen Prozeß auf ihre Physiognomie reduziert. Das Ziel ist jedoch
nicht,
wie
bei Lavater,
die inneren
Konturen
aus den
äußeren
abzulesen,
sondern das Gegenteil: zu zeigen, was für ein »leeres ödes Gesicht« (7% 371, Fußnote) der Gegner besitzt. Der der poetischen Technik inhärente materialistische Reduktionismus (in diesem Falle: die Einziehung des Menschen auf seine bloße Phy273 Vgl. JP II.2, 189£.: »Ich bin der Vater der Lügen aber blos aus Humors, sagte er [der Teufel]«.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
103
siognomie) ist dabei (wie schon bei Fenk) ein Realismus: Die immer wiederkehrende Behauptung
des Satirikers, daß der Mensch
vor allem Körper ist, gibt ihm die
Möglichkeit, diesen Körper besonders genau wiederzugeben.?’* Zurück zum Scheintod: Leibgebers Ablösung des »Schicksal[s]« als »Theaterdichter« (JP 1.4, 198) legt den Gedanken nahe, daß er — trotz aller Hilfe — nicht nur Sie-
benkäs’ empfindsam-stoischen Gedanken vom Welttheater, sondern auch dessen gesamtes empfindsames Programm desavouiert. Der Übergang von der einen in die andere Lesart ist dabei fließend. In einem Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele sagt Leibgeber: »Mir kömmts wohl oft so vor als müsse ein Stück von der andern Welt in diese mit hereingemalt werden, damit sie ganz und gerundet werde [...]«. Das Interesse des Humoristen, eine realistische Darstellung der Welt,?7° und das des Empfindsamen,
die Darstellung der zweiten Welt in der hiesigen, werden
vorgeblich verbunden: Realismus ist nur möglich, wenn man die Formen der Phan-
tasie (die den Erscheinungen des Übernatürlichen ihren Ort geben) mit dem irdischen Stoff verbindet. So könnte man auch den Scheintod interpretieren: Das empfindsam-metaphysische Gedankengut Siebenkäs‘ macht die realistische Sorge des Humoristen Leibgeber um das körperliche und soziale Wohl seines Freundes erst vollständig. Doch
Leibgeber zerstört durch einen kleinen, unscheinbar wirkenden
Nebensatz
den vordergründigen Kompromiß. Er beendet den angefangenen Satz: „[...] gerundet werde, wie ich oft an den Seiten der Gemälde fremde Dinge zur Hälfte angemalt gesehen, damit die Hauptvorstellung vom Rahmen abgelöset und ein Ganzes würde« (7& 93). Die realistische Rundung der Darstellung wird nicht dadurch erzielt, daß die Imaginationen des Überirdischen die Form des dargestellten Gegenstandes ausmachen. Vielmehr handelt es sich beim Überirdischen um ein Randornament,
das mit dem Gegenstand der Darstellung selbst nichts zu tun hat (und auch nicht beachtet werden soll). Haupt- und Nebensatz machen Haupt- und Nebenlesart des literarischen Scheintods deutlich. Leibgeber zeigt nämlich viele Seiten, die sich nicht mit Siebenkäs Metaphysik verbinden lassen (das »zweite Leben, das er [Leibgeber] nicht glaubt«; 7 442) und eine zweite, parodistische Lesart des Theater-Tods nahelegen. Zu Leibgebers harter humoristischer Position gehört der bereits aus den Satiren
bekannte Rückbezug auf Diogenes von Sinope, den philosophischen und literarischen Vordenker des Humors und Gegner des für die Empfindsamkeit in Anspruch genommenen Plato (s. das Kapitel »Der französische Materialismus, die Fortsetzung
274 Blanke, Ich und Welt, S. 74ff., verwechselt Schattenriß und »Schatten-Menschen« und liest ersteren deswegen fälschlicherweise als Ausdruck innerlicher statt realistischer Schreibweise. 275 Kaisers (Jean Paul lesen, S. 96f.) Charakterisierung der Figur Leibgeber als Dekonstruktivist avant la lettre übersieht dessen Bemühung um eine realistische und referentielle Darstellung.
104
Zweites Kapitel
des Karnevals mit anderen Mitteln und Diogenes von Sinope«). Um an ihn anzuschließen,?7° onaniert Leibgeber — wenn auch nur in einer Phantasie — in einer als
»Diogenes-Faß«
beschriebenen öffentlichen Badewanne
(er treibt ȟppige unter
Wasser stehende Reis-Aehren und Wasserpflanzen [...] und dergleichen, aus dem Zuber heraus«; 7k 399).?7’ Beide, Diogenes und Leibgeber, verrichten ihre »heiligen
Taten«, um angeblich geistige Handlungen durch die eigene körperliche Bloßstellung als körperliche bloßzustellen.?”®
Leibgeber demonstriert weiterhin in Eintracht mit Diogenes das Projekt der »animalischen Selbsterhaltung«?”” am eigenen Leibe durch öffentliches Essen auf
dem Markt (7% 395)?®° und erweist sich in Siebenkäs’ Erbschaftsangelegenheiten als gewiefter Finanz-Betrüger. Es ist für ihn »Spaß über Spaß«, daß Lenette als »betrübtel]| Witwe«
und Natalie, indem sie auf Siebenkäs’ »Iod« eine »Pension von 200
Thlr. jährlich versichern lässet« (7% 362), vom Scheintod Siebenkäs materiell profitieren. Nach diesem Prinzip der »humoristische[n] [...] Falschmünzerei« (7% 467) zu handeln, heißt, die Falschmünzer-Anekdote des Diogenes, in der die Philosophie
der Physis gegen die des Nomos performativ stark gemacht wird,?®! neu zu adaptieren.
Diogenes inszenierte Philosophie wird zu einem Handlungsmuster Leibgebers, das sich auch ohne die direkten Bezüge auf die antiken Anekdoten im Roman wiederholt. Zwei Beispiele: 1.) Die Unsterblichkeit kann für Leibgeber, wenn man Plato (Symposion 209a) gegen den Strich liest, literarisch (als Nachruhm) und literal (als metaphysisches Kon-
strukt) auf die körperliche Fortpflanzung reduziert werden. Das einzig Reale in den ewigen Wiederholungen der Gedanken von der Unsterblichkeit sind dementsprechend die Verwesungsprozesse von Körpern. Leibgeber führt das in seiner Rede über den Ruhm so aus: »Gesetzt aber auch, ich läge wirklich mit dem Cornelius Agrippa unter derselben großen Laube und Staude von Lorbeerkränzen: so gieng’ es blos einem wie dem andern, wir faulten dunkel unter dem Buschwerke fort, ohne daß in Jahrhunderten einer käme und das Gestrippe aufzöge und nach uns beiden sähe« (7k 331). 276 Zur Onanie des Diogenes von Sinope vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, Buch VI, Absätze 46; 69. Zum Zusammenhang zwischen der Philosophie des Diogenes und dem Humor Jean Pauls vgl. auch G. Müller, Jean Pauls Asthetik und Naturphilosophie, S. 243ff.
277 Vgl. dazu ausführlich: Vf., Flußgott. 278 Dies gegen Böschenstein, Leibgeber, der die gleiche Passage interpretiert, ohne den zynischhumoristischen Aspekt auch nur zu thematisieren. 279
Niehues-Pröbsting,
Der Kynismus,
$. 148.
280 Vgl. diese Episode bei Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, Buch VI, Absatz 69. 281 Ebd., Buch VI, Absatz 71. Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der FalschmünzerAnekdote vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus, S. 55-95. Die Metapher des Falschmünzens bei Jean Paul wird auf ganz andere Weise (Tauschhandel von Texten) in Pross, Falschnamenmünzer, beschrieben.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
105
2.) In eine ganz ähnliche Richtung geht das zweite Beispiel. Schon zu Beginn des Romans, beim Abschied nach Leibgebers Hochzeitsbesuch, fragt Siebenkäs, ob sein
Freund noch an die Unsterblichkeit glaube. Leibgeber antwortet — bei einer Frage solchen Inhalts durchaus angemessen — mit einem Gleichnis: »In dieser Minute aber
kommen mir die Menschen wie die Krebse vor, die die Pfaffen sonst mit Windlichtern besetzet auf den Kirchhöfen kriechen ließen und sie für verstorbne Seelen ausgaben; so kriechen wir mit unsern Windlichtern von Seelen mit den Larven Unsterblicher über die Gräber hinüber — Sie löschen vielleicht einmal aus« (7% 94). Auch hier werden die Anzeichen des Rein-Geistigen, der unsterblichen Seele ohne
Körper, auf ihre materiellen Bedingungen zurückgeführt und als Betrug entlarvt. Nebenbei gesagt: Diese Geschichte hat sich Jean Paul nicht ausgedacht. Es handelt sich vielmehr um eine in der Frühen Neuzeit tradierte Aufzeichnung einer angebli-
chen Begebenheit. Sie läßt sich zum Beispiel bei dem Gegner der Hexenverfolgung, dem Agrippa-Schüler Johannes Weyer, nachweisen. In De Praestigiis Daemonum — ich zitiere nach der deutschen Übersetzung — wird die »geschicht« von dem »Pfarrherr[n]« erzählt, der eine »anzal lebendiger krebs« — mit Kerzen bestückt — am
»Carfreittag auff den kirchhoff« ließ, um später auf der »Canzel« vor dem »Fegfeuwer« zu warnen.?”?
Wie schon an den Satirensammlungen gezeigt und für den Siebenkäs an anderem Orte ausführlicher dargelegt,?? verdeutlicht der Rückbezug auf die Philosophie des Diogenes, daß die parodistische Schreibweise über die verschriftlichte Geste der mimischen Nachäffung entwickelt wird: Wie Diogenes, nur in der Rede, macht
Leibgeber die körperlichen Handlungen seiner Gegner nach, um performativ zu zeigen, daß all ihre hochtrabenden geistigen Bemühungen auf Essen, Stuhlgang und Fortpflanzung zu reduzieren sind. Und dieses Prinzip wendet Leibgeber auch gegen seinen Freund Siebenkäs an: in der parodistischen Demontage des Gedankens vom himmlischen Körper auf Erden.?8* Zuerst macht sich Leibgeber nur über die Präformationslehre (die die Basis für die Gedankenfigur vom himmlischen Leib bildet) lustig: »Denn Bonnet, der im
Magen mit steckt, wird, wenn er herausgehoben wird, sich niedersetzen und es auf seinem Schreibpulte darthun, daß alles ineinander stecke, eine Parenthese und Schachtel in der andern, Großvater
daß im Vater der Sohn,
folglich der Großvater
mit seinem
im Großvater jene zwei, im Ur-
Inserat, im Urur-Großvater
der Ur-
Großvater mit dem Inserat des Inserats und mit allen seinen Episoden sitze und warte« (7 137). 282 \Weyer, De Praestigiis Daemonum, S. 44f. 283 Vgl. Vf., Flußgott. 284 Zur Parodie Siebenkäs’ durch Leibgeber vgl. auch G. Müller, Mehrfache Kodierung, S. 85. Müller übersieht allerdings die anchropologische
und der Parodie (grotesker Körper).
Dimension
des Parodierten
(ätherischer Körper)
106
Zweites Kapitel
Des weiteren attackiert Leibgeber jedoch auch die »Stahlsche: Variante des Modells vom himmlischen Körper und wendet sie auf die aktuelle Situation an. Es ist ein Abend, an dem im Hause Siebenkäs’ über theologische Spitzfindigkeiten diskutiert wird. Stiefel »ließ es frei merken, daß er mit Salvian [...] und mit mehren guten
Theologen[] glaube, daß die Kinder Israel, deren Kleider 40 Jahre in der Wüste kein Loch
bekamen,
des Anzugs
wegen
immer
in einer Taille
blieben,
ausgenommen
Kinder, an denen der Rock, den man ihnen aus der abgelegten Garderobe der Verstorbenen zugeschnitten, zugleich mit dem Körper in die Höhe und Breite wuchs« (7k 424). Leibgeber will nicht nur, wie es im Roman heißt, »Stiefels exegetischen Wahnsinn« (7k 425) widerlegen, sondern erkennt die Ähnlichkeit zwischen dessen Bibe-
lauslegung und dem empfindsamen Gedanken vom Selbstbau und der Selbsterhaltung des Körpers durch die schöne Seele (angeblich nach Stahl). Die Geschichte der mitwachsenden Kleider dient Leibgeber als Metonymie des mitwachsenden Körpers: »Im ganzen israelitischen Heerzug konnt’ es kein Loch geben, außer was man von Aegypten mitgebracht, und das wurde nicht größer. Ja gesetzt, einer riß sich in der Trauerzeit ein Loch in die Bakke und in den Rock: so nähten sich beide Löcher selber mit einander wieder zu«. Jetzt macht Leibgeber zweierlei. Er erweitert die metonymische Erweiterung des Körpers noch einmal (von der Kleidung auf die Welt) und versteht das Wachstum dieses Welt-Körpers — nach »Stahl« — als der Seele entsprechend: »Jammer und Schade ists, daß diese Armee [der israelitische Herzug] die erste und die letzte blieb, bei
der die Montur eine hübsche Art von Ueber-Körper war, der mit der Seele wuchs, um die er lief - und wo allmählig der [...] Rock [...] aus einem microvestis zu einem macrovestis heran wuchs« (alle Zitate: 7%k 424f.).
Die Begriffe entnimmt Jean Paul Swifts Tale of a Tub. Dort, bzw. in der deutschen Übersetzung von 1758, wird die Welt als »Macrovestis« oder »großes Kleid« und der
menschliche Körper als »Microvestis« oder »kleines Kleid« bezeichnet.?®° In Leibgebers
Bibel-Exegese
wachsen
nun
also Körper
(microvestis),
Kleidung
(vestis)
und
Welt (macrovestis) synchron, und zwar — und das ist entscheidend — »mit der Seele« und aus ihr heraus. Die Kinder Israel werfen, so wendet Leibgeber die Bibel-Exegese auf den Gedan-
ken von der Unsterblichkeit der Seele an, mit dem Auszug aus Ägypten den alten inadäquaten Welt- oder Sozialkörper ab und erhalten im gelobten Land einen neuen, den die Seele nach ihren eigenen Bedürfnissen erhalten und bauen
kann.
Und
dieser Gedanke ist — daran läßt Leibgeber gar keinen Zweifel — ein spiritualistischer Selbstbetrug:
»Wie
ists aber in unsrer Wüste,
die nicht ins gelobte Land,
sondern
nach Aegypten führt? — Bei den Regimentern wachsen das ganze Jahr die Gemeinen, 285 Zitiert nach: JP 1.2, 1130.
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
107
aber kein Rock« (7k 425). »Der Chef« einer Kompanie, der auf das Modell »Kinder Israel« setzt, wird das Gegenteil seiner Hoffnungen erreichen. Seine Armee muß »wie die alten Athleten« (7% 425) kämpfen — nämlich nackt.
Leibgebers Analyse ist an Schärfe nicht zu übertreffen. Auch Siebenkäs glaubt sich auf dem Weg in das gelobte Land und fühlt sich schon in einem der Seele entsprechenden Körper. Doch er wird, so Leibgebers verschlüsselte Prognose, keinen himmlischen gewinnen. Alle Veränderung ist materiell zu erklären. Der Rest ist nackte Ideologie. Mit dem Spiel vom Scheintod kann Leibgeber seinem Freund Siebenkäs einerseits helfen und zugleich demonstrieren, daß dessen Metaphysik Betrug ist. Beides verträgt sich, so paradox das klingen mag, gut miteinander: Je stärker Leibgeber das Projekt seines Freundes macht, um so fester wird - um noch einmal den Richter der frühen Satiren zu zitieren — das »Gebis« der Satire (JP II.1, 556.). Leibgeber über-
gipfelt die Metaphysik der schönen Seele, um gleichzeitig in der Parodie zu zeigen, daß »das nackte Eis dieses Montblancs [...] unter wärmern Strahlen [...] den Himmel nicht mehr tragen« kann (JP 1.3, 1013).
Die internen Interpretationen der Geschichte treiben dabei diese selbst voran. Die Gedankenfigur vom seelischen Selbstbau des Körpers hat sich durch die Geste der mimischen Nachahmungen in Bewegung, d.h. in die Dynamik einer Geschichte, gesetzt (von Siebenkäs’ Ehe mit Lenette über seinen Scheintod bis zu seiner angeblichen Auferstehung), deren Richtung sich allerdings, je nach Standpunkt, vollkommen unterschiedlich darbietet: als ernstgemachtes Projekt des Himmels auf Erden oder als höllische Komik.
Exkurs: Leibgeber, die gestische Parodie und die Intertextualität Anhand der Figur Leibgebers läßt sich Jean Pauls humoristisches Intertextualitäts-
modell, das schon oben an den Satiren aufgezeigt wurde, präzisieren. Bachtin leitet die Dialogizität des Wortes und des Textes aus dem karnevalistischen Humor ab: Der parodierende Spaßmacher imitiert durch Gesten sein Gegenüber und distan-
ziert sich durch Übertreibung vom Vorgeführten. Diese Doppeldeutigkeit der Geste überträgt Bachtin auf die Ebene der Sprache: Auch das Wort und der Text können die karnevaleske Dialogizität der nachäffenden Geste besitzen?®° — z. B. in der Satire. Wie
bekannt,
hat Kristeva, darauf aufbauend,
ihr Modell von Intertextualität ent-
wickelt. Die Bachtinsche Ambivalenz aus direktem und (imitiertem) objekthaftem
286 Bachtin: Die Ästhetik des Worts, S. 190fF.
108
Zweites Kapitel
Wort (bzw. Text) ist für sie immer ein »Schreiben-Lesen«, also die Integration fremder Texte und Schreibweisen in den bzw. die eigene(n).27 Von
dieser Perspektive aus gesehen,
verwundert
es nicht, daß Leibgeber,
dessen
Humor sich genau der von Bachtin beschriebenen gestischen Parodie (bzw. deren Überführung in die Sprache) bedient, eine Theorie der Intertextualität vertritt: »Reisen und dozieren sollten Tausende: wer sich auf drei Tage einschränkt, kann sicher darin über alle Materien als außerordentlicher Lehrer lesen, von denen er wenig ver-
steht. [...] ich will an diesem Entenflügel ersticken, wenn solche Kathederfahrer und Kurrendlehrer (nicht Kurrendschüler) nicht über alles Szientifische lesen können [...]. So und auf diesem Wege (will es mir vorkommen), wenn hohe circulating schools[] so gemein würden wie Dorfschulen, wenn die Gelehrten (wie man doch
wenigstens angefangen) als organisirte Weberschiffe zwischen den Städten auf und niederfahren,
und den Faden
der Ariadne, wenigstens der Rede,
überall anhängen
und zu etwas verweben wollten« (7k 397). Leibgeber will eine Schnellausbildung für »peripathetische[] [sic] Privatdozent[en]« von seiner Art (ebd.). In wenigen Tagen soll man sich das Wissen für ei-
nen dozierenden Rundumschlag aneignen können — vorausgesetzt, so muß man hinzufügen, man beherrscht die Exzerpt-Iechnik von Leibgebers metonymischem Autoren-Wiedergänger Jean Paul. Die einzige Art des Dozierens ist für einen Humoristen — das entspricht der Diätetik der Loge — die Bewegung. Statt die Schüler kommen zu lassen und selbst stillzusitzen, bewegt sich der Lehrer auf seine tuendi zu — und zwischen den einzelnen Materien, die er sich aus fremden Büchern zusammengelesen hat. In dieser humoristischen Bewegung wendet der Humorist den »Faden« mit seinem »organisirteln] Weberschiff« so lange, bis der sich zu einer Textur zusammenfügt. Ein solches Literaturkonzept steht der empfindsamen Produktions-
technik Siebenkäs’, der den Faden der Textur wie eine Spinne aus sich selbst heraus produziert, diametral gegenüber.
Auch das ist eine metonymische Exemplifikation der humoristischen Schreibweise:?°® Die Verwendung fremder Textbausteine und Schreibweisen aus der Exzerptsammlung für Digressionen, Einschübe und Fußnoten wird zur vielschichtigen Parodie eines ernsthaft vertretenen Wissens bzw. des ernsthaften Gestus der Wissens-
vermittlung. Diese parodistisch verwobenen Textfäden machen — mit Bachtin — den Dialog im Text und — mit Kristeva — das intertextuelle Geflecht eines großen Textes aus.
287 Vgl. Kristeva, Bachtin, Zitat: S. 389. 288 Komischerweise bezieht Esselborn, Intertextualität, der eine Art Systematik der Jean Paulschen Intertextualität zu erstellen versucht, das Moment des Humors oder des Komischen nicht mit ein, obwohl er die Genese der Intertextualitätstheorie aus dem Geiste des Karnevalistischen kennt und nennt ($. 59).
Schöne Seelen und ihr Leben im grotesken Weltkörper
109
Der Dialog der Texte im Text macht sich dabei selbständig. Der Humorist Leibgeber ist nicht der Weber, sondern nur das Webschiff, ein Rädchen im »Perpetuum mobile« (JP 11.1, 517) der Textproduktion. Dementsprechend hat er selbst keine ei-
gene Stimme mehr, sondern vermittelt nur die verschiedenen Verlautbarungen über die Parodie zu einem Stimmengewirr.
Philosophisch-Lliterarischer Fürstenbund (Resümee) Im Siebenkäs wird, so läßt sich resümieren, durch die Schilderung der Freundschaft
von Siebenkäs und Leibgeber”®? die Dichotomie zweier Epistemologien, Moralvorstellungen und Ästhetik-Konzeptionen auf die Spitze getrieben. Auf der einen Seite steht die anthropologische Vorstellung vom ätherischen Körper, die ein stoisches Moral- und Lebenskonzept beinhaltet und eine nicht-realistische, empfindsame Erzählweise nahelegt, — zusammengefaßt in der Gedankenfigur der schönen Seele. Auf
der anderen Seite findet sich das Konzept einer Präzedenz des Materiellen und Körperlichen, das die Technik der Entlarvung des angeblich Geistigen und Heiligen fordert und auf ästhetischer Ebene einer satirischen Schreibweise entspricht, — zusammengefaßt in der Gedankenfigur des grotesken Körpers. Berücksichtigt man, daß auch Siebenkäs und Leibgeber Koautoren des Siebenkäs (bzw. metonymische Erweiterungen des Autors Jean Paul) sind, so legen die beschriebenen Geschichten und Texte dieses »Fürstenbundl[es] zweier exzentrischer Seelen« (7& 69) Fährten, wie der gesamte Siebenkäs (nicht nur der Scheintod) ge-
schrieben ist — oder besser, wie er gelesen werden kann: empfindsam-humoristisch oder parodistisch. In der einen Lesart wird die Geschichte einer metaphorisch zu verstehenden
(und
humoristisch
unterstützten)
sozialen
Neuverkörperung
einer
schönen Seele erzählt, in der anderen die teuflische Parodie (Leibgeber »[Jhinkt«!; 7%
70)2°° dieser empfindsamen Geschichte geboten.
Die poetische Selbstreflexion reicht bis in die Genese hinein: Siebenkäs’ Entwicklung vom Verfasser der Satirensammlung der Teufelspapiere über die, wie die Natalie der zweiten Auflage hinzufügt, »ernsthaften Anhänge« (7% 356) zum empfindsamen Autor zeichnet die Entwicklung der empfindsamen bzw. der empfindsamhumoristischen Schreibweise des »Verfasser[s] des Hesperus« (7k 178) (also Jean Pauls)
nach. Das Hinzukommen eines zynischen und satirischen Akteurs als Protagonist (und nicht mehr als Nebenfigur) kann dabei einerseits als Verstärkung und Diversifizierung von Empfindsamkeit und Humor
gelesen werden, andererseits als neu in-
289 Die Freundschaft ist dabei nicht nur, wie Durzak, Siebenkäs, $. 135, richtig feststellt, das Gestaltungsprinzip der Fabel, sondern auch der Schreibweise.
290 Auf die assoziative Nähe Schulz, Siebenkäs, S. 224, hin.
Leibgebers zum Teufel (allerdings nicht zum
satirischen) weist
110
Zweites Kapitel
auguriertes Moment im Gefüge der Schreibweisen, das für eine harte humoristische und parodistische Lesart des Romans wirbt. Die zwei Schreibweisen und die zwei dahinterliegenden anthropologischen Modelle schließen sich aus — logisch und in der Logik der Geschichte. Doch der Widerspruch, der aus der synoptischen Dynamisierung der heterogenen epistemischen und moraltheoretischen Ordnungssysteme erwächst, ist kalkuliert. Der »Kontrast beider Zustände« soll, wie es in einem frühen Text heißt, »unsre Aufmerksamkeit er-
regen« (JP II.1, 185) — für die Widersprüchlichkeiten im Menschen.
DRITTES
KAPITEL
Träume der Philosophie — Träume der Literatur (Briefwechsel und kleinere poetische Schriften)
Anschluß an die Debatten um die Transzendentalphilosophie
Bisherige Forschung und eigener Ansatz Im folgenden soll Jean Pauls Auseinandersetzung mit der "Iranszendentalphilosophie Fichtes rekonstruiert werden. In der Forschung gibt es dazu bisher zwei Positionen. Die Vertreter der ersten behaupten,
daß Jean Paul philosophisch inkompe-
tent und damit der Auseinandersetzung mit Fichte nicht gewachsen sei.??! Außerdem greife er sich in Fichte selbst an.??? Vertreter der anderen Position machen den Philosophen Jean Paul stark und weisen den Vorwurf, er habe sich in Fichte selbst
bekämpft, entrüstet zurück.” Allerdings sind die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Rekonstruktionen der philosophischen Position Jean Pauls teilweise lükkenhaft.??”* Insbesondere die Rolle Jacobis als Vermittler wird meistens unter-
schätzt.?”
291 Vgl. Proß, Geschichtliche Stellung, S. 45ff.; Brose, Verhältnis, S. 77ff., und Schweikert, Jean Paul, S. 43ff. 292 Vgl. Kommerell, Jean Paul, S. 343; Brose, Verhältnis, S. 86 (Begründung: Weil Jean Paul so oft Fichtes Begriffe benutzt [!]); Schweikert, Jean Paul, S. 43ff. (ohne Begründung). Blanke, Ich und Welt, S. 72, hält Jean Paul grundsätzlich für einen Fichteaner. 293 Vgl. Wiethölter, Illuminationen, S. 73ff.; Baierl, Transzendenz, S. 136ff.; Gehrs, Komische Philosophie, $. 190ff., und G. Müller, Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik. 294 Wiethölter, Iluminationen, die auf Brose, Verhältnis, aufbaut, behauptet, daß Jacobi und Jean Paul Fichtes Moral ablehnen, weil das moralische Gesetz keine Freiheit »beweist« (S. 87) bzw. Fichtes »absolute freie Tätigkeit [...] begrifflich nicht zu erklären ist« (Hervorhebung von mir). Meiner Ansicht nach geht der Vorwurf jedoch in eine andere Richtung. Gerade die Freiheit kann nach Jean Paul und Jacobi nicht bewiesen werden. Jacobi kritisiert an Fichte vielmehr, daß er Qua-
litäten in Begriffe auflöse, nicht daß er etwas begrifflich nicht klären könne. Jean Pauls Kritik an Fichte ist, wie ich denke, auch nicht darin begründet, daß er Gefühle für »authentischer« als Gedanken hält (S. 94), sondern weil jene die vordiskursive und unhintergehbare Bedingung aller
Sprache und Gedanken in ihr darstellen. 295 Harich, Jean Pauls Kritik, muß aufgrund ideologischer Vorbehalte Jacobi als schwachen Denker und humorlosen Autor abtun ($. 55), Albanos Geist wird dementsprechend mit dem der Wissenschaftslehre identifiziert. Auch Brose, Verhältnis, hält Jacobi für einen irrationalen Kopf (S. 72£.). So erklärt sich wahrscheinlich, warum Brose Jean Paul an Jacobi zweifeln läßt (S. 70).
112
Drittes Kapitel
Meine eigene Untersuchung beginne ich mit einer Rekonstruktion der philosophischen Konstellation,?? innerhalb derer sich Jean Paul bewegt. Auf diese Ergebnisse gestützt, vertrete ich die These, daß Jean Paul in der Debatte um die Transzen-
dentalphilosophie einen Standpunkt nahe dem Jacobis bezieht — und somit die Philosophie Fichtes explizit bekämpft. Allerdings scheint ihm ein Argument Fichtes bedenkenswert (und mit seinen eigenen poetologischen Überlegungen übereinstimmend): die Funktionszuweisung der Einbildungskraft als Initial auf dem Weg zum Absoluten. Im Rahmen der Transzendentalphilosophie ist dieses Argument für Jean Paul allerdings unannehmbar. Also sichert er es, wenn er es in seine Poetik inte-
griert (bzw. es dort als bereits integriert entdecken muß) — mit Hilfe Jacobis (aber
gegen dessen Intention) — so ab, daß der gegen Fichte erhobene Vorwurf, er ersetze die sinnliche Welt durch Vorstellungen der Einbildungskraft, für ihn selbst nicht
gelten kann.
Der Lehrer des Innersten: Friedrich Heinrich Jacobi
»Verehrtester Lehrer meines Innersten! — So oft dieses in der Philosophie einen Feind antrift, so denk’ ich an Sie als an den königlichen Beschüzer seines Glaubens
und wil mein Schreiben nicht länger verschieben. Und jezt thu’ ichs genöthigt, da ich in der neuesten Äusserung des Fichteschen Spinozismus drei Harmonien ohne einen supramundanen
Harmonisten finde, die der Sinnenwelt, die der moralischen
und eine dritte prästabilierte zwischen beiden, nach Art der 3 Tonleitern, der diatonischen, enharmonischen und chromatischen«. 2?
So beginnt Jean Paul den Briefwechsel mit Friedrich Heinrich Jacobi im Jahre
1798. Ohne längere Einleitungen gibt er den Zweck der Kontaktaufnahme an: In der Auseinandersetzung mit der neueren und neuesten Philosophie sucht Jean Paul eine Position, an die sich anzuschließen ihm erlaubt, den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit der Seele beizubehalten und aus ihnen eine »moralische Welt«?” zu formen.
Gleichzeitig soll die Richtung aber so avanciert sein, daß sich mit ihr die
Transzendentalphilosophie widerlegen läßt. Diese Leistungen spricht Jean Paul der Philosophie Jacobis zu.””? Die Metapher
für Fichtes Philosophie,
die der Harmonien,
entnimmt Jean Paul
seiner (gerade begonnenen) Arbeit am Brief über die Philosophie (JP 1.4, 1022). Dazu kommt
eine zweite Charakterisierung, die sich nicht im Philosophie-Brief findet,
296 Zum Begriff der Konstellation vgl. Henrich, Konstellationen, S. 22ff., und Frank, Unendliche Annäherung, S. 26ff. Zur Kritik der Begriffsverwendung vgl. Kurz, Ein Stern. 297 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 13.10.1798, HKA II1.3, 106. 298 Ebd. 299 Vgl. dazu G. Müller, Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik $. 67f.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
113
dafür aber (wenn auch leicht variiert) in den Untersuchungen:?°® Fichtes Philosophie ist ein »Spinozismus«. Damit nimmt Jean Paul Jacobis Argument aus dem FichteBrief, daß nämlich Fichtes Philosophie ein »umgekehrte/r] Spinozismus« sei (Fichte-
Brief 227), vorweg und gibt die Richtung für die weitere philosophische Auseinandersetzung vor: Die Argumente aus dem Spinoza sind auf die Debatte um die Iran-
szendentalphilosophie zu übertragen. Jacobis
Philosophie
bekommt
deswegen
einen
so hohen
Stellenwert,
weil Jean
Paul feststellt, daß ihm seine anderen philosophischen Leitbilder, Ernst Platner und Johann
Gottfried
Herder,
in der Auseinandersetzung
mit
dem
Idealismus
nicht
mehr weiterhelfen können. Mehrfach betont Jean Paul seine Schwierigkeiten im Umgang mit Ernst Platner, dessen Lehren er noch im Siebenkäs in seine Versuchsan-
ordnung integriert hatte. Platners »Eitelkeit«°®! scheint schwer erträglich und philosophisch nicht gedeckt zu sein. Jean Paul läßt durchblicken, daß er Platners Philo-
sophie letztendlich für vorkritisch hält. Nicht mal Kant »schien er [...] aufmerksam genug gelesen zu haben«.?” Auch von Herders Philosophie verspricht sich Jean Paul in der Auseinandersetzung mit der ’Iranszendentalphilosophie keine neuen Argumente. Vielmehr bittet er Jacobi, es »mit dem vom Staate etc. gebognen und wundgeriebnen Herder nicht genau«* Aber zurück zu Jacobi und einem Beispiel aus dem Spinoza: Nach »Leßing« ist, so höhnt »Jacobi«, »die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinander haben, [...] nur
ein Anliegen unserer Leiber; und der ganze Inhalt dieser Unterredung, in seine Elemente aufgelöst: Ausdehnung, Bewegung, Grade der Geschwindigkeit, nebst den Begriffen davon, und den Begriffen von diesen Begriffen« (Spinoza* 21). Die Aussage, daß das Individuum
nicht frei ist, ist innerhalb eines Geflechts von Propositio-
nen widerspruchsfrei. Sie steht aber im Widerspruch zu den Bedingungen Sprachspiels, die beide Teilnehmer akzeptiert haben müssen. Diese Methode wendet Jacobi nicht nur gegen den »Spinozisten« »Leßing«, dern auch gegen den Idealisten Fichte an??? und entwickelt so die wichtigsten steine seiner Philosophie: das Selbstgefühl und die unmittelbare Erfahrung
des sonBaueiner
(fremdpsychischen) Außenwelt. Der briefliche Dialog mit Jean Paul stellt in Jacobis
philosophischem Unternehmen eine Besonderheit dar, weil der Diskussionspartner kein Opponent ist und nicht widerlegt werden soll. Dementsprechend spielt das Moment des performativen Widerspruchs — zumindest gegenüber Jean Paul — keine Rolle. Jacobi thematisiert die Begründungsproblematik zwar, wenn er versucht, Jean
Paul über die Auseinandersetzung mit Fichte in seine Philosophie einzuführen, aber er wendet die eben skizzierte Methode nicht an. Unabhängig davon bleibt Jacobi in seinen Briefen gegenüber dem Philosophen Jean Paul immer ein wenig mißtrauisch. Kritisch prüft er immer wieder, wie sich das
von Jean Paul Geäußerte oder Veröffentlichte »zu mir verhält«.?%° Gerade am Anfang des Briefwechsels tut sich Jacobi schwer, dem Briefpartner sein unbedingtes philosophisches »Vertrauen« auszusprechen.??’ Obwohl er behauptet, den Autor der Palin-
genesien als Bündnispartner gegen den »transcendentalen Fohismus«?” anerkannt zu haben, bedarf es einer Art philosophischer Prüfung, bis Jacobi sagen kann, daß »alle Zweifel [...] verschwunden«°°? sind.
In der Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Fichtes werden vier Argumente ausgetauscht: die Kritik an der Philosophie der Reflexion, die Identifizierung
von
Idealismus
und
Materialismus,
die
Beschreibung
des
Idealismus
als
Traum bzw. Wahnsinn und die Frage nach der Konsistenz der Fichteschen Philosophie als Moral- und Erkenntnistheorie. Über diese Kritik entwickelt Jacobi (unter-
354 Vgl. hierzu ausführlich Vf., Anliegen. Zur Position der Frankfurter Schule in diesem Punkt vgl. Apel, Problem der Letztbegründung, und Habermas, Moralbewußtsein.
355 Fichte-Brief 260. 356 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 3.9.1800, Zoeppritz 279. 357 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 19.2.1799, Zoeppritz 208. 358 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 5.11.1798, Roth II, 259. 35 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 19.2.1799, Zoeppritz 208.
120
Drittes Kapitel
stützt durch Jean Paul) die wichtigsten Argumente der Gegenposition: Selbstgefühl, Glaube
an die Außenwelt
und
Gottesahnung — und Jean
Paul eine literarische
Sprachtheorie. Kritik an der Philosophie der Reflexion Bereits in seinem ersten Brief an Jean Paul, im November den »Vernünftler«,
»der sich nur 5ob/ denkt«
1798, spottet Jacobi über
und seine Hände
mit »seiner Hände
Werk«?°0 verwechselt. Gemeint ist, was Jacobi später im Brief an Fichte der Wissenschaftslehre vorwirft: das »Selbsthervorbringen ihres Gegenstandes« (Füchte-Brief 231). In diesem Prozeß wird der Geist, weil er nur seinen eigenen Denkwegen folgt, ein — wiederum vermeintlicher — »Welt-Schöpfer« und sein »eigener Schöpfer« (Fichte-Brief 234). Die zweite Metapher, die Jacobi verwendet, um die spottwürdige Philosophie zu charakterisieren, ist die des Mannes, der das Schneiden eines Bissens
mit dem Bissen selbst verwechselt. Das Schneiden steht für das »Abstrahiren und Reflectiren«, der Bissen selbst für den Gegenstand, über den reflektiert wird. »Das Philosophiren
übertreiben«,?°!
heißt,
so
lassen
sich
beide
Metaphern
zusammen
verstehen, den Abstraktionsvorgang über einen Gegenstand so weit fortzuführen,
bis der Gegenstand verschwunden
ist bzw. der Abstraktionsvorgang selbst zum
einzigen Gegenstand wird (wein nur sich selbst vorhabendes und betrachtendes Han-
deln«; Fichte-Brief 237).?% Das ist, nach Jacobi, das methodische Übel des Idealismus. Die Metapher wird im Brief an Fichte durch die des Strickstrumpfes variiert. Die Philosophie Fichtes ist, so heißt es dort, lediglich »ein leeres Weben seines Webens«.
Alle Bilder auf dem Strumpf sind nur noch Kombinationen aus dem »nackte[n] Faden«. Er allein strickt die »Wirklichkeit« zusammen (Fichte-Brief 236). Eine darüber
hinausgehende Realität kann nicht mehr in den Blick genommen werden. Jean Paul antwortet begeistert auf die metaphorische Einführung in die Kritik an der Philosophie der Reflexion, sieht sich aber — aufgrund mangelnder Lektüre — nur
zu einer allgemeinen Stellungnahme in der Lage. Für ihn ist Fichtes »Wirkung auf sich« (gemeint ist wahrscheinlich die Reflexion der Reflexion) ein »häsliche[r] An-
thropomorphism«, da Fichte die Wirkung auf den Körper mit der auf das handelnde Ich vertausche.?° Schon hier findet sich die kalkulierte Verwechslung von empirischem und absolutem Ich, die für die spätere Auseinandersetzung wichtig sein wird.
360 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 5.11.1798, Roth II, 260. 361 Alle Zitate ebd., S. 259f.
362 Zum Verhältnis von Abstraktion und Reflexion vgl. Baum, Vernunft, S. 114ff. 363 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 3.12.1798, HKA IIl.3, 130.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
121
Idealismus als invertierter Materialismus
Spätestens durch die Formulierung vom »umgekehrten Spinozismus« (Fichte-Brief 227) eröffnet Jacobi die für ihn typische Art der philosophischen Auseinandersetzung: den »Zwei-Fronten-Kampf« mit einem Argument. Materialismus und Idealismus sind in ihrer Konsequenz identisch und können deswegen mit der gleichen Waffe (dem Widerspruchs-Argument) geschlagen werden. Auch Jean Paul schreibt in der Clavis, daß »Influxionisten und Realisten« (JP 1.3,
1034) in der Konsequenz Idealisten seien, da sie durch das Räsonnement ihre eigene »Ordnung« kausal vor das »Sein[]« plazierten (JP 1.3, 1034). Gemeint ist dabei nicht der Realist,
der im
Sinne Jacobis
an die Außenwelt
glaubt,
sondern
— im
Sinne
Neebs — der »dogmatische Realist«, der die Außenwelt über das »Räsonnement[]«
erweisen will.3°* Identitätszuschreibungen funktionieren symmetrisch. Dementsprechend ist Fichtes Idealismus auch eine »Metastase« des dogmatischen Realismus, da das Setzen des Nicht-Ichs auf idealer Ebene wiederholt, was der dogmatische Realist auf der mate-
rialen Ebene vollbringt: das Sein über Vernunftschlüsse zu deduzieren
(JP 1.3,
1034f.). Jean Paul betont, daß er bzw. Leibgeber diesen Gedanken Jacobi verdankt (»und daher nennt Jacobi unsere Wissenschaftslehre eine Umkehrung desselben [des Spinozismus]«; ebd.), obwohl er sich, wie die Wortwahl (»Realist«) nahelegt, eher auf einen Gedanken Neebs zu beziehen scheint.
Neebs eigene Argumentation für die Identität von Materialismus und Idealismus nimmt jedoch nicht den Weg der Kritik des Räsonnements des dogmatischen Realisten. Vielmehr argumentiert Neeb, daß bei beiden philosophischen Richtungen die Differenz zwischen erkennendem Individuum und Erkenntnisgegenstand eingeebnet werde: »Bei beyden [dem Idealisten und dem Spinozisten] giebt es nur Ein reales Wesen, welches zu bestimmen, jener nach außen, dieser nach innen, den Forschblick kehret«.3%
Ähnlich, bis in die Orthographie hinein, äußert sich Jacobi zwei Jahre später. »Ihre
Richtung gegeneinander [gemeint sind Materialismus und Idealismus] ist Keinesweges divergirend, sondern allmählich annäherend bis zur endlichen Berührung«, weil
sie die »gleiche Gewißheit dieser zwey Sätze: Ich bin und es sind Dinge außer mir, ungleich« macht. Beide wollen letztendlich nur »Zin Wesen und nur Eine Wahrheit« (alle Zitate: Fichte-Brief 226; letzte Hervorhebung von mir). Wenn
einer der beiden
Sätze — gleich welcher — eliminiert wird, führt das immer zum gleichen Ergebnis:
Nihilismus, da Welt und Ich nur im Gleichgewicht bestehen können.
364 Neeb, Vernunft gegen Vernunft, S. 146f. 365 Ebd., S. 97; Hervorhebung von mir (»Ein« bereits im Original hervorgehoben).
122
Drittes Kapitel
Jacobi verwendet allerdings noch ein zweites Argument, das die Identität von Materialismus und noch bei Jean Paul Eine oft verwandte Jacobi über Fichte
Idealismus verteidigt. auf. Es ist der Vorwurf Formulierung Fichtes und Kant: »Sie haben
Dieses Argument taucht weder bei Neeb an Fichte, daß er den Geist mechanisiere. (z. B. Fichte I, 208) aufgreifend, schreibt die höhere Mechanik des menschlichen
Geistes entdeckt« (Füchte-Brief 239) ?°° Dieses Argument wird in dem (später so genannten) lext Ueber die Unzertrennlichkeit des Begriffes der Freyheit und Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft fortgeführt. In dieser zweiten Beilage zum Fichte-Brief möchte Jacobi die Unhintergehbarkeit der Freiheit, also desjenigen »Vermögen/s] des Menschen, Kraft deßen er selbst ist und alleinthätig in sich und außer sich han-
delt, wirkt und hervorbringt« (Fächte-Brief 259), belegen. Dieser Beleg ist gegen Materialismus und Idealismus zugleich gerichtet: »Eine Maschiene, ein Automat (geistiges oder körperliches ist einerley) vermag Kein Mensch zu achten« (Fichte-Brief 261;
Hervorhebung
von
mir)
— lautet
eine
aufschlußreiche
Formulierung.
Geht
man, wie Jacobi es Fichte vorwirft, nicht von einem der Reflexion vorgängigen Selbstgefühl aus, sondern hält die »/ntelligenz« für ein »nur begleitendes Bewustseyn« (Fichte-Brief 260), so denkt man den menschlichen Geist wie die Materialisten die Natur: wie eine Maschine. Obwohl Jean Paul sich auf keines der beiden Argumente Jacobis bezieht, sondern den Identitäts-Nachweis mit einer bei Neeb geliehenen (von diesem selbst aber, zumindest in diesem Zusammenhang,
nicht verwandten) Variante vorträgt, stimmt Ja-
cobi ihm — nicht zuletzt, weil Neebs Kritik des dogmatischen Realismus eine Weiterführung seines Arguments aus dem Spinoza-Buch ist?°’ — dennoch zu: »Mit dem Vorwurfe des Idealismus, den Du hier den Influxionisten machst, habe ich noch jedes mal diejenigen, die über Fichte lachten, ohne ihn zu verstehen, stutzig gemacht
und zum Schweigen gebracht«.?°8 Die Influxionisten oder Materialisten sind sich, so Jacobi, nicht im klaren, daß ihre Philosophie mit der des Idealismus in der Konse-
quenz identisch ist. Das Lachen über Fichte ist ein ausgelagertes Lachen über sich selbst. Weder Jean Paul noch Jacobi thematisieren jedoch, daß der oben zitierte Satz aus der Clavis (JP 1.3, 1034) von einem Materialisten ausgesprochen wird, der durch seinen »Übertritt [...] zur Wissenschaftslehre« (JP 1.3, 1019) gerade die von ihm 366 Vgl. dazu Bauer, Das Denken Spinozas, S. 174. Bauer übersicht allerdings die Konsequenzen dieses Arguments Jacobis für die Auseinandersetzung mit Fichte. 367 In seiner Argumentation gegen die Unmöglichkeit, die Realität der Gegenstände der Vorstellung über Räsonnement zu erweisen, zitiert Neeb als letzte Instanz Jacobi: »Wir können nur Aehnlichkeiten demonstriren, [Fußnote Anfang] denn Demonstration ist Fortschritt in identischen Sätzen [Fußnote Ende]; und jeder Beweis [Erweis] setzt etwas schon Erwiesenes zum Voraus [vor-
aus], wovon das Prinzipium [Principium] Offenbarung ist« (Vernunft gegen Vernunft, S. 220; Spinoza” 124. Abweichungen bei Jacobi in eckigen Klammern). 368 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 11.1.1800, Roth II, 291.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
123
behauptete Identität performativ nachvollzieht. Jacobi hat wahrscheinlich — zumindest gibt es zu diesem Punkt keine Äußerungen — nicht durchschaut, daß im Jean Paulschen Humor-Konzept die philosophische Implikation des Materialismus steckt. Jean Paul hat dies Jacobi gegenüber auch nie erwähnt. Vielmehr hat er, wie ich zeigen werde, die Probleme, die sich aus Jacobis Satz, daß Idealismus und Mate-
rialismus identisch seien, ausführlich — aber unter dem Schutz der Metapher — im
Titan und der Clavis diskutiert (s. das Kapitel »Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns«).
Traum und Wahnsinn der Transzendentalphilosophie Der dritte Punkt, mit dem Jacobi die Philosophie Fichtes beschreibt und kritisiert,
ist die Metapher des Wahnsinns und des Traums: »Dieses aber daß die Philosophie nur da ist um einen natürlichen Wahnsinn zu a priori zu begründen. Außer dieser Rechtfertigung hat sie keinen den ’Iraum der Erfahrung als Traum, an eine Deutung ist nicht zu
gehört ihm allein, rechtfertigen, und Zweck. Sie erklärt denken. Sie weckt
mich, um mich selbst und alles was außer mir ist, vor meinen Augen zu vernichten. Ein anderes Erwachen, als in dieser Theorie des Träumens, lehrt sie, giebt es nicht: um
zu seyn, muß ich träumen, und es giebt gar kein Seyn, außer einem träumenden«.?”
»Alles was außer mir ist, vor meinen Augen zu vernichten« — der Idealismus erklärt nach Jacobi die sinnlich wahrgenommene Außenwelt für einen Traum und vernichtet sie dadurch. So begeht er einen Widerspruch in Metaphern: Jemanden zu wecken, um ihm zu sagen, daß er träume, ist entweder sinnlos (weil der Geweckte
nicht mehr träumt) oder Betrug (weil man ihm vorspielt, das Wachen wäre ein weiterer Iraum). Das Argument ist eine Variation des Gedankens, dessen sich Jacobi schon im David Hume bedient. Dort wird wie in der zitierten Briefstelle (und im Brief an Fichte) die Metapher des Traums (oder des Wahnsinns) benutzt, um einen
logischen Fehler des Idealismus aufzudecken. Jacobi setzt das Wachen
mit der
»Wahrnehmung des Wirklichen« und das Träumen mit dem Sich-Verlieren in »Vorstellungen«
(Hume
232)
gleich:
Im
Traum
»schickt
sich«
die
Vernunft
»in
den
Wahn, wie sie sich in die Wahrheit schickt« (Hume 228), da »wir glauben was wir se-
hen« (ebd.) — unabhängig davon, ob es sich um Leistungen der Wahrnehmung oder der Einbildungskraft handelt.?”®
3% Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 16.3.1800, Zoeppritz 239. 370 Wahnsinn und Traum als einen Zustand zu beschreiben, der durch eine nicht-korrigierte
Einbildungskraft hervorgerufen wird, ist keine Erfindung Jacobis. Es handelt sich vielmehr um ein Argument, das auch in der psychatrischen Debatte der Zeit gebraucht wird. Vgl. z. B. (den auch von Jean Paul rezipierten) Arnold,
Beobachtungen,
S. 39ff.; I0ff. Zur psychatrischen
1800 allgemein vgl. Benzenhöfer, Psychatrie, S. 60-74.
Debatte
um
124
Drittes Kapitel
Die Aussage, daß alles ein Iraum ist, ist jedoch nicht widerspruchsfrei möglich: »Wer nie gewacht hätte, könnte nie träumen, und es ist unmöglich, daß es ursprüngliche "Träume, einen ursprünglichen Wahn gebe« (Aume 233). Jacobi stellt heraus, daß man für die Aussage, alles sei nur ein Iraum, die Erfahrung und aktuell
den Zustand des Wachens benötigt — und das bringt die Aussage in einen Widerspruch mit den Voraussetzungen ihrer Veröffentlichung (eine Frühform der Auflösungen der Gehirn-im-Tank-Problematik).?”!
Genau
das gleiche gilt, übersetzt man
lismus: Die Behauptung,
die Metapher
zurück,
für den Idea-
daß wir nur in Bildern der Einbildungskraft leben, steht
in performativem Widerspruch zu dem propositionalen Gehalt der Voraussetzungen, die wir bei Eintritt in ein Sprachspiel akzeptiert haben. Obwohl der Idealist
im
Philosophieren
gar
nicht
anders
kann,
als
als
Teilnehmer
einer
Sprachgemeinschaft zu argumentieren, trägt er eine Theorie vor, die genau das leugnet.
Im Brief an Fichte wiederholt Jacobi das Argument des performativen Widerspruchs, allerdings in modifizierter Form. Mittlerweile hat Jacobi die Vernunft auf-
gewertet. Sie ist nun das »Vermögen zur Voraussetzung des Wahren« (Fichte-Brief 239); ihre Leistungen sind denen der (täuschenden) Einbildungskraft diametral ent-
gegengesetzt. Die Vernunft ist demzufolge in der Wahrnehmung »überall beywohnend[]« (Fichte-Brief 240), so daß es sich bereits immer um »Wahrnehmung mit Be-
sinnung« (Fichte-Brief 240) handelt. Die Vernunftdurchdringung garantiert die Korrespondenz zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem. Im Traum oder (als dessen Verlängerung) im Wahnsinn kommt der Mensch jedoch von der Vernunft
ab. Die Leistungen der Einbildungskraft werden nicht mehr von ihr geordnet, und auch die Sinneswahrnehmung
ist nun keine »Wahr-Nehmung«
(Fichte-Brief 240)
mehr. Fichte, der nur auf die Wahrheit und nicht auf das Wahre geht und »das Ding« als nichts anderes als bestimmte »Verhältnisse durch die Einbildungskraft zusammengefasst« (Fichte I, 443) verstehen kann, gerät also auf theoretischem Wege in den » 7raum|[]« und wird — wiederum nur theoretisch — » Wahn-sinnig« (Fichte-Brief
240). Theoretisch deswegen, weil der Mensch die Bedingungen der Realität gar nicht umgehen,
sondern »zur mit den Lippen« leugnen kann: »Innerlich im Herzen
und im Geiste«, so läßt Jacobi Fichte wissen, »meynten« Abergläubische, Götzen-
diener und auch er »mit ihren verkehrten Redensarten und wunderlichen Einbil-
371 Vgl. Putnams Erklärung, warum wir keine Gehirne in Nährstoff sein können, in: ders., Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S. 17f.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
125
dungen doch das Wahre« (Fichte-Brief 252). Das ist nach Jacobi nämlich gar nicht zu umgehen.?”? Diese Wendung
seines eigenen Arguments
übernimmt Jacobi von Neeb
(oder
entdeckt sie bei ihm). Neeb schrieb bereits in Vernunft gegen Vernunft, daß der »dogmatische Idealist von seinem Glauben« nicht lassen kann, »wenn er schon sich
schämt, ihn mit dem Munde zu bekennen«.?’? Der Glaube kann gar nicht wegräsonniert werden, da er die Bedingung des Räsonnements ist. Jean Pauls Antwort auf die Metapher des Traums als Charakterisierung der Philo-
sophie Fichtes soll weiter unten eigens thematisiert werden, da in der Auseinandersetzung mit dieser Metapher Jean Pauls Poetik mit den Anleihen bei und der Distanz zu Jacobi deutlich wird (s. das Kapitel: »Iräume«).
Inkonsistenz zwischen Moralphilosophie und Spekulation Der vierte Punkt, an dem Jacobi und Jean Paul in ihrer Kritik an der Transzenden-
talphilosophie ansetzen, ist die Moral. Hier ist Jean Paul an der Ausarbeitung der Argumente stärker beteiligt. Bereits in einem Brief von 1798 an Jacobi wundert er sich darüber, daß die Moralphilosophie Fichtes — gemeint ist wohl die Sittenlehre — »treflich[]« sei, obwohl dessen Erkenntnistheorie nichts anderes als »moderne Luftleerheit« darstelle.?”* Ein ähnlicher Tenor findet sich in einem weiteren Brief an Jacobi aus dem Jahre 1799: »Ich lese eben seine Moral mit höchstem Bewundern und Unglauben«.?7° Wenige Monate später ist — veranlaßt durch eine Diskussion mit Ja-
cobi über Fichtes Bestimmung des Menschen — die Bewunderung dem Unglauben gewichen. Die Kritik setzt bei der Frage nach der Konsistenz der Philosophie Fichtes an. Die Moralphilosophie besitzt Implikationen, so die Kritik, die mit der Erkennt-
nistheorie nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. In der Sittenlehre löst Fichte das Problem des Fremdpsychischen so: »Das Vernunftwesen kann keine Handlung als wirklich denken, ohne etwas ausser sich anzunehmen, worauf diese Handlung gehe« (Sittenlehre, Fichte IV, 81). Und weiter unten: »Ich kann [...] aus der blossen Weise der Einwirkung schliessen auf das Daseyn eines vernünftigen Wesens,
nachdem
ich nun einmal den Begriff von wirklichen ver-
nünftigen Wesen ausser mir habe« (Sittenlehre, Fichte IV, 223).
372 Ähnlich argumentiert Jacobi auch in Von den göttlichen Dingen (SW III, 88) gegen Kant, den er in den handelnden Menschen und den nur mit Wissen aus Beweisen ausgestatteten Philosophen aufspaltet. Vgl. Weischedel, Jacobi und Schelling, S. 15ff. 373 Neeb, Vernunft gegen Vernunft, S. 147. 374 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 3.12.1798, HKA 111.3, 130. 375 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA 111.3, 252.
126
Drittes Kapitel
Die Annahme eines vernünftigen Wesens außer mir ist jedoch, so Jean Paul, nicht
mittelbar durch einen Schluß, sondern unmittelbar durch die sinnliche Wahrnehmung gegeben: »Denn die Gewißheit fremder Moralität und Immoralität ist nur eine sinnliche — durch lauter sinnliche Media« — und besteht nicht, wenn die Außen-
welt nur die »moralische[n] Voltigierpferde meiner Übung« abgibt (JP 1.3, 1043 inkl. Jean (bzw. mert« phie),
Fußnote).?’”° Hat man eine fremdpsychische Außenwelt, so muß man, laut Paul, diese über eine sinnliche Gewißheit erfahren haben. Und verfügt man Fichte in der Sittenlehre) über diese Gewißheit einer Außenwelt, so »zertrüm(ebd.) man den ganzen transzendentalen Idealismus (als theoretische Philosoda man
»hintenherum«
wieder
einführt,
was
man
ausgeschlossen
hatte:
die
Unmittelbarkeit des Gegenstandes in der Wahrnehmung. Den Vorwurf der Inkonsistenz macht Jean Paul der Philosophie Fichtes auch im Hinblick auf die Freiheit des handelnden Individuums: »Seine [Fichtes] praktische
Philosophie ist immer nur die Folge und Erläuterung [darübergeschrieben: »Schminke«] seiner theoretischen, und nicht ihre Schöpferin, weil doch der Begrif nicht vom
Unbegreiflichen, von der Freiheit anfangen konte.«’ Die praktische Philosophie verdeckt durch Schminke ihre Wurzeln, die Spekulation, wenn sie ein freies Indivi-
duum als Subjekt der Handlung setzt. Daß das »Bewusstseyn der Individualität« eine »Bedingung der Ichheit« (Sittenlehre, Fichte IV, 218) sein soll, ist mit der Wässen-
schaftslehre, in der (nach Jacobi) »Intelligenz« ein »nur begleitendes Bewustseyn« (Fichte-Brief 260) ist, nicht zu vereinbaren.
Dementsprechend kann die Sittenlehre, will sie, wie ihr Titel ankündigt, »nach
den Principien der Wissenschaftslehre« verfahren, kein freies Individuum annehmen. Gleichzeitig ist die Aussage, so Jean Paul in den
Untersuchungen $ 53, daß et-
was nicht frei, also mechanisch zu denken ist, nur von einem freien Individuum zu formulieren (und damit performativ widersprüchlich): »Naturmechanism ist nur durch Freiheit zu bemerken. Er drückt nur den Gegensatz einer anderen Natur aus, die wir kennen müssen, um jene zu begreifen« (HKA 1.7, 95). Eine Variante der Wahnsinnskritik Jacobis und Neebs. Der propositionale Gehalt der Voraussetzungen des Sprachspiels (»Ich bin als Teilnehmer des Sprachspiels frei«) steht im Widerspruch zu den Äußerungen in ihm (»Es gibt nur Mechanismus«). Die Argumente verdankt Jean Paul — wie so oft — Jacobi; genauer: dessen Referat seiner
Auseinandersetzung mit Reinhold über Text, den Jean Paul, nebenbei gesagt, kanntlich wertet Fichte in dieser Schrift leitung in die Wissenschaftslehre, wo noch
Fichtes Bestimmung des Menschen?”® — ein im Original noch nicht vorliegen hat. Bedie Spekulation gegenüber der Zweiten Ein»Speculation und Sitten-Gesetz sich innigst
376 Vgl. auch Wiethölter, Illuminationen, $. 89f. 377 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 21.2.1800, HKA 111.3, 299.
378 Zur Kritik an der Moralphilosophie Fichtes durch Jacobi vgl. (wenn auch unvollständig) Hebeisen, Jacobi, $. 19.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
127
vereinigen« (Fichte, SW I, 467), ab und die praktische Philosophie auf.?”? Jacobi
und Reinhold stehen diesem Versuch mehr als skeptisch gegenüber. Jacobi zitiert aus einem Brief von Reinhold an ihn: »Fichte befindet sich nie ausschließender auf dem
Standpunkte der Speculation, als wenn er sich über denselben emporgeschwungen zu haben glaubt — «.°°°
Auch für Jacobi ist eine Aufwertung der praktischen Philosophie unter Beibehaltung der spekulativen nicht möglich: »Durch Verbeßerung wird aber das Hokuspokus der Kritik seiner theoretischen Vernunft durch die practische, nur immer mehr als ein leeres Hokuspokus sichtbar. Um
sich zu helfen, Kantisiert und Jacobiniert er,
und macht dadurch sein Uebel nur ärger bey dem, der die Sache ein wenig beim Licht besehen kann«.??! Fichte muß bei der Aufwertung des Praktischen scheitern,
so die Argumentation Jacobis, wenn bei ihm die Freiheit weiter von der theoretischen Philosophie abhängt. Denn die hat bei Fichte (nach Jacobi) »keinen anderen Gegenstand, keine andere Absicht [...], als Natur, Individualität und Personalität zu
vernichten, denn ihr materieller Trieb ist Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Selbstgenügsamkeit durch Vertilgung allen Daseyns«.3? Daß Jean Pauls Kritik an Fichtes Moralphilosophie, wie gesehen, an den Begriffen der Individualität und der Außenwelt ansetzt, zeichnet ihn als Jacobi-Schüler aus.
Diese zwei Momente sind nämlich die Kernpunkte der Philosophie Jacobis, zu denen sich ein dritter gesellt: die Gottesahnung.
Gegenentwurf: Individualität und Selbstgefühl Individualität und Selbstgefühl sind die Stichworte, die Jacobi in der Zeit um
— veranlaßt durch mus, die Vernunft den Vordergrund Im April 1801 handele »von der
1800
die Niederschrift seines Textes Über das Unternehmen des Kriticiszu Verstande zu bringen (1801) — im Briefwechsel noch einmal in stellt. berichtet er Jean Paul von seiner Arbeit und schreibt, seine Schrift falschen Anmaßung der Philosophie, irgend etwas a priori oder ur-
sprünglich und absolut bestimmen, Anfang, Mittel und Ende, das ist ein Individu-
um hervorbringen zu können«.?®* Ganz ähnlich beschreibt Jacobi seinen Anspruch auch in der Schrift selbst. Er möchte beweisen, daß »der Kriticismus die Aufgabe,
379 Vgl. Jahnke, Das empirische Bild, S. 232ff. 380 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 13.2.1800, Zoeppritz 235. 381 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 16.3.1800, Zoeppritz 241.
32 Fbd., 240f. 383 Vgl. Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel, S. 261ff., und ders., Sprung in die Meraphysik, S. 214f. 384 Jacobi, Brief an Jean Paul, 30.4.1801, Zoeppritz 288.
128
Drittes Kapitel
welche er lösen wollte, wie Urtheile a priori möglich sind, nicht gelöst hat; daß sie überhaupt nicht gelöst werden kann, weil ein ursprüngliches Synthetisiren ein ursprüngliches
Bestimmen,
und
ein
ursprüngliches
Bestimmen
ein
Erschaffen
aus
Nichts seyn würde« (Jacobi, Unternehmen, GW III, 80).
Der Grund liegt in dem »Regressus« bzw. in dem Zirkel von Einbildungskraft und Sinnlichkeit. Die »Einbildungskraft« beruht »auf der Sinnlichkeit; die Sinnlichkeit wieder auf der Einbildungskraft« (Jacobi, Unternehmen, GW III, 115). So wird die Einbildungskraft eine Betrügerin — und das »Individuum« eine »Täuschung« (Jacobi, Unternehmen, GW III, 100). Die hier referierte Kritik entwickelt Jacobi bereits ein Jahr zuvor im Briefwechsel mit Jean Paul. Die Diskussion entspinnt sich daran, daß Jean Paul in der Clavis ein
Argument aus dem Spinoza-Buch”® zitiert und auf die Wissenschaftslehre anwendet: »Nur von der Seite der Individuation, sagt Jacobi, ist in den Spinozismus einzubre-
chen; das gilt auch von der Wissenschaftslehre« (JP 1.4, 1014). Ein ähnliches Argument verwendet Jean Paul, wenn er Fichtes Antwort auf Jacobis Brief kommentiert:
»Hier ist er [Fichte] unheilig. — Eine gewisse Individualität wird bei allem Bessern
und Heiligen vorausgesezt; jene hat oder ist Offenbarung; die Gattung oder Art hat nur TIradizion, die aber freilich nur wieder ein anderes Wort ist für dunklere Offen-
barung«.386 Jacobi äußert sich begeistert: »In das innerste meines Geistes bist Du an der Stelle eingedrungen, wo Du von Fichte sagst: »Hier wird er unheilig.« Individualität ist ein Fundamentalgefühl; Individualität ist die Wurzel der Intelligenz und aller Erkenntniß; ohne
Individualität keine Substanzialität,
ohne
Substanzialität
überall nichts.
Ichheit als eine bloßes Handlung des Gleichsetzens von — Nichts, als Nichts, in Nichts, durch Nichts, ist ein baarer Un-Gedanke; und das Entgegensetzen, als Be-
dingung dieses Gleichsetzens, eine wahre Tollheit, da ich zum Entgegensetzen nur ein Nichts plus Nichts, eine unendliche Größe von plus Nichts vorfinde. Reine Selbstheit ist reine Derselbigkeit ohne Der. — Der oder das ist nothwendig immer ein Individuum. Also liegt der Identität Substanzialität, der Substanzialität Individuali-
tät schlechterdings zum Grunde. Bewuft ist ein Adjectiv; es kann ohne Substantiv nicht gedacht werden, und dieser Substantivus ist das, was sich im Gefühl der Iden-
tität unanschaubar
darstelt.
Die
Persönlichkeit des Menschen
ist als ein blofßes
Schweben durch Synthesis ganz undenkbar; als ein Erzeugniß in der Zeit, als etwas, das durch Besinnung erst entstünde, ist sie erweislich unmöglich. Ich, Fr. Heinr. Jacobi erkenne mich als solchen ohne alles Merkmal,
unmittelbar,
Kraft meiner Sub-
stanz; ich brauche mich nicht erst zusammen zu setzen — — «37 385 Spinoza? 234: »Der Spinozismus kann nur von der Seite seiner Individuationen mit Erfolg angegriffen werden«. 386 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 21.2.1800, HKA IIl.3, 299f. 387 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 16.3.1800, Zoeppritz 238f.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
129
Auch hier entwickelt Jacobi seine Position aus den Widersprüchen seines Gegners. Fichtes Philosophie ist eine besondere »Tollheit«, weil sie entweder zirkulär oder
»nichts« ist. Läge der angeblichen »Synthesis« von Individualität nicht bereits die Individualität als »Fundamentalgefühl« zugrunde, wäre es eine Herstellung des Nichts aus Nichts. Dementsprechend können wir Bewußtsein gar nicht anders denken, als etwas, das einem Individuum zukommt und diesem logisch nachgeordnet ist.
Substanz und Individualität sind also aller Reflexion präzedent und können nur gefühlt werden (»Fundamentalgefühl«). Hier greift Jacobi einen Gedanken aus dem
Spinoza-Buch auf: »Selbst von unserem eigenen Daseyn haben wir nur ein Gefühl; aber keinen Begriff« (Spinoza 258; Fußnote). Für die Genese dieses Gedankens, der
auch für die Frühromantik von entscheidender Bedeutung ist,?®% ist eine weitere Stelle aus dem Spinoza-Buch aufschlußreich, in der Jacobi den Rousseauschen Be8 riff des »sentiment de l’Etre«?%? als für sich relevant erläutert: »Der Ausdruck, /e
sentiment de l’etre, den mir in dem Briefe an Hemsterhuis die französische Sprache an die Hand gab, war reiner und besser; denn das Wort Bewußtseyn scheint etwas von Vorstellung und Reflexion zu involvieren, welches hier gar nicht statt findet« (Spinoza? 105).7°°
Spätestens seit dem David Hume argumentiert Jacobi mit dem Selbstgefühl als Teil eines handlungstheoretischen Ansatzes. Indem wir »handeln«, heißt es in diesem Text, offenbart sich eine »persönliche Kraft«, und in dieser »lebendigeln] Erfahrung
in uns selbst« werden wir »uns in einem fort bewußt« (Aume 200f.).??!
Jean Paul kennt den Begriff des Selbstgefühls natürlich von Herder,??? bezieht sich hier aber eher auf Ernst Platner, der in den Philosophischen Aphorismen schreibt:
»Das Selbstbewußtseyn, (welches jeder völligen Vorstellung beygehet) kann ausgedrückt werden ohngefähr mit diesen Worten: Jch denke. Dieses Ich denke aber setzt
388 Vgl. Frank, Unendliche Annäherung, $. 673. Zur Bedeutung Jacobis für die Frühromantik allgemein vgl. Henrich, Der Ursprung, S. 13ff. 389 Rousseau, Emile, Kapitel IV (»Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars«), S. 279. 390 In seinen folgenden Ausführungen bezieht sich Jacobi interessanterweise auf den kantischen
Begriff der transzendentalen Apperception (KrV A 107), denselben Begriff also, den Fichte für das Gegenmodell, die intellektuelle Anschauung, bemüht. Zum Zusammenhang zwischen dem Begriff des Selbstgefühls und dem des Seins vgl. Frank, Unendliche Annäherung, S. 662ff.; Frank, Selbstgefühl. Demzufolge müssen die Rekonstruktionen von Hammacher, Die Vernunft, S. 222ff., und Schmidt-Biggemann, Teufel und Maschine, $. 265ff., die Jacobis Theorie der Individualität ledig-
lich aus Leibniz ableiten, sowie von Look, Gefühl, S. 223ff., der das Selbstgefühl immanent deutet, durch die sensualistische Tradition des Selbstgefühls ergänzt werden. 391 Zum Zusammenhang von Handlung und Freiheit vgl. Hammacher, Jacobi und das Problem, S. 126f.
392 Zu Herders Theorie des Selbstgefühls in Zum Sinn des Gefühls vgl. M. Heinz, Sensualistischer Idealismus, S. 104ff. Zu Jean Pauls Rezeption dieser Theorie vgl. Goebel, Philosophische Dichtung, S. 135f.
130
Drittes Kapitel
voraus das Gefühl Ich, als das vorstellende Subjekt: demnach ist das Gefühl Ich das
nothwendige Bedingniß aller Vorstellungen.?” Platner hatte in der Neuen Anthropologie das Selbstgefühl als das entscheidende Argument für eine Existenz der Seele angeführt und es der »Identität des Bewaustseyns« vorausgehen lassen (NA $ 158). Die Existenz der Seele wird also aus dem »zeugenden Anschauen des Selbstgefühls« (Platner NA $ 157) erklärt. »Aus dem Selbstgefühl, das heißt, aus der Vorstellung des Ich [...], kann und soll nichts anders bewiesen werden, als so viel: daß das Denkende,
ein von allen nahmhaften Theilen
des Körpers unterschiedenes Subjekt habe« (NA $ 159). Insofern kommt das Argument von Jacobi für Jean Paul nicht unerwartet, zumal Platner auch
das Selbstgefühl
mit der Individuation
zusammendenkt:
Diejenigen,
die die Seele und das Selbstgefühl leugnen, verwickeln sich in einen Widerspruch, nämlich den, daß »eine Vorstellung unter mehrere Subjekte vertheilt sein könne« (NA $ 158). Und doch zeigt sich hier ein deutlicher Unterschied der Schulen: Daß das Ich »von allen nahmhaften Theilen des Körpers unterschieden« (NA $ 159) sei, ist ein intellektuelles Erbe Platners, das Jean Paul nicht mehr ausschlagen kann.
Dementsprechend argumentiert er: »Wie sehr das Ich vom blossen Bewustsein persönlicher Verhältnisse in Platners Sin zu trennen sei: mach’
ich mir oft dadurch
deutlich, daß ich — gesezt ich würde durch die Seelenwanderung ein Negersklave, aber ohne von meinen jezigen Verhältnissen mehr im Gedächtnis [zu] haben als von denen vor der Geburt — gleichwohl davor schaudere; ob wohl es scheinen solte, als
sei es so viel als leide ein fremdes Ich«.3%% Die Identität des Ichs innerhalb eines stetigen Wechsels persönlicher (besser: körperlicher) Verhältnisse ist schwer mit der vorangegangenen Diskussion in Verbindung zu bringen. Während Jacobi, wie gesehen, das Selbstgefühl als etwas versteht, das nur in der körperlichen Handlung erfahrbar wird, baut Jean Paul seine Überlegungen auf dem Modell einer von aller Körperlichkeit losgelösten Seele auf. Selbst die Erinnerung an die persönlichen Verhältnisse wird noch in die Sphäre des Körpers verbannt. Die Seele oder das Ich ist bei Jean Paul nur Fortbestand und Bewußtsein (Ahnung) davon — mehr nicht.
393 Platner, Philosophische Aphorismen $ 126. 394 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 1.4.1800, HKA IIl.3, 315f. Jean Paul variiert hier einen Gedanken aus NA $ 223. Dort heißt es, daß die Seele und das innere Seelenorgan, auch
wenn sie »in ein anders Weltsystem fortgerückt« würden, mit »Bewußtseyn und mit Andenken an ihren vormaligen Zustand fortleben könnten«.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
131
Die Außenwelt In der Philosophie Jacobis ist jedoch nicht nur die Individualität, sondern auch die Außenwelt nicht über Reflexion herzustellen. Während sich die Individualität im Gefühl äußert, wird Außenwelt im Glauben erfahrbar.??? Jacobis Argumentation hat zwei Schritte. Der erste läßt sich gut aus einer Formu-
lierung Neebs ablesen, die einen Hauptgedanken des Spinoza-Buchs auf den Begriff bringt: Da »objektives Daseyn [...] nicht erwiesen werden« kann, weil »Existenz kein
Begriff ist, der zum Begriffe eines Gegenstandes synthetisch hinzugefügt, also auch nicht analytisch herausgeholt werden kann«,?% kann man für die Überzeugung, daß unseren Vorstellungen etwas in der Welt entspricht, nur den »Glauben«°?” gelten las-
sen. Jacobi selbst geht jedoch noch einen Schritt weiter: Er gibt dem Glauben an die Außenwelt (ebenso wie dem Selbstgefühl) eine Art pragmatischer Fundierung. Nicht
nur das Gefühl,
auch
der Glaube
werden
bei Jacobi
im
»Handeln«
(Hume
200f.) erfahren. Denn in der »That« wird uns die Welt unmittelbar gegenwärtig. Das Prinzip des performativen Widerspruchs durch Bezug auf die Gesprächssituation anwendend, fragt das Ich des ume-Dialogs sein Gegenüber: »So machen sie es in der That? — Also hier dieser Tisch [...]; meine Wenigkeit, die mit Ihnen spricht: wir werden, nur durch einen Schluß, aus Vorstellungen, für sie zu wirklichen Gegenständen« (Hume 174)?
Was soll der arme Disputant auf eine solche Frage anderes antworten, als daß er in der Handlung unmittelbar und »ohne« sein »Zuthun« (ebd.) das Bewußtsein besitzt, daß er existiert und daß etwas außer ihm ist (Aume 175)? Es ist also unumgänglich, so die Philosophie Jacobis, davon auszugehen, daß der Mensch in der Handlung
über Gefühl und Glaube die Außenwelt unmittelbar erfährt. Auf dieses Argument macht Jacobi Jean Paul in einem Brief vom März 1800 aufmerksam: »Ich bin Realist, wie es vor mir noch kein Mensch gewesen ist, und behaupte, es giebt kein ver-
nünftiges Mittelsystem, zwischen totalem Idealism oder totalem Realism. — Du bist der erste, dem ich mich auf diese Art entdecke«.??®
395 Vgl. Baum, Erkenntnisgewißheit, S. 10. Zur Engführung der beiden Begriffe Glauben und Gefühl vgl. Frank, Unendliche Annäherung, S. 664. Keineswegs schließt Jacobi übrigens die intellektuelle Erkenntnis in der Frage der Realität der Gegenstände aus. Vielmehr setzt er den Glauben an die Realität der Dinge als der Erkenntnis präzedent. Vgl. hierzu Hammacher,
Die Philosophie,
S. 3; Baum, Vernunft, S. 97ff., und ders., Erkenntnisgewißheit, S. 12. 396 Neeb, Vernunft gegen Vernunft, S. 223. Jacobi findet den Gedanken, daß Existenz kein Prädikat ist, in einer Frühschrift Kants, Dem
einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des
Daseins Gottes (1763; A 7) und entwickelt daraus seine Kritik des Spinozismus. Vgl. dazu Frank, Unendliche Annäherung, S. 667ff.
397 Neeb, Vernunft gegen Vernunft, S. 222. 398 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 16.3.1800, Zoeppritz, S. 239.
132
Drittes Kapitel
Das klingt beim ersten Lesen, als ob Jacobi hier seine eigene Position entwickelte,
ohne diese aus der Dialogik und nach dem Prinzip des auszuschließenden Widerspruchs herzuleiten. Doch Jacobi rechtfertigt sein Bekenntnis zum »totale[n] Realism« durch einen Rückgriff auf eine Stelle im Allwill, die er erst der Fassung von 1792 zugefügt hatte (und nach der er auch zitiert): »S. Allwills Briefsammlung
S. 164-165«.?”? Dort wird das nun schon bekannte Prinzip des performativen Widerspruchs vorgeführt. Gemeint ist der Brief von Cläre an Sylli vom 29. März. Dort berichtet die Schreiberin von einem philosophischen Streit mit Clerdon. Sie versteht nicht, wie dieser den Glauben an die Sinne, d. h. »Augen« und »Ohren«, umgehen
kann: »Warum will er nicht, daß ich, was mir hier gegeben ist, für echt und gut annehme, der Natur auf ihr ehrliches Gesicht glaube« (Allwill 224)?
Clerdons Theorie, daß man die Realität der Vorstellungen erst aus der »Bündigkeit der Schlußverkettung« (ebd.) ableitet, scheint ihr auf eine Selbstbezüglichkeit der Wahrnehmung hinauszulaufen, die im Nihilismus endet: »Denn ich fand: alles, was er vorbringe, laufe am Ende darauf hinaus, daß, weil wir nur mit den Augen sähen, nur mit den Ohren
hörten, wir auch nichts sähen als unsere eigenen Augen,
und nichts hörten, als unsere eigenen Ohren« (Allwill 223). Der Vorwurf Cläres lautet also, daß Clerdon den Nihilismus, das »Nicht-Nichts« (Allwill 226) mit seiner
Theorie der »Schlußverkettung« nicht ausschließen kann. Der Streit ist unentschieden, bis Allwill, durch Cläre bereits mit dem Gedankengut des Realismus infiziert, hereinkommt und im Laufe des Abends zwei Argumente findet, die Cläres Theorie stützen.
Cläres Position, daß wir immer ein »Etwas« empfinden (Allwill 226), ist nicht zu »begreifen« (ebd.). Man muß statt dessen den »Instinkt« (ebd.) annehmen, »Wesen und Wahrheit, als das Erste und Festeste, unmittelbar, vorauszusetzen« (Allwill 227). Dieser Instinkt, der einem die Existenz der Dinge außerhalb des Menschen
unmit-
telbar vor das innere und äußere Auge führt, ist nicht zu beweisen. Allwills und Clä-
res Gegner könnten jedoch gar nicht diskutieren, bedienten sie sich seiner nicht: »Merken Sie sich doch, mein Fräulein, sagte Allwill zu mir, und bewundern Sie, wie
uns diese Herren zum Besten haben. Sie fußen, wie wir, auf einem ursprünglichen Instinkt« (Allwill 227).
Allwills Argumentationsstrategie ist es, seinen »Verächtern die vollkommene Nichtigkeit ihrer Ansprüche, wenn sie auf ein wahrhaftes wesentliches Etwas auch nur die entfernteste Weisung ertheilen zu können, ja nur ein verständliches Wort, es sey für die Sache oder ihre Weisung, zu haben sich vermessen, unaufhörlich vor Augen [zu] stellen« (ebd.). Mit einer Theorie, wie sie Clerdon und sein Freunde stark
machen (nämlich diesen Instinkt zu leugnen), kann man nicht mehr den Anspruch vertreten, von einem Etwas »ja nur ein verständliches Wort« zu sprechen — aber 39
Ebd.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
133
Theorien benötigen nun einmal verständliche Worte, um im Disput vorgetragen zu
werden. Nach einem Moment des Zweifelns — der Abend ist weit fortgeschritten — bringt Allwill, nun nur noch im Gespräch mit Cläre, das zweite Argument vor (auf das Jacobi in dem Brief an Jean Paul direkt verweist): »Wir scheinen ein Hauch, oft nur
der Schatten eines Hauches zu seyn; oder wie ein alter Dichter sich ausdrückte: eines Schattens Traum.
Aber ein Wesen,
das nichts als Schatten;
ein Wesen,
das lauter
Traum wäre, ist ein Unding. Wir sind, wir leben, und es ist unmöglich, daß es eine
Art des Lebens und des Daseyns gebe, die nicht eine Art des Lebens und Daseyns des höchsten Wesens selbst wäre« (Allwill 232; in der Ausgabe von 1792, nach der Jacobi zitiert: S. 164f.).
Die Position eines unendlichen Zweifels widerspricht sich selbst. Das Bewußtsein, in einem unendlichen 'Iraum zu leben, setzt das Bewußtsein von einem anderen Zustand immer voraus (sonst wäre es ein »Unding«). Diesen Zustand bestimmt Jacobi
als Wachen — und Gottesahnung. Eine Variation des Argumentes aus dem Aume: Die Aussage, daß alles nur Vorstellung oder Traum ist, steht im Widerspruch zu der Sprechsituation, die durch einen vordiskursiven Glauben an die Außenwelt gekenn-
zeichnet ist. Zurück zum Briefwechsel zwischen Jacobi und Jean Paul: Diese am AllwillBeispiel skizzierte pragmatische Variante des Realismus schlägt Jean Paul nicht ein.
Sein Weg führt vielmehr über das Primat des Praktischen. Auch er leitet — als gelehriger Schüler Jacobis — seine Position aus dem Widerspruch seines Gegners Fichte her. Der »Nachweis«, daß die Setzung eines empirischen Nicht-Ichs die sinnliche Wahrnehmung impliziert (s. das Kapitel: »Inkonsistenz zwischen Moralphilosophie und Spekulation«), führt ihn zu der einzig möglichen, nämlich realistischen Positi-
on: »Je älter man wird, desto demüthiger glaubt man an die Allmacht der Objektvität. Gott ist das wahreste und einzige Subjekt. Ach wie viel ist nicht an [darübergeschrieben: »in«] uns selber, Bewustsein und Wollen ausgenommen, Objekt«!?00 Den Begriff der Objektivität des Menschen versucht er im gleichen Brief noch genauer zu fassen. Fichte, so schreibt er, »ist in dem Grade subjektiv, daß er gar keine Existenz, die immer objektiv ist, zulassen, sondern die eigne immer als ein subjekti-
ves Handeln geben sollte«.*%! Die Existenz des Menschen als objektiv zu bestimmen, ist jedoch ein Gedanke, der sich mit Jacobi nicht vollständig in Übereinstimmung bringen läßt. Zwar wird diesem die Aussage, daß man
an die Objektivität glauben
müsse, gelegen haben, nicht jedoch die, daß Gott das einzige Subjekt sei. Dies mußte — trotz der Einschränkung »Bewustsein und Wollen ausgenommen« - in seinen Ohren wegen des angedeuteten Monismus fast ein wenig spinozistisch klingen. 40 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 1.4.1800, HKA IIL.3, 316. “1 Ebd.
134
Drittes Kapitel
An dieser Stelle stockt der Briefwechsel. Erst im September schreibt Jacobi wieder an Jean Paul und beginnt, wie so oft, einen neuen Strang der Diskussion.
Gott und das Unendliche Nach Jacobi erfahre ich in der Handlung, in der ich gleichursprünglich meine Individualität und die Außenwelt unmittelbar spüre, noch eine dritte Größe: Gott. »Der Grad unseres Vermögens, uns von den Dingen außer uns intensiv und extensiv zu unterscheiden,
ist der Grad unserer Persönlichkeit, das ist, unserer Geisteshöhe. Mit
dieser köstlichsten Eigenschaft der Vernunft erhielten wir Gottesahndung« (Hume 285). In der Literatur ist die Gottesahnung bei Jacobi als ein Analogieschluß“0 bezeichnet worden. Die Formulierung legt den Widerspruch zwischen Anspruch und tatsächlicher Argumentation bei Jacobi offen: Während ich Selbstgefühl und Glaube
an die Außenwelt vor aller Argumentation annehmen muß, ist Gottesahnung keine Voraussetzung von Handeln und Sprechen — und damit Glauben und Gefühl nachgängig. Dementsprechend kann Jacobi das Gottesgefühl auch nicht als der Gesprächssituation präzedent setzen, sondern muß es aus dem dort erfahrenen Selbstgefühl und Glauben ableiten. Gleichzeitig hält Jacobi jedoch den (nicht gerechtfertigten) Anspruch aufrecht, daß die Gottesahnung nur unmittelbar — und nicht über einen nachgängigen Vernunftschluß — erlangt werden darf. Selbstgefühl und Gotteserfahrung: Die Erfahrung des Übersinnlichen wird mit der Erfahrung der individuellen Freiheit enggeführt: Das »Bewußtsein unserer eigenen Causalität, das ist unseres Lebensprinzipes,« macht es unumgänglich, heißt es im Spinoza, »überhaupt Intelligenz, und zwar eine allerhöchste reale, die [...] als ein durchaus unabhängiges, supramundanes und persönliches Wesen gedacht werden muß, als das erste und einzige Prinzip, als das wahre Urwesen anzunehmen« za” 263). Wesen
Und
bin,
an[zulnehmen,
noch genauer: macht
es
Die Erfahrung
notwendig,
die mir durchaus
»eine
in der Handlung,
Quelle
des
Denkens
(Spino-
daß ich ein freies und
Handelns
unerklärlich bleibt« (Spinoza? 28). Selbst- und
Gotteswahrnehmung basieren auf dem gleichen Ausgang aus der Erklärbarkeit, der Domäne der mechanistischen, adjektiven Vernunft, und der gleichen Hinwendung zur unerklärbaren und subjektiven Vernunft (Beylage II zum Fichte-Brief 257£f.). Mit dem Verstand oder der mechanischen bzw. instrumentellen Vernunft können weder Freiheit noch Gott erkannt werden.‘
Jacobi zitiert gegenüber Jean Paul seinen
#02 Baum, Vernunft, S. 179ff. Vgl. außerdem Hammacher, Die Philosophie, S. 42ff. 40 Vgl. zum Zusammenhang von Freiheit und Gott weiterhin: Jacobi, GW II, 99, und SWL,
348ff.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
135
Schüler Koeppen: »Der Glauben an Gott bleibt unbegreiflich, und je sorgfältiger man ihn zu erklären sucht, desto mehr entfernt man sich von ihm.«?%
Glaube an die Außenwelt und an Gott: Auch der Glaube an die Außenwelt und der an Gott werden bei Jacobi enggeführt.* Im Briefwechsel kommt Jean Paul mit einem Argument zu Hilfe. Er hatte, wie oben erläutert, in der Clavis behauptet, daß
die Moral den »Schneeklumpe des Realismus, den wir [Leibgeber/Fichte] vorher mit so vieler Hitze und Dinte zerlassen haben, wieder vor die Tür gesetzt« (JP 1.3, 1040) bekommt, da an den »heraldische[n] Figuren« (JP 1.3, 1039), die das moralische Ich
annehmen muß, immer die »Realität der Sinnenwelt« (JP 1.3, 1040) klebe. Jacobi stimmt
dieser Äußerung
begeistert zu: »Die Art, wie Du,
im Abschnitte
von der Viellcherei, der Hülfe aus der Moralphilosophie begegnest, und dem Erfin-
der den alten grauen Schneeklumpen des Realismus wieder vor die Thüre bringst, ist vortrefflich«.*0° Auch für Jacobi sind Realismus und der Zugang zum Übersinnli-
chen der Moral nicht voneinander zu trennen. Als Begründung für den Rückzug auf den »totale[n] Realism«*” — also die Theorie, die die unmittelbare Erfahrung der
Außenwelt als aller Reflexion präzedent erklärt — schreibt Jacobi an Jean Paul charakteristischerweise weiter: »Der ’Irieb des Menschen ist, durchzudringen zum Wahren.«408
Das Übersinnliche ist also nur über das Sinnliche, das durchdrungen werden muß, zu erreichen. Den Begriff des Wahren verwendet Jacobi im Fichte-Brief, um ihn von dem der Wahrheit abzugrenzen: »Beyde wollen wir also [...], daß die Wißenschaft des Wißens
[...] vollkommen werde: nur mit dem Unterschiede: daß Sie es wollen,
damit sich der Grund aller Wahrheit, als in der Wißenschaft des Wißens liegend zeige; ich, damit offenbar werde, dieser Grund: das Wahre selbst, sey notwendig außer ihr vorhanden«
(Fächte-Brief 231). Das Wahre erlangt der Mensch nur durch das
Verlassen der philosophischen Vernunft zugunsten des »instinktmäßig[en]« Handelns (Fichte-Brief 241). Der Instinkt, der — wie anhand des Allwill gesehen — zum Glauben an die Außenwelt führt, führt auch zu »Gott« (ebd.).*”
Bei dieser Argumentation stimmt Jacobi mit Bouterwek überein.*!" Bouterwek hatte in einer Rezension zu Bardilis Grundriß der ersten Logik von 1800 dem Verfas-
#4 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 30.4.1801, Zoeppritz 289. 05 Zöllers Versuch, den Glauben an die Realität der Außenwelt vom religiösen Glauben zu differenzieren, übersieht die Argumente im Hume (Zöller, Element der Gewißheit, S. 28). 406 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 11.1.1800, Roth II, 291.
7 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 16.3.1800, Zoeppritz 239. 408 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 16.3.1800, Zoeppritz 237. 49 Zum Begriff des Instinkts bei Jacobi vgl. die Beylage II zum Fichte-Brief 274. Die Jean Paulsche Rezeption des Begriffs findet sich in den Philosophischen Untersuchungen $ 27; 107 (HKA 11.7,
90f.; 107). Vgl. auch Buschendorf, Nachwort, S. 407. #10 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 30.4.1801, Zoeppritz 289.
136
Drittes Kapitel
ser nachgewiesen, daß er »die Erkenntnis der absoluten Realität«“!! aus der Logik und »Gott« als »Fazit einer Rechnung«®!? zu erweisen suche. Dabei mache er den Fehler aller Metaphysiker, nämlich das »reine[] Denken«®!? mit dem mathemati-
schen zu verwechseln. Das reine Denken ist jedoch nach Bouterwek vielmehr der »erste Akt der Freyheit« und nur im »reine[n] Glauben«*!* zu erreichen.
Bouterwek argumentiert auf der Basis seiner Apodiktik von 1799, in der er den reinen Gedanken« mit dem Glauben an Gott gleichsetzt.*!? Dieser Glaube ist es, der die »Antinomie des absoluten Real- und Ideal-Princips«*!° auflösen kann. Nur durch den Glauben ist der für die reine Vernunft des Menschen unmögliche Übergang von der »Erkenntnißwelt zur moralischen« möglich.*'’ Soviel zur Engführung von Glauben an die Außenwelt und Glauben an Gott bei Jacobi. Jean Paul ist jedoch wahrscheinlich nicht bis zu dieser Stelle in der Apodiktik
vorgestoßen. In diesem Zusammenhang ist für ihn vielmehr ein Argument Neebs entscheidend, der —- im Gegensatz zu Bouterwek und Jacobi — nicht über den Glauben an Gott zur Moral, sondern über das moralische Gefühl den Weg zu Gott fin-
det. Neeb argumentiert in Vernunft gegen Vernunft anfangs noch ganz im Sinne Jacobis: »Das Unendliche und Endliche ist unläugbar, dem Bewußtseyn gegenwärtig, das eine durch die Vernunft, das andere durch die Sinne«.*18
Der Naturglaube an die Dinge außer mir und der Vernunftglaube an Gott sind untrennbar miteinander verbunden. Im Gegensatz zu Jacobi betont Neeb jedoch eher einen stoischen Weg zum Unendlichen, den der latente Stoiker Jean Paul mitgeht: »Das Gefühl des Göttlichen« dürfen wir nicht »außer uns« suchen, sondern: »Wir müssen in uns einkehren«. »Jener Glaube der Stoiker an das inwohnende
Göttliche« nimmt dabei den Weg über die Moral bzw. den moral sense: Der »Zusammenhang
des objektiven Göttlichen,
mit dem
subjektiven
Gefühle des Sittlich-
guten«*!? ist nicht durch »mathematische Demonstration« zu beweisen, sondern kann sich nach Neeb nur »unmittelbar im Bewußtseyn offenbaren«, da das subjektive Gefühl der Moral auf das objektive Göttliche verweist.*?° Neeb bezieht sich dabei auf Autoren, die auch für Jean Pauls philosophischen Werdegang entscheidend sind:
Epiktet und Antonin.??! 411 Bouterwek, Rezension, S. 90. #12 Ebd., S. 95. #13 Ebd., S. 91.
#14 Ebd., S. 94. #15 Bouterwek, Apodiktik, Bd. II, S. 287. #16 Bouterwek, Apodiktik, Bd. I, S. 286.
#17 Bouterwek, Apodiktik, Bd. Il, S. 276. 418 Neeb, Vernunft gegen Vernunft, S. 272. 419 Ebd. S. 316f.; 319; 302 (Hervorhebung von mir).
#20 Zum Begriff des moralischen Gefühls vgl. Baum, Erkenntnisgewißheit, S. 21. #21 Neeb, Vernunft gegen Vernunft, S. 302£.; 318, Fußnote. Zum Rekurs auf die Stoa vgl. außerdem ebd., S. 349; 350; 352. Zur Auseinandersetzung mit der lateinischen Stoa vgl. die Briefe Jean
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
137
Dieser für Jean Paul entscheidende Zusammenhang von subjektivem moralischem Gefühl und objektivem Göttlichen — zusammengefaßt in der Formulierung des »innewohnenden Göttlichen« — findet sich nicht im Briefwechsel selbst, dafür aber im Titan wieder. In Speners Totenrede heißt es, daß »man schon hier bei Gott sein könne, sobald man nur Gott in sich habe« (JP 1.3, 827) — ein Niederschlag der
Neebschen Stoa-Interpretation (s. auch das Kapitel: »Die Wunder der Optik in der Außenwelt«). Jean Pauls Kritik an der Reflexion in der Sprache
Jean Pauls eigene Kritik am Idealismus setzt an seiner Sprache an: »Zugeben mus man all seine [Fichtes] Schlüsse, wenn man ihm die Sprache zugiebt.«*?? Aber genau das will Jean Paul nicht tun, »weil nämlich [...] die Philosophie in einer gewissen Höhe, wo der Begrif, die Abstrakzion, Reflexion etc. wieder der Gegenstand des Be-
grifs etc. ist und die Thätigkeit [...] der der Thätigkeit, jede Sprache eine Lügnerin und Verfälscherin ist [...]. Die von dir gerügte Verwandlung der Qualitäten in Quantitäten reicht durch die ganze Sprache und verdirbt alles«.*?3 Der Vorwurf, daß Fichte Qualitäten in Quantitäten umwandle, findet sich schon in den Philosophischen Untersuchungen ($ 111, HKA 11.7, 108; vgl. auch $ 152,
HKA II.7, 116f.) und im Fortdauer-Aufatz.“”* In beiden Fällen bezieht sich Jean Paul auf Jacobi, der das Argument — wie so oft — erst gegen den Spinozismus, dann gegen den Idealismus verwendet. In der Beylage I zum Fichte-Brief zitiert Jacobi sich selbst, d. h. einige Passagen aus dem Spinoza (Spinoza? 258), die er nun auf Fichte anwendet. Es handelt sich um das von Bacon übernommene,??° aber pejorativ verwandte Argument, »daß wir unmöglich begreifen können, was wir zu construiren nicht im Stande sind« (Fichte-Brief 257). Qualitäten lassen sich jedoch nicht begreifen, da es von ihnen nur »Anschauungen« gibt. Versucht man es dennoch, so hat
man sie »auf Größe, Lage und Bewegung zurückgeführt und darin aufgelöst; also: [...] die Qualität odjectiv vernichtet« (ebd.).
Pauls an Pfarrer Vogel, 3.3.1785; 11.9.1785 (HKA IIl.1, 153f.; 173); weiterhin JP Il.1, 487; 1.2, 35; 124; 126; 178 und bes. 207; JP 1.3, 460. 422 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA 11.3, 253. #23 Ebd., S. 252. #24 IP 11.2, 783 (Fußnote): »Die Philosophie verwirte sich am meisten dadurch, daß man sich das vorstellen (d. h. ein sinliches Bild davon machen) wolte, was schlechterdings nur gefühlt werden kan, d. h. alle Qualitäten (blos Quantitäten sind vorstellbar), z. B. Kraft, Wirkung, Existenz, einfache Wesen, deren Nothwendigkeit wir so gut fühlen als die Unmöglichkeit ihrer iemaligen Vor-
stellung«. Vgl. auch die Ausführungen und die Forschungskritik in Fußnote 140. #25 Vgl. auch die Auswertung der Kladden zu diesem Punkt bei Radrizzani, Auseinandersetzung, > 1%
Bacon, Novum
Organum, Buch II, Aphorismen
1-9.
138
Drittes Kapitel
Die Formulierung von der objektiven Vernichtung taucht (mit Verweis auf die
eben zitierte Stelle im Anhang) auch im Haupttext des Füchte-Briefs auf, wenn Jacobi seinen Kontrahenten paraphrasiert: »Wenn daher ein Wesen ein von uns vollständig begriffener Gegenstand werden soll, so müssen wir es objectiv — als für sich bestehend
— ın Gedanken aufheben, vernichten, um es durchaus subjectiv, unser eigenes Geschöpf - ein bloßes Schema — werden zu laßen. Es darf nichts in ihm bleiben und einen wesentlichen Teil seines Begriffes ausmachen, was nicht unsere Handlung, jezt
eine bloße Darstellung unserer productiven Einbildungskraft wäre« (Fichte-Brief 234). Kurze Erläuterung zu den Begriffen: In der Kritik der reinen Vernunft ist ein Schema zu einem Begriff die »Vorstellung [...] von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen« (KrV A 140). Die Sche-
mata sinnlicher Begriffe vermitteln also zwischen Begriff und Bild. Das Bild eines einzelnen Hundes, so das Beispiel Kants, »ist ein Produkt des empirischen Vermö-
gens der produktiven Einbildungskraft« (KrV A 141). Die »Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein« (ebd.) dagegen ist »ein Produkt und gleichsam ein Monogramm
der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch [...] die Bilder allererst möglich werden« (KrV A 142). Jacobi wirft nun Fichte vor, daß bei ihm alle Anschauungen,
zelgegenstandes,
zu Schemata,
d.h.
zu
»bloße[n]
auch die eines Ein-
Darstellung[en]«
bzw.
reinen
Handlungen der Einbildungskraft, werden, bei denen die sinnliche Wahrnehmung eliminiert ist. Der Weg, der zu dieser Welt der Schemata führt, ist nach Jacobi der
der Reflexion.
Diese Kritik nimmt Jean Paul auf und überträgt sie von der mentalen Tätigkeit auf die Ebene der Sprache oder, um es mit Kant zu sagen, vom Begriff auf den Ausdruck. Wenn der »Begrif, die Abstrakzion, Reflexion etc. wieder der Gegenstand des
Begrifs« ist, dann gilt das gleiche für die »Sprache«.*?” Wie sich das Denken nach Jacobi in der reinen Reflexion unter Elimination der Wahrnehmung und des Gefühls nicht zum Wahren erheben kann, so kann es auch die Sprache nicht und wird zur »Lügnerin und Verfälscherin«. Die Worte werden zu den gleichen sinnentlehrten
Schemata (»nicht einmal Schattenbilder«)*2® wie die Vorstellungen. Die Begriffe der Begriffe (die unendliche Reflexion) werden in der Sprache zu »Zeichen des Zeichens«.?2? (Eine Formulierung, die später Jacques Derrida — nur positiv gewendet —
als Beschreibung seiner Theorie gebrauchen wird.)*?° #27 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA IIL.3, 252. #28 Ebd., 253.
229 #0 schen gie in
Ebd. Vgl. z. B.: Derrida, Die differance. Leider kann ich hier nicht auf den Zusammenhang zwider Philosophie des Bewußtseins bei Fichte und der Schrift bei Derrida sowie auf die Analoden Kritiken (Pathologie-Vorwurf) eingehen. Dies soll Thema einer späteren Arbeit werden.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
139
Aber genau das, was Jean Paul kritisiert, ist die Bedingung für das Funktionieren
der Philosophie Fichtes. Nur indem dieser seine Philosophie in der Sprache, die diese Philosophie darstellt, gleichzeitig anwendet, so geht die Kritik Jean Pauls weiter,
ist seine »runde logische Welt«*?! überhaupt möglich. Die ganze Theorie basiert nur auf den »Schlüss[en] aus den unreinen und doch öden Zeichen der Anschauung.«*?
Da die Worte wie die Vorstellungen in der Reflexion sinnlose »Spielldarübergeschrieben: »Wörter«] marken«*?? geworden sind, ist praktisch jeder beliebige Schluß möglich.
Referenz und Bedeutung erhält die Sprache jedoch nur durch die Sinnlichkeit: »Für die Sinnen sei die Sprache! Bei ihnen schließet man aus dieser mit weniger Gefahr, d. h. blos aus dem Blat, (dem kleineren Baum) auf den grössern«.** Jean
Paul geht hier auf die Leibniz-Wolffsche Zeichentheorie zurück und überträgt — wie vor ihm schon Herder“? — den Primat der Anschauung vor der Reflexion auf den Primat des natürlichen oder intuitiven Zeichens vor dem symbolischen. Da Literatur nur auf ein Medium zurückgreifen kann, das mit symbolischen Zeichen arbeitet,
versucht er (wie vor ihm schon Lessing im Laokoon),??° die Vorteile der natürlichen Zeichen,
die festere Anbindung
an den
bezeichneten
Gegenstand,
obwohl
sie ei-
gentlich nur dem Medium Bild zustehen, im übertragenen Sinne auch für die symbolischen Zeichen und das Medium Text nutzbar zu machen. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Formulierung aus den Untersuchungen ($ 40, HKA
11.7, 35): »Ein Bild ist nichts als ein längeres sichtbares Wort
aber aus einer besseren Sprache«. Hier überträgt Jean Paul die Reflexionskritik Jacobis auf die Sprache. Dies hatte er bereits im Hlesperus versucht: »Eigentlich aber ist der Bilderstil bestimmter als der Kunstwörterstil, der zuletzt, da alle abstrakte Worte
Bilder sind, ja auch ein Bilderstil ist, aber einer voll zerflossener entfärbter Bilder. Jakobi ist nicht dunkel durch seine Bilder, sondern durch die neuen Anschauungen,
die er durch jene mit uns teilen will« (JP I.1, 800).
Durch die Sinnlichkeit in der Sprachverwendung, die der Literatur (im Gegensatz zur Philosophie) zu Gebote steht, soll der Sprache bzw. den Texten die enge Anbindung an die Sache gegeben werden, die die natürlichen Zeichen per definitionem immer schon besitzen. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum Jean Paul
431 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA IIL.3, 252. Vgl. zu dieser Metapher auch Untersuchungen $ 234 (HKA 11.7, 150). 432 Jean Paul, Briefan Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA IIl.3, 253.
433 Ebd. 434 Ebd. #5 Zu Herders Sprachphilosophie des sinnlichen Worts vgl. Simon, Gedächtnis der Interpretation, S. 56ff. Jean Pauls Rezeption wird bei Goebel, Philosophische Dichtung, S. 72ff.; 86ff., abgehandelt. 436 Vgl. dazu Todorov, Ästhetik und Semiotik.
140
Drittes Kapitel
für reine »Schlüsse aus der Anschauung« statt bloßer »Zeichen der Anschauung« plädiert.*7 Den Transfer von der Reflexions-Kritik Jacobis zur Sprachphilosophie leistet Jean Paul auch in der Clavis, wenn er Leibgeber sagen läßt, daß auf der »höchste[n] Höhe der Reflexion« die Welt der Gegenstände, auf die man sich in der Sprache beziehen könnte, nicht nur »verächtlich und klein, sondern gänzlich unsichtbar« wird (JP 1.3, 1035). Die Theorie des absoluten Ichs ist — konsequenterweise — nur in einer absoluten, d. h. von allen natürlichen (sinnlichen) Zeichen befreiten, Sprache möglich,
da nur sie die logischen Widersprüche des Idealismus, die Jean Paul aufzufinden meint, umgehen kann: »Hier wird nun die Höhe so schwindelnd und dünnluftg, daß keine Begriffe [ Fußnote: »[...] Hier hilft bloße reine Sprache weiter als alles, was man dabei denken wollte«] mehr zu- und nachreichen, sondern wir müssen mit und
an der bloßen Sprache ohne jene weiter hinauf zu kommen suchen. [...] Und ohne diese Sprache der höchsten Reflexion ist auch das Setzen eines Nicht-Ichs und Ichs oder das eigenhändige Einschränken des absoluten um nichts begreiflicher als die so oft getadelte Schöpfung aus nichts. Diese absolute Freiheit [...] liegt nicht mehr in
unserem Denk-, sondern bloß in unserem Sprachvermögen« (JP 1.3, 1036; Hervorhebung von mir). In der Forschung wird Jean Pauls Sprachtheorie immer als eine seiner entscheidenden
Leistungen
gefeiert.”
Man
muß
sich
aber
vergegenwärtigen,
daß
es sich um eine Weiterentwicklung der Philosophie Jacobis handelt, die Jacobi selbst
auch vollzogen hat. In den Zufälligen Ergiefungen schreibt Jacobi, daß »Schrift und Sprache,
getrennt vom
Leben
säßen und »sinnlose Laute« wären struiert also eine lebensnahe und zige Sprache durch ihre Armut an einstige Sprache ausgesehen haben
des Menschen«
nur noch
»formlose
Züge«
be-
(Jacobi, Ergießungen, GW 1, 285). Jacobi konbilderreiche Ursprache, von der sich die jetAnschaulichkeit deutlich unterscheidet. Wie die soll, läßt sich den (allerdings später veröffent-
lichten) Fliegenden Blättern entnehmen:
»Aller mittelbaren Bezeichnung muß eine
unmittelbare, der künstlichen Sprache eine natürliche vorhergegangen seyn. Je mit-
telbarer unsere Bezeichnung, je künstlicher unsere Sprache wird, desto verworrener und dunkler werden
unsere Begriffe von Wahrheit«
(Jacobi, Fliegende Blätter, GW
VI, 164). Aus beiden Zitaten läßt sich eine Genese (im Sinne einer Verfallsgeschichte) von
einer natürlichen
und
unmittelbaren
Bezeichnung
zu einer symbolischen
und
künstlichen ablesen. Schuld sind natürlich die »Philosophen«, die die Sprache soweit
437 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA IIl.3, 253.
#8 Vgl. Harich, Jean Pauls Kritik, S. 83ff., der Jean Paul als Wegbereiter der modernen Semantik feiert; ebenso Wiethölter, Illuminationen, S. 62. Lediglich Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten, S. I8ff., räumt Jacobi einigen Raum ein.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
141
brachten, daß »die Dinge sich nach den Worten richten mußten, wie vorher die Worte sich hatten nach den Dingen richten müssen« (Hume 200f.).*? Zu einem solchen Defätismus läßt sich Jean Paul nicht hinreißen. Er setzt die Li-
teratur gegen den Sprachverfall. Sie hat — und das ist nun wirklich Jean Pauls Eigenleistung — die Möglichkeit, die Sprachdekadenz rückgängig zu machen, indem sie wieder den Bogen vom Signifikanten zum Signifikat schlägt und die Leistung des
natürlichen Zeichens auf das symbolische überträgt.
Träume
Leseungenauigkeit Wie gesehen, hat Jean Paul im Briefwechsel den Part der Zustimmung, zuweilen den
der Weiterführung. Die Erkenntnistheorie Jacobis wird unwidersprochen akzeptiert; in der Moralphilosophie setzt Jean Paul einige wenige eigene Akzente durch stoische Varianten, die durch Neeb gedeckt sind. Ein ganz anderes Engagement legt Jean Paul jedoch an den Tag, wenn sich philosophische und ästhetische Geltungsansprüche überschneiden — insbesondere bei der Diskussion über die Rolle der Einbil-
dungskraft. Die Einbildungskraft ist nämlich nicht nur der Schlüsselbegriff in der Philosophie Fichtes, sondern auch das entscheidende Vermögen in der Poetik Jean Pauls. Diese
Interferenz bringt den literarischen Philosophen in eine argumentative Zwickmühle, die ihn zu einer diffizilen Auseinandersetzung mit Jacobi zwingt — und zwar unter
dem Deckmantel der Metapher des Traums.**' Jean Paul beginnt seine Auseinandersetzung mit Jacobi über den Traum“! ungeschickt. Im November 1799 kommt er auf dessen Brief an Fichte zurück, indem er einen Einwand
formuliert: »Gegen deinen Saz, daß die Objekte uns vernünftig ord-
nen, hab’ ich ausser dem was in der Abhandlung über die Träume steht und was du
nicht widerlegt oder gesehen hast, noch dieses, daß du ja nicht das Bewustsein be#9 Vgl. dazu Gockel, Ergründen, und Baum, Erkenntnisgewißheit, in seinem Diskussionsbeitrag zu dieser These Baums (ebd., S. 29).
S. 19; ähnlich Hammacher
#40 Die philosophische Dimension der Metapher des Traums wird in der Literatur nicht berücksichtigt. Smeed, Dreams, betrachtet Jean Pauls physiologisch-philosophische Interessen am Traum lediglich am Rande
(S. 7f.), die Auseinandersetzung
mit der Transzendentalphilosophie wird ver-
nachlässigt. Auch Hennig, Traumwelten, verliert kein Wort zu den epistemologischen Implikationen des Traums. #1 Im Zentrum dieses Kapitels steht, den Implikationen einer Methode, die auf die tropische Ordnung von Wissen aus ist, gemäß, die Metapher des Traums in der Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie. Zu Jean Pauls Teilhabe an der psychologischen Debatte vgl. SchmidtHannisa, Der Traum. Zur Bedeutung des Traums in der empirischen Psychologie um 1800 vgl. (wenn auch sehr rudimentär) Eckardt et al., Anthropologie, $. 111-132.
142
Drittes Kapitel
komst, weil die Objekte es wecken oder bringen, sondern umgekehrt bemerkst du diese durch jenes mir unbegreifliche erwachende Bewustsein. Denn in einem Nu bist du wach
— ohne
SinnenEindrücke,
die ja der Traum
selber
blos
zu seinem
Wahnsin verarbeitet — in der Finsternis — den Wahnsinnigen, diesen Tag-Träumer, ordnet die Aussenwelt auch nicht — Im tiefen Denken
geht diese auch
unter, und
doch nicht die Vernunft. Wenn du antwortest, nicht blos schreibst, will ich mehr
Gründe bringen«.**? Gemeint ist folgende Stelle aus dem Brief an Fichte: »Wenn der Mensch abgeschnitten wird von der, in der sinnlichen Welt, die ihn umgiebt, ausgedrückten, seine Einbildungskraft mit Gewalt ordnenden
Vernunft, wenn er von Sinnen kommt
im
Traume, im Fieber, — Wahn-sinnig wird: so verhindert ihn nicht die ihm überall beywohnende eigene reine Vernunft das ungereimteste zu denken, anzunehmen,
für
gewiß zu halten« (Fichte-Brief 240) .**
Daß sich Jean Paul gerade auf diese Stelle bezieht, beweist die abermalige Paraphrase aus einem späteren Brief: »Die Dinge ordnen die Vernunft mit Gewalt, sagst du«.** Jacobi äußert sich jedoch gegenüber dem Einwand Jean Pauls nicht und geht auch nicht, obwohl ihn dieser bereits zum zweiten Mal bittet,*# auf seine »Abhandlung über die Träume« (gemeint ist der Text Über das Träumen aus Briefe und
bevorstehender Lebenslauf) ein. Es ist auch leicht zu erkennen, warum: Jean Paul hat den Satz Jacobis mißverstanden.
Jacobi ist daran nicht ganz unschuldig. Die Vernunft drückt sich in seinem System eigentlich nicht, wie er hier schreibt, in der sinnlichen Welt, sondern
in der
sinnlichen Wahrnehmung der Welt aus (weil es sich, um die Begriffe Jacobis zu gebrauchen,
um
Wahr-Nehmungen
mit Vernunft
handelt).
Jean
Paul
stolpert
über
diese Ungenauigkeit — und verdreht dadurch das Aktiv-Passiv-, d. h. das Kausalverhältnis: Bei Jacobi heißt es, daß die Vernunft die Einbildungskraft mit Gewalt ordnet
— und nicht, wie bei Jean Paul, daß die Vernunft durch die Dinge mit Gewalt geordnet wird. Daß Jean Paul gegen die Stelle aus dem Brief an Fichte, wie er sie versteht, opponieren muß, ist offensichtlich. Zuerst scheint ihm die These gegen die Theorie vom
vordiskursiven Bewußtsein (Selbstgefühl) zu sprechen, bei der Jean Paul mit Jacobi
überein zu stimmen glaubt (s. das Kapitel: »Gegenentwurf: Individualität und Selbstgefühl«). Dann zerstört die verstellende Lesart die Übereinstimmung mit Jacobi, die Jean Paul in seiner Abhandlung über das Träumen herzustellen versucht 442 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi,
10.11.1799,
HKA
IIl.3, 251f. Erste Hervor-
hebung von mir 443 Hervorhebung des Wortes »Vernunft« von mir. #44 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 1.4.1800, HKA
his
III.3, 316. Hervorhebung von
Vgl. Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 4.3.1799, HKA IIl.3, 167.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
143
hatte: »Und hier bei dieser Vexierwelt [des Traumes] muß uns Jakobis tiefes Wort
gegen die ähnliche des Idealismus einfallen: daß jedes Träumen ein Wachen voraussetze«
(JP
1.4, 978).446
Jean Paul spielt auf die Stellen im Aume und Allwill an, in denen Jacobi dem Idealismus durch die Metapher des Wahnsinns und des ’Iraums einen performativen Widerspruch nachweist (s. das Kapitel: »Jacobis Methode: Dialog und performativer Widerspruch«). Diese Metapher mitsamt ihrer Epistemologie hat Jean Paul auch in seinen anderen Texten einheimisch gemacht: In der Clavis Fichtiana z. B. wird die kosmologische Einsamkeit des Ich als »Traum« (JP 1.3, 1041) beschrieben.**7
Gleichzeitig dürfte diese — pejorative — Bezeichnung des Idealismus für den Poeten Jean Paul nicht ganz einfach zu verarbeiten gewesen sein. In der Zeit vor der ausführlichen Auseinandersetzung mit Jacobi hatte Jean Paul den Begriff des 'Iraums
nämlich für die Poesie — und zwar positiv — besetzt. In den Notizen für seine Selbstbiographie finden wir folgende Passage: »Die Stelle im Shakespeare: »mit Schlaf umgeben«, von Platner ausgesprochen, erschuf ganze Bücher von mir«.*“3 Gemeint ist Prosperos Rede aus The Tempest: »We are such stuff [/] As dreams are made on, and our little life [/] Is rounded with a sleep«.** Das Leben spero
(und
mit ihm Jean
Paul vor
1798),
eine poetische
Phantasie;
ist, so Prodie Welt,
so
Fichte (in der Sicht Jacobis), nur ein Produkt des mit Einbildungskraft begabten »Welt-Schöpfer[s]« (Fichte-Brief 234) — und beide Aussagen werden durch die Metapher des Traums beschrieben. Die metaphorische Überschneidung in der Beschreibung des Idealismus und der Poesie ist kein Zufall. Es geht in beiden Fällen um ein ähnliches Problem: die Aufwertung bzw. Verabsolutierung der (poetischen) Einbildungskraft als Wegweiser zum Absoluten.
Exkurs: Einbildungskraft und Phantasie Fichte hatte in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre den Anspruch erhoben, das »System der nothwendigen Handelnsweisen« aus den »Grundgesetzen der Intelligenz« abzuleiten, statt, wie Kant, diese Gesetze (gemeint sind die Kategorien) »irgend woher« zusammenzulesen (Fichte I, 442). Der Kantische Idealismus kann dem
Dogmatismus nichts entgegensetzen außer der »Versicherung, daß er recht habe«
446 Vgl. auch den Brief über die Philosophie in den Palingenesien (JP 1.4, 1015): »[...] wie das Wachen früher war als sein Anagramma, der Traum.« Welche Bedeutung dieses Argument für Jean Paul hatte, belegt auch ein Eintrag in den Philosophischen Untersuchungen (1801) $ 13, HKA 11.7, 87, wo Jean Paul schreibt, daß der Traum »aber den Glauben an Wirklichkeit voraus«-setze. 47 Vgl. auch JP 1.3, 1021. 448 Zitiert nach Walter Höllerer, Nachwort, JP 1.2, 1217. 449 Shakespeare, The Tempest IV, 1.
144
Drittes Kapitel
(Fichte I, 443). Er kann nicht erklären, »wie das Object selbst entstehe«. Fichte
selbst will nun aus seinem Grundgesetz der Intelligenz die Kantische Behauptung, daß »das Ding [...] gar nichts anders, als — alle diese Verhältnisse [Situierung in Raum und Zeit, Bezug der Akzidenzien auf die Substanz etc.] durch die Einbildungs-
kraft zusammengefasst (ebd.) ist, erst begründen. Die Einbildungskraft ist in der Wissenschaftslehre jedoch nicht nur ein Vermögen der Anschauung, sondern auch ein intellektuelles Vermögen, dessen Tätigkeit über
die Produktion, Reproduktion oder Simulation von Wahrnehmungseindrücken hinausgeht. Sie ist »das in der Synthesis thätige Vermögen des Ich« (Fichte I, 206). Das
scheint mit Kants Verwendung dieses Begriffs in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV A 100-102) kompatibel. Gemeint ist aber mehr. Die Einbildungskraft ist — und das ist eine Passage, die Jacobi bei Fichte negieren muß, da sie
seiner These von der vollkommenen Wissenschaft des mechanischen Geistes widerspricht“ — die dialektische Kraft im Menschen.*! Nicht-Ich [...] zu vereinigen« (Fichte I, 218).
Sie hat die Aufgabe, »Ich und
Der »Synthesis« der Einbildungskraft gehen »Thesis« und »Antithesis« (Fichte I, 215) zuvor. Durch das »Schweben
[...] zwischen unvereinbarem«
(Fichte I, 217)
wird die Einbildungskraft zum Partner der Vernunft in dem unendlichen Prozeß ihrer »vollständigen Bestimmung« (Fichte, I, 217). Während diese eine »feste Grenze«
setzt, bezieht jene gerade keinen »festen Standpunct« (Fichte I, 216) und gibt so dem Reflexionsprozeß seine ins Unendliche gehende dialektische Kraft. Durch die Kompetenz-Erweiterung der Einbildungskraft als (intellektuelles) Ver-
mögen einer ins Unendliche gehenden Dynamik kann nun — im Gegensatz zum transzendentalen Idealismus Kants — die Verabsolutierung der Einbildungskraft begründet und gegen den Realisten (der bei Fichte zum Skeptizisten wird) — gemeint ist Jacobi — verteidigt werden: »Es wird demnach hier gelehrt, dass alle Realität — es
versteht sich für uns, wie es denn in einem System der Transcendental-Philosophie nicht anders verstanden werden soll — bloss durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde. Einer der grössten Denker unseres Zeitalters, der, so viel ich einsche,
das gleiche lehrt, nennt dies eine Täuschung durch die Einbildungskraft. Aber jeder Täuschung
muss sich Wahrheit entgegensetzen, jede Täuschung
muss sich vermei-
den lassen. Wenn denn nun aber erwiesen wird, wie es im gegenwärtigen Systeme
erwiesen werden soll, dass auf jene Handlung der Einbildungskraft die Möglichkeit unseres Bewusstseyns, unseres Lebens, unseres Seyns für uns, d. h. unseres Seyns, als Ich, sich gründet: so kann dieselbe nicht wegfallen, wenn wir nicht vom Ich abstra#50 Vgl. dazu Hammacher, die Philosophie, S. 181.
#1 Zur Dialektik und zur Rolle der Einbildungskraft bei Fichte vgl. Henrich, Einheit der Subjektivität, S. 55ff.; K. Düsing, Objektive und subjektive Zeit, S. 29ff.; Hammacher, Der Begriff, und neuerdings sehr konzise: Köhler, Einbildungskraft, S. 20ff. Vgl. weiterhin Hühn, Schweben, S. 148ff.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
145
hiren sollen, welches sich widerspricht, da das abstrahirende unmöglich von sich selbst abstrahiren kann;
mithin täuscht sie nicht, sondern
sie giebt Wahrheit,
und
die einzig-mögliche Wahrheit. Annehmen, dass sie täusche, heisst einen Skepticismus begründen, der das eigene Seyn bezweifeln lehrt« (Fichte I, 227).
Ein interessanter Konter: Fichte dreht das im Aume geäußerte Argument des Verlusts aller Wirklichkeit um, indem er nicht die Gesprächssituation, sondern das
Bewußtsein bzw. die Leistung der Einbildungskraft als präzedent erklärt. Wie Jacobi argumentiert, daß vordiskursive Annahmen nicht hintergehbar sind, so argumentiert Fichte, daß man die Leistungen des Bewußtseins nicht hintergehen kann. Wer die Einbildungskraft mit dem Argument des performativen Widerspruchs der Täuschung
bezichtigt,
begeht
seinerseits einen Widerspruch,
weil er mit Hilfe seiner
Einbildungskraft eine Theorie vertritt, die diese Hilfe leugnet.*°? Ein Rückblick: In Jean Pauls Natürlicher Magie der Einbildungskraft aus dem Jahre 1796 wird die dichterische Phantasie ganz ähnlich gefaßt wie ihr prosaisches Pendant, die Einbildungskraft,*? bei Fichte: Sie wird verabsolutiert“°? bzw. genauer: für den Ersatz der Sinnesleistung bei der Darstellung der Objektwelt herangezogen. Für dieses Unternehmen hatte Jean Paul (wie Fichte auch) auf Kants Kritik der reinen
Vernunft zurückgegriffen und am Anfang von Über die natürliche Magie der Einbildungskraft zwei verschiedene Arten der Anschauung, aus denen heraus sich dem Menschen Vorstellungen entwickeln können, unterschieden, die des »innern« und die des »äußern Sinns«, d.h.: Phantasie und Wahrnehmung
(JP 1.4, 202). Und
weiter: »Die fünf Sinne geben mir außerhalb, die Phantasie innerhalb meines Kopfes einen Blumengarten vor die Seele« (JP I. 4, 195). Die Funktion der Phantasie in der Poesie soll nämlich der ähnlich sein, die Kant
der Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft zugesprochen hat. Dies belegt ein weiterer Verweis Jean Pauls auf Kant: »jene [die Sinne] drücken die Natur mit fünf verschiedenen Platten ab, diese [die Phantasie] als sensorium commune liefert
sie alle mit einer. Die Phantasie ist zwar nicht der matte Nachklang der Sinne, wie Helvetius meint, aber doch das Unisono derselben [...]; und ob wir gleich nur diese
zu erzeugen, und jene zu empfangen glauben: so ists doch bei den Empfindungen falsch, die wir, wie Kant genug erwiesen, ebensogut (nach und mit einer unbegreiflichen plastischen Form in uns) erzeugen als innere Bilder« (JP I.4, 195).
#52 Vgl. hierzu ausführlicher Vf., Anliegen, S. 49ff.
#3 Zum Verhältnis von Phantasie und Einbildungskraft vgl. Vorschule $$ 6f. 454 Seltsamerweise fehlt in der Untersuchung Ungers, Ästhetische Phantasie, S. 47ff. (deren Gegenstand die Phantasie bei Jean Paul und Goethe ist), eine ausführliche Diskussion von Fichtes
Theorie der Einbildungskraft. Das liegt nicht zuletzt daran, daß der Autor ohne philosophische Primärtexte arbeitet. Zur Geschichte der Einbildungskraft in der Aufklärung vgl. Dürbeck, Einbildungskraft, S. 113-152.
146
Drittes Kapitel
Die Phantasie bzw. die Einbildungskraft als »sensorium commune« ist das synthe-
tisierende Ordnungsprinzip der Empfindungen. Sie ordnet die sinnlichen Eindrücke zu einem Ganzen der Vorstellung. Jean Paul schreibt weiter, »daß unser unbekanntes
Ich die Sukzession in der Phantasie (wie das Simulitaneum in der Empfindung) ordnet und regelt« (JP 1.4, 196).%°° Mit dieser Bestimmung lehnt sich Jean Paul wiederum an Kant an, der der Einbildungskraft zuweist, die reproduktive Synthesis der
Vorstellungen zu leisten (KrV A 100ff.). Hier spielt Jean Paul ungeniert mit dem Verhältnis von transzendentaler Ästhetik und Logik: Die Zeit als subjektive Form
der Anschauung und die Einbildungskraft als Erkenntnisvermögen der Synthesis werden in eins gesetzt. Die »äußere[n] Sinnen-Nerven« sind beim Dichter oft »verdorret und abgewelkt« (JP I.4, 196). Ihre Funktion übernimmt der innere Sinn: die Phan-
tasle. Die Simulationsleistung der Phantasie verändert dabei den Gegenstand wie ein metamorphotischen Hohlspiegel (Jean Paul spricht von der »netamorphotische[n] Einbildungs; JP 1.4, 196f.). Das ist noch eine visuelle (und damit sinnliche) Tätig-
keit — aber auch noch nicht alles. Gleichzeitig bewirkt die beschriebene Veränderung den Schein des Übernatürlichen im Inneren des Menschen (wie Hohlspiegelprojektionen im 18. Jahrhundert außerhalb).*?° Am Kunstwerk wird »eine Qualität, eine Kraft, etwas Unendliches« (JP 1.4, 203) sichtbar. Damit hat die Phantasie, wie bei Fichte die Einbildungskraft, die Funktion, den Menschen
vom
Endlichen,
das
ıhm
die Sinne
geben,
zum
Unendlichen
zu füh-
ren.“?’ Die Nobilitierung der Phantasie zur übersinnlichen Kraft führt zu einer Legitimierung des Konzeptes der Poetisierung des Lebens (bzw. zur Erklärung des Lebens als Traum der Phantasie): »Leute, deren Kopf voll poetischer Kreaturen ist finden auch außerhalb desselben keine geringern. Dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremde Schmerzen sind ihm süße der Illusion, alles erscheint ihm
beweglich,
erhoben,
arkadisch,
fliehend
und froh, und er kommt nie darhinter, wie bürgerlich-eng einem armen Archivsekretär mit sechs Kindern — gesetzt er wäre das selber — zumute ist« (JP 1.4, 198).
Die Poetisierung des Lebens kennt keine Grenzen. Sie umfaßt das »ganze Leben«, »alle Nachbarn«,
»alle fremde
Schmerzen«
— einfach
»alles«. Idealität und
Realität
sind, genau wie bei Fichte in der Kritik Jacobis, nicht mehr voneinander zu unter-
scheiden.
#55 Das von mir hervorgehobene
Präfix »un« fiel in der zweiten Auflage, wahrscheinlich verse-
hentlich, weg; vgl. JP 1.4, 1157. #56 Vgl. Vf., Heißbrennende Hohlspiegel. 457 Vgl. hierzu, wenn auch mit einem etwas abseitigen Verweis auf Richerz, Dehrmann, Brotverwandlungen, S. 195f.
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
147
Poetischer Idealismus und realistische Korrektur: die Metapher des Traums Für den durch Jacobi sensibilisierten Jean Paul muß sich — zum Zeitpunkt seiner
Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie — eine erschreckende Übereinstimmung zwischen der idealistischen Erkenntnis- und Moraltheorie und seiner eigenen (bisher vertretenen) Poetik ergeben. Bei beiden ist es eine absolut gesetzte Einbildungskraft bzw. Phantasie, die die Sinnesleistung ersetzt und den Menschen zum Übernatürlichen führt.
Um weiterhin in Jacobi einen Bundesgenossen gegen eine Philosophie zu besitzen, die weder Gott noch die Unsterblichkeit der Seele anerkennt, muß ein theoretisches
Verbindungsglied gefunden werden, das die Dichtungstheorie Jean Pauls mit der Erkenntnis- und Moraltheorie Jacobis versöhnt — und die (von Jean Paul selbst vertretene) Kritik am Idealismus Fichtes integriert. Dieses Ringen um Kongruenz soll
anhand Jean Pauls Auseinandersetzung mit der Metapher des ’Iraums nachgezeichnet werden. Im Siebenkäs (1796f.),
also vor der beginnenden
Auseinandersetzung
mit der
Transzendentalphilosophie,*?® vertritt Jean Paul noch ein Poesiekonzept, das auf der Höhe
des Shakespeare-Platner-Zitates
steht. Das
ist insofern nicht verwunderlich,
als die Sentenz aus dem Sturm mit Jean Pauls und Platners MonadologieInterpretation übereinstimmt. Bei Platner besteht die Materie, wie oben ausgeführt, aus Monaden, die »wie Seelen im Schlafe, ohne alles Bewußtseyn« (NA $ 203) sind;
bei Jean Paul, der Platners Deutung noch einmal radikalisiert und ins Poetologische überführt, stellen die »schlafenden Monaden
(als Leib)« die »Nebencharaktere« sei-
ner Romane dar (JP 1.5, 268). Die »Helden« (ebd.) oder schönen Seelen sind also wirklich, wie es bei Shakespeare heißt, »mit Schlaf umgeben«.“? Was bleibt ihnen in diesem monadologischen Leib anderes über, als zu träumen?
Dementsprechend heißt es im Siebenkäs: »Wenn ich aus einem Iraum, der mir ein Otaheite auf den schwarzen das blumige
Land
zerflossen
Grund
erblicke:
der Nacht so seufz‘
hinmalte,
ich kaum
und
wieder erwache denke,
es war
und nur
geträumt. Wie, und wenn ich diese blühende Insel wirklich im Wachen besessen da: nes und
hätte und wenn sie durch ein Erdbeben eingesunken wäre: warum sag’ ich nicht die Insel war nur ein Traum. Warum bin ich untröstlicher bei dem Verlust eiJängern Iraums als bei dem Verlust eines kürzern (denn das ist der Unterschied) warum findet der Mensch eine große Einbuße weniger notwendig und wahr-
scheinlich als eine kleine? — [/] Die Ursache ist: jede Empfindung und jeder Affekt ist wahnsinnig und fodert oder bauet seine eigne Welt; der Mensch kann sich 458 Zum Traum-Konzept (und dessen poetologischen Implikationen) in den Satiren und frühen Aufsätzen vgl. Goebel, Philosophische Dichtung, $. I6ff.; LILFF. 459 Zitiert nach Walter Höllerer, Nachwort, JP 1.2, 1217.
148
Drittes Kapitel
ärgern: daß es schon oder erst 12 Uhr schlägt. -— Welcher Unsinn! Der Affekt will nicht
nur
seine
eigne
Welt,
sein
eigenes
Ich,
auch
seine
eigne
Zeit«
(7k
222).
Die Passage ist aus dem »Extrablättchen über den "Irost«. Sie ist gemäß dem von Jean Paul favorisierten Stoizismus abgefaßt: Der psychische Schmerz ist ein Zustand, den die Vernunft, wie alle anderen Affekte, überwinden soll: »Es kann, d.h. es muß
noch eine Zeit kommen,
wo es die Moral befiehlt, nicht bloß ande-
re ungequält zu lassen, sondern auch sich; es muß eine Zeit kommen, wo der Mensch
schon
auf der Erde
die meisten
Thränen
abwischt,
und wär”
es nur aus
Stolz« (7 221).
Die stoische Begrenzung der Affekte wird durch einen Perspektivwechsel geleistet, den das Shakespeare-Zitat aus dem Sturm bereitstellt: Aus dem Blickwinkel, daß das
Leben nur ein Traum ist, ist der Unterschied zwischen den zwei Darstellungsarten )Lebenstraum« und »Nachttraum« nur eine Frage der Länge. Und diesen tröstenden Blickwinkel nimmt auch der stoische Literat ein. Durch die Identifizierung des Lebens mit dem Traum wird der Blick für das »Eigentliche« frei, so daß sich »die Unermeßlichkeit« vor den inneren »Augen öffnet[]« (7% 223).
Diese poetologische und epistemologische Position ist jedoch mit Jacobis pejorativer Verwendung des Begriffs des Iraums ganz und gar nicht zu vereinbaren, so daß Jean Paul gezwungen ist, seine Position zu korrigieren. In den Palingenesien, an denen Jean Paul um den Jahreswechsel 1797/98 schreibt, wird mit Rückgriff auf das Argument der Blindheit der traumhafte Charakter der Literatur gerechtfertigt. Der Leser wird mit einem blinden Bettler verglichen, der von Morpheus aus der »finstern Trophonius-Höhle der Blindheit heraus« geholt und geheilt wird: »Mög? es ein Genius auch uns so gönnen, daß die Träume der Dichtkunst unsere dunklen Augen
heilen und uns die elysischen Felder zeigen, die das Wachen bedeckt« (JP 1.4, Dem Traum wird seine epistemologische Dunkelheit und Weltabgewandtheit die Metapher der »Irophonius-Höhle« metaphysisch gutgeschrieben. Bei dem kel sieht man zwar nichts, gleichzeitig wird durch die Weissagung ein inneres
761)! durch OraBlick-
feld eröffnet, das das der Augen übertrifft: das Übersinnliche (die »elysischen Felder«).
In welchem Zusammenhang die übersinnliche und die sinnliche Welt stehen, läßt sich aus dem »Offenen Brief an Leibgeber« — ebenfalls aus den Palingenesien — ablesen. Dort antwortet der Erzähler »Jean Paul« auf den Einwand des Realisten Leibgeber, daß die Literatur keinen Einfluß auf die politische Sphäre besäße (» Wenigstens tut der allgemeine europäische frohe Anteil an jedem Bilde der Freiheit ihr Dasein im Busen, wenn auch nicht im Lande dar [...]«; JP 1.4, 729), mit folgendem psychologischen Argument: »Indes wenn der Zraum, daß man trinke, wenigstens beweiset, daß man wirklich dürste: so kommt der Mensch auf dem dichterischen Umwege
durch die bestechenden Gemälde einer verschmähten Wirklichkeit wieder zu ihr zurück, und auf ewig und reiner, und sie geben dann der Natur, der Freiheit, dem
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
149
häuslichen Glück, der Wirklichkeit einen treuern Freund zurück, als sie ihnen entführet haben - « (JP 1.4, 730).
Der Traum wird von Jean Paul nicht als Darstellung der Wirklichkeit gelesen, sondern als Ausdruck von Wünschen. Übertragen auf die Poesie, heißt das: Die Bilder, die die Dichtkunst — zum Beispiel vom Zustand der politischen Freiheit — malt,
stimmen nicht mit den bestehenden politischen Verhältnissen überein. Im Gegensatz zu Leibgeber glaubt der Erzähler jedoch nicht an die »Kompensationsthese«, daß also das in der Literatur gegeben wird, was in der politischen Wirklichkeit nicht möglich ist. Um dieses Argument zu bekräftigen, bedarf es des qualitativen Sprungs von der Faktizität zur Geltung.“ Die Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem — von Leibgeber unter deskriptiven Gesichtspunkten als Manko charakterisiert — wird unter normativen zum drückt, zu schließen. Ein Jahr später — der Briefwechsel Jean Paul einen neuen Versuch, den Traum zu entkräften. Es ist der Text,
Vorteil. Sie fordert auf, die Lücke, die sie ausmit Jacobi hat bereits begonnen — unternimmt (auf sich bezogenen) Vorwurf Jacobis gegen den auf den Jean Paul in seinem Brief an Jacobi an-
spielt: die »Abhandlung über die Träume«! bzw. »Über das Träumen« (JP 1.4, 971ff.) aus Briefe und bevorstehender Lebenslauf, geschrieben um die Jahreswende 1798/99. Der Text
trägt den
Untertitel:
»bei der Gelegenheit
eines Aufsatzes
darüber
von Doktor Viktor«. Er ist die »Antwort« auf einen Text Viktors »im Hesperus (4.T. p.21)« (JP 1.4, 973), betitelt: »Der Aufsatz« (JP I.1, 1100ff.). Dieser Text ist seinerseits ein Selbstzitat Jean Pauls bzw. Richters. Es handelt sich um Absatz fünf des Fortdauer-Aufsatzes. Richter verwirft in diesem Aufsatz die T'hese, daß im Traum die Seele des Menschen vom Körper unabhängig werde (unter Körper werden hier v. a. »das Gehirn und [...] die Nerven« [JP II.2, 785] verstanden).
Der Körper ist im 'Iraum mitnichten von der Seele losgelöst: »Jene fesselnlose Regsamkeit
und
Schwungkraft
der Seele im "Iraume
ist mithin
nicht Wirkung
der Absonderung sondern der verdoppelten Anknüpfung an den Körper« (JP 11.2, 781). Der Grund: Im Traum sind »das Gehirn und sogar die Sinnennerven [...] im thätigsten Schwunge« (JP II.2, 781)%2 — die Sinne sind allerdings, so läßt
sich mit den Philosophischen Untersuchungen hinzufügen, »gradual« suspendiert (HKA II.7, 107). Dieser Meinung ist Viktor auch. Er argumentiert im Flesperus ähnlich
und
behauptet,
daß
im
Traum
— im
Gegensatz
zum
Schlaf (JP
1.1,
460 Ich entnehme die Begriffe aus: Habermas, Faktizität und Geltung. Zur Erläuterung: ebd., ” ke
can Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA 111.3, 251f.
462 Später modifiziert Jean Paul seine Theorie noch einmal leicht, wenn er in den Philosophischen Untersuchungen (1801) $ 98 (HKA
11.7, 105) schreibt, daß im Traum
schen Gehirn und Nerven aufgehoben ist.« Vgl. auch $ 127, HKA 11.7, 111.
»die Verbindung zwi-
150
Drittes Kapitel
1104f.) — die Seele eher an den Körper »angeschlossen« (JP I.1, 1105) sei als im Wachen.
Die Antwort des Erzählers der Briefe auf diese Abhandlung Viktors — ihr Prototyp findet sich in den Untersuchungen“ — macht den Disput nicht zum Streit. Es scheint vielmehr darum
zu gehen, einen kleineren Dissens zweier an sich gleichge-
sinnter Gesprächspartner auszuräumen. Wie Viktor glaubt auch der Erzähler »Jean Paul«, daß im Traum die Seele enger an den Körper angeschlossen ist (da sich »das schwere paralytische Gehirn über das Ich [...] wälzt«; JP 1.4, 978). Weiterhin ist es des Erzählers »und Viktors Behauptung«, daß der Schlaf »das Kordial und die Früh-
lings-Wässerung der Seelenorgane« (JP 1.4, 973) darstellt. Soweit die Gemeinsamkeiten. Die Differenzen zwischen »Jean Paul« und »Viktor«
sind jedoch nicht mehr durch den Hesperus-Aufsatz »Viktors« gedeckt. Ein angebliches Zitat aus diesem Aufsatz, »Viktors schöne Klage« über die »Vergeßlichkeit des Traums (JP 1.4, 975), ist im Alesperus selbst nicht zu finden. Auch dessen T'heorie
vom Abgang der Vernunft sucht man vergeblich. Mehrmals paraphrasiert der Erzähler »Viktors« Theorie in dieser Hinsicht. Er spricht von den »Kelchberaubungen des Iraums, die mein gelehrter Freund, Doktor Viktor, uns banger und genauer vorzählt als die Gaben desselben« (JP 1.4, 975). Ein zweites Mal wundert sich der Erzähler, daß »Herr Doktor Viktor sich mehr über das Wunder betrübt, wodurch die Vernunft fortgeht, als über das andere erfreuet, wodurch sie wiederkommt (ein wah-
res miraculum restitutionis)« (JP 1.4, 972). Ein drittes Mal beschwichtigt »Jean Paul« seinen Freund »Viktor«, daß der von ihm beklagte »Raub[] der Vernunft«
durch die Schenkung viel größerer »Kompetenzstücke« (JP 1.4, 978) ausgeglichen würde. Viktor klagt jedoch im Alesperus nicht über den Verlust der Vernunft im "Iraum.
Die angeblichen Paraphrasen sind im Roman nicht zu finden. Aber ein anderer klagt: der (in diesem Text auch namentlich erwähnte)
Friedrich Heinrich Jacobi.
Dessen mittlerweile mehrfach erwähnte Apostrophierung des Idealismus als Traum und Wahnsinn wird nicht nur, wie oben dargelegt, zitiert (JP 1.4, 978), sondern
auch im Text drei mal metaphorisch variiert: in dem Wortspiel über die Mondflekken »palus somni« und »peninsula deliriorum« (JP 1.4, 972), in der Bezeichnung eines wiederkehrenden 'Iraums als »sanfter[er] Wahnsinn[]« (JP 1.4, 977) und in der
Erwähnung des Nachtwandlers, der den Übergang vom Traum zum »Wachen« zum »Wahnsinn«
(JP 1.4, 978) macht.
Deutlich wird dabei der Zusammenhang
zum
Idealismus hergestellt. Die Metapher, daß es sich bei den Philosophen, die ohne ihr Wissen
Traum,
Wahnsinn
und
Verlust
der Vernunft
miteinander
verbinden,
um
»Archimedesse« handelt, »welche sich in ihren logischen Zirkeln im Sande nicht stö-
ren lassen und die, gleich den Babyloniern nach Strabo, nur aus Armut an Bauqua463 Jean Paul, Philosophische Untersuchungen (1794ff.) $ 16 (HKA 11.7, 31).
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
151
dern die Kunst, systematisch zu wölben, treiben« (JP 1.4, 972), rekurriert auf Jacobis
Kritik am Idealismus als Reflexion der Reflexion ohne Gegenstand. Der Vergleich des »spekulative[n] Traum[s]« (JP I.4, 978) mit dem (an den Wahnsinn streifenden) Nachtwandler zielt natürlich auf die spekulative Philosophie Fichtes. Nun wird verständlich, warum Jean Paul im Briefwechsel mehrmals Jacobi auf
seine in Briefe und bevorstehender Lebenslauf dargelegte Position aufmerksam macht (durch sein Mißverständnis allerdings ohne Erfolg): Der Figur Viktor wird neben
ihrer eigenen Theorie die Position Jacobis untergeschoben. Das hat zwei Gründe. Auf der einen Seite möchte Jean Paul betonen, daß die im Hesperus dargelegte philo-
sophische Theorie an Jacobis Philosophie anschlußfähig ist. Auf der anderen Seite soll deutlich gemacht werden, daß damit — gegen den Anschein — auch Jean Pauls Fichte-nahe literaturtheoretische Position, in der die Einbildungskraft als sinnliches
und intellektuelles Vermögen zum Aufweis des Absoluten promoviert wird, mit Jacobis Philosophie harmonisierbar ist. Jean Paul faßt Viktors (alias Jacobis) Theorie so zusammen: »Vernunft und Bewußtsein und Freiheit wachsen und fallen miteinander, sie bilden die Sonne der
Menschheit,
nen-Metapher
die
aber
rekapituliert
jeden sehr
Abend
untergeht«
präzise Jacobis
(JP
Theorie,
1.4, daß
982). sich
Die
Son-
die Vernunft,
wie es im Hume heißt, im "Iraum in den Wahn wie sonst in die Wahrheit schickt (Hume 228ff.). Um den Iraum bzw. die Leistung der Einbildungskraft als mora-
lisches Vermögen
der Dichtkunst zu retten und gleichzeitig die Kompatibilität
mit Jacobis Theorie zu erhalten, präsentiert Jean Paul ein dreigliedriges Gegenargument: 1.) Der Traum ist nicht nur eine »Kelchberaubungl[]« (JP 1.4, 975), sondern auch ein Gewinn: »Vernunft und Erinnerung« müssen gehen, aber »Phantasie, Witz,
Scharfsinn, sogar Verstand«, also den Vermögen der Dichtung, wird die Arbeit hingegen erleichtert: »Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst« (JP 1.4, 978). Die Leistungen des Traums bzw. der Dichtkunst sind dabei durchaus moralisch. Mit der Vernunft verschwindet im Traum nur die »erworbene«, nicht die »angeborne« Moral (JP 1.4, 979), der »mitgebrachte[] Religions- und Tilgungsfond des Innern« (JP 1.4, 980). Die unteren Erkenntnis-Vermögen, d. h. vor allem die »Phantasie«, werden al-
so — unter Beibehaltung ihrer sinnlichen Aufgaben — zu quasi-intellektuellen beziehungsweise -moralischen Vermögen geadelt. 2.) Die Leistungen
der Erkenntnisvermögen,
die für die »angeborne«
Moral
zu-
ständig sind, werden als ein visueller Vorgriff auf eine besondere Form von Freiheit beschrieben: Es geht nicht (wie bei der vernünftigen Handlung im Wachen) um die Freiheit des irdischen
Individuums,
sondern
um
die des überirdischen:
»Aber wie
auf der einen Seite jenes innere Sonnenlicht dich erhebt über den Lebenszwang des Tiers,
das auch
von
seinem
Iraum
in ein Wachen
übergeht,
welches
wieder
ein
Traum gegen deinen ist; und wie du in dieser Stufenfolge die Hoffnung antriffst,
152
Drittes Kapitel
einmal so frei und besonnen zu werden, daß dein jetziges Wachen dir ein Träumen scheint [...]« (JP 1.4, 982). Im moralischen Zustand des Traums
(dem
»innere[n]
Sonnenlicht«)
wird eine
Freiheit offenbar, die sich von der des wachen Zustands unterscheidet, wie die des Menschen vom Tier (auch hier ein leichter Anklang an die Traum-Metaphorik aus dem Sturm). Der Traum muß, das ist eine Wiederholung des Arguments aus dem Brief an Leibgeber, moralisch und nicht epistemisch verstanden werden. Er drückt die Hoffnung aus, »einmal« im Wachen
»so frei und besonnen zu werden« wie im
Traum. 3.) Für den qualitativen Sprung von der Faktizität zur Geltung des moralischen Traums bedarf es eines Differenz-Argumentes: Die Hoffnung auf Moralität und Freiheit darf nicht zu einer Verwechslung von Traum und Wirklichkeit führen: »[...] so schlage auf der andern Seite bei dir nicht wie bei Alexander der Schlaf, son-
dern das Träumen den Dünkel nieder, der einen spinozistischen Schöpfer aus dir schafft! Wo hat denn der liegende Gott auf dem Bette, unter dem auf ihn geworfenen Gebirge des Schlafes, seine Freiheit, seine Moralität, seine Vorsätze, sogar seine
letzte Liebe und Freude? [Fufßnote: »Es bezieht sich darauf, daß uns im Traume gerade das, was wir zuletzt am meisten liebten und wünschten, selten erscheint«] — Nein,
unendlicher Vater, reiche du mir deine Hand, du gabst mir alles und wirst mir alles wiedergeben, denn ich habe ja nichts« (JP 1.4, 982).
Erst die Fußnote macht das Argument deutlich: Der Träumende ist sich seiner Differenz zum Wachen
bewußt, weil der Traum
als unvollständig wahrgenommen
wird. Das, was wir uns »wünschten«, »erscheint« nicht oder nur selten. Und so, wie
uns die fehlende Erfüllung der Wünsche im Traum auf die realen Wünsche zurückweist, verweist die »angeborne« Moral auf ihr fehlendes Gegenstück, die »erworbene« (also »Moralität«, »Vorsätze« etc.).
So zu argumentieren, heißt Jacobi gegen sich selbst anzuwenden: Wort«, »daß jedes Träumen
ein Wachen
Sein »tiefes
voraussetze« (JP I.4, 978), kann nicht nur
als Aufweis eines performativen Widerspruchs des Idealismus verstanden werden,
sondern als Entlastung der Einbildungskraft vom Verdacht der epistemischen Unredlichkeit: Die Leistungen der unteren Seelenvermögen erzeugen zwar eine perfekte Täuschung, aber die Täuschung ruft zugleich nach einer Aufklärung durch die oberen Seelenvermögen. In den Traum ist das Wachen als Differenz eingeschrieben. Der Traum macht durch die ihm eigene Markierung seiner epistemischen und moralischen Unvollständigkeit aus dem Träumenden nicht nur einen »spinozistischen Schöpfer« einer absoluten, sondern auch einen Teilnehmer der wirklichen Welt. Das ermöglicht es dem Menschen, die überirdische Freiheit des Iraums und der Dichtkunst in der Wirklichkeit annähernd umzusetzen. Mit diesem Argument ist die — Fichte-verwandte — Hypostasierung der Einbildungskraft als visuelles und
intellektuelles Vermögen, das auf das moralische Absolute hinstrebt, abgeschlossen
Träume der Philosophie — Träume der Literatur
153
und gleichzeitig durch den Nachweis, daß Vorstellung und Wirklichkeit nicht verwechselt werden können, gegen mögliche Einwände Jacobis abgesichert. Diese Gedankenfigur ist die Basis für die implizite und explizite Arbeit an der Anthropologie und Poetik des Titans. Schlußbemerkung:
Betrachtet man
die distanzierte Nähe,
die Jean Paul zwischen
sich und Fichte unterderhand ausmacht, verwundert es ein wenig, daß Jean Paul Fichte, im Brief an Jacobi und in den
Untersuchungen, vorwirft, daß seine Philoso-
phie mit einer Metapher beginne,* nämlich der von der runden logischen Welt. Jean Pauls Philosophie beginnt nicht nur mit einer Metapher, sondern ist eine Philosophie in Metaphern. Diese Ergänzung des Denkens durch die Phantasie bzw. Einbildungskraft (vgl. Vorschule $ 49, JP 1.5, 182ff.) ist ein notwendiges Handwerkszeug für Jean Paul, um den Übergang vom Natürlichen zum Übernatürlichen
und (was für einen Platoniker zusammenhängt) zu einer Moralphilosophie zu finden.*6® Der Unterschied zwischen den beiden Denkern ist jedoch, daß bei Jean Paul die Metapher zugleich auch an den Gegenstand, den sie bezeichnet, angebunden werden
soll. Fichtes Metaphern neigen zum »Nichtsin«*”, also zur rein selbstbezüglicher Quantität.
Metaphern
benötigen jedoch auch Qualität, um
ihre moralische Tätig-
keit nicht durch die — von Jacobi monierte — epistemologische Täuschung zu bezahlen. An diesem Punkt führt Jean Paul Metaphysik und Ästhetik eng. Ästhetische Metaphern unterscheiden sich von rhetorischen gerade dadurch, daß bei ihnen zwei gleichberechtigte semantische Ebenen, die übertragene und die literale, kooperieren können, statt daß, wie bei rhetorischen Metaphern, die übertragene gegen die literale ausgespielt wird. Dem Leser steht eine literale Geschichte und ihre übertragene Bedeutung vor Augen.*°® Die ästhetische Doppelgleisigkeit entspricht bei Jean Paul
einer metaphysischen: Die Literatur soll zum Absoluten hinführen (übertragene Ebene) und sich gleichzeitig auf die vom Absoluten deutlich differenzierte Wirklichkeit (literale Ebene) beziehen.
Die von Jean Paul angestrebte Parallelführung der beiden Ebenen, auf ästhetischem wie metaphysischem Gebiet, steht und fällt jedoch mit der Beantwortung der Frage, wie diese zu differenzieren sind. Um einer Täuschung vorzubeugen, muß sich der Rezipient jeder Zeit im klaren darüber sein, ob er es mit Bildern zu tun hat, die
464 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, chungen $ 134, HKA 11.7, 50.
10.11.1799,
HKA
IIL3, 252, und
Uhtersu-
#5 Zu Jean Pauls Rückstellung der Philosophie in Rhetorik vgl. Riedel, Die Macht der Metajr
Vgl. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten, $. 275, die vom sinnlich-geistigen Doppelcha-
rakter der Sprachtheorie Jean Pauls spricht. 467 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 10.11.1799, HKA 11.3, 252.
468 Vgl. Vf., Ästhetische und rhetorische Metapher.
154
Drittes Kapitel
sich auf das Irdische beziehen, oder solchen, die auf das Überirdische oder die moralischen Ideen verweisen.
Wie gut Jean Pauls Antworten auf diese Frage sind, das wird am Titan zu zeigen sein.
VIERTES
KAPITEL
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des
Wahnsinns (Titan, Vorschule)
Materialisten, Idealisten Poesie muß, so Jean Paul in der
Vorschule der Ästhetik, eine »schönel]
(geistige[])
Nachahmung der Natur« sein (JP 1.5, 30). Mit dem erklärenden Zusatz »geistig« wird eine Funktionszuweisung vorgenommen: In der poetischen Darstellung soll nicht nur die Welt, sondern auch der Geist Gottes, der in ihr waltet, sichtbar wer-
den.*’° „Dieselbe Kraft« wie das »Geisterreich am Körperreich« soll auch die »poetische Welt [...] an der wirklichen« ausüben (JP 1.5, 39). »Welche Seele die Natur beseele« (JP 1.5, 38) — daran erkennt man nach Jean Paul den wahrhaften Poeten. Die
‚Vergeistigung« durch die Poesie geschieht dabei weniger auf der Ebene des Dargestellten »Wunder«; JP 1.5, 39) als auf der der Darstellung: Es sind die formalen Prinzipien (»Versfuß«, »Bilderglanz der Sprache«, »Verkürzungen der Zeiten«; JP 1.5,
38; Symbolisierung; JP 1.5, 36), die der Poesie die Noblesse verleihen, Beschreibung der Welt, in der Gott wirkt, zu sein.
Jean Paul entwickelt seine Ästhetik in Abgrenzung von zwei von ihm konstruierten Gegnern: dem poetischen Nihilismus ($ 2) und dem poetischen Materialismus
($ 3). Hinter der ästhetischen Dichotomie ist eine epistemische verborgen.*’! Friedrich Heinrich Jacobi hatte, wie im letzten Kapitel gezeigt, in der Auseinandersetzung mit Mendelssohn, Kant und Fichte zwei Richtungen ausgemacht, die er in der Konsequenz für identisch hielt und von denen er sich absetzte: Idealismus und Materialismus (Fichte-Brief 224-227; 239) — die epistemischen Prototypen des poetischen Nihilismus und Materialismus.
469 Ich weise Zitate nach der zweiten Auflage der Vorschule nach, da die erste nicht eigenständig ediert ist. Wenn
nicht anders angegeben,
zitiere ich jedoch nur Passagen,
die auch
in der ersten
Auflage vorhanden sind. 470 Wiethölter, Illuminationen, S. 97ff., übersicht den Zusatz »geistig« und versucht deswegen, Jean Pauls Literaturkonzept aus einer Theorie der reinen Sinnlichkeit herzuleiten. #1
Vgl. dies., ebd., S. 59-83,
die den poetischen Nihilismus
ebenfalls als Transformation
des
epistemischen Idealismus versteht. Jean Paul hat allerdings ein eher abstraktes Modell im Kopf. Keinesfalls meint er mit dem poetischen Nihilismus pauschal die Frühromantik, wie dies., ebd., $. 67; 74, annimmt. Er ist (zumindest ab 1800) viel zu gut über die Transzendentalphilosophie Schlegels und Novalis unterrichtet, als daß er sie für eine (ästhetische) Adaption Fichtes halten könnte. Vgl. z. B. dazu Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 29.5.1800, HKA IIL.3, 338,
in dem Jean Paul berichtet, daß Schlegel »kein Fichtianer« sei. Vgl. auch unten.
156
Viertes Kapitel
Wie Jacobi in der Erkenntnistheorie versucht Jean Paul in der Ästhetik, seine ei-
gene Position aus der Absetzung von den (und nicht in der Kumulation der) entgegengesetzten,
gegnerischen
Positionen zu gewinnen.?’?
Das heißt, er entwickelt in
der Vorschule den Transfer der Erkenntnistheorie Jacobis in die Ästhetik, um dessen
philosophische Position für die Kunst fruchtbar zu machen. Dieser Prozeß soll im folgenden nachgezeichnet werden. Nihilismus: Der Transfer von der Epistemologie zur Ästhetik beruht, was den poetischen Nihilismus betrifft, auf einer Analogie von mentaler und schriftlicher
Repräsentation. Während Jacobi nach dem Realitätsgehalt von Vorstellungen bei der Wahrnehmung
fragt, fragt Jean
Paul
nach
dem
Realitätsgehalt der literarischen
»Nachahmung« (JP 1.5, 30). Wenn er von poetischen Nihilisten und nicht von poetischen Idealisten spricht, dann deswegen, weil er Jacobis Diktum,
daß der Idealis-
mus notwendig auf den »Nihilismus« hinauslaufe (Fichte-Brief 245), für wahr er-
kannt hat.?7? Es gibt für Jean Paul vier Analogien zwischen dem epistemischen und dem ästhetischen Idealismus bzw. Nihilismus.
Sie liegen erstens in einer Theorie des Ich,
zweitens im Atheismus- und Nihilismus-Vorwurf, drittens in der polemischen Analyse des Idealismus als Wahnsinn und viertens im Vorwurf der Reflexion ohne Gegenstand. Jacobi hatte Fichte zugebilligt, daß dieser mit der Wissenschaftslehre die höchste
Form der Wissenschaft hervorgebracht habe, nämlich die Selbsterschaffung des Gegenstandes: »Jede Wißenschaft, sage ich, wie Sie [Fichte], ist ein Object-Subject, nach dem Urbilde des Ich« (Fichte-Brief 231). Wenn aber alles aus dem Ich erst erschaffen wird, gibt es keine Welt mehr, und das Ich setzt sich an die Stelle Gottes. Es wird »Welt-Schöpfer, und — sein eigener Schöpfer« (Fichte-Brief 234). Der Idealismus ist »Nihilismus« (gemeint als Weltlosigkeit) und »atheistisch« (Fichte-Brief 245f.). Diese Konsequenz des Idealismus, die Jacobi bereits bei Kant aufzufinden
glaubt (Aume
216-237), wird, wie gezeigt, mit einer pathologischen Metapher, dem »Wahnsinn« (Hume 227 und Fichte-Brief 240), beschrieben. Der Nihilismus liegt in der Methode
der Idealisten begründet. Es ist die Verselbständigung der Reflexion und Abstraktion, die nur noch sich, aber nicht mehr einen Gegenstand
außer sich zum
Thema
macht, so daß der Denkende alles außer sich verliert (Fächte-Brief 235ff.). Diese Kritik überträgt Jean Paul auf den ästhetischen Idealismus bzw. Nihilismus. Die »Ichsucht«
(JP 15, 31) führt auch im ästhetischen Bereich zur Ergreifung der
#72 Auch Wilkending, Jean Pauls Sprachauffassung, S. 17, geht, obwohl sie Jacobi in diesem Zu-
sammenhang nicht nennt, von einem solchen Modell aus. Bosses Annahme, daß Jean Paul zwischen Nihilisten und Materialisten vermitteln will, läßt sich, bezieht man Jacobis Kritik des Idealismus als Nihilismus mit ein, meiner Ansicht nach nicht halten (Bosse, Theorie, S. 4). 473 Matzkers Vermutung, daß Jean Paul eine bessere Kritik an Fichte als Jacobi selbst üben wolle
(Matzker, Idiot, S. 89), übersieht die Transformation von der Epistemologie zur Ästhetik.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
157
Position Gottes und in die Weltlosigkeit. In den literarischen Repräsentationen taucht die Welt (wie in den Vorstellungen, die der Erkenntnistheoretiker betrachtet)
als etwas außerhalb des Textes Liegendes nicht mehr auf. Es handelt sich um eine »Versäumung aller Wirklichkeit« (JP 1.5, 34). Die Literatur ist, wie die Wissenschaft
bei Fichte, nur noch die Darstellung dessen, der sie hervorgebracht hat. Und der Autor schwingt sich — da der wirkliche »Gott, wie die Sonne,
untergehet«
(JP 15,
31) - zu der Position eines Weltenschöpfers auf. So ahmt dieser Poet die Gesetze Gottes nicht nach, sondern entwirft sie nur aus sich heraus und verliert sich in die
»gesetzlose Wüste« (JP 1.5, 34) bzw. in die »Öde der Phantasterei« (JP 1.5, 31), da nur die (Anerkennung der) Welt außerhalb des Ichs die Gesetze des Schreibens vor-
geben kann. Dieser Gottes- und Weltverlust des allmächtigen unter poetischen Gesichtspunkten »Wahn[]« (JP 1.5, 34). Die ständigung der Reflexion unter Verlust ihres Gegenstandes ist ratur: »Dann holet der blühende junge Mensch die Natur aus
Autoren-Ichs ist auch Analogie zur Verselbdie Literatur aus Litedem Gedicht, anstatt
das Gedicht aus der Natur« (ebd.). Die Nihilisten sind Intertextualitätskünstler. Sie
kennen die Gegenstände der Darstellung nur ihrerseits aus Darstellungen, die sie wiederum reproduzieren. Wie bekannt, hatte Jacobi in mehreren Veröffentlichungen eine Philosophie des
Glauben an die Außenwelt propagiert, die er durch die pragmatische Art seines Philosophierens zu stützen versuchte (Hume 138-166; Fichte-Brief 260). Die Analo-
gie dieses Beweises im Bereich der Ästhetik ist folgende: Wie wir nicht handeln könnten, wenn es keine unmittelbare Korrespondenz von mentaler Repräsentation und Welt gäbe, so könnten wir auch nicht literarisch schreiben, wenn wir nicht die
Korrespondenz von schriftlicher Repräsentation und Welt in Anspruch nähmen. Literarisches Schreiben ist die »Nachahmung« (JP 1.5, 30) einer externen Gegenständlichkeit. Durch den Transfer ins Ästhetische verändert sich allerdings die Argumentation. Während Jacobi (im weiteren Sinne) modallogisch argumentiert, richtet Jean Paul seine Theorie normativ aus. Er propagiert eine richtige Art, literarisch zu schreiben, die er von einer schlechteren (aber nicht unmöglichen) abgrenzt (z. B. Literatur aus Literatur). Materialismus: Bei der Analogie zwischen dem epistemischen und dem poetischen
Materialismus werden das wissenschaftliche Erklären und das literarische Beschreiben der Welt gleichgesetzt. Nach Jacobi kann der Materialismus die Welt nicht erklären, weil dessen Erklärungsinstrument, die Kausalität, seinerseits nicht begreiflich
ist. Die Materialisten stehen nach Jacobi vor der Aporie eines Anfangsproblems. Entweder gibt es einen Anfang der Kausalität, nämlich Gott, oder es gibt keinen. Tertium non datur. Letzteres können die Materialisten nicht zugeben, weil sie sich sonst den »ungereimte[n] Begriff einer ewigen Zeit« (Beylage VII zu Spinoza* 257) einhandelten, ersteres nicht, weil sie zugeben müßten, daß es ein Ereignis gäbe, das sich nicht durch Kausalität erklären ließe. Tun sie es doch, befinden sie sich in ei-
158
Viertes Kapitel
nem performativen Widerspruch. Diesem entkommt man nach Jacobi nur, wenn man die Grenzen des Verstandes und seiner Begrifflichkeit, die nur für die Erklärung der Natur hinreichen, verläßt. Wenn
man einen Anfang, ein Unbedingtes, das
alles andere bedingen soll, voraussetzen will, dann kann man dies nur im »Aussernatürliche[n]« (Beylage VII zu Spinoza? 258) finden.
Auch der poetische Materialismus »widerspricht [...] sich und eignen Erlaubnissen« (JP 1.5, 39), wenn
er glaubt, mit der Sprache der Poesie dem
»Aussernatürli-
che[n]« als Gegenstand und Mittel der Darstellung entkommen zu können. Poesie
ist nämlich durch die beschriebenen Gegenstände und die Wahl der formalen Mittel immer schon mehr als das »gemeinste Nachdrucke[ln] der Wirklichkeit« eines »Reisebeschreibers« (JP 1.5, 35). Insofern ist eine Theorie, die diese Modifikationen in
der schriftlichen Repräsentation für die Poesie ausschließt, mit sich selbst im Widerspruch. Auch hier ist die Entsprechung des modallogischen Arguments bei Jacobi ein normatives und ausschließendes: Poesie muß durch die Form das Übernatürliche ım Natürlichen ausdrücken, sonst ist sie keine. Während mit nicht-ästhetischen Beschreibungen lediglich die kausalen Prozesse, die in der Welt ablaufen, beschrieben werden können, können mit poetischen Mitteln auch die finalen Wirkursachen dar-
gestellt werden. Die nicht-literarische Beschreibung der Natur ist — in der Metapher Jean Pauls - lediglich ein »Körper«, dem ein »Geist« fehlt (JP 1.5, 35), oder ein »unpoetische[s] Repetierwerk[] der großen Weltuhr« (JP 1.5, 36) ohne Uhrmacher. Und
wie vom Geist Gottes keine Anschauung möglich ist, so ist die poetische Sprache nicht durch bestimmte Worte zu identifizieren. Es ist die Sprachverwendung, durch
die sich die poetische Darstellung der Welt von einer gewöhnlichen unterscheidet. Wie gezeigt, übernimmt Jean Paul — durch die Philosophie Neebs vermittelt — Jacobis Diktum von der identischen Konsequenz von Idealismus und Materialismus
(Fichte-Brief 224ff.; 239). Gleiches gilt für die ästhetischen Ableger dieser mologischen Richtungen: Auch der poetische Nihilismus und der poetische rialismus sind — wie Jean Paul in der zweiten Auflage ergänzend hinzufügt — ter Konsequenz identisch: »Dem Nihilisten mangelt der Stoff und daher die
episteMatein letzbelebte
Form; dem Materialisten mangelt belebter Stoff und daher wieder die Form;
kurz,
beide durchschneiden sich in Unpoesie« (JP 1.5, 43). Wie der Materialist nach Jacobi die Welt verlieren muß, weil er sie nicht als durch Gott bedingt versteht,
so verliert der poetische Materialist die Welt,
nicht in seiner Darstellung
die Form
wenn
gibt, die der causa finalis in der Welt
er ihr ent-
spricht. Wie der Idealist nach Jacobi Gott verliert, weil er die Welt nur noch aus sich heraus entwirft, so verliert der poetische Nihilist die Form
seiner Darstellung, weil
er keinen Gegenstand außerhalb der Darstellung mehr kennt. Es bleibt ein metaphysisches oder poetisches Nichts. Es soll im folgenden die These vertreten werden, daß Jean Pauls Kunstmodell der Vorschule bereits im Titan entwickelt wird. Und zwar nicht nur wie in der Vorschule
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
159
als ein ästhetisches, sondern als ein umfassendes Modell, das auch Erkenntnistheorie und Moralphilosophie mit einschließt. In der Vorschule wird dann lediglich der kunsttheoretische Teil separiert.
Das heißt,
daß
ich im folgenden
die Erklärungs-
richtung umdrehe: Ich ziehe nicht die Vorschule für die Erklärung der Romane, sondern die Romane für die Erklärung der Vorschule heran.
Die schöne Seele und die Titanen In einem Brief an Christian Otto bezeichnet Jean Paul Charlotte von Kalb als eine wilde »Titanide«. Erinnert er sich jedoch daran, daß er ihre erotischen Ambitionen
erfolgreich abgewehrt hat, nennt er sie sanft eine »schöne Seele«.*”* Die Verwendung der verschiedenen Epitheta für ein und dieselbe Person ist kein Zufall. Titan(ide) und schöne Seele werden im Titan als miteinander verwandt bezeichnet und behan-
delt. Mehr noch: Titanismus ist die radikalisierte Form des empfindsamen Projekts aus den frühen Romanen. Die schöne Seele Liane leidet und stirbt an der »Einkräftigkeit«,75 die auch den Titanismus auszeichnet. Und wenn ihr bis zur wirklichen »Titanide« (JP 1.3, 682; 306),*7° wie Linda eine ist, doch noch etwas fehlt, so ist sie wenigstens eine »kleine Linda« (JP 1.3, 207). Was aber charakterisiert das große geschwisterliche Gegenstück der schönen Seele,
den 'Titanismus? Jean Paul gibt in einem Brief an Jacobi vom 3.12.1798 Auskunft: »Mein Titan ist und wird gegen die algemeine Zuchtlosigkeit des Säkulums gewafnet, gegen dieses irrende Umherbilden ohne ein punctum saliens — gegen jede genialische Plethora, d. i. Parzialität — gegen die ästhetische (artistische) und philosophische Irennung des Ichs von der Beschauung, als müsse nicht diese auf jenes wirken, es voraussezen, nur durch dasselbe gelten und darin früher und später wohnen als in
der Abstrakzion. [Fußnote: »Dieser mislungene Ausdruk wil sagen, daß sowohl der Genus als das Prinzip der dargestelten (ästhetischen oder philosophischen) Gestalt ja nicht wieder in der Darstellung liegen könne«]. Beinahe jede Superfötazion und jedes hors d’oeuvre der menschlichen Natur sol im Titan Spielraum für die eignen Fehler finden; obwohl diese Moral nur in jener Freiheit darin lenkt und predigt,
womit die poetische Gerechtigkeit der Moral sich in der Wirklichkeit hinter das tausendfache Räderwerk der Welt-Maschine verbirgt. Der gewöhnliche Leser mus im ästhetischen Werke wie im kosmischen um uns überal nur Physik und nirgens Endabsichten antreffen«.?77
474 Jean Paul, Brief an Christian Otto, 6.1.1799, HKA III.3, 145. 475 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 8.9.1803, HKA IIl.4A, 237.
476 Vgl. auch ebd. 477 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 3.12.1798, HKA III.3, 129.
160
Viertes Kapitel
Es sind zwei Gedanken, die hier ausgebreitet werden: eine Beschreibung des Titanismus (von »Mein Titan« bis zum Ende der Fußnote) und die Frage nach der ästhetischen Moral (von »Beinahe jede« bis zum Ende des Zitats). Ästhetische Moral: Jean Paul antizipiert den (später von Jacobi tatsächlich erhobe-
nen)*’® Vorwurf, er konnotiere titanische Figuren wie Roquairol moralisch positiv, da er sie nicht explizit kritisiere bzw. seine eigene Position nicht deutlich genug ma-
che. Er benutzt deswegen einen Gedanken aus den Untersuchungen ($ 89, HKA 1l.7, 42) und vergleicht die einfache Darstellung der Handlung mit der causa effciens und die moralische Absicht des Autors mit der causa finalis. Die Mechanik der Wirkursachen versteht auch der gewöhnliche Mensch, die Teleologie, also die End-
absichten Gottes, jedoch nicht. Dafür muß man — im Sinne Jacobis — einen Sinn für das Übernatürliche haben.
Genauso
ist es in der ästhetischen Welt.
Die Hand-
lungsfolge des Romans ist auch dem gewöhnlichen Menschen offensichtlich. Die von Jacobi
geforderten
moralischen
Endabsichten,
sind jedoch,
so Jean
Paul,
im
Roman verborgen wie 6 100 Xx60u0D Aöyog. Welche moralischen Intentionen also
mit Figuren wie Roquairol verfolgt werden, läßt sich (um Jacobis Begriffe gegen diesen selbst anzuwenden)
an der mechanischen
Oberflächenstruktur
des Romans
nicht ablesen. Dafür muß man eine Ahnung für das ästhetische Übernatürliche haben.?’? Die in dem Brief dargelegte Analogie von Fabel und causa efficiens bzw. Moral und causa finalis besitzt eine Schlüsselstellung auf dem Weg zur Kritik am poetischen Materialismus in der Vorschule der Ästhetik. Titanismus: Die Kritik am Titanismus ist nur zu verstehen, wenn man den vorangegangenen Brief Jacobis an Jean Paul mit einbezieht, in dem dieser seine Kritik am
Idealismus in eine Metaphern-Reihe kleidet, die Jean Paul fortführt. Wie oben ausgeführt, wird die ins Unendliche getriebene Reflexion der Philosophie Fichtes mit dem Mann
verglichen, der seine Hände
mit »seiner Hände Werk« bzw. das Schnei-
den eines Bissens mit dem Bissen selbst verwechselt.*8°
Jean Paul greift diesen Gedanken auf und verspricht, im Titan die Verdrehung der Reihenfolge von »Abstrakzion« und »Beschauung«“®! wieder rückgängig zu machen,
d.h. Jacobis Argumentation gegen den Idealismus im Titan zu exemplifizieren. Fichtes intellektuelle »Einkräftigkeit«*®? wird als Symptom einer Krankheit verstanden, deren Ursachen nicht individuell und diskursintern, sondern zeitbezogen und
diskursübergreifend zu verstehen sind und sich konsequenterweise auch in ästhetischen Zusammenhängen wiederfinden lassen. Jean Paul schreibt dementsprechend sowohl im ersten wie im zweiten Anlauf (d.h. in der Fußnote), in dem er Jacobi 78 Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 3.9.1800, Zoeppritz 279f. #79 480 431 482
Vgl. dazu Friedrich Jean Paul, Jean Paul,
auch: Philosophische Untersuchungen, $ 117 (HKA 1.7, 117). Heinrich Jacobi, Brief an Jean Paul, 5.11.1798, Roth II, 260. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 3.12.1798, HKA Ill.3, 129. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 8.9.1803, HKA III.4, 237.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
161
seine Romantheorie erklären will, von der »ästhetische[n] [...] und philosophische[n] Trennung« bzw. von der »(ästhetischen oder philosophischen) Gestalt«.*% Die Engführung der Begriffe »ästhetisch« und »philosophisch« (im Sinne von: epi-
stemisch) ist kein Zufall. Was für die Erkenntnistheorie gilt, gilt auch für die Ästhetik. Die Form der Darstellung darf nicht (wie die Reflexion in der Erkenntnistheo-
rie) zum einzigen Gegenstand der Darstellung werden. Gemeint ist die poetische Selbstreferenz (innerhalb eines oder mehrerer Texte), wie sie z. B. in Roquairols literarischen Handlungen zu finden ist.
Ich möchte im folgenden zwei titanischen Entwürfen, nämlich denen Schoppes und Roquairols,
nachgehen.
In beiden
Figuren wird allegorisch, d.h.
in einer zur
Geschichte weitergeführten Metapher, eine Haltung zum epistemischen, poetischen und moralischen Idealismus exemplifiziert: %%* An der Figur Roquairols wird der Zusammenhang von Idealismus, Poesie und Moral durchgespielt, an der Figur Schoppes die Identifikation von Idealismus und Materialismus (auch wenn Schoppe durch die Modifikation seines Humor-Konzeptes dem Titanismus entfliehen kann). Die beiden Titanen rahmen im Roman die schöne Seele Albano ein.*# So stelle ich auch
in dieser Arbeit das Kapitel »Albano oder die Kunst der Illusion« zwischen das über Roquairol und Schoppe und untersuche an ihm, wie eine schöne Seele trotz Familien-»Ähnlichkeit«*8° dem Titanismus entkommen und das praktische und ästhetische Ideal eines hohen Menschen leben kann.
Roquairol oder der Verlust der Moral »Alle herrliche Zustände der Menschheit, alle Bewegungen, in welche die Liebe und
die Freundschaft und die Natur das Herz erheben, alle diese durchging er früher in Gedichten als im Leben, früher als Schauspieldichter denn als Mensch, früher in der Sonnenseite der Phantasie als in der Wetterseite der Wirklichkeit; daher als sie end-
lich lebendig in seiner Brust erschienen, konnt’ er besonnen sie ergreifen, regieren, ertöten und gut ausstopfen [...] und stellte hinterher alles auf dem Papier und
483 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 3.12.1798, HKA II1.3, 129.
484 Auf die metaphorische bzw. allegorische Funktion der Figuren weisen Böschenstein, Grundzüge, S. 38, und Scholz, Welt und Form, S. 33ff., hin. 485 Das Bestehen auf die Unabhängigkeit der Episoden um die Titanen Roquairol und Schoppe von der Bildungsgeschichte Albanos
(Scholz, Welt und Form,
S. 100ff., und,
ihm
folgend,
Döll,
Rollenspiel, S. 148ff.) scheint mir die Lösung eines Schein-Problems zu sein. Es ist richtig, daß auf der Ebene der Fabel Roquairols und Schoppes »Schicksal von der Bildungsgeschichte Albanos ziemlich unbeeinflußt« (ebd., S. 149) bleibt. Das heißt jedoch nicht, daß mit den Figuren Schoppe und Roquairol auf der Ebene der philosophischen Konzeption nicht ein Gegenentwurf zu Albano geschaffen würde. 486 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 8.9.1803, HKA IIl.4, 236.
162
Viertes Kapitel
Theater wieder da, was er bereuete oder segnete; und jede Darstellung höhlte ihn tiefer aus, wie der Sonne von ausgeworfenen Welten die Gruben blieben« (JP 1.3, 263). Roquairol hat »ganz« die »darstellende[] Natur«,*” wie Jean Paul Jacobi schreibt. Sein emotionales Leben ist in seinen literarischen und dramatischen Versuchen be-
reits vorgelebt, so daß er souverän in seinem psychischen Theater Regie führen und seine Empfindungen lenken kann. Diesen Prozeß beschreibt er wiederum in seinen Texten oder auf dem Theater. Das Resultat ist Literatur aus Literatur, deren Verän-
derung und Anreicherung gegenüber dem Original lediglich im Durchgang durch die Psyche des literarischen Produzenten besteht. Aber nicht nur dem dilettierenden Künstler“® geht durch die synthetische Darstellung
Lebendigkeit
verloren,
sondern
auch
dem
Menschen:
»Jede
Darstellung
höhlte ihn tiefer aus« (ebd.). Der Verlust liegt in der Authentizität von Gefühlen.“®? Roquairol hat ein »unwahre[s] Herz[]« (JP 1.3, 264). Er kann zwar noch Gefühle der Freundschaft und Liebe empfinden, aber nur als von und durch ihn gestaltetes
künstliches bzw. künstlerisches Produkt. Und genau diese emotionale Synthetik ist der Grund seiner Melancholie. Bezeichnenderweise
betrachtet Roquairol
sich selbst nicht als Kunstwesen,
son-
dern als Mensch, der nach seiner Natur lebt. Er will, obwohl er mit Rabette bereits
geschlafen hat, sich nicht »in das enge dreißigjährige Gehege der Ehe bannen« (JP 1.3, 490) lassen. Statt dessen reklamiert er für sich die freie Wildbahn, den »Genuß« seines »eignen Daseins« (JP 1.3, 478). Diese Freiheit von den zivilen und morali-
schen Gesetzen rechtfertigt er mit einem Rückgriff auf die »Autonomieästhetik des Lebens: »Die Leidenschaften sind poetische Freiheiten, die sich die moralische nimmt« (JP 1.3, 490). Er glaubt, mit seinem poetischen Konzept ein Leben nach der Natur zu führen.
Das aber ist ein Irrtum, den Roquairol mit Allwill teilt. Luzie wirft diesem, der sich als Genußmensch geriert und für sich in Anspruch nimmt, nur nach seiner Natur zu leben, vor: »Allwill! Sie, eines Sinnes mit Natur? die ächtesten Bande
der Natur auflöset; wahre,
träumte, schimärische an die Stelle zu stellt sie Allwill, daß er, der »so scharf terscheiden« kann (Allwill 278), keine besitze. Für Jean Paul hat die Referenz
Sie, der immerwährend
reine Verhältnisse zerstört, um
er-
setzen — « (Allwill 277). Gleich danach unter[...] reinweg alles Schöne« trennen und »unFähigkeiten zur moralischen Unterscheidung auf Jacobi eine entscheidende Wichtigkeit.*°
487 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 21.7.1801, HKA III.4, 90. #88
Zum
Dilettantismus
Roquairols
vgl.
W.
Rehm,
Roquairol,
S. 177;
Kemp
etal.,
Jean
Paul,
$. 209, und Mauch, Theatermetapher, S. 47. #9 Vel. Koller, Bilder, S. 40. 4% Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 21.7.1801, HKA
III.4, 90: »ich kan dich über
diese doppelten Handelsbücher im menschlichen Herz [gemeint ist der Charakter Roquairols] auf
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
163
Er schreibt an ihn: »Die Stelle im Alwil, wo du von [der] poetischen Auflösung in lauter unmoralische Atonie [darübergeschrieben: »Gesezesfeindschaft«]
durch lauter
Reflexion sprichst, gab mir die erste Idee des Titans.«*”! Moral versus poetische Freiheit — das scheint für Jean Paul die Leitdichotomie des Allwill und des Teils des Titans zu sein, der von Roquairol handelt.
Der Erzähler stimmt Roquairols Selbstdefinition als moralfreier Ästhet in der Beschreibung, nicht jedoch in der Bewertung zu: »Wie im dramatischen Dichter engelreine und schmutzige Zustände nebeneinander stehen und folgen, so in seinem Leben« (JP 1.3, 263). Der dramatische Dichter befaßt sich, wenn er schreibt, mit moralischen und unmoralischen Handlungen und Haltungen — unabhängig von seinen
eigenen. Dies trifft auch auf Roquairols Leben zu — nur, daß es bei ihm keine eigentliche Haltung, keine moralische Ebene hinter der Darstellung gibt, da diese bereits das Leben selbst ist.*??
Die Gleichsetzung der Poesie mit einem vorrechtlichen Zustand der Vermögen der menschlichen Psyche, in dem die Leidenschaften noch nicht durch die moralische Macht der Vernunft gezähmt wurden (JP 1.3, 490), muß der Erzähler, der Ro-
quairols Psyche, wie gesehen, als Kunstprodukt schildert, für falsch halten. Roquairol kennt die platonische Kardinaltugend der Besonnenheit, statt sie aber für die Moralität einer Handlung einzusetzen, führt er »besonnen« (JP 1.3, 263) im Theater seiner Vermögen Regie. Er kann also nicht für sich in Anspruch nehmen, in einem
vormoralischen Zustand zu leben. Ganz im Gegenteil, sein Vermögenshaushalt ist ein hochkultivierter. Die Inanspruchnahme einer Autonomieästhetik im Leben ist also vielmehr ein Akt, der — daran läßt der Erzähler keinen Zweifel zu — einem moralischen Urteil unterworfen werden muß.
Das Urteil fällt negativ aus. Roquairol ist der Prototyp eines unmoralischen, genauer:
eines amoralischen,
Charakters.
Der Grund
dafür ist die Überführung
des
‚Theaters im Kopf« in sein persönliches Welttheater. »Als Regisseur seines innern Theaters« teilt er sich »Rolle[n]« (JP 1.3, 340) zu, die er anderen Menschen gegen-
über spielt. In diesem Augenblick wird die Illusion der Kunst zur Täuschung und
einen recht guten Autor verweisen, der meines Wissens diese Besonnenheit der Sünde tiefer und
fürchterlicher als einer gemalt — auf dich im Alwil.« Vgl. weiterhin Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 13.8.1802, HKA III.4, 168: »Du kontest dern hasts schon gethan.«. Auch Wuthenow, Verführung, im Geiste von Eduard Allwill. Der Antagonismus zwischen angedeutet (S. 100). Zur Moralität Allwills vgl. Nicolai,
nicht nur einen Roquairol dichten, sonS. I5f., betrachtet Roquairol als Bruder Ästhetik und Ethik wird allerdings nur Goethe und Jacobi, S. 105ff.; Schmidt-
Biggemann, Maschine und Teufel, S. 305f.; Lauth, Jacobis Vorwegnahme,
S. 305f., und Stäcker,
Aufruhr, S. 119. #1 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 13.8.1802, HKA Ill.4, 168.
#2 Zur Verselbständigung der Darstellung und Signifikanten bei Roquairol vgl. Pfotenhauer, Roquairol, S. 23ff.
164
Viertes Kapitel
zum Betrug in der Praxis.*”? Roquairol hat ein »poetisches Blend- und Gaukel-Herz« (JP 1.3, 494). In dieser Vermischung von einer (angeblich) moralfreien Poesie im
Kopf und einer der Moralität unterworfenen Praxis liegt Roquairols Verfehlung. Die Poetisierung des Lebens durch Roquairol findet hauptsächlich in zwei »Gattungen« statt: dem »Roman mit Rabetten« (JP 1.3, 479; Hervorhebung von mir) und
der Inszenierung‘®* der Vergewaltigung Lindas und seines eigenen Tods im »Trauerspieler«. Der Ausdruck Roman ist doppeldeutig. Auf der einen Seite wird damit gesagt, daß es sich um eine Liebesgeschichte handelt, auf der anderen Seite wird die Literarizität als Bedingung dieser Liebesgeschichte hervorgehoben:®5 »Überhaupt wurde sein Herz erst durch den Transport über die Zunge und Lippe recht feurig und trinkbar« (JP 1.3, 479).
Die Handlungen Roquairols werden also nicht nur vollzogen, sondern zugleich wie ein Roman
geschrieben und in Kapitel eingeteilt (JP 1.3, 479ff.). Die ersten
handeln davon, wie Roquairol Rabette kennenlernt, die folgenden beschreiben das Spannungsverhältnis zwischen den beiden, das sechste den Beischlaf, das siebte letzte die Trennung. Es handelt sich, wenn man die Metapher beibehält, nicht einen Roman, der von einem Geschehen mehrerer Personen handelt, sondern, bei Roquairols Briefen auch, nur um ein »Gemälde seiner wilden Natur« (JP
und um wie 1.3,
485; Hervorhebung von mir) — eine poetische Selbstspiegelung des Autors bzw. Handelnden.
Es gibt nicht nur ein »Trauerspiel« (JP 1.3, 733), das Roquairol aufführt. Auch die Vergewaltigung Lindas wird so genannt und konsequenterweise in theatralen Metaphern beschrieben. Wenn Roquairol sich die »Rolle« Albanos (JP 1.3, 732) erarbeitet
und später spielt, so sind das »theatralische[] Zurüstungen und Verwicklungen, wie sonst für die Bühne, so jetzt für das Leben« (ebd.). Der Selbstmord Roquairols in
seinem eigenen Stück, dem »Trauerspieler«, ist hingegen eine Zurüstung, wie sonst für das Leben, jetzt für die Bühne. Die Inszenierung ist eine kaum verhüllte »Wie#3
Zum
Unterschied
von
Betrug
und
Illusion vgl.
Kant, Anthropologie-Pillau,
in: ders., Akade-
mie-Ausgabe, Bd. XXV.2, S. 745: »Illusion ist ein Schein der nicht betrügt, sondern noch ergötzet. [...] Mann kann alles das Illusionen nennen wo eine Verbindung zwischen dem Verstande und dem
Scheine stattfindet.« Ähnlich äußert sich Kant in bezug auf die Kunst in dem Entwurf einer Opponenten-Rede gegen Kreutzfeld, Akademieausgabe, Bd. XV, S. 907: »Si quid est in tali rerum specie, quo fallere [dici potest] vulgo dicitur, [non fals] i//usio potius nominanda erit.« Vgl. hierzu ausführlicher Vf., Theatralische Sittlichkeit; ders., Lesthetique.
#4 Eine relativ umfangreiche Auflistung der literarischen und dramatischen Metaphern für Roquairols Handeln findet sich bei Mauch, Theatermetapher, S. 49-57, und Döll, Rollenspiel, S. 162ff.
#5 In dem Begriff des »Romans« verbinden sich im 18. Jahrhundert die Bedeutung der »fictions« mit der der »aventures amoureuses« (vgl. Huet, Traite, S. 4). Dies sieht man auch an der Aussage der Fürstin im Titan, die behauptet, daß der »Roman [...] ohne den Amor nicht sein kann« (JP 1.3,, 435). Vgl. auch Verwendungen im Wilhelm Meister, wo von dem »Roman« (im Sinne von
‚Verhältnis«) zwischen der Baronesse und Jarno oder zwischen Serlo und Elmire gesprochen wird (Goethe VII, 197; 344).
Ilusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
165
derholung« (JP 1.3, 748) dessen, was Roquairol mit Albano und Linda erlebt hat. Mit dem Selbstmord auf offener Bühne — eine Anspielung auf den Selbstmord Schröpfers bei einer seiner Vorführungen (nach der Beschreibung werden schließlich Leben und Geschehen auf der Bühne simultan.
Crusius)*% —
Wie Roquairol selbst sind auch Gaspard und der Kunstrat Fraischdörfer nicht in der Lage, das Geschehen moralisch zu beurteilen. Während Gaspard findet, daß Roquairol »seinen Charakter wirklich durchgeführt« (JP 1.3, 756) habe (parallel zu Crusius’ Bemerkung, Schröpfers Selbstmord sei »nach seinen Grundsätzen recht und
rühmlich gewesen«),*”” und Albano die Klage untersagen will, bemerkt auch Fraischdörfer ausschließlich die ästhetische Seite des Vorgangs: »Von der bloßen Seite der Kunst genommen, wäre die Frage, ob man diese Situation nicht mit Effekt entlehnte [...]; freilich wär’ es dann nur Schein des Scheins, spielende Realität in reellem Spiel und tausendfacher, wunderbarer Reflex« (ebd.).
In der Forschung ist seit den ersten großen Studien über den Titan immer wieder hervorgehoben worden, daß die Philosophie Fichtes und das Phänomen des Ästhetizismus die entscheidenden Themen
bei der Figur Roquairol seien.*® Der Zusam-
menhang zwischen dem Idealismus Fichtes und dem Ästhetizimus Roquairols jedoch, der über das im Kapitel »Materialisten, Idealisten« deutlich gemachte Analogieverfahren Jean Pauls zu verstehen ist, ist genauso unberücksichtigt geblieben®?? wie das Verhältnis von Moral und Ästhetik.?% Beides soll hier nachgeholt werden. Moralphilosophie: Es ist kaum zu übersehen, daß mit Roquairols Natur, die ganz Darstellung ist, eine metaphorische Exemplifizierung der Fichteschen Theorie (in der Sicht Jacobis) angestrebt ist. Das Verbindungsglied zwischen Roquairols poetischem Leben und Fichtes Wissenschaftslehre ist die Rolle der Einbildungskraft, die Fichte mit der absoluten Tätigkeit des Ichs gleichsetzt (Fichte I, 160; 215ff.). Ro-
#96 Crusius, Bedenken, S. 10f.: »Schröpfer selbst [...] hat geäußert, er würde einmal über dieser Arbeit [seinen Geister-Vorführungen] bleiben, daher er ein geladen Tercerol bey sich führe, um, wenn er nicht weiter könne, den Lauf in den Mund zu nehmen,
und sich zu erschießen; So ist er
auch am 8ten October 1774, im Rosenthale, in dem Busche, darein er nach schon angefangener Arbeit, gehörten Knalle, und mit auf große Dinge vertrösteten Begleitern gegangen, bald darauf todt gefunden worden, da man zuvor einen Schuß gehöftet«. #7 Ebd.,S. 11. #8 Vgl. Nerrlich, Jean Paul, S. 408ff., und Rohde, Titan, S. 73ff. Kommerell, Jean Paul, S. 211f; 234, betont Roquairols Ästhetizismus stärker als das Idealismus-Problem, da er dieses bei
Schoppe abhandelt. Von den neueren Forschungen versucht lediglich Wiethölter, Illuminationen, aus diesem Deutungsmuster auszubrechen, indem sie sowohl Roquairol wie auch Schoppe auf die Dichotomie von Vernunft und Natur reduziert (S. 230ff.).
#9 Schmitz-Emans, Dramatische Welten, S. 85ff., arbeitet zwar den Reflexionscharakter des Ästhetizismus Roquairols heraus, ohne diesen jedoch mit der Reflexionstheorie des Idealismus zu vergleichen. Für Bachmanns Versuch, Roquirols Ästhetik mit der Gerichtspraxis zusammenzubringen, sehe ich keine Ansatzpunkte. Vgl. Bachmann, Umschaffen der Wirklichkeit, S. 147f.
500 Auch W. Rehm, Roquairol, dessen Titel (»Eine Studie zur Geschichte des Bösen«) eine moralphilosophische Betrachtungsweise verspricht, ignoriert dieses Thema vollständig.
166
Viertes Kapitel
quairol ist die empirische Entsprechung zu Fichtes absolutem Ich. Er ist »ein Kind und Opfer des Jahrhunderts«, weil er nie »der Phantasie widerstanden [hatte], da er nur durch Phantasie widerstand«
(JP 1.3, 262). Jean Paul, der die Begriffe Einbil-
dungskraft und Phantasie manchmal als synonym (JP 1.4, 195), manchmal als verwandt (Einbildungskraft als das prosaische Pendant zur Phantasie, gebraucht,
macht
den
poetisch
lebenden
Roquairol
zum
Vorschule $$ 6f.)
Anwendungsfall
einer
Theorie, die das Nicht-Ich nur als Resultat der produktiven Einbildungskraft kennt.
Den Setzungen des Ichs entsprechen Roquairols Rollenzuweisungen im persönlichen Welttheater. Fraischdörfers Kommentar, daß in Roquairols Spiel im Spiel ein tausendfacher »Reflex« sei, erinnert nicht zufällig an Jacobis Kritik des Idealismus als
Reflexionskunst, der der Gegenstand, über den reflektiert und von dem abstrahiert wird, abhanden gekommen ist.
Gleiches gilt für die Beschreibung der Auseinandersetzung Roquairols mit dem Fremdpsychischen, in diesem Falle: Rabette. In Roquairols Liebe ist das Du wie »der fremde Gegenstand [...] nur der mikroskopische Objekt- oder vielmehr SubjektTräger, worauf sie ihr Ich vergrößert erblickt«
(JP 1.3, 478).
Roquairol
behandelt
dementsprechend Rabette, als wäre sie das Spiel seiner produktiven Einbildungskraft. Die amoralischen Konsequenzen der Handlung eines empirischen Ichs nach der Theorie des absoluten aufzuzeigen, ist eine 1:1-Übersetzung aus der Theorie: Wie oben gezeigt, sprechen Jean Paul und Jacobi Fichte die Möglichkeit, den Primat des Praktischen in seine Philosophie zu integrieren, ab. Beide stimmen darin über-
ein, daß die »Aufforderung zur Selbstthätigkeit«, aus der sich die Zuschreibung des Fremdpsychischen durch das Ich ergibt,?°! nicht mit dem epistemischen Idealismus in Einklang zu bringen ist (s. das Kapitel »Inkonsistenz zwischen Moralphilosophie und Spekulation«). Rabette ist für Roquairol, was das Fremdpsychische allgemein für Fichte ist: »Bloß ein übender Gliedermann meiner Moralität, ein Mit-Akteur soll
der fremde Schau-Mensch vor mir sein, den ich auf der Bühne beschenke und liebe,
ohne daß er etwas davon hat, nur die dramatische Kunst der Tugend soll dabei profitieren« (JP 1.3, 1042).
Mit dem Fehlen des Fremdpsychischen geln moralischen Handelns besitzt. empfindsames Einverständnis mit Albanos keit« der Seele (JP 1.3, 253) ist — wie jede
geht einher, daß Roquairol keinerlei ReWoher auch? Sein freundschaftlichGlauben an Gott und die »Unsterblichandere Äußerung oder Handlung auch —
ein Rollenspiel. Roquairol hat nicht eine Seele, über die der Weg zu einer übersinn-
lichen Moral führt, sondern er ist ein Mensch, »dessen Seele aus Seelen« (ebd.; Her-
vorhebung von mir) besteht. Er ist genauso gut in der Lage, die Unsterblichkeit der 501 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Fichte III, 41-56, und System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, Fichte IV, 218-229 (Zitat: Fichte IV, 220).
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
167
Seele in Schoppes Art zu leugnen (JP 1.3, 271). Kommentar des Erzählers: »So leicht wird der Phantasie alles« (ebd.). Am Ende des Romans, an dem sich die Theatralisierung verdichtet und Roquairol von einer Rolle in die nächste wechselt, ist seine
Haltung einer moralischen Position diametral entgegengesetzt. Für Roquairol gibt es — wie für das absolute Ich bei Fichte in der Interpretation Jacobis — keine gesetzgebende Gewalt mehr, die über ihm stünde. Als Regisseur seines Welttheaters hat er
die Rolle Gottes vollständig eingenommen. Mit der Figur Roquairol, die die »Gesezesfeindschaft«°° in jeder Hinsicht praktiziert, wird die Kritik an Fichte in den »An-
spruch:« verpackt, eine konsequentere Moralphilosophie des Idealismus zu beschreiben als Fichte selbst — nämlich keine. »Sein System wil kein transz. Egoismus sein, weil sonst die Moralität zerstiebt; aber konsequent mus man es, wie ich gethan, hin-
auffolgern.«°” Mit diesen Äußerungen verbindet sich noch ein zweiter Kritikpunkt an der Transzendentalphilosophie. Er betrifft den ästhetischen Imperativ, wie er sich paradigmatisch im Frühwerk Friedrich Schlegels zeigt.?°* Roquairol lebt ganz nach der Schlegelschen Maxime »Poesie muß und kann ganz mit d{[em] Leben verschmelzen« (Fragmente zur Poesie und Litteratur Il, Nr. 267; Schlegel XVI, 276). Schlegel trifft
die gleiche Kritik wie Fichte. Jean Paul wirft ihm vor, daß er das DifferenzArgument Jacobis (Wachen als Voraussetzung des Iraums) in seiner Poesie- und Philosophie-Konzeption nicht mitbedenkt (bzw. bewußt ignoriert). Das gleiche gilt für die Ästhetik. In der Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben wird eine Gefahr überdeutlich, die in der Kunst selbst immer vorhanden ist, wenn sie
autonom gesetzt wird: die moralische und poetische Gesetzlosigkeit. Autonomieästhetik: Mit der Figur Roquairols wird nicht nur ein moralphilosophisches Problem des Idealismus diskutiert, sondern auch ein ästhetisches. Roquairol ist
nicht nur die empirische, sondern auch die auktoriale Verlängerung des absoluten Ichs. Er verwirklicht die »künftige Ästhetik« Fichtes, die Jean Paul schon 1800 »in seine [Fichtes] Seele hinein [...] deduzieren«°” möchte.
Liest man die Tropen, mit denen die Handlungen Roquairols beschrieben werden, »Roman«
und »Inszenierung«, einmal auf ihre literale Bedeutung hin, so kann man
feststellen, daß mit Roquairols Lebenskonzept auch ein Schreibkonzept kritisch beleuchtet wird, in dem die Moral keine Rolle spielt und spielen kann.
Die Tatsache, daß Moralphilosophie und Ästhetik an einer Figur — ex negativo — exemplifiziert werden, macht den Anspruch deutlich, daß für die Poesie die gleichen
502 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 13.8.1802, HKA IIl.4, 168. 503 Jean Paul, Brief an Thieriot, 7.3.1800, HKA IIIl.3, 303. Erste Hervorhebung von mir.
504 Schlegels ästhetischer Imperativ wird ausführlich in Bräutigam, Leben, S. 18ff., rekonstruu Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 29.1.1800, HKA 111.3, 283. Vgl. auch JP 1.3, 1030, wo der Idealismus Fichtes »als Kunstwerk unsterblich[]« bezeichnet wird.
168
Viertes Kapitel
moralischen Kriterien gelten müssen wie für das Handeln eines Menschen. Roquairol erfüllt diese Kriterien nicht. Als absolutem Autor fehlen ihm die Außenwelt, die er beschreiben,
und die göttliche gesetzgebende
Gewalt,
die ihm die Regeln dafür
vermitteln sollte. Seine »Romane« und »Inszenierungen« lassen sich — wie bereits in der Analyse gezeigt wurde — durch drei Merkmale charakterisieren: Selbstdarstellung (JP 1.3, 485), Literatur aus Literatur (JP 1.3, 263) und Selbstbezüglichkeit (JP 1.3,
756). Alle drei weisen auf einen Verlust des Repräsentationscharakters der mentalen und literarischen Darstellungen hin. Die Folge des Verlustes einer gesetzgebenden Gewalt ist ein Ausgeliefertsein an die Herrschaft seiner Phantasie: »Dieser so willkürliche Mensch lag unwillkürlich auf den Windmühlen-Flügel seiner Phantasie geflochten und wurde bald von der Windstille gefesselt, bald vom Sturme umgeschleudert, den er zu durchschneiden glaubte« (JP 1.3, 271). Die reine Phantasie des
Autors kennt wie die produktive Einbildungskraft bei Fichte (in der Interpretation Jean Pauls) kein Gesetz; der absolute Autor ist ihr ausgeliefert.
Atheismus und Nihilismus machen also eine literarische Darstellung nach Gesetzen für Roquairol unmöglich. Seine Dichtung versinkt wie sein Handeln in »Atonie« und »Gesezesfeindschaft«.?0° Letzteres ist dabei in einem doppelten Sinne zu verstehen. Gemeint
ist nicht nur, daß der der Willkürherrschaft der Phantasie aus-
gelieferte Autor keinen moralischen, sondern auch keinen formalen Gesetzen folgen kann. Gemäß Jacobi gehen der fehlende Glaube an eine moralische Ordnung und der fehlende Glaube an eine Ordnung der Repräsentation Hand in Hand. An der Auseinandersetzung mit der Figur Roquairol läßt sich dementsprechend verstehen, warum der Autor der Vorschule für die »geistige[]« Nachahmung formale Prinzipien so hoch einstuft, warum er gerade in ihnen die Entsprechung des göttlichen und moralischen Prinzips in der Welt aufzufinden glaubt. Wie aus dem Brief an Jacobi vom
3.12.1798
bekannt, möchte
es Jean Paul vermeiden,
die moralische
Absicht von Literatur explizit zu machen. Gleichzeitig möchte er sich nicht dem Verdacht aussetzen, seine Literatur über Roquairol wie Roquairol selbst zu schreiben. Die Lösung des Dilemmas ist die Einhaltung formaler Gesetze des Erzählens
als Ausdruck für die moralischen. In seinem Plädoyer gegen eine reine Autonomieästhetik fordert Jean Paul später in der Vorschule der Ästhetik statt der »Schuldramen der Jesuiten« eine Literatur, die die Moral behandelt, »wie die Blume [...] die Zeiten des Tags wahrsagt« (JP 1.5,
250). Nur so kann die »geistig wiedergeborne Welt« dargestellt werden (JP 1.5, 251). Und in den Philosophischen Untersuchungen $ 85 fragt sich Jean Paul: »Für den der darstelt, giebt es keine Moral — denn es ist erlaubt, sich alles zu denken und vorzubilden -; aber da ers ausser sich hinstelt und andre auch zum Vorbild zwingt, wie
weit mus er da Rüksicht nehmen«? Jean Pauls Antwort ist das Ergebnis seiner Aus506 Ebd.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
169
einandersetzung mit dem fiktiven Autor Roquairol: »Da selbst das Kunstwerk ein moralischer Wiederschein ist: so kann es keine unmoralische vernichtende Mutter haben. Die Heiligkeit des vollend[enden] Künstlers ist eine moralische mit — « (HKA 11.7, 102).
Mit dem idealtypischen Modell der Autonomieästhetik, das an der Figur Roquairols metaphorisch exemplifiziert wird, läßt sich kein bestimmtes Programm idenufizieren. Die Verwandtschaft Roquairols mit AllwilP” und seine »Anwendung« des ästhetischen Imperativs bzw. des Konzepts der »Poesie der Poesie«°°® lassen allerdings Rückbezüge auf Goethe und Schlegel zu. Jean Paul läßt aber auch durchblicken, daß
in seinen eigenen früheren Dichtungen, vor allem in den in ihnen vorgetragenen Programmen,
die moralische
Gesetzgebung
und
Exekutive
teilweise schr klein ge-
schrieben waren. Es ist nicht zu übersehen, daß Jean Paul Ähnlichkeiten zwischen
Roquairols an-
gewandtem Idealismus und dem Projekt der schönen Seelen aus den früheren Romanen markieren möchte. Dazu gehören nicht nur die Anspielungen auf frühere Werke Jean Pauls bei der Namenssuche für die Abschnitte in Roquairols »Roman«, »Sektor, oder Hundsposttag,
oder Zettelkasten«
(JP 1.3, 480), sondern auch die
Rückbezüglichkeit auf den Siebenkäs ın der Vergewaltigungs- und Selbstmordszene. Roquairol verspricht Linda (in der Figur Albanos) — wie Siebenkäs am Ende seiner Geschichte Natalie — den »Himmel« auf Erden (JP 1.3, 729). Wie Siebenkäs’ ist Ro-
quairols Leben — metaphorisch gesprochen — ein fortwährender Scheintod (er [...] warf seinen eisernen Körper dem 'Iode zu, der ihn nicht sogleich zerschlagen konnte«; JP 1.3, 730). Wie Siebenkäs erlebt Roquairol — im »Trauerspieler« — einen literarischen Scheintod. Nur ist der Scheintod in diesem Falle auch ein tatsächlicher Tod. Aus der Komödie des Siebenkäs ist eine Tragödie, aus dem vergnüglichen Spiel mit Doppelgänger und 'Iod der Ernst des Selbstmords geworden.?” In der Figur des Titanen Roquairol wird die Nähe von Spiritualismus und Idealismus aufgezeigt. Jean Paul entwirft, indem er das Lebens- und Schreibkonzept der schönen Seele übergipfelt, das Menetekel des Titanismus: eine weltlose Art zu schreiben, die keinerlei Moralität und formale Strenge für sich beanspruchen kann, und eine weltlose Art zu leben, die einen moralischen Umgang mit anderen Menschen und sich selbst ausschließt. So weit läßt es Jean Paul mit seinen Helden Sie-
benkäs und Albano nicht kommen. Aber an einer Figur wie Roquairol zeigt er die gefährliche Familienähnlichkeit auf.
507 Zum Goethe-Bezug vgl. Stäcker, Aufruhr, S. 106ff.
508 Vgl. Asthetische Untersuchungen $ 72, HKA 11.7, 245. 509 Jean Paul selbst bringt seine frühere Schreibtätigkeit mit dem Idealismus in Verbindung. Er kleidet sein poetisches und philosophisches Initialereignis, die »Geburt seines Selbbewußtseins«, in Fichtesches Vokabular: »ich bin ein Ich« (JP 1.6, 1061).
170
Viertes Kapitel
Albano oder die Kunst der Illusion Das Ende der schönen Seele
Für Albano und Liane beginnt der Titan wie die vorhergehenden Romane für die vorhergehenden schönen Seelen auch. In den höchsten empfindsamen Tönen beschreibt der Erzähler die »erste Liebe« der beiden: »Aber wenn nun einmal zwei gute Seelen im blütenweißen Lebens-Mai — die süßen Frühlingstränen im Busen tragend
— mit den glänzenden Knospen und Hoffnungen einer ganzen Jugend und mit der ersten unentweihten Sehnsucht und mit dem Erstlinge des Lebens wie des Jahres, mit dem Vergißmeinnicht der Liebe im Herzen — wenn solche verwandte Wesen
sich begegnen dürften und sich vertrauen und im Wonnemonat den Bund auf alle Wintermonate der Erdenzeit beschwören und wenn jedes Herz zum andern sagen könnte: Heil mir, daß ich dich fand in der heiligsten Lebenszeit, eh’ ich geirret hatte;
und daß ich sterben kann und habe niemand so geliebt als dich! — O Liane, o Zesara, so glücklich müssen euere schönen Seelen werden« (JP 1.3, 219; Hervorhebung
von mir)! Ähnliches findet sich auch in der fünfzehnten Jobelperiode: »Was die schönsten,
unschuldigsten
Seelen einander
Göttliches
zeigen
können,
auftun, ein heiliges Herz, das noch heiliger, ein glühendes,
wenn
sie sich
das noch glühender
macht: das zeigten sie sich« (JP 1.3, 357; Hervorhebung von mir).
Als Gegenpol zu den entmaterialisierten schönen Seelen fungiert, wie in der Loge und im Hesperus auch, der Hof — beschrieben als toter Körper. Diese Metapher wird
— konsequent in der Bildwahl — an der Beerdigung des Fürsten entwickelt. Die durchschaubare
Zeremonie,
die
anläßlich
der
Entseelung
des
fürstlichen
Leibes
durchgeführt wird, steht nicht nur für den theatralischen,?!® sondern auch für den mechanischen Charakter aller Zeremonien am Hof: Die »Hoftrauer« läßt sich wie
»Winterkleider« tragen (JP 1.3, 223), die »Irauerspule« wird »abgespulet« (ebd.), wenn der Sarg am »schlaffe[n] Gauklerseil« der »Prozession« (JP 1.3, 227) in das Grab eingelassen wird. Der »Spott« des materialistischen Humoristen Schoppe über diese verlogene Theatralität wird immer »zorniger« (ebd.). Hier arbeiten Materialismus und Empfindsamkeit (wie in den früheren Romanen) noch Hand in Hand: »In Albano sprach ein andrer Geist als in Schoppe, aber beide begegneten sich bald. Dem
Gra-
fen machten die Nachtgestalten aus Flor, die stillen Trauerfahnen, der Totenmarsch, der schleichende
Krankengang,
das Glockengetöse
die Totenhäuser
der Erde weit
auf, zumal da vor seine blühenden Augen zum ersten Male diese Totenspiele kamen« (ebd.).
510 Vgl. Böschenstein, Grundzüge, $. 38, und Koller, Bilder, S. 23; 51.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
171
Schoppe deckt durch materialistischen Reduktionismus auf, daß die angeblichen Empfindungsäußerungen der Hofteilnehmer in den »TIotenspielen« nichts als mechanisch zu erklärende Inszenierungen sind. Dadurch kann die schöne Seele Albano die abgefeimte Zeremonie durchschauen und auf das göttliche Welttheater, das »weinerliche Lustspiel unseres Lebens« (ebd.), hinaussehen. Albano fühlt am Hofe eine »Jugend-Ergrimmung [...] gegen das ewige tote Vexierleben der Menschen —
gegen den zeremoniellen Hohn einer entseelten Gestalt« (JP 1.3, 197). Die gleiche Verbindung von Spiel und toter Mechanik findet sich bei der Vermählung Luigis. Zu seiner Hochzeit ist »die Landtrauer suspendiert — die Glocken läuteten zu etwas Besserem als zum Grabe — es war wieder Musik erlaubt allen Spieluhren und Spielleuten — alle Theater wären geöffnet worden, wäre eines dagewesen, oder der Hof verschlossen, der beständig spielte. [...] Nachher
wieder aufgeräumter ans Weinen
und Trauerspielen gegangen werden«
[...] sollte
(JP 1.3,
424f.). Albano fühlt sich dieser Welt der toten Mechanik und Vortäuschung von In-
nerlichkeit nicht zugehörig, obwohl er sich in ihrer Mitte befindet. Wie seine Vorgänger aus den früheren Romanen will er sich in einem Akt der Metamorphose von diesem ihm inadäquaten sozialen Körper trennen. Die Mittel für die Befreiung stellt wie immer die Poesie bereit. Albano glaubt, daß »die Hofluft leibeigen mache, so wie nur der poetische Himmels-Äther frei« (JP L3,
366). Er schreibt heimlich ein »Trauerspiel« (JP 1.3, 118), und im Niederschreiben eines Aufsatzes »formte und besäete er ein Arkadien voll menschlicher Engel [...] —
ach die ganze sumpfige Gegenwart voll Sturzeln und Egeln hatt’ er mit einem Fuße seitwärts weggestoßen und war nur von den grünenden Welten voll Auen umflogen, die die Sonnenkugel seines Kopfes in den Äther geworfen hatte — « (JP 1.3, 134). Bis hierhin ist die Fabel des Titans mit ihren Vorgängern nahezu identisch: Die schöne Seele spürt schmerzhaft die Unangemessenheit ihres metonymisch erweiterten Körpers und versucht, sich durch Poesie und Poetisierung der Lebenswelt einen eigenen Schutzkörper oder, literal gesprochen, eine soziale Nische in der Welt zu schaffen. Doch dann nehmen die Geschehnisse einen anderen Verlauf: Der Bund der schönen Seelen zwischen Albano und Liane wird nicht geschlossen. Liane, die Verkörperung der ätherischen »schönen Seele« (JP 1.3, 121; 293; 305; 328; 393;
449), stirbt — für eine schöne Seele konsequent — an Schwindsucht, und auch Albano bleibt nur bis zur Heilung von seinem Wahnsinn, d.h. bis zur Rom-Reise (zu Beginn
des vierten Bandes),
eine »schöne
Seele«
(JP 1.3, 233; 457).
Danach
wird
ihm dieses Epitheton nicht wieder zugesprochen. Auf der Reise kann er den Zustand der schönen Seele wie eine Krankheit überwinden und reift zu einem Menschen heran, der nicht mehr danach strebt, einen
imaginär-utopischen Zustand für sich zu schaffen — wie Siebenkäs —, sondern ein Leben führt, das an allen sozialen Praxen teilhat, ohne dabei die eigene Moral korrumpieren
zu lassen.
Albano
erkennt,
daß
er »kein
Dichter,
kein
Künstler,
kein
172
Viertes Kapitel
Philosoph«
ist und »Taten« anstelle der »Worte und Wünsche«
setzen soll (JP 1.3,
662): »Worte! was sind Worte?« (sagt er) »O man schämt sich wohl freilich, daß
man früher nur denken und sagen muß, eh’ mans tut, obgleich der dürftige Mensch nicht anders kann [...]« (ebd.).
An dieser Stelle wird Jacobis Philosophie — mit ihrer Präzedenz der »That« (Aume 200f.), ihrer Abwertung
des Räsonnements
und
ihrem Täuschungsvorwurf an die
Einbildungskraft — aufgerufen. Albano wird seine weitere (Selbst-)Bildung in der
konkreten Handlung und nicht durch intellektuelle oder rein phantastische Leistungen erhalten. Er lernt, im Gegensatz zu Roquairol, die von Jean Paul in der Auseinandersetzung mit Jacobi ausgearbeitete Differenz von Träumen (als Metapher für die Leistungen der Einbildungskraft) und Wachen in die Tat umzusetzen. Allerdings gehört,
soll der Handlungsbegriff Jacobis
Schritt zu tionismus, muß noch erst durch
richtig ausgeschöpft werden,
als zweiter
der pragmatischen Seite die der praktischen Philosophie. Dem puren Akden Albano zu Beginn seiner Reise im Kampf für die Freiheit auslebt, die Moral an die Seite gestellt werden. Die politische Revolution wird die moralische fundiert (s. das Kapitel: »Illusion und Staatskunst«).
Die Selbstbildung Albanos (und Idoines) ist am Schluß des Romans vollendet. Die beiden schweben emotional und moralisch zwischen den »Sternen« (JP 1.3, 824
und 829). Doch der überirdische Höhenflug ist durch eine Lebenspraxis, die gerade keine Anleihe bei der Literatur macht, abgesichert. Um eine solche Verbindung aus
Überirdischem und Irdischem begrifflich fassen zu können, wird der Begriff des »hohen Menschen« (JP 1.3, 827) recycelt. Diese eher prosaische Gedankenfigur — und nicht die poetisierende schönen Seele — stellt nun wieder das Ideal der Anthropologie Jean Pauls dar. Schon in Über die Fortdauer der Seele hatte Richter für die hohen Menschen — als Exemplifikationsfiguren der Philosophie Jacobis — das Moment der (moralischen) Handlung in den Vordergrund gestellt: Die hohen Menschen sind »thätig aus Tugend« (JP Il.2, 789). Die damals noch stärker betonte In-
sichgekehrtheit und Konzentration auf das Jenseits wird jetzt durch die intensivere Auseinandersetzung mit Jacobi zugunsten einer Orientierung auf das Diesseits ersetzt. Um dieses Ideal zu erreichen, bedarf es einer - in der Forschung kaum berück-
sichtigten?!! — Peripetie in der Fabel, Albanos Krankheit nach Lianes Tod: »Albano war krank und daher nicht trostlos. Er schöpft aus der Lethe des Wahnsinns die dunkle Betäubung gegen die Gegenwart; nur wenn er kniete, spiegelte sich im Strom seine zerrissene Gestalt und ein wolkiger Himmel« (JP 1.3, 543f.). Albano ist wahnsinnig, Höhe- und Umschlagpunkt ist der Traum kurz vor der Reise nach Rom. Die schöne Seele leidet also an den gleichen Krankheiten wie der Idealismus (s. das Kapitel »Iraum und Wahnsinn der Iranszendentalphilosophie«). SIl Einzig Widhammer,
Satire und Idylle, S. 100f., weist dem
"Traum vor der Italienreise eine
entscheidende Rolle zu. Er erkennt jedoch nicht seine allegorische Funktion.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
173
Erste Symptome der idealistischen Krankheit finden sich schon in der Jugend Albanos. Er ist ein »Träumer« (JP 1.3, 21), der seine Zeit auf Isola Bella »vertändelt und verträumt« (JP 1.3, 14). Albano verbindet sich bereits bei seiner Ankunft symbolisch
die Augen, weil er nur das »gegen die innere Welt gerichtete Auge des "Iraumes« (JP 1.3, 21) anstrengen will. Der Heranwachsende ist »wie ein Mensch, den ein herrlicher "Traum verlässet und
der den ganzen Morgen so innig-selig ist, aber ihn nicht mehr weiß« (JP 1.3, 198). Aus der Träumerei wird eine Indifferenz von Wachen und Träumen. Erste Liebe und erste Freundschaft sind seine »zwei ewigen Träume« (JP 1.3, 166). Die Landschaft, in der er seine große Liebe mit Liane erlebt, ist für ihn so, als erblicke er »nun vor sich den jugendlichen Traum [...] lebendig auf die Erde herausgestellt« (JP 1.3, 217). Auch die Freundschaft zu Roquairol ist im »Jünglingstraum« (JP 1.3, 259) bereits vorentworfen. Mit einem Satz: Das ganze »Leben ist ein Iraum« (JP 1.3, 267). Und wenn das Leben Traum wird, so wird der Iraum Leben: »Sein Schlaf war ein stetes Entzücken
und Erwachen,
und in jedem Iraume
ging ein betörender Sonn-
tagsmorgen auf, und die Zukunft wurde das dunkle Vorspiel der Gegenwart« (JP 1.3, 201). Während sich Liane ım Traum den "Iod vorentwirft (JP 1.3, 450) und Tod
und Iraum eins werden, so verschmelzen bei Albano Traum und Leben. Zwischen ihm und dem tollen »Nordamerikaner, der die nächtlichen«, bzw. dem verrückten Poeten, der »die poetischen Träume ins Wachen tragen will« (JP 1.3, 221), besteht fast kein Unterschied mehr. Nach dem Tod Lianes werden die latenten Momente der schönen Seele manifest. Albanos
Wirklichkeitsverlust
ist soweit fortgeschritten,
daß
er — ein »Schlafender,
ein Träumender« — wahnsinnig wird und nicht mehr als »moralischer Mensch« angesehen werden kann (JP 1.3, 548). Interessanterweise ist das gerade der Grund, warum die moralische Idoine die Heilungsmethode Schoppes, bei der sie sich für die
tote Liane ausgeben soll, akzeptieren kann. Es ist eine »Unwahrheit« (ebd.), die sie begeht. Aber eine Täuschung an einem Menschen, der nicht zum Kreis moralfähiger Subjekte gerechnet werden
kann,
ist für sie moralisch
legitim, zumal
»Einbildung
und Lüge [...] an ihm nicht bestärkt, sondern besiegt werden« (ebd.) sollen. Derjenige also, dessen Welt nur noch aus Einbildungen besteht, kann auch nur noch
durch Einbildung geheilt werden. Und — so läßt sich hinzufügen — derjenige, der nur noch träumt, wird auch durch einen Traum wieder gesund. Unmittelbar vor der Reise nach Rom erzählt Albano seinen »seligen Traum« (JP
1.3, 552), der seinen Gesundungsprozeß einleitet. In dieser mise en abyme des mans wird Albanos Leben bis dato rekapituliert und sein zukünftiges (die Reise die Reise seines Lebens)?!? alludiert. Zu Anfang der Traum-Reise lernt Albano Welt des moralischen Egoismus kennen, dargestellt anhand der Metapher der 512 Zur Metapher des Lebens als Reise und der Reise als Leben vgl. Debold, Reisen, S. 107f.
Round die kos-
174 mologischen
Viertes Kapitel Einsamkeit:?!?
»Oben
zogen große Weltkugeln;
auf jeder wohnte
ein
einziger Mensch, er streckte bittend die Arme nach einem andern aus, der auch auf einer stand und hinüberblickte; aber die Kugeln liefen mit den Einsiedlern um die Sonnensichel, und die Gebete waren umsonst« (JP 1.3, 552). Das ist die Situation, in der sich Albano vor seiner Reise befindet. Auch er leidet unter der kosmologischen
Einsamkeit,
auch er möchte
ihr, wie die anderen
»Ein-
siedler[]«, entfliehen: »Ich sehnte mich« (ebd.). Nun beginnt die Reise im Iraum.
Auf ihr kommt Albano, dessen 'Traumgefährt die gleiche Bezeichnung wie das tatsächliche Fortbewegungsmittel seiner Italienreise hat (»Schiff«; JP 1.3, 553 u. 569),
an ein »Gebürge« (JP 1.3, 552) — die Alpen.?!* Nach ihrer Überwindung wartet ein »weites Eden« (JP 1.3, 553) auf den 'Iräumenden - die gleiche Bezeichnung wird der Erzähler später auch für Italien verwenden (JP 1.3, 568).
Der Traum suggeriert, daß sich Albano auf der Reise von seinem moralischen Egoismus befreien und zu Gott finden kann: Die solipsistischen Welten »zerflossen« (JP 1.3, 555) an der Sonne, »um in das Land der Liebe herabzufließen« (ebd.). Auf die Frage, wer »der Vater der Menschen
und ihre Mutter und ihr Bruder und ihre
Schwester und ihr Geliebter und ihre Geliebte und ihr Freund« (JP 1.3, 555) sei, erhält der Reisende die Antwort: »Gott ist's« (ebd.). So findet Albano, für den sich während seiner Krankheit »im Strom seine zerrissene Gestalt« (JP 1.3, 543; Hervor-
hebung von mir) spiegelte, auch zu sich selbst: »Da erblickt’ ich in den Wellen mein Angesicht, und es war ein jungfräuliches voll hoher Entzückung und Liebe« (JP 1.3, 554). Gegen den Anschein handelt es sich um kein Narziß-Erlebnis. Die Selbster-
kenntnis ist nur ein Glied in der im "Iraum vorläufig wiederhergestellten Trias von Gott, Welt und Ich.
Mit dieser Erkenntnis aus dem Traum geht Albano seine Reise nach Rom an, wo er den Weg von der Phantasie in die Praxis, von den »Worte[n]« und »Ideen« zu den »Taten« (JP 1.3, 662) findet und erfährt, daß der Weg zu den Menschen über Gott führt. Der am klassischen Bildungsideal orientierte Erziehungsvorgang auf der Reise ist in der Forschung ausführlich beschrieben worden.?!? Ich möchte Albanos Entwicklung von der schönen Seele zum realen Fürsten in Hohenfließ an einem mir
aufschlußreicher erscheinenden Gegenstand aufzeigen, nämlich an Albanos Umgang mit den Täuschungen durch die natürliche Magie, und danach die Konsequenzen für Jean Pauls Ästhetik und Rechtsphilosophie darlegen.
513 Vgl. dazu auch die Clavis (JP 1.3, 1040, Fußnote),
in der der Herausgeber daran erinnert,
»daß es so viele Universa gibt als Ichs«. 514 Ich folge einem Hinweis von Nils Müller. 515 Z, B. bei Golz, Welt, S. 119ff.; 135ff., und Böschenstein, Antikes, S. 54ff.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
175
Exkurs: die natürliche Magie Werfen wir zuerst einen Blick auf Jean Pauls Auseinandersetzung mit der Diskussion über die natürliche Magie im 18. Jahrhundert in der Vorschule. In Johann Traugott Gehlers Physikalischem Wörterbuch (1787-1796) wird zwar noch die traditionelle Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Magie zitiert, jedoch dar-
auf hingewiesen, daß »wenn wir aber von unsern Erfahrungen über die Körperwelt Betrug und Täuschung gehörig absondern«, wir bald erkennen, »daß alle Erfolge durch natürliche Kräfte bewirkt werden.«°!° Um bei solchen »Erfolgen« Betrug und Täuschung zu durchschauen und um nicht wie der »Pöbel« in Aberglauben zu verfallen, bedürfe
es einer »Kenntniß
der ächten
Naturlehre«,?!7”
Wieglebs Natürliche Magie"? Jean Paul, der sowohl Gehler?!? wie Wiegleb??° kennt, interessiert nicht, daß die Naturwissenschaft als Vertreter ten Fakultät den Aberglauben ausrotten möchte, sondern fekt der Phänomene der natürlichen Magie. Er lehnt in
insbesondere
durch
ist anderer Meinung. Ihn der propädeutischen viervielmehr der Illusionsefder Vorschule der Ästhetik
den Versuch ab, »das Wunder durch Wieglebs Magie zu entzaubern« (JP 1.5, 44). Denn »kein Mensch wird erklärten Kunststücken zuschauen« (ebd.). Sobald die mechanischen Regeln eines Zaubertricks erkannt sind, verliert die Vorführung (nach
Ansicht Jean Pauls) jeden Reiz. Man hat den Bereich der Magie verlassen und befindet sich in dem der Naturwissenschaft. Und dort gibt es nur noch »gemeine physische Wunder« (JP 1.5, 45).
Jean Paul will jedoch auf der anderen Seite die Aufklärung nicht rückgängig machen. Wenn er der Magie nicht zugesteht, nur ein naturwissenschaftliches Phänomen zu sein, dann nicht, weil er glaubt, daß unerklärliche Wunder mit dämonischer
Hilfe zustande kommen. Die Unerklärlichkeit von magischen Vorführungen basiert nur auf einer besonders erfolgreichen Verschleierung der tatsächlichen Mechanismen. Und diesen platten Betrug lehnt Jean Paul genauso wie die platte Aufklärung ab. Wenn Jean Paul die natürliche Magie diskutiert, hat er, wie am Titan deutlich zu sehen ist, die sneuen Medien« aus der Katoptrik (die Lehre von den Spiegeln) im
Blick: anamorphotische (verzerrende) und metamorphotische (verändernde) Spiegelungen und vor allem Projektionen von dreidimensionalen Gegenständen mit 516 Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Bd. III, S. 89f. Eine ausführliche Rekonstruktion der Diskussion über die natürliche Magie findet sich in: Vf., Heißbrennende Hohlspiegel. 517 Ebd., S. 90. >18 Zum wissenschaftlichen Charakter dieser Arbeit und zur Distanz gegenüber Martius vgl. G. Müller, Jean Pauls Asthetik und Naturphilosophie, S. 70ff. >19 Vgl. Exzerpte, S. 220.
520 Vgl. Exzerpte, S. 158.
176
Viertes Kapitel
Hohlspiegeln sowie von zweidimensionalen mit der Laterna magica. Diese Projektionsmethoden bieten auf der einen Seite ein hohes Illusionspotential, da sie Erscheinungen
sind,
deren
Zustandekommen
für den
uneingeweihten
Zuschauer
nicht
mehr nachzuvollziehen ist. Auf der anderen Seite ist es gerade das hohe Illusionspotential, das die Illusion zerstört. Der aufgeklärte Zuschauer, von dem Gehler spricht, weiß selbstverständlich, daß es übernatürliche Erscheinungen
nicht gibt, und wird,
wenn
mißtrauisch.
die Grenzen
des Natürlichen
überschritten scheinen,
Illusion
und Illusionsbruch gehen Hand in Hand.??! Diesen Effekt will sich Jean Paul zunutze machen,
»hohen Ausweg«
wenn
er ein »Drittes«, einen
(JP 1.5, 44) zwischen der langweilenden Aufklärung und dem
spannenden Betrug sucht. Der Ausweg besteht darin, das Wunder »in die Seele [zu]
legeln], wo allein es neben Gott wohnen kann« (JP 1.4, 44f.). Der aufgeklärte Zuschauer einer magischen Vorführung bleibt nicht im unklaren darüber, daß es sich
um ein von Menschenhand erzeugtes (statt um ein göttliches Wunder) handelt — aber ihm wird deswegen keine mechanische Auflösung, die diese Illusion zerstören würde, präsentiert.
Statt dessen wird das Wunder von außen nach innen verlagert: »Das Ich ist der fremde Geist, vor dem
es schauert«
(JP 1.5, 45). Der Rezipient verschiebt seine
Aufmerksamkeit vom äußeren Wunder auf sich in der Rezeption desselben und erkennt: »Das große unzerstörliche Wunder ist der Menschen-Glaube an Wunder« (ebd.). Der eigentliche Betrug in der Körperwelt ist, wenn er offenbar ist, ohne auf-
gelöst werden zu müssen, dem wahren (inneren) Wunder »Nahrungsstoff« (JP 1.5,
46) oder eben Zeichen, dessen Bedeutung durch den Betrachter erst hinzugefügt werden muß: »Durch den Geist erhält der Körper mimischen Sinn« (JP 1.5, 45).
Die Wunder der Optik in der Außenwelt Die in der Vorschule geleistete Auseinandersetzung mit der Illusion des magischen
Wunders und deren Rezeption ist durch den Titan vorbereitet.”?? Die Beschreibungen der optischen und katoptrischen Phänomene sowie das umfangreiche diesbe521 Auffälligerweise wird das Phänomen der Illusion selbst in Arbeiten, die die Rezeptionsästhetik Jean Pauls zum Gegenstand haben, nicht beachtet. Vgl. z. B. Profitlich, Der selige Leser, S. 7.
>22 Wolfgang Proß’ Anmerkung, daß Jean Paul seinen wissenschaftlichen Aussagen deswegen eine poetische Form gab, weil sie »mit der wissenschaftlich-rationalen und der sozialen Entwicklung [...] nicht mehr Schritt« halten konnten, scheint mir im Falle der natürlichen Magie nicht zutreffend. Die natürliche Magie erfährt — als terminologischer Zugriff auf die Organismusdebatte — um
1800 eine unerwartete Renaissance. Auch besitzt die Einkleidung von Theorien in die poetische Form zu viele Dimensionen, als daß sie lediglich als »poetische Enzyklopädie« bezeichnet werden könnte. Vgl. Proß, Geschichtliche Stellung, S. 170f. Vgl. dazu auch Lindner, Scheiternde Aufklärung, S. 228, und Fohrmann, Titan, S. 31.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
177
zügliche Vokabular, das Jean Paul für seine Metaphorik benutzt, gehen auf ein de-
tailbesessenes Studium physikalischer Schriften und Lexika zurück, das sich durch
die Exzerptsammlung und Verweise auf diese Lektüre im Roman??? belegen läßt.?** Hauptquellen sind Gabriel C.B. Buschs Versuch eines Handbuchs der Erfindungen?” Johann K.G. Jacobsons Technologisches Wörterbuch??° und das bereits erwähnte Physikalische Wörterbuch von Johann S.T. Gehler.
Mit diesem Material ist es Jean Paul möglich, optische und katoptrische Phänomene der natürlichen Magie zu Knotenpunkten der Fabel des Titans zu machen.??” Initiator und Koordinator der Inszenierung magischer Täuschungen ist Albanos an-
geblicher Vater Gaspard, ausführendes Organ dessen Bruder, ein gescheiterter Schauspieler, der als Kahlkopf bezeichnet wird. Ziel der Täuschungsmanöver ist es, Albano für seine zukünftigen Aufgaben als Fürst von Hohenfließ zu erziehen, ohne
ihm und anderen seine wahre Identität zu offenbaren, da dies die gesamten politischen Pläne vereiteln würde. Politik und Magie werden eins: »schwarze[] kunst« (JP 1.3, 425) bzw. ein »Zauberplan« (JP 1.3, 809).
Staats-
Viel wichtiger als die Intrige ist jedoch die innere Bildung. Der Titan beschreibt, wie Albano
lernt, mit den Wundern
der natürlichen Magie
umzugehen.
Das erste
magische Phänomen wird auf Isola Bella vorgeführt. Der Kahlkopf gibt sich als spanischer Mönch aus, dem übernatürliche Fähigkeiten zu Gebote stehen. Er steigt mit
Albano in eine Gondel, »aber wie griff der Schauder in seine [Albanos] innersten Fibern, da nicht nur die Stimme über ihm wieder rief: »Liebe die Schöne, die ich dir
zeige, ich helfe dir«, sondern da er auch gegen die Terrasse hin eine weibliche Gestalt sich bis an das Herz aus den tiefsten Wellen mit langen kastanienbraunen Haaren und schwarzen Augen und mit einem glänzenden Schwanenhals und mit der Farbe und Kraft des reichsten Klimas, wie eine höhere Aphrodite, heben sah« (JP 1.3, 49).
Albano — noch ganz schöne Seele — ist dieser Inszenierung vollkommen ausgeliefert. Die äußeren Erscheinungen evozieren psychische Prozesse, derer er nicht Herr
werden kann. Er, »aus dessen voller Phantasie ebenso leicht ein Chaos als ein Universum sprang, wurde bleich, aber ihm war, als verlier’ er nicht sowohl den Mut als
523 Vgl. den Bezug auf Busch, JP 1.3, 313, Fußnote.
524 Auffälligerweise wird die Katoptrik bei Rankl, Jean Paul, und Esselborn, Universum, deren Thema laut Titel die »Naturwissenschaft« ist, nicht erwähnt. Weder wird die Wissenschaft von den
Spiegeln auf der Ebene der Exzerpte noch auf der metaphorischen Ebene in den Romanen berücksichtigt. Rankl widmet sich wenigstens dem Wunderbaren (S. 130ff.) — ohne allerdings die naturwissenschaftlichen Voraussetzungen zu thematisieren. >25 Vgl. Exzerpte, S. 219f.; 260 (allerdings irrtümlich unter dem Namen »Büsch« eingetragen). 526 Vgl. Exzerpte, S. 228. >27 Wölfels Interpretation der Fabel des Titans als abzustreifendes »Heldenkostüm« Albanos, unter dem der »Erlebnisaugenblick« bzw. die »Gegenwartshandlung« zum Vorschein kommt, wird durch diese Arbeit erweitert. Die Elemente der Fabel haben, wie am Beispiel der optischen Phänomene deutlich wird, auch den Charakter eines positiven Verweises, z. B. auf die immanente Poetik des Romans. Vgl. Wölfel, Die Unlust zu fabulieren, S. 61; 59 und 64.
178
Viertes Kapitel
den Verstand; er ruderte ungestüm, beinahe bewußtlos ans Ufer — er konnte dem Vater des Todes [dem Mönch]
nicht ins Gesicht schauen, weil seine unbändige, alles
auseinanderreißende Phantasie alle Gestalten gleich Wolken zu gräßlichen umwälzte und ausdehnte« (JP 1.3, 50).
Albano ist sich zu diesem Zeitpunkt nicht bewußt, daß er ein Kunststück aus dem Bereich der natürlichen Magie sieht, für das es eine physikalische Lösung gibt (die am Ende des Romas verraten wird). Die Wachsfigur, die Lindas Mutter darstellt (JP 1.3, 805), wird durch einen »Zauberspiegel« (JP 1.3, 501), also einen sphärischen
Hohlspiegel, nach der Gartenseite der Isola Bella projiziert. Erst zu einem späteren Zeitpunkt ahnt Albano, daß es sich bei dem Ereignis um
eine Inszenierung handelt. Seine Vermutung, daß Julienne dieses Wunder der natürlichen Magie vollbracht oder zumindest veranlaßt habe (JP 1.3, 500), da sie das
Bild Lindas in ihrem Ring trägt (JP 1.3, 306), ist jedoch falsch. Durch den Brief seiner Mutter Eleonore, den er zum Schluß des Romans zu Gesicht bekommt, wird
Albano über die Intrigen der beiden Fürstenhäuser Haarhaar und Hohenfließ und die Rolle seines angeblichen Vaters aufgeklärt. Beide Erklärungen, die physikalische und die politische, sind für den Leser wie für Albano gleichermaßen illusionszerstö-
rend, doch die nachträgliche Aufklärung — am Ende des Romans — ändert an der (perfekten) Illusion zum Zeitpunkt der Wahrnehmung nichts.
Auch die optischen Wunder, die Albano am Haus des Hofpredigers Spener wahrnimmt, sind Teil des großen Plans, der mit Albano verfolgt wird. Dieser hat bemerkt, daß seine Verbindung mit Liane hintertrieben wird. Er flieht, metaphorisch
gesprochen, »vor den kalten Spiegeln der Gesellschaft« (JP 1.3, 310) — und kommt mit tatsächlichen in Berührung. Weniger ist es die »Verkehrtbrücke (pons heteroclitus), eine Treppe, wo der Mensch hinabzugehen glaubt durch Aufsteigen« (JP 1.3, 313), die Jean Paul aus Buschs Alandbuch kennt und vor das Häuschen Speners verlegt, als der metamorphotische Altersspiegel, in dem Albano den Fürsten, seinen tat-
sächlichen Vater, zu sehen glaubt. Durch die katoptrischen Illusionen bei Spener verwirrt, ist Albano für übernatür-
liche Erscheinungen sehr empfänglich. Auf dem Rückweg durch den Tartarus schaut er sich noch einmal um: »Er sah aus der Tiefe nach dem nachblickenden Greise hinauf, aber er hätte sich heut kaum gewundert, wenn dieser versunken oder aufgestie-
gen wäre« (JP 1.3, 314). Nun wird ihm sogar die Nacht im Tartarus zur katoptri-
schen Täuschung: »In zornig-mutigen Entschlüssen, für seine Liebe, wornach kalte Hände griffen, mit seinem Leben zu bürgen und zu opfern, schritt er durch den vom Vergrößerungsspiegel der Nacht zum schwarzen Riesen-Iroß aufgezognen Tartarus ohne alle Furcht; so ist die Geisterwelt nur ein Weltteil unserer innern, und das Ich fürchtet nur das Ich« (JP 1.3, 314f.).
Die Dunkelheit der Nacht verhindert die korrekte Wahrnehmung (im Verhältnis 1:1). Das Wunder der optischen Täuschung wird ohne Hohlspiegel etc. hervorge-
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
179
bracht. Das einzige Medium ist die Phantasie selbst.?2® Und auch nur von ihm droht die Gefahr, die man sonst den projizierten Erscheinungen zuspricht: »Das Ich fürchtet nur das Ich«. Dies ist der Prototyp des bereits zitierten Satzes aus der Vorschule: »Das Ich ist der fremde Geist, vor dem es schauert« (JP 1.5, 45). Der Gedanke taucht,
nebenbei
gesagt, schon
in den
Untersuchungen
$ 64 auf:
»Im
Finstern
scheint das Aeussere jenem weiten Dunkel zu gleichen, das vor geschlossenen Augen liegt und in dem unsere bunten Gestalten spielen« (HKA 11.7, 38). Auf den Gedanken, Hohlspiegel und Phantasie als Medien zu analogisieren, wurde Jean Paul wahrscheinlich durch Karl von Eckartshausen gebracht, in dessen Aufschlüssen zur Magie die Wirkung von Hohlspiegeln durch die Leistung der unwill-
kürlichen Einbildungskraft erklärt wird.°?? Später treffen sich der Kahlkopf und Albano in Rattos Keller. Albano folgt ihm
und wird Rezipient eines akustischen und optischen Geisterphänomens. Er hört ein Totengemurmel und sieht das Schweben eines Menschens (JP 1.3, 524). Der akusti-
sche Betrug wird durch die mechanischen Möglichkeiten des Körpers erklärt. Als Bauchredner (JP 1.3, 806) kann der Kahlkopf die akustische Geisterwelt simulieren. Auch das optische Phänomen wird aufgeklärt: »Das war bloß einer, [...] der in einem
fortschwimmenden
Kahne
mit versteckten
Beinen
stand,
und
nichts weiter«
(ebd.). Albano scheint nun besser als am Anfang des Romans auf magische Ereignisse reagieren zu können. Die Inszenierung evoziert nicht nur ein Chaos in seinem Inneren, sondern auch eine »Bewußtseinserweiterung«: »Der kühne Jüngling schauderte,
die Tore des Schattenreiches standen weit offen in die Erde, Träume und Schatten schwärmten aus und ein und flogen nahe ans helle Leben« (JP 1.3, 524). Die Wundererscheinung lenkt den Blick des Menschen nicht nur von außen nach innen. Der
Blick geht durch die inneren »Schatten« hindurch ins »helle Leben«. Die Metaphorik ist platonisch. Jean Paul spielt auf die Befreiung des Menschen aus der Höhle der falschen Erkenntnis, dem Reich der »Schatten«, und seine Überführung in das »Licht der Sonne« an (Politeia 515c-e). Übertragen auf den Titan heißt das: Durch
die Wundererscheinung erhält Albano einen Einblick in die sich in seiner Seele spiegelnde zweite Welt. Den entscheidenden Fortschritt in bezug auf die Rezeption des Wunderbaren erzielt Albano nach der Wundererscheinung Idoines als Liane und nach seinem
Traum. Am Beginn der Reise nach Italien diskutiert er mit Gaspard über das Wunderbare: »Es gibt aber nichts Wunderbares«, sagte der Ritter. »Woher wissen wir alsdann, daß es etwas Natürliches gibt?« sagte Albano. ‚Das Wunder: (versetzte Gas-
528 Zur Einbildungskraft
(bzw.
der Phantasie)
als (alle anderen
vgl. Kittler, Aufschreibesysteme, $. 120. 52 Vgl. von Eckartshausen, Aufschlüsse zur Magie, S. 46ff.
Medien
ersetzendes)
Medium
180
Viertes Kapitel
pard) »oder die Geisterwelt wohnt nur im Geiste. — »Wir müssen uns< (fuhr jener [Albano] fort) sauch bei den gemeinsten optischen Kunststücken auf etwas anderes
als auf die Auflösung des TIrugs der Phantasie in einen Trug der Sinnen freuen, weil uns sonst nach der Auflösung das Zauberwerk mehr gefallen müßte als vorher. Das sind die Stellen und Pole der menschlichen Natur, worüber die ewigen Polarwolken hängen. Unsere Landkarten vom Wahrheits- und Geisterreiche sind die Landkartensteine, welche
Ruinen
und Dörfer abbilden;
diese sind erlogen, aber doch ähnlich.
Der Geist, ewig unter Körper gebannt, will Geister[]«« (JP 1.3, 562f.).
In dieser Passage werden die entscheidenden Topoi der Rezeption des Wunderbaren, wie sie später in der Vorschule ausgeführt werden, genannt: die physikalische bzw. psychologische Auflösbarkeit (nicht: Auflösung) des Wunders (die »gemeinsten optischen Kunststücke[]«), der Perspektivwechsel nach innen (»die Geisterwelt wohnt nur im Geiste«) und das äußere Wunder als natürliches Zeichen für das Überirdische im Irdischen: die »Landkarten vom [...] Geisterreiche [...] sind erlo-
gen, aber doch ähnlich«.2?° Dieser Gedanke beinhaltet, das sei noch hinzugefügt, eine Auseinandersetzung mit dem »hohen Menschen« Plato. Sie bezieht sich auf die Aussage im Phaidros (250cd), daß von allen Ideen nur die Schönheit für den Menschen erträglich sei —
jedoch nur als irdisches Abbild (ei$wAov). Abbild und Urbild belügen den, der sie für identisch hält. Sie stehen jedoch eigentlich in einem — natürlichen — Zeichenzu-
sammenhang, der durch Ähnlichkeit funktioniert. Auf diese Passage bezieht sich Jean Paul und interpretiert mit ihr die bekannte Stelle über die Kunst aus der Pobiteia. Dort heißt es, daß die Kunst nur die Erscheinung nachahme
(Politeia 598b)
und so, durch eine doppelte Differenz von der Idee, betrüge (Politeia 598e). Jean Paul santwortet« mit dem Phaidros: Man muß, so sein Harmonisierungsversuch, das Abbild (eiöwAov) als Abbild erkennen lernen (statt es mit der Idee zu verwechseln), um dessen moralische Qualität würdigen zu können. Die Phantasieleistung der Imagination einer zweiten Welt ist zwar, wie bei Albano
deutlich wurde, nur eine Kombinatorik sinnlicher Wahrnehmungen — und so durch einen Betrug (die Landkartensteine sind »erlogen«) doppelt von der zweiten Welt
entfernt. Gleichzeitig kann der, der den Betrug erkennt und merkt, daß Zeichen und Bezeichnetes »ähnlich« sind, das irdische Schöne als Motor für den Aufgang zur Erkenntnis der Ideen des göttlichen Schönen und Guten (bei Jean Paul: zur Teilhabe an der zweiten Welt) verwenden und dieses moralische Gut wieder in der ersten Welt (der Abbilder) einsetzen.
530 Spätestens bei dieser Passage wird die These Buschendorfs, Nachwort, S. 405ff., daß Jean Pauls Poetik, die hier metaphorisch verhandelt wird, einen Anspruch auf Darstellung des Überna-
türlichen (statt Evozierung) stelle, nicht mehr haltbar.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
181
Mit diesem Wissen ausgestattet, ist Albano in der Lage, das Verhältnis von äuße-
rem und innerem Wunder
zu reflektieren. Z. B. bei der »Himmelfahrt
eines
Mönchs« (JP 1.3, 611) in Mola: Die Aussage des Mönchs, daß er Albano »auf Isola
bella am Karfreitage erschien und den Tod einer Schwester kundtat« und dieser auf Ischia
seine
Schwester
antreffe,
ergreift Albano
zwar
genauso
wie
der 'Irick der
Himmelfahrt. Aber dennoch ist er auch ohne die Erklärung, die am Ende des Romans gegeben wird (es handelt sich um eine optische Täuschung; »Er oben mit Gas gefüllt, ich unten an der Mauer stand« (JP 1.3, 805) — erklärt der Kahlkopf lako-
nisch), in der Lage, den Status des Wunders richtig einzuschätzen. Das Volk glaubt, »der Teufel sei im Spiel«
(JP 1.3, 612),
und
fällt auf den
Betrug herein.
Bei ihm
bleibt das Wunder in der Körperwelt. Niemand durchschaut die Vorführungen als bloßen physikalischen Trick, so daß der Illusionseffekt zum
Zeitpunkt der Vorfüh-
rung gewahrt bleibt. Albanos Haltung zu der magischen Handlung kommt dem, was in der Vorschule als ein »Drittes« gekennzeichnet wird, schon sehr nahe. Er erklärt, »schon lange zucke und ziehe ein Geister-Komplott an seinem Lebensvorhang, allein irgendeinmal greif” er gewiß glücklich durch den Vorhang durch, und er sei fest entschlossen, sogleich von Neapel nach Ischia überzugehen, um seine Schwester zu suchen« (JP 1.3, 612).
Aufklärung und Glauben: Albano folgt den Weissagungen des Mönches und fährt nach Ischia. Er läßt sich also auf das Spiel der »Geister« ein und handelt nach dessen Regeln. Gleichzeitig sieht er das politische Moment, eben das »Komplott«, im Schein des Übernatürlichen.
Er weiß, daß es eine Erklärung für das magische Ge-
heimnis gibt. Das Begreifen des Wunders (bzw. das Durchgreifen durch den »Lebensvorhang«) führt jedoch statt zum Initiator der Wunder zum Ich des Rezipienten. Albano scheint zu ahnen, daß es seine Bühne ist, die sich hinter dem Vorhang
befindet. Und in der Tat ist Italien im doppelten Sinne eine Bildungsreise, die Albano nicht nur zur Kenntnis des klassischen Altertums, sondern auch der eigenen Psyche führt. Katoptrische und dioptrische Metamorphosen, durch die das Alter einer abgebildeten Person verändert wird, spielen in der Hofintrige eine wichtige Rolle. Da ist einmal der »Spiegel-Zylinder« (JP 1.3, 788) im Spiegelzimmer, in dem Albano zum
ersten Mal das Prinzip der optischen Metamorphose erkennt. Er erhält ein »Objektiv«- bzw. ein »Okularglas« (JP 1.3, 795), so daß er die Personen der beiden Bilder seines am Anfang des Romans erhaltenen Medaillons (JP 1.3, 39) endlich identifizie-
ren kann. Durch die Gläser zeigt das Bild, das eigentlich eine alte Frau darstellt, eine junge (nämlich seine Schwester Julienne) und das Bild, auf dem eigentlich eine jun-
ge Frau abgebildet ist, eine alte (nämlich seine Mutter). Das gleiche Prinzip — nur umgekehrt und mit einem Spiegel statt mit einem Glas — wurde bei der IraumErscheinung Juliennes (JP 1.3, 525) angewandt: »Das Alter, das ich [Julienne] da-
mals im Spiegel hatte, war, wie du siehst, nur vom Kunstspiegel gemacht«. In einer
182
Viertes Kapitel
Fußnote wird hinzugefügt: »Es gibt metamorphotische Spiegel, die junge Gesichter veraltet darstellen« (JP 1.3, 628). Entscheidend für die innere Bildungsgeschichte
Albanos ist Juliennes Hinweis auf die Rezeption von magischen Wundern: »Geht und ficht mich
oder dich dieser dunkle Zauber-Bund
schen Wundern
bisher immer
etwas an, der in seinen fal-
durch seltsame wahre unterbrochen wurde«
(JP 1.3,
629)? Durch den Kontext ist offensichtlich, daß mit den »seltsame[n] wahre[n]« Wundern keine nicht aufgeklärten (wie das des schwebenden Menschen)?! gemeint sind,
sondern solche, die im Inneren des Menschen stattfinden und gegen die äußeren immun machen. Während Roquairol die Selbsttäuschungen seiner Phantasie nach außen trägt und sie so zu Täuschungen seiner Umwelt werden läßt, trägt Albano die Täuschungen, die ihm in der seinem Bewußtsein externen Welt widerfahren, nach innen — um sie dort zu höheren Wahrheiten werden zu lassen.
Julienne gibt Albano zu verstehen, daß es sich bei den Inszenierungen Gaspards um falsche Wunder, also um Betrug, handelt. Gleichzeitig fordert sie ihn auf, diese
Zaubertricks nicht auf ihre mechanische Auflösung hin zu untersuchen, sondern sich auf die ihnen inhärente innere Wahrheit zu konzentrieren. Albano lernt also, den Betrug der natürlichen Magie nicht schnöde aufzuklären, sondern als ein sinnli-
ches Zeichen für das Übersinnliche in sich anzuerkennen. Mit dieser Erkenntnis ist die innere Bildungsgeschichte Albanos weitgehend abgeschlossen. Ihm ist durch die
Rezeption der Inszenierungen magischer Wunder der Weg zu Gott geöffnet. Er kann schließlich im Sinne Speners handeln, der in seiner Totenrede — als anthropo-
logisch-theologische Quintessenz des Romans — predigt, daß »man schon hier bei Gott sein könne, sobald man nur Gott in sich habe — [...] und daß ein Mensch sich nicht sowohl auf die Ewigkeit zubereiten als die Ewigkeit in sich pflanzen müsse« (JP 1.3, 827).
Der Perspektivwechsel vom äußeren Wunder zum inneren des Rezipienten ist nicht nur ein Tribut an die Philosophie Jacobis, der — besonders deutlich im David Hume (Hume
144ff.; 166-176; 271ff.) — den Glauben an die Außenwelt mit einem
Glauben an Gott untrennbar verknüpft sieht. Die Rede Speners von »Gott in sich« macht darüber hinaus deutlich, daß die Hinführung zu Gott durch eine Selbstbetrachtung im Sinne Antonins möglich gemacht wird. Die Predigt verrät einen Bezug auf »jene[n] Glaube[n]
der Stoiker an das innewohnende Göttliche«,??? den Jean
Paul nicht nur seiner eigenen Lektüre, sondern vor allem der systematischen Positi-
on Neebs verdankt.
531 So irrtümlich der Herausgeber der Hanser-Ausgabe JP 1.3, 1102. 532 Neeb, Vernunft gegen Vernunft, S. 319.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
183
Die Wunder der Optik in der Seele Es ist auffällig, daß die Katoptrik nicht nur für die literale Beschreibung magischer Wunder, sondern auch als Metapher für innerpsychische Vorgänge verwandt wird. Vor allem die Phantasie funktioniert wie ein Spiegel, der katoptrische Veränderungen an der psychischen Repräsentation der Außenwelt verursachen kann. Der Erzähler exemplifiziert diesen Vorgang am jungen Albano im ersten Teil des Titans, also vor dessen Lebenskrise und Bildungsreise nach Rom: »Wie gern trat er ans Fenster nach Abend, wo er so oft im Kristallspiegel seiner Phantasie seinen unsichtbaren Vater und die Geliebte überirdisch
[hatte] erscheinen lassen« (JP 1.3,
338). Der Kristallspiegel der Phantasie ist ein Spiegel, der das Objekt der Darstellung verändert wiedergibt. Statt ein Bild der dem Subjekt externen Welt zu reproduzieren, produziert er ein überirdisches Bild. Das Fenster befindet sich in der »träumerischen Klause« (ebd.) — und im Traum findet nach Jacobi und Jean Paul das Gegen-
teil einer realistischen Wahrnehmung der Außenwelt statt. Entscheidend ist, daß die katoptrischen Veränderungen des sinnlichen Materials keine Verzerrungen ins Unkenntliche sind. In Albanos Phantasie-Spiegel zeichnen sich klare menschliche »Formen«
(nämlich Vater und Geliebte)
ab, von denen aber deutlich wird, daß sie
nicht mit den Originalen übereinstimmen. Nicht immer ist die Veränderung des dargestellten Objekts durch die unteren Vermögen (v. a. die Phantasie) so harmonisch. Verzerrungen in der Wahrnehmung
sind oft — gemäß dem Jean Paulschen Stoizismus — von der Affizierung des Rezipienten durch den Gegenstand abhängig. Im Affekt ist der Mensch - also auch Albano - nicht in der Lage, ruhig die Dinge der Außenwelt in seinem Geiste abzubil-
den: »Albanos bewegte, wallende Seele spiegelte die verworrene Hof-Welt noch wilder und unförmlicher zurück, als sie war« (JP 1.3, 431).
Das Hofleben, das Albano durch die fürstliche Hochzeit kennengelernt hat, ekelt ihn in höchstem Maße an. Dieser Affekt macht es ihm unmöglich, seine Vermögen im epistemischen Sinne richtig zu gebrauchen.
Hinzu kommt,
daß der Gegenstand
selbst zwar noch klar, aber nicht mehr distinkt (sondern »verworren«) wahrgenom-
men werden kann. Albanos Verhältnis zur Außenwelt wird nicht nur mit Metaphern der Spiegelung, sondern auch mit solchen der Projektion durch Hohlspiegel beschrieben. Während die reinen Spiegelungen
für die Repräsentation
der Welt im Geiste stehen, stehen
die Projektionen für die Repräsentationen der Welt in der Sprache, also dem Medium, das entsprechend seiner Metapher das Wahrgenommene und Erkannte wieder in die Welt zurückwirft. Auch bei der Projektion ist es (wie bei der einfachen Spiegelung im Geist) der fehlende Stoizismus der Jugend, der die Verzerrungen in der Wiedergabe bewirkt: »Albano war ein heißbrennender Hohlspiegel, der seinen Ge-
184
Viertes Kapitel
genstand nahe hat und ihn aufgerichtet hinter sich darstellt, Schoppe einer, der ihn ferne hat und ihn verkehrt in die Luft wirft« (JP 1.3, 233f.).
Hohlspiegel werden für Luftspiegelungen verwandt, gleichzeitig aber auch als Brennspiegel, deren Wirkung sich der Konzentration der Lichtstrahlen in einem Punkte vor dem Spiegel verdankt. Auf beides spielt Jean Paul an, wenn er Albano als heißbrennenden Hohlspiegel bezeichnet. Die Gegenüberstellung der zwei Möglichkeiten von Luftspiegelungen ist dem Physikalischen Wörterbuch Gehlers entnommen.??? Albanos Projektionsgegenstand liegt vor dem Brennpunkt, so daß das projizierte Bild hinter dem Spiegel und nicht auf dem Kopf steht; bei Schoppe liegt der Gegenstand hinter dem Brennpunkt, so daß das erzeugte Bild zwischen Spiegel und Gegenstand und auf dem Kopf steht. Schoppe hat durch seinen Humor Distanz zu den Dingen, die er beschreibt; er ist von ihnen nicht affiziert. Gleichzeitig ist seine Art der Weltdarstellung satirisch verzerrt — allerdings ist die Verzerrung schnell als eine solche zu erkennen, da es sich um eine triviale Verkehrung handelt, die einfach umzukehren ist. Albano hat kein Interesse an einer satirischen Verzerrung der Welt, er möchte unverfälschte Erkennt-
nis mitteilen. Allerdings wird die Objektivität der Darstellung dadurch behindert, daß er, als jemand, der seine Affekte nicht beherrschen kann, keine Distanz zu den Dingen hat, die er in seinem Geist aufnimmt und in seiner Sprache darstellt. Er ist, wie schon bekannt,
kein ruhiges Gemüt,
sondern
aufbrausend und beherrscht die
»kühlende Methode« des Stoikers (7% 160) nicht im geringsten. Das »Heißbrennende« in seinem Charakter findet sich auch in der Charakterisierung als warmer Seele (z. B. JP 1.3, 53 oder 568) wieder.
Die Gefahren der Verzerrung durch die sinnlichen Vermögen der Anschauung gelten nicht nur für den Blick nach außen, sondern auch nach innen. Wieder ist es
Albano, an dem die Täuschungs- und Wahrnehmungstheorie exemplifiziert wird: »Im Brenn- und Vergrößerungsspiegel des Erfolges zeigt uns das Schicksal das leichte, spielende Gewürme unseres Innern als erwachsene und bewaffnete Erinnyen und Schlangen [...]. Die schöne Seele entdeckt leicht im Zufall eine Schuld; nur jene harten Himmels- und Erd-Stürmer [...], nämlich die Väter des Krieges [...], nur
diese können ruhig alle Vulkane der Erde anzünden und alle ihre Lavaströme kommen lassen, bloß um — Aussichten zu haben. Sie düngen elysische Felder zum Schlachtfeld, um darin einen Rosenstock für eine Geliebte röter zu ziehen« (JP 1.3,
457). Albano gehört zur Gruppe der schönen Seelen. Diese unterscheiden sich von den titanischen »Väter[n] des Krieges« (gemeint sind die adligen Hofteilnehmer, deren
öffentliche Aufgaben durch private Intrigen gekennzeichnet sind) durch Moralität. Diese Moralität führt jedoch gleichzeitig zu einem übervorsichtigen Blick nach in533 Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Bd. U, S. 646f. sowie Fig. 77 und Fig. 78 auf Tafel XI.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
185
nen, so daß die eigenen Triebe und Handlungsmotivationen nicht richtig erkannt werden können. Die so entstehende epistemische Fehlleistung entspricht der Täuschung eines »Brenn- und Vergrößerungsspiegells]«. Ähnlich äußert sich der Erzähler über Albanos »Selbst-Spiegel« (JP 1.3, 496), in dem sich dieser nur »verschleiert« (ebd.) erkennt: »So hielt er sich oft für zu hart, wiewohl er es so wenig war; so hielt er sich für den Sieger über sein Herz, als sein
schönes Angesicht schon
kranke, blasse Farben trug« (ebd.). Die Fehler bei der
Wahrnehmung der Außen- und Innenwelt entstehen, wenn man sich den anamorphotischen Verzerrungen der unteren Seelenvermögen überläßt. Unverkennbar hat der Erzähler jedoch für diese psychischen Dysfunktionen eine gewisse Sympathie. Sie entstehen schließlich entweder aus übergroßer Moralität oder aus dem Enthusiasmus der Jugend, der erst im fortgeschrittenen Alter durch stoische Arbeit an sich selbst begrenzt werden kann. Die formgebende Arbeit der menschlichen Phantasie ist, das zeigt das Beispiel mit dem Kristallspiegel (JP 1.3, 338), nahe an einer Ahnung des Göttlichen. Allerdings werden die Verzerrungen der Wahrnehmung dann gefährlich, wenn sie nicht mehr als solche reflektiert, sondern mit unverfälschten Abspiegelungen der Wirklichkeit verwechselt werden. Epistemische Fehler dieser Art werden nicht zuletzt durch die Verwandtschaft Albanos mit der Geistes- und Lebenshaltung des »genialische[n] Menschen«
(JP 1.3,
266) und Ästhetizisten??* Roquairol deutlich gemacht, der durch die Theatralisierung seines Lebens schließlich jegliche Kategorien für eine realistische Erkenntnis der Außenwelt verliert. In dieser Gefahr befindet sich Albano anfangs selbst: »Wenn ihm Karl tragische Gewitterwolken aus Shakespeare, Goethe, Klinger, Schiller vorführte und sich das Leben kolossalisch im dichterischen Vergrößerungsspiegel beschauete: so standen alle schlafenden Riesen seines Innern auf, sein Vater kam und
seine Zukunft, selber sein Freund stand neu wie aus jener glänzenden phantastischen Kinderzeit herausgehoben
da, wo er sich ıhn in diesen Rollen vorgeträumt,
und in den inneren Heldenzug wurde sogar die Wolke,
die durch den Himmel
schwamm, und die über den Markt wegmarschierende Wach-Truppe eingeschichtet« (JP 1.3, 266f.). Das Gegenteil der Täuschungen der Phantasie stellen die mentalen Repräsenta-
tionen der Adligen dar. So spricht der Erzähler in bezug auf Gaspard von dem »glatten, kalten Spiegel seiner epischen Seele, in welchem alle Figuren sich reinaufgefasset und frei bewegten« (JP 1.3, 541). Der Erzähler zieht eine deutliche Trennlinie zwischen der »epischen Seele« Gaspards und der poetischen Roquairols und Albanos. Gaspards Seelenspiegel repräsentiert die Außenwelt ohne Verzerrungen. Ihm geht es nicht anders als den übrigen Personen am Hof, die als »kalte[] Spiegel der Gesellschaft« (JP 1.3, 310) beschrieben werden. Auch im Attribut »kalt« 534 Vgl. Wuthenow, Verführung, S. 95f., und Golz, Welt, S. 199fF.
186
Viertes Kapitel
steckt ein Hinweis auf die Nicht-Existenz von Affekten, die das Bild der Wahrneh-
mung verzerren könnten.?” In der katoptrischen Metapher liegt weiterhin eine Analyse des Hofs als Stätte der Entpersonalisierung verborgen. Wenn jeder der Adligen nur den anderen spiegelt, bleibt kein Gegenstand übrig, der überhaupt gespiegelt werden könnte. Es handelt sich — wie beim Idealismus Fichtescher Prägung — bei den Repräsentanten des Hofs lediglich um potenzierte Repräsentationen ohne Inhalt. Auch für den Fürsten gilt, daß die klare und deutliche Wiedergabe der Welt die moralische Ebene ausschließt. Im Repräsentationssystem des Hofs bildet er das subjektive Zentrum, um das herum die Hofleute wie »Pfeilerspiegel[]« seines »Ichs« (JP 1.3, 168) stehen. Aber auch mit Hilfe der »Menächmen« (Ebenbildern; ebd.) seines Hofstaats findet der Fürst, obwohl er sein Handeln jederzeit vorgespiegelt bekommt (und so kontrollieren könnte), zu keiner moralischen Position, da er »sich einbildet,
in der Moral wie in der Katoptrik zeige jeder Spiegel und Nebenregenbogen alles verkehrt« (ebd.). Der Fürst ist wie alle anderen Hofteilnehmer nicht in der Lage, die
epistemisch korrekten Wiederspiegelungen der Welt für moralische Handlungen fruchtbar zu machen. Ethik und einfache Repräsentation stehen sich vielmehr diametral gegenüber. Dagegen wird die Geisteshaltung Albanos gestellt, dessen Ich in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber nicht verschwindet, sondern sich selbst ausdrückt:
Sein »helles Gold spiegelte gefällig die fremde Gestalt zurück, ohne wie Glas dabei die eigne zu vernichten« (JP 1.3, 591). Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Spiegel wird bei einem goldenen das spiegelnde Material nicht unsichtbar gemacht, so daß im praktischen Umgang mit dem Gegenüber die Individualität des Erkennenden und Handelnden sichtbar bleibt. Die Antinomie in der geistigen und sprachlichen Repräsentation der Außenwelt — sei sie rein epistemisch,
sei sie praktisch gedacht — ist durch
die Verwendung
der
Metaphern eindeutig: Die Verzerrung der Wirklichkeit in der Repräsentation durch die unteren Vermögen der Psyche hat eine positiv konnotierte moralische Kompo-
nente. Epistemisch hingegen ist sie — zumindest ohne Korrektiv — problematisch. Die plane, d. h. affektfreie, Spiegelung der Außenwelt durch die höheren Vermögen von Psyche und Gesellschaft ist unter epistemischen Gesichtspunkten positiv belegt,
dafür aber ist sie mit dem Verlust jeglicher Moral verbunden — und damit gefährlich. Auch
hier gibt es ein »Drittes«, einen »hohen Ausweg«,
der aus der scheinbaren
Antinomie herausführt und Erkenntnis und Moral, Welt und Gott zusammenzuführen verspricht. Eine korrekte Repräsentation der Außenwelt, die die anamorpho-
535 Sprengels Zuschreibungen,
»Hof-Kälte« vs. »Familien-Wärme«,
logischen Ambitionen des Romans. Vgl. Sprengel, Innerlichkeit, S. 33.
unterschlagen die epistemo-
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
187
tischen Täuschungen der Wahrnehmung korrigiert, ohne ihre überirdischen Momente dadurch zu eliminieren, ist nicht möglich. Allerdings können die oberen Seelenvermögen auf höherem Niveau eine neue Formgebung garantieren, die sich für das erkennende Subjekt als von den Formen der Wirklichkeit deutlich unterschieden darstellt. Exemplifikationsfigur ist wie immer Albano. Im dreizehnten Zykel der zweiten Jobelperiode wird dessen doppelte Seelentätigkeit so beschrieben:
»So bringt uns die Gegenwart nur Bilder zu optischen Anamorphosen, und erst unser Geist ist der erhabne Spiegel, der sie in schöne Menschen-Formen umstellet« (JP 1.3, 80). Die sinnliche Wahrnehmung funktioniert wie ein anamorphotischer, der Geist dagegen wie ein metamorphotischer Spiegel, der die Verzerrungen zu neuen Formen ordnet. Die Anamorphose der unteren Seelenvermögen kann durch die Metamorphose der oberen korrigiert werden — aber nicht in dem Sinne, daß am Ende eine plane Spiegelung entstünde. Die so entstandene Form im Kopf des Betrachters besitzt, wie die Termini »schön« und »erhaben« belegen, Züge, die die der Wirklichkeit übersteigen.
Durch
die Selbstreflexion weiß der Rezipient,
daß er es nicht mit der
sinnlichen Welt, sondern der übersinnlichen zu tun hat. Die tatsächlichen irdischen
Formen bleiben dem Geist allerdings unbekannt. Wie ist nun aber das Verhältnis von äußeren zu inneren Wundern? Beide Phänomene weisen deutliche Parallelen auf. Es geht jeweils um eine Irritation oder um ein (im wahrsten Sinne des Wortes) Wundern; jenes Yavud&w, mit dem nach
Platons Theaithetos (155d) alle Philosophie beginnt. Aus diesem Wundern entsteht, wiederum in beiden Fällen, eine Hinwendung zum Übersinnlichen innerhalb (nicht außerhalb) des Menschen, eine Reflexion der Vernunft über diesen Vorgang
und dadurch bedingt — zumindest ist das angestrebt — eine Hinwendung zur Außenwelt. Die Kongruenz beider Phänomene ist kein Zufall. Es handelt sich um ein Wechselspiel von äußerer und innerer katoptrischer Magie, die am deutlichsten in der bereits zitierten Szene im TIartarus beschrieben wird. Nachdem Albano durch die katoptrischen Wunder Speners bereits einen Zustand erreicht hat, der zwischen Aufklärung und Wunderglaube liegt, reproduziert er nur »durch den
[...] Vergröße-
rungsspiegel der Nacht« (JP 1.3, 314), d. h. durch seine fehlerhafte Wahrnehmung im Dunklen, eine Wundererscheinung in sich. Die magischen
Wunder,
die Albano
vorher rezipiert hat, dienen
also dazu,
den
Menschen für das eigene innere Wunder im Spiel seiner Erkenntnisvermögen zu sensibilisieren. Sie haben Katalysatorfunktion, um das Wechselspiel zwischen unteren und oberen Seelenvermögen in Gang zu bringen. Dadurch kommt es im erkennenden Objekt zur Ana- und Metamorphose der Repräsentationen der Wahrnehmung und — wie es später in der Vorschule explizit gemacht wird — zu einer Ahnung des Göttlichen.
188
Viertes Kapitel
Katoptrik und Idealismus
Um Jacobi im Kampf gegen die Idealisten mit dessen eigenen Argumenten zu Hilfe zu kommen, bedient sich Jean Paul in einem Brief an Jacobi einer seiner Lieblings-
metaphern, der Katoptrik:°?° »Nim einen — aber bei der unendlichen Theilbarkeit Gallerie des andern, dieser sich und das Rep., dieser das R. des R. des R. — kurz
unendlich grossen Spiegel und noch einen reichen 2 endliche zu — jeder repetiert die Repetierwerk, jener das Repetierwerk des eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten.
Wären diese nicht wirklich, sondern in der Vernunft, welche Systeme würdeln] die
hohlen Anagrammatiker der Natur in diese werfen!«°?’ Die »hohlen Anagrammatiker« — das ist die »Schleiermacher-Schlegel-Fichtische Teufels-Ackommodazion«.?>3 Mit der Spiegelmetapher wiederholt Jean Paul den Nihilismus-Vorwurf, den Jacobi an das Fichtesche System richtete in einer Metapher: In der Spiegelung der Spiegelung verlieren sich Spiegel und Gegenstand. Etwas komplizierter wird diese Metaphorisierung der Verstandesleistung, zieht man einen Aufsatz von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg hinzu. Herder hatte Jean
Paul gegenüber bemerkt, daß dieser und Gerstenberg ähnliche philosophische Positionen verträten.”?” Daraufhin bat Jean Paul Jacobi, ihm Gerstenbergs Theorie der Kategorien und dessen Entgegnung auf Jacobis Fichte-Brief, »Aus einem Briefe an Herrn Geh. Rath Jacobi über eine Stelle in seiner neuesten Schrift«, zu übersenden. In diesem Aufsatz, der in Briefform gehalten ist, versucht Gerstenberg, den realisti-
schen Impetus der idealistischen Philosophie hervorzuheben und diese von dem von Jacobi erhobenen Vorwurf des Nihilismus zu befreien. Er wählt dafür eine »Parabel« bzw. »Allegorie« aus dem Bereich der Katoptrik: »[...] und habe zu dem Ende vier
Spiegel, einen parabolischen, einen elliptischen, einen cylindrischen, und einen conischen, auf der Toilette meines absoluten Ich vor mir hingestellt, die ich, aus absoluter Machtvollkommenheit
eben dieses Fichtischen Ich, mit einer Kleinigkeit, mit
dem Vermögen zu denken, begabt habe«.?*? Wie Jean Paul setzt auch Gerstenberg den menschlichen
Geist mit einem ge-
schliffenen Spiegel gleich, der seinen Gegenstand verzerrt wiedergibt. Die denkenden Spiegel perzipieren nicht nur, sie haben auch Selbstbewußtsein. Sie können sich über ihre eigene Repräsentationsleistung, d. h. über die von ihnen hervorgebrachte Verzerrung, bewußt werden. Keiner der Spiegel wird jedoch aufgrund der verschie53° Zum
Verhältnis von Katoptrik und Philosophie bei Jean Paul vgl. Held, Das gewendete
Selbst, S. 109, der jedoch, ohne Jacobi zu berücksichtigen,
im folgenden Jean Paul — den Kant-
Gegner! - an Kant anschließen sieht. 537 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 22.12.1799, HKA Ill.3, 266. Vgl. dazu auch Untersuchungen $ 184 (HKA 11.7, 184). 538 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 21.2.1800, HKA 11.3, 299. 539 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 22.12.1799, HKA 111.3, 266. 540 Gerstenberg, Briefan Jacobi, S. 138; 153.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
189
denen Verzerrungsmechanismen auf die Idee kommen, daß er den gleichen Gegenstand wiedergebe wie ein anderer. Und hier setzt nun die Kritik Gerstenbergs an Jacobi an. Auch der Idealist ist nach Gerstenberg ein Realist, weil er trotz aller subjektiven Verzerrungen des Gegenstandes »weißß« (und nicht nur wie bei Jacobi glaubt), daß es ein realer Gegenstand ist, den er spiegelt.°*! Es ist, so Gerstenberg, nur die Art des Spiegels — bzw. unmetapho-
risch, aber kantisch gesprochen: die subjektive Form der Anschauung, Raum und Zeit (KrV A 38f.) —, die dem Gegenstand eine individuelle Form gibt.“ Jacobi,
darin gipfelt Gerstenbergs Kritik, habe mit seinem rigorosen Realismus durchaus recht, er habe allerdings schlicht vergessen, daß die geistige Repräsentation ein »Medium« sei, das nicht inhaltsneutral gedacht werden könne, so daß die Information des Mediums erst von dessen Formen gereinigt werden müsse.°* Das Spiegeln der Spiegel, also die Selbstreflexion des Geistes, habe daher durchaus einen Sinn und führe nicht fort von der Darstellung von Objekten der Außenwelt, wie Jacobi den-
ke, sondern mache eine Theorie darüber überhaupt erst möglich. Diese Anmaßung, Jacobi erst das Wesen des transzendentalen Idealismus erklären zu wollen, kann Jean Paul natürlich nicht stehenlassen. Gleich nach der Lektüre des
Aufsatzes von Gerstenberg schreibt er aufgeregt an Jacobi: »Aber, Himmel, wie konte Gerstenberg dich die initia critica in Gleichnissen lehren wollen? — Ich möchte wissen, da er alles, was wir bisher für Kenntnisse oder Materie hielten, zum Formalen der Vorstellung zertreibt, was denn noch für ein Materiales, vom X oder
Nichts Verschiedenes, übrig bliebe«.°** Das ist ganz im Sinne seines Lehrers gedacht. Der Vorwurf Jacobis an die Idealisten ist ja gerade der, daß die subjektive Formgebung des Ichs alles, der materielle Gegenstand, dem Form gegeben werden soll, jedoch nichts mehr sei. Gerstenberg durchschaut nicht, so läßt sich die Kritik Jean Pauls zusammenfassen, daß seine und jede andere noch so realistische Kant-Adaption im Nihilismus Fichtes enden muß,
solange die Formgebung der Dinge in der Repräsentation lediglich dem Subjekt zuerkannt wird. Auffälligerweise argumentiert Jean Paul im folgenden nicht, wie Jacobi es (nach Gerstenbergs Meinung) tun würde.?* Er behauptet nicht, daß wir glauben (müs-
sen), der menschliche Geist sei ein planer Spiegel, der uns die Gegenstände so wiedergibt, wie sie in der Außenwelt vorhanden sind (Fume 138-166). Das kann Jean Paul nicht, da er, wie gezeigt, im Titan davon ausgeht, daß es durchaus Verzerrungen der Objekte durch die katoptrische Phantasie gibt. Deswegen wählt Jean Paul 541 Ebd., S. 148. 42 Ebd., S. 145f. 543 Ebd., S. 150. 544 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 1.4.1800, HKA IIl.3, 315.
545 Gerstenberg, Briefan Jacobi, S. 149.
190
Viertes Kapitel
eine andere
Strategie,
die Jacobis
Realismus
und
seine Literaturtheorie
verbinden
soll: »Endlich ist das verzogne Gesicht Millionenmal mehr [darübergeschrieben: »rei-
cher«] als das kritische X. Nach der Kritik reflektiert ja unser Spiegel die Objekte ohne Hülfe ihrer Strahlen«.’* Jean Paul argumentiert hier mit und gegen Jacobi. Mit ihm, weil er Jacobis Traum-Argument auf die Metapher der Spiegel überträgt: Wie jedem Iraum ein Wachen vorhergehen muß, so muß jeder Zerrspiegelung ein tatsächlicher, materialer Gegenstand vor dem Spiegel (und nicht nur ein »kritische[s] X«) zugrunde liegen. Das »verzogne Gesicht« in seiner sinnlichen Vielfalt kann nicht
aus dem entsinnlichten »kritischen X« hervorgegangen sein. Die Argumentation hat jedoch auch einen Untertext, der sich gegen Jacobi richtet: Da wir ja wissen, daß jeder Verzerrung ein materialer Gegenstand zugrunde liegt, können wir ruhig die Verzerrungen der Kunstspiegel, vulgo: der Phantasie bzw. der Dichtung, zulassen. Wir müssen nur lernen, die Verzerrung als Verzerrung zu erkennen. Somit ist der Realismus gewahrt und der Weg zum Überirdischen, den die Verzerrungen der Phantasie einschlagen helfen, geebnet.
Illusion und Ästhetik Mit dem Rekurs auf tatsächliche (wenn auch künstlich hergestellte) Wunder hebt Jean Paul den Literaturstreit über das Wunderbare auf ein neues Niveau.” Er be-
zieht sich dabei nicht in erster Linie auf die zurückliegende Debatte zwischen Gottsched und den Schweizern über das Verhältnis von Wunderbarem und Wahrscheinlichem,?*® sondern auf Herder, der für eine Entgrenzung und eine Begrenzung des Wunderbaren plädiert. Das Wunderbare darf nach Herder gerade nicht »natürlich« 546 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 1.4.1800, HKA 111.3, 315.
577 Zum Zusammenhang von Katoptrik und Poetik vgl. Keith, Spiegel, $. 108ff., und Schlüer, Spiegel und Sprache (allerdings nur für die Flegehjahre). Beide Autoren überspringen jedoch die literale Bedeutungsebene (Spiegel), so daß sie das epistemische Potential der Metapher nicht ausschöpfen. Detaillierter ist Bosse, Theorie, S. 217-241. Allerdings fehlen auch dort Rückbezüge auf Epistemologie und diskursive Praxis der Metaphernverwendung sowie Jean Pauls Kenntnisse der Katoptrik. Vingon, Topographie, sieht zwar richtig bei Jean Paul die Tendenz, »optische Geräte metaphorisch in Gebrauch zu nehmen« (S. 66), um die Immaterialität seiner Kunstgriffe über die Materie zu stellen, beschränkt sich jedoch auf Teleskop, Mikroskop und Camera obscura. Berhorst schließlich (Anamorphosen, $. 318-321) negiert sowohl den katoptrischen wie den transzendentalphilosophischen Diskurs, obwohl es sich bei diesem Komplex laut Titel um einen zentralen Aspekt seiner Arbeit handeln soll. 548 Vgl. Gottsched, Versuch, Breitinger, Critische Dichtkunst, und Bodmer, Critische Abhandlung. Zur Forschung vgl. Stahl, Das Wunderbare, S. 136-142;
174-176, der die psychologische Dimen-
sion der Debatte herausarbeitet. Während Werterer, Publikumsbezug, S. 104-106; 162, die rhetorischen
Elemente
der Debatte
stark macht,
betont
Schmidt,
Geschichte
des
Genie-Gedankens,
S. 58ff., die Befreiung der Poetik aus der Rhetorik. Dagegen versucht Vietta, Literarische Phantasie, S. 16ff.; 120, die Rolle der Einbildungskraft und die Konsequenzen für die Theorie eines Sub-
jektes hervorzuheben.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
191
sein, da die Literatur, die es beschreibt, durch ihren Darstellungscharakter selbst
kein natürlicher Gegenstand ist. Der Betrug muß perfekt sein. Man darf keine »Bande und Stricke« sehen, mit denen das Wunderbare hergestellt wird. Dazu gehört allerdings auch, daß das Wunder »neceßitirt« (alle Zitate: Herder, Adrasteia, Suphan XXIII, 296f.) wird. D. h., es bedarf keiner äußeren, aber um so mehr einer in-
neren Notwendigkeit. Auch Tieck plädiert in Shakespeares Behandlung des Wunderbaren für eine perfekte »Illusion«°* und eine vollkommen täuschend[e]« Wirkung (KS I, 51) beim Wunderbaren. Er geht ebenfalls davon aus, daß es innerer Notwen-
digkeiten für diese Wirkung bedarf: der Abwechslung und der psychologische Motivation.?°° In der psychologischen Motivation liegt auch ein desillusionierendes Element.?’!
Obwohl
sich Tieck gegen die »Allegorie« des Wunderbaren
wendet, in der
der »Verstand« die Täuschungen der »Phantasie« aufdeckt,°?? plädiert er gleichzeitig für einen »allegorische[n]
Sinn«, der das Wunderbare für »den Verstand und die
Phantasie gleich interessant macht«, so daß, obgleich »die Phantasie auf einen hohen
Grad erhitzt ist«, der Verstand — allerdings »nur nach langer Prüfung«, d. h. sukzessiv und nicht simultan — »Ideen« findet, die hinter dem Wunderbaren verborgen
sind.??? Bei beiden Autoren hat gegenüber der Debatte zwischen Gottsched und den Schweizern eine Verschiebung stattgefunden: Herder und Tieck denken nicht mehr ausschließlich über das Wunderbare als Gegenstand der Literatur unabhängig von seiner Darstellung nach, sondern auch über das Wunderbare als Mittel der Darstel-
lung. Diese Verschiebung hat auch bei Jean Paul stattgefunden. Ihm geht es ebenfalls
um die Zauberspiegel der Literatur und nicht nur in der Literatur. Wenn er über das Wunderbare als Gegenstand spricht — wie im Titan —, so deshalb, weil er sein eige-
nes poetisches Verfahren thematisiert. Gleichzeitig radikalisiert er den Ansatz von Tieck. Die Durchschaubarkeit der Illusion, die von Herder noch pejorativ konnotierten »Bande und Stricke«, werden für Jean Paul zur conditio sine qua non — aller-
dings nicht in dem Sinne, daß die Illusion (in) der Literatur aufgeklärt werden müjste, sondern in dem, daß sie jederzeit aufgeklärt werden könnte. Erst das Wissen um die Möglichkeit der Aufklärung macht die Verlagerung des Wunders ins Innere des Menschen möglich. So muß die Wahrheit des Verstandes die der Phantasie nicht
zerstören. Literatur wird damit zu einer Darstellungsform promoviert, in deren Rezeption Verstand und Phantasie zugleich (und nicht wie bei Tieck sukzessiv) zu ih-
54 Tieck, Kritische Schriften, Bd. I, 5.41; 50. Es ist nicht möglich, die gesamte TieckForschung zum Wunderbaren hier aufzuführen. Ich beziehe mich hier auf Ribbat, Tieck — Studien zur Konzeption, S. 76f. Vgl. auch Wesollek, Tieck oder der Weltumsegler, $S. 76-119. 550 Tijeck, Kritische Schriften, Bd. I, S. 52ff.; 55; 70. 551 Dies übersieht Berend, Jean Pauls Asthetik, S. 171. 552 Tjeck, Kritische Schriften, Bd. I, S. 42f. 553 Ebd., $. 71.
192
Viertes Kapitel
rem Recht kommen.
Mit der neuen,
magischen Art zu erzählen, die Jean Paul für
sich in Anspruch nimmt, wird der Leser in die Illusion der Geschichte hineingezogen. Gleichzeitig ist es gerade das nicht-realistische Erzählen, das den aufgeklärten Leser dazu anregt, diese Illusion zu durchbrechen. So durch die Eigenschaften der »neuen Medien: metaphorisch verstärkt, kann die Literatur eine Sensibilisierung des Menschen im Hinblick auf dessen eigene psychische Tätigkeit bewirken: eine Reflexion über den Gebrauch seiner unteren Erkenntnisvermögen, aus der heraus sich eine phantastische Annäherung an die zweite Welt und ihre Moralität entwickelt. Allerdings kann Jean Paul nicht den Anspruch erheben, die Jacobischen Forderungen an eine Erkenntnistheorie, nämlich Glaube an Gott und die Außenwelt, im
Bereich der Literatur zu erfüllen. Das Jean Paulsche Literaturkonzept kann lediglich zwei Momente integrieren: 1.) die Evozierung einer überirdischen Welt und 2.) die Markierung der Differenz zur irdischen. Wie jedoch die irdische Welt selbst aussieht, an deren unmittelbares Gegebensein wir nach Jacobi glauben und glauben müssen,
und wie wir mit der Erkenntnis
des Überirdischen
in ihr handeln — das
kann uns die Literatur nach Jean Paul nicht vermitteln. Der Blick bleibt starr nach
innen gerichtet. Der Gegenstand der Literatur bleibt im dunkeln, das der Zauberer wahren muß, damit sein Zauber nicht erklärbar wird.
Illusion und Staatskunst »Viel verwundet und durch sich gereinigt ging Albano nach diesen Erzählungen nachmittags ab ins zwieträchtige Reich, aber mit heiterer heiliger Kühnheit. Er war
sich höherer Zwecke und Kräfte bewußt, als alle harten Seelen ihm streitig machen wollten; aus dem hellen, freien Ätherkreise des ewigen Guten ließ er sich nicht her-
abziehen in die schmutzige Landenge des gemeinen Seins — ein höheres Reich, als was ein metallener Zepter regiert, eines, das der Mensch erst erschafft, um es zu beherrschen, tat sich ihm auf — im kleinen und in jedem Ländchen war etwas Großes,
nicht die Volksmenge, sondern das Volksglück — höchste Gerechtigkeit war sein Entschluß und Beförderung alter Feinde, besonders des verständigen Froulay. — So sprang er nun zuversichtsvoll aus seinem bisherigen schmalen, nur von fremden Händen
getriebnen Fahrzeug auf eine freie Erde hinaus, wo er allein, ohne fremde
Ruder, sich bewegen kann und statt des leeren, kahlen Wasser-Weges ein festes, blü-
hendes Land und Ziel antrifft« (JP 1.3, 819£.).
Die Passage ist durch scharfe Gegensätze gekennzeichnet. Es stehen »heiligel] Kühnheit«, »höhere Zwecke und Kräfte«, der »helle[], freie[] Ätherkreis[] des ewigen Guten« und das »höhere[] Reich« gegen das »zwieträchtige Reich«, die »harten See-
len«, die »schmutzige Landenge des gemeinen Seins« und den »metallenen Zepter«.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
193
Zwei Reiche also: eines oben, hell und frei — eines unten, schmutzig und vereinnahmend. Das eine Reich ist das der Moral, das andere ist das der Politik — Theorie
vs. Praxis. Albano als zukünftiger Fürst hat an beiden teil. Die Darstellung suggeriert Trennung und Vereinigung der Gegensätze. Albanos u£VeEısg am Reich der moralischen Ideen ist nur möglich, wenn er sich von den
Zwängen und Anforderungen der bestehenden politischen Verhältnisse frei macht. Das Auffinden des »ewigen Guten« darf nicht durch die Hindernisse des »gemeinen Seins« scheitern, die »höhere[n]
Zwecke« dürfen nicht im Streit mit den »harten
Seelen«, den Teilhabern an der politischen Macht, verändert werden. Moral ist Teil
einer himmlischen Sphäre, in der irdische Ansprüche nichts zu suchen haben. Gleichzeitig möchte Albano jedoch, wie der Erzähler deutlich macht, eine Vereinigung beider Reiche erzielen. Das Auffinden des Sittlichguten ist kein Selbstzweck
des regierenden Individuums. Albano nimmt die Aufgabe des Fürsten an. Er geht ins »zwieträchtige Reich«, hat, zu versöhnen.
Und
um
es mit den moralischen
Ideen, zu denen
er hat, gerade weil er »Gerechtigkeit«
walten
er Zugang lassen will,
handfeste, praxisbezogene Pläne, zum Beispiel die »Beförderung alter Feinde«. Moral muß trotz der bestehenden Verhältnisse absolut entwickelt werden, aber auf diese
jederzeit anwendbar sein. Die Verbindung von Moral und Praxis findet sich in der Vereinigung von »höchster Gerechtigkeit« und »Volksglück« — das stoische honestum et utile:5°* Die frei von persönlichem Nutzen entwickelte Gerechtigkeit muß gleichzeitig zum Nutzen des Volks sein. Damit dies möglich ist, bedient sich der Erzähler eines Tricks. Das utzle wird hier bereits im Sinne einer volonte generale verstanden. Das »Volksglück«, nicht
die »Volksmenge«, will der künftige Fürst im Auge haben. Es soll nicht um die Summe der einzelnen Interessen gehen, sondern um das Interesse eines »gemeinschaftliche[n] Ich[s]« (CS 1.6, 17f.), das durch die gerechte Regierung befriedigt wird.
Der Erzähler behauptet, daß Albano zur Moralität innerhalb eines mechanischen politischen Systems finden kann: »Viel verwundet und durch sich gereinigt«, schafft der junge Fürst den Absprung aus dem »von fremden Händen getriebenen Fahrzeug« im Wasser
ans Ufer, wo
er »allein«
(Hervorhebungen
von
mir)
auf festem
Boden
steht. Die Wunden hat er von außen erfahren, die Reinigung durch sich selbst.
Zwei Dinge sind auffällig. Erstens sind der Fürst Albano und der Mensch, was ihre Moral betrifft, identisch. Die private Tugend und die Fähigkeit zur gerechten Regierung sind auf ein und demselben Weg zu erreichen. Er führt, wie ich noch zeigen werde,
in beiden Fällen über eine stoische Selbstbetrachtung.??°
Recht auszuüben,
554 Vgl. den von Jean Paul seit seinen ersten philosophischen Auseinandersetzungen immer wieder herangezogenen Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, Buch Ill, Absatz 6. 555 Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, Buch Il, Absätze 6-9; Buch III, Absatz 12; Buch IV, Absatz 3.
194
Viertes Kapitel
ist die Fortführung eines moralischen Lebens mit anderen Mitteln. Zweitens hindert die
maschinelle
Fremdbestimmung
Albano
interessanterweise
nicht,
auf eigenen
Füßen zu stehen. Außen und Innen befinden sich in einem ausgewogenen Verhältnis.
Es scheint — wenn auch in Metaphern — eine Antwort auf die alte Jean Paulsche Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele gefunden zu sein. Wie oben ausgeführt, wird der Hof samt seinen Intrigen und Regierungspraxen als Körper bzw. als Körper-Maschine beschrieben. Auch die Täuschungsmechanismen, denen Albano ausgesetzt ist, werden durch Maschinen erzeugt. Wenn Albano innerhalb der
bestehenden unmoralischen Verhältnisse einen Weg zur privaten und politischen Moral sucht, dann sucht er zugleich nach einer (im erweiterten Sinne) anthropologi-
schen Lösung.°?° In der Literatur wird allerdings vehement
bestritten,
daß es Jean
Paul über die
bloße Behauptung hinaus gelungen sei, den Hiatus zwischen (metaphorischer) Seele und (metaphorischem) Leib, Moral aus reiner Vernunft und Handeln innerhalb einer bestehenden Praxis, zu schließen.?’ Ich möchte im folgenden gegen diesen locus communis
der Forschung
argumentieren
und
zeigen,
daß Jean
Paul
im
Titan
ein
(wenn auch nicht vollkommenes) Mittel zur Verbindung von Moral und Praxis entwickelt hat, auf das er am Ende des Romans modifizierend zurückgreifen kann. Dafür bedarf es dreier Argumentationsschritte: (1.) die Darstellung der Debatte, in der Jean
Paul
mit
dem
Titan
Position
bezieht,
den
sogenannten
Theorie-Praxis-
556 Es ist gerade nicht von einer Sprengung des metaphorischen politischen Körpers die Rede, wie Böschenstein, Grundzüge, S. 43, annimmt. Auch Wölfels Analyse (Ein Echo, $S. 299), die be-
sagt, daß die Außenwelt
nur »Kulisse« im Spiegel- oder Echo-Verfahren zwischen innerer und
zweiter Welt sei, kann ich nicht zustimmen. 557 Die frühe Forschung kennt diesen Konflikt noch nicht. Nerrlich, Jean Paul, und Rohde, Titan, betrachten nur die innere Entwicklung Albanos. Kommerell, Jean Paul, spart die politische Dimension des Romans aus (allerdings schätzt er, wie er mitzuteilen nicht vergißt, an Jean Paul das »Volkstümliche« und das »Urdeutsche«; Kommerell, Jean Pauls Verhältnis, S. 101). Erst in den 60er Jahren bekommt die politische Thematik Relevanz, und die Dichotomie von Moral und Politik, Innen- und Außenwelt wird der Forschung deutlich. Man ist sich einig, daß Jean Paul an ihr gescheitert ist. So Widhammer, Satire und Idylle, S. 103; Bosse, Theorie, $. 51; 204; Jacobs, Wilhelm Meister, S. 113; Lindner, Scheiternde Aufklärung, S. 193; Koller, Bilder, S. 24; Nell, Synthe-
sis, S. 232; Gendolla, Anatomien, S. 120; paradigmatisch: Golz, Welt, S. 114 und S. 135: »Worauf diese
Konstruktion
[gemeint
ist die
Gegenüberstellung
von
moralischer
Innenwelt
und
nicht-
moralischer Außenwelt] im eigentlichen zielt, bleibt letztendlich verborgen«. Zwei Extrempositionen: Döll, Rollenspiel, S. 195, glaubt, daß »Politik« im Titan »keine andere Legitimation als das unentwirrbare Geflecht dynastischer Interessen« habe. Im Gegensatz dazu Campe, Revolution, $. 308, der Albano vollkommene Autonomie zubilligt, und Harich, Revolutionsdichtung, S. 467, der Albano mit den Verhältnissen, aus denen er kommt, brechen sieht. Avanciertere Positionen
nehmen Schlaffer, Bürger als Held, und Wölfel, Poetischer Republikanismus, ein. Schlaffer stellt fest, daß Jean Paul nicht an der Dichotomie von enger Realität und weitem Bewußststein scheitert, sondern sie thematisiert (S. 50). Wölfel versucht, eine Verbindung zwischen Moral und Politik zu
rekonstruieren, indem er die subjektive Perspektive Albanos in den Vordergrund stellt (S. 205).
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
195
Streit; (2.) die Rekonstruktion dieser Position und (3.) eine Diskussion über ihre Tragfähigkeit.
(1.) Der Theorie-Praxis-Streit: Im Mittelpunkt der auf Plato zurückgehenden Diskussion??® über das Verhältnis von Theorie und Praxis steht die bekannte Forderung aus der Politeia, daß »entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten, oder die, welche jetzt Könige
und Herrscher heißen, echte und gründliche Philosophen
werden« (Politeia 473cd).??? Politische Moral darf sich nur an den Ideen orientieren und muß frei von den Notwendigkeiten und Erfordernissen einer bestehenden Praxıs entwickelt werden (Politeia 493e-497a).
Ab 1789 entspinnt sich über dieses Diktum in Deutschland eine Debatte — ein metaphorischer Schauplatz für die Frage nach der Einordnung der Französischen
Revolution. Jean Paul kennt die Diskussion sehr gut. Die Politeia selbst hat er bereits 1785 gelesen.?°® Karl Morgensterns Rekonstruktion der einzelnen Standpunkte hierzu hat er darüber hinaus ausführlich studiert.°°! Er kennt also die Position Rousseaus und Schillers. Weiterhin weiß er um den Vorwurf des bekannten Philo-
sophiehistorikers Brucker, daß die platonische Position chimärisch und lächerlich sei.°°? Darüber hinaus hat er die Positionen der Gegner der französischen Revoluti-
on und Protagonisten der pro-englischen Fraktion, August Wilhelm Rehberg und Friedrich Gentz, zur Kenntnis genommen. Deren philosophischer Bezugspunkt ist Edmund Burke, dessen Reflections on the Revolution in France (1791) Gentz 1793 übersetzte. Pate für ihre Argumentation steht darüber hinaus Machiavelli mit seinen
zwei staatsphilosophischen Werken, // Principe und den Discorsi.?°? Politik, so erfahren wir aus Rehbergs Untersuchung über die Französische Revolution, kann und darf sich nicht an einem moralischen Ideal, sondern muß sich an den
gegebenen Verhältnissen orientieren.’°* Ein diesbezügliches Zitat ist bei Morgen558 Den Bezug zu Plato stellen lediglich Kiermeier, Der Weise, $. 150-156, und Wölfel, Poetischer Republikanismus, S. 201ff., her. Wölfel richtet sein Augenmerk allerdings eher auf die Literatur, z. B. Wielands Agathon, als auf rein-philosophische Debatten. 559 Zitiert nach der Übersetzung Schleiermachers. 560 Vgl. Jean Paul, Brief an Friedrich von Oerthel, 9.2.1785, HKA IIL.1, 156.
561 Morgenstern, De Platonis Republica. Vgl. Kiermeier, Der Weise, S. 150-156. 562 Brucker, Kurze Fragen, Bd. I, S. 681: »Diese und noch viele andere politischen Regeln [gemeint ist die Trennung von Lehrstand, Wehrstand und Nährstand] hat Plato in seinen Büchern de
Republica und de Legibus vorgetragen, wann man aber alles beym Licht besihet, so wird man finden, daß Platonis Republique eine chimaere seye, die in seinem zu abstractionibus geneigten Kopff und sonst nirgends hätte Platz finden können«. Auf der gleichen Seite befindet der Verfasser, »daß er [Plato] seinen Grillen und Speculationen allzu sehr nachgehangen, das ist, einen besseren Meta-
physicum, als Politicum abgegeben«. Vgl. auch Brucker, Historia critica philosophiae, S. 726f. (in beiden Auflagen). 563 Zur Rolle Machiavellis in der Debatte vgl. Brandt, Beobachtungen, S. I8ff.
564 Rehberg, Untersuchungen, Bd. I, S. 54: »Es haben sich viele speculative Schriftsteller, große Mühe gegeben, ein Ideal vollkommner Staatsverfassungen zu entwerfen. Vergebliche Versuche. Das Ideal kann, wenn es auch mit noch so vielem Verstande ausgedacht worden, doch zu nichts dienen: nicht einmal zur Vergleichung und Würdigung wirklich existierender Verfassungen.« Zur histori-
196
Viertes Kapitel
stern abgedruckt.?° Natürlich referiert Morgenstern auch die Kantische Position — soweit sie zu diesem Zeitpunkt vorliegt. Kant hatte sich an verschiedenen Stellen, explizit in der Kritik der reinen Vernunft von 1781 (A 316), zum platonischen Ideal
bekannt und seine Moral- und Rechtsphilosophie danach ausgerichtet. Von diesen Grundsätzen ausgehend, liefert er sich eine Debatte mit Gentz und Rehberg, die
er mit dem Essay Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis 1793 in der Berlinischen Monatsschriff°’ entfachte. Auf die Erwiderungen von Gentz und Rehberg, ebenfalls in der Monatsschrift, antwortet Kant mit seiner rechtsphilosophischen Abhandlung Zum ewigen Frieden, in erster Auflage 1795 erschienen.?°® Dort systematisiert er seine Position noch einmal, um
den Bruckerschen
und
Rehbergschen
Vorwurf des Chimärischen
zu ent-
kräften. Kant modifiziert die platonische Forderung nach dem Weisen auf dem Thron insofern, als er die Personalunion von Herrscher und Philosoph aufhebt, »weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt«.°°? Mit dieser Modifikation ist keine Abkehr von Plato verbunden. Im Gegenteil: Der Vorwurf der Korruption des freien Urteils richtete sich gegen den Geheimen Cabinetsrath Rehberg und den Geheimen Secretaire Genitz, die ihre politische Legitimation nicht in einer moralischen Öffentlichkeit suchen. Kant möchte dagegen den entscheidenden Punkt der platonischen Staatsphilosophie, daß nämlich Politik u&Ve&ıg an den moralischen Ideen sei, stützen. Die Philosophen, als Vertreter der unabhängigen vierten Fakultät (und mit ihnen verbunden: eine unabhängige, kritische Öffentlichkeit), sollen die Moral der Politik in einem
freien Diskurs entwerfen. Und an die Machthaber wird die Forderung gerichtet, daß die Diskutanten »zu Rate gezogen werden«. 2’ (2.) Dlusion und Staatskunst: Jean Paul setzt wie Kant, dessen Moral er schätzt,?”! auf die platonische Position, die beinahe alle Denker einnehmen,
die die französi-
sche Revolution befürworten, die Terreur jedoch ablehnen. Vor (bzw. statt) der politischen soll eine »moralische Revolution« stattfinden (JP 1.4, 929).37? Jean Pauls Ansatzpunkt ist jedoch ein anderer als der Kants. Auch Jean Paul möchte ein Arguschen Einordnung der Schriften von Rehberg, Gentz und Garve vgl. Brandt, Weltbürgerrecht, S. 136f., und Brandt, Beobachtungen, S. I7ff. 565 Vgl. Kiermeier, Der Weise, S. 150ff. 566 Vgl. Brandt, Weltbürgerrecht, S. 135. 567” Nachzulesen in: Kant, Gentz, Rehberg, Über Theorie und Praxis. 568 Zum ewigen Frieden kann deswegen nicht mehr von Morgenstern referiert werden. Es ist
nicht sicher, für meine Argumentation jedoch auch nicht relevant, ob Jean Paul von der Schrift Kenntnis genommen hat. 569 Kant, Zum ewigen Frieden B 69f. 570 Ebd., B 66.
571 Vgl. Jean Paul, Brief an Pfarrer Vogel, 13.7.1788, HKA Ill.1, 244. 572 Zum Verhältnis von moralischer und politischer Revolution vgl. Vingon, Jean Paul - ein Klassiker, S. 39If.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
197
ment gegen den Chimären-Vorwurf der platonischen Staatstheorie beisteuern. Er behält jedoch — im Gegensatz zu Kant — die Personalunion von Herrscher und Philosoph bei. Albano braucht keine vierte Gewalt, um zu wissen, wie sein Fürstentum
zu regieren ist. Um mundus sensibilis und mundus intelligibilis zu verbinden, geht Jean Paul einen Weg, der seinen Ausgang in einer Auseinandersetzung mit Machiavelli nimmt. Machiavelli hatte in // Principe argumentiert, daß die weibliche fortuna, das wetterwendische Glück der Staatskunst, durch männliche Tugend,?’? die virtu, an den
Fürsten gebunden werden müsse. Diese Tugenden des Fürsten können jedoch nicht mehr, wie in der platonischen Tradition, v. a. bei Cicero, absolut (als Kardinaltugenden) bestimmt werden, sondern sind nur noch relativ in bezug auf die Notwendigkeit der Praxis, necessita,?’* zu bestimmen. Es gibt zwar auch bei Machiavelli eine ab-
solute Moral, diese ist jedoch nicht mehr absolut anwendbar. Dies führt zu der Maxime, »vom Guten so lange nicht abzulassen, wie es möglich ist, aber sich zum Bösen zu wenden, sobald es nötig ist«.°’° Weil die Welt bzw. die Natur des Menschen nicht gut ist, braucht es der Fürst auch nicht zu sein.?’° Damit ist eine morali-
sche Legitimation geschaffen, in Staatsgeschäften die Redlichkeit, wenn notwendig, beiseite zu lassen und die Praxis der Täuschung als legitimes Mittel im Sinne einer
übergeordneten Staatsraison einzusetzen. Der Gipfel dieser Täuschungen ist natürlich der Anschein der Moralität: die Heuchelei.?77 Hier setzt Jean Paul an. Geht man davon aus, daß die Adligen im Titan ausführende Machiavellisten sind, ist man nicht nur mit irgendeiner Praxis konfrontiert, sondern mit einer der Täuschung bzw. der Vortäuschung moralischen Handelns. Diese beherrscht Gaspard bis ins Detail. Staatsraison und instrumentelle Vernunft?”®
sind ihm eins. Seine politische Maxime läßt sich in Form einer Synekdoche an der katoptrischen Täuschungsmaschinerie ablesen, mit der er Albano konfrontiert. Die Täuschungen in den Spiegeleffekten sind ein pars pro toto für die Täuschungen, mit denen er seine politischen Pläne durchsetzt, der Anschein
des Übersinnlichen pars
pro toto für den Anschein einer (übersinnlichen) Moral. Gaspard heuchelt Moralität und Recht, während er seine eigenen Interessen durchsetzt. Wenn Albano zu einer moralischen Position unabhängig von den Anforderungen
der Praxis findet, dann nicht, weil er der politischen Empirie (mitsamt ihrem Ma-
573 Vgl. Skinner, Machiavelli, $S. SOff. 574 Zum Verhältnis der Zentralbegriffe bei Machiavelli vgl. Münkler, Machiavelli, S. 316ff.; König, Machiavelli, S. 290ff., und Knauer, Das magische Viereck, S. 80ff. 575 Machiavelli, // Principe, Kap. XVII, S. 139.
576 Ebd., Kap. XV, S. 121; Kap. XVII, S. 137.
>77 Ebd., S. 137ff. 578 Vgl. Fohrmann, Titan, S. 15.
198 chiavellismus)
Viertes Kapitel entkommen
könnte.
Vielmehr
findet
er, gerade
weil er Teil
einer
solch betrügerischen Regierungspraxis ist, zu einer wahrhaften moralischen Position.
Um dieses Paradox zu erklären, muß Jean Paul die ästhetische /Uusion?’?” auf die
politische ausdehnen. Wie man die spielerische Täuschung der Kunst durchschaut, aber nicht aufdeckt, sondern zur moralischen Reflexion nutzt, so kann man auch die
politische Täuschung zum Aufgang zu den politischen Ideen benutzen. Der falsche Schein der Moralität einer Handlung — also gerade der Inbegriff des Unmoralischen — kann auf ein moralisches Sein verweisen. Der Weg nach innen, zu Gott und zu einer moralischen Position, wird dem reflektierenden Subjekt leichter gemacht, wenn
es in der Welt außen Zeichen oder »Nahrungsstoff« (JP 1.5, 46) dafür vorfindet. Dabei ist es egal, ob der Gehalt der Zeichen nun Betrug ist oder nicht, weil das Zeichen nur Verweisungscharakter hat und auf das, worauf es verweist, keinerlei Ein-
fluß ausübt. Daß Albano lernt, mit den Wundern
der Katoptrik im Sinne einer Illusionstheo-
rie umzugehen, befähigt ihn also nicht nur zu einer angemessenen Kunstrezeption, sondern auch zur moralischen Teilnahme an einer politischen Praxis. Mit der Be-
herrschung der Technik, Täuschung als Illusion zu verstehen, ist es Albano möglich, gerade weil er funktionierender Teil eines unmoralischen Systems ist, zu einer mora-
lichen Haltung und Handlung zu gelangen. Der Anschein von Moralität ist ein spiegelverkehrter Hinweis auf die tatsächliche Moralität. (3.) Kunst und Moral: Schon bei der Analyse der Figur Roquairol ist deutlich geworden, daß für Jean Paul Kunst ohne Moral nicht denkbar ist. Die Rezeption von Kunst macht den Menschen empfänglich für moralische Ideen. Die Umlenkung des Blicks nach innen macht aus dem ästhetischen auch einen moralischen Menschen.
An der Figur Albano wird jedoch ein noch weiterreichender Anspruch formuliert: daß nämlich Moral ohne Kunst nicht denkbar sei. Albanos Auseinandersetzung mit
den Machenschaften des Hofs wird nicht explizit — z. B. anhand von Diskussionen — dargestellt. Es wird auch kein Machtkampf geschildert, in dem Albano auf eine Veränderung der Verhältnisse drängen würde. Gezeigt wird nur, wie sich seine Rezeptionsweise ändert. Er lernt, den Betrug der Politiker als Teil der Illusion im göttlichen
Welttheater zu verstehen. Und da zu diesem Projekt keine Alternativen aufgezeigt werden, es statt dessen als Erfolgsmodell vorgeführt wird, muß
man Jean Pauls äs-
thetisch exemplifiziertes Politik-Modell als politisiertes Ästhetik-Modell verstehen. Es ist dem Menschen wie dem Regierenden nicht nur erlaubt, er muß die Welt unter
579 Es ist wichtig festzuhalten, daß es sich nur um eine Rezeptionsästhetik handelt, die Jean Paul entwirft. Deswegen ist es meiner Ansicht nach unangemessen, Albanos Vita als die Geschichte einer Künstlerexistenz zu lesen (so Golz, Welt, S. 114). Albano hat sich gerade von dem titanischen
Gedanken, ein Genie zu sein, freigemacht. Folgerichtig wird an seiner Figur nur der Umgang mit Kunst durchgespielt.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
199
ästhetischen Gesichtspunkten (denen der Illusion) wahrnehmen, um zu den morali-
schen Ideen vorzustoßen. Damit sind zwei originär philosophische Ansprüche formuliert: erstens Jacobis Moralphilosophie weiterzuführen und zweitens eine Lücke in seinem Denken zu schließen, nämlich eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der Mensch den Weg vom Sinnlichen zum Übersinnlichen finden kann. Die Erweiterung der praktischen Philosophie Jacobis geschieht mit Elementen stoischer und platonischer Philosophie. Die Erkenntnis der Idee des Guten wird als ein Weg von unten nach oben, vom
Dunkel
der Höhle ans Licht der Sonne
(vgl.
Politeia 515d und JP 1.3, 819f.) beschrieben. Tatsächlich handelt es sich jedoch um
keine neguaywyr) im Sinne einer vernünftigen Erziehung (Politeia 518d), sondern um eine stoische?°® Rückwendung des Menschen nach innen, um der unvernünfti-
gen Welt zu entkommen. Das Schließen der Lücke in der Philosophie Jacobis geschieht bei Jean Paul mit einem Rückgriff auf die Kunst bzw. auf den ästhetischen Bereich der menschlichen Erkenntnisvermögen. Ohne alle Hilfe, so glaubt Jean Paul, läßt sich der Übergang von der rein vernünftigen Erkenntnis der Natur bzw. dem Gefangensein in der Vorstellungswelt zum Übernatürlichen nicht bewerkstelligen. Dafür bedarf es eines sinnlichen Zeichens, das mit dem, wofür es steht, Ähnlichkeit besitzt. Dieses natürli-
che Zeichen ist — für die Ebene der schriftlichen oder visuellen Repräsentationen — die Kunst und — für die Ebene der mentalen Repräsentationen — das Spiel der Phantasie. Seine Ähnlichkeit mit dem Übernatürlichen erhält das Zeichen, so die Epistemologie der katoptrischen Metapher, durch die lokale und visuelle Transformation der Wirklichkeit in der Repräsentation. Nur
am
Rande
sei erwähnt,
daß das oben
rekonstruierte
Projekt der moralisch
fundierten Illusion einen Zwillingsbruder im Allgemeinen Broullion besitzt. Ganz ähnlich wie Jean Paul geht auch Novalis davon aus, daß die »Illusion[]«, die aus der »Magie d[er] Einbildungskraft« herrührt, den Menschen »erzieht«, weil durch diesen
Prozeß der »Glauben« aufgerufen wird, der die Basis aller »Progresse« auf dem Weg zu den Ideen ist. »Illusion« und der ihr inhärente »Irrchum« sind »das nothwl[endige]
Instrument der Wahrheit« — heißt es programmatisch bei Novalis (Novalis III, 372 und 417; Nr. 601 und 769). Das gilt genauso für den Titan. Jean Pauls Argumentation hat jedoch (wie die des Novalis) eine Lücke: Er hat im Titan lediglich gezeigt, wie man, ohne das Land der instrumentellen und instrumentell-vernünftigen Welt verlassen zu müssen, den Weg zu den moralischen Ideen finden kann — nicht aber, wie man
zurückfindet. Wie er in seiner Literaturtheorie
nur eine Differenz zwischen Phantasieleistung und Realität, jedoch nicht eine Dar580 Vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen Buch Il, Absätze 6-9; Buch III, Absatz 12; Buch IV, Absatz 3.
200
Viertes Kapitel
stellung der Realität selbst beanspruchen kann, so kann er in seiner literarisch exem-
plifizierten Rechtstheorie nicht zeigen, wie die Anwendung der Ideen im Staatskörper selbst aussieht.
Daß Albano
auch dieses Problem
lösen wird, müssen
wir ihm
einfach glauben. Eine Schlußbemerkung: Die literarische Theorie der Illusion ist nicht nur ein staatsphilosophisches und ästhetisches Projekt. Es ist darüber hinaus das Moment einer Selbstreflexion Jean Pauls über die Genese seines eigenen Standpunkts. Dies wird an der Heilung Albanos vom Wahnsinn deutlich. Sein Ausweg aus dem träumerischen Idealismus geschieht, wie oben ausgeführt, mit idealistischen Mitteln. Es
sind mentale (Traum) und physische (Idoine) Erscheinungen, aus denen Albano lernt, mit ihnen umzugehen.
Diese Heilung von den »Geistes-Leiden« (JP 1.3, 550) aus »eigenen Kräften« (JP 1.3, 540), dem »Opium von innen«; (JP 1.3, 550), verschreibt sich auch der literarische Philosoph Jean Paul, wenn er seine Erkenntnistheorie, Moral und Ästhetik mit
der Philosophie Jacobis renoviert. Mit den Mitteln der Phantasie möchte er die Täuschungen der Phantasie aufheben und gleichzeitig einen Weg zum Unendlichen öffnen. Damit
befindet sich Jean Paul als Kritiker Fichtes ironischerweise mit diesem
selbst im Einklang. Fichte geht ab der Bestimmung des Menschen von 1800 dazu über, in einer ähnlich evolutionären Denkbewegung die Reflexion ab- und die praktische Philosophie aufzuwerten, um so innerhalb der eigenen idealistischen Philosophie den Jacobischen Vorwürfen des Verlustes von Gott, Welt und Selbst Rechnung zu tragen.®!
Schoppe oder der unendliche Humor Wahnsinn Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, daß gerade der humoristische Materialist Leibgeber/Schoppe
zum
Fichteaner,
d. h. zum
radikalen Idealisten, wird. Wie
alle
anderen Titanen?®? trägt er die »philosophische Trennung des Ichs von der Beschauung«°®? — den Kardinalfehler Fichtes — in die moralische Welt. Darüber hinaus vertritt Schoppe in der Clavis den Idealismus auch theoretisch. Dieser »Übertritt [...]
zur Wissenschaftslehre« (JP 1.3, 1019) ist in der Forschung bisher ungefragt hinge581 Vgl. Jahnke, Das empirische Bild, und Düsing, Sittliche Aufforderung. Lauth, Fichtes Verhältnis, S. 173, sieht die Syntheseleistung schon in der Wissenschaftslehre.
582 Zu Schoppes Titanismus vgl. Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 8.9.1803, HKA ll.A, 237.
Mr Team Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 3.12.1798, HKA IIL.3, 129.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
201
nommen worden.?8* Aber ist das so einfach zu verstehen? Schließlich war es in den ersten drei Romanen immer der materialistische Humor, der in den dort metapho-
risch exemplifizierten Theorien des Geistes und der Sprache die Objektivität der Repräsentationen garantierte und so einen Gegenpol zur spiritualistischen Position bot, deren Repräsentationen sich nur noch auf das Ich und eben nicht mehr auf die Welt bezogen.
Um die Renegation Schoppes zu erklären, gibt es eine exoterische und eine esoterische Lesart.
Die exoterische
Lesart ist stark an Jacobi
orientiert;
nach
ihr ist
Schoppe unzweifelhaft wahnsinnig. In der esoterischen Lesart wird aus Schoppes Verhalten ein Humor höherer Ordnung. Beginnen wir mit der exoterischen Lesart. Schoppe referiert in einem Brief an Albano ein Selbstgespräch: »Hast bisher so lange gelebt und die reichsten Ladungen leicht ins Wasser geworfen, sogar diese und die zweite Welt, und dich von allem, und von Ruhm und von Büchern und Herzen so rein entkleidet und hast nichts behalten als dich selber, um damit frei und nackt und kalt auf der Kugel zu stehen vor
der Sonne: auf einmal krümmst du dich unversehends vor dem bloßen tollen fixen Gedanken an eine tolle fixe Idee, die dir jeder Fieber-Pulsschlag, jeder Faust-Schlag, jedes Giftkorn in den Kopf graben kann, und verschenkst auf einmal deine alte göttliche Freiheit — Schoppe, ich weiß gar nicht, was ich von dir halten soll; wer irgend etwas noch
fürchtet im Universum,
Sklave.« — [/] Da ermannte sich der Mann
und wär
es die Hölle, der ist noch
ein
und sagte: ich will das haben, was ich
fürchtete; und Schoppe trat näher an den breiten hohen Nebel, und siehe! es war (man hätte sich gern auf der Stelle hineingebettet) nur der längste Iraum vor dem längsten Schlaf, mehr nicht, was sie Wahnsinn nennen« (JP 1.3, 699).
Dem materialistischen Humoristen fehlt fast nichts mehr zu einer »göttliche Freiheit«, weil er sich von allem Überirdischen (dem Glauben an die zweite Welt) befreit
584 Nerrlich, Jean Paul, und Rohde, Titan, kennen das Problem nicht, da sie zwischen den verschiedenen Positionen nicht differenzieren. Für Nerrlich sucht Schoppe, dessen Krankheit die »IchPein« ist, Heilung im Idealismus (S. 407); Rohde hält darüber hinaus die Jean Paulsche Genese des
sogenannten Ich-Problems für wesentlich wichtiger als die Auseinandersetzung mit Fichte ($. 100). Für Kommerell, Jean Paul, ist Schoppe Sinnbild für eine »philosophisch überreizte Selbstbesinnung« (S. 351). Den Zusammenhang zu Schoppes (materialistischem) Augenmerk auf den Körper stellt Kommerell über die Jean Paulsche Verwechslung von empirischem und reinem Ich her (S. 356). Dies beruht aber seinerseits auf einer Verwechslung von empirischem Ich und Körper. Harich, Jean Pauls Kritik, $. 114, erklärt den Übergang mit Swift, der Satiriker und ProtoFichteaner ist. Aber das ist nur eine Problemverlagerung, denn bei Swift stellt sich dann die gleiche Frage wie bei Schoppe. V.U. Müller, Narrenfreiheit, legt den Schwerpunkt nur auf den Zusammenhang von Humor
und Krankheit
(28ff.). Davies, Authentizität, greift sicher zu kurz, wenn er
Schoppes Wahnsinn lediglich als Folge seines Glaubensverlustes Humor,
nähert sich dem
Problem
von Materialismus
über eine Beschreibung nicht hinaus.
(S. 113; 127) erklärt. Oschatz,
und Idealismus
(S. 212-224),
kommt
aber
202
Viertes Kapitel
hat. Wie man schon aus dem Siebenkäs weiß, ist für den Humoristen die zweite nur
ein Imaginationsprodukt der ersten Welt. Die Unsterblichkeit der Seele ist lediglich in irdischen Metaphern
auszudrücken,
z. B. im Ruhm,
und so erleidet zusammen
mit der zweiten Welt die erste als deren Bedingung der Möglichkeit gleich mit Schiffbruch. Auch der Glaube an »diese [...] Welt« — nach Jacobi die Bedingung menschlichen Handelns — ist über Bord gegangen. Schoppes scharfer materialistischer Blick führt dazu, daß er auch die »Herren Menschen« (JP 1.3, 692) nicht ge-
nug achten kann. Die Folge ist eine kosmologische Einsamkeit. Es gibt nichts mehr auf der Welt-»Kugel« außer ihm, nicht einmal (metaphorisch gesprochen) Körper und Kleidung. Das einzige, was er noch fürchten kann, ist die Sonne oder das Universum. Und auch dieses letzte Moment von etwas, das außerhalb des Ichs stehen könnte, kann oder muß Schoppe verlieren. Er wird zum »Universum« (JP 1.3, 699) bzw. Gott selbst und be-kommt dessen Freiheit, allerdings nur in der Welt der Träume und des Wahnsinns.?® Damit werden dem Materialisten Schoppe die gleichen Konsequenzen zugesprochen wie einem Idealisten, von dem Jacobi behauptet, er verliere seine Welt und be-
komme eine »göttliche Freiheit«, weil er sich an die Stelle Gottes setze. pliziert, wie bereits ausgeführt, daß die idealistische Philosophie in den kippt und »atheistisch« wird (Füchte-Brief 245f.). Die Folge davon ist Schoppe — kosmologische Einsamkeit,°?° permanentes »Träumen« und » Wahn-sinnig« zu sein (Fichte-Brief 240; s. das Kapitel: »Iraum
Und das im»Nihilismus« — analog zu der Zustand,
und Wahnsinn
der
Transzendentalphilosophie«). Der Grund für diese Analogisierung liegt auf der Hand — oder genauer: im Diktum Jacobis, daß Materialismus und Idealismus in ihrer Konsequenz identisch seien. Materialisten ebnen die Differenz von Ich und Welt genauso ein wie Idealisten, nur
von seiten der Welt und nicht von seiten des Ich; doch das Ergebnis ist das gleiche (s. auch das Kapitel »Idealismus als invertierter Materialismus«).
Bis hierhin haben wir es mit einer reflektierten Illustrierung der Philosophie Jacobis durch Jean Paul zu tun. Aus einer philosophischen Metapher (» Wahn-sinnig«) ist eine literarische geworden. Jean Pauls Materialismus ist jedoch nicht mit dem Jaco-
bis deckungsgleich. Wie gesehen, bezieht Jean Paul immer die Darstellungsform philosophischer Positionen in seine Überlegungen mit ein. Und das ist im Falle des Materialismus der satirische Humor. Dieser bedient sich einer tropischen Sprache, die in Auseinandersetzung mit dem Idealismus eine klar zu bestimmende Form be-
5855 Zur Faszination des Wahnsinns für die Romantik allgemein vgl. Ziolkowski, Amt des Poeten, ” 1 Val den oben analysierten Traum Albanos, der den Idealismus Fichtes darstellt und dafür auch auf die Metapher der kosmologischen Einsamkeit zurückgreift (JP 1.3, 552).
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
203
sitzt: Der humoristische Satiriker spricht parodistisch bzw. persifliert.2°’ Das heißt, er bedient sich der Technik der imitatio mit einer kritischen Intention. Er spricht mit der Zunge seines Gegners, um durch Übertreibung die Unhaltbarkeit der dargestellten Position deutlich zu machen.?®®
Dies läßt sich am Beispiel der Clavis Fichtiana verdeutlichen. Der humoristische Satiriker Jean Paul läßt zu Zwecken
der Satire seinen fiktiven Autor Leib-
geber/Schoppe den Idealismus Fichtes reproduzieren und verteidigen (imitatio). Diese Apologie ist jedoch nur vorgetäuscht. Tatsächlich ist es Jean Pauls Intention, den Idealismus Fichtes mit diesem rhetorischen Mittel als Wahnsinn bloßzustellen und die Fehler dieser Philosophie offen zu legen. Die Parodie ist dabei, so lautet der
(wiederum
nur
rhetorisch
zu
verstehende)
Selbstanspruch,
nicht
eine
Verzerrung, sondern eine konsequente Weiterführung. Diffcile est satiram non scribere: »Man lasse die fichtische Philosophie einmal heller und entwölkt dastehen[]: so wird das nackte Eis dieses Montblancs allmählich unter wärmern Strahlen, als seine
sind, weich und niedrig werden und den Himmel
nicht mehr tragen« (JP 1.3,
1013).
Was ist jedoch die Intention des fingierten Autors Leibgeber/Schoppe? Auch er schrieb die Clavis, wie im »Protektorium« durch den »Herausgeber«°®? angemerkt wird, mit dem »ursprünglichen Vorsatz[], die Wissenschaftslehre lächerlich zu machen«. Und diese »Spuren [...] schimmern noch überall im [sic] Clavis durch«
(JP 1.3, 1019). Auch Leibgeber bzw. Schoppe wollte sich der gleichen Parodie wie Jean Paul bedienen, um seine kritische Haltung zur Wissenschaftslehre deutlich zu machen. Die ist ihm jedoch, wie uns der »Herausgeber« wissen läßt, bei Ab-
fassen der Clavis verlorengegangen. Er ist statt dessen ein »Renegat« (ebd.) geworden. Über die Renegation gibt Schoppe Albano in einem Gespräch in der 33. Jobelperiode weitere Auskünfte: »Herr, wer Fichten und seinen Generalvikar und Gehirn-
diener Schelling so oft aus Spaß gelesen wie ich, der macht endlich Ernst genug daraus. Das Ich setzt Sich und den Ich samt jenem Rest, den mehrere die Welt nennen« (JP 1.3, 766f.). »Aus Spaß lesen« — das heißt, die eben
beschriebene parodistische
Satire in der Lektüre anzuwenden. Schoppe las die Wissenschaftslehre, als wäre sie ein satirisches Werk, als wäre seine (Schoppes) kritische Position auch die Intention, die
hinter der Wissenschaftslehre steckte. Swift, »der zuletzt schlechte Sachen am liebsten
587 In der Vorschule wird zwischen Persiflage und Parodie nicht deutlich unterschieden. Für beide gilt Swifts »Ernst des Scheins«, die Ernst simulierende zmitatio. Vgl. $ 37 (JP 1.5, 150; 153) und $3 (JP 15, 37). 588 Zur Theorie der Parodie vgl. Lausberg, Handbuch, $ 1246, S. 929. 589 Dieser Herausgeber gibt an, mit dem Autor des Siebenkäs identisch zu sein. Er ist damit er-
zähltheoretisch auf der Ebene des Biographen »Jean Paul«. Als »Biograph« wird er auch von Leibgeber/Schoppe angeredet (JP 1.3, 1020).
204
Viertes Kapitel
las [...] und [...] im schlechten Buche, das er las [...], dasjenige genoß, welches er sich dachte« (JP 1.5 125), machte es, Jean Paul zufolge, genauso.?® Um
ihr kritisches Ziel zu erreichen, greift die humoristische Parodie auf das Mo-
ment des performativen oder rhetorischen Wahnsinns zurück (das macht die Metapher bei Jean Paul, ähnlich wie die des Iraums, so komplex). Der Irrhaus-Inspektor
berichtet von seinen Erfahrungen mit Schoppe: »Ein Fichtianer kann er sein (aus seinem Ich schließ’ ichs) und ein Humorist auch; ist nun aber eines von beiden schon schwer von Verrückung zu trennen, wie viel mehr ihre Einigung« (JP 1.3, 776). Daß der Idealismus »schwer von Verrückung zu trennen« ist, geht, wie gesagt,
auf Jacobis Metapher (» Wahn-sinnig«s; Fichte-Brief 240) zurück. Aufschlußreich ist jedoch, daß auch Humor und Wahnsinn als verwandt bezeichnet werden. Diese Verwandtschaft liegt aber nicht, wie beim Idealismus, in der Sache, sondern
basiert auf der rhetorischen Struktur des Humors. Eigentlich wollte Schoppe mit seinem parodistischen Humor etwas sehr ähnliches wie Jacobi mit seiner Metapher: den »Wahnsinn des Menschengeschlechts« (JP 1.3, 228) bzw. den der idealisti-
schen Philosophie vorführen. Allerdings ging er einen Schritt weiter als Jacobi. Er wollte dessen Metapher in die Performanz übertragen, den Wahnsinnigen spielen und durch diese Verstellung die wahnsinnigen Elemente des Idealismus aufdekken.
Das ist gute zynische Tradition: »Der Humor ist, wie die Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates« (JP 1.5, 140), heißt es später in der Vorschule der Ästhetik. Die Inanspruchnahme des Zoxgdıng naıvönevog ist, wie bekannt, histo-
risch fundiert. Der materialistische Reduktionist — sei es Diogenes, sei es Schoppe — gibt sich durch angebliche Überbietung der eigentlichen Vertreter des Idealismus — sei es Platon oder Fichte — selbst als ein Apologet aus, um durch diese gesteigerte imitatio die wahnsinnigen Konsequenzen des Idealismus aufzudecken. Die Parodie des Idealismus ist also eine Art rhetorischen Wahnsinns. Jean Paul parodiert die Wissenschaftslehre nicht irgendwie, sondern läßt seine Figur den Wahnsinn spielerisch auf sich nehmen,
den er aufdecken möchte. Seine kritische Intenti-
on wird dadurch wesentlich augenfälliger als in einer theoretischen Auseinandersetzung. Doch während des Abfassens der Clavis hat sich anscheinend etwas verändert:
Aus dem rhetorischen Wahnsinn ist ein pathologischer geworden. Das zumindest behaupten
Albano,
der
»mit
innigster
Trauer«
(JP
1.3,
767)
die
Krankheit
seines
Freundes konstatiert, und der Erzähler, der in bezug auf Schoppe von einem »Kranken« spricht (JP 1.3, 776).
59 G. Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 231f., irrt, wenn er meint, daß Swift nur deswegen lachen würde, weil es ihm freistünde, noch schlechtere Literatur zu schreiben.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
205
So gesehen, bekommen Schoppes Handlungen eine vollkommen neue Bedeutung. Das dokumentiert der Krankenbericht von Wehrfritz und Wehmeier: »Gern sei er vor dem Spiegel gesessen und habe sich in ein langes Gespräch mit sich eingelassen; zuweilen hab’ er in die camera obscura gesehen, dann schnell wieder in die
Gegend, um beide den regen Bilder schend nachgeäfft. dem; verschiedene
zu vergleichen, und habe unoptisch genug behauptet, die laufender camera würden von der äußern Welt vergrößert, aber täu»Ein schlauer Vogel (setzte der Direktor dazu) »bliebs bei allemeiner Bekannten auf den benachbarten Rittersitzen ließen sich
von ihm malen, weil ers wohlfeil gab; er wußte aber immer etwas ins Gesicht einzu-
schieben, daß einem die Physiognomie ganz lächerlich oder einfältig vorkam; und das hieß er sein Schmeicheln. Natürlich saß ihm in die Länge nichts Honettes mehr[]« (JP 1.3, 689).
Auch hier, bei der Verwechslung von Vorbild und Nachbild am Beispiel der Katoptrik und der Malerei, geht es um die Prämissen des Idealismus. Schoppe hätte als Humorist die gleichen Gespräche über das Thema führen können. In diesem Falle wäre die Verwechslung
humoristisch
motiviert gewesen,
um
dem
Leser durch
die
Aufdringlichkeit der Verdrehungen nahezulegen, daß es sich bei der eingenommenen Position um uneigentliche Rede handelt. Schoppe hätte sich wahnsinnig gestellt, um
den Rezipienten den Wahnsinn
der Theorie,
die er scheinbar verteidigt
hätte, durchschauen zu lassen. Nun scheint er jedoch zu meinen, was er sagt — und
das ist unzweifelbar wahnsinnig. Gleiches gilt für Schoppes Umkehrung des Verhältnisses von Irrhaus-Inspektor und Patient: »Es ist das Inspektorats-Ehepaar (ein Reim), die beide das hiesige Kerkerfieber tüchtig weghaben. Der Mann hat sich — und dadurch der Frau — die fixe Idee in den Kopf gesetzt, er sei unser zeitiger Inspektor und habe aufzuhelfen, aufzusehen und treffliche Bücher zu lesen, die in sein Amt einschlagen — jene Traktate sind vom Narren — Vermutlich hat er draußen in der Stadt seine Inspektorats-Idee zu breit vorgucken lassen, und das medizinische Kollegium steckte ihn mit seiner brauchbaren Idee herein, weil sie am Ende doch jeder Inspektor zum Amtieren haben muß, er sei toll oder nicht« (JP 1.3, 777). Wüßte man nicht, daß Schoppe wahnsinnig ist, so könnte man auch hier glauben, er wolle mit dem rhetorischen Mittel des Wahnsinns den Wahnsinn der Psychatrie aufdecken (übrigens die Variation einer Diogenes-Anekdote).??! Die Autori-
tät des Erzählers läßt jedoch an der Diagnose keinen Zweifel. Diese wird auch durch die Anamnese gestützt. Die Renegation vom Materialismus zum Idealismus und der pathologische Befund basieren auf dem gleichen Grund: Schoppe ist der Macht des 591 Bayle, Wörterbuch, Bd. II, S. 313,: »Du mußt mir gehorchen;, sagt Diogenes — einer Anekdote zu Folge - zu Xeniades, dessen Sklave er war, »denn die Hofmeister und Aerzte, ob sie gleich Knechte sind, erfordern von denjenigen Gehorsam, deren Hofmeister und Aerzte sie sind««.
206 eigenen
Viertes Kapitel tropischen
Sprechens,
den
sein satirischer Humor
verlangt,
erlegen.°?? Er
kann die Doppelstruktur von imitatio und Intention nicht mehr aufrechterhalten. Die intendierte Ebene bricht ihm weg und die ehemals imitierte bleibt übrig. Und da es außer ihr nichts anderes mehr gibt, wird das uneigentliche zum eigentlichen Sprechen. Die Position, die der Humorist nur einzunehmen simulierte, wird zu der einzigen Position, die er noch einnehmen kann. Die literale Bedeutung hat sich durchgesetzt.??? Diese verbleibende Position ist der Idealismus. Und so wird aus dem Materialisten
Schoppe wider ursprünglichen Willen ein Idealist. Da Schoppe den Wahnsinn der Philosophie Fichtes zu satirischen Zwecken imitierte, bleibt ihm dieser Wahnsinn als
ganz und gar unmetaphorischer, nämlich pathologischer, Fall erhalten. Der Grund für den Zusammenbruch der zwei Sprachebenen ist offensichtlich. Schoppe kann die Differenz zwischen imitatio und Intention nicht aufrecht erhalten, weil es keine
gibt: Idealismus und Materialismus sind in ihren Konsequenzen (nach Jacobi und Jean Paul) identisch. Der humoristische Materialismus konnte seinen von Jacobi
diagnostizierten Selbstwiderspruch bisher unter der Maske der Parodie anderer Theorien und Gedankenfiguren verbergen, da er — nur mit fremden Zungen sprechend - selbst nicht Farbe bekennen mußte. Mit dem Idealismus verkörpert er jedoch eine Theorie, die seiner eigenen Prädisposition entspricht. Mit der performativen Darstellung des Wahnsinns des Idealismus kehrt er seinen eigenen Wahnsinn von innen nach außen.
Soweit die exoterische Lesart. Es wird dem Leser des Titan und der Clavis jedoch auch eine esoterische angeboten, in der die Unterscheidung von rhetorischem und pathologischem Wahnsinn, mit dem die exoterische arbeitet, unterlaufen wird.°”* In
dem schon zitierten Brief an Albano inszeniert Schoppe ein Gespräch mit einem allgemeinen deutschen Bibliothekar« (gemeint ist wahrscheinlich der von Jean Paul verachtete Kritiker Garlieb Merkel)??? über die Satire. Der Berliner hat eine ziemlich
traditionelle Auffassung. Seine Forderung an den Satiriker Schoppe lautet: »Verbinden Sie [... das] Studium schlechter Menschen und guter Muster, so bilden Sie uns
einen zweiten Rabener, der die Narren geißelt.« (JP 1.3, 695). >92 Damit scheint mir die gängige Annahme,
daß Leibgeber aufgrund »zwingender[r] Argu-
mente« (Sinn, Jean Paul, S. 224) bzw. durch die »Gewalt der Argumentation (G. Müller, Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik, S. 65) zum Idealisten werde, nicht mehr haltbar zu sein. 593 Schoppe versteht also nicht Fichte buchstäblich, wie Gendolla, Anatomien, S. 112, annimmt, sondern sich selbst, der er ihn reproduziert.
594 Die Forschungsliteratur kennt bisher nur die starre Dichotomie von Wahnsinn und Humor, wie sie auch die Vorschule konstruiert. Vgl. G. Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, $. 235; 239, und Wiethölter, Die krumme Linie, S. 53. Selbst die subtile Interpretation von Gehrs,
Komische Philosophie, S. 190ff., übersieht diese Lesart. >95 Das gleiche Wortspiel macht Jean Paul in der zweiten Auflage der Vorschule (JP 1.5, 127); dort nennt er auch Merkel ausdrücklich. Der satirische Einschub rechtfertigt jedoch keine reinbiographische Lesart der Passage, wie man sie noch bei Berend, Jean Pauls Ästhetik, S. 35, finder.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
207
Schoppe erklärt ihm nun, daß er über ein solch altmodisches Konzept weit hinaus ist. Statt idealistische »gute[] Muster« vorzuführen, fragt Schoppe »sämtliche Windspiele,
Doggen
und
Packer,
ob
in ihren
Seelen
anders
be-
wege als ein potenzierter Magen, statt eines poetischen und heiligen zens!« (ebd.) Der Bibliothekar wird unsicher: »Spielen Sie an? fragt’ er. cher!« (ebd.) sagt Schoppe. Er meint natürlich das Satirenkonzept, das Paul mit den Grönländischen Prozessen neu in die deutsche Literatur eingeführt den zynischen materialistischen Reduktionismus und dessen Devise »Magen
Her»SiJean hart: statt
Geist«. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung führt Schoppe
sich etwas
seine Theorie der Satire
weiter und über das Richtersche Konzept aus den 1780er Jahren hinaus: »Ach wird nicht der seltsame Scherzmacher, sogar in ihrer ungemeinen Bibliothek, dem Stachelschweinmanne
in London
Brook
hatte,
den
Dienst
den
(dem
Sohne)
Fremden
im
gleichen, wilden
der bei dem
Viehstand
und
Tierhändler ausländischen
Tiergarten herumzuführen, und der auf der Schwelle dabei anfing, daß er sich selber zeigte als Mensch betrachtet?« (JP 1.3, 696). Der »Stachelschweinmann« beim »Tierhändler Brook« hält sich selbst für das
größte Ausstellungsstück. Analog dazu entdeckt der Humorist sein Ich als Gegenstand seines Humors
und bemerkt,
daß er sich nicht ausnehmen
darf von der hu-
moristischen Betrachtung der Welt. In der konsequenten Rückbindung an sich selbst liegt eine Aufhebung der eigenen Position. Das gilt auch für Schoppe, der dem »Wahnsinn des Menschengeschlechts« auf der Spur ist und — wie der Erzähler hinzufügt — »seinen dazu« (JP 1.3, 228) finden muß, da auch er Teil des Menschen-
geschlechts ist. Wir haben es hier mit einem Spiel mit der schwachen Variante des »Lügners«°?® zu tun: »Epimenides, der Kreter, sagt, daß alle Kreter lügen«. Wenn
Epimenides die
Wahrheit sagt, lügt er. Wenn Schoppe wahr, das heißt nicht wahnsinnig, über die Menschen spricht (und sagt, daß sie alle wahnsinnig seien), dann muß er zur glei-
chen Zeit wahnsinnig über sie sprechen, weil auch er ein Mensch ist. Und einem Wahnsinnigen glaubt man nicht. Da es die Typentheorie Russells und Whiteheads noch nicht gibt (die durch Hierarchisierung der Sprachebenen einen paradoxalen Selbstbezug ausschließt),°?” haben wir es mit einer semantischen Paradoxie zu tun.
596 Es handelt sich deswegen um eine schwache Variante, weil sich nur dann ein Widerspruch ergibt, wenn Epimenides die Wahrheit sagt (weil er dann lügt). Wenn Epimenides hingegen lügt, sagt er nicht notwendigerweise die Wahrheit, weil dann nur gesagt ist, daß nicht alle Kreter lügen. Aber daß er zu den nicht-lügenden Kretern gehört, ist damit nicht gesagt. Der starke »Lügner« heißt: »Ich lüge jetzt« (bzw. mit den Worten Jean Pauls aus dem Titan: »ich heuchle jetzt«; JP 1.3, 274). Denn wenn ich die Wahrheit sage, lüge ich, und wenn ich lüge, sage ich die Wahrheit. Vgl. Sainsbury, Paradoxes, S. 109-140. Zu den antiken Quellen vgl. Rüdiger, Sokrates, $. 57-63. 597 Russell/Whitehead, Principia.
208
Viertes Kapitel
Ob die Welt wahnsinnig ist oder nicht, kann deshalb nicht mehr entschieden werden. Das
Lügner-Paradox
beinhaltet streng genommen
zwei Paradoxa,
das der Prädi-
kation und das der Metaprädikation: »Alle Kreter lügen«, »alle Kreter lügen nicht« und »Epimenides lügt«, »Epimenides lügt nicht«. Das gleiche gilt für die Ersetzung: ‚wahnsinnig« für »lügen«. Es ist nicht nur unentscheidbar, ob die Welt, sondern auch ob Schoppe wahnsinnig ist oder nicht. Auch dieser Gedanke nimmt seinen Anfang bei Jacobi. Die Aussage, alles sei ein Iraum bzw. der Wahnsinn der Vorstellungskräfte, steht, so Jacobi, im performativen
Widerspruch zur Sprechsituation. Der Sprechende selbst nimmt für die Handlung seiner Aussage etwas anderes in Anspruch (zumindest seine Wirklichkeit), als es der Inhalt seiner Aussage besagt (s. das Kapitel: »Jacobis Methode: Dialog und performativer
Widerspruch«).
Der
materialistisch-idealistische
Humorist
wendet
den
Vorwurf jedoch ins Positive — und proklamiert mit dem Humor den Ausstieg aus der rationalistischen Argumentation, insbesondere aus dem Konsens des Prinzips des auszuschließenden Widerspruchs. Durch den Ausbruch aus dem vernünftigen Sprechen unterläuft Schoppe die Unterscheidung von wahnsinnig und vernünftig. In diesen Zusammenhang gehört die »Anfrage« im »Reichsanzeiger«, in der Schoppe seinen Wahnsinn mit der allmählichen Blindheit des Mathematikers und Ökonomen Büsch vergleicht. Es sei nicht die Frage, »ob« er wahnsinnig sei (denn das sei er sowieso), sondern »wenn« (im Sinne von: wann) der Wahnsinn so stark sei, daß man tatsächlich von einer
Krankheit sprechen könne. Der rhetorische Wahnsinn wird — im Gegensatz zur exoterischen Position im Titan und später in der Vorschule — auf den pathologischen eingezogen (und vice versa). Schoppes Humor besaß also schon immer pathologische Züge, die in der rhetorischen Form verborgen bzw. kanalisiert wurden. Ich kehre noch einmal zu dem Gespräch mit dem halb fiktiven, halb realen Bibliothekar aus Berlin zurück. Im Anschluß an die Geschichte vom »Stachelschweinmann« macht Schoppe noch eine zweite Bemerkung über die Satire: »Noch
schwing’ ich meinen Satyr-Schweif ungebunden und lustig und etwan gegen eine gelegentliche Bremse; wird mir aber ein Buch darangebunden, wie in Polen an den
Kuh-Schwanz eine Wiege, so rüttelt das Tier die Wiege der Leser und gibt Lust, der Schwanz aber wird ein Knecht« (JP 1.3, 696). Die
Satire
dem
Buch-Markt
zu
überantworten,
macht
sie
unfrei
wie
einen
»Knecht«. Im Brief an Albano schreibt Schoppe, daß er die Alternative, »das Federmesser [zu] ergreifen,
[...], um die Welt zu bessern und ihr und sie zu nutzen«
(JP
1.3, 694), nicht wählt. Schoppe möchte die Satire also vor der Funktionalisierung durch das Publikum, Diensten
dem
»Nutzen«,
des »Leser[s]« genommen
Argumentation
bewahren:
werden,
Der
»Satyr-Schweif«
soll nicht in
sondern frei sein. (Eine ganz ähnliche
findet sich bei Herder, der die Geißel der Satire wegwerfen
möch-
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
209
te.)?®® Aus dem gleichen Brief ist bereits bekannt, was dem Menschen Schoppe »göttliche Freiheit« (JP 1.3, 699) verschafft: der Fichtesche Wahnsinn. Sich für das »Universum« oder den »Weltgeist« zu halten, trägt dazu bei, daß »dem Lebensskor-
pion der ganze Stachel weggeschlagen« wird (JP 1.3, 700). Gemeint ist die Abhängigkeit von einer Gesellschaft, in der sich Schoppe wie »ein Floh [...] am dünnsten goldnen Kettlein« fühlt (JP 1.3, 692). Was für den Menschen Schoppe gilt, gilt auch für den Satiriker Schoppe. Dieser leidet nicht an seiner persönlichen Abhängigkeit, sondern an der Abhängigkeit der Satire von der Gesellschaft. Die möchte nämlich aus der Satire einen kritischen Bremsentotschläger machen. Und wie der Mensch kann sich auch der Satiriker Schoppe nur durch den Wahnsinn von seiner Abhängigkeit befreien. Die kritische Funktionalisierung der Satire drückt sich in der oben beschriebenen rhetorischen, genauer: tropischen, Form
aus: Es ist die Differenz von imitatio und
Intention, von zitierter und eigener Rede, die durch die Markierung der imitatio als
uneigentlich (z. B. durch Übertreibung) garantiert wird. Dem Rezipienten wird dadurch deutlich gemacht, daß hinter der satirischen Parodie eine kritische und sozial nützliche Sichtweise der Dinge steckt. Will Schoppe weiter Satiriker bleiben, aber die Funktionalisierung vermeiden, muß er die rhetorische Form seiner Satire verändern — und in seiner Rede die Markierung »uneigentliche Redeweise: unterdrücken. Die neue Redeweise ist, was ihre rhetorische Struktur angeht, mit der Sprache eines pathologisch Wahnsinnigen verwandt. Dieser spricht keine verständliche Sprache, gibt jedoch auch keine Hinweise, daß er uneigentlich spräche. Genauso arbeitet Schoppe. Auch er markiert seine Sprache nicht als uneigentlich — mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, daß sie es ist. Er spielt nicht nur den rhetorischen,
sondern auch den pathologischen Wahnsinn, um die Satire von ihrem »Nutzen« zu
befreien. Dies wird dadurch deutlich, daß Schoppe den Wahnsinn wie eine Handlung beschreibt, die seiner Willkür unterliegt und ihm nicht widerfährt. Er kann z. B. seine
Krankheit voraussehen und Albano seine »nahe Einspinnung und Verpuppung« mitteilen (JP 1.3, 692), da es sich um einen wohlüberlegten Schritt handelt, dessen pro und contra Schoppe im Brief wie im Gespräch mit dem Kahlkopf (JP 1.3, 520)
darlegt. Auch der Irrhaus-Inspektor gibt (von mir für die exoterische Lesart unterschlagene) Hinweise für die Theorie, daß Schoppe nicht so einfach als wahnsinnig einzustufen ist: »Still beobacht’ ich seit Jahren das ganze Haus — die kleinsten Züge hasch’ ich für ein künftiges philosophisches Publikum; und so legt’ ichs sehr ernsthaft auch auf Herrn Schoppen an. Aber nie, mein Herr Graf, nie ertappt’ ich ihn über einem Zuge, der Tollheit versprochen hätte; alle meine englischen und deutschen Werke >98 Vgl. Herder, Adrastea, Suphan XXXII,
196.
210
Viertes Kapitel
darüber lieset er vielmehr und bespricht sich mit mir über die Heilanstalten in Irrenanstalten« (JP 1.3, 775f.).
Zwischen Schoppe und dem Inspektor scheint kein Unterschied zu bestehen. de lesen psychologische TIraktate (vgl. JP 1.3, 777) und diskutieren vernünftig Heilmethoden gegen den Wahnsinn. Deswegen stellt der Inspektor — ähnlich Schoppe in seinem angeblichen Wahnsinn — die Grenze zwischen Wahnsinn Gesundheit in Frage: »Wenn
er kein Narr ist, (sagte seine Frau) warum
Beiüber wie und
zerschlägt
er denn alle Spiegel? — ‚Eben darum,« (versetzte der Inspektor) »ist er aber einer, so ist dein Mann ein noch größerer« (JP 1.3, 776). Das Zerschlagen der Spiegel — eine
metaphorische Handlung zur Befreiung von der Reflexion der Reflexion — ist dem Inspektor kein Zeichen für den Wahnsinn Schoppes, wohl aber für den der Psychiatrie (deren Teil er ist), die eine solche Handlung als wahnsinnig qualifiziert. Weitere Hinweise für die esoterische Lesart finden sich im »Protektorium« aus der Clavis. Ich habe oben referiert, daß der »Herausgeber« über Schoppe sagt, daß in der Clavis die »Spuren seines ursprünglichen Vorsatzes, die Wissenschaftslehre lächerlich
zu machen«, noch überall durchscheinen, obwohl er mittlerweile ein Apologet der
Wissenschaftslehre ıst. Den darauffolgenden Satz habe ich oben, wiederum um die exoterische Lesart stark zu machen, verschwiegen: »Sooft er auch darin zu einem ihm schweren, ernsten, nüchternen Stil ausholt und ansetzt, so stellet er doch bald
wieder (nach seinem kurzweiligen grotesken Naturell) alles in ein so komisches Licht, daß er einfältige Leser ordentlich dumm macht« (JP 1.3, 10198£.).
Der »Herausgeber« schreibt über Leibgeber/Schoppe im Präsens. Zwar soll dieser ein Apologet der Wissenschaftslehre und mittlerweile wahnsinnig sein, gleichzeitig jedoch verfolgt er weiterhin mit dem »schweren, ernsten, nüchternen Stil« komische Absichten. Wahnsinn und Humor sind also nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Einfältige Leser werden deswegen »ordentlich dumm« gemacht, weil sie nun nicht mehr wissen, ob es sich hier um Satire oder Wahnsinn handelt. Genauer gesagt, sie müssen zwei Arten der Satire unterscheiden: eine gewöhnliche, kritische (die Leibgeber/Schoppe
nicht mehr
anwenden
möchte)
und
eine humoristische
neuerer Art, die sich selbst nicht mehr (deutlich) als Satire markiert, aber deswegen den Status der rhetorischen Redeweise nicht verliert.
Der neue Humor wird in dem »Brief«, den Leibgeber/Schoppe an den Biographen »Jean Paul« schreibt, noch einmal ausgeführt: »Nur einen wichtigen Beweis führ’ ich,
obwohl implicite. Indem ich nämlich die Resultate konsequenter und so stelle, daß sie dem sogenannten Menschenverstand eigentlicher echter Wahnsinn sind: so zeig’
ich wahren gebornen Philosophen, was sie aus dem leider so allgemeinen Menschenverstand, der sie ewig vexiert und pfetzt, zu machen haben, sobald er imstande
ist, ein so fest gewölbtes Lehrgebäude zu einem Irrenhaus zu verrücken. Er fällt nun in ihren und meinen Augen gänzlich zu einem negativen Probierstein der Systeme herab, so daß, was er nicht für toll erklärt, uns nicht rein philosophisch ist — nur
Ulusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
211
umgekehrt gilts nicht, und ein Gedanke kann sehr toll sein, ohne darum vernünftig zu sein« (JP 1.3, 1022).
Leibgeber/Schoppe gibt an dieser Stelle zuerst einen Hinweis, daß er nicht wahnsinnig ist.”°® Er macht nicht einfach nur Ernst aus Fichte, in dem Sinne, daß er nun dessen (wahnsinniges) System zu seinem macht, sondern er ist sich bewußt, daß er weiterhin die Methode der Parodie anwendet. Er gibt deutlich zu verstehen, daß auch der in der C/avis zum Ausdruck kommende Wahnsinn (nämlich der des übernommenen
Fichteschen
Systems)
rhetorisch ist: Indem
ich die Resultate
»so stelle,
daß sie dem sogenannten Menschenverstand eigentlicher echter Wahnsinn sind«, lautet seine Formulierung (Hervorhebung von mir).
In einem nächsten Schritt unterläuft er jedoch die Parodie Fichtes und bringt sich wiederum in die Nähe des literalen Wahnsinns. Der hier zitierte »Probierstein« ist der »Probierstein der Wahrheit«
(Kant, Metaphysik der Sitten,
A 10) — Shaftesburys
test by ridicule° — und damit die Methode, die der junge Richter ausgeübt hat. Sie ist stark mit der zynischen Herangehensweise verwandt. Der Satiriker macht sich rhetorisch eine philosophische Position zu eigen und übertreibt sie (macht die »Resultate konsequenter«),
um
sie für den gemeinen
oder gesunden Menschenverstand
als wahnsinnig und lächerlich zu kennzeichnen. Gelingt dies, ist der Beweis geführt, daß diese philosophische Richtung nicht vernünftig ist. Vernünftig kann eine Philosophie demnach nur sein, wenn sie dem gemeinen Menschenverstand nicht lächerlich erscheint.
Fichtes theoretische Philosophie, die erklärtermaßen den »gemeinen Menschenverstand [...] mit der Philosophie entzweit« (Fichte I, 122), fällt also bei dem zest by
ridicule durch. Will Schoppe am »Probierstein« festhalten und dennoch den Idealismus verteidigen, muß er sein eigenes Verfahren ändern. In seinem test ist nicht mehr, wie bei Shaftesbury,
»nicht-lächerlich«, sondern
»wahnsinnig« die notwendige
Bedingung für »vernünftig«. Das ergibt allerdings keinen Sinn mehr, und somit trägt das Verfahren, das der Satiriker anwendet, selbst wahnsinnige Züge. Der Humorist
parodiert sich selbst und seine Methode des gesunden Menschenverstandes. Er zeigt, daß der, der den Wahnsinn aufdecken soll, vom Wahnsinn selbst nicht frei ist. Ein letztes Mal zurück zum Gespräch zwischen Schoppe und dem Bibliothekar aus Berlin, dem bei all diesen humoristischen
der Clavis »ordentlich dumm« 59
Der Wahnsinn
Schoppes
Selbstbezüglichkeiten wie dem Leser
geworden ist. Er zieht einen einfachen Schluß, um
ist also keineswegs
ein Übergangsphänomen
zur Unsterblichkeit
oder die Illusion einer Vernunftgewißheit, wie Matzker, Idiot, S. 87ff. (u. ö.), meint, sondern genau das Gegenteil: eine durchreflektierte Vernunft-Kritik. \ 600 Der Hinweis von Proß, Geschichtliche Stellung, S. 94, und G. Müller, Jean Pauls Asthetik
und Naturphilosophie, $S. 226, daß Jean Paul den test by ridicule als einseitig ablehnt, bezieht sich auf den Generalautor Jean Paul, der bereits zwei Schreibweisen, Empfindsamkeit und Humor,
mit-
einander verbindet. In der reinen Satire findet der test hingegen seine Anwendung, da das Lächerlichmachen die Ausdrucksform des reduktionistischen Materialismus darstellt.
212
Viertes Kapitel
das Gespräch abzubrechen: »Zu solchen Bildern« (sagte der Bibliothekar) »wäre al-
lerdings die gebildete Welt durch keinen Rabener oder Voltaire gewöhnt, und ich erkenne nun selber die Satire nicht für Ihr Fach.« — »O so wahr!« versetzt’ ich, und wir schieden gütlich« (JP 1.3, 696).
Ein glückliches Mißverständnis. Es ist keine Satire mehr, was Schoppe präsentiert, sondern, wie es in der Vorschule heißt, romantischer Humor°®!
oder satura perennis.
Der Selbstbezug führt den Humoristen in eine unendliche Kette von Setzungen und deren Aufhebungen.
Damit nimmt Jean Paul vorweg, was Wolfgang Iser im 20.
Jahrhundert als das Kipp-Phänomen des Humors bezeichnen wird: den fortwährenden Zusammenbruch einander negierender Positionen.°” Jean Paul hat den kalkulierten Widerspruch seiner Philosophie in Metaphern in der Figur Schoppe noch einmal konzentriert: Entweder ist Schoppe (pathologisch) wahnsinnig, dann muß er diesen Wahnsinn nicht spielen, oder er spielt den Wahnsinn — in Form der auch von Jean Paul favorisierten »perennierende[n]« Satire‘ —
sein Leben lang. Damit würde er aber die Unterscheidung von Wahnsinn und Vernunft (endgültig) aufheben. Wie immer in solchen Fällen gibt der Roman
keine
eindeutigen Hinweise für eine der beiden Lesarten.
Was ist romantischer Humor?
In der an Schoppe aufgezeigten neuen Art, Satire zu treiben (die schließlich keine Satire mehr ist), finden wir den Prototyp dessen, was Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik »humour« bzw. das »romantische Komische« nennt.
Es ist sicher die komplizierteste Passage in der ganzen Vorschule. Und sie wird meiner Ansicht nach nur klar, wenn man ihre gedankliche Genese im Titan berück-
sichtigt. Da sie in der Literatur für viel Verwirrung gesorgt hat, zitiere ich sie im vollen Wortlaut: »Wir haben der romantischen Poesie im Gegensatz der plastischen die Unendlichkeit des Subjekts zum
Spielraum gegeben, worin die Objekten-Welt
wie in einem Mondlicht ihre Grenzen verliert. Wie soll aber das Komische romantisch werden, da es bloß im Kontrastieren des Endlichen mit dem Endlichen besteht
und keine Unendlichkeit zulassen kann? Der Verstand und die Objekten-Welt ken601 V. U. Müller übersieht die Reflexion über die Genese des Humors in der Szene. Seine eigene Interpretation, Humor als sokratische Maieutik, wird nicht plausibel (V.U. Müller, Narrenfreiheit, ” 6
Val
Iser, Das Komische, S. 398ff. Die Wendung, die Jean Pauls Entwicklung vom Zyniker
zum romantischen Humoristen genommen
hat, geht dabei an der Entwicklung der Satire, wie sie
z. B. Frye beschrieben hat, vorbei. Jean Paul formt aus den grotesk-komischen, nicht-aggressiven Elementen seines Humors weder eine Satire der hohen Norm noch eine des Tragischen, sondern ein nur auf sich selbst bezogenes Spiel. Vgl. Frye, Analyse, S. 238ff. und 24 1ff. 603 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 5.12.1798, HKA IIl.3, 131.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
213
nen nur Endlichkeit. Hier finden wir nur jenen unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit selber. Wie aber, wenn man eben
diese Endlichkeit als subjektiven Kontrast jetzo der Idee (Unendlichkeit) als odjektiven unterschöbe und liehe und statt des Erhabenen als eines angewandten Unendlichen jetzo ein auf das Unendliche angewandte Endliche, also bloß Unendlichkeit des Kontrastes gebäre, d. h. eine negative? [/] Dann hätten wir den humour oder das
romantische Komische. Und so ists in der Tat; und der Verstand, obwohl der Got-
tesleugner einer beschlossenen Unendlichkeit, muß hier einen ins Unendliche gehenden Kontrast antreffen« (JP 1.5, 124f. — mit Korrekturen nach der Originalausgabe). Die Stelle wird allgemein als dunkel°* oder sogar raunend°® verstanden. Stein des Anstoßes ist der Satz: »Wie aber, wenn man eben diese Endlichkeit als subjektiven Kontrast jetzo der Idee (Unendlichkeit) als objektiven unterschöbe und liehe«.
Die meisten Interpreten streifen diese zentrale Stelle für die Humortheorie nur am Rande oder gar nicht. Nur wenige Autoren wagen erklärende Paraphrasen, die den Satz jedoch bis zur Groteske entstellen.°” Die Mißverständnisse potenzieren sich darüber hinaus bei einer (von der Hanser-Ausgabe übernommenen) Konjektur Berends
(HKA
1.11, 448), der statt »objektiven«
»objektivern« schrieb, obwohl
die
Originalausgaben den Akkusativ verzeichnen.08 Um die in dem Satz beschriebene Vertauschung von Subjektivität und Objektivität zu verstehen,
muß
man
in der
Vorschule zurückblättern.
In einer Fußnote ver-
weist Jean Paul zum besseren Verständnis der Passage auf den Paragraphen 29, wo er 604 Vgl. Berend in HKA IL.11, 448. 605 Vgl. Kommerell, Jean Paul, S. 405.
606 Y, U. Müller, Narrenfreiheit, S. 27, beachtet die Rede von den Kontrasten der Kontraste nicht und glaubt, es ginge lediglich um den Dualismus von Verstand und Vernunft. Ähnlich G. Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 231f. 607 Vischer, Über das Erhabene, S. 210, versteht den Satz in seinen früheren Schriften noch als
Aussage über den »Gegensatz der Welt und der absoluten Idee«; später rekonstruiert der den Satz so: Er geht davon aus, daß der »Humor sich vorstelle, als sey die Idee selbst als Ganzes ein Subject, das im Endlichen mit Bewußtsein um diese Verstrickung sich verstricke« (Vischer, Ästhetik, S. 453).
Die Vorstellung,
daß
der Humor
sich
über
die Idee
lustig machen
könne,
weisen
Berend
und Kommerell entrüstet zurück. »Ein letzter Ernst muß sein« (Berend, Jean Pauls Ästhetik, S. 241)! Der Humor »verherrlicht die Idee am unbedingtesten« (Kommerell, Jean Paul, S. 406)!
Kommerell selbst startet seinerseits einen eigenen Versuch der Rekonstruktion: »Der Humor verteilt dann die Rollen des Weisen und des Narren falsch, indem er dem Weisen (Idee) die Narrenrolle, dem Narren (Endlichkeit) die des Weisen gibt. Aber in den Gebärden richt sich das Hohe
und das Niedrige aus: das Versagen der Idee ist ironisch, ein sich-dumm-Stellen, die Selbstgewißheit des Endlichen ist parodiert, ein sich-groß-Machen« (ders., 405f.). Weder Vischer noch Kommerell erkennen, daß es sich um einen Bezug des Humors auf sich selbst handelt. Sie operieren, verführt durch die Begriffe »Endlichkeit« bzw. »Verstand« und »Unendlichkeit« bzw. »Vernunft«, mit zwei metaphysischen Entitäten, als ob es sich -— Kommerells Wortwahl spricht Bände — um zwei Personen handelte. 608 Vgl. G. Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, $. 231f.
214
Viertes Kapitel
das »Lächerliche« in »drei Bestandteile« zerlegt: Erstens muß ein »Widerspruch« (JP 1.5, 114) zwischen »Mittel« und »Absicht«, etwas zu erreichen (JP 1.5, 109), herr-
schen (objektiver Kontrast); zweitens muß dieser Widerspruch Gegenstand einer sinnlichen Anschauung sein; drittens regt diese sinnlich angeschaute Handlung deswegen zum Lachen an, weil ihr Rezipient einem »Selbst-Trug« unterliegt: »Wir lei-
hen seinem [gemeint ist die handelnde Person] Bestreben unsere [gemeint sind die
Rezipienten] Einsicht und Ansicht und erzeugen durch einen solchen Widerspruch die unendliche Ungereimtheit« (JP 1.5, 110). Das ist der subjektive Kontrast oder genauer: der »verwechselnde[] Kontrast[] der subjektiven und objektiven Maxime« (JP 1.5, 132). Man
glaubt, über den objektiven Kontrast zu lachen, aber es ist der
subjektive, der die Komik herstellt.
Die unendliche Ungereimtheit des subjektiven Kontrasts entsteht nicht nur, wie bisher in der Forschung angenommen,°®
durch das hermeneutische
Prinzip, die
Erfassung der Handlung durch eine andere Person (das ist geschenkt), sondern zusätzlich
dadurch,
daß
der
Leser
so tut,
als ob
der
Handelnde
wüßte,
daß
seine
Handlung unsinnig oder sogar wahnsinnig ist, und sie dennoch vollbringt. Als Beispiel führt Jean Paul Samuel Foote an, in dessen »Indüstrierittern« (JP 1.5, 110)°!0 ein Kaufmann,
der von einem Arzt das Geld für Waren einfordert, von der Diebin
der Waren als wahnsinnig denunziert wird. So kommt es, daß der nichtsahnende Arzt den nichtsahnenden Kaufmann gegen die »fixe Idee« (JP 1.5, 111), daß dieser Geld von ihm zu erwarten habe, behandeln will.
Niemand würde, so Jean Paul, lachen, wenn der angebliche Patient wirklich wahnsinnig sei und sich nur einbildete, er wäre ein Kaufmann. Man lacht jedoch auch nicht nur deswegen, weil man weiß, daß der angebliche Patient vernünftig ist —
das ist der objektive Kontrast. Der subjektive geht darüber hinaus: »Beiden vernünftigen Männern legen wir zu ihren Handlungen durch die Täuschung des Komischen unsere Kenntnis der Betrügerin bei« (JP 1.5, 111). Der Rezipient tut also so,
als ob der Kaufmann wüßte, daß ihm die Rolle des Patienten zugedacht sei (denn das ist die »Kenntnis der Betrügerin«). Wenn
der Kaufmann
(zumindest in den Au-
gen des Rezipienten) aber um diese Rolle weiß und sie dennoch weiterspielt, statt das Mißverständnis macht:
aufzudecken,
kann
Er ist seinerseits ein Komiker,
es nur einen
Grund
der den Wahnsinn
geben,
spielt, um
warum
er das
die Nähe
des
angeblich vernünftigen Menschen zum Wahnsinn darzustellen. Aber dieser angebliche Komiker hat mit der eigentlichen Figur nur noch den Körper gemein. Die Seele ist die des Lesers. In der Komödie, die Jean Paul mit dem subjektiven Kontrast identifiziert (JP 1.5, 115), setzt der Zuschauer sich »selber [...] an eine fremde Stel-
609 Paradigmatisch: Stierle, Komik als Handlung, S. 244ff. 610 Gemeint ist das Stück, The Cozeners, das Jean Paul aus der Ausgabe, Foote, Dramatische Werke, Bd. IV, kannte. Es handelt sich um die Szene IIl.1.
Ulusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
215
le« (JP 1.5, 132). In diesem »Selbst-Trug« wird der komische Mensch zu dem Komiker, der der Rezipient wäre, würde er handeln wie die fremde Figur. Den komischen
Menschen zum Komiker zu machen, ist — nebenbei gesagt — eine Folge des »Toleranzmandat[s]« (JP I.1, 971) des Humors. Da man sich nicht über eine Person lustig machen darf, so lacht man mit ihr über das von ihr angeblich Gespielte.
Die gleiche Technik wendet der Leser — um ein weiteres Beispiel Jean Pauls zu zitieren — bei der Rezeption zeitgenössischer Literatur an: »Daher fliegen [...] ge-
lehrte Anzeiger und Anzeigen und die schwersten Ballen des deutschen Buchhandels, die an und für sich verdrüßlich und ekelhaft hinkriechen, sogleich als Kunstwerke auf, sobald man sich nur denkt (und ihnen also die höhern Motive leiht), daß
sie irgendein Mann
aus parodierendem Spaße hingeschrieben« (JP 1.5, 114).
Macht man die Vertauschung der subjektiven und objektiven Maxime wieder rück-
gängig, ist es der Leser selbst, der im »Andichten« (JP 1.5, 113. Hervorhebung von mir) den ernsten Text zur Parodie umdeutet. Den Gedanken entwickelt Jean Paul bereits in Über die natürliche Magie der Ein-
bildungskraft, dort sogar in für ihn ungewöhnlicher Klarheit: »Auch im Komischen kann man wirkliche Toren, die man handeln sieht, insgeheim zu komischen Akteurs
und zu gut durchgeführten komischen Charakteren idealisieren« (JP I.4, 199). Doch zurück zur Vorschule: Jean Paul rekonstruiert die Geschichte des subjektiven Kontrastes so: In der Antike verbarg er sich lediglich »hinter d[er]
mimische[n]
Nachahmung«: »Auch war das Komische [...] am leichtesten durch die mimische Nachäffung zu geben« (JP 1.5, 115). Gemeint ist die ursprüngliche Form der humoristischen Parodie: das Nachmachen einer Person durch eine andere in einem prototheatralischen Akt, sei es im Satyr-Spiel, sei es in den etruskischen /udiones. »Der Spasmacher in der Wirklichkeit ist der Prototyp der Schauspielkunst« (Ästhetische Untersuchungen
$ 301,
HKA
1.7, 270).
In der Entwicklung von der »mimischen
[...] zur poetischen« Nachahmung (ebd.), vom /udus zur ars, wird die komische Lei-
stung vom Mimen an den Autor°!? abgegeben .°!? Dessen humoristische Leistung besteht in einer Täuschung des Lesers. Bei der Lektüre eines komischen Textes wird der Rezipient durch die »anschaulich[e]« Schilderung (JP I.5, 110) zum »Selbst-Trug« (JP 1.5, 114) gelenkt. Er denkt, daß — 61 Vgl. auch Ästhetische Untersuchungen $ 368 (HKA 11.7, 270): »Wie kan das gelehrte Volk eine Satire fassen, wenn das was es selbst schreibt, andern wie eine klingt?« 612 In den Asthetischen Untersuchungen heißt es: »Der humoristische Karakter ist verschieden von dem humoristischen Autor, ders stets mit Bewustsein ist« ($ 56, HKA 11.7, 243). 613 Die Grenzen zwischen einem komischen Charakter und einem Humoristen sind in der Kon-
zeptionsphase der Vorschule fließend. Jean Paul fragt sich selbst in den Asthetischen Untersuchungen: »Wie kann er [der Humorist] durchaus nicht wissen sollen, daß er einer ist? Anfangs in Kleinigkeiten wohl; aber wenn er nicht ungleiche Menge für ein gleichgestimmtes Heer von Humoristen halten sol, so mus er wohl seinen Unterschied und alles merken« ($ 126, HKA 11.7, 253. Vgl. auch $ 73, HKA 11.7, 245).
216
Viertes Kapitel
wie es in der zweiten Auflage erklärend heißt — der komische Mensch, über den er liest, den Widerspruch selbst habe herstellen »wollen« (JP 1.5, 112), sich des komischen Effekts also »bewußt[]« bedient habe (JP 1.5, 113).
Der subjektive Kontrast des literarischen Humors, in dem eigentlich »recht verständig[e]« Handlungen (JP 1.5, 110) nicht als wahnsinnig, sondern als gewollt wahnsinnig (d. h. als parodistisch) erscheinen, ist die literarische Entsprechung der Handlung des zynischen Satirikers. Auch dieser stellt sich auf der Bühne des Lebens wahnsinnig und gibt gleichzeitig zu verstehen, daß seine Haltung Parodie ist. Dementsprechend gehört der subjektive Kontrast, den Jean Paul für ein historisch variantes Phänomen hält,°!* noch zur zweiten Entwicklungsstufe in dem von Schoppe (im Gespräch mit Merkel) aufgestellten Dreischritt der humoristischen Entwicklung. Er entspricht der Satire Richters, wie er sie ab den Teufelspapieren schreibt. Doch zur neuen Theorie des Humors gehört nicht nur der vom humoristischen Autor hervorgerufene Selbstbetrug des Rezipienten, sondern, als dritte Stu-
fe, der Selbstbezug des Humoristen — im Kunstgespräch mit »Merkel« exemplifiziert am »Stachelschweinmann«, der sich selbst für das größte Ausstellungsstück hält. Der Humorist entdeckt — Jacobis Vorwurf vom performativen Selbstwiderspruch des Idealisten ins Positive wendend -, daß seine philosophische Position und seine humoristische Schreib- bzw. Sprechweise auch ihrerseits Gegenstand der humoristischen Betrachtung sein muß. Genau diesen Selbstbezug versucht Jean Paul in dem zitierten und in der Literatur für so kompliziert gehaltenen Satz aus der Vorschule theoretisch zu begründen bzw. (mit Blick auf den Paragraphen 34) vorzubereiten.
Für meine Rekonstruktion des Paragraphen 31 belasse ich die ursprüngliche Akkusativ-Form. Berends Emendation hat, wie er selbst zugibt, ein neues Problem her-
vorgerufen (daß nämlich die Unendlichkeit schlecht als Kontrast gedacht werden kann,
obwohl
genau
das durch
die Emendation
ausgesagt
wird;
vgl.
HKA
L11,
448), welches das der Ausgangssituation weit übertrifft, während die von Jean Paul autorisierte Schreibweise eine stringente Lesart möglich macht.
Der Paragraph 31 hat ein genau definiertes Ziel. In ihm sollen die zwei bisher entwickelten Theorien der Vorschule miteinander verbunden werden: die des Aumors — also die Verwechslung von subjektiver und objektiver Maxime — und die der Romantik, die durch die »Unendlichkeit des Subjekts« (JP 1.5, 124) gekennzeichnet ist. Ziel der Verbindung ist dementsprechend
das »romantische Komische«
(JP L5,
125) oder die »komische [...] Romantik« (JP 1.5, 132).
Für die Verbindungsarbeit müssen die zwei Theorien zuerst terminologisch anschlußfähig gemacht werden, in diesem Falle durch die Konstruktion einer (später aufzulösenden) Dichotomie. Während die Romantik für das Unendliche steht, steht 614 Vol. JP 1.5, 115, wo Jean Paul der Antike nur den objektiven Kontrast zubilligt.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
217
der Humor für die »Endlichkeit« bzw. für das »Kontrastieren des Endlichen mit dem Endlichen« (JP 1.5, 124).
Die Verbindung selbst wird im Paragraphen 31 mit Mitteln des Humors hergestellt: die Anwendung der Verwechslung von objektiver und subjektiver Maxime auf
die romantische Unendlichkeit. Der Grundgedanke des in der Forschung so umstrittenen Satzes ist also der, daß man
über die romantische Unendlichkeit genauso
lacht wie über Sancho Pansa. Man erinnere sich: Über diesen lacht der Leser, weil er
erstens mehr weiß (und so den objektiven Kontrast zwischen der Situation und den Vorkehrungen, sich aus ihr zu befreien, sehen kann) und zweitens dieses Mehrwissen
dem Akteur virtuell zur Verfügung stellt. Genau das gleiche passiert mit der romantischen Unendlichkeit. Auch hier hat der Leser ein Mehrwissen.
Er weiß besser als die Romantiker — das ist der objektive
Kontrast —, daß der romantische Verlust der Grenzen der »Objekten-Welt« (JP 1.5, 124) lächerlich ist. Er sieht genau, daß kaum einen Fußbreit unter dem Sancho-
Pansa-Subjekt der Romantiker der harte, aber sichere Boden der Endlichkeit beginnt. Das ist die alte Dichotomie von Spiritualismus/Empfindsamkeit und Materialismus/Humor, wie man sie aus den Satiren und den frühen Romanen kennt, nur
daß hier die Empfindsamkeit durch die Romantik ersetzt wurde. Der subjektive Kontrast besteht nun darin, daß der Leser dieses Mehrwissen über
die Endlichkeit der Romantik selbst zur Verfügung stellt, es ihr unterschiebt — und zwar so, daß er und alle anderen glauben, daß es ihr eigenes Wissen ist. Das besagt
der Halbsatz »diese Endlichkeit als subjektiven Kontrast jetzto der Idee (Unendlichkeit) als objektiven [Akkusativ!] unterschöbe und liehe« (JP 1.5, 124f., mit KasusKorrektur gemäß der Originalausgabe).
Durch diesen »Irick: wird das Romantische nicht nur lächerlich gemacht, sondern kann — zumindest in der Illusion der Leser — sintendiert«: komisch werden. Die Leser können nämlich jetzt nichts mehr anderes tun, als die Romantik — wie schon San-
cho Pansa — für einen Parodisten ihrer eigenen (Sprach-)Handlungen zu halten. Das entspricht dem zweiten Schritt in der Geschichte der Satire, wie er oben anhand des
Gesprächs zwischen Schoppe und dem Bibliothekar rekonstruiert wurde. Wir sind nun beim Projekt der Verkehrung der »alte[n] Theologie« angelangt: bei der Ausmessung der »unendliche[n]« Welt nach dem Maßstab der »kleinen«, endlichen (JP
1.5, 129). Mittels Parodie wird das materialistisch-humoristische Moment zuungunsten des spiritualistisch-romantischen ausgespielt.
Die Verbindung der zwei Theorien wird in der Vorschule symmetrisch gedacht. Es soll nicht nur der Humor auf die romantische Subjektivität, sondern auch die ro-
mantische Subjektivität auf den Humor angewandt werden. Jean Paul zielt nicht nur auf das »romantische Komische« (JP 1.5, 125) ab — also das Komische, das romantisch geworden ist —, sondern zugleich auf eine »komische [...] Romantik« (JP 1.5
132). Das heißt: Auch die Regeln, die die Romantik als »Regentin« beherrscht,
218
Viertes Kapitel
nämlich die der »Subjektivität«, sollen oder müssen aufs Komische angewandt wer-
den: »Denn wenn das Komische im verwechselnden Kontraste der subjektiven und objektiven Maxime
besteht; so kann
ich, da nach
dem
Obigen
die objektive eine
verlangte Unendlichkeit sein soll, diese nicht außer mir gedenken
und setzen, son-
dern nur in mit, wo ich die subjektive unterlege« (JP 1.5, 132). Nach des
dem
»Obigen«
subjektiven
spielt,
Kontrastes,
so
die
meint
der
romantische
Leser
in
der
notwendigen
»Unendlichkeit«
ihren
Illusion
Kontrast
zur
Endlichkeit nur. Aber wer ist der Leser, der diese Unterstellung herstellt? Er ist natürlich ein Subjekt — und der unterlegte Kontrast geschieht in ihm und seiner Unendlichkeit. Zwar funktioniert also die Verbindung von Humor und Romantik so, daß der Unendlichkeit Endlichkeit parodistisch unterlegt wird, dies kann aber seinerseits nur in der subjektiven Unendlichkeit stattfinden. Und der — so könnte man jetzt hinzufügen — muß wiederum Endlichkeit unterlegt werden usw. usw. Hier findet sich wieder die unendliche Dynamik aus Schoppes Lügner- bzw. Wahnsinnsparadoxon: Von dem Vorwurf des Wahnsinns, den der Satiriker seiner romantischen Zeit macht,
kann er sich — als romantischer Zeitgenosse — natürlich nicht ausneh-
men. Er muß sich also selbst parodieren und diese Parodie wieder parodieren usw. usw. Wie Schoppe »seine persönlichen Verhältnisse auf sein komisches Theater« zog (JP 1.5, 132), also den Wahnsinn
der Fichteschen Philosophie an sich selbst dar-
stellte, so konnte er sich auch von der Parodie zweiter Ordnung,
die sich an die er-
ster anschloß, nicht ausnehmen. In den Begriffen der Vorschule ausgedrückt: »Da im Humor das Ich parodisch heraustritt«, fordert es die »Parodie dieser Parodie« geradezu heraus (JP 1.5, 135). Und diese Dynamik verändert den noch fix gedachten »unendliche[n]« Kontrast der subjektiven Maxime (JP 1.5, 110) zu veine[lm] ins Unendliche gehenden Kontrast« (JP 1.5, 125; zweite Hervorhebung von mir), der nur in der
Verbindung von Romantik und Humor möglich ist. Und noch eine letzte Parallele zu Schoppes dritter Stufe der Satire wird markiert: Die Vorschule spricht vom »Humor, der ungleich der Persiflage den Verstand verlässet, um vor der Idee fromm
niederzufallen«
(JP 1.5, 131). Der Abfall vom
Ver-
stand entspricht dem Schoppeschen Wunsch nach der Entinstrumentalisierung der satirischen Geißel durch Selbstreflexion der eigenen Sprechsituation. Diese neue Stufe wird nun metaphysisch nobilitiert. Um welche Ideen es sich handelt, vor denen der Humor (nach seiner eigenen Theorie) »nicht auf die Knie, sondern auf beide Kniescheiben« (JP 1.5, 140) fällt, wird in einer Klammer zum Ausdruck gebracht:
z. B. um die »Idee einer unendlichen Gottheit« (JP 1.5, 131). In dem Moment, in
dem der vormals rein irdische und materialistische Humor sich einer Position enthält, d. h. nicht mehr hinter der imitatio seiner tropischen eigentliche (weltverbessernde) Intention zum Vorschein bringt, drückt irdische, das Göttliche aus. Mit diesem Übergang zum Unendlichen
verständigen Sprache eine er das Übersoll jedoch
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
219
nicht, wie Ritter (der Richter zum Kronzeugen seiner Theorie macht) meint,°!? das Unendliche in die endliche Verstandeswelt integriert werden, sondern das Unendli-
che über das Spiel mit dem Endlichen aufscheinen. Der leerste Ausgang, die Ununterscheidbarkeit der menschlichen Widersprüche, ja letztendlich die Bedeutungslosigkeit des humoristischen Sprechens wird als Signum für eine zweite Welt genommen, in der die irdischen Widersprüche und Bedeutungsunterschiede bedeutungslos geworden sind.
Jean Paul und die Romantiker
Mit dieser durch den Titan gestützten Lesart des Humors der Vorschule läßt sich die immer wieder in der Literatur untersuchte Analogie°!° zwischen dem Jean Paulschen Humorbegriff und der frühromantischen Ironie zum ersten Mal genau betrachten. Der Unterschied in der Begrifflichkeit ist dabei nicht relevant. Schon Novalis kommentiert Schlegel mit den Worten: »Schlegels Ironie scheint mir echter Humor zu sein. Mehrere Namen sind einer Idee vorteilhaft« (Novalis II, 428f.).°'7
Es läßt sich anhand der Briefe und der Ästhetischen Untersuchungen Jean Pauls leicht belegen, daß zwischen
ihm
und den Romantikern,
d.h.
Friedrich Schlegel,
Novalis und Tieck, in der Entstehungszeit von Titan, Vorschule und Flegeljahren ein
reger intellektueller Austausch herrschte.°!8 Nach einer Phase der polemischen und satirischen Auseinandersetzung zwischen Jean Paul und den von ihm so genannten Schlegeliten (in der Jean Paul Schlegel »windeierhafte Poetik« vorwarf),°!? entwikkelt sich im Jahre 1799 ein enger (wenn auch immer ambivalent bleibender) Kon615 Vgl. Ritter, Über das Lachen, S. 87-90. 616 Vgl. Berend, Jean Pauls Ästhetik, S. 240, der (wie später G. Müller, Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik, S. 74) Ähnlichkeiten zwischen Jean Pauls Humor und Schlegels Ironie
in der Selbstparodie sieht, das Moment des Paradoxalen jedoch nicht berücksichtigt; Wellek, Geschichte der Literaturkritik, S. 362, der Humor und Ironie aufgrund ihrer (nicht näher bestimmten) »Bewußtheit« als verwandt ansieht; Strohschneider-Kohrs, dem Jean Paulschen Humor den »unaufteilbaren Zwiespalt«, frühromantischen
Ironie
abspricht,
da sie die
Romantische Ironie, S. 149f., die den »unvollendbaren Bezug« der
Selbstbezüglichkeit
in der
Vorschule
nicht
erkennt,
und Behler, Ironie, S. 110, der Verbindungslinien zwischen frühromantischer Ironie und Jean Paul-
schem Humor zieht und gleichzeitig den Humor auf die »Gattung des Komischen« reduziert, da er das perennierende Moment nicht berücksichtigt. 617 Zu Schlegels Ironie und zur Abgrenzung vom Humor vgl. Pikulik, Frühromantik, S. 106ff. 618 Vgl. Berend, Jean Pauls Ästhetik, S. 19-51. Seine detaillierte und quellengestützte Rekonstruktion der Annäherung zwischen Jean Paul und den Frühromantikern ist in der Forschung unwidersprochen geblieben. Wiethölter, Illuminationen, S. 36, die pauschal behauptet, Jean Paul habe Zeit seines Lebens die Prinzipien der Frühromantiker bekämpft, ignoriert die bei Berend gegebenen Belege. Ihre Argumentation, daß Jean Paul ein »Praktiker: gewesen sei (S. 58), dem die Theorien der Frühromantiker ein Dorn im Auge gewesen seien, übersieht die philosophischen Ambitionen Jean Pauls zu dieser Zeit. 619 Jean Paul, Brief an Christian Otto, 15.8.1798, HKA 111.3, 83f.
220
Viertes Kapitel
takt. Jean Paul kann seinen Briefpartnern Besuche von und bei Novalis, Tieck°?° und schließlich sogar Friedrich Schlegel,°?! mit dem er beim ersten Treffen einein-
halb Tage am Stück disputiert, melden. Trotz der nicht nur schmeichelhaften Auseinandersetzung Schlegels mit Jean Paul im Brief über den Roman ist im Jahre 1800 die geistige Nähe zwischen Jean Paul und dem frühromantischem Kreis so groß, daß man schon munkelt, jener habe sich »zur Clique geschlagen«, nicht zuletzt deswegen, weil Jean Paul trotz latenter Distanz den »Schlegeliten« bestätigt, daß sie »den
rechten poetischen Geist« hätten,°?? auch wenn er an anderer Stelle hinzufügt, daß dies nicht ausreiche, um gute Literatur zu machen.°? Im Jahre 1801 flaut der persönliche
Kontakt,
bedingt durch
die geographische
Ferne
(Jean
Paul siedelt nach
Meiningen über), ab. Allerdings äußert sich Jean Paul während der Arbeit an Vorschule, Titan und Flegeljahren über alle Frühromantiker (zumindest teilweise) positiv. Gleichzeitig versucht er, zwischen dem Jena-skeptischen Jacobi und den Romantikern einen Konsens zu erreichen‘? — persönlich und auf der Ebene der (bzw. seiner) Theorie.
Schlegels Ironie-Konzept ist von seinen philosophischen Überlegungen nicht zu trennen. Nachdem er sich im Jahre 1796 von der Grundsatzphilosophie, insbesondere der Fichtes, abgewandt hatte, warf er ihr lautstark vor, nicht ohne »Zirkel« (Schlegel XVII, 510, Nr. 58) auszukommen und auf einen infiniten Regreß hinauszulaufen. Fichtes oberster Grundsatz,
daß das Ich sich selbst setze, müsse entweder
auf andere Sätze aus der praktischen Philosophie zurückgreifen‘? oder gehe für seine Begründungen, da, wie Jacobi es im Spinoza formuliert hatte, »jeder Erweis« immer »etwas schon Erwiesenes zum voraus« (Spinoza? 124) setze, ins Unendliche. Im
Gegensatz zu Jacobi möchte Schlegel diesen unendlichen Regreß nicht durch die »unmittelbare[] Gewisheit« im »Glauben« (Spinoza? 115) beenden (Schlegel II, 77),
sondern durch das Prinzip des Wechselgrundsatzes bzw. Wechselerweises. Gemeint ist, daß sich zwei Grundsätze, XVIH,
ein theoretischer (»Das Ich setzt sich selbst«; Schlegel
36, Nr. 193) und ein praktischer (»das Ich soll sich setzen«; ebd.), wechselsei-
tig stützen: »In meinem System ist der letzte Grund wirklich ein Wechselerweis. In 620 Jean Paul, Brief an Christian Otto, 28.9.1799, HKA II.3, 233, und 25.3.1800, HKA 11.3, 311. a hear Paul, Brief an Friedrich von Oertel, 29.4.1800, HKA IN.3, 327f., und Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 29.5.1800, HKA 111.3, 338. 622 Jean Paul, Brief an Christian Otto, 10.12.1800, HKA IIl.4, 30, und Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 2.1.1801, HKA IIl.4, 45. Die Ambivalenz wird in den Asthetischen Untersuchungen
$ 472 (HKA 11.7, 289) deutlicher: Jean Paul will »gegen und für Schlegel« schreiben. Ähnlich äuBert sich Jean Paul $ 493 (HKA II.7, 292).
623 Asthetische Untersuchungen $ 138 (HKA 11.7, 254): »Wie wenig die richtige Tendenz und Theorie allein hilft, seh ich an den Schlegeln«. 624 Vgl. z.B. den Vermittlungsversuch in 24.1.1800,
HKA
IIl.3, 282, und
13.8.1802,
625 Vgl. Frank, Einführung, S. 879.
Jean
HKA
Paul,
Ill.4,
168.
Brief
an
Friedrich
Heinrich
Jacobi,
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
221
Fichte’s ein Postulat und ein unbedingter Satz«°° (Schlegel XVII, 521, Nr. 22).°27 Oder an anderer Stelle: »Die [Philosophie] muß mit unendl[ich] vielen Sätzen anfangen, d[er] Entstehung nach (nicht mit Einem)« (Schlegel XVIH, 26, Nr. 93). Fällt der erste Grundsatz Fichtes, so kann sich das Ich in seiner Absolutheit
nicht mehr durch eine ursprüngliche intellektuelle Anschauung seiner selbst gewiß werden, sondern nur als Idee (im kantischen Sinne). Es ist ein Vakuum entstanden,
das nach Füllung ruft, die aber nie endgültig gegeben werden kann.°?® Ist aber das absolute Ich bzw. das Absolute nicht mehr Ausgangspunkt, sondern Ziel der philosophischen Erkenntnis, wird aus dem unendlichen Regreß, dem Fichtes Philosophie ausgesetzt war, ein (positiv konnotierter) unendlicher Progreß: »Das Deduciren hat nirgends ein Ende[,] soll nirgends ein Ende haben« (Schlegel XVIH, 31, Nr. 129).
Dieser Prozeß besteht aus dem ins Unendliche gehenden Spiel aus Selbstschöpfung und Selbstvernichtung: »Sinn (für eine besondere Kunst, Wissenschaft, einen Menschen,
usw.)
Selbstschöpfung
ist dividierter und
Geist;
Selbstvernichtung«
Selbstbeschränkung, (Schlegel
also
ein
Resultat
von
Il, 149, Nr. 28). Die Form
des
Progresses wird von Schlegel mit der Ironie gleichgesetzt. Auch sie wird als ein »stetelr] Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« (Schlegel II, 172, Nr. 51; vgl. auch Schlegel II, 217, Nr. 305)2? beschrieben.
Eine Anwendung dieses ironischen Spiels findet sich im Monolog des Novalis, in dem die Aussagen über die Sprache auf die Sprechsituation bezogen, negiert und auf
höherem Niveau neu entfaltet werden. Der Text beginnt mit einem ironischen Paradox: Das Sprechen, »blos [...] um zu sprechen«, führt zu den »herrlichsten, originellsten Wahrheiten«, das Sprechen »von etwas Bestimmten« hingegen zu dem »launichste[n] und verkehrteste[n] Zeug«. In einer zweiten Stufe reflektiert der Sprecher seine
Sprechsituation.°%°
Auch
er hat,
indem
er eine Theorie
gegen
willentliches
Sprechen von etwas Bestimmtem vorgetragen hat, etwas Bestimmtes »sagen wollen« (Hervorhebung von mir), also müßte es »albern[]« sein.°°! In einer dritten Stufe ne-
giert er diese Selbstnegation
626 Mit
»Postulat
und
[...]
dadurch,
unbedingtelm]
daß
Satz«
er sein Sprechen-Wollen
sind die zitierten Grundsätze
Frank, Unendliche Annäherung, S. 865ff. 627 Zur Entwicklung der Schlegelschen Ablehnung der Grundsatzphilosophie
auf den
gemeint.
Vgl.
(ab 1796) vgl.
Frank, Unendliche Annäherung, S. 569-593. Wiethölter, Illuminationen, S. 41, geht noch davon aus, daß die frühromantische Ästhetik und Philosophie auf dem obersten Grundsatz Fichtes auf-
baut. Daher kann sie auch keine Annäherung zwischen den Frühromantikern Kritiker Jean Paul annehmen. 628 629 nie, S. 630
Vgl. Frank, Unendliche Annäherung, S. 873. Zum Zusammenhang von Selbstschöpfung/Selbstbeschränkung 67f. Vgl. Strohschneider-Kohrs, Romantische Ironie, S. 252f.
61 Vgl. ebd., S. 262£.
und dem Fichte-
und Ironie vgl. Behler, Iro-
222
Viertes Kapitel
»Sprachtrieb« (alle Zitate: Novalis II, 672f.) zurückführt,°? in dem, so kann man
unterstellen, willentliches Sprechen und dessen Aufhebung zusammenfallen.3? Auch bei Schlegel besteht die Selbstvernichtung aus einer Rückbindung der Methode an die Sprechersituation: In den Fragmenten zur Litteratur und Poesie notiert er: »Ironie ist überwundene Selbstpolemik und unendliche Satire im alten Sinne« (Schlegel VI, 127, Nr. 508). Und in einer Randbemerkung findet sich: »Ironie =
Selbstparodie?« (Schlegel VI, 152, Nr. 783).°%* Die romantische Ironie unterscheidet sich von den reinen Tropen, Polemik, Satire und Parodie, durch die Anwendung auf die eigene Sprechsituation und das Weitertreiben dieser Selbstbezüglichkeit in die Unendlichkeit. Schlegel spricht in diesem Zusammenhang auch von »Wechselparodie« oder der »potenzirten Parodie« (Schlegel VI, 128, Nr. 519).°° Der Effekt dieses unendlichen
Weitertreibens von Setzung,
Rückbezug,
Neuset-
zung usw. beschreibt Schlegel im Lyceumsfragment 108: »Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie
zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für Ernst, und den Ernst für Scherz halten« (Schlegel II, 160). Die Potenzierung der Parodie, d. h. die Parodie der Parodie, setzt die Dichotomie von Ernst und Scherz außer Kraft, da die durch das tropische Spre-
chen als ernsthaft gesetzte eigentliche Position hinter dem Scherz wiederum Opfer des Scherzes wird — und so weiter und so fort.
Nicht zuletzt durch den Rückbezug der tropischen Sprechweise auf sich selbst entsteht, wie im »Lügner«, eine semantische Paradoxie. Im Sinne einer unendlichen Annäherung an das Absolute ist diese Paradoxie jedoch nicht nur geduldet, sondern
auch erwünscht. Im 48. Lyceumsfragment heißt es: »Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist« (Schlegel II, 153). Die Pole, die durch
die Paradoxie
beschrieben
werden,
bilden
»kein[en]
wahre[n]
Dualismus,
sondern nur eine Wechselbestimmung« (Schlegel XVIIL, 301, Nr. 1286). Ihr Verhältnis wird durch den Begriff des »Oscilliren[s]« (Schlegel XVII, schrieben,
das nach
notwendigen
Gesetzen
fortschreitet.°®° Der
77, Nr. 592) be»Ausweg«
aus der
Aporie ist, »sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden« (Schlegel II, 164, Nr. 26).
632 Vgl. ebd., S. 264f. 633 Vgl. Frank, Einführung, S. 355f. 634 Vgl. Strohschneider-Kohrs, Romantische
Ironie, S. 34f., die behauptet,
daß Schlegel ledig-
lich »das von ihm bedachte Prinzip der Ironie auch mit anderen literar-technischen Ausdrücken [...] bezeichnen« möchte. In einer Auseinandersetzung mit Allemann, Ironie, S. 57, versucht sie, das Moment des Lächerlichen zugunsten einer philosophischeren Lesart der Ironie zu eliminieren (S. 31). Es ist jedoch nicht einzusehen, warum nicht mit Mitteln der literarischen Strategie des Lä-
cherlichen philosophische Ziele verfolgt werden können. 635 Vgl. Dierkes, Ironie, S. 261. 636 Zum Begriff der Oszillation vgl. Behler, Ironie, S. I6f.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
223
Die unendliche Annäherung an das Absolute im Spiel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung führt jedoch nicht dazu, daß man seiner habhaft werden könnte: »Die Nichterkennbarkeit des Absoluten«, so Schlegel, ist eine identische Irivialität«
(Schlegel XVII, 511, Nr. 64). Erst das »freywillige Entsagen des Absoluten«, wie es Novalis formuliert (Novalis II, 269f., Nr. 566), also erst die Aufgabe ambitionierter Versuche, das Absolute zu erkennen, und die Hingabe an das Wechselspiel von Set-
zen und Negieren läßt, wenn schon keine Darstellung, dann jedoch einen Aufweis, eine »enlöeuEıg d[er] Unendlichkeit« (Schlegel XVII, 128, Nr. 76) zu.”
Natürlich hat der Humorist (bei) Jean Paul keine Philosophie des Wechselerweises. Aber er bedient sich der literarischen Mittel der Schlegelschen transzendentalen Ironie für den Humor und nimmt die philosophischen Implikate mit in Kauf. Voraussetzung für eine »Renegation« Jean Pauls zur von Jacobi verachteten Reflexion der
Reflexion — denn nichts anderes ist die Selbstbezüglichkeit des Humors - ist die Tatsache, daß der von Schlegel gewiesene Weg des transzendentalphilosophischen und transzendentalpoetischen Schreibens aufgrund der Wechselerweise nicht auf einer Philosophie des absoluten Ich, die für Jean Paul Welt- und Gottesverlustes impliziert, aufbaut. Es lassen sich fünf Analogien zwischen der frühromantischen Ironie und dem Jean
Paulschen Humor feststellen: (1.) Der Rückgriff auf die tropischen Schreibstrategien Satire, Parodie, Polemik.
Schlegels Rückgriff auf die Iropik als Instrument der Philosophie (z. B. Schlegel VI, 127, Nr. 508) findet sich auch bei Jean Paul wieder. Wie aus dem Gespräch Schoppes mit »Merkel« deutlich wurde, leitet Jean Paul den unendlichen Humor
von der zynischen Satire ab, die mit den Mitteln der Parodie arbeitet. (2.) Die Übergipfelung der tropischen Schreibstrategien durch die Anwendung auf die eigene Sprechsituation. Auch Jean Paul arbeitet mit »Selbstparodie« (Schlegel VI, 152, Nr. 783) und »potenzirte[r] Parodie« (Schlegel VI, 128, Nr. 519). Er definiert den Rückbezug auf sich
selbst über die satirische Anwendung der Parodie auf den Satiriker und seine eigene Sprache. Indem Schoppe nicht nur ein offensichtliches Spiel mit dem Wahnsinn treibt, sondern auch den pathologischen Wahnsinn spielt, parodiert er das von ihm
selbst angewandte humoristische Verfahren des rhetorischen bzw. parodistischen Wahnsinns.
In
den
AÄsthetischen
Untersuchungen
($
72)
bezieht
Jean
Paul
die
Selbstreflexion des Humors direkt auf Schlegel: »Schlegel spricht von einer Poesie der Poesie. Es giebt einen Scherz des Scherzes, wenn man die altägliche Ironie, Spas
p. wieder in eine Ironie p. bringt« (HKA 11.7, 245).
637 Vgl. dazu Frank, Einführung, $. 300ff.
224
Viertes Kapitel
(3.) Die Aufhebung der Dichotomie von Ernst und Scherz.
Schlegels »harmonisch Platte[n]« (Schlegel I, 160), die dem Einreißen der Grenzen von Ernst und Scherz nicht folgen können, entsprechen bei Jean Paul die »einfältige[n] Leser« der Clavis, die bei der Ununterscheidbarkeit von Wahnsinn und Humor, von komischen und ernsten Intentionen, »ordentlich dumm« (JP 1.3, 1019)
werden, oder der »Bibliochekar« im Gespräch mit Schoppe, der nach dessen Anspielung auf die Selbstparodie (Episode vom »Stachelschweinmann«) zu Recht und zu Unrecht »die Satire« nicht für Schoppes »Fach« erklärt (JP 1.3, 696). (4.) Die positive Konnotation der aus der Selbstbezüglichkeit entstehenden semantischen Paradoxie.
Schoppes Humor ist oben unter Zuhilfenahme des Lügner-Paradoxons analysiert worden. Die Selbstanwendung des humoristischen Verfahrens führt zu einer semantischen Paradoxie, die den Satz vom auszuschließenden Widerspruch‘
und das ter-
tium non datur außer Kraft zu setzen scheint. Schoppe könnte Schlegels paradoxalen Imperativ (Schlegel XVII, 123, Nr. II.3) unterschreiben. Auch er erreicht den Ausweg aus dem Paradox über einen Perspektivwechsel vom Endlichen auf das Unendliche (wo sich die im Endlichen parallel verlaufenden Linien schneiden). (5.) Die Inanspruchnahme der »Erttöei&is der Unendlichkeit« (Schlegel XVII, 128, Nr. 76) unter gleichzeitiger Aufgabe ihrer Darstellbarkeit. Auch der Humor kann den Aufweis der Unendlichkeit leisten, indem er ihre Dar-
stellung aufgibt. Er erfreut sich »an seinen Widersprüchen und an Unmöglichkeiten«, weil er so den Verstand und die Endlichkeit verlassen kann, »um vor der Idee«
— die unendlich ist — »fromm niederzufallen« (JP 1.5, 131).
Mit dem Herausstreichen der Analogien soll nicht gesagt werden, daß Schlegelsche Ironie und Jean Paulscher Humor deckungsgleich wären. Wichtige Aspekte des Ironie-Begriffs Schlegels sind hier gar nicht erwähnt worden: die Arabeske, die Illu-
sionszerstörung durch die Parekbase etc. Hier ließen sich Analogien herstellen, diese werden jedoch von Jean Paul nicht thematisiert. Weitere Problemfelder der frühro-
mantischen Ironie, der Urbanitas-Rekurs und das Verhältnis von Fragment und System, sind für den Jean Paulschen Humor nicht relevant.
Auch läßt sich der Humor nicht auf die Ironie reduzieren. Jean Paul nimmt — im Gegensatz zu Schlegel — seinen Ausgang
im Lächerlichen.
Und
so ist der Humor,
auch wenn sein Kontrast ins Unendliche geht, immer eine Betrachtung eines Menschen oder einer Theorie, die zum Lachen anregt. Weiterhin ist mit dem Humor als
satura perennis ein soziales Moment berücksichtigt, das in Schlegels »Inhumanität« (Ästhetische Untersuchungen
$ 376,
HKA
11.7, 278)
keinen
Platz findet. »Weil vor
der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts« (JP 1.5, 125), kann der Humor, statt
auszugrenzen, integrieren: »Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet 638 Vgl. zum Satz vom auszuschließenden Widerspruch Dierkes, Ironie, S. 260.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
225
nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt«
(JP
1.5,
125).
Bei Jean Paul geht die perennierende Satire mit einer »toleranten Vernunft« und einem »weichen Herzen«°°? einher — Eigenschaften, die für die Personalsatire nicht gelten. Darüber hinaus ist Jean Pauls Humor,
wie oben
ausgeführt,
nicht fest mit
der ihr zugeordneten ontologischen Position verbunden. Materialismus und Fortschreibungen werden nur des komischen Effektes wegen, nicht aus Wahrheitsgrün-
den eingesetzt. Dies und die Tatsache, daß der Jean Paulsche Humor nur partiale Anwendung
findet,
markiert
eine
deutliche
Differenz
zu
Schlegel.
Während
für
Schlegel die Ironie die höchste Form der Philosophie ist — »bis zur Ironie« (Schlegel I,
172, Nr. 51
u. Schlegel II, 217,
Nr. 305)
lauten wiederkehrende
Formulierun-
gen“ — und das Paradoxe zur einzig möglichen Form der philosophischen Darstellung wird (»jede nicht paradoxe @ [Philosophie] ist sophistisch«; Schlegel XVII, 123, Nr. II1.3), ist der Humor
für Jean Paul — auch in seiner romantischen Form —
nur der eine Teil einer Wechselwirkung
mit einer durch Jacobi revolutionierten
empfindsamen und ernsten Schreibweise. In dieser Schreibweise gibt es, exemplifiziert vor allem an der Figur Albano, Einzelpositionen, die durchaus Anspruch auf
absolute Geltung erheben. Schlegels »Ironie der Ironie« ist in der (von Schlegel bereits wieder ironisch reflektierten) Gefahr, »nicht wieder aus der Ironie heraus[zulkommen«, weswegen man
ihrer »überdrüssig« (alle Zitate: Schlegel II, 369) werden kann. Jean Paul sieht diese Gefahr deutlich. Er läßt die »Poesie der Poesie« nur für den Humor gelten (Ästheti-
sche Untersuchungen $ 72, HKA 11.7, 245) — ansonsten hält er sie für einen »Zeuge[ln] der innern Armuth oder Blindheit« (Ästhetische Untersuchungen $ 109, HKA 11.7, 251). Er fordert dementsprechend, daß der Humor immer nur auf »das Mark
des hohen Ernstes geimpft[]« ist. »Eine Satire über alles ist gar keine, sondern Unsinn, weil jede Verachtung etwas Geachtetes als Maßstab, jedes Tal einen Berg vor-
aussetzt« (JP 1.4, 724). Die Abwechslung zwischen der Pietät des Alltags und der Umkehrung dieser Ordnung im Karneval°*! steht bei Jean Paul nicht zur Disposition.
Diese Einschränkung ist auch deswegen wichtig, weil die Selbstreflexion des Humoristen auf seine eigene Sprechsituation, wie gesagt, nicht weit von der, durch Jacobi und Jean Paul bekämpften, Reflexion der Reflexion im Sinne Fichtes entfernt ist.°* Auch wenn Jean Paul für den romantischen Humor in Analogie zu Schlegel 639 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 5.12.1798, HKA IIL3, 131.
640 Zu dieser Formulierung vgl. Behler, Ironie, S. 66. 641 Vgl. Bachtin, Probleme der Poetik, S. 145.
642 Zum Zusammenhang von Reflexion der Reflexion und ironischem Oszillieren bei Schlegel vgl. Behler, Ironie, S. 68ff.
226
Viertes Kapitel
keinen obersten Grundsatz, sondern das Nebeneinander sich widersprechender Positionen zuläßt, so ist es für ihn dennoch wichtig, die von Jacobi als welt- und gott-
los bezeichnete Reflexion der Reflexion®* nur einem Teilbereich seiner Denk- und Schreibweisen zuzuordnen. Jean Paul war sich allerdings — Teilbereich hin oder her — seiner Schuld, von der
rechten Philosophie abzuweichen, bewußt. Dafür spricht nicht nur die Formulie-
rung, daß Leibgeber/Schoppe von den Frühromantikern »verdorben« sei (JP 1.3, 1019)
bzw.
die »partiale Verfinsterung«
der »Herren
Schlegel«
aus dem
»einge-
mischten Leibgeberianismus entspring[e]« (JP 1.3, 1030, Fußnote), sondern auch die extreme Chiffrierung, mit der Jean Paul die Beschreibung des Humors Vorschule versieht. Zu ihren Opfern
kann man
nicht nur Jacobi, sondern
in der
auch die
wissenschaftliche Rezeption rechnen. Kehren wir noch einmal zu Schoppe zurück, da sich an seiner Figur die Genese des Jean Paulschen Humors am deutlichsten ablesen läßt. Wie sich die empfindsame Position — siehe Albanos "Iraum — mit ihren eigenen Mitteln restauriert und aus dem Quasi-Idealismus der schönen Seele ein Realismus des hohen Menschen erwächst,
so greift auch der materialistische Humor auf seine eigenen Bestände zurück. Die Weiterentwicklung zum unendlichen Humor
ist kein Wechsel der Methode,
son-
dern des Anwendungsbereichs. Der romantische Humorist arbeitet wie sein Vorgänger mit dem Mittel der parodistischen Satire, nur mit dem Unterschied, daß er nun auch sich selbst als ihren Gegenstand betrachtet. Mit dieser »Selbstvernichtung« wird auch der alte Materialismus vernichtet.
Aber vielleicht ist Schoppe ja gar nicht wahnsinnig? Die Entscheidung, wie man Schoppe versteht, impliziert eine Entscheidung, wie man den ganzen Roman versteht. Der Titan kann — wie seine Vorgänger — auf zwei verschiedene, sich ausschlie-
ßende Arten gelesen werden. Entscheidet man sich für die empfindsame Lesart, fällt nicht nur der materialistische,
sondern
auch
der unendliche
Humor
unter den
Bannstrahl. Der empfindsame Albano ist konsequenterweise einer der ersten, der seinen Freund Schoppe für wahnsinnig erklärt und aus der Gruppe der Vernünftigen
ausschließt.
Er weiß,
warum.
Entscheidet
man
sich nämlich
für die humori-
stisch-esoterische Lesart des Titan, ist alle dort exemplifizierte Vernunft vor der ueVeEıs am Wahnsinn nicht mehr sicher. Man ahnt, daß es, wie es Bayle bei der
Auseinandersetzung mit Diogenes als Grundsatz formuliert, »keinen größern Geist giebt, in dessen Charakter sich nicht ein wenig Narrheit einschleicht.«°* Alle Moral wird fragwürdig, da sie nur noch Teil eines in die Unendlichkeit gehenden Kontrastes Ist.
643 „Wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln« soll sich die Poesie »vervielfachen«, schreibt Schlegel; Schlegel II, 182f., Nr. 116; Hervorhebung von mir. 644 Bayle, Wörterbuch, Bd. II, 310.
Illusion, Kunst und Staatskunst oder die Rhetorik des Wahnsinns
227
Auch an dieser Stelle läßt sich festhalten, daß die Revitalisierungen und Dynamisierungen von Theorie-ordnenden Metaphern der Geschichte des Romans Leben verleihen. Durch den Umstand, daß Jean Paul die (von ihm noch einmal variierten) Leit-Metaphern
der Fichte-Kritik, Traum
und Wahnsinn,
und
ihre Implikationen
(Idealismus/Materialismus-Identität) beim Wort nimmt, generiert er die Handlungsvorgaben für Roquairol, Albano und Schoppe. Die unauflösliche Differenz in der Umsetzung (während die Kritik für die Geschichten von Roquairol und Albano ernstgenommen wird, wird sie für Schoppe spielerisch invertiert) garantiert, daß Jean Paul ein diffiziles Problem seiner Ästhetik lösen kann: die Beibehaltung seiner
zwei Schreibweisen — Humor und Empfindsamkeit — und die Ablösung ihrer durch Jacobi fragwürdig gewordenen epistemischen und moralischen Prämissen. Jean Pauls Spiritualismus ist durch Jacobis Philosophie des Dialogischen der Gefahr des idealistischen Solipsismus entgangen. Die dazugehörige Schreibweise, die Empfindsamkeit,
hat dementsprechend,
um einen Ausdruck Bachtins zu verwen-
den, ihre »einzige ptolomäische Welt«°“ verloren und an Pluralität gewonnen. Dementsprechend bedarf es nicht mehr des Materialismus der humoristischen Schreibweise, um Dialogizität und Pluralität der Sprachen herzustellen. Die humoristische Schreibweise kann also auf diese Prämisse verzichten und sich ganz auf das Prinzip der satura perennis konzentrieren. Die Verabschiedung der schönen Seele und des grotesken Humors macht deutlich, daß durch die Auseinandersetzung mit der Iranszendentalphilosophie das ursprüngliche anthropologische Erkenntnisinteresse der frühen Romane verschoben wurde. Jean Paul spürt im 7ztan nicht mehr dem epistemischen, moralischen und ästhetischen Zusammenspiel von Leib und Seele nach. Doch die Leitdichotomie ist nicht verschwunden,
sie hat sich nur ins Theoretische verwandelt und dort den
Brückenschlag zur Moderne vollzogen. Jean Paul führt in seinem Kardinalroman zwei Theoriemodelle vor, die mitnichten gestorben sind, sondern Wiedergänger er-
zeugt haben. Die Philosophie des Glaubens nimmt viel von den heute diskutierten Ansätzen des (Neo-)Pragmatismus vorweg, Roquairols und Schoppes
Philosophie
der Selbstbezüglichkeit bereitet den Boden der Dekonstruktion und des Relativismus.
645 Bachtin, Die Ästhetik des Worts, S. 178.
EPILOG
Das labile Gleichgewicht von Empfindsamkeit und Humor aus dem Siebenkäs und die Verlagerung des Humors in den Subtext im Titan sind nicht die letzten Worte in dieser Sache. In seinen weiteren Romanen
und Romanentwürfen
dreht Jean Paul
nach und nach das Verhältnis von Empfindsamkeit und Humor um, bis der Humor
— wie in den frühen Satiren — wieder die Hauptlesart der Texte darstellt und die empfindsame Komponente entscheidend abgeschwächt ist. In einem Brief an Jacobi vom 16.8.1802 schreibt Jean Paul, daß er die »Objeküvität«, die er — als literarische Adaption des philosophischen Realismus Jacobis — vorher ins empfindsame Projekt des Titan gelegt hatte, nun (wieder) in eine »komische Biographie«,*° nämlich die Flegeljahre, legen möchte. In dem Moment, in dem dem Humor wieder der realistische Zugriff auf die Wirklichkeit zugestanden wird, wird auch seine übrige Funktion gestärkt. Bei dem Doppelgänger-Paar Walt und Vult hat darüber hinaus gegenüber ihrem Vor-Doppelgänger-Paar, Siebenkäs und Leibgeber, eine Verschiebung stattgefunden. Während
im Siebenkäs Empfindsamkeit
und Humor,
ernsthafter Haupttext
und
humoristische Parodie, als gleichwertige Partner angesehen werden, wird in den Flegeliahren die Position des Humoristen Vult aufgewertet. Über die Liebe der schönen Seelen Walt und Wina (JP 1.2, 722; 1074) mitsamt ihres metaphysischen Ballastes muß sich Vult nicht mehr versteckt unter der Maske einer möglichen Parodie lustig machen.
Vielmehr
kann
er in aller Deutlichkeit
empfindsame Technik des »gewaltsame[n]
sagen,
was
Herauskehren[s]
er von
ihr hält:
Die
und Umstülpen[s]
des
Inneren zum Äußern« — das Schlüsselcharakteristikum schöner Seelen - ist für ihn nichts anderes als »Extravasata«, d. h. das Austreten von Blut- und Lymphflüssigkeit (JP 1.2, 1053). Auch Vult vertritt das bekannte Programm der materiellen Reduktion wie seine Vorgänger, mit dem Unterschied, daß er es wieder an der Textoberflä-
che präsentieren darf. Noch expliziter kann der Arzt Dr. Katzenberger werden. Seine Leidenschaft, sind die — im Sinne Bachtins — grotesken Gegenstände und Personen: »achtbeinige|l] Doppel-Hasen« (JP 1.6, 129) und »Mißgeburten« (JP 1.6, 234). Mit der Wieder-
aufwertung des Karnevalistisch-Grotesken geht auch das explizite Bekenntnis zum 646 Jean Paul, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, von
mir.
16.8.1802,
HKA
IIL.3, 167f. Hervorhebung
230
Epilog
Zynismus als philosophisch untermauerte Schreibweise des Autors einher (vgl. JP 1.6, 82ff.). Der empfindsame Part ist ob einer solch massiven Raumeinnahme des Grotesken
und Humotistischen zur Lächerlichkeit verdammt.
Der Kurort, an dem
die Handlung spielt, ist nicht mehr Unter-, sondern nur noch Spießerparadies, und der empfindsame Dichter Theudobach alias Nieß wird von Katzenberger, der die Dichter nur zum »physiologische[n] und anatomischen Zwecke«, d. h. zum »Spaße« (JP 1.6, 99), liest, als ein oberflächlicher Empfindsamkeitsheuchler entlarvt (JP 1.6,
229ff.). Auch im Komet wird das empfindsame Programm explizit desavouiert. Nikolaus verkennt die Wirklichkeit, die viel zu weit von der »Musenberghöhe seiner Phantasie« entfernt ist, und sich selbst, der er sich als »ungemein vergrößert« wahrnimmt
(JP 1.6, 602). An der Krankheit der phantastischen Selbstüberschätzung und Wirk-
lichkeitsverfehlung litten übrigens auch Siebenkäs und Natalie, wie sich im nachhinein, d.h. in den Entwürfen zur Weiterführung des Siebenkäs, herausstellt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der himmlische Körper — die ätherische Liebe der beiden schönen Seelen — als Neuauflage des traditionellen bürgerlichen Sozialkörpers. Die Ehe mit Natalie hat für Siebenkäs recht schnell verblüffende Ähnlichkeiten mit der mit Lenette; auf den »Keimen der Liebe« finden sich mehr und mehr die »Keime des Zanks« (7 539).
Der verstärkt irdische Zug im Alterswerk mag den Leser versöhnen, dem bei der Lektüre der (zumindest größtenteils) empfindsamen Romane, von der Unsichtbaren Loge bis zum
Titan, ob ihrer halsbrecherischen metaphysischen Prämissen ein wenig
schwindelig geworden ist. Man sollte jedoch die epistemische und moralische Metaphysik hinter dem empfindsamen Programm nicht vorschnell verurteilen. Ihre Überschraubtheit ist notwendig, um eine große Angriffsfläche für den Humor darzustellen. Gleichzeitig bedarf es, gerade weil die Gedankenfiguren vom himmlischen Körper auf Erden oder dem Selbstaufbau des Körpers so abenteuerlich sind, ebenso abenteuerlicher Rechtfertigungsstrategien und Umsetzungen. Und diese stellen das Herzstück der Romane dar. Es ist gerade der vormodern wirkende (mit einem Wort: unglaubliche) Glaube an Gott und die Unsterblichkeit, der, wenn er in die Öffentlichkeit der Literatur eintritt, eine moderne Ästhetik zu seiner Umsetzung und Ver-
teidigung auf den Plan ruft.
ZITIERWEISEN
In Zitaten werden Kapitälchen, Versalien, Fettdruck und Sperrungen der Originale in Kursiv-Druck überführt. Hervorhebungen des Verfassers sind ebenfalls kursiv, jedoch als solche gekennzeichnet. Kanonisierte Texte werden, soweit üblich und möglich, Ausgaben-invariant zitiert
(z.B. Kants Schriften nach den A- und B-Auflagen, die Monadologie nach Paragraphen etc.). Zur Bezeichnung der Primär- und Sekundärliteratur verwende ich Namen und Kurztitel, häufig verwandte Primärtexte werden mit Siglen im Haupttext wiedergegeben.
SIGLEN
7/K 7R
Jean Paul: Siebenkäs, hg. von K. Pauler, München zahl bezeichnet die zweite Auflage).
1991 (die Hoch-
ABHANDLUNG
Johann Georg Büsch: Abhandlung von dem Geldumlauf in anhaltender Rücksicht auf die Staatswirtschaft und Handlung, 2 Bde., Hamburg, Kiel 1780.
ALLWILL
Friedrich Heinrich Jacobi: Allwill. J. U. Terpstra, Groningen 1957.
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Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise, hg. von A. Ko-
Textkritische Ausgabe,
hg. von
senina, Hildesheim et al. 22000 (= ND der Ausgabe Leipzig 1772). CS
Jean-Jacques Rousseau: Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übers. u. hg. von H. Brockard/E. Pietzcker, Stuttgart ?1986 (zitiert nach Büchern, Kapiteln und Seiten).
EGK
Georg Ernst Stahl: Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper (u. a. Texte), übers. u. hg. von B. J. Gottlieb, Leipzig 1961.
EXZERPTE
Götz Müller: Jean Pauls Exzerpte, Würzburg 1988.
FICHTE
Johann Gottlieb Fichte: Werke, hg. von I. H. Fichte, Berlin 1971 (= ND der Ausgabe Berlin 1843f. und 1845f.).
FICHTE-BRIEF
Friedrich Heinrich Jacobi: Brief an Johann Gottlieb Fichte, in: Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. von R. Lauth/H. Jacob, Stuttgart-Bad Cannstadt 1962ff., Bd. 1.3.
GOETHE
Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von E. Trunz, München 1977.
GW
Friedrich Heinrich Jacobi: Werke, hg. von F. Roth/F. Darmstadt 1976 (= ND der Ausgabe Leipzig 1815).
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HKA
Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, E. Berend/G. Müller, Weimar, Berlin 1927fk.
hg.
HUME
Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus, in: ders., Werke, hg. von F. Roth/F. Köppen,
von
Darmstadt 1976 (= ND der Ausgabe Leipzig 1815), Bd. II. JP
Jean Paul: Werke, hg. von N. Miller, 10 Bde., München 1959-1985.
234
JULIE
Siglen
Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die neue Heloise. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fufge der Alpen, hg. von D. Leube,
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Gellius). KRV LEIBNIZ
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (zitiert nach erster und zweiter Ausgabe mittels A und B). Gottfried
Wilhelm
Leibniz:
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frz.-dtsch.,
übers. u. hg. von H. H. Holz, Frankfurt a.M. 1996. LOGE; LOGR
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Ernst Platner: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1791 (zitiert nach Paragraphen).
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Friedrich Heinrich Jacobi: Auserlesener Briefwechsel, hg. von F. Roth, 2 Bde., Bern 1970 (= ND der Ausgabe Leipzig 1825-1827). Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, 5 Bde., hg. von G. Fricke/H. G.
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Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, in: ders., Werke, hg. von K. Hammacher/W. Jaeschke, Hamburg 1998ff., Bd. I.1 (die Hochzahl bezeich-
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Primärliteratur Abbadie, Jacques: LArt de se Connoitre soy-m&me, ou la Recherche des Sources de la Morale, La
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(= ND
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1740). Brucker, Jacob: Kurze Fragen aus der philosophischen Historie. Von Anfang der Welt, biß auf die Geburt Christi. Mit ausführlichen Anmerckungen erläutert, Ulm 1731£f. — Historia critica Philosophiae. A Mundi Incunabulis ad nostram Aetatem deducta, Bd. 1, Leip-
zig 1742 (°1757). Büsch, Johann Georg: Geschichte meiner Hypochondrie, in: ders., Vermischte Abhandlungen, Hamburg
1777, S. 575-622.
236
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