Schlank! Ein Körperkult der Moderne 3515092293, 9783515092296

"Mehr Menschen als das Schwert tötet der Fraß", meinte der griechische Arzt Galenus vor 2000 Jahren. Und er ha

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German Pages 424 [419] Year 2008

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Inhaltsverzeichnis
Einführung
Erster Teil: Entwicklungsstränge der modernen Diätkost
Das magisch anziehende Dreieck: Naturheilbewegung, Vegetarismus, Lebensreform
Was verstand man im 19. Jahrhundert unter »Naturheilung«?
Rousseaus Naturismustheorie als weltanschauliches Tableau für Naturheiler und Lebensreformer
Die Wiederentdeckung von Hydrotherapie und Diätetik sowie die Folgen
Zur Genese bürgerlicher Vegetarismusvereine
Die »Kurpfuscherfrage« oder die erbitterte Schlacht zwischen »Schulmedizinern« und »Naturärzten«
Gruppierungen und Entwicklungstendenzen der Lebensreformbewegung
Von der Theorie zur Praxis: Die Siedlungsgemeinschaft Ascona auf dem Monte Verità
Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität
Zeitgenössische Vorstellungen über die Notwendigkeit einer totalen Ernährungsumstellung
Die Haigsche Harnsäureverschlackung als Basis der Diätvorschläge
Der erste Schritt vom vegetarischen Kochen zur »Vollwertkost«
Die verschiedenen Vollkornbrotsorten
Rohköstler oder »Kohlrabiapostel«: Die Sonnenlichtlehre Bircher-Benners und die Erfindung des »Müslis«
Die Mesotrophie und Vollwertlehre Kollaths
Die Nährsalzbewegung: Die Theorie der diätetischen Blutentmischung oder die »Dysämielehre« Lahmanns
Bergs »Heinzelmännchen« unter den Nährstoffen
Röses Ideal eines mineralstoffreichen Trinkwassers und einer basenüberschüssigen Nahrung
Der »Fletcherismus« oder die amerikanische Kaukultbewegung
Mikkel Hindhedes Ideen im Brennpunkt der heiß diskutierten »Eiweißfrage«
Die »Null-Diät« als neues Fastenrezept
Die Entwicklungsgeschichte des Reformhauses
Die Reformwarenproduktion
Reaktionen der Ernährungswissenschaften auf die Diätreformbestrebungen
Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib«
Diättherapien der alten Griechen und ihre Entwicklung bis zur Neuzeit
Strategien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts: Flemyng, Jaeger, Graefe, Wadd
»Leichte« Nahrung – was ist das?
Zur Geschichte der ärztlichen Entfettungsmethoden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die »Bantingkur« nach Harvey und Vogel
Brillat-Savarin, Gollmann und die französische Entfettungstradition
Ebsteins Ratschläge zur Bekämpfung des Übergewichts
Die modischen Milchkuren
Die »neue Banting-Cur« nach Wiel
Oertels Rezepte zur Gewichtsreduzierung mittelst Wasserentziehung
Die Schweningerkur
Die Entfettungsmethode nach Demuth
Zur Problematik der Messung des Normalgewichts
Rosenfelds Kritik an den Entfettungskuren
Das Vordringen der Kalorienlehre in die Entfettungstherapie
Ewalds Diätotherapie
Andere ärztliche Therapien gegen das Übergewicht
Schilddrüsenpräparate und »Entfettungsmittel«
Entfettungsbehandlungen mit Elektrizität
Die Mineralwasser- bzw. Brunnenkuren in Karlsbad, Marienbad und Homburg
Die wachsende Systematisierung und Differenzierung der Diätkost
Exkurs: Führte Diät halten schon damals zu Essstörungen?
Anorexia (Magersucht)
Adipositas (Fettsucht)
Bulimia nervosa (Fress- und Brechsucht)
Zweiter Teil: Zur Renaissance einer ganzheitlichen Körperkultur
Zu Bewusstsein und Geschichtedes menschlichen Körpers
Definitorische Anmerkungen zum Körpervokabular
Körpergeschichte im Umriss
Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder« zum modernen Gesundheits- und Körperbewusstsein
Die Lichtluftbadebewegung
Von der naturheilkundlichen Lichtlufttherapie zur Nacktkultur
Die Einrichtung von Freiluftstätten
Die internationale und deutsche Kleiderreformbewegung
Die Auseinandersetzung mit den Eigenschaften der Woll- und Baumwollstoffe
Die Erfolge der Jaeger-Wolle
Künstlerkleider
Der Einfluss der Frauenbewegung auf die Kleiderreform
Die neue Gesundheitskleidung der »Wandervögel« und anderer Jugendgruppen
Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Reformmode
Die Pariser Reformmode und die beginnende Versportlichung der Kleidung
Die deutsche Sport- und Spielbewegung
Körperkulturbewegungen und ihre Initiatoren
Anfänge und Ausbildung der Heilgymnastik
Gymnastik als neuer ästhetischer Lebensstil
Die Delsartik oder das neue dynamische Element in der Gymnastik
Die Rhythmusbewegung: Émile Jaques-Dalcrozes Harmonielehre
Vom Nackttanz zum Ausdruckstanz
Gymnastik und Tanz in der Gartenstadtsiedlung Hellerau bei Dresden
Die angelsächsische »Fitness«-Bewegung: Der Kraftsport als Heiltherapie
Die Schlankheitsgymnastik in ihren Absichten und Wirkungen
Fazit
Kulturelle Wandlungsprozesse als Motor des modernen Schlankheitskults
Erste naturheilkundliche Diät-, Fasten- und Fitnessratgeber
Lebensreformer als Hersteller und Vertreiber von Diätwaren und Fitnessgeräten
Reformdiätkost kontra »Fleischdiäten« als Entfettungsmittel
Zur Begriffsgeschichte des Körperbewusstseins
Körperkulturbewegungen als Genesebedingungen des Schlankheitskults
Lebensreformer als Initiatoren der Fitness- und Wellnessbewegung
Diätkost und Körperkultur im Dienste eines neuen Schönheitsideals
»Der Krieg gegen den Speck« oder »Fettphobia« – Soziosymptome der modernen westlichen postindustriellen Welt?
Literaturverzeichnis
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Schlank! Ein Körperkult der Moderne
 3515092293, 9783515092296

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Sabine Merta Schlank! Ein Körperkult der Moderne

Sabine Merta Schlank! Ein Körperkult der Moderne

Franz Steiner Verlag 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09229-6 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

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Inhaltsverzeichnis Einführung ..............................................................................................9 Erster Teil: Entwicklungsstränge der modernen Diätkost Das magisch anziehende Dreieck: Naturheilbewegung, Vegetarismus, Lebensreform .......................... 19 Was verstand man im 19. Jahrhundert unter »Naturheilung«? 19 – Rousseaus Naturismustheorie als weltanschauliches Tableau für Naturheiler und Lebensreformer 21 – Die Wiederentdeckung von Hydrotherapie und Diätetik sowie die Folgen 23 – Zur Genese bürgerlicher Vegetarismusvereine 35 – Die »Kurpfuscherfrage« oder die erbitterte Schlacht zwischen »Schulmedizinern« und »Naturärzten« 45 – Gruppierungen und Entwicklungstendenzen der Lebensreformbewegung 50 – Von der Theorie zur Praxis: Die Siedlungsgemeinschaft Ascona auf dem Monte Verità 54

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität .............................................................................. 59 Zeitgenössische Vorstellungen über die Notwendigkeit einer totalen Ernährungsumstellung 59 – Die Haigsche Harnsäureverschlackung als Basis der Diätvorschläge 64 – Der erste Schritt vom vegetarischen Kochen zur »Voll-

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Inhalt

wertkost« 67 – Die verschiedenen Vollkornbrotsorten 69 – Rohköstler oder »Kohlrabiapostel«: Die Sonnenlichtlehre Bircher-Benners und die Erfindung des »Müslis« 74 – Die Mesotrophie und Vollwertlehre Kollaths 78 – Die Nährsalzbewegung: Die Theorie der diätetischen Blutentmischung oder die »Dysämielehre« Lahmanns 80 – Bergs »Heinzelmännchen« unter den Nährstoffen 83 – Röses Ideal eines mineralstoffreichen Trinkwassers und einer basenüberschüssigen Nahrung 86 – Der »Fletcherismus« oder die amerikanische Kaukultbewegung 88 – Mikkel Hindhedes Ideen im Brennpunkt der heiß diskutierten »Eiweißfrage« 91 – Die »Null-Diät« als neues Fastenrezept 95 – Die Entwicklungsgeschichte des Reformhauses 101 – Die Reformwarenproduktion 106 – Reaktionen der Ernährungswissenschaften auf die Diätreformbestrebungen 111

Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib« ...................................123 Diättherapien der alten Griechen und ihre Entwicklung bis zur Neuzeit 123 – Strategien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts: Flemyng, Jaeger, Graefe, Wadd 129 – »Leichte« Nahrung – was ist das? 131 – Zur Geschichte der ärztlichen Entfettungsmethoden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 133 – Die »Bantingkur« nach Harvey und Vogel 137 – Brillat-Savarin, Gollmann und die französische Entfettungstradition 139 – Ebsteins Ratschläge zur Bekämpfung des Übergewichts 142 – Die modischen Milchkuren 144 – Die »neue Banting-Cur« nach Wiel 145 – Oertels Rezepte zur Gewichtsreduzierung mittelst Wasserentziehung 147 – Die Schweningerkur 151 – Die Entfettungsmethode nach Demuth 153 – Zur Problematik der Messung des Normalgewichts 156 – Rosenfelds Kritik an den Entfettungskuren 160 – Das Vordringen der Kalorienlehre in die Entfettungstherapie 163 – Ewalds Diätotherapie 170 – Andere ärztliche Therapien gegen das Übergewicht 172 – Schilddrüsenpräparate und »Entfettungsmittel« 174 – Entfettungsbehandlungen mit Elektrizität 177 – Die Mineralwasser- bzw. Brunnenkuren in Karlsbad, Marienbad und Homburg 179 – Die wachsende Systematisierung und Differenzierung der Diätkost 191

Exkurs: Führte Diät halten schon damals zu Essstörungen? ........ 196 Anorexia (Magersucht) 198 – Adipositas (Fettsucht) 203 – Bulimia nervosa (Fress- und Brechsucht) 205

Inhalt

Zweiter Teil: Zur Renaissance einer ganzheitlichen Körperkultur Zu Bewusstsein und Geschichte des menschlichen Körpers .................................................................215 Definitorische Anmerkungen zum Körpervokabular 215 – Körpergeschichte im Umriss 220

Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder« zum modernen Gesundheits- und Körperbewusstsein ................248 Die Lichtluftbadebewegung 249 – Von der naturheilkundlichen Lichtlufttherapie zur Nacktkultur 251 – Die Einrichtung von Freiluftstätten 259 – Die internationale und deutsche Kleiderreformbewegung 265 – Die Auseinandersetzung mit den Eigenschaften der Woll- und Baumwollstoffe 272 – Die Erfolge der Jaeger-Wolle 276 – Künstlerkleider 281 – Der Einfluss der Frauenbewegung auf die Kleiderreform 282 – Die neue Gesundheitskleidung der »Wandervögel« und anderer Jugendgruppen 286 – Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Reformmode 287 – Die Pariser Reformmode und die beginnende Versportlichung der Kleidung 288 – Die deutsche Sport- und Spielbewegung 294 – Körperkulturbewegungen und ihre Initiatoren 298 – Anfänge und Ausbildung der Heilgymnastik 300 – Gymnastik als neuer ästhetischer Lebensstil 304 – Die Delsartik oder das neue dynamische Element in der Gymnastik 307 – Die Rhythmusbewegung: Émile Jaques-Dalcrozes Harmonielehre 315 – Vom Nackttanz zum Ausdruckstanz 319 – Gymnastik und Tanz in der Gartenstadtsiedlung Hellerau bei Dresden 323 – Die angelsächsische »Fitness«-Bewegung: Der Kraftsport als Heiltherapie 328 – Die Schlankheitsgymnastik in ihren Absichten und Wirkungen 340

Fazit ...................................................................................................... 363 Kulturelle Wandlungsprozesse als Motor des modernen Schlankheitskults 363 – Erste naturheilkundliche Diät-, Fasten- und Fitnessratgeber 366 – Lebensreformer als Hersteller und Vertreiber von Diätwaren und Fitnessgeräten 371 – Reformdiätkost kontra »Fleischdiäten« als Entfettungsmittel 371 – Zur Begriffsgeschichte des Körperbewusstseins 374 – Körperkulturbewegungen als Genesebedingungen des Schlankheitskults 375 – Lebensreformer als Initiatoren der Fitness- und Wellnessbewegung 377 – Diätkost und Körperkultur im

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Inhalt

Dienste eines neuen Schönheitsideals 379 – »Der Krieg gegen den Speck« oder »Fettphobia« – Soziosymptome der modernen westlichen postindustriellen Welt? 390

Literaturverzeichnis ........................................................................... 395 Zeitschriften 395 – Quellen und Literatur 396

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Einführung »Mehr Menschen als das Schwert tötet der Fraß.«1 Dieses Zitat des griechischen Arztes Galenus stammt aus einem Schlankheitsführer der 1920er Jahre und gilt heute mehr denn je. Fast jeder dritte Deutsche leidet unter Übergewicht, 15 bis 20 % der Kinder unter Fettsucht. Zu fettes Essen und Bewegungsarmut sind zur Gesundheitsgefahr Nummer eins geworden. Die gesundheitlichen Folgen chronischer Überernährung sind vor allem Bluthochdruck, HerzKreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus und Krebs. Etwa ein Drittel der Ausgaben im Gesundheitssystem entfällt auf ernährungsbedingte Krankheiten. Die Übergewichtsbekämpfung ist damit zur neuen »sozialen Frage« der modernen Wohlstandsgesellschaften geworden. Gesundheitliche Überlegungen und der Wunsch nach einer schlanken, sportlichen Körpergestalt lassen die Verbraucher zu Diätkost, Reformwaren, »Bio«-Kost und »Light«-Produkten greifen und treiben sie in die Fitness-Studios. Vor allem Frauen versuchen durch eine »Diät« ihre Figur zu verbessern bzw. ihr Gewicht zu vermindern. Was aber versteht man eigentlich unter »Diät halten«? Darunter wird im Allgemeinen ein gezügeltes Essverhalten, d. h. eine verminderte Nahrungszufuhr verstanden. Diese semantische Beschränkung auf eine kalorienreduzierte Kost erfuhr der Diät-

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Einführung

begriff jedoch erst in den 1920er Jahren. In dieser Untersuchung wird das Wort »Diät«, das sich von dem griechischen dìaitá (rechte Lebensweise) ableitet, wie in der Ernährungsreformbewegung des 19. Jahrhunderts in seiner ursprünglichen Bedeutung zur Bezeichnung einer alternativen, von dem üblichen Ernährungsstil abweichenden Lebensweise benutzt, da historisch nachweisbare Diätkostformen bereits existierten, ehe die moderne Kalorienlehre propagiert wurde. Heute ist die Diätkost aus dem Alltagsleben kaum noch wegzudenken. Die Diät- und Reformwarenindustrie und die Fitness-Branche verzeichnen Zuwachsraten wie nie zuvor. Die Schlankheitswelle hat breite Teile der Bevölkerung erfasst. Aber über den historischen Ursprung und die Entwicklungszusammenhänge der Diätkost und Schlankheitsmode ist wenig bekannt. Hier existieren vielfach lediglich vage Vermutungen, etwa dass moderne Diät-, Reform- und Reduktionskost »Erfindungen« neuester Zeit seien und das Resultat eines extremen Schlankheitsideals, dessen Geschichte allenfalls bis zum übertriebenen Modeideal der 1960er Jahre zurückreiche, das durch das berühmte englische Fotomodell Twiggy »verkörpert« wurde. Das Hauptziel des vorliegenden Buches wird es daher sein, zu dieser Entwicklung erstmals verlässliche historische Grundlagen zu liefern. Drei Hauptfragen werden im Mittelpunkt stehen: 1. Wann lassen sich erste wirkliche Vorläufer der modernen Diätkost, die sich zum einen im Laufe der Zeit unter dem Einfluss eines neuen Schlankheitskultes zu einer Reduktionskost entwickelten, zum anderen aber auch nie ihren ursprünglichen hygienischen Nutzen als Heilkost verloren, historisch nachweisen? 2. Wann lassen sich erste hygienische Körperideen aufspüren, die zu einer allmählichen Bewusstseinsänderung in Bezug auf den Körper führen konnten und das Schönheitsideal eines schlanken, jugendlich-sportlichen Körpers mitgeprägt haben? 3. Wie eng waren verändertes Ernährungsbewusstsein (Ernährung und Gesundheit) und Körperbewusstsein (Ernährung und physische Ästhetik) seit dem späten 19. Jahrhundert miteinander verknüpft?

Einführung

Zu diesen Fragekomplexen sind in den vergangenen Jahrzehnten bereits verschiedene Veröffentlichungen aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen erschienen. Sie sollen hier einleitend kurz genannt werden: Erste Einführungen in die Problemfelder Naturheilkunde und Lebensreform des 19. und 20. Jahrhunderts bieten aus medizinhistorischer Perspektive die Bücher von Karl Eberhard Rothschuh (»Naturheilbewegung, Reformbewegung und Alternativbewegung«), Cornelia Regin (»Selbsthilfe und Gesundheitspolitik: Die Naturheilbewegung im Kaiserreich«) und Martin Dinges (»Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich ca. 1870 – ca. 1933«). Hinzu kommen die beiden sozialhistorischen Dissertationen von Wolfgang R. Krabbe (»Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform«) und Judith Baumgartner (»Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel«) sowie eine grundlegende Studie der Berliner Soziologin Eva Barlösius zur Sozial- und Organisationsstruktur der Lebensreformbewegung (»Naturgemäße Lebensführung: Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende«). All diese Arbeiten berühren das Thema Schlankheitskult aber nur am Rande und schöpfen die Quellen nicht aus. Zu den theoretischen Vorstellungen und praktischen Konzepten über Gesundheit, Diät und Körperästhetik um die Jahrhundertwende in Deutschland gibt es im Gegensatz zum englischsprachigen Raum noch keine zusammenfassende Monographie. Es existieren bisher lediglich vier internationale Studien zur Schlankheitsthematik: das Buch »Fat-History« von Peter N. Stearns, das die amerikanischen Verhältnisse mit der französischen Ess- und Körperkultur vergleicht, die Arbeit »Culture and weight consciousness« des englischen Psychiaters Mervat Nasser, die die soziokulturellen Hintergründe von Essstörungen erforscht, die Studie »Paradox of Plenty« von Harvey Levenstein über den historischen Zusammenhang von Gesundheit und Ernährung in Amerika sowie das Buch »Dick oder dünn? Körperkult im Wandel der Zeit« über die französischen Verhältnisse. Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf die deutschen Verhältnisse übertragen, da die deutsche Naturheilbewegung des 19. Jahrhunderts mit ihrer Breitenwirkung nicht erfasst wurde.

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Einführung

In der übrigen vorliegenden Literatur werden die Themen Diät und Schlankheit entweder zu oberflächlich oder nur aus speziellen Blickwinkeln, meist aus psychologischer, medizinischer, soziologischer oder frauengeschichtlicher Perspektive, betrachtet, ohne sie vor ihrem allgemeinen historischen Hintergrund zu reflektieren. Aus psychologischer Sicht behandelt beispielsweise Tilmann Habermas in mehreren Veröffentlichungen die kulturhistorischen Entstehungsbedingungen von seelisch bedingten Essstörungen. Weitere Untersuchungen zur Geschichte der Essstörungen und Ernährungskrankheiten stammen etwa von Jacobs Brumberg, Walter Vandereycken und dem Berliner Psychologen Christian Klotter. Der Lübecker Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt bietet höchst Lesenswertes in seinem Überblick zur »Kulturgeschichte der Körpererfahrung«, stellt aber nicht die notwendige Verbindung zwischen Diätetik und Körperkult her; die Amerikanerin Naomi Wolf kritisiert dagegen die »erbarmungslose« industrielle Geschäftemacherei mit dem modernen Schlankheitsideal der westlichen Welt. Der Sozialwissenschaftler Thomas Kleinspehn beschränkt seine Untersuchung »Warum sind wir so unersättlich?« auf einen psychoanalytischen Forschungs- und Interpretationsansatz des Essens zwischen Normalität und Abweichungen, vergisst aber nach den historischen Ursachen für die Entstehung dieser von der Gesellschaft konstruierten Körpernormen zu fragen. Informativer für die von uns gewählte Problemstellung ist das von Angelika Grauer und Peter F. Schlottke herausgegebene Buch »Muss der Speck weg? Der Kampf ums Schönheitsideal«. Die Autoren schneiden dabei das Thema der historischen Entwicklung von Körperschönheitsidealen kurz an, führen es aber nicht weiter aus. Auf dem Gebiet der Frauen- und Geschlechterforschung gibt es ebenfalls einige neuere Arbeiten, die das moderne Schlankheitsideal kritisch beleuchten. So klagt etwa Martina Bick in ihrem Buch »Warum sollen wir Dicken uns dünne machen?« den »Schlankheitsterror« an, der gerade auf Frauen durch die Medien und durch die Allgemeinheit ausgeübt werde, und auch das von Alice Schwarzer herausgegebene Emma-Buch »Durch Dick und Dünn« macht den modisch diktierten extremen Schlankheitskult für das Entstehen lebensgefährlicher Essstörungen verantwortlich. Der Zürcher Me-

Einführung

dizinhistoriker Erwin H. Ackerknecht schneidet in seiner Arbeit »Therapie von den Primitiven bis zum 20. Jahrhundert« die Geschichte der Diät an, führt sie aber nur auf die medizinisch-ernährungswissenschaftlichen Errungenschaften der Jahrhundertwende zurück, ohne die gleichzeitig entworfenen alternativen Diätformen zu berücksichtigen. Barbara Birkhans Dissertation »Über unkonventionelle Konzepte in der Diätetik« arbeitet die Hauptcharakteristika aktueller alternativer Diätkonzepte im Gegensatz zu den medizinischen Entfettungsmethoden heraus, lässt aber eine historische Beleuchtung der unkonventionellen Diätmethoden vermissen. Einen sozialanthropologischen Beitrag zur Geschichte der Diätkost liefert schließlich der Schweizer Historiker Albert Wirz in seinem Buch »Die Moral auf dem Teller«, in dem er, exemplarisch dargestellt am Leben und Werk des Schweizer Arztes Max Bircher-Benner und des Amerikaners John Harvey Kellogg, Diätspeisen erstmals aus geschlechtsspezifischer Perspektive betrachtet. Doch die Frage, wie es überhaupt zu der Entwicklung, dass sich immer mehr Menschen gesundheits-, körper- und umweltbewusst ernähren wollen, kommen konnte, bleibt auch in dieser Schrift unbeantwortet. Einen großen Teil der hier offen gebliebenen Fragen versucht die vorliegende Untersuchung mithilfe neuer Quellenstudien zu beantworten. Zu diesem Zweck wurde das zeitgenössische Schriftgut umfassend aufgearbeitet. Die alternativen Diätkonzepte werden anhand der Monographien einzelner Lebensreformer rekonstruiert und erläutert. Zum Zweck des Vergleichs der reformerischen Diätkonzepte mit den Lehrmeinungen der Ernährungsphysiologen und Mediziner werden zeitgenössische Zeitschriften, Pamphlete, Gesetzesentwürfe, Kongress- und Versammlungsberichte herangezogen. Die Umsetzung der von der Norm abweichenden »Ernährungsmoden« in alternativen Siedlungsgemeinschaften wird mithilfe archivierten Materials aus Beständen von Reformhausverbänden und Reformwarenherstellern untersucht. Für die Betrachtung der Einflüsse auf ein verändertes Körperbewusstsein und auf die Entwicklung des Schönheitsideals einer »schlanken Figur« werden lebensreformerische Schriften aus dem Umfeld der naturheilkundlichen Licht-/Luft-/Bewegungsthera-

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Einführung

pie, der Nacktkultur-, Kleiderreform-, Gymnastik-, Tanz-, Sport-, Frauen-, Jugend- und Sexualreformbewegung ausgewertet. Die skandalisierende Wirkung dieser ersten vorsichtigen Versuche eines neuen Körperbewusstseins ließ zahlreiche Publikationen folgen, die für die Untersuchung ebenfalls herangezogen wurden. Neben den in lebensreformerischen Büchern vorformulierten »Körperideen« müssen die »Körpermoden«, die die Genese des Schönheitsideals des »Schlankseins« kennzeichnen und sich in zeitgenössischen Schönheits-, Kosmetik-, Gymnastik-, Sport- und Diätratgebern widerspiegeln, sichtbar gemacht werden. Die internationalen Entwicklungstendenzen in der Diät- und Körperthematik werden anhand der Auswertung wichtiger Werke führender ausländischer Persönlichkeiten deutlich. Abschließend soll beleuchtet werden, inwieweit zeitgenössische Schlankheitsmonographien, medizinische Blätter oder Körperkulturzeitschriften bereits das Problem von lebensgefährlichen Essstörungen ansprachen. Die Untersuchung beschäftigt sich primär mit alternativen Ernährungsformen, die sich zwischen 1880 und 1930 in Deutschland entwickelten. Alle Ausführungen sind deshalb stets vor dem historischen Hintergrund der deutschen Lebensreformbewegung zu sehen. Als Gegenbewegung zum technischen Fortschrittsoptimismus und zur industriellen Massenerzeugung von Gütern konzentrierten sich die lebensreformerischen Organisationszentren vor allem auf die großstädtischen Ballungsgebiete, in denen die »sozialen Fragen« der aufkommenden urbanen Industriegesellschaft besonders krass hervortraten. Der zeitliche Ausgangspunkt vieler Entwicklungen auf dem Gebiet der frühen Gesundheitsbewegung war die Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts. Sie bildete den gedanklichen Überbau für die Naturheilbewegung und die sich daraus formierende und alle Lebensbereiche einschließende Reformbewegung. Die auch deshalb so genannte »Lebensreformbewegung« (englisch: Health movement) mit ihrem übersteigerten Naturismus erreichte ihren historischen Höhepunkt in den 1920er und 1930er Jahren, der gleichzeitig auch den des modernen Schlankheitskults kennzeichnete. Die Lebensreformer initiierten und zelebrierten die jugendlich-schlanke »Normalgestalt« in ihren Diät- und Körperreformbewegungen. Die

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Folgezeit, in der die Lebensreformbewegung nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in die Bedeutungslosigkeit abglitt, soll hier nur der Vollständigkeit halber kurz erwähnt werden. Eine klare zeitliche Periodisierung ist nicht möglich, denn ein sich veränderndes Gesundheits-, Ernährungs- und Körperbewusstsein ist ein mentalitätshistorischer Prozess, der stetigen Veränderungen unterlag bzw. unterliegt. Die nachfolgende Arbeit ist daher nicht chronologisch strukturiert, sondern wird in zwei große Abschnitte gegliedert. Der erste Hauptteil geht der Frage nach, auf welche historischen Wurzeln sich die Diätkost sowie die kalorienreduzierte Reform- und Schlankheitskost zurückführen lassen. Der zweite Hauptteil untersucht dagegen die Faktoren, die auf ein verändertes Körperbewusstsein und auf die Genese des Schlankheitsideals Einfluss ausübten. Die Ausführungen konzentrieren sich demgemäß zunächst auf die engere Diätthematik. Naturheil- und Vegetarismusbewegung sowie Ernährungsreformbewegung werden eingehend auf alternative Diätkostvorschläge geprüft und mit den Ernährungsdoktrinen der zeitgenössischen Medizin und Ernährungswissenschaften verglichen. Nach der Erläuterung und Systematisierung der alternativen Diättheorien wird dann ihre praktische Umsetzung am Beispiel der Siedlungsgemeinschaften und des Reformwarenwesens rekonstruiert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Untersuchung der Kontroverse zwischen der Naturheilkunde und der Schulmedizin. Eine alle bisherigen Ergebnisse zusammenfassende Systematisierung der alternativen Diätkost schließt den ersten Teil der Untersuchung ab. Der zweite Hauptteil befasst sich sowohl mit lebensreformerischen Bewegungen, die eigene »Körperideen« formulierten, als auch mit allgemeinen Modetendenzen, die einen Einfluss auf das Körperbewusstsein und das Schönheitsideal ausübten. Dieses Kapitel stellt einen Zusammenhang zwischen »Diätidealen« und »Körperidealen« her. Es zeigt, dass Essverhalten und Körperideale stets miteinander korreliert haben. Die lebensreformerische »Körperkultur« entstand beinahe zeitgleich mit der alternativen »Ernährungskultur«. Die Naturheiltherapie des Licht- und Luftbades verselbstständigte sich zu einer eigenen Bewegung des »Körperkults«. Eng damit verbunden waren die Ideen einer totalen Reformierung der

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Einführung

Kleidung, Erziehung und Sexualaufklärung, aber auch die weite Bevölkerungsteile ergreifende Gymnastik- und Sport-, Frauen- und Jugendbewegung. All diese Strömungen trugen zur Genese eines stark veränderten Gesundheits-, Ernährungs- und Körperbewusstseins bei.

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Glucker (o. J. [um 1928]), 31.

Erster Teil Entwicklungsstränge der modernen Diätkost

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Das magisch anziehende Dreieck: Naturheilbewegung, Vegetarismus, Lebensreform Was verstand man im 19. Jahrhundert unter »Naturheilung«? Unter »Naturheilung« verstand man eine holistisch-vitalistische Gesundheitslehre von der Überwindung aller Krankheiten durch die dem Menschen innewohnende »Lebenskraft«. Die Naturheiler wollten die im Verwissenschaftlichungsprozess des 19. Jahrhunderts beiseite gedrängte humoralpathologische Harmonielehre und Diätetik mit ihren Naturheilverfahren als Gesamtlebensphilosophie wieder aufwerten. Lediglich Pflanzen, Pflanzenteile und Pflanzenprodukte in roher, frischer oder getrockneter Form oder natürliche Mineralien waren als Heilmittel bei den Anwendungen erlaubt. Ihre von der Antike übernommene, ganzheitliche Krankheitsvorstellung umfasste die Therapie des Leibes und der Seele. Deshalb fanden sich in zahlreichen naturheilkundlichen Gesundheitsführern auch Diätvorschläge für ein besseres seelisches Wohlbefinden.1 Gesundheit wurde als Harmoniezustand von Körper, Geist und Seele aufgefasst, während Krankheit Disharmonie als Ergebnis einer »unnatürlichen« Lebensweise bedeutete. Eine naturgemäße Ernährungsweise bildete dabei den Kernaspekt. Darunter wurde meist eine vegetarische Diät aus Obst, Knol-

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Entwicklungsstränge der modernen Diätkost

len-, Wurzel-, Blattgemüse, Samen, Nüssen und frischem Wasser verstanden. Eine Vielzahl an Krankheiten wurde auf eine fehlerhafte Ernährung zurückgeführt. So esse der Mensch zum Beispiel dreimal so viel Fleisch, wie er eigentlich benötige.2 Zudem mache eine vegetarische Diät gesund, stark und schön. Askese war ein naturheilkundlicher Leitgedanke, weshalb harmonische Körperformen schon immer zu ihrem Programm einer sozialen Reform gehörten. Die Grundidee des Naturheilens war, dass das Wesen der Krankheit ein Heilungs- oder Regulationsprozess als Gegenwirkung gegen eine Krankheitsstörung sei. Nach naturheilkundlicher Auffassung gab es nur eine Gesundheit und Krankheit, weshalb die unterschiedlichen Krankheitsbilder lediglich individuelle Äußerungen des Krankseins seien. Die Naturheiler sahen in der Krankheit und im Symptom auch den Heilungs- und Regulationsvorgang und versuchten deshalb, in diesem Sinne die Krankheit zu behandeln. Zentrales Moment bildete dabei die natürliche Lebenskraft. Die Aufgabe des Naturarztes war die ganzheitliche Behandlung des Menschen durch die richtige Auswahl des Naturheilverfahrens und seine individuelle Dosierung, weshalb man auch von »Erfahrungsmedizin« sprach.3 Das ganzheitliche Denken der Naturheiler spiegelte sich insbesondere in der komplexen Diagnostik wider, die aus Zustandsdiagnose, ätiologischer Diagnose und Persönlichkeitsdiagnose bestand, während Homöopathie und Allopathie nur zwei Diagnosestufen kannten.4 Psyche und Körper bildeten als unzertrennliche Einheit den Kernaspekt jedes Naturheilvorgehens. Naturheilmittel war dabei alles, was den naturgemäßen Krankheitsverlauf im Sinne der Ausscheidung der Krankheitsstoffe unterstützen konnte. Arzneimittel lehnte die Naturheilkunde prinzipiell ab. Wenn auch am Anfang ihrer Geschichte noch Beziehungen zur Homöopathie bestanden, grenzte sie sich in ihrer Organisations- und Institutionalisierungsphase von Homöopathie und Allopathie ab. Zwischen den drei konkurrierenden Heilverfahren kamen daher Konflikte auf. Der Naturheilkunde-/Schulmedizin-Konflikt spielte in der deutschen Diätgeschichte eine maßgebende Rolle.

Naturheilbewegung, Vegetarismus, Lebensreform

Rousseaus Naturismustheorie als weltanschauliches Tableau für Naturheiler und Lebensreformer Das weltanschauliche Gedankengebäude, das den geistigen Nährboden für die Fortentwicklung der »alternativen« Bestrebungen schuf, war der »Naturismus«. Das Wort leitet sich semantisch vom lateinischen »nasci, natus, natura« ab und drückt eine stark emotional geprägte Einstellung zum Ursprünglichen, natürlich Gewachsenen, Unverfälschten, Naturgewordenen aus. Zur Verehrung des Natürlichen gesellen sich Wissenschaftsfeindlichkeit, Kulturüberdruss und Ablehnung der »Medizinheilkunde«. Diese Geisteshaltung eines Unbehagens an der Zivilisation und das daraus resultierende Verlangen nach einer Rückkehr zur Natur, zu den einfachen Dingen und zu mehr Bescheidenheit, Mäßigkeit und Sittlichkeit waren bereits in der römischen Antike (Stoa), in der Renaissance und im Humanismus ausgebildet. Viele Grundprinzipien der Ernährung, Gesundheitspflege und allgemeinen Lebensführung (Diätetik) waren schon zu jenen Zeiten formuliert worden. Nur führten diese dem Naturismus des 18. und 19. Jahrhunderts ähnlichen Ideen nie zu der Evolution einer ganzen Ideologie, wie sie die Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende darstellte. Die Naturphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts leitete ihre Ideen aus der direkten Naturerfahrung ab. Holismus und Vitalismus bildeten ihre Stützpfeiler. Sie besagten, dass die Harmonie mit der Natur gesund erhalte und ein Abweichen davon den Boden für Krankheit schaffe. Nur die Vitalisierung der Lebenskräfte stelle die natürliche Lebensordnung wieder her. Ihr Begründer war Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen leidenschaftlicher Appell »Retournez à la nature« besonders deutlich in dem 1762 erschienenen Erziehungsroman »Émile« zum Ausdruck kam. Rousseau stützte sich auf den antiken Stoiker Seneca, der versucht hatte, seine Zeitgenossen von dem »Irrweg« des zivilisatorischen Müßiggangs abzubringen und zur Rückkehr auf den Weg der Natur zu bewegen. Er ergänzte Senecas Auffassung, die Natur sei schlicht, einfach und bescheiden, um die Aussage, sie sei etwas Ganzes, Harmonisches, der hüllende Schutzmantel des Menschen, wohingegen die Zivilisation die Gesundheit und die Sitten verderbe. Das Leben auf dem Lande,

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so Rousseau, sei die erstrebenswerte Lebensform. Der Aufenthalt an der frischen Luft, in Licht und Wasser, der Verzehr unverfälschter Kost erhalte die Gesundheit und schütze vor vorzeitigem Altern. Seit etwa 1750 begann Rousseau die Natur hymnisch zu preisen und als Wertmaßstab für das menschliche Handeln zu verabsolutieren: »Ihr Völker begreift doch endlich einmal, daß die Natur Euch vor der Wissenschaft behüten wollte, wie eine Mutter den Händen ihres Kindes eine gefährliche Kraft entreißt.«5 Das Zugehörigkeitsgefühl des Menschen zur Natur bildete das zentrale Moment dieser Weltauffassung: »Die Natur bleibt immer die gütige Mutter, sie liebt und belohnt den, der sie sucht […]«6 Der Mensch wurde als Naturwesen gedeutet, dem die Natur Glück und Gesundheit garantiere. Das »Zurück zur Natur« sollte kein Rückschritt zu urzeitlicher Primitivität, sondern ein Vorwärtsstreben zur Vermeidung von Zivilisationsschäden in der Moderne sein. Auf dieser Theorie baute die Naturheilkunde auf, die vor allem eine geisteswissenschaftliche Haltung war. Der Vordenker der Lebensreform, Eduard Baltzer, war von der Überlegenheit der Naturheilkunde überzeugt, denn wie keine zweite halte sie bei ihrem Tun an dem Grundsatz fest: »Der Natur folgen!« Die Anhänger der naturheilkundlichen Theorien und Praktiken bildeten eine Gemeinschaft Gleichgesinnter und schufen bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Grundlagen für die Entstehung dieser Laienbewegung. Der beachtliche Zulauf, dessen sie sich erfreuten, lässt sich vor dem Hintergrund der Defizite der zeitgenössischen akademischen Medizin erklären, denn in dieser Zeit drängte die neue, naturwissenschaftliche Sichtweise der Krankheiten allmählich die traditionell-humoralpathologischen Konzepte zurück. Dabei beschränkte sich das Naturheilen nicht auf die Individuen, sondern erweiterte sein Bemühen auf das Gemeinwohl der modernen industriellen Überflussgesellschaft. Wie zur Zeit der Stoa gab die Furcht vor Überfluss Anlass zum »Weckruf zur naturgemäßen Lebensweise« und zur »Enthaltsamkeit im Essen und Trinken«7. Die klassisch-romantische Naturreligion eines Rousseau wurde Sinnbild des Vernünftigen, Ursprünglichen und Lebendigen und zur Instanz, auf die sich alle großen Reformbewegungen der Jahrhundertwende beriefen. Am Anfang stand die Diätreform (Vegeta-

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rismus). Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen immer neue Strömungen hinzu, die schließlich alle Lebensbereiche mit einschlossen, etwa Freikörperkultur, naturgemäße Kleidung, LichtLuftbäder, Wasseranwendungen, Antialkoholismus und viele andere Einzelideen. Ganzheit im menschlichen Denken, Einheit mit der Natur und Authentizität natürlicher Gesetze wurden beschworen. Höchstes Ziel des vielschichtigen Konglomerats »Lebensreform« war die langsame Wiederannäherung des modernen Menschen an die Natur. »Die Rückkehr zur Urnatur im Menschen« sei der Weg, »um zum Ziele unserer höchsten Entwickelung zu gelangen.«8 Die Lebensreformer hielten ihren Lebensstil für ebensowenig antimodernistisch, wie es viele Alternativbewegungen auch heute tun. Vielmehr waren sie davon überzeugt, dass ihre Ideen in die Zukunft wiesen, und tatsächlich sind viele ihrer Ideen inzwischen zu allgemeinen Trends geworden. Die Wiederentdeckung von Hydrotherapie und Diätetik sowie die Folgen Einen ersten Schritt über die Gedankenwelt Rousseaus hinaus in Richtung der Naturheilbewegung des 19. Jahrhunderts unternahm der Jenaer Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) mit seinem Buch »Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern«. Darin verfolgte er den Gedanken von der Lebenskraft, auf dem er seine Lehre von den naturheiltherapeutischen Reizen und den besonderen Arten der Reaktionen beim Kranken aufbaute. Die Unnatur zehre an unserer Lebenskraft und verkürze das Leben. So gelte es alles Schädigende, insbesondere die Unmäßigkeit, zu vermeiden, um die Lebenskraft zu stärken. Natürliche Fettleibigkeitsbekämpfung war daher ein Hauptargument für den lebensreformerischen Rückkehrappell. Das Ziel war der gesunde »Normalkörper«, denn nach Meinung der Naturheiler und Lebensreformer war »Schlankheit das wesentliche Element der Schönheit.«9 Viele Kulturmenschen würden über das natürliche Maß hinaus essen und zu wenig körperliche Arbeit verrichten. Hufelands Empfehlung war, sich bei der Speisenauswahl an die Vegetabilien zu halten, da Fleisch immer eine Neigung zur Fäulnis sowie etwas

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Reizendes und Erhitzendes an sich hätte, während die Vegetabilien ein kühles, mildes Blut gäben und damit auch den Lebensverbrauch verzögerten. Zusätzlich sollte in der Naturheiltherapie für ausreichenden Schlaf, tägliches Gehen oder Reiten an der frischen Luft, tägliche Waschung des Körpers mit kaltem Wasser, Selbst-Stillen und eine vernünftige Erziehung gesorgt und auf Arzneimittel völlig verzichtet werden.10 Die Naturheilbewegung manifestierte sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunächst an der Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der bereits seit der Antike praktizierten Wasserheilkunde, die größtenteils von Laien ausging. Die moderne Hydrotherapie war die erste Naturheilmethode und ihr eigentlicher Begründer Vinzenz Prießnitz (1799–1851). Er behandelte innere und stoffwechselbedingte Krankheiten mit seinem Kaltwassersystem, das zur wahren Mode wurde.11 Seine Gräfenberger Kuranstalt war bald in ganz Europa bekannt und wurde selbst von Medizinern zu Weiterbildungszwecken aufgesucht. Schon zu diesem Zeitpunkt entstanden erste Konflikte zwischen Naturheilern und der Ärzteschaft. Mit zunehmender Beliebtheit der Naturheilmethoden bei den Patienten erwuchs daraus eine erbitterte öffentliche Kontroverse. Bis 1826 bestand Prießnitz’ Behandlungsmethode nur aus kalten Waschungen, Umschlägen (Prießnitzwickeln), Teilbädern und Duschen in Verbindung mit Bewegungskuren, dann erweiterte er seine Therapie um das Vollbad, meist in Form eines kurzen Tauchbades. Sein Naturheilprinzip beruhte darauf, mit dem kalten Wasser den Organismus bis zum Kältefieber anzuregen, um auf diese Weise die krankheitsauslösenden Stoffwechselgifte aus dem Körper zu spülen. Allerdings vernachlässigte Prießnitz die naturgemäße Diät völlig. Die Kost auf dem Gräfenberg war kräftig, solide, reichlich und ohne spezielle Indikation. Sie basierte auf einer einfachen, kalorienreichen »Hausmannskost«, größtenteils bestehend aus Fleisch- und Mehlspeisen unter geringer Hinzugabe von Obst und Gemüse.12 Zur Fettleibigkeitsbekämpfung verordnete Prießnitz Luftbäder oder körperliche Bewegung in Form von Holzhacken oder Wandern. Einer der schärfsten Kritiker von Prießnitz war H. F. Franke (1805–1848), der unter dem Pseudonym »J. H. Rausse« bekannt wurde. Zunächst trat er für das Gräfenberger Heilsystem ein. Als

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er dann aber selbst Leiter einer Wasserheilanstalt wurde, verwarf er die Prießnitzschen Anwendungen als einseitigen und übertriebenen Kaltwasserschematismus und entwickelte ein eigenes, milderes Verfahren. Er kritisierte am Prießnitzverfahren nicht nur die zu kalten und zu langen Wasseranwendungen, sondern vor allem die falsche und zu kalte Ernährung. Die Diättherapie wurde jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin vernachlässigt. Eine Ausnahme war der Ansbacher Gymnasiallehrer Eucharius Ferdinand Christian Oertel (1765–1850), der 1830 in seinen »Allerneuesten Wasserkuren« seine »Semmelbrod-Quellwasser-Diät« beschrieb.13 Er führte das Trinken frischen Quellwassers in die Hydrotherapie ein, worauf die »Mineraltrinkwasserkuren« der Folgezeit basierten, die für die Entfettungspraxis im späten 19. Jahrhundert übernommen wurden. Durch seinen schriftstellerischen Fleiß festigte er das Ideengut der Naturheilkunde, bevor der Naturheilkundebegriff überhaupt existierte, indem er behauptete, frisches Wasser, frische Luft und strenge Diät seien die drei »Herren« der Wasserheilkunde.14 Damit nahm er bereits die allgemeinen theoretischen Grundsätze der »Naturheilkunde« vorweg. Der bekannteste Hydrotherapeut im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war der katholische Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897). Er wurde von einigen Naturheilanhängern nicht zu ihrem Kreis gezählt, da er sich nie aktiv zu ihnen bekannte und nicht von Anbeginn für die frugivore, also auf Früchten basierende Lebensweise Partei ergriff. 1852 erhielt er die Priesterweihe, 1855 wurde er Kaplan und Beichtvater bei den Dominikanerinnen in Wörishofen. Gegen Ende der 1870er Jahre genoss er bereits ein so großes internationales Ansehen, dass der kleine Ort sich zu einem berühmten Kurort entwickelte. Kneipps Naturheilführer waren an den Durchschnittsbürger gerichtet und erzielten hohe Auflagen. Damit trug er wesentlich zur Volkstümlichkeit der Naturheilkunde bei. In der Ernährungstherapie war Kneipp dagegen wenig bewandert. Er bevorzugte als Krankendiät eine »trockene, einfache, nicht verkünstelte und durch scharfe Gewürze verdorbene Hausmannskost« und Quellwasser. Sogar alkoholische Getränke waren in Maßen erlaubt. Ein erster Fortschritt zeichnete sich ab, als er in sei-

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nen Ratschlägen, wie man leben solle, schrieb, dass der Genuss von Früchten und Pflanzen dem Fleischgenuss vorzuziehen sei.15 Seine Ernährungslehre basierte auf der Grundanschauung, dass die einfachen und gehaltvollen Speisen der Landbevölkerung am natürlichsten seien und die Verfeinerung von Nahrungsmitteln durch zivilisatorische Eingriffe schädlich sei. Mit seiner Forderung, Obst und Korn ganz zu belassen, nahm er, ohne es zu wissen, bereits den Vollwertgedanken vorweg.16 abb2 Erst mit Johann Schroth (1798–1856) mündete die Geschichte der Hydrotherapie in die Diätgeschichte. Er entwickelte seine »Schrothkur« Mitte des 19. Jahrhunderts durch genaue Naturbeobachtung an kranken Tieren und Menschen als natürliche Fastenheilmethode, mit deren Hilfe die Selbstheilungskräfte gesteigert und der Geist von unnötigem Ballast befreit werden sollte. Unweit vom Hydrotherapiezentrum auf dem Gräfenberg errichtete er in Niederlindewiese eine Diätkuranstalt. Er bemerkte, dass kranke Haustiere das Futter mieden, wenig Flüssigkeit zu sich nahmen, Wärme suchten und sich der Ruhe hingaben und dass sie ohne irgendeine Behandlung hierbei verhältnismäßig schnell wieder genasen.17 Nach positiven Erfahrungen mit der Fastentherapie, die er an mehreren Personen erprobte, entwickelte er seine strikten Hunger- und Durstkuren in Kombination mit feuchtwarmen Schwitzpackungen. Er entdeckte damit das in der Heilpraxis in Vergessenheit geratene Fastenprinzip neu und wandelte es in so spezifischer Weise ab, dass es als sogenannte »Schrothkur« bis auf den heutigen Tag allgemein bekannt ist. Schroths Ziel war die Ausschwemmung von Krankheitskeimen über den Darm und die Nieren mithilfe seiner speziell entwickelten Diät. Außerdem sollte durch Einschränkung der Nahrungszufuhr ein gewisser Ruhezustand des Kranken zum Überdenken seines bisherigen Lebensstils erreicht werden. Hier klang bereits der Gedanke der Gesundheitsvorbeugung durch eine bewusste Ernährung an. Zum Zwecke der Zehrung des Körpers »von seinem Fett«18 ließ Schroth seine Patienten einige Stunden in feuchter Wärme schwitzen, entzog ihnen tagelang jedes Getränk bis auf wenige Viertelgläser leichten Landweins und beschränkte die Nahrung auf trockene Semmeln (»Trockentage«). Später ergänzten einige Kurärzte diese

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Fettleibiger während einer hydrotherapeutischen Behandlung Quelle: Berliner illustrirte Zeitung, 26 (1916)

Semmelkost, sodass es zusätzlich jeden zweiten Tag des Mittags eingedickte Breie aus Hafer, Reis, Grieß, Graupen, Sago, Hirse, Buchweizen oder Nudeln und Makkaroni gab. An zwei Tagen der Woche (»große Trinktage«), an denen eine höhere Flüssigkeitszufuhr erlaubt war, konnte diesen Breien als Vorgericht ein Teller Suppe vorausgehen; zur Vervollständigung durften Kompott oder gedünstete Backpflaumen als Nachtisch verzehrt werden. Während der »großen Trinktage« konnte schon morgens im Bett ein Glas warmer und gesüßter Rotwein getrunken werden, und auch nachmittags, nach dem etwas reichlicheren Mittagessen, durfte der Patient noch einen ganzen Liter Landwein zu sich nehmen. In der Regel legte man die »Trockentage« auf Montag, Mittwoch und Freitag, die »kleinen Trinktage« auf Dienstag und Sonnabend und die »großen Trinktage« auf Donnerstag und Sonntag. Auf jeden »Trockentag« folgte also im Intervall ein »Trinktag«. Nur der Freitag, der letzte »Trockentag«, wurde von zwei aufeinander folgenden »Trinktagen« zur angenehmeren Ausleitung der Erholungszeit abgelöst. Als zusätzlicher Kurfaktor kam für die Nacht die feuchte Schwitzpackung hinzu, in Form von Ganz- oder Dreiviertelpackungen. Wich-

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tig war dabei, dass diese nur durchgeführt wurden, wenn der Patient bereits gut durchwärmt im Bett lag.19 Eine strenge Kur dauerte drei bis sieben Wochen; war der Patient jedoch nicht völlig geheilt, so ließ man nach einer Erholungspause von sechs bis zehn Tagen oder gar Wochen einen zweiten Turnus, wenn nötig einen dritten folgen. Zur Überleitung von der entbehrungsreichen Zeit starker Unterernährung zu gewöhnlichen Mahlzeiten wurde eine leicht verdauliche, reizlose Kost stufenweise in leicht erhöhter Menge verabreicht. Ein größeres Hungerbedürfnis sollte noch eine Zeitlang mit altbackenen Semmeln gestillt werden, bis man nach vorsichtiger Schonkost wieder zur Durchschnittsernährung überging. Der bayrische Militärarzt Lorenz Gleich (1798–1865), ein überzeugter »Schrothianer«, machte sich um die Nomenklatur der Naturheilbewegung verdient. Er erkannte, dass die Bezeichnungen »Wasserheilkunde«, »Hydrotherapie«, »Hydriatik« oder »Hydropathie« zur Umschreibung der anderen natürlichen Behandlungsmethoden wie der Diät- oder der Licht-Luft-Therapie nicht mehr ausreichten. Deshalb ersetzte er diese Ausdrücke am 29. Juli 1849 in einer Rede vor dem von ihm gegründeten »Verein zur Förderung des Wasserheilverfahrens« durch die umfassenderen Begriffe »Naturheilverfahren«, »Naturheilkunde« oder »Naturheilsystem«.20 Damit schuf er die Nomenklatur, nach der zwischen »Naturismus« als weltanschaulichem Oberbegriff, »Naturheilkunde« als Theorie von Gesundheit, Krankheit und Behandlung sowie »Naturheilverfahren« als praktischer Anwendung naturnaher Behandlungsmethoden unterschieden werden konnte. Obwohl die von Schroth modifizierte Fasten- und Ausscheidungskur von Naturärzten kritisiert und nicht als eigentliches Naturheilverfahren anerkannt wurde, war durch die Kombination von Hydrotherapie und Ernährungstherapie erstmals eine umfassende Naturheilbehandlung entstanden. Von nun an war die Diätetik als »díaita«, also Ordnung der gesamten Lebensweise, die Basis allen naturheilkundlichen Eingreifens. Schroth hatte somit den Übergang von der Wasserheilkunde zur Fastentherapie eingeleitet. Der entscheidende Wendepunkt in Richtung einer eigentlichen Diättherapie kam jedoch erst mit Theodor Hahn (1824–1883), Schü-

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ler und Vetter J. H. Rausses und Begründer des naturheilkundlichen Vegetarismus. Von Hause aus Apotheker, war er seit 1847 Rausses engster Mitarbeiter und gab nach dessen Tod (1848) seine unveröffentlichten Nachlassmanuskripte heraus. Nur die ersten Teile stammten jedoch von Rausse. Die folgenden Ausführungen verfasste Hahn selbst und brachte dabei einen neuen Gedanken in das bisher Geschriebene ein, nämlich den der »Lebensreize«.21 Mit seinem Reizbegriff knüpfte er an die von Hufeland entwickelte Theorie der Reizeinwirkung auf den menschlichen Körper an. Nach Hahns Theorie konnten Krankheiten durch Wiederherstellung der Einwirkung normaler Lebensreize und Aufhebung der Einwirkung abnormer Lebensreize geheilt werden. Auf der Suche nach einer naturgemäßen Heilweise fand Hahn zur vegetarischen Diät, sodass er im Jahr 1852 konsequent fleischlos zu leben begann und von da an zeitlebens aktiv für den Vegetarismus eintrat. Für ihn war die vegetarische Ernährungsweise die einzig gesunde Heilkost sowie Dauernahrung zur Erhaltung eines leistungsfähigen Lebens und die einzig wahre Naturkost. Er begründete dies ausführlich in seinem Buch »Die naturgemäße Diät, die Diät der Zukunft«. Hahn war damit der erste deutsche Naturarzt, der Patienten primär mit einer vegetabilischen Diät kurierte. Sein »Praktisches Handbuch der naturgemäßen Lebensweise«, eine erste zeitgenössische Diätlehre, verhalf der naturheilkundlichen Diättherapie zum Durchbruch. Zur Fortsetzung der vegetarischen Diätkur zuhause, nach Abschluss des Kuraufenthalts, verfasste er zwei Spezialdiätkochbücher, ein »Makrobiotisches Kochbuch« und ein »Kleines Kochbuch«.22 Seit 1857 gab er zahlreiche Werke zum naturheilkundlichen Vegetarismus heraus, der für ihn nicht nur eine »Magenfrage«, sondern schlechthin der Schlüssel zur Lösung der sozialen Frage war. Seine vegetarische Diät basierte vor allem auf dem Weglassen von fett- und kohlenhydratreichen Speisen, weshalb er als äußerst »radical [und] rationell«23 galt. Er war der Meinung, dass ein Großteil der zivilisierten Menschen quantitativ zuviel esse und auch noch qualitativ die falsche Nahrung wähle, denn der kindliche Instinkt lehre, Kern-, Körner-, Obst- und Beerenfrüchte, Blattund Wurzelgemüse zu essen.24 abb3 Hahns Denken stand bereits unter dem Vorzeichen einer umfas-

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senden »Lebensreform«. Der Vegetarismus brachte nach seiner Meinung große, schlanke und muskulöse Gestalten mit Ebenmaß und Schönheit hervor und diente demnach, wie einst in der Antike, der Gesundheitsprophylaxe und Schönheitspflege. Erst recht müsse auf eine leichte, reizlose, vegetarische Trockenkost umgestiegen werden, wenn die Neigung zum Fettansatz vorhanden sei oder eine sitzende Lebensweise vorherrsche. Unmäßigkeit im Essen und Trinken war von Anfang an ein Hauptprogrammpunkt der Lebensreformbewegung, weshalb ihre Anhänger die ersten brauchbaren Konzepte zur Übergewichtsbekämpfung entwarfen.25 In der dritten Periode der Entwicklung der Naturheilkunde wurden die Naturheilweisen um Licht- und Luftkuren begleitet von sportlichen Aktivitäten erweitert. In diesem Kontext ist auf den Erfinder der Licht- und Lufthütten Arnold Rikli (1823–1906) hinzuweisen. Der Schweizer war der erste Naturarzt, der Licht- und Luftbäder verordnete, um über die Hautatmung Krankheitsstoffe auszuscheiden. 1845 erdachte er zunächst ein spezielles Bettdampfbad; dann wandte er das Sonnenbad bei seinen Patienten an, weshalb man ihn auch den »Sonnendoktor« nannte.26 1865 erprobte er das Morgenlichtluftbad und eröffnete es 1869 für seine Kurgäste. Schließlich führte er die Lichtlufttherapie in seiner Kuranstalt in Veldes ein, nachdem er von 1865 bis 1868 die atmosphärischen Wirkungen der Luft- und Sonnenbäder im Selbstversuch studiert hatte.27 Der Schwerpunkt seines Heilverfahrens bestand seit 1869 in einem Wechsel von Luft- und Sonnenbädern, die er individuell für jeden Kurgast erstellte. Seit 1872 wurde auch das Wohnen und Schlafen in Lufthütten praktiziert, in denen sich die Kranken Tag und Nacht unbekleidet in Licht und Luft aufhalten und schlafen konnten. Seine anfangs als naturgemäß angesehene vegetarische Diät vernachlässigte Rikli jedoch im Lauf der Zeit als Therapiemöglichkeit völlig, da er schlechte Erfahrungen im Selbstversuch damit gemacht hatte. Seit 1860 hatte er eine vegane Ernährungsweise erprobt, wobei er im Unterschied zu Theodor Hahns Diättherapie jedoch auf den Verzehr von rohem Obst und Gemüse verzichtete. Da sich daraufhin aufgrund der unzureichenden Zufuhr an lebenswichtigen Nährstoffen eine »vegetative Dystonie« eingestellt hatte, rückte er von der Diättherapie ab. Seine Sanatoriumsdiät, die eineinhalb Jahre

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Extrembeispiel aus einem Diätratgeber des Jahres 1902; Quelle: Kahnt (1902)

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einzuhalten war, bestand gewöhnlich zum Frühstück aus Obst, ungesalzenem Weizenschrotbrot mit Honig und frischer, kalter, süßer Milch. Zu Mittag gab es zuerst wieder Obst, dann eine mit Butterzusatz bereitete Speise, welche entweder aus Gemüse oder dicker Körnersuppe bestand; hierzu wurden gesottene Kartoffeln nebst kalter Milch gereicht. Die Butter- oder Fettzulage war reduziert auf täglich höchstens eineinhalb Lot pro Kopf, häufig nur auf ein Lot. Wein, Bier und Essig sowie Zucker waren gänzlich ausgeschlossen; Zucker wurde höchstens nicht ganz reifen Erdbeeren sowie gekochtem Obst beigesetzt. Milchkaffee oder Milchtee waren ausnahmsweise bei Besuchen gestattet. Salz kam nur in den mit Butter zubereiteten Speisen vor, und zwar in sehr geringen Beigaben. Mehlspeisen, abgesehen von dem salzlosen und schmalzlosen Schrotbrot und einfachen Gerichten, waren strikt verboten. Rikli beurteilte seine Diät bereits als fortschrittlich, hielt sie aber noch immer für nicht einfach genug.28 Dieses Beispiel zeigt, dass die anfangs angewandte vegetarische Kost noch sehr unvollkommen war, denn mit ihr konnten zwar vorübergehend gute Heilerfolge erzielt werden, aber als Dauerkost kam sie noch nicht in Frage. Dies mag daran gelegen haben, dass die damalige vegetarische Kostform noch überwiegend eine »Koch«-Kost war und sich von der Fleisch einschließenden bürgerlichen Küche lediglich in dem Punkt unterschied, dass eben das Fleisch weggelassen wurde. Man kochte das Gemüse in althergebrachter Weise, mit dem einzigen Unterschied, dass man die Forderung erhob, das vitaminreiche Abkochwasser nicht wegzuschütten, sondern mit der Nahrung zu verarbeiten. Die sonst sehr nährstoffschädigende Zubereitungsart blieb noch erhalten. Auch in der Hahnschen vegetarischen Diät gab es nur gelegentlich Beigaben von rohem Obst und Salat, da man noch nichts über die Heilwirkung vitamin- und mineralstoffreicher Rohkost wusste. Über Rikli kam auch Adolf Just (1859–1936) zum Licht- und Luftbad. Nach der Errichtung einer »Lufthütte« bei Braunschweig praktizierte er Licht- und Luftbäder und erfuhr auf diese Weise deren gesundheitliche Wirkung am eigenen Leib. Seine Therapie fußte auf dem Grundsatz, der Mensch sei von Gott nackt geschaffen; er trete so in die Welt und sei daher das höchste Lichtluftgeschöpf.29

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Der Mensch atme nicht nur über die Lungen, sondern insbesondere über die Hautporen. Darum sei es unerlässlich, für luftdurchlässige Kleidung, Steppdecken, geöffnete Fenster und Lichtluftbäder zu sorgen. Just gründete 1896 die Naturheilanstalt »Just-Jungborn« im Harz. Er empfahl seinen Kurgästen Schlafen in unmittelbarer Erdberührung, womit er die ursprüngliche Verbindung des Menschen mit der Erde wiederherstellen wollte. Bei seinen Patienten wandte er äußere Lehmkuren und die innere Heilerdeeinnahme zur Ausschwemmung von Gift- und Fäulnisstoffen an und gilt seitdem als Entdecker der »Heilerde«.30 Nach Justs Ansicht war nur die rohe Kost naturgemäß, deshalb empfahl er besonders die rohen Früchte. Die Nahrung sollte denkbar einfach sein, denn für Abwechslung sorge die Jahreszeit. Der gemischte »Jungborntisch« der Gebrüder Adolf und Rudolf Just setzte sich wie folgt zusammen: Kaffee oder Frühstück sollten möglichst ausfallen. Wer nicht ohne einen Imbiss im Lauf des Vormittags auskam, konnte mehrere Stunden nach dem Aufstehen rohes Obst, rohes Gemüse oder Sauermilch genießen. Wenn es nicht anders ging, durfte hinterher etwas Vollkornbrot mit Nuss- oder Kuhbutter gegessen werden. Wer unbedingt etwas Warmes brauchte, trank am Schluss der Mahlzeit eine Tasse Kräutertee oder aß anstelle von Brot Buchweizengrütze oder Roggenmehlsuppe. Mittags wurde die Mahlzeit mit Obst begonnen. Dann wurden Nüsse, grüner oder anderer Salat gereicht. Der Hauptgang bestand aus gedünstetem Gemüse und Kartoffeln. Bei Verlangen durfte man zwischen Salat und Gemüse einen halben Teller Suppe essen und gelegentlich am Schluss der Mittagsmahlzeit eine Mehlspeise, eine Schokoladenspeise, einen Auflauf oder eine Eierspeise zu sich nehmen. Zur Mittagsmahlzeit sollte man nicht trinken. Nachmittagskaffee oder -tee fiel aus. Abends aß man am besten Rohkost. Die Mahlzeit wurde wieder mit Obst eingeleitet; dann folgten rohes Sauerkraut oder grüner Salat, darauf Sauermilch und zum Schluss Vollkornbrot mit Nuss- oder Kuhbutter oder Nussschmalz. Als Getränk wurde Sauermilch angeboten. Wer keine Milch mochte, trank bei Durstgefühl nach der Mahlzeit eine Tasse Kräutertee.31 Die vierte Periode der Naturheilgeschichte war durch die Physiotherapie (u. a. Bewegungskuren) gekennzeichnet. Der berühm-

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Heilgymnastischer Apparat »Werde gesund« nach Schreber Quelle: Fischer-Dückelmann (1908)

teste Bewegungstherapeut jener Zeit war der deutsche Arzt Daniel Gottfried Moritz Schreber (1808–1861). Er hatte als Jugendlicher einen zarten Körperbau besessen, konnte aber später durch gezielte Turnübungen eine athletische Gestalt ausbilden und erklärte daraufhin auf Versammlungen: »Es müßte heutzutage keine Frau, kein Mann und kein Kind dürr und muskellos sein, wenn alle turnen würden.«32 Auf der Basis seiner bewegungstherapeutischen Erfolge gründete er 1844 seine »Orthopädische und heilgymnastische Anstalt zu Leipzig«. Seine orthopädische Heilgymnastik beschrieb er in den Schriften »Kinesiatrik oder die gymnastische Heilmethode« und »Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit«. abb4

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Für Schreber bildete die »physische und moralische Lebenskräftigkeit« die Grundlage zur »Erreichung eines bestimmungsgemäßen Lebenszieles und des wahren Lebensglücks«.33 Sein besonderes Anliegen war die systematische Körpererziehung der Jugend. In seiner »Kallipädie« behandelte er die körperlichen und geistigen Aspekte der lebenszeitlichen Entwicklungsstufen und beschäftigte sich mit Themen wie Langschläferei oder Haltungsanomalien beim Sitzen. Für Schreber führte nur ein Dasein des Menschen in Harmonie mit der Natur »zur geistigen Herrschaft über die materielle Natur und dem Ziele einer glücklichen Entwicklung seines eigenen Lebens.«34 Außerdem entwickelte er im Rahmen seiner naturheilkundlichen Bestrebungen die Idee des städtischen Kleingartens, der ihm zu Ehren später »Schrebergarten« genannt wurde. Speziell die Jugend suchte er frühzeitig für die Natur zu begeistern, indem er beispielsweise seinen Kindern die Pflicht auferlegte, ein Gartenbeet zu bebauen. Dazu gab er die Begründung: »Gemüse ist gesund!« Auch die bei ihm praktizierenden Leipziger Studenten hielt er zum Ausgleich zur geistigen Arbeit zu Freiluftübungen an. Allerdings erlebte Schreber die erste Kleingartensiedlung in Leipzig nicht mehr, denn er starb 1861 vor Beendigung des Projektes. Schreber war folglich auch ein geistiger Vater der späteren lebensreformerischen Gartenstadtbewegung.35 An dieser Stelle schließt sich der Kreis von der Diättherapie zur Bewegungstherapie und dann von den lebensreformerischen Diätbewegungen zu den Körperkulturbewegungen. Zur Genese bürgerlicher Vegetarismusvereine Die Übergänge zwischen der Naturheilbewegung und den Vegetariervereinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren fließend. Für Theodor Hahn war der »Vegetarianismus«, wie man ihn anfangs bezeichnete, eine »Kulturfrage«, weshalb er in mehreren seiner Schriften den berühmten Ausspruch von Friedrich dem Großen zitierte: »Alle Kultur geht vom Magen aus.«36 Nicht Wohlstand, nicht Macht, nicht Intelligenz oder alles zusammen sei für eine Nation von Bedeutung, sondern allein die Gesundheit, die unter dem mas-

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senwirksamen Einfluss der Naturheilbewegung zum bedeutenden Gesellschaftswert des Besitz- und Bildungsbürgertums wurde. Die breiten- und nachwirkende Bedeutung der deutschen Naturheilbewegung, der Vegetarismus-, Ernährungs- und Körperkulturbewegung, die unter dem Begriff »Lebensreform« zusammengefasst werden können, ist bisher für den Wandel des Gesundheits-, Ernährungs- und Körperbewusstseins völlig unterschätzt worden, da man in der historischen Forschung von der irrigen These ausging, dass sich ihre Klientel überwiegend aus der Oberschicht rekrutierte. Inzwischen ist diese Meinung durch Sozialstrukturanalysen der Mitgliedschaft von Naturheilvereinen und Vegetariervereinen korrigiert worden, die belegen, dass die Mitglieder dieser Vereine hauptsächlich aus der bürgerlichen Mittelschicht stammten.37 Es handelte sich durchaus nicht um eine kleine Minderheit »religiöser Sektierer«, sondern um eine »repräsentative« Bevölkerungsschicht mit Vorbildfunktion, denn einige der damaligen Ideen wie gesunde Ernährung und körperliche »Fitness« hielten Einzug in das Alltagsleben und sind uns bis auf den heutigen Tag – wenn auch in deutlich abgewandelter Form – erhalten geblieben. Für alle Vegetarier bildete eine naturgemäße Diät meist nur den Anknüpfungspunkt für die Absicht einer gesamtgesellschaftlichen Diätreform.38 Der Vegetarismus sei, so Gustav Schlickeysen, die einzig wahre Philosophie, Logik, Ethik, Metaphysik und Ästhetik. Nach seiner Auffassung bildete der Vegetarismus das versöhnende Bindeglied zwischen Mensch, Natur und Gott, ja die Erlösung für die gesamte Menschheit.39 Die deutschen Vegetariervereine versuchten eine ganze Lebensphilosophie bewusst zu verwirklichen. Ihre Entwicklung war jedoch maßgeblich an Einzelpersönlichkeiten gekoppelt, die auf unterschiedlichen Wegen zur vegetarischen Ernährungsweise gelangt waren und dementsprechend verschiedene Aspekte in das Vereinsprofil integrierten. Die Meinungen darüber, was unter »Vegetarismus« zu verstehen sei, variierten stark; eine verbindliche Definition existierte nicht.40 Die verschiedensten Motive standen bunt gemischt nebeneinander. Im Allgemeinen wurde unter »Vegetarismus« eine völlig fleischlose Ernährungsweise verstanden, und diese Wortauslegung hatte sich bald in der Umgangssprache eingebürgert. Der aus dem Englischen übernommene Begriff leitete

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sich nicht, wie oft fälschlich angenommen, von den »Vegetabilien«, ab, sondern von dem lateinischen Adjektiv »vegetus« in der Bedeutung »gesund, munter, frisch, lebendig«. Die Frauenrechtlerin, Ärztin und Lebensreformerin Anna Kingsford (1846–1888) schlug den Begriff »Thalysianismus« zur Betonung des Vegetarismus als Kunst des vernünftigen Lebens vor. Der Name war vom griechischen Ernteopfer »Thalysia« abgeleitet, weshalb auch ein Dresdner Vegetarierverein und eine Diätwarenfirma diesen Namen für sich wählten. Zur Begründung ihrer vegetarischen Lebensweise stützten sich die Initiatoren und Anhänger des Vegetarismus auf die antike Tradition (Pythagoras, C. Musonius Rufus, Plutarch), religiöse Überlieferungen (Parsismus, Brahmanismus, Buddhismus, Christentum) und die moderne Evolutionstheorie (Lamarck, Darwin, Haeckel). Überdies konnte der deutsche Vegetarismus auf englische und französische Vorbilder zurückgreifen. Dort waren bereits die Hauptthesen des Vegetarismus – Tiermord sei Sünde und führe zum Menschenmord, eine naturgemäße Diät beeinflusse den ganzen Menschen, der menschliche Körper sei stammesgeschichtlich auf Pflanzenkost eingerichtet und quantitativ und qualitativ falsches Essen führe zur Fettleibigkeit – vorformuliert worden.41 In der Phase der Ausdifferenzierung des Vegetarismus kamen weitere Ansätze hinzu, die die alternative Lebensweise rechtfertigen sollten. Demnach ließen sich ein religiös-ethischer, philosophisch-anthroposophischer, ökonomisch-sozialer, pädagogischer, feministischer, jugendbewegter, unfreiwilliger, hygienischer und ästhetischer Vegetarismus unterscheiden.42 Im Mittelpunkt stand das vegetarische Kulturideal, wonach der Vegetarismus nicht nur eine »Pflanzenesserei«, sondern das allein selig machende System einer hygienischen, sittlichen und ästhetischen Erziehung war. Auch der »unfreiwillige« Vegetarismus wies eine lange Tradition auf, denn erst die Industrialisierung und Maschinisierung der Landwirtschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichte eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln. Viele Menschen der unteren Schichten konnten wegen der hohen Fleischpreise nur selten Fleisch kaufen und verzehren. Diese Tatsache wurde bei der Untersuchung der Geschichte des Vegetarismus häufig übersehen. August Bebel merkte hierzu an: »Die überwiegende Mehrheit der

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deutschen Bevölkerung waren Vegetarier gegen ihren Willen!«43 Für ihn war die vegetarische Bewegung ohnehin eine rein bürgerliche Angelegenheit. Der »hygienische« Vegetarismus war ein Produkt der Naturheilbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts und hatte mit der viel diskutierten »Arbeiterfrage« nichts zu tun. Seinen Vertretern ging es darum, erst einmal alle satt zu machen.44 Es bestand aber eine Verbindungslinie zum »ästhetischen« Vegetarismus, dessen oberstes Credo die »Kalogathie« war, d. h. die Auffassung, nur gesundheitliche Harmonie bedinge »wahre« Schönheit.45 In diesem Zusammenhang entwarfen die Lebensreformer das Bild des natürlich-jugendlichen, beweglichen Schlanken in Opposition zum widernatürlich-degenerierten, behäbigen Dickleibigen. Sie warnten vor der »falschen« Gesundheitsvorstellung, eine »kräftige Fleischkost« erhalte die körperliche Widerstandsfähigkeit46 und befassten sich schon um die Jahrhundertwende, noch bevor die Mediziner vor der Zivilisationskrankheit »Übergewicht« warnten, vor dem Hintergrund einer generellen Diätreform mit der »Kunst«, schlank zu werden und es zu bleiben. Vegetarische Kochbücher warnten schon um 1890 vor Speisen, die nicht gegessen werden sollten, wenn man zum Dickwerden neige oder bereits beleibt sei. Die Wirkung zucker- und fettreduzierter Ernährung durch Vegetabilien war schon seit längerem bekannt, wurde jedoch von Medizin und Wissenschaft unter Berufung auf die Liebigsche Eiweißtheorie noch weitgehend ignoriert. Die vegetarische Diät, so Theodor Hahn, forme schöne, kräftige, hochgewachsene, ebenmäßige, schlanke, behende und geschickte Gestalten aus, wie insbesondere zahlreiche pflanzenessende Völker angeblich durch ihre Körperbilder bewiesen.47 Hahn betonte, es sei durchaus nicht schwer, den Beweis zu erbringen, dass alle Völker, die sich durch körperliche Schönheit auszeichneten, in ihrer Ernährung am wenigsten vom Pfade der Natur abwichen, und dass überall dort, wo das meiste Fleisch verzehrt werde, Hässlichkeit, Krankheit, Laster und Elend zu Hause seien. Fleischessen mache »häßlich«, »träge«, »schwerfällig«, »faul«, »dumm« und »plump«. Eine richtig ausgewählte und in richtiger Weise genossene Pflanzenkost sei eines der wichtigsten Mittel zur harmonischen Ausgestaltung des Menschen-

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leibes. Ferner sei es nötig, die vegetarische Diät dem Alter, der Arbeitsleistung und der Körperbeschaffenheit des Essenden wie auch der Jahreszeit anzupassen. Fleischkost, gewürzte, saure und salzige Speisen seien die »Zerstörer der Schönheit«48. Diese Grundsätze dienten der deutschen Vegetarismusbewegung als Hauptargumente in der Auseinandersetzung mit der Universitätsmedizin über eine gesunde und vernünftige Ernährung und wurden gezielt zur Gewinnung neuer Anhänger eingesetzt. Als früheste Agitationsform diente die Publikation von Büchern, Broschüren und Zeitschriften, aber auch Flugschriften. Vereine und ähnliche Institutionen brachten die Mittel zur Finanzierung von Speiseveranstaltungen oder Ausstellungen auf.49 Als regelrechte Demonstrationsobjekte halfen gewerbliche Unternehmen wie vegetarische Restaurants, Reformgasthäuser, Reformhäuser und Naturheilanstalten die lebensreformerischen Ideen für die Bevölkerung erfahrbar zu machen. Am eigenen Leibe konnte erprobt werden, was von einer kleinen idealistischen Gruppe propagiert wurde.50 Ausstellungen wurden ebenfalls in den Dienst der Werbung gestellt. Im April 1907 fand beispielsweise in Frankfurt a. M. eine Lebensreformausstellung statt, auf der 6 000 bis 8 000 Besuchern Reformnährmittel, Körperpflegeartikel, antialkoholische Getränke, Reformkleidung etc. präsentiert wurden. Auch mit sportlichen Erfolgen versuchten die Vegetarier, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Die Wirkung dieser Öffentlichkeitsarbeit lässt sich z. B. anhand der Reaktionen, die sich in Zeitschriftenartikeln äußerten, untersuchen. Dabei ist allgemein festzustellen, dass die lebensreformerischen Bestrebungen zunächst auf eher wenig Beachtung oder gar Verständnis in der Bevölkerung stießen. Die vegetarische Bewegung war großen Vorurteilen ausgesetzt. Der Vegetarismus wurde zumeist als Gefahr beschrieben und als Wahnsinn einiger »Verrückter« abgetan. Im Volksmund entstanden Bezeichnungen für die Anhänger des Vegetarismus wie »Gesundbeter«, »Rohköstlergesichter«, »Zwiebacknasen«, »Himbeersaftstudenten«, »Kohlrabiapostel« u. ä.51 Die Vegetarier wurden oft als subkulturelle, sektenartige Sonderlinge abgetan, was wohl mit ihren Organisationsformen in Zusammenhang zu bringen ist. Sie zogen sich nämlich in kleine

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Vereine und Gruppierungen zurück, die oftmals abgeschieden vom Großstadtleben tagten.52 abb6 Ein wesentlicher Grund für diese ablehnende Haltung der Öffentlichkeit ist darin zu sehen, dass der deutsche Vegetarismus des 19. Jahrhunderts auf einer neuen, idealistischen Theorie und einem neuen weltanschaulichen System beruhte und durch gezielte Propaganda mithilfe von Organisationen einen vorher nie dagewesenen Wirkungsgrad in der Öffentlichkeit erreichte. Zu diesen Organisationen zählten z. B. der »Deutsche Verein für naturgemäße Lebensweise (Vegetarianer)« in Berlin, der »Süddeutsche Vegetarianer Verein« in Stuttgart, der »Dresdner Thalysia-Verein« oder der »Deutsche akademische Verein für naturgemäße Lebensweise (Vegetarianismus)«. Der ursprünglich auf medizinischen oder religiös-ethischen Erwägungen beruhende Vegetarismus emanzipierte sich allmählich von diesen Motiven und wandte sich zusehends dem Glauben an eine weltimmanente Notwendigkeit zu. Der Vegetarismus des 19. Jahrhunderts wurde zum individuellen und kollektiven Programm der Erneuerung der gesamten Lebensweise und muss daher trotz aller rückwärtsgewandten Begründungen als relativ modernes Phänomen beurteilt werden. Er war die Fortsetzung einer erst im 19. Jahrhundert aufkommenden Reformbewegung, die als Reflex auf die Modernisierungsschübe Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung interpretiert werden kann. Der deutsche Vegetarismus setzte sich zum Ziel, gesellschaftsverändernd zu wirken, denn nur die vollständige Rückkehr zur natürlichen Diät könne die Gesellschaft retten.53 Der Vegetarismus musste deshalb neu definiert werden als »vernünftige Lebenskunst«, die danach strebte, das menschliche Leben neu zu ordnen und »das Menschenleben seiner eigenen Natur gemäß zu gestalten«.54 Die beiden »geistigen Väter« dieser speziellen deutschen Ausformung des Vegetarismus waren Gustav Struve und Wilhelm Zimmermann. Der badische Rechtsanwalt und Publizist Struve (1805–1870) war 1832 über die Lektüre von Rousseaus »Émile« zur reinen Pflanzennahrung bekehrt worden. Er gründete zusammen mit etwa 20 weiteren Gesinnungsgenossen eine erste »Vegetarische Gesellschaft« in Stuttgart. Seine »Pflanzenkost« legte den theoretischen Grundstein

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Zeitgenössische Karikaturen über den »spindeldürren« Vegetarier Quelle: Fliegende Blätter, 112 (1900)

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für eine neue Weltanschauung, indem er zehn Lebensregeln für den Pflanzenesser aufstellte: 1) Meidet die Fleischkost, ihr sollet euer Leben nicht gründen auf den Tod eurer Mitgeschöpfe! 2) Seid einfach, d. h. genießet nicht zu vielerlei. 3) Seid mäßig, d. h. genießet auch von demselben Stoffe nicht zu viel! 4) Nähret euch von den Pflanzen der Erde, insbesondere von Getreide und den Früchten der Bäume! 5) Meidet alle Gifte, besonders Tabak und Alkohol. 6) Doch wird euch der Genuß von Salz, 7) Zucker und 8) Milch wohlthun. 9) Gebrauchet viel Wasser innerlich und äußerlich. 10) Athmet stets nur reine, frische Luft!55 Seiner Meinung nach verminderte der »Fleischschlemmerer« sein Gesundheitskapital von Tag zu Tag. Fettleibigkeit sei die Folge einer unnatürlichen Fleischkost und der Vegetarismus das einzige Mittel dagegen, weshalb so mancher »degenerierte, dickleibige Städter«56 während einer Naturheildiätkur zum »Zwangsvegetarier« werde. Auch Wilhelm Zimmermann, der zweite Gründungsvater des deutschen Vegetarismus, gelangte über Rousseau zur Lehre der Pflanzenkost.57 Er übermittelte in seiner Schrift »Der Weg zum Paradies« den angelsächsischen Vegetarismus und scheint dabei von Struve und den beiden Hydrotherapeuten Prießnitz und Rausse beeinflusst worden zu sein.58 Mit seiner Schrift wurde wiederum der Buchdrucker Emil Weilshäuser für die vegetarische Ideologie gewonnen, der zwischen 1855 und 1861 zahlreiche wegweisende Werke zur Förderung der deutschen Vegetarismusbewegung beisteuerte. Darunter befanden sich auch Schriften von William Sylvester Graham (1794–1851), der sich in Amerika unermüdlich für strikte Fleischlosigkeit und Askese einsetzte. Hahn, der deutsche Übersetzer seines Buches, grenzte deshalb von den Vegetariern die »Grahamiten« ab, die obligatorisch nach den fleischlosen Grundgesetzen Grahams lebten. Bereits die Titel dieser ersten vegetarischen

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Schriften verrieten die deutlich idealistisch gefärbten und auf eine Weltverbesserung ausgerichteten, aber nie realisierbaren Absichten der auf eine allumfassende Lebensreform abzielenden Vegetarier.59 Hahns Bücher lieferten auch dem Begründer des ersten großen deutschen Vegetarismusvereins, Eduard Baltzer (1814–1887), den entscheidenden Anstoß zur Hinwendung zum Vegetarismus, denn sie enthielten bereits seine wichtigsten ideologischen Ansätze. Baltzer führte die deutsche Vegetarismusbewegung von ihrer literarischtheoretischen Konzeptionsphase zur Agitations- und Institutionalisierungsphase.60 Er baute somit den Vegetarismus zum Medium der bewussten Daseinsgestaltung aus. Durch sein Bemühen wurde am 27. April 1867 die erste vegetarische Organisation, der »Verein für natürliche Lebensweise«, gegründet, der sich 1869 in »Deutscher Verein für naturgemäße Lebensweise (Vegetarianer)« umbenannte. Die nachfolgende Phase der Vegetarismusbewegung war gekennzeichnet von einer regen Entfaltung des Vereinswesens. Baltzer sah den Vegetarismus aus drei Perspektiven, die das Konzept der Lebensreform endgültig begründeten. Er beurteilte ihn erstens ethisch-religiös, verurteilte den Tiermord moralisch und erklärte die Pflanzenkost zur natürlichen Nahrung des Menschen. Zweitens forderte er hygienisch eine mäßige und einfache Diät aus Obst, Gemüse und Weizenkleiebrot sowie Bewegung in Wasser, Licht und Luft, denn eine natürlichere Lebensweise stelle die einzig wirksame Vorbeugung gegen Krankheiten jeglicher Art dar. Drittens argumentierte er ökonomisch, eine vegetarische Lebensweise mache die großgrundbesitzerische Tierhaltung überflüssig; der Boden könne für den Garten- und Ackerbau als Grundlage einer sozialen Existenz umverteilt werden.61 Damit entwarf er die lebensreformerische Forderung nach einer Bodenreform, wie sie modellhaft in der genossenschaftlich organisierten »Obstbaukolonie Eden« realisiert wurde. »Eden« und der Reformwarenhersteller »Thalysia« versandten Frischobst und erzeugten die ersten »Entfettungswaren« in Form von naturreinen Frucht- und Rohkostsäften, Fruchtpasten, Rohkostflocken, Vollkornkeksen, Schlankheitstees etc. Sie waren damit auf dem Diätgebiet bahnbrechend. Die Bedeutung der Lebensreformer als erste Diätwarenhersteller wurde in der historischen Forschung bisher übersehen.

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»Dicke« während einer Abmagerungskur bei ausschließlich vegetarischer Diät Quelle: Berliner illustrirte Zeitung, 27 (1917)

Die Vegetarier der Jahrhundertwende veränderten damit das Bewusstsein für die Diätkost. Sie initiierten den Bedeutungswandel von Salaten und anderen Gemüsearten, die bis dahin lediglich als »Beikost« zum Fleisch gegolten hatten, und von Obst, das lange Zeit zu den Genussmitteln in der menschlichen Ernährung gezählt wurde. Abb7 Der ästhetische Begründungsansatz des Vegetarismus gewann seit der Jahrhundertwende an Bedeutung. Die vegetarische Diät wurde als moderne Schlankheitskost gegen alle medizinischen Widerstände ausgebaut. Erst in den 1920er und 1930er Jahren, als die Ernährungswissenschaft auf die Vitamine gestoßen war und der Trend zur sportlichen Schlankheit sich auf seinem ersten Höhepunkt befand, konnte man von einem »Rohkostboom« sprechen,

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denn nun schien auch die Wissenschaft zu bestätigen, dass Vegetabilien eine ideale, weil kalorienarme, zucker- und fettreduzierte Entfettungsdiät darstellten.62 Zum Beispiel sah eine biologische Entfettungskur mit »ThalysiaProdukten« wie folgt aus: Zum Frühstück gab es Schlankheitstee ohne Zucker und Milch sowie ein Brötchen ohne Butter, Marmelade oder Honig. Das Gabelfrühstück sah 20 g Thalysia-Fruchtpaste und 50 g All-Bran, eine gemalzte Kleie, vor. Zum Mittagessen gab es keine Suppe, keine Getränke, sondern ein viertel Pfund mit Fruchtsirup schwach gesüßten Hafergrießbrei und ein halbes Pfund frisches Gemüse, ohne Fett in Wasser gekocht und mit einem der OmnisalGewürze abgeschmeckt. Als Nachspeise durften 50 g Kleieback oder andere Thalysia-Kekse zu sich genommen werden. Zum Nachmittagskaffee gab es eine Tasse Rubon-Silber-Ersatzkaffee mit Zitronensaft und 50 g Vollkornkeks. Abends wurden ein viertel Pfund Thalysia-Rohkostflocken aus Roggen, Weizen und Hafer im Wechsel gegessen. Dazu wurden 20 g Fruchtpaste und 50 g Thalysia-Keks serviert.63 Ein Wochenplan für eine Entfettungskur mit Obst- und Gemüse- sowie Kräuterrohsäften sah folgendes vor: So bildeten vegetarische Diäten eine Hauptkategorie moderner Reduktionskost. Die biologische Entfettungskur zielte als Gesamtlebensstilveränderung auf eine langfristige Gesundheits- und Schlankheitsbewahrung ab. Dem Argument der Gegner, dabei komme der Genuss zu kurz, versuchte man mit Antischriften wie »Schlemme ohne Fleisch! Das Essen als Genußpflege und Gesundheitsdienst«64 zu begegnen. Die »Kurpfuscherfrage« oder die erbitterte Schlacht zwischen »Schulmedizinern« und »Naturärzten« Der Konflikt in der »Kurpfuscherfrage« zwischen Naturheilern und Universitätsmedizinern und in der »Ernährungsfrage« oder »Eiweißfrage« zwischen Vegetariern und Ernährungswissenschaftlern spitzte sich besonders in den 1880er Jahren zu, als sich die deutsche Naturheilbewegung auf ihrem historisch feststellbaren Höhepunkt befand.65 Der »Schulmedizin-/Naturheilkundekonflikt« nahm seinen Anfang im Kampf der Laien für die Hydro- und Diättherapie,

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setzte sich im Kampf der Vegetarier für die Pflanzenkost fort und endete im Kampf der Diätreformer für die biologischen Entfettungsmethoden. Er war ein akademischer Disput, der vor den Augen der Öffentlichkeit hauptsächlich in Form von Kampfpamphleten und Abwehrschriften »pseudodialogisch« ausgetragen wurde.66 Als wichtigstes Agitationsmedium für die Naturheilbewegung fungierte die Zeitschrift »Der Naturarzt«. Das Organ des »Deutschen Bundes der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise« wurde später in »Der Natur- und Volksarzt« umbenannt. Er erschien beispielsweise 1906 in einer monatlichen Auflage von etwa 140 000 Stück. Im Gegenzug wurde 1903 in Berlin eine »Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Kurpfuscherei« gegründet und eine Ärztezeitschrift herausgegeben, die Verbalattacken gegen den auflagenstarken »Naturarzt« vorbereitete. Die Ärzteschaft sah sich mit einer ernstzunehmenden berufsständischen Konkurrenz konfrontiert.67 Dem Phänomen der Kurpfuschereibekämpfung kam für die innere Festigung des Ärztestandes eine wichtige Bedeutung zu, denn sie stellte einen Teilbereich einer umfassenden Entwicklung dar, die im Nachhinein als Professionalisierungsprozess der Ärzte bezeichnet wurde.68 Die Ärzteschaft behauptete, die Naturheilkunde sei »die gefährlichste und bedenklichste Art der Kurpfuscherei.«69 Das Kurpfuschereiproblem war mit der »Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes« am 21. Juni 1869 entstanden, die laut § 29 die Ausübung des Heilgewerbes ohne Befähigungsnachweis oder Approbation erlaubte. Ab 1871 galt dieses Gesetz für das gesamte Deutsche Reich. Seit diesem Zeitpunkt wurden immer wieder Vorschläge zur Einführung eines Kurpfuschergesetzes gemacht, über das im Deutschen Reichstag viel debattiert wurde, aber welches letztendlich abgelehnt wurde. Auf rechtlichem Wege schien für die Mediziner also kein schnelles und effektives Vorgehen gegen die Konkurrenz der Naturärzte möglich zu sein. Die Naturheiler versuchten sich vom Kurpfuschervorwurf zu distanzieren, indem sie den Begriff wie folgt definierten: »Nur wer gewerbsmäßig die Heilkunde ausübt und nicht die nötigen Kenntnisse dazu besitzt, den darf man Kurpfuscher nennen.«70 Der Begriff konnte deshalb ebenso zur Bezeichnung eines »stümperhaften« Mediziners dienen, der schlechte Arbeit

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leistete. Sie regten einen »Befähigungsnachweis«, gesundheitliche Volksaufklärung, die Gründung eines Ausbildungsinstituts für Naturheiler und die Errichtung von naturheilkundlichen Lehrstühlen an den Universitäten als Lösungsansätze an, aber diese Vorschläge waren gegen den Widerstand der Ärzte nicht durchsetzbar. Der Ärztestand versuchte auf agitativem Weg in die Offensive zu gehen und bezeichnete jeden als »Kurpfuscher«, der es ohne Studium und staatliche Approbation unternahm, Krankheiten gewerbsmäßig zu heilen, gleichgültig aus welchen Motiven er handelte, welche Methoden er anwandte und welche Erfolge er damit vorweisen konnte. Der Kurpfuscherbegriff erhielt infolge der Verschärfung des Konfliktes gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmend negative Konnotation. Es entstanden weitere Schimpfwörter wie »Naturheilapostel«, »Natur- und Wasserfanatiker«, »Heilmittelschwindler« und »Quacksalber« oder »Charlatane«.71 Viele Naturheilkundler versuchten dem Vorwurf des niedrigen Bildungsgrades mit dem Argument der Heilerfolge von Prießnitz, Kneipp, Schroth und mit dem Hinweis darauf, dass sich viele approbierte Ärzte ihrer Bewegung angeschlossen hatten, zu begegnen. Außerdem entstanden Bücher, die für die wissenschaftliche Anerkennung des Kneippschen, des Schrothschen Heilsystems oder allgemein der Naturheilkunde kämpften. Hierzu gehörte z. B. die »Wissenschaftliche Begründung der Naturheilkunde« des Wörishofener Kurarztes Franz Kleinschrod. Den Ärzten wurde nun umgekehrt ab 1876 der Kampfbegriff »Schulmedizin« entgegengeschleudert: Sie betrieben eine reine Lehrmedizin, die die Erfahrungspraxis am Patienten völlig außer Acht lasse. Nach naturärztlicher Meinung waren das zunehmende Spezialistentum und der übertriebene wissenschaftliche Forschungsdrang schuld daran, dass die ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen der klassisch-philosophischen Heiltradition von der Partialdiagnose der zellular-pathologischen Krankheitslehre verdrängt worden sei. Die verallgemeinernde Objektivierung von Krankheitsbildern und ihre diagnostische Lokalisierung auf einzelne kranke Organe oder Zellen sowie die zunehmende Anonymisierung des Arzt-Patient-Verhältnisses mögen dazu beigetragen haben, dass sich die Naturheilkunde zu einer Massenbewegung for-

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mieren konnte. Die für den Laien unübersehbare Vielfalt an verordneten Medikamenten ließ viele Patienten skeptisch werden und zu einer arzneilosen naturheilkundlichen Behandlungspraxis zurückkehren. Die Naturheilkundeanhänger diffamierten die approbierten Ärzte deshalb als »Giftmischer«, »allopathische Mordgesellen« oder »Pillenjesuiten«.72 Gerade auf dem Gebiet der medizinischen Aufklärung leisteten die Naturheilvereine Gutes, wenn es um nützliche Ratschläge in Bezug auf eine hygienische Lebensweise ging; die auflagenstärksten Gesundheitsratgeber stammten aus ihren Reihen.73 Dieses Defizit galt es von ärztlicher Seite aufzuholen. So gaben nun einige Mediziner ebenfalls Gesundheitslehren und Ratgeber zur Lebensverlängerung auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse heraus.74 Auf diese Weise erfuhr der Aufklärungs- und Popularisierungsgedanke Ende des 19. Jahrhunderts eine Neubelebung. Zahlreiche Organisationen und Vereine wurden gegründet, so z. B. 1873 der »Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege« oder 1900 der »Deutsche Verein für Volkshygiene«. 1882/83 fand die erste »Allgemeine deutsche Hygiene-Ausstellung« in Berlin statt. Der »Homo hygienicus«, der seine Lebensführung nach gesundheitlichen Prinzipien ausrichtet, wurde das neue soziale Leitbild. Zu diesem Zeitpunkt wurde deshalb auch die Übergewichtsverhütung zur allgemeinen Bürgerpflicht erklärt, weshalb gerade in der »Diätfrage« der Konflikt zwischen Naturärzten und Wissenschaftlern eskalierte. Ein frühes Dokument dieser Auseinandersetzung zwischen Vegetariern und Schulmedizinern waren die unter dem ironischen Namen »Die Ritter vom Fleische« veröffentlichten Briefe zur Ernährungsfrage. Sie stellten eine Erwiderung auf eine von schulmedizinischer Seite vorgenommene Verunglimpfung der Vegetarier als »Ritter vom Gemüse« in der Zeitschrift »Daheim« aus dem Jahre 1869 dar. Die Naturheiler argumentierten, aufgrund der Übereinstimmungen zwischen Mensch und Affe bei Gebiss und Verdauungssystem könne auch beim Menschen auf eine frugivore Ernährungsweise geschlossen werden.75 Die Schulmedizin verwarf dies und wies darauf hin, der Mensch sei das Ergebnis eines langwierigen Evolutionsprozesses und der menschliche Körper zur Aufnahme verschiedener Nahrungsstoffe geeignet, auch zum Fleisch-

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verzehr.76 Eine zwiespältige Position in dieser Auseinandersetzung nahmen Hermann Philipp Friedrich Klencke und Gustav von Bunge ein. Klencke war Anhänger des reformerischen Gesundheits- und Schönheitsideals der Kalogathie (sich an das Schöne halten, um das Gute zu erreichen), und Bunge setzte sich aktiv für die deutsche Antialkoholismusbewegung ein.77 Dennoch glaubten beide aufgrund der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse am Liebigschen Eiweißdogma, das tierischem Eiweiß einen hohen Stellenwert in der Ernährung einräumte, und damit an der Vorherrschaft des Fleisches in der täglichen Kost festhalten zu müssen, solange kein gegenteiliger Laborbeweis erbracht war. Deshalb entwarf z. B. der Naturarzt Sponheimer zwei Theorien zur wissenschaftlichen Begründung des Vegetarismus. Das »Gesetz der Korrelation von Kultur und Ernährung« besagte, dass die Ernährung der Menschen in einem bestimmten Verhältnis zu ihrer Kulturstufe stehe. Das »Gesetz der Vegetabilisierung der menschlichen Nahrungsmittel« postulierte, dass die vegetabile Ernährung erst bei einer bestimmten Höhe der Kulturstufe möglich sei und angenommen werden müsse, sobald diese erreicht sei.78 Dieser Disput in der Diätfrage, der einen stark emotional gefärbten, unsachlichen Ton aufwies, lässt sich anhand zahlreicher Pamphlete und Gegendarstellungen rekonstruieren. Verunglimpfungen des wissenschaftlichen Eiweißdogmas als »carnivore[n] Aberglaube[n]« oder »Fleischwahn« und der Fleischkost als »gesetzlose oder gar blutige Diät« dokumentieren die Vehemenz der Auseinandersetzung.79 Die angeführten Kritikpunkte waren oft undifferenziert und emotionsgeladen, da es um die Selbstbehauptung zweier miteinander konkurrierender Berufsgruppen ging. Im Mittelpunkt des Konflikts stand zunehmend die »Diätfrage«80, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Streitgeschichte zwischen Lebensreformern und Wissenschaftlern zog. Die Naturärzte und Vegetarier bezeichneten die Ernährungslehre der damaligen Schulmedizin als einseitig »energetisch-kalorische Wärmebewertungslehre der Nahrungsstoffe« und erklärten die Liebigsche Eiweißlehre zum Irrweg. Sie orientierten sich bei ihren Ernährungsvorschlägen an neuen internationalen Forschungsergebnissen aus Amerika, die bereits 60 bis 80 g Eiweißeinnahme pro Tag als für den

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Menschen ausreichend bezeichneten, und empfahlen aufgrund der in der Nahrung enthaltenen vitalen Kräfte vorwiegend Vegetabilien, da sie auch den Magen und die Eingeweide in aktiver Bewegung hielten. Die Bedeutung des tierischen Eiweißes werde von den deutschen Ernährungswissenschaftlern maßlos überschätzt; es stehe nur deshalb an erster Stelle, weil sie die Nahrung ausschließlich nach ihrer Leichtverdaulichkeit beurteilen würden. Später setzte sich der Schulmedizin- und Naturheilkundekonflikt vor allem in der »Eiweiß- und Fettfrage« der Diätkost zwischen Ernährungsreformern und Wissenschaftlern fort. Dies war für die Genese der modernen Schlankheitskost von Belang, da erstmals Kritik an medizinischen Reduktionsdiäten durch die Lebensreformer geübt wurde, die als Gegenentwurf biologisch-vegetarische Entfettungsdiäten entwarfen. Gruppierungen und Entwicklungstendenzen der Lebensreformbewegung Der Begriff »Lebensreform« ist erstmals für das Jahr 1896 nachgewiesen und bezeichnete eine soziale Bewegung der Kulturkritik am Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess der Moderne. Bevor sich die neue Bezeichnung durchsetzte, waren anderslautende Synonyme wie »Diät-Reform«, »hygienische Reformbewegung« oder »Reform der gesamten Lebensweise« gebräuchlich.81 Das Wort »Lebensreform« war Name und Programm einer Bewegung, die eine naturgemäße Neuordnung aller Lebensbereiche anstrebte, um der fortschreitenden Gesundheitsminderung des Menschen im modernen Industriezeitalter entgegenzutreten. Der »moderne Mensch« sollte vor Zivilisationsschäden wie Übergewicht bewahrt werden.82 Die Lebensreform zielte über eine Reform im individuellen Bereich auf eine evolutionäre Gesellschaftsveränderung ab, was zwar faktisch nicht sofort erreicht werden konnte, aber bleibende Spuren hinterließ. Ihre Anhänger glaubten, die Ursache allen Übels sei die Abkehr von der Natur und das einzige Mittel zu ihrer Beseitigung die Umkehr. Sie kämpften gegen die Qualitätsminderung der Nahrungsmittel durch chemische Konservierungsmaßnahmen, Raffinierungen,

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Zusätze und Färbungen, die ihrer Auffassung nach auf Kosten der Gesundheit gingen. Zudem bekämpften sie jegliche »Völlerei« und verlangten eine den modernen Erkenntnissen der Ernährungswissenschaft entsprechende Diätreform. Einige Ernährungsreformer wetterten gegen die verfeinerte Kochkunst und propagierten Rohkost; andere warnten vor übermäßigem Fleisch-, Fett-, Kochsalzund Zuckerkonsum und zogen den industriell hergestellten Lebensmittelprodukten eine natürlichere Ernährungsweise mit Obst, Gemüse, Vollkornerzeugnissen und Mineral- oder Quellwasser vor. Die Naturheiler forderten eine ganzheitliche Behandlung der Kranken und rückten die »Gesundheit« als Gesellschaftswert in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Das verbindende Ideal aller lebensreformerischen Einzelbewegungen war die Wiederherstellung der Einheit von Natur und Mensch über den Weg individueller und schließlich gesellschaftlicher Verhaltensänderung. Gesunde Ernährung, Wohnen in Gemeinschaft und natürlicher Umwelt, Heilung durch Naturkräfte, körperlicher Kontakt mit den Naturelementen Licht, Luft und Wasser, Wellness und Fitness – um zwei moderne Begriffe zu verwenden – waren ihre Orientierungspunkte. Zu den Einzelbewegungen zählten die Naturheilkunde, der Vegetarismus, die Boden-, Siedlungsund Wohnungsreform, die Kleiderreform, die Nackt- und Körperkultur, die Jugendbewegung, die Antialkoholismusbewegung, die Frauenbewegung, das Impfgegnertum, die Vivisektionsgegnerschaft und vieles mehr. Die Lebensreform war eine neue Weltanschauung, die aus der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen auf politischem, sozialem, ökonomischem, kulturellem, gesellschaftlichem, wissenschaftlichem und religiös-ethischem Gebiet erwuchs. Jeder sollte eigene Alltagsgewohnheiten verändern und zu einer »naturgemäßen Lebensweise« zurückkehren.83 Diese Revolte war Ausdruck der Sinnsuche eines mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden gewordenen Bürgertums. Hauptcharakteristika der Bewegung waren die Abkehr von der Vernunft bei der Lösung von Lebensproblemen zugunsten der Besinnung auf innere Kräfte, aber auch das Erlebnis der Gemeinschaft mit den Ansätzen zu körperlicher und sexueller Befreiung von veralteten gesellschaftlichen Normen. Das Gefühl sollte als Antipode

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zur Vernunft nicht in die Privatsphäre abgedrängt werden. Mit der Faszination für vormoderne Gesellschaften, der Betonung »weiblicher« Qualitäten, der »Befreiung« des Leibes, der Suche nach »Authentizität« und »Ganzheit« sowie der Besinnung auf die »Kraft der Natur« wurden den gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen andere Werte entgegengehalten. Dabei konnte zwischen Lebensreformern, die nur in einem Ausschnitt ihres Verhaltens vom allgemein üblichen Lebensstil abwichen, und solchen, die aus Überzeugung eine radikale Reform ihrer gesamten Lebensweise anstrebten, unterschieden werden. Ein hervorragendes Beispiel für einen Fanatiker unter den Lebensreformern war der Wanderprediger Gustav Gräser. Er gab bewusst sein gutbürgerliches Leben und seinen Beruf auf, verfügte über kein geregeltes Einkommen, löste sich aus seinem Familienverband und grenzte sich durch unkonventionelle Kleidung auch äußerlich vom Gewöhnlichen ab, um ganz dem Ideal eines alternativen Lebensstils folgen zu können. Er zog wie ein Vagabund in den Großstädten umher, hielt anarchistisch-religiöse Reden und verteilte Gedichte, um eine möglichst große Gruppe um sich zu scharen und von einer ländlich-natürlicheren Wohn- und Lebensweise zu überzeugen. Die Zahl solcher Utopisten blieb aber relativ klein. Ihre Ideen konnten in übertriebene Weltuntergangsprophezeiungen münden oder sogar in völkisch-germanisches Schwärmertum ausarten. Dies erklärt die Tendenz der einschlägigen Literatur, die Lebensreformer insgesamt als soziale Randgruppe zu bezeichnen oder in diesem Kontext von »Eskapismus«84 zu sprechen. Die Lebensreformbewegung lässt sich in drei historische Entwicklungsphasen unterteilen.85 Die erste Phase wird bestimmt durch die Naturheilbewegung als Ausgangspunkt. Die Naturheiler interpretierten Zivilisationskrankheiten, so auch Fettleibigkeit, als Folge einer »falschen« Lebensweise und einer kranken Gesellschaft und entwickelten neue Varianten von Therapiemöglichkeiten. Die zweite Phase war von der Siedlungs- und Bodenreformidee geprägt. Die Lebensreformer wollten die Bodenspekulationen in den Großstädten beenden und mit dem Wohnen im Grünen auf der Basis genossenschaftlichen Wirtschaftens im handwerklichen, gärtnerischen und landwirtschaftlichen Bereich und mit optimalen Möglichkeiten zur individuellen und kulturellen Lebensentfaltung in Luft und Sonne

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vertauschen; dahinter stand die Idee der »Gartenstadt«.86 Derartige Projekte angewandter sowie produktiver Ernährungsreform und gelebter Körperkultur waren z. B. die Obstbausiedlung »Eden« bei Oranienburg, das vegetarische Sanatorium »Ascona« auf dem Monte Verità und die Künstlerkolonie »Hellerau« bei Dresden. Die dritte Phase setzte um die Jahrhundertwende mit der Entdeckung der Schönheit des jungen, natürlich-schlanken Menschenleibes ein.87 Die naturheilkundliche Licht-Luft-Therapie bildete den Ausgangspunkt für den modernen Körperkult. Gottähnlich wurde der menschliche Körper als Naturprodukt verehrt und angebetet. Das Einswerden mit der Natur hatte einen pseudo-religiösen Charakter; die neue »Körperreligion« wurde als kosmisches Pathos und personales Ganzheitserleben propagiert. Das Feiern des von Kleidern und Zwängen befreiten Körpers kam einer Rebellion gegen bisher unangetastete Gesellschaftsregeln gleich. Es trat auch ein verändertes Denken auf sexuellem Gebiet zutage: Erste Aufklärungsbücher für die Jugend wurden herausgegeben, 1919 entstand das Institut für Sexualwissenschaften in Berlin, Frauen kämpften um ihre sexuelle Gleichberechtigung. Insbesondere bürgerliche Jugendliche protestierten mit der Wahl ihrer Kleidung und ihrem Freizeitverhalten gegen Tabus und veraltete Normen und organisierten sich im »Wandervogel« und in anderen Jugendgruppen. Die Lebensreformer wehrten sich gegen eine ihnen mechanisch-seelenlos erscheinende Großstadtkultur und sahen im Jugendlichsein den Ausdruck positiv besetzter Werte wie Gemeinschaft, Einfachheit, Emotionalität und Vitalität. Gemeinsames Wandern, Lagerleben, Baden, Spielen und Musik stellten ihre neuen Lebensformen dar.88 Das neue Körperbewusstsein, die Wiederentdeckung der natürlichen Schönheit und das sich neu artikulierende Gesundheitsbewusstsein machten eine entsprechende Reformkleidung für den Frauenkörper zu einer dringenden Notwendigkeit. Auf physischer, psychischer und schließlich gesellschaftlicher Ebene fand ein Befreiungsakt von auferlegten Zwängen statt. Körperbewegung in Form von Gymnastik, Sport und Tanz vermittelte einen neuen »Körpersinn«89, heute »Körperbewusstsein« genannt. Der jugendlichschlanke und sportlich trainierte Körper wurde zum neuen Orien-

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tierungsmuster der Moderne. Es ging um seine aktive Gestaltung durch Diät und Bewegung und um die gesundheitliche Förderung seiner Widerstandsfähigkeit. Demnach artikulierte sich die Lebensreform als Naturreform (1830–1870), bei der das Ziel einer »naturgemäßen Lebensweise« im Vordergrund stand, als Sozialreform (1880–1900), bei der die Reformierung des Gemeinschaftslebens von der Bodenreform bis zur Sexualreform dominierte, und schließlich als Kulturreform (1900– 1920), bei der über die Körperkultur eine Reform der allgemeinen Alltagskultur beabsichtigt war.90 Die Lebensreform strahlte in alle Facetten des täglichen Lebens hinein, indem sie den modernen Gesundheitskult, Diätkult, Sonnenkult, Jugendkult und Körperkult mit initiierte. Von der Theorie zur Praxis: Die Siedlungsgemeinschaft Ascona auf dem Monte Verità Auf dem Monte Verità bei Ascona im Tessin wurden alle drei historischen Hauptkennzeichen der Lebensreform (Naturheilkunde, Siedlungsgedanke und Körperkultur) praktisch umgesetzt. Zu den Anliegen der Siedlung zählten die genossenschaftliche Gesellschaftsreform, die Stellung der Frau in der Zukunftsgesellschaft, die mystische Freimaurerei, ferner Kunst, Ritual- und Kulttanz früherer und außereuropäischer Kulturen, Ausdruckskultur in Erziehung, Leben und Kunst, aber auch eine völlig andere Ernährungsweise, Naturheilkunde, Wohn-, Kleider-, Erziehungs- und Schreibreform. Im Herbst 1900 hatten fünf Lebensreformer mit dem Aufbau einer zuerst urkommunistisch geplanten, dann aber individualistischen Kooperative begonnen, aus der schließlich die Sonnen-Kuranstalt und das Sanatorium »Monte Verità« hervorgingen. Die treibenden Kräfte waren der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven (1875–1935) und seine Lebensgefährtin Ida Hofmann (1864–1926). Zu ihnen gesellten sich die beiden Brüder Karl (1875– 1915) und Gustav Arthur Gräser (1879–1958), genannt Gusto, Lotte Hattemer und Jenny Hofmann, die Schwester von Ida. Die Wohngemeinschaft plante, eine Naturheilanstalt zu errichten, den Boden zu bebauen und natürlich zu düngen, sich nach Möglichkeit autark mit

Naturheilbewegung, Vegetarismus, Lebensreform

Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs zu versorgen. Zusätzlich wurden eigene Schulen und handwerkliche Fabrikationsbetriebe eingerichtet, um eine maximale Unabhängigkeit zu erreichen. Die Kuranstalt wurde schon vor ihrer Eröffnung durch lebensreformerische Zeitschriften bekannt und zog Lebensreformer aller Art an.91 Im Frühjahr 1902 wurde das Naturheilsanatorium eröffnet; ein Jahr zuvor war die Licht-Lufthütte »Casa Selma« erbaut worden. Hier wurde in Licht und Luft gebadet und geschlafen, Sport getrieben, aus Naturfasern hergestellte und der »Normalfigur« angepasste Kleidung getragen, gemeinsam Reigen getanzt und im »Naturkleid« Gartenarbeit verrichtet, in der Sonne oder im Bach gebadet. Dies alles gehörte ebenso zum Tagesprogramm wie der vegane Vegetarismus oder Vegetabilismus, wie Ida Hofmann ihn nannte.92 Sie überlegte, wie man am sinnvollsten Rohkost mit gekochter vegetarischer Kost kombinieren konnte und ob Kartoffeln mit ins Ernährungssystem aufgenommen werden sollten oder nicht. Nach ihren Aussagen stellte sich nach einer gewissen Zeit, wohl bedingt durch die Obstsäure, »ein wahrer Kartoffelhunger« ein, den der Brotgenuss nicht zu ersetzen vermochte.93 Für ihre vegetarische Diät unterhielten die Bewohner des Monte Verità großzügig angelegte Gemüsegärten, zahlreiche Obstbäume sowie Nuss- und Beerensträucher. Ein Originalrezept eines Sechs-Gänge-Menüs um 1900 sah als Vorspeise ein Gemüse-Carpaccio mit Tamari-parfümierter Soße, Feldsalat auf warmem Tofubett mit Himbeeressigsoße und gemischten Samen, Auberginenrouladen an Saitan mit Ingwersoße, als Hauptgang roten Reis aus der Camargue mit Kürbisstückchen und Zucchini und Cous-Cous-Klöße mit gelben Erbsen an Joghurtsoße mit gedämpftem Brokkoli und als Nachspeise eine Torte mit frischen Früchten vor. Das Interesse von Vegetariern jeder Richtung an der Asconischen Naturheilanstalt war sehr groß, weshalb man es im Volksmund auch scherzhaft »Salatorium« nannte. Darunter befanden sich auch fanatische Anhänger der frugivoren Lebensweise, die sich auf den Verzehr nur einer ganz bestimmten Frucht versteift hatten.94 Rudolf von Laban, ein Erneuerer des Tanzes, integrierte die Bewegungskunst als völlig neuartiges Element in das Lebenskonzept. Die all-

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Entwicklungsstränge der modernen Diätkost

gemeine Zivilisations- und Kulturrevolution der Jahrhundertwende erhob damit nicht nur das naturgemäße Leben zu einer Art Religion, sondern führte auch im Gefolge der Rückkehr zum ursprünglichen Rhythmus der Bewegung zu einer grundlegenden Reform der Körpererfahrung. Der Monte Verità zog die Pioniere des neuen Tanzes wie Emile Jaques-Dalcroze oder Isadora Duncan an. Rudolf von Laban gründete 1913 hier eine Sommerfiliale seiner Münchner Schule des freien Tanzes. Eine »alternative« Lebensweise am Rande der Zwänge und Normen der Industrie- und Leistungsgesellschaft war wahr geworden. Bis zum Ersten Weltkrieg suchten wohl einige 1 000 Besucher nicht nur als Kurgäste oder Touristen, sondern als bewusste Seelen- und Lebensstilsucher den Monte Verità auf. Während des Krieges wurde Ascona zu einem wichtigen Zufluchtsort für die in Zürich versammelten Emigranten und Pazifisten. Auch nach Kriegsende blieb der Hügel eine Begegnungsstätte für Künstler und Lebensreformer.95 Die Bewohner lehnten Gesellschafts- und Wirtschaftsvorschriften strikt ab, suchten nach »höheren«, beinahe als religiös zu bezeichnenden Werten, grenzten sich in einem neuen Bewusstsein für ihre Ernährung, ihren Körper und ihre Umwelt und mit pazifistischer Weltoffenheit von der Gesellschaft ab und wiesen unter anderem den Weg zur Diätkost, zum Körperkult und zum Umweltschutz der Moderne.96

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Siehe z. B. Klencke (1873). Beck (1890), 18. Kleinschrod (1911), 164. Grote (1936), 18 ff. Rousseau (1750), am Ende des 1. Teils. Hufeland (1796), Vorrede. Vgl. Ladurner (1899); Hahn (1871), 8–16. Baltzer (1911), 114. Gerling (o. J. [um 1900]), 38. Hufeland (1796), XV. Buch.

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Hildebrand (1934), 34f. Hildebrand (1934), 40f. Oertel (1829–41), 8. Oertel (1829–41), 5–9. Oertel (1829–41). Baumgarten (o. J. [um 1893]), 104. Möller (1925b), 9f. Hildebrand (1934), 50. Zur genauen Durchführung der Schrothschen Kurpackungen siehe Möller (1925b), 15–17. 20 Gleich (1860), 7.

Naturheilbewegung, Vegetarismus, Lebensreform

21 Hahn (1873). 22 Hahn (o. J. [um 1883]); Hahn (1883). 23 Rikli (1869), 87. 24 Hahn (1871), 8–12. 25 Beck (1890), 60–66, 75–83. 26 Pudor (1906a), 18f. 27 Rikli (1895), 17–19. 28 Rikli (1869), 84–86. 29 Stolzenberg (1964), 26 ff. 30 Just (1896). 31 Stolzenberg (1964), 42. 32 Zitiert nach Löffler (1977), 34. 33 Zitiert nach Dieckhöfer (1985), 45. 34 Schreber, zitiert nach Dieckhöfer (1985), 46. 35 Vgl. hierzu Simons (1912). 36 Siehe z. B. Hahn (1873), Motto auf dem Titelblatt. 37 Regin (1995); Barlösius (1997). 38 Hahn (1873), 1. 39 Schlickeysen (1892), 18 ff. 40 Vgl. z. B. Struve (1869); Schlickeysen (1921), 12; Jaskowski (1912); Kingsford (1891), 1. 41 Teuteberg (1992), 67. 42 Hahn (1873), 3 f. 43 Bebel (1909), 332. 44 Vgl. z. B. Lane (1854); Bilfinger (1881); Singer (1904). 45 Vgl. hierzu Kelch (1898a); Hammer (1914), 76 f. 46 Der Kulturmensch: Lehrmeister für Körper- und Gesundheitspflege, 2 (1906), 314. 47 Hahn (1871), 175 ff. 48 Hahn (1871), 38. 49 Hepp (1987), 76. 50 Vgl. Lorenz (o. J. [1914]); Wegweiser (1936). 51 Hepp (1987), 75. 52 Vgl. Krabbe (1989), 438 f.

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Leiner (1886), 35. Baltzer (1911), VII. Struve (1869), 18. Struve (1869), 123. Teuteberg (1992), 68. Zimmermann (1846), 7, 107. Graham (1880), 40. Zur Institutionalisierung der deutschen Vegetarismusbewegung siehe Barlösius (1997), 192–214. Baltzer (1911), 1–22, 45, 63–70, 102 f., 131. Entfettungskur (o. J. [1928]). Entfettungskur (o. J. [1928], 35. Balzli (1930). Zum Schulmedizin-/Naturheilkundekonflikt: Regin (1995); Wittern (1992); Huerkamp (1986). Vgl. Spohr (1905) als Gegenreaktion auf die 1900 bis 1904 in der Straßburger Post erschienenen »Briefe eines Arztes«; Gerling/Wagner (1901) als Anti-Schrift zur Angriffsschrift Alexander (1899). Hueppe (1895/96), 65. Vgl. Huerkamp (1985), 14 ff. Dr. Siefart, zitiert nach Kleinschrod (1911), 42. Kleinschrod (1911), 14. Gerling/Wagner (1901), 43, 54; Ebstein (1905); Thesing (1908), 22, 24; Wagner (1908/09), 500–511. Gerling/Wagner (1901), 11; Beerwald (1903), 4. Siehe z. B. die Ratgeber Bilz (1894) oder Platen (1899). Vgl. Herrmann (1990), 95. Siehe etwa Vogel (1872) oder Ebstein (1891).

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75 Hahn (1869). Daheim (1869), Nr. 1. Kingsford (1891), 2 f., 13; Baltzer (1911), 35 ff. 76 Vgl. Bunge (1901), 7; Virchow (1867/68), 32 ff. 77 Klencke (1869); Bunge (1901). 78 Sponheimer (1905), 31, 36. 79 Hahn (1869), 52; Riedlin (o. J. [um 1924]), 3; Schlickeysen (1892), 17. 80 Vgl. hierzu: Hahn (1869); Andries (1893); Nagel (1900). 81 Vegetarische Warte, 29 (1896), 37; 30 (1897), 180; 35 (1902), 140. 82 Lorenz (o. J. [1914]), 3. 83 Baltzer (1911), 2. 84 Vgl. Rothschuh (1983), 133. 85 Frecot (1976), 138–152.

86 Beispiele für lebensreformerische Siedlungsgemeinschaften z. B. in Simons (1912), 16–56. 87 Vgl. z. B. Pudor (1893); Pudor (1906a); Stratz (1898); Stratz (1907). 88 Hermand (1972), 147–180. 89 Siehe Graeser (1903). 90 Lebensreform (1988), 19. 91 Vgl. Monte Verità (1978), 15–160. 92 Hofmann-Oedenkoven (1905). 93 Aus den Memoiren Ida Hofmanns; zitiert nach Landmann (1973), 68 f. 94 Monte Verità (1978), 63. 95 Landmann (1973), 242–286. 96 Conti (1984), 86.

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Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität Zeitgenössische Vorstellungen über die Notwendigkeit einer totalen Ernährungsumstellung Einen großen Wandel der Nahrungsgewohnheiten brachte Anfang des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung. Mit ihr stieg der Verzehr von Fleisch, Eiern, Käse und Fetten sowie von Zucker, Feingemüse, Obst und Südfrüchten kontinuierlich an, während der Verzehr von Getreide, Kartoffeln, Hülsenfrüchten und Grobgemüse deutlich sank. Die ursprünglich harte körperliche Arbeit, wie sie Bauern und Handwerker zu leisten hatten, wurde von vorwiegend sitzenden Tätigkeiten aus dem Kontroll- und Dienstleistungsbereich in den Fabriken und Büros abgelöst. Mit steigendem Grad an Mechanisierung wurde sie immer mehr von Maschinen übernommen Schwerund Handarbeiter, die jahrtausendelang das Hauptkontingent der Menschen im vorindustriellen Europa gestellt hatten, gingen von 1882 bis 1961 auf ein Drittel zurück. Diese Entwicklung führte dazu, dass der physiologische Bedarf an Kalorienträgern für die Muskelarbeit zugunsten des Bedarfs an tierischem Eiweiß zurückging.1 Parallel dazu wuchsen die mit Übergewicht zusammenhängenden Gesundheitsprobleme. Deshalb wurde seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach einer neuen Ernährungsweise als Alternative zur

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gewohnten Kost gesucht. Die Diätreformer der Jahrhundertwende waren von der Notwendigkeit einer kompletten Ernährungsumstellung des modernen Menschen überzeugt. Man erblickte in der »Kulturkost« die Hauptursache für das Übergewichtsproblem der Moderne: »Die Kultur kulinarischer Genusssucht«, so hieß es, »hat erst die Kultur der unbegrenzten Fettleibigkeit heraufbeschworen.«2 Vor diesem Hintergrund entstand die Ernährungsreformbewegung im Deutschen Kaiserreich, die eigene Diätformen als Alternativkost entwarf. Die Begriffe »Ernährungsreform«, »Nahrungsreform« oder »Diätreform« waren seit den 1880er Jahren in lebensreformerischen Werbeschriften immer öfter zu lesen.3 Die Ernährung bildete damit den grundlegenden und ausschlaggebenden Elementarstrang der gesamten Lebensreformbewegung. Die Idee einer Diätreform entstand als spezielle Naturheiltherapie und blieb auch als solche bestehen, doch spaltete sich davon die Vegetarismusbewegung und zuletzt die große Ernährungsreformbewegung ab. Die Ernährung wurde so zur weltanschaulichen Lebensfrage. Den richtigen Weg in der Ernährungsforschung, so die Lebensreformer, weise die Zurückverfolgung der Geschichte der menschlichen Ernährung bis zum Urbeginn. Daraus ergebe sich – vor der Erfindung der Kochkunst, die erst den Fleischgenuss ermöglichte – eine frugivore Ernährung als Urnahrung des Menschen. Unter den Diätreformern waren deshalb überwiegend Anhänger einer veganen oder laktovegetabilen Diät zu finden. Allerdings war dies nicht zwingend der Fall; so gab es auch Ernährungsreformer, die für eine gemischte Kost mit mäßigem Fleischgenuss plädierten.4 Dies war ein gravierender Unterschied zur deutschen Vegetarismusbewegung, in der die fleischlosen Diätformen den Kern der neuen Weltanschauung bildeten. Der Begriff »Ernährungsreform« konnte dagegen umfassender gebraucht werden und auch Gemischtkost bezeichnen. Die Ernährungsreform war Zivilisations- und Sozialprotest in Form von Diät- und Reformkost, da die Rationalisierung, Modernisierung und Technisierung der Arbeitswelt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Einzug in die Lebensmittelindustrie gehalten hatte. Die Massenproduktion von Industriekost wurde durch neue Herstellungs-, Verarbeitungs-, Lagerungs- und Verpackungsverfahren ermöglicht und die hinreichende Versorgung der

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

Bevölkerung durch die Verbesserung der Infrastruktur sichergestellt. Das Lebensmittelangebot erweiterte sich durch die Erfindung der Sprühtrocknung und des Pasteurisierungsverfahrens, aber auch durch die »Revolutionierung« der Aufbewahrungsmöglichkeiten (Konservendose, aufkommende Kühltechnik und Lebensmittelchemie) enorm. Diese Entwicklungen sowie infolge der Industrialisierung bedingte sozioökonomische Veränderungen, wie insbesondere die Zunahme der Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten, beeinflussten nachhaltig die damaligen Nahrungsgewohnheiten. Ganz entscheidend stieg zudem der Zucker- und Fettkonsum an. Wurden um 1850 lediglich zwei Kilogramm Zucker pro Kopf und Jahr verbraucht, so liegt der jährliche Zuckerkonsum eines Bundesbürgers heute bei 38 Kilogramm. Erst die moderne Lebensmittelchemie ermöglichte die Massenproduktion von Zucker ebenso wie die Herstellung von Margarine als billigen Butterersatz. Das Essverhalten führte weg von einer wenig verarbeiteten, kohlenhydrat-, vitamin-, mineralstoff- und ballaststoffreichen Ernährung hin zu einer fett-, zucker- und eiweißreichen, aber ballaststoffarmen Kost mit hohem Verarbeitungsgrad. Diesen Prozess erkannten die Diätreformer bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert und erklärten der übermäßigen Nahrungszufuhr den Krieg.5 Es wurde zur Revolution gegen das zu viele Essen mit den Worten aufgerufen: »Da kann es wiederum gar keinem Zweifel unterliegen, dass der moderne Kulturmensch viel zu viel isst, etwa zwei bis dreimal soviel als er nötig hat.«6 Neben dem hygienischen und ästhetischen Motiv (Übergewichtsbekämpfung) gab es aber auch ein frühes ökologisches Motiv für eine Ernährungsreform. Die Nahrungsmittel sollten biologisch, d. h. im Einklang mit der Natur ohne schädliche Umweltbelastungen und größere Eingriffe in das Umweltsystem produziert werden. Eine führende Persönlichkeit der ökologischen Diätreform war der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner (1861–1925). Er forderte eine biologisch-dynamische Landwirtschaft ohne den Einsatz künstlicher Dünge- und Unkrautvernichtungsmittel und ohne die Ausrichtung auf intensive Massenproduktion. Steiners Anthroposophie besagte, dass die Entstehung der Welt mit ihren mineralischen und pflanzlichen Erscheinungen auf ein Zusammenwirken von elementaren »Bildekräften«, den sogenannten »Äthern«, zurückgehe

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und der Wert der Nahrung von ihrem Gehalt an diesen ätherischen Bildekräften abhängig sei. Nur umweltschonende, landwirtschaftliche Produktionsweisen könnten diese erhalten.7 Den »Bio-Landbau« verteidigte ebenso Heinrich Bauernfeind (1861–1946) auf der Basis seiner wissenschaftlichen »Aschenanalysen der Nährmittel«. Sein Appell »Vorwärts zur naturgemäßen Kultur« knüpfte an Julius Hensel an, der sich für die biologisch verträgliche Landwirtschaft und das Unterrichtsfach »Ernährungserziehung« an den Schulen publizistisch stark gemacht hatte.8 Nach Bauernfeinds Meinung war der Kernpunkt in der Ernährungsfrage die Menge und Art der Mineralstoffe (Nährsalze) in den Nahrungsmitteln. Bauernfeind unterschied zwischen einer »Normal-Nahrung«, die aus Kern- und Samenobst bestehe, und einer »Ideal-Nahrung«, die eine reine Fruchtdiät sei.9 Daneben existierten ökonomische Überlegungen, d. h. alternative Ernährungsempfehlungen wurden unter dem Gesichtspunkt der Kostenersparnis und als Weg zur Lösung der sozialen Frage gesehen.10 Eine naturgemäße, meist pflanzliche Nahrung sei produktionsmäßig kostengünstiger, und Nahrungsquellen, die normalerweise für die wenig effektive Tierhaltung eingesetzt würden, könnten so für die Ernährung der Bevölkerung erschlossen und besonders in Krisenzeiten verwendet werden. Die Ernährungsreformer erstrebten eine »Reformküche« und »neuzeitliche Ernährung«, um der fortschreitenden Gesundheitsminderung durch Zivilisationsschäden wie Übergewicht Einhalt zu gebieten. Sie verwarfen die industrielle Massenerzeugung auf Kosten der Qualität und der Gesundheit des Verbrauchers und kämpften gegen die Entwertung der Nahrungsmittel durch schädliche chemische Konservierungsmaßnahmen, Raffinierungen, künstliche Düngung, chemische Zusätze und Färbungen und andere mögliche Arten von Lebensmittelverfälschungen. Sie erzeugten die ersten Diätprodukte als Alternative zur herkömmlichen Nahrung und wollten damit eine dem neuesten Forschungsstand der Ernährungswissenschaft entsprechende Diätreform erreichen.11 Dies war ein hochgestecktes Ziel, denn es existierten zahlreiche medizinischnaturwissenschaftliche und reformerische Diättheorien nebeneinander, sodass kaum eine einheitliche Meinung für eine allgemeine

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

Nahrungsreform gefunden werden konnte.12 Die festgefahrenen Lehrmeinungen ließen sich nur unter größten Schwierigkeiten aus den Naturwissenschaften vertreiben. Die Diätreformer hatten gegen erhebliche Widerstände der Ernährungsforscher anzukämpfen. Der Begriff »Diät« wurde von den frühen Vertretern der Ernährungsreform als Synonym für »Ernährung« gebraucht, da er vom griechischen díaitá (= Lebensweise) abgeleitet war und eigentlich die gesamte vom Arzt verordnete Lebensweise umfasste. Seit der Jahrhundertwende trat in den Diätratgebern der Schönheitsaspekt einer schlanken Figur als völlig neuartiges Motiv für eine alternative Ernährungsweise hinzu. Der Diätbegriff wurde in der uns heute ge-

Reklame für den »Zehr-Yoghurt« im Kampf gegen die Korpulenz (um 1900) Quelle: Heuberger (1913)

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nannten Weise zur Bezeichnung einer kalorienreduzierten Schlankheitskost erweitert. Ernährungsreformer wurden so zu den ersten Anbietern entfettender Diätmittel. Die Haigsche Harnsäureverschlackung als Basis der Diätvorschläge Der englische Arzt Alexander Haig (*1853) war ein bedeutender Verfechter der vegetarischen Diät und baute darauf seine »Theorie der Harnsäure als ein Faktor bei der Entstehung von Krankheiten« auf. Seine Lehre der Harnsäureverschlackung des Blutes und der Körpergewebe als Ursache für die Entstehung von Krankheiten beeinflusste die Naturheilkunde seiner Zeit tiefgehend und wirkt auch heute noch nach. Nach mehrjährigen experimentellen Untersuchungen an sich selbst und bereitwilligen Patienten gelangte er zu der Theorie, dass die Harnsäure und harnsäureähnliche Stoffe, die beim übermäßigen Fleischverzehr auftreten, für die Entstehung zahlreicher Krankheiten verantwortlich seien. Er verwarf deshalb die von der Ernährungswissenschaft so hoch geschätzte eiweißhaltige tierische Nahrung, vor allem Schlachtfleisch jeder Art, denn dieses bewirke einen Harnsäureüberschuss im Blutstrom, den es zu vermeiden gelte. Im Gegensatz zu der von der Ernährungswissenschaft propagierten Eiweißmenge von 118 g pro Tag sah er nur ein tägliches Eiweißquantum von 96 bis 105 g für einen arbeitenden Menschen vor. Als absolut sicherer Maßstab für den Nährwert eines Lebensmittels galt ihm die in einer bestimmten Zeit aus einem Nahrungsmittel erzeugte Harnstoffmenge. Zur Bestimmung der Harnsäure und harnsäureartigen Stoffe entwickelte er ein bestimmtes Verfahren, das »Haycraftsche Verfahren«. Die entsprechenden Untersuchungsergebnisse zur Bestimmung der Harnsäurewerte in den einzelnen Nahrungsmitteln fasste er in Tabellen zusammen und gründete darauf seine Ernährungsratschläge, die er in der Schrift »Diät und Nahrungsmittel« veröffentlichte. Zwar schätzte er das Eiweiß als hochwertigen Nährstoff, wollte es aber nicht in Form von Fleisch, sondern in Form von leichtverdaulicher Milch, Milchprodukten und Eiweißersatznährmitteln aufgenommen wissen. Auch dem Brot und den Körnerfrüchten gestand

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

er wegen des pflanzlichen Eiweißes eine gewichtige Bedeutung für eine laktovegetabile Ernährung zu und erhob die Forderung: »Lebt von Brot, denn Brot und Körnerfrüchte sind und bleiben die beste und gesündeste Nahrung.«13 Obst genoss in seinem Diätplan eine höhere Wertschätzung als Gemüse. Er konstruierte bestimmte Diätformen erstens bei der gemeinhin üblichen Lebensweise mit genauer stufenweiser Umstellungsanleitung der drei täglichen Mahlzeiten, zweitens bei körperlicher Arbeit und besonderen sportlichen Leistungen und drittens für die Behandlung leichterer krankhafter Zustände und Funktionsstörungen (Fettsucht und dergl.). Als Entfettungskur schlug er täglich eine halben Liter Magermilch, 42 g Magerkäse, 15 g seines Diätproduktes Robborat (ein reines Getreideeiweiß), und 5 g seines Diätproduktes Protene (ein weiteres Pflanzeneiweiß) sowie 120 g Reis vor. Ergänzend sollte säuerliches Obst zur Anregung der Verdauung und zur Beschleunigung der Verbrennung des Körperfettes gereicht werden. Seiner »Lehre der Erschöpfung« zufolge unterschied er zwischen einem zirkulierenden, leicht verdaulichen Pflanzeneiweiß und einem sich im Blut und Gewebe ablagernden schwer verdaulichen Fleischeiweiß. Die Hauptpunkte seiner Betrachtung fasste er wie folgt zusammen: 1) Das Haupterfordernis für die Erzeugung von Kraft und Ausdauer ist eine genügende Zufuhr von Eiweißstoffen in verdaulicher Form. 2) Der Körper ist zwar hierfür hauptsächlich auf die täglich eingenommene Nahrung angewiesen, aber er hat auch einen kleinen Reservevorrat von Eiweiß in gewissen Geweben zur Verfügung, den er ebenfalls zu seiner Benutzung heranzieht, und zwar sobald er bei längerer Anstrengung nicht genügend ernährt wird (zirkulierendes Eiweiß). 3) D[as] dritte wichtige Erfordernis für die Erzeugung von Kraft und Ausdauer ist eine ungehinderte und rasche Zirkulation des Blutes durch die Gewebe, damit letzteren die Eiweißstoffe zugeführt und die Verbrauchsstoffe aus ihnen leicht entfernt werden können, und diese Zirkulation ist wiederum nur möglich, wenn der Blutstrom relativ frei ist von Harnsäure oder physiologisch gleichwertigen Substanzen.14

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Haig identifizierte die »Überernährung« als Hauptursache zahlreicher Zivilisationskrankheiten. Es sei kein Zufall, dass Dicke oft hohen Blutdruck hätten oder dass Fettsucht mit einer Neigung zum Schlagfluss einherginge. 1884 veröffentlichte er seine Erkenntnisse in einem 1902 von Max Bircher-Benner übersetzten Buch. Er warnte darin vor übermäßigem Fleisch-, Alkohol-, Kaffee- und Teegenuss, der den Säuregehalt des Blutes um ein Wesentliches erhöhe. Den Zustand einer »physikalische[n] Änderung der Blutmasse bei einem gestörten Lösungsgewicht der harnsauren Salze« bezeichnete er als »Kollämie«.15 Der Körper sei bestrebt, überschüssige Stoffwechselgifte auszuscheiden, sodass ein Harnsäureüberschuss zu Krankheiten führe. Dieser Krankheitszustand der »Kollämie« lasse sich nur mit einer basenüberschüssigen, laktovegetabilen Nahrung und einer Ausscheidung der Harnstoffe durch Schwitzen wieder beheben. Zu den »Kollämiekrankheiten« rechnete Haig die Migräne, Muskelkrämpfe, Epilepsie, Eklampsie, Hysterie und Depressionen, um nur einige zu nennen. Den Krankheitszustand der Harnsäureverschlackung der Gewebe, der die Folge eines fortwährenden Fleischgenusses und Gebrauchs von Genussgiften sei, nannte Haig »Retention«. Zu den »Retentionskrankheiten« zählte er Gicht, Rheuma, Steinleiden, Zuckerharnruhr, Entzündungen des Bauchfells, der Mandeln, der Hirnhaut, der Herzinnenhaut, Darmentzündungen und die Raynaudsche Krankheit. Im Fall der schwerwiegenden Kollämie- und Retentionskrankheit empfahl er strenges Fasten und Dürsten bis zu 48 Stunden, lediglich etwas Zwieback und Obst waren in dieser Diät erlaubt. Unterstützt werden sollte Haigs Ernährungstherapie mit zusätzlichen diätetischen Außenreizen wie viel Bewegung, Massage und Schwitzkuren, die den Stoffwechsel und die Ausscheidungsvorgänge anregen sollten.16 Zusammenfassend meinte er, die zivilisationskranke Gesellschaft könne nur durch die Wirkung seiner Diät, d. h. unter Vermeidung von Fleisch und Genussmitteln, dem Untergang entgehen. Auch seiner Meinung nach kränkelte nicht nur der einzelne Mensch, sondern die ganze Gesellschaft, sodass er sich in dieser Hinsicht als überzeugter Lebensreformer zu erkennen gab. Diese Theorie der Harnsäureverschlackung ist bis auf den heutigen Tag nicht wissenschaftlich widerlegt. Sie bildete die Ausgangs-

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

basis für viele weitere Diätreformideen, so z. B. für die Nährsalztheorie Lahmanns, das Rohkostsystem Bircher-Benners oder ganz allgemein für die »basenüberschüssige« Pflanzenkost, wie sie später in Schlankheitsdiätkochbüchern wiederzufinden war.17 Vor allem die Rohkost, die sich im wesentlichen aus Gemüse, Obst, Früchten und Wurzelgewächsen zusammensetzt, wurde als basische oder alkalische Kostform empfohlen. Statt von einer Entfettungskur mit Rohsäften sprach man häufig auch von der »biologischen Blutreinigungskur«18, wobei das Gesundheitsargument als Begründung für Körperschlankheit im Mittelpunkt stand. Der erste Schritt vom vegetarischen Kochen zur »Vollwertkost« Es ist erstaunlich, dass die Frage nach der Vollwertigkeit der Nahrung erst relativ spät gestellt wurde, obschon bei manchen frühen Persönlichkeiten der deutschen Naturheilbewegung bereits erste Ansätze dafür erkennbar waren. Als erster konsequenter Vertreter einer Vollwertkost erweist sich 1875 Gustav Schlickeysen (1843–1893) mit dem Buch »Obst und Brot«. Darin formulierte er für alle Hauptargumente der vegetarischen Lebensweise eigene Gesetze. Das »Gesetz der Moral« unterstrich die instinktive Abneigung gegen den Fleischgenuss und die Zuneigung zum Genuss der Früchte aus sittlichen Gründen und als Mittel der Selbstfindung. Als anthropologisches Fundament einer wissenschaftlichen Diätetik argumentierte Schlickeysen auf der Basis von drei »biologisch-diätetischen Grundgesetzen«, die bestätigen sollten, dass die frugivore Lebensweise des Menschen physiologisch-naturgegeben sei. Das »kosmische Gesetz der Diät« verlieh der Früchtekost eine höhere lebensphilosophische Dimension in Erinnerung an die kosmische Einbindung des Menschen in die Welt. Auf dieser Grundlage forderte Schlickeysen die Umsetzung der These »Der Mensch ist ein reiner Fruchtesser«19 in die Ernährungsrealität. Ein Mangel der von der Natur selbst gegebenen Existenzbedingungen, insbesondere der Fruchtnahrung, sei die Ursache aller menschlichen Krankheiten, besagte das »Gesetz der Krankheit«. Demnach gab es vier Wurzeln menschlicher Krankheit: erstens Diätfehler in der Ernährung, zweitens Diätfehler im Trinken, drittens Unreinlichkeit und viertens Ausschweifung.20

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Wie fast alle führenden Vertreter der Naturheilbewegung war auch Schlickeysen über ein eigenes Krankheitserlebnis und über die Erfahrung der Selbstbehandlung zu seiner Reformkost gelangt. So wurde er zum Propagandisten eines völlig neuen Ernährungssystems, dessen Leitsatz hieß: »Die Natur eines Nahrungsmittels bedingt die Lebensäußerung des Individuums.«21 Das »Gesetz der Natur«, wonach der Mensch ein Fruchtesser und die einzig menschenwürdige Tätigkeit der Fruchtbau sei, bildete den Kernpunkt seiner Diätphilosophie. Sein Diätsystem enthielt bereits alle Grundsätze unserer heutigen modernen Auffassung von Rohkost, wonach sie eine Kostform war, die weitgehend oder ausschließlich unerhitzte, pflanzliche und teilweise auch tierische Lebensmittel enthielt. Schlickeysens Diätideologie lautete demnach: »Die feuerlose Fruchtdiät ist der Schlußstein der diätetischen Reform, sie ist die größte Idee und die größte Tat des Menschen, in ihr liegt die Welterlösung.«22 Schlickeysen wanderte später in die USA aus und starb 1893 mit 50 Jahren unbeachtet und verarmt in New York. Zu seinen Lebzeiten fand seine Ernährungslehre kaum Beachtung und Anerkennung. Er erblickte in der Fruchtkost die Erlösung des Menschen und sah darin den Weg zu einer neuen Lebensreligion, den Aufbruch zu neuen Idealen, zur Weltverbesserung. Seine naturbestimmte Nahrung bestand folglich aus rohen Früchten im weitesten Sinne und aus Vollkornbrot. Er verwarf in seinem Buch jede tierische Nahrung und alles Gekochte sowie Kaffee und Alkohol, was er als »Anarchie in der Diät«23 charakterisierte. Aber auch Milch, Eier, Käse, Butter und sogar alle anderen Gemüsearten verbannte er aus seinem Ernährungsdenken. Schlickeysen lehrte das System der reinen »Obstheilkunde« und wählte für das Obst die Bezeichnung »Sonnenlichtnahrung«. Damit nahm er einen Gedanken von Max Bircher-Benner vorweg, der einige Zeit später ähnliche Auffassungen vertrat. Nach Schlickeysens Vollwertlehre lag die Hauptkraft der Nahrung in der Aufnahme der durch die Sonne aufgespeicherten Spannkräfte. Auf ihn gingen die ersten Frischkornbreie und selbst das Birchermüsli in seinen Grundzügen zurück. Die Ernährung wurde als natürliche Einheit empfunden, von der nichts weggelassen und zu der auch nichts hinzugefügt werden durfte. Lebensweise und Heilweise sollten identisch sein, wie auch die naturgemäße Grundkost die beste

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Heilkost sein sollte. Der Vollwert der Früchte, d. h. der Genuss der rohen und ganzen Frucht, als Nahrungsintegral stand im Mittelpunkt dieser Betrachtungsweise. Aus den Reihen der modernen Ernährungswissenschaft gab es allerdings Gegenstimmen gegen eine solche »Vollwertbewegung«, indem man sofort vom »fortschreitenden Verfall der Kochkunst in Deutschland« sprach. Die verschiedenen Vollkornbrotsorten Schlickeysen gehörte neben Sylvester Graham, Gustav Simons, Stefan Steinmetz und Volkmar Klopfer auch zu den wichtigsten Brotreformern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die eine höhere »Vollwertigkeit« beim Brot zu erreichen suchten. Seine Ernährungsphilosophie bezüglich des Brotes lässt sich mit einem einzigen Satz prägnant umschreiben: »Jedes Korn ist ein Brot.«24 Seine Vollwerttheorie übertrug er auf das Brot, indem er die Aussage, nur die unverdorbene, rohe Frucht erhöhe die Lebenskraft, auch auf das Getreidekorn bezog. Nur das ganze Korn enthielt seiner Meinung nach alle lebenswichtigen Kraftstoffe, und der Frischkornbrei sei demnach gesünder als die durch den Backvorgang veränderten Körner eines Brotes. Er erklärte diese Beobachtung aus seinem naturistischen Selbstverständnis heraus. »Alles was von der Natur kommt, ist gut«25, war sein Leitsatz. Bereits in seinem ersten Buch von 1875 wies er auf die Bedeutung der Ballaststoffe in der Nahrung hin, bevor überhaupt die ernährungsphysiologischen Erkenntnisse über ihren verdauungsfördernden Wert erbracht waren. Dies hatte er einzig und allein seinem ausgeprägten Natursinn zu verdanken. Nur die Pflanzen, so Schlickeysen, enthielten die »Spannkraft des Lebens«.26 Deshalb schlug er vor, um den »vollen Wert« des Weizens zu bewahren, ein Hauptaugenmerk auf die Anbaubedingungen desselben zu richten. Die richtige Auswahl eines nahrhaften Bodens und guten Dungs mit Ausschluss aller tierischen Substanzen sei besonders wichtig für den späteren Nährwert. Für die Zubereitung empfahl er, die in vielen lebensreformerischen Zeitschriften und Reformhäusern angebotenen Schrotmühlen zu benutzen. Ein Pionier auf dem Gebiet der Ernährungs- und Brotreform

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war der Amerikaner Sylvester Graham (1794–1851). Der ehemalige presbyterianische Pfarrer und strenge Abstinenzler zog durch die USA und propagierte seinen puritanischen Vegetarismus und seine Alkoholabstinenz. Seine Lehre verwarf jegliche Fleischnahrung, die angeblich körperliche »Fleischeslust« und Aggressivität zur Folge habe.27 So verband er das asketische Essen mit sexueller Askese. Er trat für eine reizstoffarme Kost mit maximal drei Mahlzeiten täglich, sorgfältiges Kauen, kalte Bäder, bequeme Kleidung und viel frische Luft ein. Seine leidenschaftlichen Reden fanden vor allem unter philanthropisch eingestellten Bürgern und Anhängern der Sklavenbefreiung Anklang. Graham behauptete, die Überreizung des Magens sei die Hauptursache aller Krankheiten.28 Jene Nahrung, die mit dem geringsten Verbrauch an Lebenskräften einverleibt werde, sei für die Bedürfnisse des Lebenshaushaltes am besten geeignet und trage in jeder Beziehung am sichersten zu Gesundheit, langem Leben und zum höchsten und besten Zustand der menschlichen Natur bei. Nach einer Choleraepidemie im Jahr 1832 begründete Graham seine Naturheillehre damit, dass die Rückkehr zu einer natürlichen Ernährungsform, insbesondere zum althergebrachten, hausgebackenen Brot, die einzige Möglichkeit sei, Epidemien dieser Art vorzubeugen. Er propagierte ein besonderes Weizenkleiebrot aus roh gemahlenem Weizen, das ausschließlich mit frischer Milch ohne Hefezugabe zubereitet und langsam gebacken werden sollte. Sein Brot aus »Ganzmehl« wurde weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten in ganz Europa bekannt. »Zahlreiche Freunde des Grahambrodes in Deutschland haben, um sich stets des frischest gemahlenen Schrotmehles zu versichern, sich mit sog. Handschrotmühlen ausgerüstet«29, hieß es bei ihm. Grahams Naturheilprinzip basierte, wenn auch primär aus ethisch-religiösen Motiven, ähnlich wie Max Bircher-Benners Lehre auf »Gleichgewicht in der Ernährung«, »Harmonie in der Lebensweise« und »Selbstbeherrschung«. Der Lebensreformer Gustav Simons (1861–1914) übernahm ein aus Russland stammendes Herstellungsverfahren für ein Brot, dessen Basis gequollene Roggenkörner waren. Sein sogenanntes »Vollkornbrot« wurde auf diese Weise auch in Deutschland eingeführt. Außerdem erinnerte er an die traditionellen Backverfahren,

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die ohne chemische Zusätze und Konservierungsmittel auskamen, denn das Sich-selbst-Überlassen des Teiges war die natürliche Eigengare. Simons entwickelte eine eigene Methode des »Mälzens«, bei der es sich lediglich um einen Quellvorgang bzw. um eine erste Wachstumsanregung mit Umlagerung der Nährstoffe in den Körnern handelte und die sich dadurch vom allgemeinüblichen Verfahren unterschied. Seiner Meinung nach war die Brotfrage eine soziale Frage, da zur damaligen Zeit das Brot eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel im Ernährungssystem vieler Schichten bildete.30 Um seine Broternährung weiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen, entwarf er für die bereits seit ca. 1870 in Berlin-Charlottenburg existierende »Vereinigung zur Brotverbesserung« einen Arbeitsplan, in dem er unter anderem die Einrichtung eigener »Reformbäckereien«, Vorträge sowie andere publizistische Maßnahmen zur Volksbelehrung und sogar die Einrichtung einer staatlichen Brotfachschule forderte. Zu den Brotreformern gehörte auch Stefan Steinmetz (1858– 1930), der 1890 ein nährwertschonenderes Nassschälverfahren des Getreidekorns erfand.31 Dabei blieben die wertvollen Randschichten mit den Vitaminen und Mineralstoffen, der Getreidekeim mit ergänzenden Wachstumshormonen und die verdauungsfördernden Ballaststoffe der Kleie erhalten. Steinmetz agitierte in Broschüren und Büchern wie »Unser tägliches Brot, wie es ist, und wie es sein sollte!«, »Mobilmachung aller Brotesser gegen die Unvernunft in der Ernährung« und »Fehlerhafte Ernährungswirtschaft besonders beim Mehl und Brot die Ursache von Krankheit und Teuerung« für das Vollkorn.32 Er war davon überzeugt, durch eine Verbesserung des Nähr- und Gesundheitswertes des Brotes die Krankheits- und Sterberate in den Arbeiterquartieren der Großstädte senken zu können, da das Brot seiner Ansicht nach das wichtigste Hauptnahrungsmittel im Speiseplan aller Schichten war.33 Steinmetz missfiel vor allem die steigende Nachfrage des Volkes nach immer weißerem Mehl und das prompte Reagieren der Produzenten auf diesen Wunsch ohne Rücksicht auf die allgemeine Volksgesundheit. Er unterschied zwischen »Luxusmehlen«, die zu Gebäck und Beilagen zum Fleisch verarbeitet wurden, und »Brotmehlen« zum Zwecke der Volksernährung. Zur Erhaltung der Volksgesund-

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heit forderte er die allgemeine Einführung seines Verfahrens in die Müllereibetriebe und glaubte, durch die Herstellung eines billigeren und nahrhafteren Vollkornbrotes für alle Schichten sozialreformerisch wirken zu können. Noch heute wird für das Steinmetzbrot im Reformhaus mit dem Slogan geworben: »Nur Steinmetz wäscht und enthülst«. Ein ganz anderes »Schleudermahlverfahren«34 erfand Volkmar Klopfer (1874–1943), zum einen für die Weizenmehlextraktproduktion, zum anderen für ein nach ihm benanntes Roggenvollkornbrot. Seinem »Klopferbrot« räumte er eine weitaus größere Bedeutung in der Volksernährung als dem Weizenbrot ein, da es die Autarkie Deutschlands stärke. Roggen könne in weitaus größeren Mengen angebaut werden, sodass man von ausländischen Weizenimporten relativ unabhängig bliebe. Roggen sei anspruchslos, vertrage selbst kaltes Klima und hohe Lagen und wachse sogar auf trockenem, sandigem und sandig-lehmigem Boden. Er passe sich allen Bodenarten an, entarte nur in geringfügigem Maß und bringe selbst auf magerem Boden noch einen guten Ertrag. Klopfer setzte daher ausschließlich auf die Roggenbroternährung und kritisierte den Fehler der teuren Überschätzung des Fleisches für die menschliche Ernährung. Während man für eine Mark ½ kg Fleisch erhalte, könne man laut Klopfers Rechnung ebenso gut 4 kg Brot dafür kaufen. Im Gegensatz zum Steinmetz-Nassschälverfahren bevorzugte Klopfer ein trockenes Schleudermahlverfahren, dessen rein mechanische Aufschließung des Kornes es den Verdauungssäften ermögliche, das Kleberzellengewebe an zahlreichen Stellen anzugreifen und die darin eingebetteten wichtigen Nährstoffe wie Eiweiß, Vitamine und Nährsalze herauszulösen. Bei den bisherigen Vollkornbroten hingegen, so Klopfer, reizten die groben Kleieschollen die Darmschleimhäute, und die Verdauungssäfte seien so nicht in der Lage, die von den Rohfaserschichten überdeckten Zellen zu durchdringen.35 Er kritisierte die Mediziner und Ernährungsphysiologen, die auf dem Standpunkt beharrten, Weißbrot sei besser und zuträglicher als Schwarzbrot. Zu dieser Zeit hatte die Ernährungswissenschaft offensichtlich noch nicht die Bedeutung der Ballaststoffe für die Verdauung erkannt. Klopfer führte die Versuchsergebnisse von Ragnar Berg und Martin Vogel zur Untermauerung seiner Voll-

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korntheorie an. Diese bewiesen, dass der menschliche Eiweißbedarf entweder durch 1 165 g Weizen in Form von Weißbrot oder 975 g Roggen in Form von Kommissbrot oder 492 g Roggen in Form von Knäckebrot oder 444 g Roggen – also auf die sparsamste Art – in Form von Klopferbrot gedeckt werden könne. Als zusätzliche Beweise führte er weitere Koryphäen aus der Ernährungswissenschaft an, die sich lobend für sein Verfahren aussprachen, vor allem Professor Neumann in seinem Lehrbuch »Brot und Brotgetreide« sowie Carl von Noorden und Hugo Salomon in ihrem »Handbuch der Ernährungslehre«. Da es damals in Deutschland nur zwei Anlagen zur Herstellung des Roggenvollkornmehls gab, bot Klopfer als Alternative zur Selbstherstellung des Klopferbrotes, auch in den entferntesten Teilen Deutschlands und im Ausland, enzymatisch aufgeschlossene Kleie an. Das besondere Mahl- und Backverfahren seines »Roggenvollkornbrotes« hatte er bereits in seiner Schrift »Die Verbesserung des Brotes durch Aufschließung der Kleie und Vervollkommnung des Backverfahrens« 1918 veröffentlicht. Neben der Propagierung des Vollkornroggenmehls und -brotes zielte sein Bestreben dahin, die Eiweißstoffe und Nährsalze, die bei der üblichen Weizenfabrikation im Allgemeinen verloren gingen, durch eine Reform zu verwerten. Auch hier setzte er auf die rein mechanische Separierung von Eiweißstoffen und Nährsalzen aus dem Weizenmehl, indem dieses unter Zusatz von Wasser zu einer dickflüssigen Masse verarbeitet und zentrifugiert wurde. Der aus der Zentrifuge gewonnene Weizenmehlextrakt wies den dreifachen Eiweißgehalt des üblichen Weizenmehls auf. Er wurde im Vakuum getrocknet und dann als leicht verdauliches »Kraftsuppenmehl« verkauft oder anderen Teigwaren beigemischt.36 Vollkornbrote und Frischkornbreie wurden damit bereits um 1900 und verstärkt in den 1920er Jahren in den ersten modernen Schlankheitsratgebern wegen ihrer verdauungsfördernden Wirkung, ihres Sättigungsgrads und Vitaminreichtums empfohlen.37

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Rohköstler oder »Kohlrabiapostel«: Die Sonnenlichtlehre Bircher-Benners und die Erfindung des »Müslis« Eine der bedeutendsten lebensreformerischen Leitfiguren war der Schweizer Arzt Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867–1939). Er gilt heute als der eigentliche Begründer der Vollwerternährung, denn er versuchte als Erster, eine wissenschaftliche Theorie für die Heilwirkung der Rohkost aufzustellen. Ihm gelang die Integration der Vollwertdiät als Heil- und Grundernährung in die moderne Ernährungslehre und -praxis.38 Bircher-Benner erhielt eine hervorragende Ausbildung unter Justus Gaule, Gustav von Bunge und Auguste Forel in Zürich und Basel sowie Erich von Leyden u. a. in Berlin, zog sich aber bald von der wissenschaftlichen Medizin zurück, weil sie seiner Ansicht nach keine Aussagen über die wahren Krankheitsursachen treffe und sich in therapeutischen Arzneimittelverordnungen erschöpfe. Ein persönliches Erlebnis – die Heilung seiner Schlafstörungen durch naturheilkundliche Verfahren – lenkte ihn auf die Bahn naturheilkundlicher Lebens- und Krankheitsbetrachtung. 1891 ließ er sich als praktischer Arzt in Zürich nieder. Dort behandelte er eine Frau, die an schweren Verdauungsstörungen litt. Nachdem die von der Universität gelehrte Methode keine Besserung brachte, wandte Bircher-Benner eine in solchen Fällen von der Schulmedizin streng verbotene Diät aus rohen Früchten, Nüssen, Salaten, rohem und gedämpftem Gemüse und Vollkornbrot an, die zu seiner Überraschung allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz zum Erfolg führte. Seine anschließenden Heilerfolge, die er mit der vegetarischen Heilnahrung und vor allem mit der Rohkost machte, veranlassten ihn 1897 zur Gründung einer eigenen, physikalisch-diätetischen Privatklinik. Auf der Suche nach einem wissenschaftlichen Erklärungsansatz für den Heilwert seiner Diätkost stieß er auf die Kalorienlehre, die die Brauchbarkeit der Nahrungsmittel vom Standpunkt der Energieentwicklung aus beurteilte und die Auffassung vertrat, dass man die nötigen Wärmeeinheiten in weitgehender Freiheit und mit wechselseitiger Vertretbarkeit von Eiweißkörpern, Kohlenhydraten und Fetten beziehen könne.39 Diese Lehrmeinung wurde jedoch bald

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durch die Forschungen des Amerikaners Chittenden widerlegt, der zeigte, dass die beste körperliche Leistungsfähigkeit und Gesundheit mit einem Minimum an Eiweiß und an Kalorien in richtiger Kostzusammenstellung erreicht wurde. Auch Bircher-Benner beobachtete, dass rohe Pflanzennahrung beim Genesungsprozess seiner Patienten effektiver war als Gekochtes, ob der in Kalorien gemessene Nährwert nun hoch war oder niedrig. Daraus schloss er, dass der Kaloriengehalt letztlich nichts über die Qualität der Nahrungsmittel aussagte. Er brachte seine Beobachtung mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, mit der Entropie, in Verbindung, wonach Energie bei Umwandlungsprozessen eine Entwertung erfahre. Nach diesem Grundsatz folge, so Bircher-Benners Interpretation, in der belebten Natur auf die hochwertige Form der Strahlungsenergie das niedrigere Energieniveau eines organischen Moleküls und schließlich die weitgehend wertlose Energieform der Wärme. Wichtiger als die dem Körper zugeführte Wärmemenge sei, so folgerte BircherBenner, die Qualität der Energie. Da das Sonnenlicht die Energie mit dem höchsten Potenzial sei, entwickelte er resümierend seine »Sonnenlichttheorie«, die besagte: »Wir essen Sonnenenergie«40. Der Mensch werde nicht durch Kalorien, sondern durch Lichtquanten ernährt. Insbesondere die rohen Früchte und Gemüse seien die Träger organischer belebter und organisierter Stoffe, der »Lichtquanten«, deren Freisetzung im Körper den wahren Kraftstoff des Lebens ausmache. Die »Sonnenlichtquantentheorie« war der erste Versuch, die besondere Heilwirkung der rohen Früchte und Gemüse wissenschaftlich zu erklären.41 Nach Meinung Bircher-Benners ergab sich durch jede künstliche Veränderung der Nahrungsmittel, etwa durch Kochen, Braten oder Backen, eine Beeinträchtigung der durch Umwandlung der Sonnenenergie in chemisch ruhende Energie in ihnen gespeicherten »Lebenskräfte«. Jede Verringerung des Sonnenlichtwertes führe zur Verminderung von Nähr- bzw. Heilwerten und so zur Schwächung der Gesundheit. Die Rohkost war nach Ansicht Bircher-Benners die beste Kostform, denn den thermodynamischen Hauptsätzen folgend gehe dabei überhaupt keine Energie verloren. Diese Theorie ist zwar heute nicht mehr haltbar, aber mit ihrer Hilfe gelang die Etablierung der Rohkost als Heildiät.

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Bircher-Benner teilte die Nahrung in Akkumulatoren erster, zweiter und dritter Ordnung ein. Als Akkumulatoren erster Ordnung bezeichnete er alle »lebende Nährsubstanz«42, d. h. alle roh genießbaren Pflanzenorgane wie Blätter, Früchte, Samen, Körner, Knollen und Wurzeln. Sie besäßen den höchsten Nährwert, weil sie das Sonnenlicht mithilfe des Blattgrüns (Chlorophyll) direkt aufnähmen. Demnach stellte gekochte oder auf andere Weise zubereitete Pflanzennahrung Akkumulatoren zweiter Ordnung dar. Zu den Akkumulatoren dritter Ordnung zählte Bircher-Benner insbesondere das Fleisch, Pilze, »Reizmittel« wie Kaffee, Tee, Schokolade und Kakao, Konserven aller Art sowie stark erhitzte oder gewürzte Gerichte. Er empfahl mindestens zwei Mahlzeiten pro Tag mit vorwiegender Rohkost und trat für den Verzehr von »ganzen« Pflanzen und Pflanzenorganen ein. Zum Beispiel sollte nach seinem Vorschlag ein Apfel mit der Schale und dem kompletten Kerngehäuse verspeist werden. In der Ärzteschaft stieß Bircher-Benner auf erbitterten Widerstand. Wegen der heftigen Proteste wurde er nun auch publizistisch aktiv und propagierte seine Frischobst- und Rohgemüsediät in zahlreichen Schriften. Als die hervorragendsten Gesundheitshelfer bezeichnete er die Selbstbeherrschung und die Lebensordnung, weshalb er neun »Lebensordnungsgesetze« als Gesundheitsleitfaden verfasste:

– »Organisationsgesetz der Nahrung«: Pflanzliche Nahrung









besitzt einen höheren Grad an Nahrungsenergie und jede Behandlung verursacht einen Ordnungsverlust. »Gleichgewichtsgesetz der Ernährung«: Der Mensch bedarf eines wohlabgewogenen Gesamtverhältnisses aller Nährfaktoren. »Ökonomiegesetz«: Nahrungszufuhr soll gerade den Bedarf decken, mit der relativ geringsten Menge und der geringstmöglichen Belastung der Organe. »Mundgesetz«: sinnvolle Verwendung des Mundorgans, d. h. Vorarbeit durch gründliches Kauen und zweckmäßige Nahrungsauswahl durch den Geschmackssinn. »Ordnungsgesetz des Hautorgans«: Förderung der Lebens-

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und Widerstandskraft über die Haut durch die »SonnenErnährung«. »Ordnungsgesetz der Lungen«: frische, reine Luft bei Tag und Nacht. »Ordnungsgesetz der Beziehung zur Schwerkraft«: Gesundheit basiert wesentlich auf einem wohlbemessenen Arbeiten des ganzen Bewegungsapparates. »Ordnungsgesetz des Lebensrhythmus«: kosmischer Tag-NachtRhythmus, der sein Echo in den Lebensprozessen im Innern, im Stoffwechsel, im Lebensgefühl findet. »Ordnungsgesetz des Seelenlebens«: Beachtung aller genannten Ordnungsgesetze als Voraussetzung für die Gesunderhaltung der Seele.43

Die Befolgung dieser Gesetze erhalte die Gesundheit, ihre Übertretung bedinge Krankheit und Leiden. Bircher-Benner zeigt sich gerade darin als Lebensreformer, dass er die Hauptkrankheitsursache in einer zivilisationsgeschädigten Gesellschaft sah, die nur über eine totale Ernährungsumstellung geheilt werde könne. Die strenge Pflanzenrohkost müsse daher in die Alltagsnahrung integriert werden, was ihm mit der um die Jahrhundertwende erfundenen Apfeldiätspeise, damals »d’ Spys« und heute »Birchermüsli« genannt, gelang.44 Sie breitete sich weltweit als Diät- und Alltagskost aus. Heute steht außer Zweifel, dass Bircher-Benner über die Zufuhr sonst mangelnder Zusatzstoffe (Vitamine, Mineralstoffe etc.), die in der Frischkost als natürliche Bestandteile vorhanden sind, seine Heilerfolge erzielt hat.45 Er setzte damit die moderne Vitaminlehre bereits 25 Jahre vor ihrem Entstehen unbewusst in seiner Kuranstalt um. Ernährungsreformer waren es auch, die die schlank machende Wirkung seiner Rohkost als Erste entdeckten: »Je mehr Rohkost die täglichen Mahlzeiten aufweisen, um so sicherer schwindet der Fettansatz.«46 In zahlreichen Schlankheitsratgebern aus Lebensreformkreisen gehörte seitdem die Rohkostplatte zum Diätrepertoire, wenn es zum Beispiel hieß: »Wer schlank werden will, sollte mindestens eine Mahlzeit am Tage – am besten das Abendessen – als Rohkostplatte gestalten.«47

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Die Mesotrophie und Vollwertlehre Kollaths Eine wissenschaftlich haltbare Begründung für die Vollwertlehre lieferte der Hygieniker und Bakteriologe Werner Kollath (1892–1970). Damit nahm er eine Schlüsselrolle bei der Überwindung der Barrieren zwischen den modernen Ernährungswissenschaften und der Ernährungsreformbewegung ein. Seine »Vollwerttheorie« und ihre Anwendung in der naturheilkundlichen Praxis wurden zunächst von der Schulmedizin abgelehnt; erst die objektive Nachprüfung seiner Versuche brachte ihm die Zustimmung seiner Fachkollegen ein. Kollath legte mit seiner »Mesotrophietheorie« die Basis für eine allgemeine Anerkennung der Rohkosternährung als Heilkost und vitamin- und ergänzungsstoffreiche Dauerkost in der modernen Ernährungswissenschaft und Medizin. Sein Vollwertgrundsatz lautete: »Laßt unsere Nahrung so natürlich wie möglich.«48 Seine »Ordnung der Nahrung« sah wie folgt aus: Es gab demnach eine »natürliche vollwertige« Nahrung, die je nach Veränderungsgrad und Bearbeitungstechnik zu einer »teilwertigen« Nahrung herabgestuft wurde. Nur die unveränderte Nahrung entsprach Kollaths Vollwertbegriff. Er sah die größte Gefahr der konventionellen Ernährung weniger in der eigentlichen Kostzusammenstellung als in den Zubereitungstechniken, bei denen lebenswichtige Eiweiße denaturierten und andere wichtige Nährstoffe wie Vitamine und Mineralstoffe verloren gingen. Er war der Meinung, dass alles Kochen zu unvermeidbaren Verlusten führe, denn es verschlechtere den Nährwert der Nahrung. Ähnlich wie Bircher-Benner entwickelte Kollath eine Rangordnung der natürlichen unzubereiteten Lebensmittel nach dem Nährwertgehalt. An erster Stelle nannte er Samen und Früchte, an zweiter Stelle Knollen und Wurzeln, an dritter Stelle Stängel und Blätter. Darauf aufbauend unterschied er ausdrücklich zwischen »Lebensmitteln« und »Nahrungsmitteln«.49 Als »Nahrungsmittel« bezeichnete er alle der menschlichen Ernährung dienenden Stoffe, die durch Lagerung oder bestimmte Zubereitungspraktiken ihrer Lebenstätigkeit beraubt worden seien und deshalb nur noch als pure Kalorienlieferanten in Frage kämen. Ihnen stellte er die »lebende Nahrung« mit ihren Lebens- und Ergänzungsstoffen als »Lebensmittel« gegenüber.

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Die wohl bedeutendste wissenschaftliche Leistung Kollaths war die Aufstellung der »Mesotrophielehre«, mit der ihm der experimentelle Nachweis gelang, dass die Zivilisationskost unter Umständen einer Mangelernährung gleichkommt und chronische Krankheitserscheinungen zur Folge haben kann. Für die zivilisationsbedingten und altersbedingten Mangelerscheinungen führte er den Begriff der »Mesotrophie« ein.50 Dieser war vom Griechischen »meso« für »halb« und »trophein« für »nähren« abgeleitet und bedeutete folglich »Halbernährung«. Er verstand darunter eine fehlerhafte, unterwertige Ernährung, mit der zwar ein langes Leben möglich war, das dann aber von chronischen Krankheiten begleitet war. Als wichtige Ergänzungsstoffe in der Nahrung entdeckte er Wuchs- und Zellerneuerungsstoffe, die sogenannten »Auxone«, deren Fehlen (»Anauxonose«) das Auftreten der Mesotrophie begünstige. In seinen Ernährungsexperimenten versuchte Kollath den als Mesotrophie beschriebenen Zustand durch eine Rohkosternährung zu beseitigen, was ihm auch gelang – zuerst in Tierversuchen an Ratten, später in der naturärztlichen Behandlungspraxis. Die häufigsten Ernährungsfehler in der Durchschnittskost ließen sich aus Kollaths Sicht mit den Worten »zu heiß, zu schnell, zu viel, falsch und einseitig« beschreiben. Seine Diätreformidee galt vor allem der Krankheitsverhütung durch Wiederhinzufügung fehlender Wuchsund Zellerneuerungstoffe (Auxone) in Form von Rohkost. Kollath riet zum Verzehr von ausreichend vollwertigen, naturbelassenen Getreideprodukten. Er erfand deshalb einen »Frischkornbrei«, der sich durch besonderen Auxonreichtum auszeichnete. Für die Zubereitung des Breis empfahl er, abends pro Person drei Esslöffel Weizen- oder Roggenkörner mit der grob gestellten Kaffeemühle zu mahlen, dieses Mahlprodukt mit der gleichen Menge Wasser anzusetzen, über Nacht stehen zu lassen und morgens als ersten Gang des Frühstücks mit Milch oder Obstsaft bzw. mit frischen Früchten zu essen.51 Das »Kollath-Frühstück« war die »konsequente Verwirklichung des Vollkorngedankens«, wie Kollath selbst schrieb, da es ein »Lebens«-Mittel, das Brot dagegen »nur« ein »Nahrungs«Mittel sei.52 Die Idee einer Vollkornfrischkost entstand bereits 1941. Praktisch erprobt wurde das Kollath-Frühstück im folgenden Jahr in einer Kneipp-Kuranstalt in Bad Bergießhübel unter Anleitung

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des Braunschweiger Internisten Rudolf Stahl, der gute Heilerfolge mit dieser Diätkostform erzielte.53 Kollath warnte auch bereits vor einer allgemeinen Zerstörung der belebten Umwelt. Sein Hauptanliegen war die Sorge um die Erhaltung des Lebendigen. Auch er war der Ansicht, dass die Überernährung zu den häufigsten Zivilisationskrankheiten unserer heutigen Gesellschaft zählt. Schon allein aus diesem Grunde empfahl er seine »Vollwerternährung« im Sinne einer schonenden Schlankheitskost. Die Nährsalzbewegung: Die Theorie der diätetischen Blutentmischung oder die »Dysämielehre« Lahmanns Zur Durchsetzung einer mineralstoffreicheren Diät leistete der Arzt und Diätreformer Heinrich Lahmann (1860–1905) mit seiner »Dysämietheorie« einen entscheidenden Beitrag. Schon als Medizinstudent entwickelte er eine »vegetabile Pflanzenmilch«, die in der damaligen Säuglingsernährung weite Verbreitung fand. Seine Vorliebe für den Vegetarismus und die umfassendere Lebensreformidee war schon damals ausgeprägt. Er studierte die Sonnen- und Lichtkuren Riklis und stieß auf die von Gustav Jäger entwickelte Wollkleidung. 1888 eröffnete er ein Sanatorium auf dem Weißen Hirsch bei Dresden-Loschwitz. Dort vereinigte er gleich mehrere Naturheilverfahren (Diättherapie, Licht-/Lufttherapie, Hydrotherapie, Bewegungsund Elektrotherapie, Massage etc.) unter einem Dach.54 Lahmann war überzeugt, dass viele Krankheiten ihre Ursache in einer unzweckmäßigen Ernährungsweise haben. Sein bahnbrechendes Werk »Die diätetische Blutentmischung als Grundursache der Krankheiten« erschien 1891 und enthielt seine Krankheitstheorie. Die Lehre der diätetischen Blutentmischung oder »Dysämie« basierte auf der Überlegung, dass eine falsche Nahrung eine falsche Zusammensetzung des Blutes nach sich ziehe. Lahmann betonte, dass er die Diät für eine der wichtigsten Heilmethoden hielt. Er sprach davon, dass die Mineralsalze und Mineralstoffverbindungen in der Nahrung eine eigene »Vitalität« besäßen. Diese Vitalstoffe seien jedoch nach einer gewissen Zeit im Körper aufgebraucht und müssten deshalb mit der Nahrung ständig wieder neu zugeführt

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werden. Dabei ging er von der Annahme aus, dass das Verhältnis der Mineralsalze, wie es in der natürlichen Muttermilch vorkomme, am idealsten für den Gesamtorganismus eines Menschen sei und es deshalb auch in dieser Zusammensetzung in der Nahrung enthalten sein sollte. Da er aber nicht nur in der Milch einen Reichtum an Alkalien fand, sondern auch in vielen Gemüsen und Obstsorten, propagierte er den »Laktovegetarismus«.55 Die »Dysämie« als Krankheitszustand, so Lahmann, entstehe durch falsche Nahrungsauswahl, falsche Zubereitung oder Überernährung. Wie so viele Naturheilkundler vor ihm vertrat auch er die Ansicht, es würden sich zuerst »Stoffwechselschlacken« im Blut anhäufen – in diesem Fall in Form von gasförmiger Kohlensäure –, die nur durch die Anbindung an Natriumionen unschädlich gemacht werden könnten. Aus diesem Grund müsste immer genügend freies Natrium im Blut vorhanden sein, das auch ständig wieder erneuert werden müsse. Das so entstandene einfach- und zweifach-kohlensaure Natron werde dann über die Blutbahnen zu den Lungen transportiert und dort zum Teil ausgeatmet. Eine völlige Entfernung der Kohlensäure finde jedoch nicht statt, sodass dieser Anteil, wenn der Natriumzustrom im Blut gering sei, zwar noch zur Entgiftung der Mineralsäuren ausreiche, aber nicht mehr zur Ausscheidung der Kohlensäure und schon gar nicht zur Ausscheidung der organischen Säuren wie der Harnsäure genüge. Die daraus resultierende Harnsäureverschlackung des Körpers sei letztendlich die Folge einer falsch zusammengesetzten natriumarmen Nahrung, die Folge einer Dysämie.56 Von besonderer Bedeutung war Lahmanns Berücksichtigung des spezifischen Gewichts als Maßstab für den individuellen Gesundheitszustand. Er errechnete mittels einer einfachen Methode das »spezifische Gewicht« einer Person, das nach seinen Angaben bei einem gesunden Menschen zwischen 1 065 und 1 072 schwankte. Darunter liegende Werte interpretierte er als Verwässerung bzw. Verfettung (Hydrämie), darüber liegende Werte sprachen seiner Ansicht nach für eine zu große Magerkeit.57 Seine Sanatoriumskost sollte bewirken, dass ein zu hohes spezifisches Gewicht sank und ein zu niedriges spezifisches Gewicht stieg. Die genauen Auswirkungen seiner diätetischen Kur konnte man so anhand der Kon-

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trolle des spezifischen Gewichts exakt bestimmen. Auf diese Weise versuchte er, sein Diätkostsystem gegenüber der »Schulmedizin« zu rechtfertigen. Auch Lahmann stand, wie andere Ernährungsreformer, in dieser Periode unter starkem naturwissenschaftlichem Rechtfertigungsdruck. Er war deshalb bemüht, seine alternativen Diätkonzepte gegen die Eiweißnorm der zeitgenössischen Ernährungswissenschaft auf der Basis naturwissenschaftlicher Experimentalversuche zu verteidigen und sie publikumswirksam zu veranschaulichen. Zur praktischen Beweisführung des hervorragenden gesundheitlichen Wertes seiner laktovegetabilen Diät fügte Lahmann seinem Ernährungsreformbuch eine Fotografie seiner eigenen, unter der laktovegetabilen Diät wohlgedeihenden Kinder bei. Ein Verfechter der Lahmannschen Theorie war der auf vielen lebensreformerischen Sektoren tätige Richard Ungewitter. Er unterstützte publizistisch Lahmanns Dysämietheorie und damit eine nährsalzreiche laktovegetabile Kost; aber auch eine Mischkost war nach seinem Verständnis durchaus erlaubt. Der Küchenzettel sollte möglichst jeden Tag zur gegenseitigen Ergänzung der Nährstoffe neu aufgestellt werden und aus einer täglichen Menge von 700– 800 g Gemüse, Obst und Salat, 600 g Brot, Mehl, Körnerfrüchten und Kartoffeln sowie insgesamt 500–600 g Milch, Käse, Butter, Eier oder Fleisch oder Hülsenfrüchte bestehen. Die wissenschaftliche Eiweißtheorie verurteilte er als »unabsehbares Unheil«, denn der Aberglaube an die »Wunderkraft« des Eiweißes sei im Volk fest verwurzelt und führe zwangsläufig zur Eiweißüberfütterung. Der von einer gewissenlosen Presse genährte »Schrei nach dem Fleisch«, insbesondere in den unteren Volksschichten, die nicht mehr zufrieden seien, wenn sie nicht täglich ihre »Tierleichen« im Topf hätten, sei eher Ausdruck einer ungezügelten Gier als Folge eines notwendigen Bedürfnisses.58 Zur Begründung einer vegetarischen Lebensweise griff er die These auf, der Mensch sei ein entwicklungsgeschichtlicher »Fruchtesser«, obschon sich zu dieser Zeit bereits die Allesfressertheorie durchgesetzt hatte. Er zog als wissenschaftliche Fundierung die neuesten Ergebnisse Max Rubners auf dem Gebiet des Energieverbrauchs zurate, die er zugunsten einer eiweißarmen Kost auszulegen

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wusste. Insbesondere Kinder sollten gänzlich fleischlos und ohne anregende Getränke sowie Fleischbrühe ernährt werden. Ein zentraler Aspekt in seinen Ernährungsratgebern war die »Kochsalzfrage«. Ihm missfiel die übermäßige »Salzschwelgerei«59, die zu unnatürlichem Durst, überflüssiger Wasserzufuhr und schließlich zu einer Blutverdünnung führe. Das Hauptproblem dabei sei eine fehlende Differenzierung zwischen anorganischen Salzen (z. B. Kochsalz) und den durch Pflanzen »organisierten« Salzen, den »Nährsalzen«, die auch bei Medizinern und Ernährungswissenschaftlern vorherrsche und eine enorme Verwirrung stifte. Sie sei ein Grund dafür, weshalb in vielen Fällen eine Dysämie durch Kochsalzmissbrauch entstehe. Dieser Meinung schlossen sich einige Ernährungsreformer an. Bergs und Vogels Antwort auf die »Salzfrage« lautete zum Beispiel: »Das reine Kochsalz ist kein Nahrungsmittel, es ist ein Genußmittel.«60 Sie gaben aus diesem Grund erste Spezialkochbücher zur »salzlosen Diät« heraus, denn Lahmanns ursprüngliche Lehre hatte die Bedeutung des Natriums für die menschliche Ernährung fehlinterpretiert. Erst dem schwedischen Nahrungsmittelchemiker und Ernährungsreformer Ragnar Berg (1873–1956) gelang die Revidierung der von Lahmann falsch gedeuteten Forschungsergebnisse und die wissenschaftlich überzeugende Vervollständigung seiner Erkenntnisse. Lahmanns Theorie lieferte aber, so lobte ein anderer Autor später, eine erste Begründung für die Verwendung der Rohkost als Entfettungsmethode. Sie erziele eine bemerkenswerte Entwässerung und Entsalzung des Organismus schon allein dadurch, dass sie die Mineralstoffe (Nährsalze) unvermindert und in ursprünglicher Verbindung dem Körper zuführe und somit jeden weiteren Kochsalzzusatz entbehrlich mache.61 Bergs »Heinzelmännchen« unter den Nährstoffen Berg trat zusammen mit Carl Röse (1864–1947) die Nachfolge in der »Nährsalzforschung« an.62 Er kam 1902 nach Dresden an die Forschungsstelle für Zahnhygiene, wo er von Lahmann und Röse entscheidende Anregungen für sein Forschungsinteresse am Mineralstoffwechsel erhielt. Als er 1909 die Leitung des »Physiologisch-

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chemischen Laboratoriums« an der Lahmannschen Naturheilanstalt übernahm, fiel ihm ein grundlegender Irrtum Lahmanns auf. Dieser war von einer laktovegetabilen Kost als der geeignetsten Nahrung für den Menschen ausgegangen, weil diese sich durch einen Reichtum an Alkalien, vor allem an Natrium, auszeichnete. Dabei hatte er jedoch die Bedeutung des Natriums für die Ernährung überschätzt. Berg führte Mineralstoffanalysen der gebräuchlichsten Nahrungsmittel durch, konzentrierte sich auf die Analyse der Wechselwirkung zwischen Eiweißbedarf und Mineralstoffwechsel, Vitaminen und Mineralstoffen und erkannte dabei die überragende Bedeutung der Basen in der Ernährung.63 Seine Versuche ergaben, dass die animalischen Lebensmittel mit Ausnahme der Milch wie auch alle Samen und Knospen der Pflanzen einen Überschuss an sauren Äquivalenten aufwiesen. Reife Hülsenfrüchte, Rosenkohl und Spargelspitzen besaßen hingegen einen geringen Säureüberschuss, während die unreifen, grünen Hülsenfrüchte und alle anderen Gemüse, Früchte, Wurzeln und Knollen über einen Basenüberschuss verfügten. Daraus schloss er: »Die Knollen und Gemüse sowie die Früchte sind die wichtigsten, ja fast einzigen Träger von Basen (und Ergänzungsstoffen) auf unserm Speisezettel, und erst durch diese wird die Nahrung wirklich der Gesundheit zuträglich.«64 Auf der Grundlage zahlreicher weiterer »Nährsalzbilanzversuche« an kranken und gesunden Menschen kam Berg zu dem Resultat, dass der Mensch für eine optimale Ernährung eine ausreichende Versorgung mit Vitaminen in Form einer basenüberschüssigen Nahrung benötige.65 Seine praktische Richtschnur für eine vernünftige Kost besagte, dass nicht mehr als ein viertel Liter Milch täglich genossen werden sollte, bei Kindern höchstens ein halber Liter. Im Übrigen sollte sechs- bis siebenmal so viel Kartoffeln und Gemüse wie Fleisch, Eier und Hülsenfrüchte und etwa siebenmal so viel Früchte wie Brot, Reis, Mehlspeisen und andere Getreideprodukte gegessen werden. Außerdem sollte etwas rohe Nahrung auf dem täglichen Speiseplan stehen. Berg begründete seine Theorie folgendermaßen: Die Mineralstoffe oder kleinen »Heinzelmännchen unter den Nährstoffen«, wie er sie in seinem Buch »Alltägliche Wunder« nannte, kämen als Säuren oder Basen in den Nahrungsmitteln vor. Sie kämen zwar nicht

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frei vor, könnten aber beim Ernährungsvorgang in den Zellen frei werden und müssten dann aufgrund ihrer stark giftigen Wirkung sofort neutralisiert werden. Dies geschehe normalerweise mithilfe der im Blut vorhandenen Kohlensäure und stelle keine Schwierigkeit dar. Hingegen gestalte sich die Neutralisation von Säuren wesentlich schwieriger, denn sie könne nur mithilfe frei verfügbarer Basen geschehen. Falls nicht genügend Basen vorhanden seien, griffen die frei gewordenen Säuren das Eiweiß des Blutes und der Körpersubstanz an und bauten es zu Stoffen ab, die die Funktion der Neutralisation übernähmen.66 Dabei fielen auch Eiweißbruchstücke an, die nicht verwertet werden könnten und sich deshalb im Körper als »Stoffwechselschlacken« ansammelten, die Krankheiten auslösen würden. Bei genügend basenreicher Ernährung dagegen geschehe die Ausnutzung der zugeführten Nährstoffe in bestmöglicher Weise, die Schlackenbildung werde vermindert, Stoffwechselstörungen behoben, die Schlackenausfuhr erleichtert, die Kraftausbeute vermehrt und damit der Nahrungsbedarf vermindert. Zur Beseitigung dieser Stoffwechselschlacken entwickelte Berg das Konzept einer basenüberschüssigen Ernährung, die aus Wurzeln, Knollen und Gemüse mit Ausnahme der Knospen und Früchte bestehen sollte. Von tierischen Nahrungsmitteln mit Ausnahme von Milch, Getreidekörnern und pflanzlichen Samen riet Berg aus Gründen der Säureüberschüssigkeit ab. Er empfahl höchstens 3 g Kochsalz pro Tag, da dies ebenfalls die Stoffwechselschlacken fördere. Sein Ernährungskonzept basierte damit überwiegend auf pflanzlicher Kost, unterschied sich aber von anderen Konzepten laktovegetabiler Kost, indem er diese nach ihrem Säure- und Basengehalt untergliederte und dementsprechend als empfehlenswert oder nicht empfehlenswert einstufte. Zur praktischen Umsetzung seiner harnsäurearmen Diät im Alltagsleben gab er ein praktisches Kochbuch heraus.67 Seit dieser Zeit fand die »Mineralstoff-Frage« ein verstärktes Interesse in der modernen Diätetik. Um »Schlank und gesund« zu bleiben, wurde Bergs Faustregel der Ernährung zitiert: »Iß fünf- bis siebenmal soviel Kartoffeln wie Fleisch und siebenmal soviel Gemüse und Obst wie Brot, Hülsenfrüchte, Eier und Mehlspeisen.«68

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Röses Ideal eines mineralstoffreichen Trinkwassers und einer basenüberschüssigen Nahrung Carl Röse wandte sich nach Tätigkeiten als Landarzt und Zahnarzt der Ernährungsforschung zu. Von 1899 bis 1909 leitete er die »Zentralstelle für Zahnhygiene« in Dresden und führte Untersuchungen über die krankmachende Wirkung einer kalkarmen Nahrung und kalkarmen Trinkwassers auf den menschlichen Körper durch. Mit Ragnar Berg stellte er fest, dass der Kalkgehalt von Roggen und Kartoffeln, die auf kalkreichen Böden angebaut wurden, höher war als bei Anbau auf kalkarmen Böden und dass beim Kochen mit weichem Trinkwasser bedeutende Mengen von Kalk und Magnesia aus den Nahrungsmitteln ausgelaugt wurden. Röse und Berg empfahlen deshalb das Dämpfen der Gemüse.69 Nachdem sich Röses Hoffnung, die Zentralstelle für Zahnhygiene allmählich zu einer Zentralstelle für Ernährungshygiene ausbauen zu können, zerschlagen hatte, besuchte er 1911 den dänischen Arzt Mikkel Hindhede, als dieser die ersten Brot- und Kartoffelversuche in Kopenhagen unternahm.70 Hindhedes Ergebnisse beeindruckten ihn so sehr, dass er intensive Studien über das Eiweißminimum in der täglichen Kost des Menschen durchführte. Röse experimentierte von 1912 bis 1915 mit einer eiweißarmen Kost in einem Dresdner Laboratorium zuerst nur an sich selbst, dann auf breiterer Ebene auch an anderen Personen. Seine Antwort auf die »Eiweißfrage« lautete, dass ein erhöhter Eiweißverzehr eine Mineralstoffunterversorgung zur Folge habe und eine tägliche Eiweißzufuhr von 30–50 g für die menschliche Ernährung durchaus genüge. Damit verwarf Röse wie Hindhede und viele andere Ernährungsreformer das Voitsche Eiweißmaß. Die Voitsche Lehre habe die Ernährungsforschung auf einen Irrweg geleitet, denn viele Ernährungswissenschaftler in Deutschland hätten sich immer noch nicht von der Zwangsvorstellung seiner überhöhten Eiweißnorm gelöst. Das einseitige Festhalten an der Fleischkost sei verantwortlich dafür, dass Deutschland im Ersten Weltkrieg eine Niederlage erleiden musste. Im Gegensatz zu Hindhede konnte Röse sich bei seiner Argumentation gegen das Voitsche Kostmaß jedoch auf wissenschaftlich fundierte Forschungen stützen. Zusammen mit Berg kam er zu

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der abschließenden Feststellung, dass sich mit basenreichen Nahrungsmitteln das einmal gefundene Eiweißminimum beliebig lange erhalten ließe, mit basenarmen oder säurereichen hingegen nicht.71 Ab 1915 stellte Röse die Bedeutung des Trinkwassers für die menschliche Ernährung in den Mittelpunkt seines Interesses. Seine Theorie einer gesundheitlichen Ernährungsweise basierte auf der Beobachtung, dass der Kalkbedarf des Körpers in hochentwickelten Ländern in erster Linie vom Trinkwasser gedeckt werde. Folglich müsse der Qualität des Trinkwassers besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das Ernährungsideal eines »harten« Trinkwassers als Hauptmineralstoffspender dürfe gerade deshalb nicht vernachlässigt werden, weil die übliche Durchschnittskost überaus kalkarm sei. Besonders das Fleisch und das Weißbrot zeichneten sich, so Röse, durch extreme Kalkarmut aus; dagegen seien Milch und grünes Gemüse kalkreich. Der Mineralstoffgehalt vieler Blattund Wurzelgemüse und der Äpfel sei wesentlich geringer als der des »guten«, d. h. sehr kalkhaltigen Trinkwassers. Reichliche Kalkzufuhr mit der Nahrung und dem Trinkwasser wirke harntreibend, beeinflusse in günstiger Weise den Phosphorsäurestoffwechsel, vermehre das Lösungsvermögen des Harns für Harnsäure und entgifte den Körper von Stoffwechselschlacken. Da Kalk nur an Eiweiß gebunden oder in Pflanzensäuren organisch gebunden vorkam, gelangte Röse wie Lahmann und Berg zu der Empfehlung einer eiweißarmen, aber basenüberschüssigen Nahrung. Das wichtigste Nahrungsmittel war nach seiner Meinung die Kartoffel, die leicht verdauliches Eiweiß und einen Basenüberschuss kombiniere. Die Kartoffel sei »ein wahres Gottesgeschenk für die Völker der gemäßigten Erdzone!«72 Süße Milch, Molke und Buttermilch seien als Ersatzmittel in Gegenden kalkarmen Trinkwassers besonders wichtig. Lahmann, Berg und Röse gelangten auf unterschiedlichen Wegen alle zur Theorie einer basenüberschüssigen Ernährung als Grundlage einer gesunden Diät. Sie stützten ihre Aussagen auf die Ursprungstheorie der Ernährungsreform, die besagte, dass der Mensch ein Fruchtesser sei.73 Zu einer basenüberschüssigen Nahrung gehörten daher hauptsächlich Früchte, rohe und gedämpfte Gemüse, Kartoffeln und Milch. Säureüberschüssige Lebensmittel wie Fleisch, Eier, Brot, Mehl, Butter, Fette etc. sollten hingegen strikt

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gemieden werden, da eine Überversorgung an Eiweiß durch starken Fleischkonsum zu einer Harnsäureverschlackung führe, der man nur mit einer basenreichen Kost prophylaktisch entgegenwirken könne. Röse kämpfte mit seiner Reformkost gegen die übermäßige »Schlingsucht«, wie er es nannte. Die Idee einer basen- und vitaminreichen Ernährung als moderne Reduktionsdiät griff auch der Naturarzt Gerson auf. In seinem Sanatorium bei Kassel-Wilhelmshöhe therapierte er übergewichtige Patienten mit einer kalkreichen, vitaminreichen und kochsalzarmen Kost74, die eine besondere Mischung an anorganischen Salzen enthielt. Die »Gerson-Diät« wurde schließlich im Zuge des modernen Schlankheitskults in den 1920er und 1930er Jahren zu einer wahren Modeerscheinung. Der »Fletcherismus« oder die amerikanische Kaukultbewegung Das Motto des amerikanischen Ernährungsreformers Horace Fletcher (1849–1919) lautete: »Wir leben nicht von dem, was wir essen, sondern von dem, was wir verdauen und assimilieren.«75 Fletcher kam über seine eigene Fettleibigkeit zur Beschäftigung mit Ernährungsproblemen und entwickelte nach dem Scheitern medizinischer Entfettungsmethoden eine Art »Philosophie des Kauens«, die das natürliche Ernährungsgleichgewicht wiederherstellen sollte und als Therapie für Übergewichtige wie auch für Untergewichtige gedacht war. Im »Fletcherismus« ging es weniger um die Frage nach dem »Was« oder »Wie viel« als vielmehr um das »Wie« und »Wann« man aß.76. Beim »Fletchern« musste die Nahrung weder quantitativ noch qualitativ eingeschränkt werden; lediglich ihre Ausnutzung sollte verbessert werden. Fletchers Kautheorie ergab sich aus seiner eigenen Lebensweise, die er wie folgt beschrieb: »30 Bissen, die ungefähr 2 500 Kauakte oder andere Mundbewegungen innerhalb von 30 bis 35 Minuten benötigen, befriedigten den Appetit vollkommen.«77 Fletcher nahm mithilfe seiner neu entwickelten Kautechnik innerhalb von sechs Monaten 50 Pfund ab und erlangte dadurch seine Vitalität und Gesundheit wieder.78 Die ersten Anhänger für seinen »Fletcherismus« fand er nach 1900 in England. Von dort wanderte seine Diätidee zurück nach Amerika, wo das »Fletchern« eine en-

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orme Popularität erreichte. Das Prinzip bestand darin, die Nahrung so lange intensiv zu kauen, bis sie sich im Mund zu einem dünnflüssigen Brei verwandelte. Die dadurch erzielte Entlastung des Magens und Darms förderte den Selbstheilungsprozess. Man nahm nur die Hälfte bis ein Drittel der gewohnten Speisemengen zu sich, ohne deswegen hungrig vom Tisch aufzustehen.79 Auf dem Höhepunkt seiner Popularität zwischen 1904 und 1910 fasste der »Fletcherismus« in ganz Europa Fuß und wurde vor allem in Italien, Großbritannien, Dänemark und Deutschland bekannt. Der Lehrer für Diätetik, Gesundheitspflege und Körperästhetik August von Borosini war mit dem Buch »Das Fletchern: ErnährungsABC als Grundlage aller Körperkultur und Krankheitsbekämpfung« der wichtigste Propagandist in Deutschland. Die »Fletcherianer« kritisierten nicht nur wie andere Diätreformer die Voit-Atwatersche Eiweißminimumration, sondern gingen einen Schritt weiter und bezeichneten sie rundweg als giftig. Unter dem Einfluss der Fletcherbewegung wurden wissenschaftliche Untersuchungen über die Bedeutung des ausreichenden Kauens und Einspeichelns der Nahrung für den menschlichen Organismus durchgeführt.80 Beim »Fletcherisieren« handelte es sich um eine völlig veränderte Essmethode. Fletcher schlug das »Ausschmecken der Speisen« vor, d. h. es sollte so lange intensiv gekaut werden, bis ein natürlicher, instinktiver Schluckreflex eintrat. Wenn etwas instinktiv nicht geschluckt wurde, sollte es ausgespuckt werden. Diesen Vorgang hielt er offenbar für noch wichtiger als das eigentliche Kauen, denn dieses sei nur Mittel zum Zweck. Das »Ausschmecken« hingegen könne nur bei gründlichem Durchspeicheln stattfinden, und das sei wiederum nur möglich, wenn die Nahrung gut zerkleinert werde. Auch flüssige Nahrung sei mit Ausnahme der Milch zu »fletchern«. Ebenso spiele die Gemütsverfassung des Patienten bei der Nahrungseinnahme eine bedeutende Rolle: Nur in ruhiger Seelenlage sollte Nahrung langsam genossen werden. Fletcher war demnach ein Ganzheitstherapeut. Zudem schuf er den Begriff des »Instinktessens«, d. h. man sollte erst dann essen, wenn ein spürbares Hungergefühl vorhanden war, denn seiner Theorie nach musste man sich erst den Appetit durch Arbeit verdienen. Deshalb gab es in seinem Diätsystem kein Frühstück.81

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Im Gegensatz zu den meisten bisher vorgestellten Ernährungsformen erlaubte Fletchers Diätkostform Fleischverzehr und Alkoholgenuss. Der Alkohol sei nur in kleinen Schlucken zu trinken und ebenfalls zu »fletchern«. So komme der Patient erst gar nicht in die Versuchung, größere Mengen Alkohol zu trinken. Darüber hinaus integrierte Fletcher auch andere Naturheilverfahren wie Luft- und Sonnenbaden und körperliche Bewegung in sein Lebensprogramm. Seine Krankheitsauffassung entsprach ganz dem naturistischen Denken der Lebensreform: »Schlechte Gesundheit, Disharmonie und Unglück kommen nur durch Ungehorsam gegen die Natur.«82 Zum Beweis der Richtigkeit seiner »Kunst des Essens« fügte er seinem Buch Fotografien von Patienten »vor und nach« der Durchführung des gewichtsharmonisierenden »Fletcherismus« bei, wie man sie auch aus den heutigen Zeitschriften als Wirksamkeitsbelege kennt. abb16 Der Kaukult war für viele nur eine vorübergehende Mode, für andere dagegen eine neue Lebensphilosophie. Sie verstanden ihn als Weg zur Lösung der sozialen Frage, als alternative Möglichkeit der Ernährungsweise in Kriegsnotzeiten, da sie glaubten, auf diese Weise das vorhandene Nahrungsreservoire besser ausschöpfen zu können. Insgesamt hinterließ der Fletcherismus in der deutschen Diätlandschaft deutliche Spuren. Er wurde als Ausweg aus der Korpulenz und als direkter Pfad zur schlanken Linie beschrieben.83 Durch unseren Mund, so die Fletcherianer, sei uns die völlige Kontrolle sowohl über unser Wohlbefinden als auch über Schönheit und Schlankheit gegeben. Mikkel Hindhedes Ideen im Brennpunkt der heiß diskutierten »Eiweißfrage« Der dänische Arzt Mikkel Hindhede (1862–1945) gelangte durch die Orientierung an der einfachen Lebensweise seines Vaters zur eiweißarmen laktovegetabilen Landkost. Sein Vater hatte ihm als Kind zwei- bis dreimal am Tag lediglich Gerstengrütze und zu Mittag Kartoffeln mit kleinen Würfeln gebratenen Specks zu essen gegeben.84 Daher vertrat er die Theorie, dass die einfache Bauernkost, hauptsächlich bestehend aus grobem Brot, Grütze und Kartoffeln,

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Verwandlung eines rachitischen Körpers zum Idealkörper durch Fletcherismus Quelle: Borosini (1913)

unter dem besonderen Gesichtspunkt der Eiweißreduzierung für die menschliche Ernährung völlig ausreichend, ja sogar gesundheitsfördernd sei.85 Das Fleisch hingegen wollte er als zusätzliches »Luxusnahrungsmittel« in der Alltagskost deutlich eingeschränkt wissen. Einen ersten Selbstversuch mit eiweißarmer laktovegetabiler Kost startete er 1895 und lebte einen Monat lang ausschließlich von Brot, Butter, Erdbeeren und Kartoffeln. Dabei machte er die überraschende Erfahrung, dass die eiweißarme Diät ausreichte, ja sogar eine wohltuende Wirkung davon ausging, woraufhin er seinen Glauben an die Liebigsche Eiweißtheorie verlor. Seit diesem Zeitpunkt bildete die Frage nach dem Eiweißminimum sein Hauptforschungsgebiet. An einem landwirtschaftlichen Institut bewies er, dass das Milchvieh auch bei einem extrem geringen Anteil an eiweißreichen Futtermitteln unter Zufütterung von Futterrüben immer dieselbe Menge Milch gab und durch diese wesentlich billigere Fütterungs-

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weise ausreichend und gewinnbringend versorgt werden konnte. Danach folgten praktische Ernährungsversuche am Menschen mit seiner laktovegetabilen Mischkost, die er auch auf seine Familie ausweitete. Auch hier machte er die Erfahrung, dass seine eiweißarme Diät der körperlichen wie geistigen Entwicklung förderlich war. In Aufsehen erregenden Veröffentlichungen publizierte er ab 1906 die Ergebnisse seiner Versuche und stellte die gesundheitlichen und ökonomischen Vorteile des Laktovegetabilismus heraus.86 Das Fleisch, so Hindhede, berge zwei Gefahren gleichzeitig: Zum einen führe der übermäßige Fleischgenuss aufgrund seines Wohlgeschmacks in der Oberschicht zur Überernährung, zum anderen aufgrund seiner Kostspieligkeit in den Unterschichten zur Unterernährung. Beides erhöhe die durchschnittliche Sterblichkeitsrate. Hindhedes Diättheorie stand damit im krassen Widerspruch zum »Voitschen Kostmaß«, das für einen erwachsenen, arbeitenden Menschen als äußerstes Mindestmaß eine tägliche Versorgung des Körpers mit 118 g Eiweiß, 56 g Fett sowie 500 g Kohlenhydraten vorsah.87 Zum Beweis seiner Theorie richtete Hindhede 1909 ein Versuchslaboratorium in Kopenhagen ein, in dem er zahlreiche Eiweißminimumversuche durchführte. Mithilfe dieser Versuche konnte er beweisen, dass auch das von Voits Nachfolger Max Rubner (1854– 1932) revidierte Eiweißkostmaß immer noch viel zu hoch angesetzt war.88 Rubner errechnete daraufhin neue Werte und reduzierte das Kostmaß auf ca. 110 g Eiweiß, 60 g Fett und 500 g Kohlenhydrate pro Tag für einen erwachsenen Arbeiter.89 Hindhede war aber bereits in seinem ersten Ernährungsexperiment mit lediglich 57 g Eiweiß pro Tag ausgekommen, sodass es zwischen ihm und Rubner heftige Meinungsverschiedenheiten gab, die in medizinischen Zeitschriften und Kampfpamphleten ausgetragen wurden.90 Rubner warf Hindhede zu große Subjektivität und Unwissenschaftlichkeit in seinen Ernährungsexperimenten vor; seine Forschungsdaten entbehrten jeder naturwissenschaftlichen Seriosität. Hindhede begegnete diesem Vorwurf mit dem Gegenargument, »daß die wissenschaftlichen Theorien im vollkommenen Widerspruch zu den Erfahrungen des praktischen Lebens standen.«91 Er wies darauf hin, dass sogar der bekannte amerikanische Physiologe Russell H. Chittenden von dem

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Laien Horace Fletcher eines Besseren belehrt worden sei und durch ihn zu einer vorwiegend vegetarischen Ernährungsweise gefunden habe. Tatsächlich hatte Chittenden in Zusammenarbeit mit Fletcher in groß angelegten Ernährungsminimumversuchen den Nachweis erbracht, dass bei einer abwechslungsreichen Kostzusammenstellung nur 60 bis 80 g Eiweiß und eine geringere Kalorienmenge als bisher angenommen zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit notwendig war.92 Rubner empfand Chittendens reduzierte Eiweißnorm und Hindhedes eiweißarmes Diätsystem als einen bösartigen Anschlag auf die noch in ihren Anfängen steckende moderne Ernährungswissenschaft und diffamierte ihre Ideen als »Halbvegetarismus« oder »Prophetentum«. Im Jahr 1917 gelang es Hindhede jedoch, in einem Großversuch im Zuge einer über Dänemark verhängten kriegsbedingten Viehfutterblockade den gesundheitlichen Wert und ökonomischen Nutzen seiner laktovegetabilen Landkost öffentlich unter Beweis zu stellen. Während der letzten Kriegsjahre ernährten sich die Dänen fast ausschließlich von laktovegetabiler Kost, d. h. es wurde hauptsächlich grobes Brot, Kartoffeln und Grütze mit einem Zusatz von Milch und Gemüse verzehrt, mit dem Ergebnis, dass sogar die Todes- und Krankheitsfälle prozentual zurückgingen.93 Mit diesem Großversuch gelang Hindhede die wissenschaftliche Begründung seiner Diättheorie, wonach der menschliche Körper mit einer Eiweißmenge von ca. 30 g statt der bis dahin angenommenen und empfohlenen Menge von 120 g auskommen und die Eiweißmenge auch in Form von Pflanzeneiweiß zugeführt werden konnte. Hindhede empfahl die einfachen Nahrungsmittel wie grobes Brot, Kartoffeln, Butter, Milch, Gemüse und Obst als Hauptnahrung; höchstens drei Mahlzeiten täglich sollten gegessen sowie frisches Brunnenwasser getrunken werden. Wie alle Lebensreformer vertrat er das Ideal der Einfachheit und Mäßigkeit in allen Lebensgewohnheiten und verachtete den übertriebenen Luxus der modernen Kultur. Demgemäß verwies er auf das Gesundheitsrisiko bei Übergewicht und empfahl: »Iß weniger und arbeite mehr.«94 Anhand von Statistiken amerikanischer Versicherungsgesellschaften wies er nach, dass die Sterblichkeitsrate bei übergewichtigen Personen prozentual am höchsten und bei untergewichtigen Personen am

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niedrigsten lag. Außerdem sagten diese Statistiken aus, dass Übergewichtige häufiger an Zucker, Schlaganfällen und Herzkrankheiten starben als Normal- oder Untergewichtige. Um zu beweisen, dass diese Aussagen auch auf Deutschland zutrafen, fügte Hindhede eine entsprechende Statistik der deutschen Versicherungsgesellschaft »Viktoria« hinzu. Diese Statistiken zeigten aber auch, dass Untergewichtige häufiger an Tuberkulose erkrankten und starben. Hindhede sah in der Furcht vor Tuberkulose einen wesentlichen Grund dafür, weshalb in der Volksmeinung nach wie vor der Nutzen einer kräftigen und üppigen Nahrung überschätzt wurde. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sagte er einschränkend, dass man sich erst, wenn man über 30 Jahre alt sei, also das tuberkulosegefährdete Alter überschritten habe, mager halten sollte. Als weiteren Nachweis dafür, dass die mit teurem Fleisch »gutgenährten«, wohlhabenderen Menschen eine höhere Sterblichkeitsquote aufwiesen, bezog er sich auf eine amtliche Statistik über die Sterblichkeitsrate in England aus den Jahren 1900 bis 1902. Diese bestätigte, dass gerade die Landarbeiter die niedrigste Sterblichkeitsrate der englischen Durchschnittsbevölkerung aufwiesen. Hindhede schloss daraus, dass diese Ergebnisse in unmittelbarer Verbindung mit einer primär laktovegetabilen, einfachen Landkost standen. In der Tat ist nach heutigem Ernährungswissen eine durchschnittliche tägliche Eiweißmenge von nur ca. 60 g für Männer und ca. 50 g für Frauen empfehlenswert. Die tatsächliche Eiweißzufuhr beträgt heute beim Bundesbürger im Durchschnitt ca. 108 g bei Männern und 85 g bei Frauen und liegt damit viel zu hoch, weshalb Übergewichtsprobleme in weiten Bevölkerungskreisen anzutreffen sind.95 Heute wissen wir, dass Eiweißspeicherkrankheiten, erhöhter Cholesterinspiegel, Diabetes, Bluthochdruck und andere Krankheiten mit übermäßigem Eiweißkonsum in Zusammenhang stehen.96 Hindhedes Theorie der Eiweißreduzierung als Entfettungsdiät fand in den damaligen Schlankheitsdiätratgebern Aufnahme.97 Eine Darstellung aller bisher erläuterten »natürlichen Schlankheitskuren« von der Schrothkur über die harnsäurefreie Diät, laktovegetabile Kost, Vollwertkost bis hin zur noch zu besprechenden Fastenkur bot dann 1925 die von dem Aachener Mediziner Heinz Zikel

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herausgegebene »Neue Eßkunst für Dicke und Dünne«. Die veraltete Einteilung der Lebensmittel in leicht bzw. schwer verdaulich ergänzte er um die Rubriken blutreinigend bzw. blutverschlechternd, formschönend bzw. auftreibend, geschlechtskräftigend bzw. -schwächend, kraftsteigernd bzw. -erschlaffend, verjüngend bzw. erhaltend und schlankmachend bzw. verfettend.98 Die »Null-Diät« als neues Fastenrezept Neben der Vollwerternährung und den laktovegetabilen Diätformen erlebte auch die »Null-Diät«, die periodische Nahrungseinschränkung als Alternative zur überreichen Zivilisationskost, um die Jahrhundertwende eine »Renaissance«. Das Fasten schuf eine Brücke zwischen Naturheilkunde und Lebensreform, wobei zwischen Heilfasten und Fasten für Gesunde unterschieden werden muss. Das Heilfasten war ein klassisches Naturheilverfahren und wurde mit großem Erfolg gerade zur Behandlung chronischer Zivilisationskrankheiten eingesetzt. Dagegen war das hygienische Fasten ein Mittel zur Gesundheits- und Schönheitspflege.99 Es war für manche ein bewusstes Selbsterlebnis, für andere eine Frage der geistigen und vor allem körperlichen Ästhetik und wurde zur Bewahrung vor altersbedingter Gewichts- und Fettzunahme prophylaktisch in Naturheilsanatorien offeriert.100 Das Fasten sollte der inneren Körperpflege dienen, mit der Begründung, es pflege die Schlankheit, welche der schönheitliche Ausdruck von Gesundheit sei. Als Vorbeugungs-, Verjüngungs-, Schönheits- und Schlankheitsmittel sei das Fasten, so seine Anhänger, unerlässlich. Zusätzlich sollte das Fasten durch gymnastische Spezialübungen zur Beseitigung eines Bauches und zur Erzielung schlanker Hüften ergänzt werden, damit keine hässliche Faltenbildung entstehe. Es müsse Ehrensache eines jeden Einzelnen sein, kein Gramm Fett zu viel am Körper zu haben.101 Nur mit Fasten könne man den unästhetischen Ernährungstypus der menschlichen Gestalt, den »Fettbauch«, verhindern. Schönheits- und Schlankheitsratgeber der Jahrhundertwende sprachen diffamierend vom »Bauchtier« oder von »Faulheitsfettsucht«.102 Die zeitgenössische Ernährungswissenschaft hatte in den 1880er

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Jahren eine Hungergrenze von 2 400 Kalorien für einen ruhenden Erwachsenen bzw. eine Erhaltungsdiät von 1 857 Kalorien als minimalen Richtwert für die Verköstigung in Gefängnissen und Armenhäusern errechnet. Alle darunter liegenden Kaloriensummen wurden als für den Menschen lebensgefährlich eingestuft.103 Ein medizinisches Hauptargument gegen das Fasten war die Befürchtung des plötzlichen Hungertods eines Patienten bei längerer Anwendung. Die Anhänger der deutschen Naturheilbewegung und verschiedene ausländische Ärzte riefen nun den Heilwert des Fastens wieder ins Gedächtnis zurück. Ein Hauptvertreter des »kontinuierlichen Fastens« war der amerikanische Arzt Edward Hooker Dewey (1840–1904). Als er 1878 ein typhuskrankes Kind behandelte, beobachtete er, dass es instinktiv zu hungern verlangte, und ließ es fasten. Als es wieder zu essen wünschte, bekam es Nahrung und genas daraufhin überraschend schnell. Von da an therapierte Dewey akute und chronische Krankheiten mit der Methode des periodischen und absoluten Nahrungsentzugs.104 Mit Selbstexperimenten entwickelte er zwei spezielle Formen des Nahrungsentzugs, das »Morgenfasten« und das »Vollfasten« für die Gewichtsreduktion. Während des Morgenfastens wurde lediglich auf das Frühstück in der Speisefolge verzichtet, und das Essen blieb auf ein bis zwei Mahlzeiten am Tag beschränkt.105 Während des Vollfastens durfte der Übergewichtige nur klares Wasser bis zum Eintritt eines deutlichen Hungergefühls trinken; erst wenn dieses vorhanden sei, sollte der Patient wieder Nahrung zu sich nehmen. Bei der Bestimmung der Fastendauer verließ er sich auf den »natürlichen« Instinkt des Kranken. Das Fasten, so Dewey, sei ein hervorragendes Mittel zur Behandlung von Fettsucht. Durch seine Heilerfolge wurde die Fastentherapie zum viel diskutierten Thema in der Ärzteschaft, und er erregte großes öffentliches Aufsehen. Zur Propagierung seines Heilfastens publizierte er zahlreiche Bücher. Ihm und seinem amerikanischen Kollegen Henry Tanner war es zu verdanken, dass das Heilfasten auch in Europa wieder Fuß fassen konnte. Es nahm seinen Anfang in Amerika, wurde dann in England und Frankreich populär und erreichte schließlich auch den deutschsprachigen Raum.106 Der Schweizer Arzt Friedrich von Segesser wurde durch den

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Licht-Luft-Bad-Erfinder Arnold Rikli zur Fastenkur »bekehrt«. Sie bewirkte seiner Ansicht nach eine Anregung des Stoffwechsels, eine Säuberung der Gewebe von Stoffwechselschlacken, die Reinigung der Körpersäfte und eine Besserung der Blutbeschaffenheit, sie verleihe sämtlichen Organen die nötige Ruhe zu ihrer Entgiftung, Erholung und Regeneration und führe zur Einschmelzung des überflüssigen und minderwertigen Körpermaterials. Erst hierdurch werde der Weg zur wirklichen Gesundung geebnet. Segesser prägte dafür den medizinischen Fachbegriff der »Inanitionstherapie«.107 Der Mediziner Gustav Riedlin (1861–1949) gelangte über die beiden erwähnten amerikanischen Ärzte zur Fastentherapie. Er begründete diese wissenschaftlich-experimentell und stellte ihr erstes biologisches Gesetz auf, wonach bei absichtlich herbeigeführter Unterernährung die schwächsten Teile des Körpersystems zuerst zerstört und ausgeschieden würden. Für ihn war das Fasten mehr als ein Naturheilmittel; nämlich ein Medium der Selbstreform, das zur Sozialreform überleiten sollte.108 Er versuchte, die »gesunkene Lebenskraft« durch totalen Nahrungsentzug zu reaktivieren. Nach seiner theosophischen Auffassung hatte die Lebenskraft weniger mit der Nahrungszufuhr als mit der inneren Einstellung zu tun: »Die Lebenskraft ist kein physikalisch-chemisches Problem, sondern sie ist wesentlich geistiger Natur und kann nicht durch Nahrung erzeugt werden.«109 Sein theosophischer Lebenskraftbegriff unterschied ihn von den meisten übrigen Lebensreformern. Besonders heftig kritisierte er die Rohköstler, die direkt, d. h. ohne die Grundbedingung einer vorausgegangenen Fastenkur zu erfüllen, diese komplette Ernährungsumstellung vollzogen. Der Körper müsse erst von der zuvor konsumierten Kost gereinigt werden, um eine vollkommene physiologische Aufnahme idealer Menschennahrung zu gewährleisten. Einer der größten Fehler sei es, unmittelbar von falscher Zivilisationskost zur Rohkost zu wechseln; damit werde der Körper nur zusätzlich geschwächt.110 Riedlin forderte demgemäß, erst nach abgeschlossener Fastenkur allmählich zur Rohkost überzugehen, wie dies auch der Titel der Schrift »Faste Dich rein und iß Dich gesund«111 verrät. Ein weiteres bekanntes Fastensanatorium zum »Abspecken« leitete der Mediziner Siegfried Möller bei Dresden-Loschwitz. Er

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praktizierte dort verschiedene Fastensysteme unter besonderer Bevorzugung der Schrothschen Kur und orientierte sich sowohl an Deweys Methoden des Morgen- und Vollfastens und an Guelpas periodischem Fasten wie auch an Riedlins Molken- und Obstfasten.112 In seinen Schriften berief er sich auf nahezu alle zeitgenössischen Ansätze der Ernährungsreform und empfahl als Kompromisslösung eine Mischform aus der »Schrothschen Trockenkur«, dem »Deweyfasten« und der »Cantanischen Fleischdiät«. In seinen Monographien »Ernährungskuren und ihre Erfolge« und »Durch Diätkuren zur Gesundheit« fasste er alle bisher üblichen Diätkuren zusammen: die vegetarische Diät, die harnsäurefreie Diät, die Rohkost, die Obstdiät, die Densmore-Diät, die Traubenkur, die Kürbiskur, die Trockenkur des Johannes Schroth, die Diätkur nach Cantani-Schroth, die Fastenkur, das Halbfasten, die Entgiftungskur nach Guelpa, die Karellkur, die Milchkur nach amerikanischer Art, die Kefirkur, die kochsalzarme Diät, die Rosenfeldsche Kartoffelkur etc.113 Auch der deutsche Fastenarzt Richard Kapferer beschrieb die »Überernährung« als eine Hauptursache für die Entstehung von Krankheiten und machte die Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber dem gesundheitlichen und ästhetischen Problem der »Beleibtheit« für ihre Unbeliebtheit im Ausland verantwortlich. Dem Klischee des »dicken Deutschen« stellte er den Stereotyp des »sportlich-schlanken Engländers« entgegen.114 Erst um 1900, einige Jahrzehnte später als in England, war die Schlankheitsmode auch in Deutschland in Gesundheits-, Diät-, Schönheitsratgebern und in der Sportlektüre wahrnehmbar und wurde in den 1920er Jahren zum internationalen Trend. Kapferers Ernährungsideal war der sich im harmonischen Gleichgewicht befindliche Körper, der das Nahrungsbedürfnis durch lebhaften Hunger anzeige und die Stillung desselben mit dem Sättigungsgefühl signalisiere. Die Fastenheilkunde sei nichts anderes als angewandte Naturerkenntnis. Die Zeichen, die uns der kranke Körper zu seiner Heilung gebe, seien richtunggebend für die Behandlung. Würden sie beachtet, bliebe der Mensch gesund und schlank. Die Fastenkur sei der Natur abgelauscht und nicht etwas Widernatürliches, sondern passe sich dem Verhalten des kranken Organismus an.115 Als Generalregel gab Kapferer dem Arzt an die Hand, dass es

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bei jeder Krankheit für die Patienten besser sei, nichts zu essen, als sie zum Essen zu nötigen, namentlich dann, wenn kein Appetit vorhanden sei, der Magen also einen Widerwillen gegen Speisen kundtue. Als überzeugter Lebensreformer stützte er sich auf die Harnsäureverschlackungstheorie, verteidigte das »Fletchern« wegen des schnelleren Einsetzens des Sättigungsgefühls, verordnete in der Übergangszeit vom Fasten zur Essphase Rohkostsäfte, Obst- oder Milchtage und forderte, dass man zuerst das Frühstück, dann an den nächsten Tagen Frühstück und Mittagessen aussetzen sollte. Die Flüssigkeitszufuhr musste nicht beschränkt werden, vielmehr ließ Kapferer den Fastenden zu den gewohnten Tischzeiten eine Tasse warmen Tee oder auch warmes Zitronenwasser trinken. Das ursprünglich rein asketische kontinuierliche Fasten wurde zunehmend vom intermittierenden Obst- und Rohkostfasten abgelöst, das eine leichter durchzuhaltende Form der Reduktionsdiät darstellte. Typische Repräsentanten des »intermittierenden Fastens« waren die französischen Ärzte Guelpa und Pauchet. Ein deutscher Nachfolger des Obstfastens war der Gesundheitslehrer der alternativen Gemeinschaftssiedlung Ascona, Ferdinand Bauer. Er leitete Fastenkuren nur unter Ergänzung der »Sonnenküche« oder »energetischen Diät« ein und schloss sie damit auch ab. Unter »Sonnenküche« oder »energetischer Diät« verstand er rohes Obst aller Art, einschließlich der Nüsse, ohne künstliche Zubereitung mittels Hitze oder Kälte, Gärung oder Fäulnis, Konservierung oder Vorverdauung. Die übliche Kulturnahrung mit Fleischkost und die gemischte Ernährung verwarf er gänzlich. Bauers Meinung nach war der Hauptfehler bei der Ernährung, »alles durcheinander und zu viel zu essen.«116 Bei seiner Obst- und Gemüsediät sollten jene Früchte und Gemüsesorten bevorzugt werden, die in der betreffenden Jahreszeit gerade reiften. Seine Warnung lautete vor allen Dingen: »Mäßigkeit bei aller Nahrungszufuhr!« Sein Ziel einer vollendeten Fastenkur bestand neben dem heilenden Reinigungseffekt darin, »den Körper schlank und gesund zu erhalten«.117 Er vertrat die Überzeugung, dass ein schlanker und geschmeidiger Mensch immer jünger aussehe und auch sehniger, kräftiger und leistungsfähiger sei als ein dicker, und forderte, es »möge kein Fastender über die naturgemäße Abmagerung erschrecken, sondern sich dieser erfreuen.«118 Über die

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Dauer einer Fastenkur machte er keine verbindlichen Angaben, weil sie je nach Krankheitsfall und Kräftezustand des Kranken individuell zu bestimmen sei. Als Durchschnittsmaß sei eine Kurdauer von 21 Tagen zu empfehlen. Er bevorzugte das »Trockenfasten«, das Fasten unter Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr, da es beim Reinigungsprozess des Körpers viel effektiver sei; zwei Tage Trockenfasten entsprächen acht Tagen Fasten mit Flüssigkeitsaufnahme. Seine Warnung an die Überflussgesellschaft lautete: »Wenn dir deine Gesundheit und dein Leben lieb ist, dann gebrauche Fastenkuren und halte dich an eine streng energetische Diät!«119 Der Lebensreformer Otto Buchinger (1878–1966) gilt heute als der berühmteste deutsche Fastenarzt. Er definierte das Fasten als fest umrissene Methode, baute es weiter aus und sicherte ihm einen Platz unter den Naturheilverfahren, nicht zuletzt durch sein Hauptwerk »Das Heilfasten und seine Hilfsmethoden«. Nachdem er durch Riedlins und Möllers Fastenkur von Gelenkrheumatismus befreit worden war, eröffnete er in Witzenhausen eine eigene Naturheilanstalt, dank der er zum berühmtesten Fastenarzt seiner Zeit aufstieg. Bald gründete er weitere Sanatorien in Bad Pyrmont und Überlingen. Buchinger ergänzte die Fastenkur um naturheilkundliche »Hilfsmaßnahmen«, wozu er das Licht- und Luftbad, Bäder, einen geregelten Tag- und Nachtrhythmus, Bewegung, Massage und zum Teil auch eine vegetarische Diätkost zählte. Vor allem sollte das »Buchinger-Fasten« der geistigen Besinnung dienen. Seine Kur umfasste Vollfasten, Morgenfasten, Obst-, Rohkost-, Milchfasten oder vegetarisches Fasten. Sie wurde mit »Entlastungstagen« in Form von reinen Obst-, Reis- oder Rohkosttagen eingeleitet, dann wurde die Nahrungszufuhr stufenweise reduziert. Danach durfte der Patient nur noch Obst- und Gemüsesäfte sowie warme Gemüsebrühe und Kräutertees mit Honig zu sich nehmen, um die notwendigen Vitamine und Mineralstoffe zuzuführen. Nach Abschluss der Fastenphase wurden die Aufbautage eingeleitet. Je nach Schwere der Krankheit und Kurwirkung wurde die Art und Dauer des Fastens festgelegt. Buchinger erweiterte damit das System der Nahrungsentziehung erheblich und versuchte, sowohl die Fettleibigkeit als auch die zu große Magerkeit damit zu bekämpfen. Er sah im Fasten einen Weg zum geistigen Wachstum und bedauerte, dass dies als Moti-

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vationsgrund wegen des Schlankheitswahns in den Hintergrund getreten war.120 Bis heute steht das »Buchinger-Fasten« in Naturheilsanatorien wie auch auf Wellness- und Schönheitsfarmen auf dem Programm als Einstieg in eine Reduktionsdiät oder als Entschlackungs-, Verjüngungs- und Schlankheitskur und erfreut sich nach wie vor größter Beliebtheit. Für die Fastenanhänger wurden in der Öffentlichkeit häufig abwertende Ausdrücke wie »Hungerleider« oder »Hungerkünstler« verwendet. Eine auffällige Häufung der Fastenliteratur ist in den 1920er und 1930er Jahren zu verzeichnen, in einer Periode, in der sich der moderne Schlankheitskult auf einem ersten Höhepunkt befand. Die Fastenkuren in Kombination mit Rohkostsäften entfernten sich zusehends von ihrem hygienischen Nutzen und wurden in den Dienst schlank machender Schönheitsmittel gestellt. Rohkostsäfte, Vitamin- und Mineralstoffpräparate sowie Fruchtsalze als eine Fastenkur begleitende Diätmittel mussten ebenso wie die übrige Naturkost erst produziert und anschließend in Spezialgeschäften verkauft werden. abb18 Die Entwicklungsgeschichte des Reformhauses Die Entstehungsgeschichte des Reformhauses und der Reformwarenproduktion muss in engem Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung gesehen werden. Um die Ansätze der Ernährungsreform praktisch umzusetzen, entstand ein neuer Wirtschaftszweig. Erste Produktions- und Verkaufsstätten für Reform- und Diätkost wurden gegründet. Das Angebot reichte von der Diätmargarine über Mineralstoff- und Vitaminpräparate, Fleischersatzprodukte, Gemüse- und Obstsäfte und Vollkornbrote bis hin zur Reformkleidung, Lebensreformliteratur etc. Auf Ausstellungen, Gesundheitsund Ernährungsmessen stellten die Lebensreformer ihre Produkte ab 1887 dem Verbraucher vor. Daneben entstanden seit den 1880er Jahren vegetarische Restaurants, die nach diätreformerischen Gesichtspunkten arbeiteten. Die lebensreformerischen Trends der naturgemäßen Heilweise, der vegetarischen Ernährung und der Kleiderreform ließen Marktlücken entstehen, die es zu schließen galt. Es bestand eine spürbare

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Vegetarische Diätprodukte der Firma Thalysia gegen Körperfett Quelle: Entfettungskur (o. J. [1928])

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Nachfrage nach Diätwaren und anderen Reformartikeln auf dem Markt. Diese Nachfrage ging in erster Linie auf die Lebensreformanhänger selbst zurück. Deshalb überrascht es nicht, dass das Reformhauswesen aus der Initiative unternehmerisch kompetenter Vertreter dieser Bewegung entstand.121 Die Hauptcharakteristika des Reformhauses der Jahrhundertwende waren die Differenzierung nach der Warenqualität, die Spezialisierung auf den neu entdeckten Markt und die Kombination des Verkaufs von Reformwaren mit bereits vorhandenen lebensreformerischen Einrichtungen, z. B. vegetarischen Speisehäusern. Die Reformwaren sollten sich von handelsüblich erhältlichen Produkten durch mehr »Natürlichkeit« unterscheiden: Künstliche Düngungen, Färbungen, chemische Behandlungs- und Raffinierungsprozesse sowie Konservierungstechniken sollten vermieden werden, um die »natürlichen Nährwerte« der Produkte zu erhalten.122 So führte das Reformhaus z. B. nur solche Haferflocken, die aus unabgeschliffenen und unter geringer Wärmezufuhr getrockneten Haferkernen bestanden, also nach einem schonenden Verfahren hergestellt waren. Erster Reformhausgründer war der Berliner Kaufmann Carl Braun (1858–1943), Mitglied eines naturheilkundlichen PrießnitzVereins, der auf Bitten seiner Vereinsfreunde in seinem Textilladen eine Abteilung einrichtete, in der man die passenden Utensilien zur Ausübung von Naturheilverfahren bekommen konnte. Bald kamen auch Anhänger der Vegetarismusbewegung zu ihm und wünschten vegetarische Lebensmittel. Daraufhin eröffnete Braun 1887 einen Reformladen am Potsdamer Bahnhof in Berlin, den er »Gesundheitszentrale« nannte. Das Geschäft wuchs in kurzer Zeit zu einem Kauf- und Versandhaus an und wirkte als Engros-, Detailund Exportunternehmen modellhaft. Das Sortiment reichte von Jägers Normalkleidung, Lahmanns Reformbaumwolle und Kneipps Leinentrikots über Dörrgemüse, Hafergrütze, Kokosnussbutter, Kneipps Gesundheitskaffee etc. bis zu der neuen Reformkleidung, Diätmargarinen, Entfettungssäften, Joghurts, Kefir, Gymnastik- und Küchengeräten.123 Nach Brauns Vorbild spezialisierten sich auch in anderen Städten Einzelhandelsläden unter Namen wie »Gesundheits- und Nährmittelgeschäft«, »Vegetarisches Lebensmittelgeschäft«, »Sanitätsba-

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zar« usw. auf vegetarische Ware oder passten sich durch Sortimentserweiterungen dem neuen Bedarf an.124 Der Begriff »Reformhaus« war erstmals im Jahr 1900 zu lesen, als der Kaufmann Karl August Heynen in Wuppertal-Barmen ein Gesundheitsgeschäft als »Reformhaus Jungbrunnen« bezeichnete. Seitdem bürgerte sich dieser Begriff für Geschäfte mit Gesundheitsartikeln ein, selbst wenn sie nur aus einem Verkaufsraum bestanden.125 Allerdings blieb die Zahl der Reformhäuser bis 1914 gering und auf Großstädte begrenzt.126 Dies machte ein Versandwesen notwendig, damit ein größerer Kundenkreis erreicht werden konnte. Die meisten Reformhäuser erklärten sich zum Versand bereit, wobei die Leistungsfähigkeit des Versandwesens stark variierte. Nach Beendigung von Kriegsnot und Inflation kam es, vermutlich im Zuge der ersten extremen Schlankheitsmode, zu einem raschen Aufschwung des Reformhauswesens. 1925 existierten reichsweit bereits 200 Reformhäuser, 1939 waren es zehnmal so viele. Das Besondere des Reformhauses war, dass seine Verkaufstätigkeit weder von der Nachfrage des durchschnittlichen Verbrauchers noch von den Angeboten der Industrie abhängig war, sondern in erster Linie von der Ideologie der Lebensreform getragen wurde. Es verkaufte eine Kombination von Gesundheitsidee und Ware. Die gebotene Beratung sollte dem Verbraucher und der Volksgesundheit dienen. Allerdings wurden diese anfänglich ideellen Motive bei vielen Reformhausbesitzern immer mehr von erwerbswirtschaftlichen Interessen in den Hintergrund gedrängt. Das Reformhaus, das anfangs im Dienst der lebensreformerischen Propaganda stand, verlor zunehmend seine Ideologie verbreitende Funktion. Ähnliches galt für den Kundenstamm. Bis zum Ersten Weltkrieg sprach das Reformhaus nur eine kleine Konsumentengruppe an, die sich fast ausschließlich aus dem Kreis der Lebensreformanhänger rekrutierte.127 Später trat der Vegetarismus gegenüber zahlreichen anderen Ernährungskonzepten und wegen anderer Gesundheitsprobleme zusehends zurück. Dennoch war das Reformhaus der wirtschaftliche Ausdruck der Lebensreformbewegung und der beste Beweis dafür, dass sich bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein verändertes Gesundheits-, Körper- und Umweltbewusstsein ausgebildet hatte.

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Die Reformwarenproduktion Parallel zum Reformhaus begann sich seit den 1880er Jahren eine Reformwarenproduktion herauszubilden, um den hohen Qualitätsansprüchen der Lebensreformer gerecht zu werden.128 Auch die Reformwarenunternehmer stammten in erster Linie aus den Kreisen der Lebensreformer. Die »Reformwaren« sollten sich durch Vollwertigkeit, Natürlichkeit (Diätmittel und Körperpflegeartikel) und Neuartigkeit (Sportkleidung und Fitnessartikel) von den handelsüblichen Waren abheben. Die Produzenten erhoben deshalb den Anspruch auf einen Qualitätsvorsprung vor den Erzeugnissen der Konkurrenz, zumal sie in ihren Waren ein Mittel sahen, propagandistisch auf jene Zielgruppen einzuwirken, die durch weltanschauliche Einflussnahme nicht zu gewinnen waren. Deshalb spielte die schriftliche Kundenwerbung durch den Versand eine große Rolle. Im Einzelnen umfasste das Reformwarenangebot z. B. Reformwäsche, Reformbetten, Reformkleider, Gesundheitsstiefel, Nahrungsmittel, Diätprodukte, Stärkungsmittel, Heilmittel, Hautöle, Seifen und auch Literatur zu allen Lebensreformthemen. Die Nährmittelunternehmen spezialisierten sich auf natürlichere landwirtschaftliche Anbauweisen und reine, d. h. ohne jeglichen Zusatz von Chemikalien hergestellte Produkte. Zu diesen Diätprodukten gehörten Müsli, Vollkornbrote, Pflanzenextrakte, Hafermehl, Speisewürzen, Nährsalze, Fruchtpasten Rohkostsäfte, Obst-, Kräuter und Schlankheitstees, Diätergänzungsprodukte etc. Das Sanitaswerk Emil & Josef Keller im elsässischen Bennweiler bei Colmar war eines der größten und leistungsfähigsten Reformunternehmen auf dem ausschließlich vegetarischen Sektor. abb20 Die genossenschaftliche Obstbausiedlung Eden in Berlin-Oranienburg war das älteste Reformwarenunternehmen. Sie wurde am 28. Mai 1893 von 18 Lebensreformern in der Absicht gegründet, für sich selbst den Weg zu einer Lebenserneuerung zu finden.129 Aber schon bald konnte die Obstbaukolonie über ihren Eigenbedarf hinaus produzieren und ihre Waren in den Handel bringen. Sie verarbeitete ihr naturgemäß erzeugtes Obst und Gemüse zu Marmeladen, Obstund Gemüsesäften und Gelees. Außerdem trugen die Edener Mitglieder zur Erzeugung von Reformwaren bei, indem sie leistungsfä-

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Thalysia-Schlankheitstee (1927); Quelle: Garms/Reach (o. J. [1929])

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higere Werke beauftragten, für sie nach ihren Grundsätzen und Rezepten besonders gute und einwandfreie Lebensmittel herzustellen. So entstand 1908 das für die Siedler bestimmte Pflanzenfett »Marke Eden«. Auch die »Eden Kraft-Nahrung«, ein pflanzlicher Fleischersatz, wurde zu einer elementaren Reformware. Die Edener Obstbaugenossenschaft wurde zu einer der größten Produktionsstätten auf dem Gebiet der Reformwaren.130 Ein anderes wichtiges Unternehmen war der »Deutsche Verein für Gesundheitspflege«, kurz »De-Vau-Ge« genannt, der vor allem Nusspräparate herstellte. Seine erste Heimstätte, das landwirtschaftliche Gut »Klappermühle« bei Magdeburg, erweiterte sich zu der Siedlung Friedensau, der ein eigenes Nährmittelwerk angegliedert war. In diesem Werk wurden die Reformlebensmittel produziert und im Sanatorium getestet. Auch einzelne Persönlichkeiten der Lebensreformbewegung machten sich als Reformwarenproduzenten einen Namen, z. B. M. E. G. Gottlieb (1872–1923). Gottlieb kam aus der Naturheilkundebewegung und propagierte bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine auf die Antike zurückgehende Methode der Hautpflege mit Pflanzenölen.131 1905 entwickelte er ein Hautfunktionsöl, das nur in Reformhäusern erhältlich war; überhaupt waren Reformhäuser lange Zeit die einzigen Geschäfte, in denen man »Hautöle« zur Körperpflege und zum Sonnenschutz bekommen konnte. Neben dem Hautöl wurde in der Reformbranche auch eine besondere Kosmetik hergestellt, deren Hauptkennzeichen die Verwendung pflanzlicher Substanzen und die Freiheit von Chemikalien aller Art waren. Heute ist die Kosmetik ein wichtiger Produktionszweig der Reformwaren.132 Der Arzt Gustav Jaeger (1832–1917) war überzeugter Reform-, Freizeit- und Sportkleidungshersteller. Mit seinen Wollprodukten zielte er aber nicht nur auf den Gesundheitsschutz ab, sondern verband mit ihnen eine eigene lebensreformerische Ideologie. Jaegers Wollkleidung stellte eine der ersten Freizeit- und Sportbekleidungen (z. B. Wander- und erste Skianzüge etc.) dar, weshalb er mit dem Aufstieg der Sportbewegung einen enormen Absatzanstieg erreichen konnte. Ein weiterer bedeutender Reformwarenhersteller war der schon genannte Arzt Heinrich Lahmann (1860–1905). Er verwarf Jaegers

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Wollkleidung gänzlich und trat für eine poröse Baumwollkleidung ein. Auch Baumwollsporttrikots kamen aus seiner Produktion. Daneben setzte er sich aktiv für eine natürlichere Ernährungsweise ein. Anhand zahlreicher Ernährungsversuche entwickelte er seine »Nährsalztheorie« (siehe oben) und auf dieser Grundlage besondere »Nährsalz-Präparate«, die er 1893 auf der St. Petersburger Hygiene-Ausstellung vorstellte. Seine Präparate wie »Nährsalzkakao«, »Nährsalzchocolade«, »Japan-Soja« und vor allem seine »vegetabile Milch« zur Säuglings- und Kleinkindernährung setzten sich schnell als Reformkostwaren durch.133 Als wichtiger Produktionszweig bei den Reformwaren entwickelte sich, einhergehend mit der Antialkoholbewegung, die Herstellung von alkoholfreien Bieren und Weinen, Fruchtsäften und Brauselimonaden. Diese Getränke erhielten eine Art von »Kampfcharakter« für die Antialkoholbewegung, denn sie dienten als Mittel gegen den hohen Alkoholmissbrauch vor allem in den Arbeiterfamilien. Ihre Herstellung wurde von Antialkoholismusvereinen wie dem »Allgemeinen Deutschen Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus« strengstens überprüft. Die älteste Kelterei alkoholfreier Natursäfte war die 1893 gegründete Firma Donath & Co KG in Unterföhring bei München. Alexander Lauffs (1865–1951), ein Winzersohn, begann ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts mit der Produktion eines alkoholfreien Traubensaftes in Unkel am Rhein, der noch heute unter der Marke »Rabenhorst« im Reformhaus vertrieben wird.134 Reformhäuser waren bis 1948 die fast ausschließlichen Verkaufsstätten für antialkoholische und kalorienarme Süßmoste. Auf dem Sektor der Vollkornbrotproduktion sind vor allem Gustav Simons, Karl Studt und Volkmar Klopfer zu nennen. Der Bäcker und Ernährungsreformer Gustav Simons erfand 1899 ein Patentrezept für die Herstellung eines Brotes aus vorgekeimtem Malzkorn und für neuartige Teigmühlen. 1901 gründete er die Achimer Simonsfabrik bei Bremen zur Produktion dieses »Malzkornvollbrotes«. Es war das erste im Reformhaus erhältliche Vollkornbrot, das lediglich auf einer biologischen Teigbereitung basierte. Später übernahm Fritz Lieken die Leitung der Achimer Simonsbrotfabrik und entwickelte das Simonsverfahren zum Lieken-Simonsverfahren

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weiter. Das Simonsvollkornbrot wird deshalb heute unter dem Namen »Lieken Urkorn« als Reformware verkauft. Lieken griff auch die Idee des Kollath-Frühstücks auf und belieferte die Reformhäuser zu diesem Zweck mit hochkeimfähigem Weizenkorn, Frischkornbrot und Weizen-Vollwertflocken. Die ersten Graham- und Felke-Brote erzeugte der Lebensreformer Karl Studt 1894. Er brachte ein ungesalzenes Weizenvollkornbrot auf den Reformwarenmarkt, war der erste Vollkornbrotlieferant der Reformhäuser und stellte auch das heute noch berühmte »FelkeBrot« her. Auch das »Grahamhaus Studt« existiert heute noch. Der Chemiker Volkmar Klopfer (1874–1943) gründete 1900 in Dresden-Leubnitz das »Nahrungsmittelwerk Dr. Klopfer« und begann 1913 mit der Herstellung von »Roggen-Vollkornmehl«.135 Im Wissen um den hohen Nährwert der äußeren Randschichten der Getreidekörner kreierte er ein eigenes »Roggenvollkornbrot« für die Reformhauskunden. Zusammen mit dem schwedischen Ernährungsreformer Ragnar Berg entwickelte er 1909 das Mineralstoffund Spurenelementepräparat »Basica« mit 20 verschiedenen Mineralstoffen und Spurenelementen, wie sie in natürlich gewachsenem Obst und Gemüse vorkommen.136 Etwa zur gleichen Zeit erfand in den USA Dr. Kellogg nicht nur die »Cornflakes« als leicht verdauliches Getreide, sondern auch Nusspräparate, die in Deutschland vom »Deutschen Verein für Gesundheitspflege« in den Handel gebracht wurden. Es handelte sich dabei um eine sogenannte »Nußbutter«, die aus zerquetschten Haselnüssen, Mandeln und Erdnüssen bestand. Nusstabletten namens »Bromose« empfahl eine andere Fabrik. Diese bestanden aus gemälzten Nüssen oder Nussfleisch (Protose), das als pflanzlicher Fleischersatz oder vegetarischer Aufschnitt gedacht war. Auch »Dr. Kelloggs Biskuits« aus reinem Weizen- oder Hafermehl, z. T. mit Zusatz von Nussbutter und auch Dörrobst, hatte diese Gesellschaft in ihrem Sortiment.137 Während sich auf diese Weise die Diätwarenindustrie bereits vor dem Ersten Weltkrieg ausbreitete, begann sich der auf Heilpräparate spezialisierte Produktionszweig erst nach dem Ersten Weltkrieg zu formieren und durchzusetzen. Als Beispiel für diese Entwicklung kann das 1918 in Blankenburg im Harz gegründete Unternehmen

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»Heilerdegesellschaft Luvos Just KG« genannt werden.138 Zunächst wurde die Heilerde als therapeutisches Mittel zur äußeren Anwendung in Form von Umschlägen und Verbänden oder für das Eingraben angepriesen, später auf Anregung des Medizinalprofessors J. Stumpf auch zur inneren Anwendung verordnet. Zu den bedeutendsten Fitnessgeräteherstellern gehörte Eugen Sandow mit seinem patentierten Expander und seiner Greifhantel, die auch in Reformhäusern und per Versand vertrieben wurden. Zahlreichen Reformwarenproduktionsstätten waren eigene Versandabteilungen angegliedert, weil die Möglichkeit der direkten Verbraucheranfrage an die Unternehmen wegen der geringen Zahl der eigentlichen Verkaufsstätten (Reformhäuser) offen gehalten werden sollte. Aber auch in die Reformwarenbranche drang der Gedanke des Massenkonsums zusehends ein und löste den ursprünglich ideellen Gedanken der Förderung einer natürlicheren Lebensweise immer mehr ab. Biologische und natürliche Schlankheitskuren sind damit kein Relikt der modernen Ökologiebewegung der 1970er und 1980er Jahre, sondern der Lebensreformbewegung des späten 19. Jahrhunderts. Reaktionen der Ernährungswissenschaften auf die Diätreformbestrebungen Die Entwicklung der Ernährungswissenschaften im 19. Jahrhundert vollzog sich in drei Hauptphasen. Die erste Phase war gekennzeichnet von der Entwicklung der Chemie und dem Ausbau der chemischen Analyseverfahren und reichte bis in die 1840er Jahre. Der zweite Abschnitt war bestimmt vom Ausbau der Ernährungsphysiologie mit Untersuchungen über den menschlichen Stoffwechsel. Erst die dritte Phase, beginnend mit den Arbeiten Carl Voits in den 1860er Jahren, brachte dann die Ernährungslehre als selbstständige Disziplin hervor, die Kostnormen aufstellte und damit erste Orientierungshilfen bei der praktischen Gestaltung der menschlichen Ernährung gab.139 Zwischen 1860 und 1880 legten Carl Voit (1831–1898) und Max Pettenkofer (1818–1901) durch exakte Stoffwechselbilanzversuche die Grundlagen für die moderne Ernährungsphysiologie. Voit ver-

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abreichte den Versuchstieren und Personen eine vorher genau analysierte Nahrung und konnte auf diese Weise die Wirkung einzelner Nährstoffe auf den Körper beobachten. Pettenkofer entwarf den sogenannten »Respirationsapparat«, der es ermöglichte, genaue Angaben über die Bilanz der Nährstoffeinnahmen und -ausgaben zu machen. Mit seiner Hilfe waren erstmals Angaben über die Zersetzung der Fette und Kohlenhydrate im menschlichen Körper möglich.140 Voits eigentliche Leistung für die Ernährungsphysiologie war die Abkehr von der rein quantitativen, kalorischen Bestimmung hin zur stofflichen Betrachtung der Ernährung mit der Wirkung der einzelnen Nährstoffe auf den Körper. Erst ihm gelang es, brauchbare Erklärungsansätze für die Bedeutung der einzelnen Nahrungsbestandteile für die menschliche Ernährung zu finden. Auf dieser Grundlage definierte er in den 1860er Jahren sein »Eiweißkostmaß«. Es betrug für einen erwachsenen, durchschnittlich hart arbeitenden Mann 118 g Eiweiß, 56 g Fett und 500 g Kohlenhydrate pro Tag und galt lange Zeit als Gradmesser dafür, was für die Ernährung des Menschen als Mindestmaß an Nahrungsstoffen notwendig sei.141 Die Ernährungsreformer stellten nun mit ihren eigens entwickelten und häufig vorgelebten Diätsystemen das Voitsche Kostmaß in Frage. In der Folge entbrannte zwischen ihnen und den Schulmedizinern bzw. Ernährungsphysiologen, die an Voits Kostmaß festhalten wollten, eine heftige Diskussion über die Bedeutung des tierischen Eiweißes in der menschlichen Ernährung. Die Ernährungsreformer brachten eine bereits fest integrierte Lehrmeinung ins Wanken und wiesen damit auf den noch nicht ausgereiften Zustand der jungen Disziplin Ernährungswissenschaft hin, indem sie ihr ignoranten »Dogmatismus« gegenüber neuen, ausländischen Erkenntnissen vorwarfen. Seitens der Ernährungswissenschaften machte sich vor allem Max Rubner (1854–1932) um die weitere Aufklärung des Nährwertes in Lebensmitteln verdient. Rubner, der als Assistent bei Voit gearbeitet hatte, legte besonderes Gewicht auf die Erforschung der energetischen Werte der Nahrung und bezog das Lebensalter in seine Ernährungstheorie mit ein, indem er zwischen dem Zeitraum vor und nach dem Abschluss der Wachstumsphase unterschied.142 Anhand von Untersuchungen mit dem von ihm entwickelten »Respi-

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rationskalorimeter« stellte er das »Gesetz von der Isodynamie«, der gegenseitigen kalorischen Vertretbarkeit der Nährstoffe, auf. Danach sollte zwischen zwei unterschiedlichen Stoffwechselsystemen differenziert werden, dem »energieliefernden Kraftstoffwechsel«, dem alle Nährstoffarten dienen können, und dem »körpererhaltenden Stoffwechsel«, bei dem allein Eiweißsubstanzen verwertet werden können.143 Die Ernährungsphysiologen Noorden und Salomon unterschieden später zwischen »physiologischem Eiweißminimum«, »zweckmäßigem Eiweißminimum«, »erträglichem Eiweißverzehr« und »zulässigem Eiweißmaximum«.144 Dadurch entfachte die heiß diskutierte »Eiweißfrage« aufs Neue. Als wünschenswerten Eiweißverzehr schlugen Noorden und Salomon eine Variationsbreite von 70–90 g oder 100–130 g täglichen Eiweißverzehrs vor, als zulässiges Eiweißmaximum definierten sie etwa 150 g. Ihrer Ansicht nach durfte der ökonomische Aspekt einer billigen, eiweißarmen Kost, der in zahlreichen ernährungsreformerischen Darstellungen zu finden sei, nicht den Ausschlag für die Beantwortung der Eiweißfrage geben.145 Den Diätreformern wurde in der Öffentlichkeit, insbesondere in medizinischen Zeitschriften, der Kampf angesagt. In der »Eiweißfrage« differierten die Meinungen über die optimale Ernährung am gravierendsten, wobei nicht übersehen werden darf, dass dieser Streit sich vornehmlich auf akademischer Ebene abspielte und die breite Masse der Bevölkerung davon ausgeschlossen blieb. Die Ernährungsphysiologen Moleschott, Liebig und Voit hatten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Theorie aufgestellt, dass im tierischen Protein der eigentliche Energiespender für die Muskelkraft zu sehen sei, was zu einer allgemeinen Aufwertung von Fleisch, Eiern, Milch und Käse in der Volksmeinung geführt hatte. Das pflanzliche Eiweiß war zu dieser Zeit zwar schon bekannt, wurde aber, weil es weniger dem menschlichen Eiweiß ähnelte und deshalb als schlechter für den Körper verwertbar galt, von den Ernährungswissenschaftlern als qualitativ und quantitativ minderwertig eingestuft.146 Nun lebten aber die Ernährungsreformer Bircher-Benner, Lahmann, Berg, Röse und insbesondere Hindhede mit ihrer eiweißreduzierten Pflanzenkost demonstrativ vor, dass diese Theorie überholt war.147

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Entwicklungsstränge der modernen Diätkost

Dies führte auf Seiten der Ernährungswissenschaft zu einer heftigen Kritik und Polemik gegenüber den Diätreformern. Auf der anderen Seite waren vor allem die Ärzte unter den Ernährungsreformern darum bemüht, nach wissenschaftlichen Erklärungsansätzen für ihre Diätkonzepte zu suchen, da sonst die Gefahr bestand, dass ihre Ideen als falsch verworfen wurden. Deshalb griffen beispielsweise Bircher-Benner und Hindhede die neuen ernährungsphysiologischen Erkenntnisse des Amerikaners Russel H. Chittenden auf, die ebenfalls im Widerspruch zum Eiweißdogma der deutschen Ernährungsforschung standen.148 Die übrigen Ernährungsreformer konnten sich bis dahin zur wissenschaftlichen Fundierung ihrer Diätkostformen zumindest auf die Haigsche Harnsäureverschlackungstheorie berufen, die nie naturwissenschaftlich widerlegt werden konnte. Da sie aber immer wieder den Verbalattacken der Ernährungswissenschaftler ausgesetzt waren, gingen auch sie in die Offensive und schlugen im Kampf gegen die »Eiweißschlemmerei« aggressivere Töne an.149 Sie forderten die generelle Ablösung des Fleisches als primäre Hauptkost, das von der Wissenschaft ihrer Meinung nach nur »künstlich« hochgehalten wurde, durch Gemüsearten und Baumfrüchte (Obst und Nüsse), die bis dahin lediglich als unwichtige Beikost bzw. Genussmittel gegolten hatten. Manche von ihnen forderten zusätzlich die Vollwertigkeit der Nahrungsmittel, da in ihren Augen jeder Koch-, Röst- und andere lebensmittelchemische oder häusliche Verarbeitungsprozess (z. B. Konservierung) eine Entwertung der naturbelassenen Nahrung bedeutete. Mit ihren Diätkuren demonstrierten sie, dass Obst und Gemüse nicht nur Beilagen waren, sondern auch als Heil- und Schlankheitskost dienen konnten. Zum Beispiel hob Lahmann die Bedeutung lebenswichtiger Mineralstoffe in der pflanzlichen Kost hervor, Bircher-Benner machte auf den gesundheitlichen Wert der Rohkosternährung aufmerksam, und Hindhede zeigte, dass das Voitsche Kostmaß längst überholt war. Der Fastenarzt Möller resümierte: »Die für die tägliche Ernährung als in der Wissenschaft für maßgebend betrachteten Gesichtspunkte sind in der Tat als falsch anzusehen.«150 Die Zweifel der Diätreformer am Eiweißdogma bestätigten sich erst nach und nach durch neue Forschungsergebnisse aus dem Aus-

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

land. Amerikanische Studien und Experimente zeigten, dass die durchschnittliche tägliche Sollzufuhr an Eiweiß durchaus niedriger sein durfte, dass frisches Obst und Gemüse einen gewissen Nährwert besaß und Rohkost in der Ernährungstherapie durchaus Erfolge zu verzeichnen hatte. Es mehrten sich die Anzeichen dafür, dass Fette, Kohlenhydrate und Proteine allein nicht ausreichten, um eine gesunde Ernährung zu definieren. Man entdeckte weitere, bisher unbekannte Stoffe in der Nahrung, für die Casimir Funk 1913 den Begriff »Vitamin« einführte, in der Annahme, dass es sich um einen Ergänzungsstoff, vermutlich einen »Eiweiß«-Stoff handelte, weshalb er die Endung »amin« und das lateinische Wort für Leben, »vita«, als Präfix auswählte.151 Dies war ein Fehlschluss, wie sich herausstellen sollte, denn Vitamine können den unterschiedlichsten chemischen Stoffgruppen zugeordnet werden. Krankheitsbilder, die vom Fehlen dieser lebenswichtigen Ergänzungsstoffe hervorgerufen wurden, bezeichnete man demzufolge als »Avitaminosen«. Die »Vitaminforschung« entstand als neuer Zweig innerhalb der Ernährungswissenschaften.152 Der wissenschaftliche Nachweis von Vitaminen gelang nach der Jahrhundertwende. Durch Fütterungsversuche an Tieren wurde nachgewiesen, dass Vitamin A die Sehstärke beeinflusst, Vitamin-B1-Mangel zu Beriberi führt, Skorbut auf Vitamin-C-Mangel zurückzuführen ist und Rachitis auf Vitamin-D-Mangel beruht. Man lernte, dass zu einer gesunden Diät mehr gehörte als eine ausgewogene Mischung von Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten, nämlich auch essentielle Fettsäuren und anorganische Elemente.153 Trotz dieser enormen Fortschritte in der Mineralsalz- und Vitaminforschung gab es in den Reihen der Ernährungswissenschaftler aber weiterhin Stimmen, die die Erkenntnisse des Auslands ignorierten. Noch in den 1920er Jahren, als die Rohkostbewegung bereits zu einem allgemeinen »Modetrend« geworden war, suchte die naturwissenschaftliche Ernährungslehre am Eiweißdogma festzuhalten, indem sie diese »unvollständigen Eiweißstoffe« (Vitamine) und die Rohkost nach wie vor als schwer verdauliche und magenunfreundliche Nahrung deklarierte.154 Für diese Haltung lassen sich auch politische Motive finden. Die deutschen Ernährungswissenschaftler sahen ihre bisherige Vorrangstellung gefährdet und

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Entwicklungsstränge der modernen Diätkost

erklärten den Konflikt mit den Naturärzten und Diätreformern kurzerhand zur »öffentlichen« Angelegenheit, weil diese angeblich zur Volksverunsicherung in Ernährungsfragen beitrugen und damit größten Schaden anrichteten. Rubner hielt noch 1930 am Voitschen »Eiweißdogma« mit der etwas lapidar klingenden und unwissenschaftlichen Begründung fest, dass sich die Eskimos unter den klimatisch härtesten Bedingungen vorwiegend und ausschließlich von einer eiweißreichen tierischen Kost ernähren und trotzdem kräftig und leistungsfähig ein hohes Alter erreichen könnten. Wie verhärtet der Kampf zwischen den Repräsentanten der naturwissenschaftlichen und der reformerischen Diättheorien gerade in der Frage nach der erforderlichen Eiweißmenge in der täglichen Nahrung des Menschen war, verdeutlicht der von Rubner in die Diskussionsrunde geworfene Begriff der »Proteinphobisten«.155 Die Anhänger einer laktovegetabilen Kost, die es gewagt hatten, an den bisherigen ernährungswissenschaftlichen Anschauungen zu zweifeln, wurden als psychisch krank diffamiert. Auch die Bezeichnung der Diätreformbewegungen als »Sekten« sollte den Eindruck erwecken, dass es sich lediglich um Sonderlinge einer religiös-fanatischen Glaubensgemeinschaft handelte und nicht um ernst zu nehmende Personen.156 Die Krankheiten, die die Diätreformer als Folge einer Eiweißüberernährung ansahen, interpretierte Rubner als Erbkrankheiten, die keinesfalls vom übermäßigen Fleisch- oder Eiweißgenuss herrühren könnten. Das von den Befürwortern einer eiweißarmen Kost vorgebrachte Hauptargument der Gefahr einer »Harnsäureverschlackung« bei übermäßigem Fleisch- und Eiweißgenuss ließ er nicht gelten, sondern verwarf es schlichtweg als falsch. Erstens, so Rubner, ernährten sich etwa 450 Millionen Menschen der wichtigsten Kulturländer von der zweieinhalb- bis dreifachen Menge an Eiweiß, die er als unterste Grenze für ein mögliches Eiweißminimum festgesetzt habe, und zweitens könnten die gefürchteten Harnsäuremengen sowohl bei animalischer als auch bei vegetarischer Kost bei gleicher Stickstoffzufuhr dieselben sein. Außerdem seien stickstoffhaltige Substanzen besonders in pflanzlicher Kost enthalten.157 Das These-Antithese-Muster durchzog die ganze Auseinandersetzung auf beiden Seiten. Über die Vegetarier äußerte sich Rubner

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

etwas gemäßigter, da er die Tatsache gelten lassen musste, dass sich bestimmte ostasiatische Bevölkerungsgruppen überwiegend von Pflanzenkost ernährten und trotzdem gesund blieben. Aus diesem Grund stufte er den Vegetarismus als »völlig unschädlich, aber vom volkswirtschaftlichen Standpunkt zu allgemeiner Anwendung unfähig«158 ein. Nach seiner Meinung reichten die Bodenverhältnisse in Deutschland zu einer rein vegetarischen Ernährung des Volkes nicht aus, wohingegen bei der Viehzucht sogar noch der sonst unbrauchbare Boden für die tierische Nahrungsproduktion genutzt werden könne. Bei der Behandlung der »Nährsalzsekten« schickte Rubner zunächst die bisher gemachten ernährungsphysiologischen Beobachtungen und Ergebnisse voraus, die gezeigt hätten, dass in der europäischen Kost der animalische Teil mehr Salze enthalte als der vegetabile Teil, und dementierte damit die Lahmannsche »Nährsalztheorie«, die besagte, dass gerade in den Pflanzen lebenswichtige Nährsalze vorhanden seien. Die »Basen-Säuretheorie« war seiner Auffassung nach hinfällig, denn der Körper reguliere seinen Salzbedarf von selbst, »auch ohne unser Zutun«.159 Röses These der Kalkzufuhr, die durch hartes Trinkwasser und eine basenüberschüssige Pflanzenkost gesichert werden sollte, begegnete er mit dem Argument, dass auch die Milch eine genügend hohe Kalkzufuhr garantiere. Zum »Fletcherismus« meinte er, dass diese Sekte lediglich die alte Gesundheitsregel »gut gekaut ist halb verdaut« aktualisiere, die schon längst als soziale Forderung in die Kindererziehung eingegangen sei. Mit der Rohkost setzte sich Rubner besonders intensiv auseinander, denn er sah darin einen Angriff auf seine These, dass die nationalen Ernährungsformen, die meist auf einer gemischten Kost aufbauten, das Produkt instinktiver Regulation und der Erfahrung gesundheitlicher Bekömmlichkeit seien. Vollwerternährungsanhängern wie Bircher-Benner oder Kollath warf er »maßlose Unkenntnis physikalischer, chemischer und physiologischer Kenntnisse« vor und bezeichnete sie als »Abart der Vegetarianer«.160 Als Argumente gegen die Rohkost brachte er vor, dass erstens die Zubereitung unter Erhitzung eine desinfizierende, hygienische Funktion habe und zweitens die in den Pflanzen enthaltenen Hauptnährstoffe erst

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Fastenkuren Rohkost- /Säftekur

20. Jahrhundert

Jahrhundertwende

2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

1. u. 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Gedanklicher Überbau 18./19. Jahrhundert

Schroth-Kur

Rohkostdiät, Frischobstkruen

Rohkostbewegung

Fastenbewegung

Schroth-Kur

Vollkornbrote „Müsli“, KollathFrühstück, ballaststoffreiche Diät

Vollkornbewegung

Vollwertbewegung

Laktovegetarische Diät

Nährsalzbewegung

Diätreformbewegungen Haigs Harnsäureverschlackungstheorie

Deutsche Lebensreformbewegung

Deutsche Naturheilbewegung

Naturismus

Fletscherismus

Eiweißarme, kohlenhydratreiche Diät

Eiweißarme, kohlenhydratreiche Landkost

Vegetarische Diät

Fletscherismus

Deutsche Vegetarismusbewegung

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

durch die Hitzebehandlung für die Verdauung erschließbar und verwertbar gemacht würden. Nach seiner Rechnung fielen von einer gemischten Kost über 50 % des Nährwertes für den Rohköstler weg, die dann aus der Gruppe Zucker, Obst, Gemüse und Fett ersetzt werden müssten, was seiner Meinung nach gar nicht durchführbar war. Die reine Obstdiät führe zu einer fortschreitenden Abmagerung, zum langsamen kontinuierlichen Eiweißverlust und letztendlich zum Zellenzusammenbruch. Die von den Rohköstlern vorgebrachten Argumente aus der Vitaminlehre hatten nach Meinung Rubners keine Berechtigung, da die Kenntnis der Vitamine noch unvollständig sei. Die Rohkosternährung bezeichnete er als gewichtsreduzierende Diätkost, die in den Dienst der neuen Kleidermode gestellt worden sei und lediglich zur Erzielung der neumodischen »schlanken Linie« bevorzugt werde.161 Für Rubner war nur die gemischte Kost die menschliche Idealnahrung, wobei Verschiebungen zwischen animalischen und vegetabilischen Nahrungsmitteln belanglos seien. In seiner abschließenden Bewertung der verschiedenen Diätreformbewegungen kam er zu dem Urteil, dass diese »Sekten« im Allgemeinen für die Volksernährung keine Bedeutung hätten und auch keine Reformen für die Zukunft bereithielten. Die »Ernährungssekten« zielten mit der Begründung der besseren Gesundheitserhaltung auf ein Verbot all dessen ab, was mit Lebensgenüssen zu tun habe, sodass das eigentlich Lebenswerte damit verloren gehe. Diätreformer stempelte er als religiöse Sektierer und psychisch kranke Sonderlinge ab.162 Politische Motive für die Angriffe gegen die Diätreformer lassen sich in besonderem Maße im Zeitraum nach der nationalsozialistischen Machtergreifung finden. Um 1933 wurde immer häufiger die Forderung nach einer Zensurstelle für Fachbücher, Zeitschriften, Aufsätze und Abhandlungen laut, die sich mit dem Thema der Ernährung oder Volksernährung befassten.163 Titel wie »Kampf den Nährpfuschern«, »Kurpfuscherei und Ernährung« oder »Ernährungssekten und ihre Auswüchse« waren keine Seltenheit und verdeutlichen die Bedeutung, die der NS-Staat der »Volksernährung«  Historische Phasen der modernen Schlankheitskost Entwurf: Sabine Merta

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Entwicklungsstränge der modernen Diätkost

beimaß.164 Zum Beispiel wurde der Schweizer Arzt Hans Balzli, ein aktiver Anhänger der lebensreformerischen Vegetarismusbewegung und Verfasser von Schriften zum Vegetarismus, als Ausländer diffamiert, der mit seinen Ernährungsempfehlungen Deutschland gegenüber seinen Nachbarn widerstandslos machen und damit die »deutsche Volkskraft« schädigen wolle. In dem Aufsatz »Ernährungssekten und ihre Auswüchse« wurde den Diätreformern, die häufig abwertend als »Ernährungsapostel« oder »Ernährungspropheten«165 bezeichnet wurden, reines Profitdenken unterstellt. In besonderem Maße gerieten die sich für eine vegetarische Ernährungsweise einsetzenden Reformer in den Verdacht, durch die Forderung des Fleischverzichts zum Pazifismus zu verleiten, was in dieser Periode der allgemeinen Kriegsstimmungsmache als äußerst störend empfunden wurde. Dennoch wurden Teile der Ernährungsreformbewegung, so die Idee des Vollkornbrotes und des autarken Obst- und Gemüsegartenanbaus, erstmals staatlicherseits gefördert, konnten ihre Ideen doch bei Nahrungsmittelknappheit im Kriegsfall hilfreich sein. Die kleinen Vegetariergruppierungen wurden im Zuge der Gleichschaltung mit der NS-Ideologie, wie beinahe alle Lebensreformvereine, nach 1933 gesellschaftspolitisch kaltgestellt, da alle individualistischen Bestrebungen dem neuen Unrechtsstaat grundsätzlich zuwiderliefen. Schaubild1

1 Ditschuneit (1972), 609. 2 Zikel (1925), 51. 3 Vegetarische Warte, 29 (1896), 37; 30 (1897), 180; 35 (1902), 140. 4 Mende (1930), 332. 5 Mende (1930), 332. 6 Dennert (o. J. [um 1928]), 23. 7 Steiner (1927). 8 Vgl. Hensel (o. J.). 9 Bauernfeind (1898), 28. 10 Siehe z. B. Hahn (1873). 11 Vgl. Dennert (o. J. [um 1928]), 31–36. 12 Wendelmuth (1928).

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Haig (1903), 42 ff. Haig (1903), 21 f. Haig (1910), VI ff. Haig (1910), 28. Vgl. z. B. Mar/Wolf (1928), Anhang oder Reicher (1931), 22. Vgl. Blutreinigungskur (o. J. [1939]). Schlickeysen (1921), 92. Schlickeysen (1921), 204. Schlickeysen (1921), 17. Schlickeysen (1921), 304. Schlickeysen (1921), 133. Schlickeysen (1921), 171–173.

Die Entfaltung der Ernährungsreformbewegung in Idee und Realität

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Schlickeysen (1921), 15–23. Schlickeysen (1921), 171. Graham (1880), 232 ff. Graham (1880), 297. Graham (1880), 303 f. Simons (1902), 2 f. Ungewitter (1908), 76. Steinmetz (1894); Steinmetz (1914); Steinmetz (1925). Steinmetz (1894), 1–14. Siehe Klopfer (1918), 18 f. Klopfer (1915), 504 f. Ungewitter (1908), 15 f. Vgl. Bastheim (1925), 16; Reicher (1931), 27. Vgl. hierzu u. a. Henke (1915). Liebig (1842). Bircher-Benner (1907), 7. Vgl. Bircher-Benner (1928). Bircher-Benner (1903), 20 ff. Bircher-Benner (1945), 16–24. Wirz (1993), 48 ff. Bircher-Benner (1945), 10. Nietlispach (1929), 8. Mar/Wolf (1928), 21. Kollath (1942), 26. Kollath (1942), 52 f. Kollath (1942), 243. Kollath (1973), 178. Kollath (1950), 275. Kollath (1973), 179–182. Kraft (1928). Lahmann (1894), 32–49. Brauchle/Groh (1971), 89. Lahmann (1906), 16–27. Ungewitter (1903), 17 f. Ungewitter (1903), 8. Berg/Vogel (1907), 105. Reicher (1931), 12. Röse (1925); Berg (o. J. [1932]). Röse/Berg (1918); Berg (1922); Berg (1931); Berg (o. J. [1932]). Berg/Vogel (1907), 114.

65 Siehe Ebert/Berg (1929). 66 Berg/Vogel (1907), 85. 67 Vgl. z. B. Hädecke (o. J. [um 1920]) und das auf Berg und Bircher-Benner basierende Kochbuch von Lux/Lux (1931). 68 Ebendort, S. 21. 69 Röse (1925), 8 f. 70 Hindhede (1916), 473 ff. 71 Röse (1925), 33. 72 Röse (1925), 53. 73 Der Naturarzt, 25 (1897). 74 Vgl. hierzu Stern (1930). 75 Fletcher (1911), XV. 76 Fletcher (1911), 15–17. 77 Hier zitiert nach Noorden/ Salomon (1920), 141. 78 Fletcher (1911), 75–80. 79 Hof (o. J. [1924]), 94 f. 80 Vgl. z. B. Gaudenz (1901), 230–251. 81 Möller (1905), 121–125. 82 Fletcher (1911), 18. 83 Bastheim (1925), 12 f. 84 Brauchle/Groh (1971), 92. 85 Hindhede (1916), 535; Hindhede (1927), 48 ff. 86 Hindhede (1906); Hindhede (1908); Hindhede (1912). 87 Voit (1881). 88 Hindhede (1927), 48–51; Hindhede (1912), 21–51. 89 Rubner (1913), 37. 90 Rubner (1908b); Rubner (1913); Rubner (1914); Hindhede (1908); Hindhede (1916); Hindhede (1919; Hindhede (1927). 91 Rubner (1914), 49 f.; Hindhede (1916), 540. 92 Vgl. Noorden/Salomon (1920), 111–114. 93 Hindhede (1927). 94 Hindhede (1906), 96.

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95 Ernährungsbericht (1992), 30 f.; Ernährungsbericht (1996), 49. 96 Ernährungsbericht (1992), 30 ff.; Ernährungsbericht (1996), 37 ff. 97 Etwa Ummen (o. J. [um 1912]). 98 Zikel (1925), 75 f. 99 Riedlin (o. J. [1929]). 100 Ankenbrand (1928), 193–206. 101 Bastheim (1925), 32. 102 Golifieri (1928), 95; Ankenbrand (1928), 193–206. 103 Rubner (1914), 19. 104 Heun (1953), 21–29. 105 Dewey (1910), 58. 106 Zum Beispiel Mayer (o. J. [um 1920]). 107 Segesser (1914), 58 ff. 108 Riedlin (o. J. [1929]), 6 f. 109 Riedlin (1912), 13. 110 Riedlin (1912), 20 f. 111 Riedlin (o. J. [1929]). 112 Möller (1925a), 113–123. 113 Möller (1927); Möller (1936). 114 Kapferer (1933), 6 ff. 115 Kapferer (1933), 22–28. 116 Bauer (o. J. [um 1915]), 7 ff. 117 Bauer (o. J. [um 1915]), 18 ff. 118 Bauer (o. J. [um 1915]), 18 ff. 119 Bauer (o. J. [um 1915]), 18 ff. 120 Buchinger (1935), 16 ff. 121 Ahr (1927), 85. 122 Ahr (1927), 86 f. 123 Vegetarische Rundschau, 12 (1892), 190. 124 Vegetarische Rundschau, 4 (1884), 63; 8 (1888), 127, 159; 9 (1889), 132. 125 Altpeter (1964), H. 5, 17. 126 Müller/Klose (1965), 22. 127 Müller/Klose (1965), 22. 128 Vegetarische Rundschau, 10 (1890), 295. 129 Themen, 3 (1990), 19.

130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152

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Siehe Baumgartner (1992). Altpeter (1964), H. 1, 17. Themen, 3 (1990), 34. Krabbe (1974), 121. Themen, 3 (1990), 34. Klopfer (1918). Protina (1989). Möller (1905), 51. Krabbe (1974), 127. Heischkel-Artelt (1976), 22–75. Rothschuh (1968), 164 ff. Voit (1865), 84 ff. Rubner (1902); Rubner (1908a). Frankland (1866), 182–199. Noorden/Salomon (1920), 130. Noorden/Salomon (1920), 146. Heischkel-Artelt (1976), 28–64. Vgl. Kapitel zu Mikkel Hindhede. Chittenden (1905). BircherBenner (1909), 109–149. Will (1926), 3. Möller (1925a), 120. Funk (1914). Wirz (1993), 71; Heischkel-Artelt (1976), 76–98; Brauchle/Groh (1971), 15. McCollum (1957), 405. Noorden/Salomon (1920), 488–490, 569–573. Rubner (1930), 17 f. Rubner (1930), 18. Rubner (1930), 18. Rubner (1930), 22. Rubner (1930), 24 f. Rubner (1930), 32. Rubner (1930), 34. Rubner (1930), 35. Raunert (1933), 150. Steinitzer (1933), 203; Kurpfuscherei (1933), 41 f.; Raunert (1933), 149 f. Raunert (1933), 149 f.

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Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib« Diättherapien der alten Griechen und ihre Entwicklung bis zur Neuzeit Unter dem griechischen Wort »polysarkia« (Fleischesüberschuss) war das Problem des Übergewichts bzw. der Fettleibigkeit bereits in der Antike bekannt. Das Problem des übermäßigen Fettzuwachses galt nicht als organisch bedingte Krankheit, sondern wurde als moralische Verfehlung sozial geächtet. Adipositas wurde als Folge des Verfehlens des rechten Maßes interpretiert. Hippokrates empfahl fettleibigen Personen, sie sollten sich vor dem Frühstück durch einen längeren Spaziergang ermüden.1 Zur Wiederherstellung des rechten Maßes wurde die hippokratische Diätetik in Form von vorwiegend vegetabilischer Nahrung, strenger körperlicher Arbeit, Nacktbaden und fleißigem Abreiben praktiziert. Das hippokratische Motto lautete: »Alles, was zuviel ist, ist der Natur entgegen.«2 Übermäßiger Körperumfang widersprach den philosophisch-ästhetischen Vorstellungen der Griechen, die den Idealzustand der »Kalokagathie«, d. h. der Verschmelzung einer edlen Seele (innere Schönheit) mit einem schönen Körper (äußere Schönheit), anstrebten. Sowohl die Ursache der Adipositas wie auch deren Konsequenzen, nämlich eine unschöne, das Auge beleidigende Figur und die Beeinträchtigung

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der körperlichen Tüchtigkeit, waren schon damals sozial unakzeptabel. So stand im »Corpus Hippocraticum« die Diätetik im Mittelpunkt. Die hippokratische Krankheitslehre basierte auf der Humoraltheorie. Sie erklärte Krankheiten als Folge einer Störung des natürlichen Gleichgewichts in der Zusammensetzung der vier Säfte des Körpers. In der antiken »Viersäftelehre« hieß es, der Körper habe Blut, Schleim sowie gelbe und schwarze Galle in sich. Am gesündesten sei er, wenn diese Säfte im richtigen Verhältnis ihrer Kraft und Qualität zueinander ständen und am besten gemischt seien. Schmerzen habe er, wenn etwas von ihnen zu viel oder zu wenig vorhanden sei oder sich im Körper absondere und nicht mit dem Ganzen vermischt sei. Den jeweiligen Störungen im Gleichgewicht könne entsprechend dieser Lehre mit ganz bestimmten Nahrungskombinationen begegnet werden. So wurde z. B. Wasser als kalt und feucht, Wein und Honig hingegen als warm und trocken angesehen und dementsprechend als nutritives Therapeutikum angewandt. Dabei bleibt deutlich zu unterscheiden, dass unter der antiken Diätetik keineswegs das verstanden werden darf, was heute unter dem Begriff der Diät zu verstehen ist. Der antike Diätetikbegriff umfasste nicht nur spezifische Kostpläne, sondern thematisierte die Gesamtlebensweise und damit alles, was der Gesundheit zu- oder abträglich war. In den hippokratischen Schriften wurden deshalb in den Mäßigungsanleitungen nicht nur Speisen, sondern auch Leibesübungen, Getränke, Schlaf und sexuelle Beziehungen erwähnt. Während Erasistratos (310–250 v. Chr.) und Asklepiades (um 100 v. Chr.) Übergewicht noch auf traditionelle Weise mit Diät, gymnastischen Übungen und Bädern behandelten, zeichnete sich bereits in dieser frühen Phase eine Tendenz ab, die die weitere Entwicklung in der Praxis der medizinischen Entfettungsmethoden bestimmen sollte. Thessalos (um 60 v. Chr.) therapierte Dickleibigkeit mit einer systematischen Umwandlung der körperlichen Prozesse, d. h. es wurden Medikamente eingesetzt, die in den menschlichen Stoffwechsel eingriffen. Diese Phase kennzeichnet den Beginn von einer behutsamen, diätetischen zu einer aktivistischen, medizinischen Therapie des Übergewichts. Der römische Arzt Celsus (1. Jh. n. Chr.) zählte noch zu den Anhängern der traditionellen Heilweise der Diätetik, da er der Mei-

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nung war: »Solaque abstinentia sine ullo periculo medicatur.«3 Das ätiologische Konzept zur Adipositas änderte sich aber. Celsus vermutete neben den exogenen Faktoren »Überernährung und Bewegungsmangel« einen endogenen, konstitutionellen Faktor, genauer: eine »schlaffe Haut«. Dickleibigkeit wurde demnach nicht mehr ausschließlich als Folge von Unbeherrschtheit und Faulheit interpretiert. In der Spätantike wurde die Idee der Selbstbeherrschung und damit auch der Selbstverantwortung zwar nicht aufgegeben, aber durch die Idee der Konstitution ergänzt. Dickleibigkeit wurde von nun an zum einen als Folge körperlicher Trägheit und des Genusses übergroßer Mengen an zu schwerer Nahrung gesehen, zum anderen aber auch auf konstitutionelle Faktoren zurückgeführt. Celsus schlug vor, nur eine Mahlzeit pro Tag einzunehmen, grobes, schwarzes Brot dem Weißbrot und Wurzeln, Gartengewächse und andere essbare Pflanzen den Fleischspeisen vorzuziehen, leichte Weine statt Malzgetränke zu trinken und gelegentlich behutsam eine Essigkur wegen ihrer merklichen Ausmerglungskraft zu gebrauchen.4 Die hippokratische Säftelehre wurde später von dem Arzt Galenus (2. Jahrhundert n. Chr.) entscheidend erweitert und systematisiert. Das galenische Diätetiksystem beherrschte dann die abendländische Medizin 1 500 Jahre lang. In der antiken und mittelalterlichen Gliederung der Medizin stand die Diätetik (res non naturales), neben der Physiologie (res naturales) und der Pathologie (res contra naturam). Galenus brachte die Diätetik in die Ordnung der sechs nicht natürlichen Bereiche (sex res non naturales). Er unterschied zwischen den natürlichen Dingen (res naturales), die die Gesundheit des Menschen ausmachten, den Dingen, die die Natur schädigen konnten, den Krankheiten (res contra naturam) und den natürlichen Dingen, die aus den Lebensbedingungen bestanden: 1. aer (Licht und Luft), 2. cibus et potus (Essen und Trinken), 3. motus et quies (Bewegung und Ruhe), 4. somnus et vigilia (Schlafen und Wachen), 5. excreta et secreta (Stoffwechsel), 6. affectus animi (Gemütsbewegungen). Die Regelung dieser sechs Lebensbedingungen entschied nicht nur über Gesundheit oder Krankheit, sondern war gleichzeitig mit einer bestimmten Ethik verknüpft. Der zentrale moralische Begriff der Diätetik war der des rechten Maßes bzw. der

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Mäßigung. Sowohl bei der Erhaltung der Gesundheit als auch bei der Behandlung von Krankheiten kam es auf das elementare Gleichgewicht an, auf das wohlgestimmte Temperamentum, auf die Mitte zwischen einem Zuviel oder Zuwenig. Die Forderung, jedes Zuviel zu meiden, konnte als allgemeine Richtlinie gelten, wobei jedem selbst überlassen wurde, was er unter dem rechten Maß verstand. Eine Überschreitung des rechten Maßes bedingte Fettleibigkeit bzw. Adipositas. Galenus nahm zudem eine konstitutionelle Bedingtheit an, indem er Adipositas auf ein phlegmatisches bzw. kaltfeuchtes Temperament als mögliche Mitursache zurückführte.5 Aber auch negative Persönlichkeitseigenschaften wurden mit der Dickleibigkeit in Zusammenhang gebracht; so beschrieb er die Dicken als dumm. Dieses Vorurteil wurde von vielen frühen Autoren der Entfettungsliteratur übernommen. Der konstitutionelle Faktor wurde nun nicht mehr in der Peripherie (Haut) geortet, sondern bezog sich auf die leib-seelische Gesamtpersönlichkeit. Mit der Annahme einer möglichen konstitutionellen Disposition für Fettleibigkeit begann die tatsächliche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Krankheitsbild der »Adipositas«. Galenus’ Therapie gegen die Fettleibigkeit kombinierte eine diätetisch-physikalische Therapie (Diät und körperliche Bewegung) und medikamentöse Behandlungsweise mit abführenden und entwässernden Mitteln zur Straffung der Haut. Galenus arbeitete viel mit Arzneimitteln, insbesondere mit Abführungs- und Entwässerungsmitteln, z. B. Panazee oder Theriak, und schreckte nicht vor der Verabreichung von gefährlichen Abführmitteln zurück.6 Unter den chronischen Krankheiten wurde die Adipositas erstmals von Caelius Aurelianus erwähnt. Er teilte das Behandlungsverfahren in zwei Hauptvorschriften ein: Erstens solle man mit Nahrungsmitteln vorlieb nehmen, die wenig nährenden Stoff enthielten, und zweitens den Körper üben. Seine Diät bestand aus geringer Flüssigkeitszufuhr und ovolaktovegetabiler Nahrung (z. B. Spelzgraupen, Stärke, Mehl, Milch, Nusskerne, Hirn, Eier etc.). Er empfahl aktive und passive körperliche Übungen und Belastung (z. B. schnelles Laufen, Reiten, Schwimmen und Spiele jeder Art, Massagen, Sonnenbaden, Bäder, Hitzeanwendungen). Im Gegensatz zu Galenus lehnte er Aderlass, purgierende Medikamente und Klistie-

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ren ab, da dies seiner Meinung nach den Körper zu sehr schwäche. Für den Kampf gegen eine übermäßige Fettansammlung hielt er den historischen Vorläufer der Massage, die »Friktionen«, für besonders empfehlenswert.7 Die seit der Spätantike zu beobachtende Tendenz zur Formulierung populärer Entfettungskuren war Ausdruck des zunehmenden Problems mit der Fettleibigkeit. Beispielsweise huldigte die römische Oberschicht derart der »Völlerei«, das seit 180 v. Chr. »Gesetze gegen Schlemmerei« erlassen wurden.8 Gleichzeitig ging der Hang zum Genuss mit einem rigiden Schlankheitsideal der Frauen einher. Das Christentum brachte einen Wandel in Richtung gehorsamer Unterwerfung unter die strengen Reglementierungen der Diätetik, innerhalb derer es keinen Spielraum mehr für das individuelle Maß gab, sondern gegen die lediglich in Form von Sünden verstoßen werden konnte. Übermäßiges Essen und Trinken galt als Völlerei (gula) und zählte zu den sieben Hauptsünden (vita capitalia). Die menschliche Natur sollte im lebenslangen Kampf gegen ihre eigenen Versuchungen durch Mäßigung bezwungen werden. Eine der bekanntesten Grundschriften der Diätetik des Mittelalters ist das »Regimen Sanitatis Salernitanum«9 aus dem 11. Jahrhundert, das auf dem antiken kosmologischen Vierschema der Elemente, Qualitäten und Säfte sowie auf dem anthropologischen Konzept der »res non naturales« aufbaute. Viele diätetische Ratschläge daraus haben sich bis auf den heutigen Tag in Form von Redewendungen in verschiedenen Sprachen erhalten, so z. B.: »Nach dem Essen sollst du ruhn oder 100 Schritte tun«. Im Mittelalter lässt sich zur Adipositas kaum Literatur finden, was auf ein gesunkenes Interesse schließen lässt. Außerdem mag die Tatsache, dass mit der Christianisierung in der Fettleibigkeit weniger eine Krankheit als vielmehr eine »sündhafte« Völlerei gesehen wurde, für das literarische Schweigen ausschlaggebend gewesen sein. Eine Verbindungslinie zwischen Mittelalter und Neuzeit im Kontext der Diätetik bestand in den für Laien geschriebenen Gesundheitsratgebern, die auf der Basis der sechs natürlichen Dinge in der Tradition des »Tacuinum Sanitatis«10 verfasst waren. Die Säkularisierung der Neuzeit wirkte sich auch auf das Konzept der Diätetik aus. Der ganzheitliche Zusammenhang verlor sich über die Jahrhunderte, und das Körperliche trat dabei in den Vor-

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dergrund. Körperthemen wie das Problem der Wohlbeleibtheit und ihrer Diätetik fanden wieder Interesse. Es gab eine Bedeutungsverschiebung vom mittelalterlich-religiös geprägten zum sozio-ökonomisch rationalisierten Mäßigungsbegriff, d. h. der Körper sollte für das Funktionieren in der abendländischen Gesellschaft möglichst lange gesund erhalten werden. Die Gesundheit des Menschenkörpers wurde zum Objekt allgemeinen Interesses. Dickleibigkeit wurde in der frühen Neuzeit als Ausdruck von Maßlosigkeit betrachtet und ebenso wie die Themen Alkoholmissbrauch oder sexuelle Ausschweifungen mithilfe kirchlicher Regeln sanktioniert. Jedoch wurde all dies noch nicht als Krankheit erkannt. Erste Monographien über das Problem der Adipositas, die antike Mäßigungs-, Gesundheits- und Sittlichkeitsvorstellungen wiederaufleben ließen, wurden seit dem 18. Jahrhundert herausgegeben. Mit der Entdeckung der Produktivkraft des Menschen rückte das Übergewicht dann ins allgemeine gesundheitspolitische Interesse. In der Aufklärung setzte der Prozess der zunehmenden Rationalisierung und Verwissenschaftlichung ein, und der Einfluss der Diätetik als Lehrgebäude, das bis ins 19. Jahrhundert hinein wirkte, zerfiel allmählich und wurde durch die naturwissenschaftliche Arzneimittel- und Ernährungslehre ersetzt. Strategien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts: Flemyng, Jaeger, Graefe, Wadd In der »Abhandlung von der Natur, Ursache und Heilung der übermäßigen Fettigkeit des Körpers« stufte der englische Doktor der Arzneiwissenschaft und Mitglied der königlichen Gesellschaft in London, Malcolm Flemyng, das Übergewicht erstmals ausdrücklich als Gebrechlichkeit bzw. gefährliche Krankheit ein.11 In der deutschen Version seiner Schrift war häufig von »Fettigkeit« oder »Dickleibigkeit« die Rede, da dem Übersetzer vermutlich noch kein »terminus technicus« zur Bezeichnung dieses Krankheitsphänomens zur Verfügung stand, wobei »fett« und »dickleibig« explizit gleichbedeutend benutzt wurden. Flemyng differenzierte in seiner Schrift zwischen »übermäßigem Muskulatur- und Fettzuwachs«. Den »Fettzuwachs« führte er bereits auf ein besonderes Gewebe,

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das sogenannte »Fettgewebe« zurück, das sowohl innerlich um die Organe herum vorkommen könne als auch äußerlich im Unterhautgewebe. Sogar ein im Blut zirkulierendes Fett, das heute unter den Cholesterinbegriff gefasst wird, war ihm offenbar schon bekannt.12 Als Hauptursachen der Fettleibigkeit identifizierte er die übermäßige Ernährung mit nahrhafter und öliger Nahrung und die »conditio«, in deren Folge »Fettgewebe« und eine zu fettige Blutmischung auftrete. Demnach begünstigten zu fette Nahrung und Mangel an Bewegung, aber auch eine ungenügende Ausscheidung in Form von Kot, Schweiß und Harn die von Flemyng beschriebene »Fettigkeit« des Leibes. Durch innere Anwendung von Seife sollte das Fett »ausgewaschen« und ausgeschieden werden, eine selbst für die damalige Zeit medizinisch kaum nachvollziehbare Vorstellung. Der spätere Leibarzt des britischen Königs Georg III., Dr. Wadd, äußerte deshalb zu Recht starke Zweifel an der Wirksamkeit der Entfettungsmethode nach Flemyng.13 Nicht sehr erhellend blieben auch erste ärztliche Feststellungen über die Adipositas in Deutschland. Der Arzt und Aufseher des königlichen Naturalienkabinetts zu Stuttgart Dr. S. Jaeger schrieb 1821 das Buch »Vergleichung einiger durch Fettigkeit oder colossale Bildung ausgezeichneter Kinder und einiger Zwerge«, in dem er zu dem Schluss gelangte, dass Mädchen angeblich eher von einer krankhaften Form der Fettleibigkeit erfasst würden, die zu einem vorzeitigen Tode führen könne, als Knaben. Dieser Befund war mehr auf Spekulationen als auf wissenschaftliche Tatsachen begründet und mutet deshalb recht unprofessionell an. 1826 folgte Jaeger der Generalstabsarzt C. F. Graefe mit seiner Schilderung des »Fall[es] einer lebensgefährlichen«, aber dennoch »glücklich geheilten Fettsucht«.14 Graefe differenzierte bereits zukunftsweisend zwischen der »Corpulenz oder Obesität« infolge von ungewohntem Fettzuwachs und der explizit als Krankheit bezeichneten »Fettsucht« oder »Adiposis« und schrieb: Es kann das Fett im gesammten Organismus so beträchtlich zunehmen, dass Störungen der Functionen erfolgen, welche binnen kurzer Frist den Tod nach sich ziehen. Beispiele hiervon finden wir, als medicinische Curiositäten mehrfach ausgezeichnet. Gewöhnlich wird der fragliche Zustand unter den

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Namen der Corpulenz, der Obesität abgehandelt. Als offenbare Krankheit möchte derselbe indess eher Fettsucht, Adiposis zu benennen sein.15

Wadds Monographie über Fettleibigkeit ist aus historischer Perspektive insofern besonders ergiebig, als sie erstmals die Fettleibigkeit explizit als Krankheit bezeichnete und als medizinisches Problem begriff, das mit dem Fachbegriff »Corpulenz« umschrieben wurde. Außerdem gab Wadd einen ersten Gesamtüberblick über alle bisherigen Behandlungsmethoden seit der Antike.16 Entsprechend der antiken Säftelehre verordnete er verschiedene Vorbeugungs- und Heilverfahren gegen die Korpulenz und erklärte, das lymphatische und das sanguinische Temperament seien von den Leibeskonstitutionen für die Korpulenz am ehesten prädisponiert, wobei das lymphatische Temperament durch wenig Bewegung und große Seelenruhe noch stärker dazu neige. Als Behandlung gegen die Fettleibigkeit für das »lymphatische Temperament« schlug Wadd erstens die innerliche Behandlung mit Arzneimitteln vor (Eisenpräparate mit schwefelsaurem Chinin und ein Abführmittel alle 14 Tage) und zweitens die äußerliche Behandlung durch Friktionen mit Liniment und Halbklistiere. Zusätzlich verordnete er »ein tonisches Regimen bestehend aus dunkelfaserigem Fleisch« (Tauben, Hammel-, Reh- oder Hasenfleisch), »welches gut gewürzt und ohne Fett seyn muss«.17 Nicht erlaubt waren dagegen weißfaseriges Fleisch, Kartoffeln, Erbsen, Linsen, Backwerk, italienische Pasteten, Schokolade, Tapioca, Pfeilwurz, Kastanien, Nüsse und Früchte, da er diese für äußerst ölhaltig hielt. Es sollte möglichst wenig getrunken werden, und wenn, dann höchstens weißer trockener Wein mit etwas Selterswasser vermischt. Bewegung und wenig Schlaf wurden ebenfalls empfohlen. Das »sanguinische Temperament« therapierte Wadd mit den gleichen arzneilichen Medikationen, lediglich das »Regimen aus überwiegend vegetabilen Substanzen« unterschied sich gravierend. Dort hieß es u. a.: »Man erlaube sich nur selten den Genuß von Fleisch, und man wird sogar wohl thun, ganz darauf zu verzichten [...].«18 Ebenso sah er für korpulente Frauen eine besondere vegetarische Diät vor. Den Männern teilte er vorwiegend Fleischspeisen und den Frauen Vegetabilien unter gleichzeitiger Berücksichtigung der »Temperamentenlehre« zu.

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Da sich die damalige Klientel der Ärzte meist aus der Oberschicht rekrutierte, kann davon ausgegangen werden, dass das Ziel einer schlanken Taille und schöner Körperformen zunächst nur bei Frauen des Adels und des gehobenen Bürgertums als Schönheitsideal angesehen wurde. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dann aber eine steigende Anzahl an medizinischen Untersuchungen zum Fettleibigkeitsproblem und die Tendenz des zunehmenden Einsatzes gefährlicher Abführmittel, harntreibender Mittel und anderer radikaler Medikamente (z. B. Schilddrüsenpräparate) bei seiner Bekämpfung zu verzeichnen. »Leichte« Nahrung – was ist das? Die ersten medizinischen Überlegungen zur Bekämpfung der Fettleibigkeit blieben noch weitgehend unbekannt. Vor den 1860er Jahren gab es nur den allgemeinen Ratschlag zur »Mäßigkeit« und die Empfehlung, »leichte Nahrung« zu sich zu nehmen. Genaue Definitionen oder Vorschläge, was unter einer »leichten« Kost exakt zu verstehen war, fehlten.19 Erst in den 1870er Jahren wagte sich Julius Vogel, Professor der Heilkunde in Halle an der Saale, begeisterter Anhänger der Liebigschen Ernährungslehre und deutscher Übersetzer der Harvey-Bantingschen Entfettungskur, an eine vorsichtige Definition, wonach die Nahrungsmittel nach ihrem jeweiligen Verdaulichkeitsgrad, der sich teils aus den ursprünglichen Bestandteilen, teils aus der Zubereitungspraktik und anderen Nebenumständen ergab, in eine »leichte« und »schwere« Kost aufzuteilen seien.20 Festere Speisen müssten sorgfältiger gekaut und zerkleinert werden, damit der Magensaft umso energischer auf sie einwirken könne. Zu den schweren Nahrungsstoffen, die zur Verdauung längere Zeit und größeren Kraftaufwand erforderten, rechnete Vogel die Pflanzenstoffe, die reich an Zellstoff seien, namentlich harte und holzige Gemüse, die Hülsen der Getreidekörner und die sogenannten »Hülsenfrüchte« wie Linsen, Erbsen, Bohnen etc. Der Wert der Ballaststoffe für den Verdauungsprozess war ihm offensichtlich noch nicht bekannt.21 Das damalige Verständnis von einer »leichten Kost« unterschied sich damit gravierend von der heutigen Auffassung. Die damalige

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Idee der »leichten Kost« baute auf der französischen Diättheorie mit ihrer Einteilung in »reizende« und »reizlose« Kost auf. Auch Vogel orientierte sich bei seiner Einteilung der Nahrungsmittel noch an der Tradition der antiken Viersäftelehre, wie die Empfehlung des Genusses von »reizendem, roten Fleisch« im Falle eines »phlegmatischen Charakters« und »reizlosem, weißen Fleisch« im Falle »reizbarer, aufgeregter Personen« vermuten lässt. Eine »reizende Kost« sei eine solche, die, abgesehen von ihrem Nährwert,22 zunächst die Verdauungsorgane und dann nach dem Übergang in das Blut durch das Gefäß- und Nervensystem auch andere Bereiche des Organismus kräftig anrege, ja reize. Sie setze sich hauptsächlich aus stark gesalzenen und gewürzten Speisen (pikanten Saucen, Senf, Meerrettich, Zwiebeln, Knoblauch etc.), aus kräftigem, rotem Fleisch, starker Fleischbrühe, konzentrierten Genussmitteln (Tee und Kaffee) und starken Spirituosen (Rum, Arrak, schwere Weine etc.) zusammen. Eine »reizlose Kost« könne im Gegensatz dazu zwar auch sehr nahrhaft sein, wirke aber wenig anregend und bestehe vorzugsweise aus wenig gesalzenen und gewürzten Speisen, weißen Fleischsorten, Fischen, Austern, Milch und Milchspeisen. Dabei könne durchaus reichlich Fett und stark gekochtes Stärkemehl in Form von Schleim (Hafergrütze, Gerstenschleim etc.) oder Brei, unter Ausschluss oder Beschränkung aller Genussmittel, verzehrt werden. Das lang diskutierte Thema, ob Fleisch- oder Pflanzenkost die geeignetere Diät sei, behandelte Vogel im Zusammenhang mit der sozialen Frage, denn es sollte eine »möglichst vollkommene, den jeweiligen Verhältnissen und Bedürfnissen des Organismus entsprechende und eine möglichst billige Ernährung«23 sein. Er hielt eine gemischte Kost für preisgünstiger und körperverträglicher, weil »der Organismus zu seiner Ernährung mit Nothwendigkeit gewisser, und zwar verschiedener Substanzen bedarf: des Wassers, der Albuminate, der Respirationsmittel (Fette, Kohlenhydrate) und einiger Salze«. Weit besser sei es, wenn die Nahrung künstlich zusammengesetzt, also aus verschiedenen Bestandteilen gemischt werde. Dabei müssten die Mengen der Substanzen im richtigen Verhältnis zueinander stehen: Als passendes Verhältnis galt zu jener Zeit eine Mischung von »ein[em] Teil Albuminaten mit vier bis fünf Theilen stickstofffreien Substanzen.« Vogels Kostmaß lautete folglich »2 500

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Grammen Wasser und außerdem (alles Folgende im trockenen Zustande gedacht) etwa 100 Grammen Albuminate, etwa 250 bis 350 Grammen Kohlehydrate, etwa 100 Grammen Fette, etwa 25 Grammen Salze.«24 Zur Geschichte der ärztlichen Entfettungsmethoden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zu den bedeutendsten ärztlichen Entfettungsmethoden des ausgehenden 19. Jahrhunderts zählten die Methode nach Harvey-Banting, die Ebsteinsche Methode, die Dancel-Oertelsche Methode, die Mineralwasserkuren und die Milchkuren.25 Sie lassen sich grob in drei Hauptkategorien unterteilen: in die Bade-, Diät- und Brunnenkuren.26 Zu den berühmtesten Badekuren gehörte zunächst die Winternitzsche Methode. Die Diätkuren fanden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine häufigere Anwendung als früher. Dabei kann man diese Kuren wieder unterscheiden in solche, bei denen die Fettentziehung vornehmlich durch Regelung der Nahrungszufuhr (z. B. Bantingkur oder Ebsteinsche Methode) angestrebt wurde, und solche, bei denen zwecks Entfettung neben der Regelung der Nahrungszufuhr auch die Verwertung der physiologischen Faktoren der Fettzersetzung durch ausgiebige Muskelbewegung und Beschränkung der Wasserzufuhr oder Steigerung der Wasserabgabe gefördert wurde. Die Einschränkung der Getränkezufuhr bei Fettleibigkeit, schon seit jeher auf empirischer Grundlage empfohlen, wurde erst durch Oertel wissenschaftlich-experimentell begründet. Aber auch die Erhöhung der Getränkezufuhr in Form von Mineralwassertrinken während einer Brunnenkur war kurativ in Gebrauch. Viele medizinische Diätkuren wurden direkt aus Amerika, England oder Frankreich importiert und in spezifischer Weise abgewandelt. Eine interessante Beobachtung in diesen frühen Diätratgebern besagte, dass gerade in England die Fettleibigkeit angeblich besonders weit verbreitet war, insbesondere bei den Frauen.27 Eine Erklärung für dieses Phänomen mag sein, dass in England die Massenproduktion von Lebensmitteln und die ausreichende Versorgung mit solchen bereits wesentlich früher gesichert war und eine grundlegende

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Änderung der Ernährungslage des frühen Industriestaates bewirkt hatte.28 Das Problem des Hungers, mit dem die Menschheit in den vorausgegangenen Epochen bei schlechten Ernten immer wieder konfrontiert worden war, war dort bereits gegen Mitte des 19. Jahrhunderts praktisch beseitigt worden. Die Nahrungssituation hatte sich jedenfalls derartig stabilisiert, dass sich das Bürgertum mit dem modernen Gesundheitsproblem »Übergewicht« konfrontiert sah und dies zu bekämpfen begonnen hatte. Die erwähnte hydrotherapeutische Behandlungsweise der Fettleibigkeit gehörte zu den naturgemäßen Therapien. Der Wiener Professor Wilhelm Winternitz nutzte »Die Hydrotherapie auf physiologischer und klinischer Grundlage« als Therapie zur Förderung organischer Vorgänge, die wiederum als Mittel zur Ausgleichung der Störungen dienen sollten. Winternitz sah seine Heilaufgabe darin, »zu zeigen, in welcher Weise die thermischen, mechanischen und chemischen Einflüsse, aus denen die Hydrotherapie sich zusammensetzt, auf den Organismus wirken, welche Functionen und wie sie dieselben beeinflusst, und aus dieser Analyse im Vereine mit einer geläuterten Erfahrung abzuleiten, welchen hygienischen, prophylaktischen und therapeutischen Aufgaben diese Methode an und für sich, oder unterstützt von anderen Agentien, gerecht zu werden berufen ist.«29 Er behandelte fast alle Ernährungsstörungen primär mit Wassergüssen, ergänzte diese nur sekundär um eine entsprechende Diät und beschrieb die Wirkungsweise der hydrotherapeutischen Anwendungen »als differente Temperaturen, die Veränderungen in allen organischen Leben, von dem einfachsten Protoplasma bis zur höchst entwickelten Organisation«30 hervorbringen könnten. Er bezeichnete Ernährungsstörungen dem Wesen nach als »Retardationen« des Stoffwechsels, was bedeute, »dass eine bestimmte Menge von Nahrungsmateriale, die normale Metamorphosenreihe, in einer gegebenen Zeit, nicht in normaler Weise durchläuft und dass die Producte der Stoffwechselmetamorphose den Organismus theilweise in einer Form verlassen, in welcher sie denselben noch nicht verlassen sollen, theils im Organismus zurückgehalten werden.« Neben den quantitativ verringerten Exkretionsendprodukten kämen nicht vollkommen elementaranalysierte Stoffe zur Ausscheidung. Flüchtige Säuren, Oxalsäure und Harnsäure seien im Körper

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festzustellen. Dieser unvollkommene Stoffwechsel sei zum Teil Ursache, zum Teil Folgezustand der verschiedensten Störungen. Man könne daher »durch Beseitigung solcher Abnormitäten, in manchen Erkrankungsformen entweder die causale Indication erfüllen, oder wenigstens der symptomatischen gerecht werden.«31 Winternitz versuchte seine Methode anhand von Fallbeispielen zu belegen. So schilderte er einen Fall übermäßiger Fettleibigkeit, die nach einer Lungenentzündung und Venaesektionen mit den Begleiterscheinungen insuffizienter Atmung und Fettherz aufgetreten war. Sie konnte weder in Karlsbad noch in Marienbad (Mineralwasserkuren) geheilt werden. Erst seine Wasserkur hätte eine Gewichtsabnahme von 45 Pfund innerhalb von sieben Wochen bewirkt.32 Bei diesem Krankheitsbild verordnete er anfangs zwei kurze, kalte Regenbäder mit kräftigen beweglichen Fächerduschen auf den Unterleib, später kurze Dampfkastenbäder mit nachheriger Eintauchung in das kalte Vollbad und kräftige, anfangs vorwiegend passive Muskelbewegung im Freien. Eine begleitende Diät »bestand am Morgen und Abend aus saurer Milch und Grahambrod, des Mittags aus leichtverdaulichem Fleische, grünem Gemüse und einer Mehlspeise. Wasser und Getränke, nach jeder Cur in etwas vermehrter Menge. Täglich zwei Lavements von 1/10 Liter 16 °C Wasser, das der Patient länger zurückzuhalten aufgefordert wurde.«33 Zweck dieser Therapie war die Reizung der dicken Fettpolster und der wenig vaskulierenden Haut durch Wasseranwendungen mit sehr niedrigen Temperaturen und kräftigen mechanischen Eingriffen. Mithilfe kräftiger Reflexreize sollten tiefe Atemzüge ausgelöst werden. Die kräftige Ventilation der Lungen sollte die Kreislaufzirkulation anregen und den Gasaustausch fördern. Flüchtige Schweißerregungen durch Einpackungen mit darauffolgenden kalten Bädern sollten infolge thermischer Kontrastwirkung die Innervation heben und die Blutzirkulation anregen. Der Zusammenstellung der Diät schenkte Winternitz weniger Beachtung, da sie in der hydrotherapeutischen Entfettungsmethode nur eine untergeordnete Rolle spielte. Er kritisierte die Diätverordnungen von Oertel und Ebstein, weil sie im Grunde nichts anderes seien als eine mehr oder weniger verwässerte oder entwässerte Bantingkur, die ebenfalls auf einer verminderten Aufnahme von Fettbil-

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dern und einer vermehrten Zufuhr von Eiweißsubstanzen beruhe. Die Nachteile der Bantingkur wie auch der Ebsteinschen Methode seien Leistungsunfähigkeit, Kraftlosigkeit und Siechtum. Ebenso lehnte er die Oertelsche Entfettungsmethode der Wasserentziehung als nicht wissenschaftlich nachvollziehbar ab. Er widerlegte Oertels These der Wirksamkeit der Wasserreduktion bei Entfettungsversuchen unter Zuhilfenahme zahlreicher Experimentalversuche und benutzte diese gleichzeitig zur Begründung seiner eigenen Theorie der erhöhten Wasserzufuhr, indem er behauptete, dass eine solche unter bestimmten Umständen »diuretisch« wirke. Die Winternitzsche Methode der gesteigerten Flüssigkeitszufuhr zur Fettreduktion fußte auf der Grundregel, »alle vier bis sechs Stunden auf einmal grössere Wasserquantität einzunehmen, in der Zwischenzeit aber jede Flüssigkeitsaufnahme zu unterlassen.«34 Das Gegenargument der Befürworter der Wasserentziehungsmethode, dass das Wasser eine Verdünnung des Blutes bewirke, ließ er nicht gelten. Um diesen Streitpunkt drehte sich auch die Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern der »Wasserentziehungsmethode« und den Propagandisten der Brunnenkuren. Die Brunnen- bzw. Mineralwasserkur war bis dahin als Entfettungsmethode allgemein anerkannt gewesen und geriet nun unter Rechtfertigungszwang. Der öffentliche Austragungsort dieser Wortgefechte waren die zeitgenössischen medizinischen Zeitschriften.35 Ein Anhänger der Oertelschen Methode war z. B. der Südtiroler Sanatoriumsrat Hausmann. Er verteidigte sie als besonders für Fettleibige mit Kreislauf- und Herzbeschwerden geeignet, während der Marienbader Brunnenarzt Enoch Heinrich Kisch sie als für Herzkranke geradezu lebensbedrohlich einstufte.36 Das Oertelsche Wasserentziehungsprinzip trat in direkte Konkurrenz zu den bis dahin praktizierten »Mineralwasserkuren«, die auf einer gezielt erhöhten Wasserzufuhr aufbauten. Die Karlsbader und Marienbader Kurärzte verteidigten die Entfettungseffekte ihrer Mineralwasserquellen vehement. Die wesentlichen Wirkungen der »Mineralwasserkuren« seien, so ein Marienbader Brunnenarzt, ein erhöhter Kalorienumsatz, eine Belastung des Energieumsatzes durch den Genuss des kalten Wassers, eine Erhöhung des Energieumsatzes durch die Steigerung der Darmperistaltik und eine Verminderung der Resorption

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der zugeführten Nahrung.37 Damit standen sich um die Jahrhundertwende das Entfettungsprinzip der strikten Wasserentziehung und jenes der Überwässerung völlig gegensätzlich als miteinander konkurrierende ärztliche Schlankheitsmethoden gegenüber. Die »Bantingkur« nach Harvey und Vogel In den 1860er Jahren kam die »Bantingkur« aus England nach Deutschland und wurde zu einer wahren Modeerscheinung. Sie ging auf die Veröffentlichung von Briefen eines ehemals fettleibigen Patienten namens William Banting zurück, der darin über seine Heilung durch den englischen Arzt William Harvey berichtete.38 Ein deutscher Mediziner versuchte die Bantingkur fälschlicherweise als Liebigs Verdienst auszugeben, der angeblich mit seinen Theorien des Primates des tierischen Eiweißes und der Kohlenhydrate als Hauptfettbildner eine erste wissenschaftliche Begründung für die Bantingkur, die eine reine Fleischdiät war, geschaffen habe.39 Die Banting-Kur befand sich im Einklang mit der zu jener Zeit herrschenden Ernährungslehre, und darauf basierte vermutlich auch ihr Erfolg als Entfettungsmode. Sie beruhte auf dem Prinzip, dass Stärke und Zucker im täglichen Ernährungsplan völlig ausgeschlossen wurden, da weniger die Quantität als vielmehr die Qualität den Ausschlag für eine gelingende Diät bilde.40 Das »Bantingfrühstück« bestand aus 400 oder 500 g Rindfleisch, Hammelfleisch, Nieren, Bratfisch, Speck oder kaltem Fleisch jeglicher Art außer Schweinefleisch. Dazu gab es als Getränk eine große Tasse Tee ohne Milch oder Zucker und einen kleinen Keks oder 100 g Toastbrot. Zu Mittag standen 500–600 g irgendeines Fisches, ausgenommen Lachs, jede Fleischart mit Ausnahme des Schweinefleisches, jede Gemüseart mit Ausnahme der Kartoffel, 100 g Toastbrot, Fruchtpudding, jede Art von Geflügel oder Wild zur Auswahl. Getrunken werden konnten drei Gläser guten Rotweins, Sherry oder Madeira, während Champagner, Portwein und Bier als Getränke strikt verboten waren. Zum Tee wurden 200–300 g Früchte, ein oder zwei Zwieback und eine Tasse Tee ohne Milch oder Zucker serviert. Das Abendessen setzte sich aus 300–400 g Fleisch oder Fisch, ergänzt von einem oder zwei Gläsern Rotwein, zusam-

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men. Als Schlummertrunk wurden ein Becher Grog, Gin, Whisky, Brandy ohne Zucker oder ein Glas oder zwei Gläser Rotwein oder Sherry angeboten. Nach heutigen Maßstäben klingt dieser Diätvorschlag eher wie ein Schlemmermahl. Die »Bantingdiät« käme heute wegen des Mangels an bestimmten Nährstoffen nicht mehr infrage. Nach der Verwerfung der »Eiweißtheorie« wurde sie aus ernährungswissenschaftlicher Sicht unhaltbar. Ihre Breitenwirkung dauerte aber lange an, und in den 1860er Jahren war das »Banting« die wegweisende Abmagerungskur in den meisten medizinischen Diätratgebern. Eine spätere Variante war die im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts so bezeichnete »Salisburykur«, bei der es nur Minced-beef zu essen und heißes Wasser zu trinken gab. Unter »Minced-beef« wurde gemahlenes, rohes Rindfleisch mit Pfefferminzgewürz verstanden.41 Ein Vertreter des Bantingsystems in Deutschland war der Mediziner Julius Vogel mit seinem Buch »Die Korpulenz, ihre Ursachen, Verhütung und Heilung durch einfache diätetische Mittel«. Der erste Teil des Buches bestand aus einer Übersetzung des Offenen Briefs von Banting über die Korpulenz, der zweite Teil aus einer pseudowissenschaftlichen Untermalung seines Diätprinzips. Auch Vogel versuchte, das von Banting geschilderte Heilsystem als Verdienst Liebigs zu deklarieren. Auch er bezeichnete wie Banting die Fettsucht als »lästigen Parasiten«, der den Menschen seiner Vitalität beraube.42 Sein Prinzip gegen die Korpulenz basierte ebenso auf dem Weglassen von stärke- und zuckerhaltigen Lebensmitteln, vor allem von Brot, Butter, Milch, Zucker, Bier und Kartoffeln. Dies war sozusagen nur eine Anpassung des englischen Diätsystems an die deutschen Essgewohnheiten. In Anlehnung an Liebigs Erkenntnisse unterschied Vogel zwischen »Respirationsmitteln« und »plastischen Nahrungsmitteln«. Er identifizierte eine verringerte Atmungsaktivität aufgrund kleinerer Lungen oder des Mangels an roten Blutkörperchen als weitere Ursache für die Korpulenz. Außerdem fügte er seinem Diätbuch bereits eine Gewichtstabelle zur Bestimmung des Normalgewichts bei, die vermutlich ebenfalls aus der Bantingschrift stammte.43 Nur wenige Autoren der zeitgenössischen Entfettungsliteratur begrüßten die »verdeutschte Bantingkur« nach Vogel, da das eng-

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lische System das Vogelsche an Konsequenz und Präzision angeblich deutlich übertraf. Wenn man eine Bantingkur gebrauchen wolle, so hieß es, solle man sich lieber an das Original halten.44 Neben seiner Diät empfahl Vogel die Regulierung der sonstigen Lebensweise durch Bewegung und ergänzte die Therapie der Fettleibigkeit mit dem Einsatz von Arzneimitteln und sonstigen Kuren. Dazu gehörten die Behandlung mit pflanzensauren Alkalien in manchen Früchten, mit abführenden und harntreibenden Arzneien und die Mineralwasser- oder Brunnenkuren sowie Bäderkuren (See-, Flussund Wellenbäder). Brillat-Savarin, Gollmann und die französische Entfettungstradition Der französische »Feinschmeckerpapst« Jean Brillat-Savarin hatte schon 1823 in seinem Werk »Physiologie des Geschmacks« der Fettleibigkeit, den hygienischen Vorbeugemaßnahmen und der Behandlung derselben zwei Kapitel gewidmet. Seine Erkenntnisse wurden aber erst 1878 durch eine Übersetzung in Deutschland bekannt. Er verstand unter Fettleibigkeit jenen Grad von Fettansammlung, bei dem die Glieder, ohne dass die Person krank wäre, nach und nach an Umfang zunehmen und allmählich ihre ursprüngliche Gestalt und Harmonie verlieren. Davon unterschied er eine Fettleibigkeit, die sich auf den Unterleib beschränkte und beinahe ausschließlich bei Männern anzutreffen war, die sogenannte »Gastrophorie«. Die Träger eines solchen Schmerbauches nannte er dementsprechend »Gastrophoren« (Bauchträger).45 Als Ursachen betrachtete er erstens die natürliche Anlage, zweitens eine einseitige Ernährung mit zu viel Stärke und Mehlbestandteilen, drittens das zu lange Schlafen, viertens den Mangel an Leibesübung und fünftens übermäßiges Essen und Trinken. Im Gegensatz zu den medizinischen Abhandlungen über die Fettleibigkeit beurteilte er Korpulenz noch um 1820 keineswegs als Krankheit, sondern als »ärgerliches Übel«, das der Kraft und Schönheit schade.46 Als Behandlung der Fettleibigkeit schlug er drei Lebensvorschriften vor: Mäßigkeit im Essen, Enthaltsamkeit beim Schlaf und Bewegung zu Fuß oder zu Pferd, wobei seiner Meinung nach von allen medizi-

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nischen Hilfsmitteln die Diät das wirksamste sei.47 Sein Allheilmittel gegen Fettleibigkeit war die zeittypische medizinische Indikation einer kohlenhydratfreien Diät. Gegenüber den ebenso beliebten und häufig praktizierten »Essigkuren« war er negativ eingestellt. Gastrophoren sollten seiner Meinung nach »Bauchgürtel« tragen, um eine zu große Ausweitung des Bauches zu verhindern, und Chinarinde als Abführmittel einnehmen. Eine weitere Monographie zur Fettleibigkeit und Magerkeit stammte von dem Wiener Arzt Wilhelm Gollmann.48 Sie fasste alles zusammen, was bis dahin an Diätkampfstrategien wider den Schmerbauch bekannt war. Die Bezeichnung »Gastrophorie« für einen Fettbauch und »Gastrophoren« für einen davon befallenen Patienten zur Unterscheidung von der allgemeinen Fettsucht beim weiblichen Geschlecht übernahm er von Brillat-Savarin. Das Buch behandelte Ursachen, Folgen, Funktionen, Arten und Behandlung sowohl der Fettleibigkeit als auch der Magerkeit. Auch Gollmann entwickelte in der Tradition der französischen Temperamentenund Diätlehre und in Anlehnung an das Bantingsystem eine Diät zur Vermeidung einer Kohlenwasserstoffanhäufung im Körper, weil seiner Theorie nach die Fettleibigkeit davon herrühre. Prädestiniert für die Fettleibigkeit waren seiner Auffassung nach das lymphatische, das lymphatisch-sanguinische und vor allem das lymphatisch-nervöse Temperament. Aufbauend auf Chevreuls chemischer Analyse des menschlichen Körperfettes, wonach die Kohlenhydrate den Hauptanteil an der Fettbildung ausmachten, wetterte er regelrecht gegen die Vegetabilien.49 Nach der damaligen Ernährungstheorie zerfielen die Nahrungsstoffe bei der Umsetzung im Stoffwechselprozess in kohlensäure-, wasser- und stickstoffhaltige Verbindungen. Insbesondere Obst und Gemüse waren angeblich wegen ihres hohen Zucker- und Stärkeanteils für eine Kohlensäurestauung im Körper verantwortlich. Relativ fortschrittlich klang dagegen Gollmanns Erkenntnis, dass die Fettleibigkeit das größte Ausmaß zwischen dem 35. und 50. Lebensjahr erreiche und beim weiblichen Geschlecht häufiger anzutreffen sei als beim männlichen, dass ein Fettanteil von einem Zwanzigstel des Gesamtkörpergewichts normal bzw. gesund sei, hingegen ein Fettanteil von »vier Fünftheile von dem Gesammtge-

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wichte des Körpers« als fettleibig zu bezeichnen sei.50 Die Motive zur Beseitigung der Korpulenz seien Gesundheit und Schönheit. Die Gesundheit des Menschen bestehe in der normalen und naturgemäßen Entwicklung und Tätigkeit seiner physischen Organe sowie im harmonischen Zusammenwirken aller geistigen und körperlichen Kräfte und Fähigkeiten. In diesem Zustand erscheine der Mensch als Meisterstück der Schöpfung, Abbild der Gottheit, Welt im Kleinen und Ideal des Guten und Schönen. Jede Störung dieser Harmonie beeinträchtige das Ganze und erscheine als krankhafter Zustand. Treffe sie die geistigen Eigenschaften, so gehöre ihre Beurteilung und Hebung in das Gebiet der Philosophie und Moral. Beeinträchtige aber die Störung die harmonische Entwicklung und Tätigkeit der physischen Organe oder hemme sie durch den Einfluss des Körpers auf den Geist die freie vernunftgemäße Tätigkeit des Letzteren, dann gehöre ihre Bekämpfung zu den Pflichten des Arztes. Auch beim Schönheitsideal spiele das Fett, besonders in der Damenwelt, eine hochwichtige Rolle. Selbst die reizende Sylphide, die schlankste Bayadere, verändere sich durch Fettleibigkeit in einen Gegenstand des Mitleids oder Spotts. Der Marienbader Brunnenarzt Schindler betonte in der Einleitung seiner Schrift zu den »Verfettungs-Krankheiten«, dass er die von Brillat-Savarin gestellte Aufgabe übernommen habe, eine medizinisch-wissenschaftliche Abhandlung über die Fettleibigkeit zu schreiben. Er warnte nachdrücklich vor dem aus England kommenden und auch in Deutschland gefeierten Bantingsystem: »Eben hatte die Bantingcur viel Staub aufgewirbelt, wurde vom Publicum mit sinnlosem Eifer cultivirt und forderte zahlreiche Menschenopfer.«51 Seiner Meinung nach gab es nur zwei wirksame Heilmittel gegen Fettleibigkeit: zum einen die Beschränkung fettbildender Stoffe und zum anderen die Anregung des Stoffwechsels. Er knüpfte damit an die französische Tradition der Entfettungskuren an und wollte die bis dahin verbreitete Laienmeinung korrigieren, dass eine »Diät« gleichbedeutend mit »Hungerleiden« sei. Daher sah er den leitenden Grundgedanken ärztlichen Handelns eher in der Hebung des Ernährungszustandes des Organismus durch sorgfältiges Vorschreiben der Speisen und Getränke in geeigneter Menge und Auswahl als in der Beschränkung der Nahrungszufuhr. Er gab sich hiermit als

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absoluter Gegner der Fastentherapie zu erkennen. Seine Diätkuren bauten auf einer durch das Temperament modifizierten tonischen oder milden Diät und auf reichlichem Mineralwassertrinken sowie äußerlichen Wasseranwendungen auf. Ebsteins Ratschläge zur Bekämpfung des Übergewichts Ein ebenso energischer Kontrahent der Banting- oder Fettentziehungskur war Wilhelm Ebstein, Direktor der Medizinischen Klinik in Göttingen. Obwohl seine Entfettungsmethode sich auf den ersten Blick kaum vom Bantingsystem unterschied, verbesserte er dieses, indem er zu der eiweißreichen Fleischdiät Fett hinzufügte. Dies brachte nach Ebstein drei Vorteile: Erstens werde die Unannehmlichkeit eines ständig auftretenden Hungergefühls während der Diätkur unterdrückt, zweitens biete ein sich in gewissen Grenzen bewegendes Fettdepot in Notzeiten Schutz vor infektiösen Erkrankungen, drittens sei es zusätzlich ein gutes Mittel gegen zu schnellen Organeiweißverbrauch.52 In seiner Abhandlung »Die Fettleibigkeit (Corpulenz) und ihre Behandlung nach physiologischen Grundsätzen« distanzierte Ebstein sich zudem von Schindlers Bezeichnung der »Verfettungs-Krankheiten«, da unter »Fettleibigkeit« nicht die eigentlichen »Verfettungen« zu verstehen seien.53 Alles den Grad des normalen Fettanteils Überschreitende bezeichnete er als »zu fett« und alles Unterschreitende als »zu mager«. Ebstein stimmte der Berechnung von Béclard und Quesnay zu, die den physiologischen Anteil des Fetts beim Mann auf 5 %, bei der Frau auf 6 % des Gesamtkörpergewichts festgesetzt hatten. Eine altersbedingte Zunahme von Fett hielt er für etwas durchaus Normales. Jakob Moleschotts Angabe, dass das Fettgewebe ein Vierzigstel des Gesamtkörpergewichts betragen solle, beurteilte er als deutlich zu niedrig geschätzt. Ganz im Gegensatz zu den Verfassern von Entfettungsmethoden der 1860er Jahre verwarf Ebstein 20 Jahre später auch Liebigs Lehre der Beteiligung der Kohlenhydrate an der Fettbildung und stützte seine Diättheorie der Fettergänzung auf die neueren Untersuchungsergebnisse von Carl Voit, der neben 118 g Eiweiß und 500 g Stärkemehl für die Ernährung eines körperlich arbeitenden Menschen täglich 56 g Fett forderte.54

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Ebstein wandte sowohl die medikamentöse als auch die diätetische Behandlungsweise gegen die Korpulenz an. Hungerkuren und eine einseitige Beschränkung auf eine einzige Art von Nährstoffen lehnte er vehement ab, denn man büße neben dem Fett auch Eiweiß ein. Ferner könne der Fettleibige bei einer Beschränkung auf eine einzige Art von Nährstoffen ebenso wenig bestehen wie bei Hungerkuren. Insbesondere verwarf er alle fettfreien Diäten. Deshalb kritisierte er auch die von Thomas K. Chamber 1850 beschriebene Kur, die Fett, Öl, Butter, Milch und Sahne aufs Strengste verbot und die er deshalb »Fettentziehungskur« nannte. Noch rigoroser verurteilte Ebstein die Cantanische Methode, bei der außer Fett auch alle Mehlspeisen und alle zuckerhaltigen Gerichte verboten waren, da seiner Theorie nach ohne Hinzufügung von Fett kaum wiedergutzumachende Eiweißverluste zu befürchten seien.55 Ebenso scharf kritisierte er die Brunnenkuren, da sie, je ableitender sie wirkten, mit um so größerer Vorsicht gebraucht werden müssten und gewöhnlich nur einen temporären Effekt auf die Verminderung des Fettansatzes hätten. Auch körperliche Bewegung hielt Ebstein bei der Bekämpfung der Fettleibigkeit für wenig Erfolg versprechend, da sie den Appetit anrege und damit eher das Gewicht steigere. Nach seiner Meinung war das Geheimnis des angeblichen Erfolgs seiner »Fleisch-Fett-Diät« die Beschränkung des Hungergefühls durch die Aufnahme entsprechender Fettmengen über die Nahrung. Das Fett schränke den Eiweißzerfall ein und lasse den Körper weniger das Bedürfnis nach Ersatz spüren (Reduktion des Hungergefühls); deshalb sei es falsch zu behaupten, er behandle die Fettleibigen mit Fett, sondern er setze lediglich das Fett in die ihm als Nahrungsmittel zukommenden Rechte ein. Das Ebsteinsche Fettkostmaß lag bei einer durchschnittlichen Menge von etwa 60– 100 g pro Tag und ermöglichte damit eine geringere Fleischqualität, die Ebstein auf die Hälfte oder drei Fünftel des bei der Bantingkur verlangten Fleischquantums reduzierte. Er verwarf alle übrigen diätetischen Kuren, wie z. B. die Milchkuren, und verteidigte nur seine eigene Diät.

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Die modischen Milchkuren Eine von dem Arzt Weir Mitchell aus Philadelphia speziell für blutarme Fettleibige entwickelte Milchkur fand seit den 1880er Jahren wegen ihrer bedeutenden Heilerfolge sowohl in Amerika als auch in England und im übrigen Europa schnell Verbreitung.56 Sie war eine reine Milchdiät, die in Kombination mit Ruhe und Massage bei Fettleibigkeit oder starker Korpulenz mit gleichzeitiger Anämie angewandt wurde. Die Milch sollte bei dieser Diätform zweimal täglich frisch von der Kuh genommen werden und gut abgerahmt sein, konnte warm oder kalt getrunken werden und brauchte nicht abgekocht zu sein.57 Mitchells Entfettungsmethode sah eine Ernährung mit entrahmter Milch zunächst noch neben der gewöhnlichen Kost vor. Nach Verlauf einer Woche wurden alle Speisen und Getränke bis auf die Milch entzogen. Es war aber dabei zu ermitteln, welche Menge Milch notwendig war, um das bisherige Gewicht zu erhalten. Diese Menge wurde dann allmählich verringert, bis der Patient täglich etwa 0,25 kg an Gewicht verlor. Manchmal erlaubte Mitchell täglich eine kleine Portion Rindfleisch, Hühner- oder Austernsuppe, um Abwechslung in die Monotonie der Milchdiät zu bringen. War das Gewicht genügend verringert, fügte er zur Milchdiät Rindfleisch, Hammelfleisch, Austern und dergleichen hinzu; schließlich durfte der Speisezettel wieder vollständig sein, nur größere Mengen von Kohlenhydraten waren auszuschließen. Indessen blieb die Milch das Hauptnahrungsmittel. Nach dem Erwachen wurde morgens eine Tasse Kakao oder Kaffee mit Milch als Anregungsmittel gereicht.58 Während der ersten 8–14 Tage verordnete Mitchell Bettruhe, dann zeitweises Ruhen, während zweimal täglich Massage angewandt wurde, der sich im späteren Kurverlauf schwedische Gymnastik anschloss, bis der Patient schließlich wieder zu alltäglichen Bewegungen übergehen konnte. Außerdem verordnete er seinen Patienten nach zehn Tagen noch 60–120 g flüssigen Malzextrakt vor jeder Mahlzeit. Vor dem Übergang von der Milchnahrung zur Fleischkost wurde manchmal Eisen in großen Mengen verabreicht. In besonders schweren Fällen fügte er 15 g Lebertran in der dritten Woche hinzu. Milchdiäten wurden bei besonders gefährlichen Formen der Fettsucht mit Herzschwäche verord-

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net, denn dann konnte die Entfettungskur im Bett vorgenommen werden.59 Der Erfinder der ersten »Milchkuren« war um 1870 der russische Leibarzt des Zaren Karell aus St. Petersburg gewesen. Er lieferte eine ausführliche wissenschaftliche Begründung der mannigfachen Regeln, die bei einer solchen »Milchdiätkur« zu beachten waren.60 Bei der sogenannten »Karellkur« bekam der Patient um 8, 12, 16 und 20 Uhr je 200 ccm abgekochte oder rohe Milch ohne jegliche flüssige oder feste Nahrung. So verlief die Diätkur in den ersten zwei bis fünf Tagen. In den ersten Tagen erfolgte eine Darmspülkur, die der Diät vorangestellt wurde. An den darauffolgenden zwei bis sechs Tagen erhielt der Kranke außer Milch »leichte« Zusätze: ein Ei, auch etwas Zwieback, dann zwei Eier, etwas Schwarzbrot oder Weißbrot, am folgenden Tag gehacktes Fleisch, Gemüse und Milch und so fort, sodass zwölf Tage nach Beginn der Diätkur der Übergang zu voller gemischter Kost vollzogen werden konnte. Die Milchkur wurde jedoch während der gesamten Dauer beibehalten. Die Flüssigkeit durfte die Menge von 800 ccm nicht überschreiten. So konnte eine starke Einschmelzung des Körperfetts erreicht werden. Aber nicht alle Patienten schafften es, sich einer solchen modifizierten Hungerkur zu unterziehen, da es sich hierbei um eine äußerst einseitige Ernährung handelte.61 Die Eintönigkeit der Diät veranlasste viele Fettleibige dazu, die Kur abzubrechen. Die »neue Banting-Cur« nach Wiel Der deutsche Arzt und Verfasser eines diätetischen Kochbuches Josef Wiel bezog eine eigenständige, beinahe außenstehende Position im Streit um die richtige Entfettungsmethode, als die Mode der Bantingkur längst vorüber war. Er zählte sich selbst weder zu den Allopathen noch zu den Hydro- oder Homöopathen, sondern zu den Diätetikern.62 Seinen Diätratgeber teilte er ein in Warenkunde (Gewinnung der Stoffe, Kennzeichen der echten, guten Ware, Verfälschungen), Heilkunde (Verdaulichkeit und Nährwert der Speisen und ihr Einfluss auf die Gesundheit) und Speisezettel für Kranke. Seine neue Bantingkur sollte möglichst wenig verbieten und viel erlauben, da es psychologisch ungeschickt sei, dem Erkrankten strikte

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Beschränkungen aufzuerlegen. In der Entfettungsdiät nach Wiel waren folgende Suppen gestattet: Fleischbrühsuppen mit tierischen Einlagen, Fleischextrakt, gehacktes Fleisch aus Wild und magerem Geflügel, Froschschenkel- und Austernsuppe mit pflanzlichen Einlagen sowie verschiedene Kräutersuppen (Julienne, Prietaniere). Bei den Fleischspeisen gab es vom Rind Beefsteak, Rost- und Spießbraten, boeuf à la mode mit gründlich entfetteten und angesäuerten Saucen und Kalbsbraten. Vom Haarwild durften Hase, Reh, Edelhirsch, vom Federwild Feld-, Hasel- und Schneehuhn, Birkhahn, Wildtaube, Waldschnepfe, Beckasine, Riesenschnepfe und kleine Frühlingshühner genossen werden; Wasservögel wurden wegen ihres Fettes aus dem Speiseplan ausgeschlossen. Vom Niedergetier waren Fluss- und Seekrebse, Schnecken, Austern, Muscheln und Froschschenkel, von den Eingeweiden Kalbsbriesle, Nieren, Kutteln und Herz erlaubt. Als Beilage zum Fleisch eigneten sich laut Wiel Salate besser als Gemüse, weil letztere meistens in Butter gedämpft würden. Geeignete Salate seien Endivien, Gurken, Lattich, Kopfsalat, Gartenkresse, Rettich, Tomate, Kapern. Auch von Kürbisfrüchten, Argumen und allen säuerlichen Obstsorten sollte ein umfassender Gebrauch gemacht werden. Das tägliche kulinarische Kurprogramm lautete: 8 Uhr Frühstück: Beefsteak mit 1 Tasse Peccothee ohne Milch. 12 Uhr Lunch: Magere Käse, mageres Pöckelfleisch, Austern. Ein Glas Seewein. 4 Uhr Dinner: Einen Teller voll von einer der genannten Suppen; der Fleischbraten mit einem Salat. Eine halbe Stunde darauf ein Glas Seewein. 8 Uhr Nachtessen: Kalter Fleischbraten dazu Pecco ohne Milch.63

Wiels Diätvorschlag war damit eine revidierte Form der »HarveyBanting-Diät«, in der die Fettzugabe deutlich reduziert blieb. Nur Salate sowie säuerliches Frischobst wurden neu hinzugefügt.

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Oertels Rezepte zur Gewichtsreduzierung mittelst Wasserentziehung Eine wahre Kampfschrift gegen die Ebsteinsche Entfettungsmethode verfasste 1884 der Münchner Professor Max Josef Oertel mit seiner Schrift »Therapie der Kreislaufstörungen«. Darin griff er die Ebsteinsche Diät heftig an, da das mit der Nahrung zusätzlich verabreichte Fett nach den Untersuchungsergebnissen seiner Lehrer Pettenkofer und Voit die Fettanlage im Körper nachweislich befördere.64 Die emotionsgeladene Auseinandersetzung zwischen Ebstein und Oertel drehte sich vor allem um den Streitpunkt, ob eine eiweißreiche Ernährung, wie die nach der Bantingmethode, wirkungsvoll durch Fett oder Kohlenhydrate ergänzt werden sollte. Ebstein verwarf die Hinzufügung von Kohlenhydraten zur Fleischdiät unter Berufung auf die bis dahin geltenden Forschungsergebnisse Liebigs, der behauptet hatte, die Kohlenhydrate seien die eigentlichen Fettbildner. Oertel hingegen war der Meinung, dass Liebigs Lehre obsolet sei. Er berief sich auf Voit und Pettenkofer, die zu dem Ergebnis gelangt waren, dass eine Hinzufügung von Kohlenhydraten zur Bantingkur ratsamer sei als eine Hinzufügung von Fett. Ebstein holte in seiner Schrift »Fett oder Kohlenhydrate?« zum Gegenangriff aus, bekämpfte Oertels Thesen energisch und verteidigte weiterhin die Ansicht, dass eine Diätergänzung durch Fett vorzuziehen sei.65 Oertels Kritik richtete sich jedoch nicht nur gegen Ebstein, sondern generell gegen alle damals gebräuchlichen reinen »Fleischdiäten«, die seiner Ansicht nach viel zu viel Eiweiß forderten, was ein elementarer Fehler sei. Die neuen Fettforschungsergebnisse hätten belegt, dass gerade die Eiweiße Hauptfettbildner seien. Die Nebenkostfrage beantwortete Oertel deshalb in einer Gegenschrift, in der er die Ebsteinsche Flugschrift über Wasserentziehung kritisch beleuchtete. Darin warf er Ebstein Unseriosität und Inkompetenz vor, da dieser nur seine eigene Schlankheitskost ins öffentliche Rampenlicht rücken wolle, und suchte die Ebsteinschen Argumente Punkt für Punkt zu widerlegen.66 Aber auch Oertels Schrift diente genau betrachtet nur dem Zweck der Werbung für seine eigene Sanatoriumsdiät, die ihren Schwerpunkt auf Nahrungsentzug mit zusätzlicher Flüssigkeitsbeschränkung legte.

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Ein Speisezettel nach Oertel gestattete zum Frühstück eine Tasse Kaffee oder Tee mit ca. 150 g Milch und 75 g Brot. Mittags wurden 100 g Suppe, 200 g gesottenes oder gebratenes Rindfleisch, Kalbfleisch, Wildpret oder nicht zu fettes Geflügel, Salat oder leichtes Gemüse nach Belieben oder ohne viel Fett zubereitete Fische, 25 g Brot oder zeitweise Mehlspeisen bis zu 100 g serviert. Als Dessert konnte man zwischen 100–200 g frischem Obst und einer kleineren Menge Eingemachtem wählen. Getränke sollten am Mittag möglichst vermieden werden. Nur in sehr heißer Jahreszeit und bei einem Mangel an Obst durfte ein Sechstel bis ein Viertel Liter leichten Weines genossen werden. Nachmittags gab es wieder dieselbe Menge Kaffee oder Tee, höchstens mit einem Sechstel Liter Wasser. 25 g Brot waren nur in Ausnahmen zusätzlich erlaubt. Abends konnte zwischen einem bis zwei weichen Eiern, 150 g Fleisch, 25 g Brot, vielleicht einem kleinen Schnittchen Käse, Salat und Obst gewählt werden. Dazu wurden regelmäßig ein Sechstel bis ein Viertel Liter Wein und vielleicht auch ein Achtel Liter Wasser getrunken. Die Generalregel war, keine größere Flüssigkeitsmenge während des Essens zu sich zu nehmen, außer dem für den Patienten pro Tag genau berechneten Quantum, das nur in kleinen Schlücken genossen werden durfte. Die Wasseraufnahme in Speisen und Getränken wurde auf 150 g Kaffee, Milch und Tee des Morgens und Abends, 100 g Suppe und 350 ccm Wein am Mittag sowie vielleicht noch ein Viertel bis zwei Drittel Liter Wasser im Laufe des Tages reduziert. Zur Anregung der Wasserausscheidung über die Nieren und Hautporen wurde andauernde Bewegung verordnet.67 An Oertels Wasserentziehung mit anstrengenden Muskelbewegungen kritisierte Ebstein in einer separaten Flugschrift, sie sei keine neue, eigene Erfindung, sondern »in allen ihren wesentlichen Theilen schon lange vor ihm als Mittel zur Bekämpfung dieser Krankheitszustände gelehrt und geübt worden.«68 Nach der kurzen Erwähnung der üblichen Brunnenkuren zählte er alle ihm bekannten Diätmethoden auf, die auf der Beschränkung der Getränkemengen basierten. So behauptete er, dass die Durst- und Trockenkur bereits seit der Antike bekannt sei, und sprach damit auch Schroth seinen Erfindungsgeist ab. Brillat-Savarin habe übermäßiges Essen und Trinken schon als Ursache der Fettleibigkeit erkannt, selbst wenn

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er dabei nur den vermehrten Wein- und Biergenuss gemeint habe, da er zum reichlichen Genuss von Selterswasser riet. Der Vorgänger Harveys, Thomas K. Chambers, habe in England die Fettleibigkeit ebenfalls mit Flüssigkeitsentzug geheilt. Selbst das Banting, so Ebstein, habe die zugebilligte Flüssigkeitsmenge auf einen Liter pro Tag bemessen und basiere damit auf dem Prinzip der Flüssigkeitsbeschränkung. Der Franzose F. Dancel schließlich habe seine dickleibigen Patienten ausschließlich durch eine beträchtliche Einschränkung der Getränkezufuhr entfettet. Ebstein schrieb Dancel deshalb das alleinige Verdienst der Wiederentdeckung der entfettenden Flüssigkeitsregulation zu.69 Oertel, so Ebstein, habe sich einfach Dancels Prinzip der Wasserentziehung zu eigen gemacht, ohne dies in seinen Diätvorschriften zu erwähnen. Er sei daher nichts weiter als ein »Dancel redivivus«. Oertel bestritt diese Vorwürfe Ebsteins energisch. Die Forschungsarbeiten Dancels seien ihm nicht bekannt gewesen, daher habe er sie in seinen Schriften nicht erwähnt. Dancel vertrete ganz andere Hypothesen, und außerdem sei seine Kost eine »mehr als unwissenschaftliche Zusammenstellung der Nahrungsmittel.«70 Zu den erlaubten Speisen für Fettleibige nach Dancel gehörten nämlich Beefsteak, Chateaubrillant, Roastbeef, Lendenbraten, gekochtes Rindfleisch, Hammelcotelettes, gebratenes und gesottenes Kalbfleisch in der Pfanne, Kapaun, gebratenes Huhn, Pfauhahn, Tauben, Perlhuhn, Entenbraten, Fasan, Schnepfe, Birkhuhn, Rebhuhn, Haselhuhn, Hase, Kaninchen, Regenvogel, Kriechente, Wachtel, Fettammer, Drossel, Amsel, Lerche, Rehrücken und Rehkeule, Seezunge, Lachs, Forelle, Hecht, Stöhr, Karpfen, Steinbutte, Hummer, Krebse.71 Diese willkürliche Aufstellung lasse kein geordnetes Diätprinzip erkennen, weshalb von Dancels System selbst zeitgenössische Diätärzte kaum Notiz genommen hätten. Ebstein sprach Oertel jedoch weiterhin das Verdienst der Entdeckung der Wasserentziehung für die Therapie von Herz- und Kreislauferkrankungen ab, indem er nun plötzlich behauptete, der Engländer William Stokes sei der erste Entdecker dieses Entfettungsprinzips gewesen. Auch dies bestritt Oertel entschieden.72 Seine These lautete, man dürfe nur unter energischer Wasserentziehung entfetten, weil man sonst nicht im Stande sei, die mit der

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Fettbildung einhergehenden Kreislaufstörungen zu beheben, welche zumeist durch eine Vermehrung der Blutmenge bedingt seien. Er versuchte damit, zwei neue Lehren in die Pathologie des Kreislaufs einzubürgern: dass es zu einer Kreislaufstörung komme, wenn das gleichmäßige Verhältnis zwischen Zufluss zum und Abfluss vom Herzen aufgehoben sei, und dass die Vermehrung der Blutmenge eine Stauung im Venensystem veranlasse.73 Kritik an Oertels Wasserentziehungstheorie gab es auch auf dem vierten Kongress für Innere Medizin im April 1885 in Wiesbaden. Dort referierte der Vertreter der Göttinger Landwirtschaftlichen Fütterungsanstalt, Henneberg, über den Einfluss der Wasserentziehung bei Masttieren und kam zu dem Resümee, Wasserbeschränkung befördere die Mast und eine vermehrte Wasseraufnahme begünstige keinen Fettansatz, sondern Wasseransatz.74 Er bestritt somit den Entfettungseffekt der Oertelschen Wasserentziehungstheorie. Seiner Meinung nach beförderte das Nahrungsfett den körperlichen Fettansatz mehr als eine gleiche Menge von Kohlenhydraten. Er trat deshalb unter Berufung auf Voit für einen verstärkten Einsatz von Kohlenhydraten zur Eiweißersparnis und damit für eine gemischtköstlerische Entfettungsdiät ein. Auch ein gewisser Anjel, Arzt an einer Wasserheilanstalt und ehemaliger Mitarbeiter in der Wasserheilanstalt auf dem Gräfenberg, übte in der »Deutschen medicinischen Wochenschrift« Kritik an den Oertelschen Entfettungstheorien und monierte: Diese excessive Wasserentziehung ist das Nachtheilige bei der Oertelschen Methode. Sie wird von vielen Personen mit intactem Circulationsapparat durch längere Zeit gut vertragen, verursacht aber bei vielen anderen unangenehme Störungen. Consequent durchgeführt macht sie die Oertelsche Entfettungsmethode zu einer reinen Inanitionskur, denn ein von Durst geplagter Mensch vermag nicht die nöthige Nahrungsmenge, welche er braucht, in fester Form zu sich zu nehmen und hat früher oder später an den Folgen unzureichender Ernährung zu leiden. Die bei Wasserentziehung manchmal beobachtete rapidere Gewichtsabnahme hat ihren Grund in dieser mangelhaften Nahrungszufuhr.75

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Ein anderer Gegner war der Marienbader Brunnenarzt Basch. Er attackierte wegen der Marienbader Mineralwassertrinkkuren die Oertelschen Theorien aus Konkurrenzgründen, konnte sie aber nicht wissenschaftlich widerlegen. Damit bildeten die Anhänger der Oertelschen Wasserentziehungsmethode und die Propagandisten der Mineralwasserkuren zwei Hauptkontrahenten in der Diskussion um die Entfettungsfrage des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Schweningerkur Die »Schweningerkur« verdankte ihre immense Popularität der Heilung des Reichskanzlers Bismarck und seines Sohnes. Nach der Banting-Euphorie in den 1860er und 1870er Jahren empfahl man in den 1880er Jahren vor allem die methodische Wasserentziehung zur Entfettung. Diese Methode erfreute sich besonders in Folge ihrer wissenschaftlichen Begründung durch Oertel und ihrer praktischen Durchführung durch Dr. Schweninger einer so großen Popularität, dass unter den Fettleibigen das »Oerteln« und »Schweningern« in Deutschland gang und gäbe wurde.76 Oscar Maas vertrat in seiner 1885 erschienenen Schrift »Die Schweninger-Kur und Entfettungskuren im allgemeinen sowie Wesen und Ursachen der Fettsucht« die Ansicht, Oertel sei der Erfinder des Entfettungsprinzips der Wasserentziehung, während Schweninger nur eine leichte Abwandlung der Oertelschen Methode vorgenommen habe und sich jetzt mit fremden Federn schmücke. Er vermutete, dass »Dr. Schweninger schon vor der Veröffentlichung der Oertelschen Arbeit Kenntnis von der darin enthaltenen Behandlungsweise der Korpulenz« gehabt habe, denn Oertels Schrift »Therapie der Kreislaufstörungen« sei erst 1884, d. h. nach neun Jahren Behandlungspraxis erschienen.77 Er sprach deshalb im Fall der Schweningerkur von der »Oertelschen Diätetik«. Die vier Hauptaufgaben dieser Methodik waren die Kräftigung des Herzmuskels, die Erhaltung der normalen Zusammensetzung des Blutes, die Regulierung der Flüssigkeitsmenge im Körper und die Verhinderung des Fettansatzes. Das erste Anliegen, die Kräftigung des Herzmuskels, sollte durch eine intensive Bewegungstherapie, vorzugsweise durch Bergwandern, umgesetzt werden. Zur Erfüllung der zweiten Auf-

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gabe, der Erhaltung der normalen Zusammensetzung des Blutes, sollten die Kranken eine Diät reich an tierischem Eiweiß zu sich nehmen. Diese sollte aus gebratenem oder gesottenem Rindfleisch, Beefsteak, Kalbfleisch, fettlosem Hammelfleisch, Wildpret, Eiern, Kohlsorten und Spinat bestehen, während Fette und Kohlenhydrate nur in stark beschränktem Maße zulässig waren. Die Flüssigkeitsregulierung stand im Zentrum der Entfettungskur; die Flüssigkeitsaufnahme wurde reduziert, die Wasserausscheidung vermehrt. Die gezielte Verhinderung des Fettansatzes wurde durch die bereits geschilderte Kombination von Bewegungstherapie und Reduktion der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr erreicht. Ein anderer Zeitgenosse, Georg Rosenfeld, beschrieb die auf einen Mann mit einer Körpergröße von 180 cm und einem Körpergewicht von 94 kg individuell zugeschnittene Entfettungsdiät nach Schweninger, die angeblich weniger energisch als die Oertelsche Kur war, wie folgt: 6 Uhr: 3 Eier, dann 2 Stunden Spaziergang 8 Uhr: Braten mit Brod 9 Uhr: Wasser ein achtel eventuell ein viertel Liter. 10 Uhr: Käse 11 Uhr: Wein mit Wasser 12 Uhr: Fleisch 150 gr etwa (manchmal) 1 Uhr: dto. 2 Uhr: Obst 3 Uhr: Wasser 4 Uhr: Eis 6 Uhr: dto. (manchmal) 7 Uhr: Fleisch 8 Uhr: Obst und vor dem Schlafengehen Wasser.

Dabei verlor der hier beschriebene Patient innerhalb von sechs Wochen 16 Pfund. Der Mann musste jedoch die Diät wieder abbrechen, da er plötzlich über krankhafte Symptome wie eine auffallende Herzschwäche, Magenschmerzen und Verdauungsstörungen klagte. Rosenfeld sah sich daher veranlasst, eine Aufklärungsschrift »Über die Gefahren der Entfettungskuren«78 zu verfassen. Darin kritisierte

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er die häufigen kleinen Mahlzeiten in Schweningers Diätsystem, die nur dazu dienten, ein allzu großes Hungergefühl zu vermeiden, weshalb sie fast stündlich dem Magen dargeboten würden. Beim »Schweningern« wurde die Menge der gereichten Eiweißkörper und Kohlenhydrate wesentlich vermindert, die Flüssigkeitsmenge auf höchstens 1 000 ccm bemessen sowie ein morgendlicher Spaziergang von zwei Stunden verordnet. Die Schweningerkur wurde lange Zeit den Mineralwasserkuren in den berühmten Badeorten vorgezogen, weil von letzteren meist nur ein vorübergehender Abmagerungseffekt zwecks schlanker Linie berichtet wurde.79 Die Entfettungsmethode nach Demuth Der Frankenthaler Arzt Demuth sah den Hauptvorteil seiner Entfettungsmethode in der Anpassung des Diätplans an die täglichen Essgewohnheiten der Patienten. Auf diese Weise konnte die Diät fortgesetzt werden, wenn der Kurgast nach einem abgeschlossenen Kuraufenthalt wieder zu Hause war. Diese Entfettungskur verlangte nur wenige Restriktionen oder Modifikationen und damit keine völlige Ernährungsumstellung oder größeren Entbehrungen, sodass das Durchhaltevermögen bei seiner Entfettungskur beim Kranken stieg und kein kontrollierender Kurzwang vom sozialen Umfeld erforderlich war.80 Demuths Patienten durften von allen Speisen genießen, die sie gewohnt waren und die dem Zustand ihrer Verdauungsorgane angepasst waren. Demuth diagnostizierte als Hauptursache der Fettleibigkeit nicht, wie in anderen zeitgenössischen medizinischen Diätratgebern üblich, Erblichkeit, Alter, Geschlecht, Konstitution und Temperament, sondern die »Überernährung«. Er rückte von Liebigs Ansicht ab, der die Kohlenhydrate für die Hauptfettbildner gehalten hatte, und stimmte Voit zu, der die Eiweißkörper und Nahrungsfette als wichtigste Quelle für die Fettbildung identifizierte.81 Damit reagierte er auf die neuesten, aus Tierversuchen gewonnenen Forschungsergebnisse. Die Liebigsche Theorie der Kohlenhydrate als Hauptfettbildner wurde verworfen und alle bisher praktizierten medizinischen Entfettungsmethoden mit ihren reinen Fleischdiäten in Frage gestellt. Dazu gehörten insbesondere die Vogelsche Version der Bantingkur und die Ebsteinsche Entfettungsmethode. In Be-

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zug auf die Bantingkur und ihre späteren Varianten sagte Demuth in einem am 16. Juni 1883 auf der ärztlichen Bezirksversammlung zu Dürkheim gehaltenen Vortrag, jede Fettentziehungskur sei auf begrenzte Dauer berechnet und jede zu rasche Verminderung des Verbrennungsmaterials, seien es Fette oder Kohlenhydrate, entziehe dem Körper zu viel zur Kraft- und Wärmebildung notwendiges Material und verursache daher Mattigkeit, Unbehagen und verminderte Leistung. Demuth bemängelte weiter, dass die Nacheiferer Bantings in dem bisher ungewohnten Betonen der Eiweißkörper eine Aufforderung zu noch größerer Aufnahme derselben erblickten und zu dem eigentlichen Fehler der Bantingkur, der zu geringen Aufnahme von stickstofffreiem Material, noch den der zu großen Aufnahme von stickstoffhaltigem Material hinzufügten.82 Aus der Eiweißdiskussion versuchte sich Demuth diplomatisch herauszuhalten, indem er der vegetarischen und animalischen Kostform den gleichen Stellenwert in der menschlichen Ernährung einräumte. Beide Ernährungsformen seien in Bezug auf die Eiweißqualität gleichbedeutend zu behandeln. Er war einer der ersten medizinischen Entfettungstechniker, der seine Skepsis auch in Bezug auf die noch in der Entwicklung steckenden Ernährungswissenschaften äußerte und die »Eiweißfrage« bewusst unbeantwortet ließ, solange keine verlässlichen Daten vorlagen. Derweil orientierte er sich an dem von Voit bis dahin aufgestellten Kostmaß, wonach er auch die Mindestmenge an Fett in der täglichen Nahrung bemaß. Die Ebsteinsche Entfettungsidee dementierte er, weil sie sich angesichts der neuesten Untersuchungen Voits und Hoffmanns auf obsolete Grundsätze stütze.83 Folglich entwarf er eine eigene Diät, die dem neuesten Erkenntnisstand entsprechen, aber auch den Ansprüchen seiner Patienten genügen sollte. Auffällig war, dass er trotz der Widerlegung der Liebigschen Fettbildungstheorie weiter an dem Voitschen Eiweißdogma, das von einer überhöhten Eiweißzufuhr ausging, festhielt. Bei Antritt seiner Diätkur beobachtete Demuth zunächst, welche Quantitäten von Nährstoffen in der Kost vorhanden sein durften, die der Patient in einem gewissen Zeitraum zu sich nahm, um das Körpergewicht zu reduzieren. Dann errechnete er diejenige Menge von Nahrungsstoffen, von der er annahm, dass sie im Stande sei, bei

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gleichbleibender Arbeitsleistung das Körpergewicht um etwa 50 g täglich herabzusetzen. Nach etwa 8–14 Tagen kontrollierte er das relative Gewicht mit der Waage und nahm eventuelle Korrekturen an der Ausrichtung des Diätspeisezettels vor. Was die Eiweißstoffe anbetraf, wurde unter Berücksichtigung des jeweiligen Alters und Körpergewichtes des Patienten das ernährungsphysiologisch vorgeschriebene Mindestmaß eingehalten. Die Eiweißzufuhr sollte erst nach dem Eintritt einer proportionalen Steigerung der körperlichen Aktivität erhöht werden. Die Eiweißzufuhr sollte in der Phase zunehmender Körperbewegung nach oben gehen. Die Vorteile des Demuthschen Prinzips waren, dass durch die Vermehrung der Muskelmasse und die Bildung von Organeiweiß die weitere Spaltung des zirkulierenden Eiweißes verhindert wurde und die Bedingungen für eine energischere Spaltung von stickstofffreien Nährmateralien verbessert wurden.84 Bei der blutarmen Form der Fettleibigkeit ließ Demuth die nutritive Eiweißzufuhr erhöhen. Sein Entfettungsprinzip basierte somit auf einem Gleichgewicht des richtigen Resorptionsverhältnisses der Nahrungsstoffe im Ganzen, wobei es eine untergeordnete Rolle spielte, ob die dazu erforderlichen Eiweißquantitäten mit animalischer oder vegetabilischer Nahrung aufgenommen wurden. Ferner war dabei der Umstand unerheblich, ob bei den in Folge des geringeren Gehaltes an Eiweißstoffen notwendig werdenden größeren Quantitäten an vegetabilischer Kost nicht zu viele Kohlenhydrate resorbiert wurden. Was die Fette anbetraf, ließ Demuth sie nicht gänzlich meiden. Er ging aber auch nie über das von Voit aufgestellte physiologische Mindestmaß von 50 g Fett im täglichen Kostmaß hinaus, da das Nahrungsfett im Körper am schwersten verbrannt werde. Nach der Demuthschen Kur bekam der Patient eine Aufstellung über die in den gebräuchlichsten Nahrungsmitteln enthaltenen Nahrungsstoffe. Außerdem sollte er bei der Bestimmung seines Ernährungsplanes beachten, dass 100 g Fett etwa 175 g Kohlenhydraten entsprachen. Eine stärkere Fettaufnahme konnte so mit einer im entsprechenden Verhältnis verminderten Kohlenhydrataufnahme ausgeglichen werden, sodass die Nahrungsmittelbilanz wieder im Gleichgewicht war. Wer eine einfachere Berechnung bevorzugte, sollte das Vielerlei der Nahrung vermeiden, denn »dieses ist es ja

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auch, was manchen Schlemmer veranlasst, sein NahrungsaufnahmeConto ungebührlich zu belasten.«85 Demuths Diätverordnung für Fettleibige verlangte dem Patienten keine Einhaltung von Speiseverboten ab, sodass dieser sich täglich selbstständig eine abwechslungsreiche Diät je nach Geschmack zusammenstellen konnte. Ebstein betrachtete Demuths Schlankheitsdiät in seiner Schrift »Fett oder Kohlenhydrate« als bloße Modifikation seiner eigenen Diät. Den einzigen Unterschied zu seiner Methode erkannte Ebstein in dem festgesetzten Fettmindestmaß, welches Demuth seiner Auffassung nach viel zu niedrig veranschlagt habe. Statt dessen riet Ebstein zu der von W. Henneberg berechneten Menge von 142 g Fett als Normalmaß in der täglichen Kost und beschloss seine Abwehrschrift mit den Worten, die Bestätigung der Wirksamkeit seiner Methodik seien die Heilerfolge, die bereits genügend Beweiskraft besäßen.86 Zur Problematik der Messung des Normalgewichts Ein Nachfolger und Verehrer der Schweninger-Methode war Dr. Ziegelroth, Leiter eines Sanatoriums in Krummhübel im Riesengebirge. Seine Schrift »Die physikalisch-diätetische Behandlung Fettleibiger und Zuckerkranker« wies drei Neuheiten auf: Erstens ging Ziegelroth vom »unbedingten« Erfolg seiner Diät aus, zweitens widmete er insbesondere der körperlichen Bewegungstherapie mit neuen Massage- und Körpertrainingsgeräten seine Aufmerksamkeit, und drittens verfasste er zum Normalgewicht und zum spezifischen Gewicht eigene Kapitel. Seine Normalkost für Fettleibige beschrieb er anhand eines eigens entworfenen Speisezettels wie folgt: –

Früh die erste Mahlzeit um 8 Uhr, bestehend aus frischem Obst oder aus



Die zweite Mahlzeit um ca. 10 Uhr: eine kleine Tasse dünner Tee und eine

geschmortem Obst (ohne Zucker zubereitet). Scheibe Schrotbrot; –

Die dritte Mahlzeit ca. 12 Uhr: Gemüse und Braten ohne Sauce, einige Kartoffeln;



Die vierte Mahlzeit ca. 2 Uhr: Salat (mit Zitronensaft, ohne Essig und Oel);



Die fünfte Mahlzeit ca. 4 Uhr: frisches Obst;

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Die sechste Mahlzeit ca. 6 Uhr: roher Schinken (ev. dafür gelegentlich ein Ei, Kaviar, Austern, Fisch und andere Frutti di mare) Gemüse.



Die siebte Mahlzeit ca. 8 Uhr: Obst.87

Insbesondere empfahl er, alles roh zu genießen, weil durch das Kochen ein wichtiger Teil der Nahrung, gewisse Salze, besonders Kalk und Eisen, zerstört respektive unverdaulich werde. Der Speisezettel setzte sich zwar noch aus gemischter Kost zusammen; jedoch wurde besonderer Wert auf Gemüse und Obst in rohem Zustand gelegt. Die Ziegelrothsche Kur zielte nicht nur auf die Beseitigung ungesunden und überflüssigen Körperfetts und Gewebewassers ab, sondern auch auf einen die Entfettung begleitenden Muskelzuwachs. Die Anhäufung solider und gesunder Muskelsubstanz sollte durch systematische Übung gefördert werden.88 Ziegelroth trat für Selbstmassage mit Massagerollen und gezieltes Muskeltraining ein. Bei der Bestimmung des Normalgewichts lautete sein Grundsatz: »Der Mensch soll so viel Kilo wiegen, als er Zentimeter über 100 misst. Männer dürfen wegen der etwas schwereren Knochen ca. 2 kg mehr haben.«89 Mit der Problematik der Berechnung des Normalgewichts setzte sich 1924 auch Simon Isaac intensiv auseinander. Er ging von Carl von Noordens Definition der Fettsucht oder Fettleibigkeit und dessen Formel zur Bestimmung des Normalgewichts aus, wonach dieses gleich dem Produkt aus Körperlänge (in cm) mal 430 als untere bzw. 480 als obere Grenze sei. Ein geringer Grad von Fettleibigkeit liege vor, wenn der Gewichtsüberschuss 5–15 kg betrage (etwa 10–20 %), ein mittlerer Grad bei einem Gewichtsüberschuss von 15–25 kg (etwa 20–30 %), ein hoher Grad bei einem Gewichtsüberschuss von mehr als 25 kg (mehr als 30 %).90 Isaac diskutierte alle bisherigen Verfahren und Formeln, die für das Verhältnis von Körpergewicht zu Körperlänge aufgestellt worden waren. Vor allem Stoffwechselpathologen suchten zu beweisen, dass in Fällen »endogener Fettsucht« der Grundumsatz niedriger sei als bei normalgewichtigen Patienten. Zur Bestimmung des Grundumsatzes gab es mehrere gebräuchliche Verfahren: Apparate zur Bestimmung des Sauerstoffverbrauchs (Respirationsapparate), die Bestimmung des Normalgewichts anhand von Formeln, die das Verhältnis von Gewicht und Körpergröße –

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manche unter Berücksichtigung des Geschlechts und Alters – errechneten, und die Möglichkeit, die Stoffwechselaktivität Fettsüchtiger durch Bestimmung des Kalorienumsatzes pro Quadratmeter Körperoberfläche zu berechnen.91 Die Sauerstoffrespirationsversuche an fettleibigen Personen lieferten im Vergleich zu den übrigen experimentellen Verfahren aufgrund der Beeinflussung durch Außenfaktoren (Luftfeuchtigkeit, Temperatur etc.) wenig zuverlässige Daten, weshalb Isaac in seinem Artikel kaum darauf einging. Zur Bestimmung des Normalgewichts bezog er sich deshalb auf die bereits zitierte Noordensche Berechnungsformel. Gebräuchlicher war die 1868 von dem französischen Anthropologen D. Broca aufgestellte »Brocasche Berechnungsformel«, die lautete: Körpergewicht in kg = Körperlänge in cm – 100.92 Ein Broca-Index (BI) von 1 bedeutete Normalgewicht. Ein BI von 0,9 lag um 10 % unter dem Normalgewicht, ein BI von 1,1 um 10 % über dem Normalgewicht. Da dieser Index die Körpergröße nicht einbezog, bestand jedoch die Gefahr der Überschätzung bei großen und der Unterschätzung bei kleinen Personen. Dr. Oeder, Besitzer einer Diätkuranstalt in Niederlößnitz bei Dresden, suchte den Broca-Index zu verbessern, indem er seiner Normalgewichtsrechnung die Messmethode der »proportionellen« Körperlänge in Zentimetern zugrunde legte. Nach Oeder war die »natürliche Länge« gleich der Entfernung des Scheitels von der Fußsohle, die »proportionelle Länge« gleich der doppelten Entfernung vom Scheitel bis zur »Symphysenmitte«, dem Punkt, an welchem die horizontale Projektion des ideellen Symphysenpunktes die Haut der Schamgegend traf. Für Frauen errechnete er eine so komplizierte Formel, dass davon in der Praxis kaum Gebrauch gemacht wurde. Bei Männern lautete seine Formel: Normalgewicht in kg = proportionelle Körperlänge in cm – 100.93 Zu diesen Verfahren gehörte auch die von J. A. Harris und F. G. Benedict entwickelte Formel, mittels derer aus dem Alter (in Jahren), dem Gewicht (in kg) und der Körperlänge (in cm) der 24-stündige Grundumsatz des menschlichen Körpers in Kalorien berechnet werden konnte.94 Isaacs Vergleich der Harris-Benedictschen Ergebnisse mit jenen von Noorden ergab, dass die Zahlen nur eine geringe

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Abweichung voneinander zeigten. Im Anschluss daran fügte er die unterschiedlichen Grundumsatzformeln bei. DuBois berechnete die Körperoberfläche aus Höhe und Körpergewicht: Körperoberfläche = 0,007184 × Gewicht 0,425 × Länge 0,725.95 Eine andere Formel entwickelten Boothby und Sandiford. Sie wurde wie folgt berechnet:96 Körperoberfläche für Männer:

Körperoberfläche für Frauen:

2,75 × Gewicht + Höhe – 15,1 190

5,17 × Gewicht + Höhe + 301 480

Die Ergebnisse der Boothby-Sandifordschen und der DuBoisschen Formel stimmten ungefähr überein, wobei DuBois für das Alter zwischen 20 und 50 Jahren eine Kalorienproduktion pro Quadratmeter Oberfläche und Stunde von 40 Kalorien bei Männern und 37 Kalorien bei Frauen angab. Über die Aussagekraft normierter Idealund Normalgewichte hinsichtlich des Gesundheitszustandes wurde heftig diskutiert. Die Konfusion in Bezug auf die Berechenbarkeit der Fettleibigkeitsgrade anhand mathematischer Formeln führte in den 1920er Jahren zu einer neuen Disziplin, der »Konstitutionsforschung«97, die sich allmählich von strikten Berechnungsformeln zu lösen begann und auch der »Intuition«, d. h. dem persönlichen Ermessen, eine gewisse Bedeutung beimaß.98 Auch Oeder gab dem Leser am Ende seines Aufsatzes, vermutlich wegen des »Formelwirrwarrs«, vier einfache Merkmale zur Diagnostizierung des Ernährungszustandes an die Hand, die mehr auf Intuition als auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierten. Der normale, d. h. gesunde Ernährungszustand eines Menschen war seiner Auffassung nach an der Unsichtbarkeit der Zwischenrippenräume neben dem Brustbein und der Unsichtbarkeit der Zwischensehnenräume am Handrücken, an der Niveaugleichheit von Bauch und Brust in Rückenlage und an einer Fettpolsterdicke von 2–3 cm am Bauch zu erkennen.99 Diese vier Merkmale waren nach Oeder unabhängig von Gewicht und Körperlänge. Alles andere als das Geschilderte galt demnach als krankhaft.

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Rosenfelds Kritik an den Entfettungskuren Neben Ebstein war der Stuttgarter Arzt Georg Rosenfeld ein reger Kritiker der Oertelschen und anderer Entfettungskuren. Er machte es sich zur Aufgabe, die Öffentlichkeit über »Die Gefahren der Entfettungskuren« aufzuklären. Die Oertelsche Methode mit ihrer Reduzierung der Gesamtmenge des Wassers auf ca. 1 000 g pro Tag bei Herzkranken hielt er sogar für lebensgefährlich, weil sie zu einer Albuminurie (überproportionale Eiweißansammlung) oder zu einer Nephritis (Nierenentzündung) mit Todesfolge führen könne. Er kritisierte weiter, weder in den neuesten noch in früheren Experimenten sei nachgewiesen worden, dass der Körper durch alleinige Wasserentziehung Fett verliere. Sie bewirke sogar gerade das Gegenteil, weshalb die Flüssigkeitsentziehung erfolgreich in der Tiermast eingesetzt werde. Außerdem behauptete Rosenfeld, Muskelübungen seien bei einer Entfettungskur durchaus verzichtbar.100 Weitere schwerwiegende Folgen der Oertelschen Methode seien Herzschwäche, nervöse Magenkatarrhe und Schlafstörungen. Außerdem betonte er die Gefahr einer Muskelinsuffizienz des Herzens. Auch alle anderen medizinischen Entfettungsmethoden kritisierte Rosenfeld 1904 in einem Artikel in der »Deutschen ÄrzteZeitung«. Der überwiegende Teil der Fettleibigkeit war seiner Meinung nach auf eine exzessive falsche Lebensweise zurückzuführen und wurde »durch ein Nahrungsübermaß« erzeugt.101 Er listete übersichtlich die neuesten Versuchsergebnisse der Fettforschung auf. Voits Experimente hatten gezeigt, dass die Kohlenhydrate die besseren Eiweißsparer waren: Die Sparwirkung der Kohlenhydrate hatte Voit auf 9–12 % der vorher gegebenen Eiweißration, die der Fette nur auf 6 % berechnet. Ebenso hatten experimentelle Versuche bestätigt, dass bei gleicher Kalorienzufuhr durch Kohlenhydrate ein Stickstoffgleichgewicht erhalten werden konnte, während Stickstoff verloren ging, sobald die Kohlenhydrate durch äquivalente Fettmengen ersetzt wurden. Damit sei erwiesen, dass die Verminderung der Nahrungsfettzufuhr das wichtigste Mittel bei der Reduzierung des Körperfettes sei, da es hierbei ausdrücklich um eine »Entfettung« und nicht um eine »Enteiweißung« gehe. Seit den 1890er Jahren stand in der Entfettungsdiskussion die

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Frage im Mittelpunkt, ob eine Entfettungskur ohne Eiweißverlust überhaupt möglich sei. Der Konflikt spielte sich zwischen Dapper und Noorden auf der einen und Hirschfeld auf der anderen Seite ab. Rosenfeld ging mit der Noorden-Dapperschen Lehre konform, wonach eine Entfettungskur ohne allzu großen Eiweißverlust nur dann zu praktizieren sei, wenn die vorgenommene Gewichtsreduktion keine radikale und zu rapide betriebene sei.102 Hirschfelds Entfettungsmethode sei dagegen eine »Enteiweißungskur«, hieß es in Rosenfelds Artikel, denn bei seinen Stoffwechselversuchen seien in mehreren Fällen große Mengen an Körpereiweiß verloren gegangen. Diese Kritik an der Hirschfeld-Kur ließ sich mit der revolutionären Haltung Hirschfelds gegenüber den Voitschen Ernährungsdogmen erklären. Er ging bei der Abfassung seiner Schriften bereits von neueren internationalen Forschungsergebnissen aus, die den älteren Ansichten widersprachen. Danach stimmte die Annahme, dass eine hohe Eiweißzufuhr eine physiologische Notwendigkeit sei, nicht. In seinen »Grundzügen der Krankenernährung« versuchte Hirschfeld die Aufgaben der Nahrungsmittel nach drei Eigenschaften zu beurteilen: erstens nach dem Nährwert, zweitens nach der Verdaulichkeit und drittens nach dem Geldwert.103 Dabei orientierte er sich vorwiegend an den für die einzelnen Nährstoffe entwickelten kalorischen Werten nach Rubner: Für 1 g Eiweiß errechnete er 4,1 Kalorien, für 1 g Fett 9,3 Kalorien, für 1 g Kohlenhydrat 4,1 Kalorien. Bezüglich der Verdauungsgrade stellte Hirschfeld die folgende Skala auf: Zu der ersten Gruppe der am leichtesten verdaulichen Nahrungsmittel gehörten Milch, Bouillon, weiche Eier, Zwieback, zur zweiten Verdaulichkeitsstufe gekochtes Huhn oder Taube, gekochtes Kalbshirn, gekochte Thymusdrüse vom Kalb, zur dritten rohes gehacktes Rindfleisch oder Schinken, Beefsteak oberflächlich leicht gebraten, Kartoffelbrei, alte Semmeln, Milchkaffee und zur vierten die meisten Fleischsorten gebraten, Rührei, gesottener Hecht, Spargel etc. Als schwer verdaulich wurden vor allem das Schwarzbrot und die Hülsenfrüchte eingestuft. Unter Berücksichtigung der Rubnerschen Untersuchungsergebnisse kam Hirschfeld zu dem Ergebnis, dass das vegetabilische Eiweiß keineswegs minderwertiger sei als das animalische, solange

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der stoffliche Mindestbedarf an Eiweiß gedeckt sei. Die Frage, ob dieses Eiweiß von Vegetabilien oder von Tieren stammte, erachtete Hirschfeld für weniger bedeutsam, denn die Leistungsfähigkeit des Organismus sei nicht vom Eiweißgehalt der Nahrung abhängig. Daher wurde ihm vorgeworfen, er nehme keine Entfettung, sondern eine Enteiweißung vor. Darüber hinaus sollten nach Hirschfeld »die theuren animalen Nahrungsmittel bei Wohlhabenden, die billigen Vegetabilien bei den Aermeren in der Kost die Hauptrolle spielen.«104 Milch und Käse seien weitaus billiger als Fleisch und Eier. Unter den Vegetabilien seien Kartoffeln die billigsten kohlenhydratreichen Nahrungsmittel. Hirschfeld wies deshalb allgemein verbindliche Kostvorschriften zurück. Weder die Eiweißzufuhr noch der Kohlenhydratgehalt sollten genau festgelegt sein, wie dies beispielsweise Voit oder Munk vorschlugen. Nicht allein soziale Verhältnisse sollten bei der Nahrungsauswahl und -zubereitung eine Rolle spielen, sondern auch individuelle, nationale und regionale Gewohnheiten. In vielen Punkten stimmte Rosenfeld der Meinung Hirschfelds zu, nur das Eiweißminimum veranschlagte er höher und ging von einem täglichen Eiweißminimum von 90–100 g für Frauen und 120–130 g für Männer aus. Dabei stellte er die Frage: »Wie ist aber zu verfahren, um größere Einbußen an Eiweiß möglichst auszuschließen?«105 Selbst die reiche Eiweißzufuhr der Bantingkur könne Eiweißverluste nicht vermeiden, und die Idee, die Eiweißmengen der Kost mit zunehmender Entfettung allmählich zu steigern, sei wenig praktikabel, da eine gleichbleibend hohe Eiweißzufuhr vonnöten sei – dies führe wieder zur Polyphagie (Mischkost) und damit weg von der eigentlich entfettenden Wirkung der altbewährten »Fleischdiät«. Damit war die »Eiweißfrage« in der Hauptkost stets an die Frage der Auswahl der »richtigen« Nebenkost gekoppelt. Hirschfeld entschied sich für die Kohlenhydrate als Eiweißsparer in der Reduktionskost und entwickelte deshalb die »Rosenfeldsche Kartoffelkur«, die wie folgt aussah:

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8 Uhr: Tee, Saccharin, ein Kaffeelöffel Milch, 40 g Semmel, Honig, 1 Glas Wasser; 10 Uhr: 10 g Käse, 1 Glas Wasser; 12 Uhr: 6 Backpflaumen, 1 Glas Wasser; 2 Uhr: 2 Glas Wasser, 1 Teller Brühe mit 150 g roh gewogenem Suppenfleisch, 200 g Kartoffeln, Apfelmus; 4 Uhr: Kaffee; Saccharin, 1 Kaffeelöffel Milch; 6 Uhr: Bouillon mit zerquetschten Kartoffeln; abends: Wiener Würstchen mit 200 g Kartoffeln in der Würstchenbrühe, Quarkkäse, Wasser.106

Hierbei handelte es sich um eine ausschließliche Methode der Fetteinschmelzung und nicht um eine auf Wasserreduzierung beruhende Entfettung. Zudem, so Hirschfeld, praktiziere er in letzter Zeit eine »Kaltwasser-Kartoffelkur«, während der er seine Patienten 200 mg Fleisch, Käse und 800–1200 g Kartoffeln essen und kaltes Wasser trinken lasse. Er lehnte ein bestimmtes Diätschema ab und warb für die Vielfältigkeit der Diätschemata in der Entfettungspraxis, denn allein durch Erfahrungsmomente könne man diese wirkungsvoll und individuell präzisieren. Der Eintönigkeit der bisher üblichen »reinen Fleischdiäten« zur Entfettung versuchte er mit seiner »gemischtköstlerischen Kartoffeldiät« zu begegnen. Das Vordringen der Kalorienlehre in die Entfettungstherapie Einen der ersten Diätratgeber, der die moderne Kalorienlehre aufgriff, schrieb Dr. W. Camerer im Jahr 1888. Er berief sich auf die Erkenntnisse Lavoisiers, der bereits im 18. Jahrhundert die Stoffwechselvorgänge als Verbrennungsprozesse erkannt und die Bezeichnung »Kalorie« (von lateinisch »calor«) als Einheit für die Wärmemengenmessung eingeführt hatte.107 Seit der Einführung des Kalorimeters wurde die Kost nicht mehr wie zuvor nach ihrem Eiweißgehalt beurteilt, sondern nach ihrem jeweiligen Kaloriengehalt. Die Einführung der Kalorie als Maßeinheit revidierte beinahe alle vorherigen Dogmen der Ernährungslehre und leitete eine neue Phase des Ernährungsdenkens ein, in der der Wert der Nahrung nicht mehr wie im ursprünglichen Sinne als »Lebens«-Mittel, als Medium zur

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Daseinsgestaltung begriffen, sondern lediglich nach rational messbaren Daten beurteilt wurde. Mit der Einführung des Kalorimeters war es möglich, die in den frühen Diätratgebern meist lapidar als »leichte« oder »schwere« bzw. »nahrhafte« und »nicht nahrhafte« Kost bezeichneten Nahrungsmittel exakt nach ihrem Nährwert zu definieren. Die Willkür in der Wahl der Maßeinheiten hatte bis dahin dazu geführt, dass für die gleiche Größenart in verschiedenen Ländern verschiedene Einheiten galten, die in keinem systematischen Zusammenhang standen. Erst jetzt konnte bei einer gleichmäßig durchgeführten Kur aufgrund der Gewichtsabnahme das tägliche Kaloriendefizit errechnet werden.108 Auf diese Weise war eine präzise Auswahl der für eine Entfettungskur ratsamen Nahrungsmittel möglich, sodass sich beim Diäthalten das Kalorienzählen einbürgerte. Diese Tendenz war freilich erst nach der Jahrhundertwende festzustellen.109 abb23 Auch Camerer erklärte die Entstehung von Fettleibigkeit auf kalorimetrische Weise. Es führe zu Fleisch- und Fettansatz, wenn bei zu großer Zufuhr ein Teil des Brennmaterials unverbrannt im Körper liegen bleibe; bei zu geringer Zufuhr müsse hingegen Körpersubstanz verbrannt werden. Darauf aufbauend beschrieb er den Zustand der »Korpulenz« als »ungewöhnliche Leibesfülle«, der nur mit starker Beschränkung der Kalorienzufuhr begegnet werden könne. Sein Kostmaß berechnete als mittlere tägliche Zufuhr für einen mäßig arbeitenden jüngeren Mann 120 g Eiweiß, 90 g Fett und 350 g Kohlenhydrate (insgesamt 2 600 Wärmeeinheiten). Für ältere Frauen sah er 1 800 Wärmeeinheiten bzw. 70 g Eiweiß, 35 g Fett und 300 g Kohlenhydrate vor.110 Camerer schlug eine gemischte Kost aus gut verdaulicher Nahrung tierischer Herkunft und aus Vegetabilien vor und warnte vor fertigen Diätpräparaten. Er unterschied zwischen mehreren Formen der Fettsucht nach den Kriterien »reine Fettsucht«, »Fettleibigkeit mit Wasseransatz« und »durch Wasseransatz bedingte Herzkrankheiten, Arteriosklerose und Lungenemphysem und Schrumpfniere«.111 Die »reine Fettsucht« behandelte er mit reichlicher Körperbewegung, normaler Getränkezufuhr (ca. 1 500–2 000 ccm Wasser täglich) und einer speziellen Diät aus viel Eiweiß und wenig Fett und Kohlenhydraten. Bei der Therapie der beiden anderen Formen

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Titelblatt des Ullstein-Sonderheftes »Iß gut und bleib schlank!« Quelle: Iß gut (o. J. [um 1926])

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der Fettleibigkeit verordnete er zusätzlich eine starke Getränkebeschränkung. Auch Oertels Wasserentziehung praktizierte er daher als ein geeignetes Entfettungsmittel bei Kreislaufgeschädigten. Die Einführung der Kalorienlehre nach der Jahrhundertwende bewirkte eine Wende in der Ernährungslehre. Eine erste Übersicht über den Kaloriengehalt der gebräuchlichsten Nahrungsmittel gab Erich von Leyden in seinem »Diätbüchlein« 1898. Auch Carl von Noorden und Hugo Salomon nahmen ein Kapitel über »Die Rolle des Kalorienumsatzes in der diätetischen Therapie« in ihr »Handbuch der Ernährungslehre« auf. Seit der Entwicklung der modernen Kalorienlehre gewannen vegetarische Kuren als Reduktionskost zunehmend an Bedeutung. Auch die Nährsalztheorie mit ihrer besonderen Berücksichtigung der Mineralstoffe wurde verstärkt beachtet. Noorden und Salomon unterschieden die »diätetische Schonungstherapie« von der »diätetischen Übungstherapie«.112 Die Schonungstherapie war ursprünglich nur auf den Magen-Darm-Kanal abgestimmt, gipfelte im absoluten Fasten und wurde in dieser schärfsten Form bei Fettsucht angewandt. Dazu zählten die Entfettungskuren mit ihrer allseitigen Einschränkung der Nährwertträger sowie alle Kuren, die die Kost einseitig beschnitten (Durstkuren, Milchkuren etc.). Bei zahlreichen Krankheiten sollte nach der Schonungsdiät als ergänzende Kur die Übungsdiät folgen, um die erkrankten Organe zu größerer Widerstandskraft zu erziehen und sie wieder an höhere Leistung zu gewöhnen. Beide Therapieformen sollten systematisch aufeinander aufbauen. Die Schonungsdiät galt der Wiederherstellung der Gesundheit, während die Übungsdiät mehr prophylaktischen Charakter hatte und den Genesenden mit planmäßiger Schulung abhärten sollte. In ihrer »Allgemeinen Diätetik« zählten Noorden und Salomon alle bis dahin bekannten Entfettungsdiäten auf. Insbesondere die vegetarischen Diätformen behandelten sie äußerst intensiv und sprachen in diesem Kontext von »Unterernährungskuren«. Alle diätetischen Behandlungsmethoden der Fettleibigkeit seien Entziehungskuren, die die Nahrungsaufnahme in das richtige Verhältnis zum Energieverbrauch brächten, bis es zum Gewichtsstillstand komme, oder die Nahrungszufuhr geringer einstellten, als es dem

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Energieverbrauch entspreche, bis es zur Abmagerung komme.113 Ihr später ausführlich beschriebenes Schema der Ursächlichkeit der Fettleibigkeit wandten sie hier schon an. Die Indikationen bei der Auswahl von Entfettungsdiäten sollten erstens mit Rücksicht auf das Herz, zweitens mit Rücksicht auf die Bewegungsorgane und drittens mit Rücksicht auf die äußere Erscheinung vorgenommen werden. Noorden und Salomon begrüßten zwar den beginnenden Schlankheitskult der 1920er Jahre, da er die Vorbeugung gegen Fettleibigkeit unterstütze, verlangten aber, die Entfettungskuren fachmännisch, d. h. unter ärztlicher Aufsicht, vorzunehmen. In ihrer Diätetik trennten sie zwischen drei verschiedenen Stufen der Entfettungsdiät. Auf der ersten Stufe sollte die Erhaltungskost bei jedem Patienten individuell unter Berücksichtigung seiner bisherigen Lebens- und Ernährungsweise berechnet werden, um den Kalorienwert reduzieren und der gegebenen Ernährungsweise anpassen zu können. Je nach Krankheitsfall wurde entweder der Nahrungsüberschuss oder die Anzahl der Mahlzeiten reduziert und in der Regel einmal wöchentlich je ein Milch- oder Obsttag eingeschaltet, sodass es ohne wesentliche Entbehrung und unter Fortführung der gewohnten Berufstätigkeit zu Gewichtsverlusten von durchschnittlich 0,5–1,5 kg pro Monat kam. Die zweite Stufe der Entfettungsdiät umfasste weitgehende Fettbeschränkung, mäßige Kohlenhydratbeschränkung, die wöchentliche Einschiebung eines Milch-Obst- oder Obst-Gemüse-Tages und die Beschränkung von Wein. Zu den Entfettungsdiäten dieser zweiten Ordnung gehörten auch die vegetarischen Diäten, wobei der Patient die freie Auswahl aus sämtlichen pflanzlichen Nahrungsmitteln hatte, sofern sie nicht aus pflanzlichen Fetten und Ölen bestanden und fettarm zubereitet waren. Die zweite Entfettungsstufe war auf eine längere Diätdauer berechnet; falls sie erfolglos blieb, sollte man dem Kostzettel der »Allgemeinen Diätetik« Folge leisten. Bei der dritten Entfettungsstufe kam man ohne genaue Speisevorschriften nicht aus. Hierbei handelte es sich um die Entfettungsdiäten im klassischen Sinn. Die Kuren dritter Stufe durften ausschließlich in Kuranstalten durchgeführt werden, da sie auf einer starken Kalorienreduzierung basierten und wegen der Gefahr des Angriffs körpereigenen Eiweißes einer strikten ärztlichen Kontrolle zu unterliegen hatten.114

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Als Eiweißminimum bei Entfettungskuren schlugen Noorden und Salomon 110–120 g Tiereiweiß pro Tag vor. Dieser Wert solle während der Kur auf 150 g oder sogar 180 g pro Tag gesteigert werden, damit das Körpereiweiß nicht angegriffen werde. Dies gelte sowohl für Männer als auch für Frauen. Sie warnten jedoch davor, dieses Prinzip ohne weiteres auf strenge Entfettungskuren zu übertragen, weil hier der dem Körpereiweiß durch stickstofffreie Nahrung gewährleistete Schutz angeblich nicht ausreiche. Bei geringer Eiweißzufuhr bestehe umso mehr die Gefahr, dass das Körpereiweiß der Zersetzung anheimfiele, je kohlenhydratärmer die Gesamtkost sei. Damit beantworteten sie gleichzeitig die Frage, ob Fett oder Kohlenhydrate der Diätkost beigefügt werden sollten. Sie wollten nur dann eine niedrigere Eiweißzufuhr als die vorgeschlagene zulassen, wenn ein größerer Teil von stickstofffreien Kalorien aus eiweißschützenden Kohlenhydraten bezogen würde. Die Kohlenhydrate waren ihrer Meinung nach in der Entfettungsdiät vorzuziehen. Von Alkoholika galt es laut Noorden und Salomon völlig abzusehen, denn mit ihnen sei ein Entfettungserfolg kaum zu erzielen; sie dürften nur als ergänzende Medikamente eingesetzt werden, und auch dies nur nach genauer ärztlicher Verordnung. Die Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr, wie sie Oertel oder Schweninger vorschrieben, empfahlen sie nur bei Fettleibigkeit in Verbindung mit gleichzeitigen Zirkulationsstörungen. Daran anschließend listeten sie eiweißreiche Diätrezepte mit wenig Fett und Kohlenhydraten, fettarme Kohlenhydratträger und Speisen und Getränke mit sehr geringem Kaloriengehalt auf. Damit hatten sie alle heiklen Fragen, die jahrelang Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen in der »Entfettungsfrage« gewesen waren, in Angriff genommen und mithilfe neuester Forschungsergebnisse überarbeitet. Im Anschluss daran erwähnten Noorden und Salomon die unterschiedlichen, in den 1920er Jahren praktizierten Diätkuren. Zur entfettenden Kost gehörte ihrer Meinung nach die Milchkur, da sie gewichtsmindernd, fettzehrend und kreislaufschonend sei. Ein besonderes Verdienst komme in diesem Zusammenhang F. Moritz zu, der die Milchkur auf alle Formen und Grade der Fettsucht ausgedehnt und ihr schnell zu hohem Ansehen verholfen habe.115 Diese Laktodiät war bei zeitgenössischen Ärzten sehr beliebt, da sie zu-

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hause durchführbar war und auch bei Fettleibigen, die der längeren Bettruhe bedurften, verordnet werden konnte. Eine fünf- bis achttägige Milchkost leitete wegen des angenehmeren Übergangs häufig eine Schlankheitskur ein oder wurde in Form von »Milchtagen« während einer länger andauernden Fastenperiode zwischengeschaltet. Eine bevorzugte Tauglichkeit für Schlankheitskuren bescheinigten Noorden und Salomon auch den vegetabilischen Nahrungsmitteln. Diese hätten ein großes Volumen und sättigten deshalb vorzüglich. Der Kalorienwert des eingeführten Materials sei im Verhältnis zum Volumen gering und vermindere sich dadurch weiter, dass die vegetabilische Nahrung unvollständiger als die animalische ausgenützt werde. Zudem sei eine reichliche Abwechslung unter der großen Gruppe von Vegetabilien möglich, und die Kohlenhydrate seien ebenso wie Nährsalze, Nutramine und Eutonine in ausreichendem Maß vertreten. Daher nahmen Noorden und Salomon einen vegetarischen Kostzettel nach Prof. A. Albu in die Beschreibung der Abmagerungskuren auf.116 In Albus Diät schwankte das Eiweißminimum zwischen 40 und 50 g und wurde z. T. auch auf 60 bis 65 g erhöht. Dies hielten Noorden und Salomon für zu wenig, obwohl Albus vegetarische Entfettungskur nie länger als vier bis sechs Wochen dauern sollte. Sie gaben sich mit der geringen Eiweißmenge der Albuschen Diät nicht zufrieden, während sie die Kaloriensumme übernahmen. Unter Bezug auf die positiven Erfahrungen der alten fleischreichen Entfettungstradition entwarfen sie zwei eigene vegetabile bzw. laktovegetabile Kostvorschläge, eine mildere und eine strenge Form.117 Dabei wollten sie die rein vegetabile Kost durchaus auf mildere Kuren beschränkt wissen. Strengste Kuren lehnten sie mit Bestimmtheit ab, weil sie damit schlechte Erfahrungen gemacht und angeblich eine Reihe von Patienten übernommen hatten, die solche Kuren auf eigene Faust oder in »Naturheilanstalten« durchgeführt hatten. Sie spielten mit dieser Äußerung auf die vegetarischen Diäten der Ernährungsreformer an, die sie auf diese Weise im Schlankheitsgeschäft als Konkurrenz zu diffamieren und auszugrenzen suchten. Im Zusammenhang mit den neueren vegetarischen Diäten erwähnten sie auch die »Rosenfeldsche Kartoffelkur«, die sie aufgrund

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der kochsalzreichen Zubereitung lediglich als Ersatz für die »Karellschen Milchtage« in Form von eingeschobenen, einzelnen »Kartoffeltagen« für eine Schlankheitsdiät eingesetzt wissen wollten. Der periodische Einschub von Karenztagen während einer Entfettungsdiät war ihrer Meinung nach stets ratsam, weil Gewichtsschwankungen, die jederzeit wegen Ungenauigkeiten in den Berechnungen der Speisezettel auftreten konnten, auf diese Weise leichter wieder auszugleichen waren. Sie rieten deshalb zu Milchtagen, Kartoffeltagen, Gemüse- oder Obsttagen oder Kombinationen davon (z. B. Bananentag, Äpfeltag, Erdbeertag, Erdbeeren-Gurken-Tag, Äpfel-Tomaten-Sauerkraut-Tag und Kartoffel-Obst-Tag). »Schnellkuren« lehnten sie prinzipiell mit dem Argument der Verunstaltung des Körpers ab (Runzeln, Schlaffheit der Haut und der Brüste). Sie gestatteten höchstens zwei bis drei Kuren pro Jahr unter zeitlicher Beschränkung auf ca. vier bis sechs Wochen, denn bei jeder Schlankheitsdiät gehe es letztlich um eine dauerhafte Ernährungsumstellung. Begleitet werden sollte diese immer von aktiver Muskelarbeit, Hydrotherapie und Kuraufenthalten. Die »Bergoniésche Entfettungsmaschine« akzeptierten sie nicht, Schilddrüsenpräparate sollten nur in Fettsuchtsfällen mit thyreogenem Einschlag, folglich bei endogenen Ausprägungen, eingesetzt werden. Unter den Medikamenten im Dienste der Entfettungskuren zählten Noorden und Salomon alle bekannten Mittel wie Jodpräparate, Eisenpräparate, Koffein, Atropin, Palladium und andere Schlankheitsmittel und Appetitzügler auf. Diese seien aber mit Vorsicht zu genießen, denn sie enthielten trotz gegenteiliger Behauptungen fast immer eine Schilddrüsensubstanz. Medikamente sollten daher generell nur unterstützend zur diätetischen Maßnahme eingesetzt werden. Ewalds Diätotherapie Unter deutlichem Einfluss der Noorden-Salomonschen Diätetik stand der Berliner Arzt C. A. Ewald mit seiner Monographie »Diät und Diätotherapie«. Er gliederte sein Buch nach der bereits von Kisch bekannten Differenzierung zwischen einer plethorischen und einer anämischen Form der Fettsucht. Im Anschluss daran folgte Quetelets Regel zur Bestimmung des Normalgewichts, wonach

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dieses beim Erwachsenen so viel Kilo betrug, wie seine Körperlänge in cm über 100 lag. Eine Überschreitung des Normalgewichtes um 10–15 % (Oeder: 7,6 %) betrachtete Ewald allgemein als untere Grenze der Fettleibigkeit, obgleich damit noch kein krankhafter Zustand verbunden sein musste.118 Auch er hielt von der schablonenhaften Anwendung diätetischer Maßnahmen, wie sie bisher bekannt waren, im Fall einer vorliegenden Fettsucht wenig.119 Das Fettsuchtbestimmungsschema nach Noorden und Salomon übernahm Ewald vollständig und unterschied zwischen einer »Mastfettsucht« und einer »Konstitutionsfettsucht«. Der These von der Gefährlichkeit der Wasserentziehung als Entfettungsmaßnahme stimmte er ebenfalls zu. Seiner Meinung nach gab es zwei Indikationen für Entfettungskuren: die Entfettung aus ästhetischen und prophylaktischen Gründen und jene zur Vermeidung von gesundheitlichen Folgeschäden des Übergewichts. Eine Entfettungsprozedur dürfe niemals zu schnell, sondern nur allmählich und behutsam durchgeführt werden. Als allgemeine Regel gelte, in leichteren Fällen die Diät auf vier Fünftel, bei beträchtlicherem Fettansatz auf drei Fünftel des Bedarfs herabzusetzen, also beispielsweise statt der für ein Normalgewicht von 70 kg festgesetzten 2 500 auf 2 000 bzw. 1 500 Kalorien. Woraus sich diese Kalorien zusammensetzten, sei gleichgültig, solange nur das Eiweiß, um seine Verluste zu vermeiden, mit 130–150 g daran beteiligt sei und Fett und Kohlenhydrate in Form von Mehlspeisen und Süßigkeiten gegenüber den Gemüsen, inklusive der Kartoffeln, an Menge zurückträten. Wie in einem Repetitorium wiederholte Ewald die Noorden-Salomonschen Grundsätze einer Entfettungsdiät, »daß eine rationelle diätetische Entfettungskur nur mithilfe einer genauen Kalorienberechnung und, wenn irgendmöglich, eines eingehend formulierten Speisezettels durchzuführen« sei, und dass eine laktovegetabile Diät sowie eine geschickte Inklusion von Karenztagen in Form eines Rosenfeldschen Kartoffeltages oder eines Karellschen Milchtages dabei erforderlich seien.120 Auch ausländische Entfettungsprodukte etablierten sich immer mehr. Ewald stellte in seiner Schrift den russischen Kumys und den aus dem Kaukasus stammenden »BurdjukKefir« vor.121 Der Joghurt stieß als Entfettungsnahrungsmittel von medizinischer Seite zunächst auf heftige Kritik. Der Besitzer des

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Berner Laboratoriums für Joghurt- und Kephirbereitung und Reformwarenhersteller Paul Heuberger wandte sich daher mit seiner Schrift »Yoghurt und seine biochemischen und therapeutischen Leistungen«122 ausdrücklich an Ärzte, die sich anfänglich gegen Molke, Kefir und Joghurt aussprachen, da sie das Vorkommen von lebenden Bakterienkulturen im Joghurt aus bakteriologischer Sicht als für die Darmflora gefährlich einstuften. Nach Heuberger demonstrierten praktische Entfettungserfolge gerade das Gegenteil. Seit dem ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts wurden Molke, Kefir und Joghurt verstärkt in der ärztlichen Entfettungspraxis eingesetzt, nachdem Ernährungsreformer diese Produkte eingeführt hatten. Als einzige Neuheit auf dem Gebiet der Reduktionskuren schilderte Ewald die Methode eines gewissen Dr. Golisch aus Bad Rothenfelde, die auf der Überlegung beruhte, dass während der Nachtruhe die in den letzten Stunden des Tages genossenen Speisen in besonderer Weise vom Körper zum Fettansatz ausgenutzt wurden. Deshalb schränkte Golisch die Abendmahlzeit streng ein und konnte damit gute Erfolge erzielen, nach dem Motto: »Schlaf dich schlank!«.123 Ewalds Diätotherapie forderte eine individuelle Schlankheitsdiät. Folglich wurde die Aufgabe des Diätarztes anspruchsvoller und verlangte mehr Aufmerksamkeit.124 Die in der Ewaldschen Diätotherapie enthaltenen Hinweise auf zahlreiche Schriften aus der Periode zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts demonstrierten die enormen Fortschritte auf dem Gebiet der modernen Ernährungswissenschaften, wie der allmähliche Übergang von der bis dahin praktizierten einseitigen Fleischdiät zur ausgewogeneren vegetabilen und laktovegetabilen Diät beweist. Andere ärztliche Therapien gegen das Übergewicht Zu den diätetischen Behandlungsmethoden der Fettleibigkeit gehörte auch das empirische Verfahren des in England und Frankreich üblichen »Entraînement«. Das Entraînement bestand als Entfettungsmethode aus bis zur starken Ermüdung getriebenen

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und mit mächtiger Schweißbildung verbundenen Muskelübungen, Wettlaufen, Wettrennen zu Pferde, Schwimmen, Wettrudern usw., währenddessen nur wenig Flüssigkeit konsumiert werden durfte. Mithilfe dieser Methode konnte angeblich in kurzer Zeit das Körpergewicht reduziert werden. Ein berühmter »Entraîneur« war etwa Maclaren, der folgende Anweisungen gab: Täglich dreimaliges Laufen mit möglichster Schnelligkeit, jedesmal 2–3 Stunden, das erste Mal im nüchternen Zustande. Bei einer dieser Schnellauftouren muß das betreffende Individuum mit Flanell, welcher dazu dient, eine reichliche Schweißabsonderung zu bewerkstelligen, bedeckt sein. Die Mahlzeiten sollen möglichst restringirt [sic!] werden, nur eben genügend, um den Hunger zu befriedigen. Sie sollen aus gebratenem Fleische, welches wohl entfettet ist, aus grünem Gemüse, aus trockenem oder geröstetem Brode in geringer Menge und Thee bestehen. Fetthaltige Nahrungsmittel dürfen nicht genossen werden, und die Getränke sind auf ein Minimum zu reduciren [sic!]; es darf zu jeder Mahlzeit nur etwa 1/4 Liter Thee oder Ale genommen werden. Der Schlaf darf nur 6–7 Stunden dauern. Dabei werden kalte Bäder genommen und zeitweilig Abführmittel gebraucht.125

Kisch bezeichnete das »Entraînement« als verwerflich, da es sich um eine zu energische Entfettungsmethode handele, die eine im Hinblick auf die Erhaltung des Eiweißbestandes ungenügende Ernährung biete und selbst bei vollkommen intaktem Herzen und bei jugendlich-kräftigen Individuen so hohe Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Herzens stelle, dass lebensbedrohliche Gefahren nicht auszuschließen seien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde freilich noch von einem beinahe doppelt so hohen Eiweißminimum ausgegangen wie heute. Von einer sportlichen Aktivität der Fettleibigen während einer Diätkur wurde daher dringend abgeraten. Noch wusste man nicht, dass übermäßige und fehlerhafte Ernährung eine Ursache für die Entwicklung von Herz- und Kreislaufstörungen ist und nicht sportliche Betätigung. Zum »Entraînement« zählte auch die aus Frankreich und England stammende »Jockeydiät« nach Pavy, die sich stark schweißtreibender Mittel bediente, um die Pferdejockeys, die zu schwer geworden waren, möglichst schnell wieder auf ein reglementgerechtes

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Körpergewicht zu bringen.126 Diese Entfettungspraxis basierte hauptsächlich auf dem Effekt von anstrengender körperlicher Bewegung und warmer Wollkleidung, die die Transpiration und damit den Stoffwechsel und die Harnausscheidung über die Haut befördern sollten. Kisch hingegen empfahl körperliche Bewegung nur bei der »plethorischen« Form der Fettleibigkeit. Er sah in der körperlichen Bewegung für Fettleibige einen Nutzen, weil sie die willkürlichen Muskeln in Übung halte und dadurch der Bedrohung der Muskelfibrillen durch das interstitiell wuchernde Fett entgegenwirke, und verordnete seinen Patienten daher methodische Körperbewegungen wie »häufiges Spazierengehen, größere Fußtouren, Bergsteigen, Reiten, Rudern, Schwimmen« sowie gymnastische Übungen. Zum Turnen sei eine zweckentsprechende Muskelarbeit notwendig; es trete hier leicht Ermüdung ein, und die Durchführung dieser Bewegungen erfordere mehr Energie als der Mehrzahl lipomatöser Individuen zur Verfügung stehe, weshalb es nur in Einzelfällen anwendbar sei. Bei der anämischen Form der Fettleibigkeit, insbesondere beim Fettherzen, seien anstrengende Körperbewegungen nicht von großem Einfluss auf den Fettverbrauch und könnten schädlich werden, ja sogar zum Tode führen.127 Zur Bestätigung seiner Aussage führte Kisch ein Fallbeispiel an: den Todesfall des englischen Jockeys F. Archer. Das ideale Körpergewicht für einen Reiter lag damals bei 105 Pfund. Archer nahm drei Jahre lang Abführmittel zu sich und verbrachte die Zeit unmittelbar vor den Rennen im türkischen Bad. Er erreichte zwar ein Körpergewicht von 106 Pfund und gewann den zweiten Platz beim letzten Rennen, verstarb jedoch wenige Tage danach an den Folgen des erschöpfenden Entfettungsverfahrens.128 Schilddrüsenpräparate und »Entfettungsmittel« Um 1913 hatte man anhand klinisch-experimenteller Untersuchungen zur Pathogenese der Fettsucht festgestellt, dass die meisten Fettleibigen aus endogener Ursache fettleibig wurden, dass der respiratorische Stoffwechsel häufig gestört war, dass fast immer das Blutbild im Sinne eines Lymphatismus verändert war und dass nur

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bei der konstitutionellen Fettleibigkeit das Serum verschiedene Drüsen mit innerer Sekretion abbaute.129 Daher wurden verstärkt Medikamente eingesetzt, d. h. die Schilddrüsenfunktionen und inneren Sekretionen sollten durch Seren beeinflusst und so die innersekretorisch bedingte Fettleibigkeit bekämpft werden.130 Der Ernährungswissenschaftler Carl von Noorden schrieb in seinem »Fettleibigkeitsreferat« ausführlich über die Neuentdeckung der hormonellen Steuerungsmechanismen bei Stoffwechselphänomenen.131 Seit dem ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts stand dieses Thema im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Seitdem wurde zwischen »exogener Fettsucht« oder »Mastfettsucht« und »endogener Fettsucht« oder »thyreogener Fettsucht«, die auf einer konstitutionellen Anomalie, dem Überschuss von Hormonen oder dem Ausfall endokriner Drüsen beruhte, unterschieden. Noorden entwarf zu diesem Zweck ein neues Schema zur Unterscheidung der Fettleibigkeitstypen, das wie folgt aufgebaut war: I. Exogene Fettsucht (Mastfettsucht) A. Überfütterungsfettsucht im engeren Sinne. B. Faulheitsfettsucht. C. Kombination von Überfütterungs- und Faulheitsfettsucht. II. Endogene (konstitutionelle, thyreogene) Fettsucht. A. Primäre thyreogene Fettsucht, beruhend auf selbständigen Zustandsänderungen der Schilddrüse, wie Atrophie, Degeneration, funktioneller Schwäche usw., teils angeboren, teils erworben vorkommend. B. Sekundäre thyreogene Fettsucht, d. h. die Funktionsschwäche der Schilddrüse wird ausgelöst durch Fernwirkung von seiten anderer Organe (Gesetz der Wechselwirkung zwischen Drüsen mit innerer Sekretion) […]132

Die endogene oder thyreogene Fettsucht sei auf eine Funktionsschwäche der Schilddrüse zurückzuführen, die auch die physiologischen Oxidationsprozesse reguliere. Unter einer »Überfütterung«, so Noorden, sei nicht nur eine unschöne Gefräßigkeit, maßloses Essen und Trinken zu verstehen; sie beruhe oft auf Anomalien der

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normalen Regulation zwischen dem wahren Nahrungsbedürfnis und dem Magenhunger, also auf einer Triebstörung. Auch die Mastfettsucht führte Noorden auf ein gestörtes Essverhalten zurück. In dieser Phase wurden die Essstörungen zunehmend auch nach psychischen Hintergründen durchleuchtet: Die moderne Ernährungstherapie hat sich ein gutes Stück Psychotherapie zu eigengemacht; und erst dadurch hat sie ihre vollen Erfolge und die nachwirkende Kraft ihrer Methoden erlangt. Darin liegt auch zum großen Teil das Geheimnis der Sanatoriumserfolge [...]133

Beim Begriff »Faulheitsfettsucht« wies Noorden darauf hin, das damit kein Charaktermakel verbunden sei; vielmehr sei »Faulheit« nur ein drastisches Wort für allzu geringe Muskelbetätigung, die häufig genug durch äußere Umstände oder Krankheit erzwungen sei. Allem Anschein nach könnten auch hier Triebstörungen eine maßgebende Rolle spielen. Bei der Mastfettsucht könne ebenfalls zusätzlich auf ein »gestörtes Bewegungsverhalten« geschlossen werden. Das sind Punkte, die sich heute noch in der modernen Adipositasforschung nachvollziehen lassen.134 Deshalb plädierte Noorden verstärkt für den Einsatz von »Schilddrüsenkuren«, wenn sie entsprechend seines Schemas angebracht seien, denn der dauernde diätetische Zwang schien ihm ein größeres Übel zu sein als eine maßvolle, unter ärztlicher Aufsicht durchgeführte Schilddrüsentherapie, obwohl auch damit Risiken verbunden seien. Seiner Ansicht nach gab es jedoch kaum eine Therapiemethode, die keine Gefahren mit sich brachte. Ein neu auf dem Markt eingeführtes Mittel war das von dem Privatdozenten Dr. M. Kauffmann entwickelte »kolloidale Palladiumhydroxydul«, das unter dem Namen »Leptynol« von der Chemischen Fabrik Kalle in Biebrich am Rhein hergestellt und vertrieben wurde. Ein konkurrierendes Präparat, das Kauffmann in seinen Werbeartikeln heftig angriff, bot ein gewisser Tissier an.135 Teilweise wurden diese Präparate während einer Marienbader Diätkur als »Adjuvans« (arzneiliches Unterstützungsmittel) eingesetzt.136 Dass diese kommerziell angepriesenen Entfettungspräparate durchaus nicht immer ungefährlich waren, lässt sich an zahlreichen Pro- und

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Kontra-Zeitschriftenartikeln ablesen. Die »Münchner medizinische Wochenschrift« veröffentlichte deshalb im Jahr 1914 eine »Warnung vor lebensgefährlichen Entfettungsmitteln« und zählte dazu »Salrado«, »Ansy«, »Onadal«, »Resiablätter« und »Boraniumbeeren«, die über die Firmen The Salrado Co. in Hamburg, C. F. Asche & Co. in Hamburg und die Deaborngesellschaften in Berlin vertrieben wurden. Offenbar wurde hier der Versuch unternommen, ein Geschäft mit den Problemen der Übergewichtigen zu machen. Auch Noorden warf den Vertreibern von Entfettungsmitteln bösartige Geschäftemacherei vor. Entfettungsbehandlungen mit Elektrizität Die »elektrischen Entfettungsmethoden« zählten bereits seit den 1880er Jahren zum Behandlungsrepertoire der Fettleibigkeit und wurden vermutlich aus England und Frankreich nach Deutschland importiert. S. Weir Mitchell bezeichnete die Elektrizität als »zweite Heilpotenz der passiven Bewegung« zur Regeneration ruhender Muskeln, die er angewandt habe, um die Muskeln ruhender Personen wieder in Bewegung zu versetzen, nachdem diese selbst wegen ihrer Fettsucht zu schwach dazu geworden waren. Er empfahl sie als wertvolles Unterstützungsmittel seiner Diät, neben der Massage als »erste Heilpotenz passiver Bewegung«. Obwohl die elektrische Behandlung der Fettleibigkeit schon seit längerem bekannt war, wurde in Deutschland erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt darüber diskutiert. Eine Hauptmethode war das sogenannte »Bergonisieren« oder das »Bergoniésche Verfahren«, benannt nach seinem Erfinder Bergonié. Der Nürnberger Arzt Adolf Veith führte das »Bergonisieren« zuerst in Deutschland ein. Es bestand in einer allgemeinen »Faradisierung des Körpers« mit fein abgestimmten elektrischen Stromstößen, die Muskelkontraktionen zwecks Entfettung bewirkten. Diese Stromstöße wurden als völlig schmerzlos bezeichnet, weil sie durch regelmäßig aufeinander folgende elektrische Wellen hervorgerufen wurden, wobei außerdem jedem Stromimpuls noch eine stets gleich lange Ruhepause folgte. Veith benutzte einen Apparat der Firma Reiniger, Gebbert und Schall, der in seinen wesent-

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lichen Bestandteilen dem Originalapparat von Bergonié entsprach und nur in Bezug auf Bequemlichkeit der Lagerung, Stromzuführung und Handhabung abgeändert worden war. Sandsäcke pressten die Elektroden an den Körper und dienten so unter anderem als Arbeitswiderstand. Da die Ausschläge bei den einzelnen Kontraktionen 2 bis 3 cm betrugen, musste, wenn beispielsweise bei 60 Kontraktionen in der Minute der größte Teil der Körpermuskulatur eine Last von etwa 75 kg (durch die belastenden Sandsäcke) ebenso oft um 2 bis 3 cm hob, eine bedeutende Muskelarbeit geleistet werden und ein dementsprechend erhöhter Stoffwechsel stattfinden. Dabei verschwanden sogar Fettablagerungen am Herzen.137 Dennoch stieß der »Bergonié-Apparat« zunächst auf wenig Verständnis. Viele Mediziner griffen ihn heftig an, so beispielsweise der Wiener Professor Dr. Gustav Gärtner, der seine entfettende Wirkung bezweifelte und statt dessen diätetische Entfettungsmaßnahmen bevorzugte.138 Er kritisierte die Anschauungen Bergoniés und bezeichnete seine Apparaturen als »Auswüchse der Geschäftsrührigkeit« mancher Ärzte. Ein weiterer scharfer Kritiker war Ludwig Roemheld, leitender Arzt an einem Sanatorium für innere und Nervenkrankheiten. Auch er warf den Herstellern dieser Apparate in erster Linie übertriebene Profitsucht vor.139 Ebenso sprach Noorden den »Entfettungsmaschinen« ihren fettreduzierenden Wert ab. Er bezog sich dabei auch auf die Kritik Roemhelds und bestätigte dessen Ansicht, dass das Bergoniésche Verfahren bei manchen Indikationen brauchbar sei, aber gerade nicht im Falle einer Entfettung. Weitere elektrische Entfettungsbehandlungen wurden von F. Nagelschmidt, A. Schnée und Carulla beschrieben. Die einzigen Unterschiede, die zwischen diesen elektrischen Entfettungsverfahren bestanden, waren die unterschiedlichen Stromarten. Während Bergonié für seine Heilzwecke faradischen Strom benutzte, therapierte Nagelschmidt mit Lecuschem Strom, und Dr. Schnée bediente seinen sogenannten »Degrassator« mit Kondensatorenladungen.140 Der Arzt Curt Pariser warnte bereits 1926 in seinem Buch über die Homburger Diäten vor »Gewaltkuren« und »Gewichtsrekorden«, die zu lebensgefährlichen Übertreibungen beim »Hungern« führten. Aus diesem Grund lehnte er die Anwendung einer Entfettungskur in ambulanter Behandlung ab und erlaubte sie nur in Sa-

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natorien. Eine langsame und dauerhafte Behandlungsmethode sei erfahrungsgemäß effektiver als eine kurzfristige und schnelle, weil die Diätziele oft zu hoch gesteckt seien. Gerade die medikamentösen und elektrischen Entfettungsmethoden bei Schlankheitskuren brachten beachtliche Nebenwirkungen mit sich, weshalb man sich auch alternativen Schlankheitsdiäten zuzuwenden begann. Doch in den beiden Entfettungszentren Marienbad und Karlsbad experimentierte man offenbar durchaus mit solchen diätergänzenden Kombinationsverfahren der Entfettung. Die Mineralwasser- bzw. Brunnenkuren in Karlsbad, Marienbad und Homburg In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten zu den Maßnahmen zur Beseitigung der Fettleibigkeit neben den »Bäderkuren« die »Brunnenkuren« oder »Mineralwassertrinkkuren«, insbesondere in Karlsbad und Marienbad. Die kohlensauren Alkalien ihrer Mineralwässer beschleunigten angeblich die Zersetzung der Respirationsmittel durch den Sauerstoff und beförderten dadurch einen Abbau des Fettes und damit sein Verschwinden. Karlsbad oder Marienbad wurden deshalb auch spöttisch als »Wallfahrtsort der Dicken« oder als »Mekka aller Feisten« bezeichnet.141 Die angeblich degenerierte, geistig arbeitende Oberschicht und der »gesunde« Mittelstand sollten sich hier von figürlichen Formentgleisungen und »Schmerbäuchen« befreien, Unterhaltung finden, Kontakte knüpfen und sich sportlich betätigen.142 Die offizielle Kursaison dauerte von Mitte Mai bis Ende September. Der gemeinschaftliche »Kurzwang« sollte den Heilerfolg garantieren, denn ein Abweichen von der strengen Diät war sonst kaum zu vermeiden. In den lokalen Gasthäusern wurden nur kurgerechte Menüs angeboten und serviert.143 Zahlreiche Schriften aus den beiden Kurorten beschrieben die wichtigsten Punkte der Diätetik während des Kuraufenthalts.144 Ein Marienbader Speisezettel bot folgende Gerichte:

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Zum Frühstück sind geeignet: Kaffee mit Milch oder Milch allein, Chocolade, Cacao, leichte Bier- oder Weinsuppe oder eine Tasse Bouillon mit und ohne Ei, selbst in manchen Fällen Thee nebst etwas nicht fettem Gebäcke, diess Alles jedoch nach Wahl und Bestimmung des Badearztes. Gabelfrühstücke sind durchwegs nicht gestattet. Zu Mittag sind angezeigt: eine nicht fette Suppe mit Gries, Reis, Graupen, Sago, zartes Fleisch, Wild, Geflügel, Häring, Hecht, Forellen, lockere, nicht fette Mehlspeisen ohne Hefe, junge grüne Gemüse, endlich süsse Compots [...] Zum Getränke diene gewöhnlich Wasser, jedoch ist auf Verordnung des Arztes auch ein leichter, nicht saurer Franken- oder Rheinwein, die böhmischen Weine von Melnik, Czernoczek, der Champagner gestattet, zuweilen auch ein gut ausgegorenes Bier. Des Abends soll in der Regel nicht viel genossen werden, Suppe, etwa leichter Braten, Geflügel, Compot.145

Als schädlich befunden wurden nach damaliger Überzeugung Essig, Öl, Butter, Käse, Roggenbrot, harte Eier, Schweinefleisch, geräuchertes Fleisch, Würste, Gänse- und Entenbraten, Aal, Seefische, Salat, Schwämme, Rettich, grobe Hülsenfrüchte, Kohlgemüse, rohes Obst, Melonen, insbesondere Erdbeeren. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen durfte teils animalische, teils vegetabilische Nahrung bei gleichzeitiger Nutzung der Brunnen genossen werden. Entscheidend war dabei nur die »Einfachheit und Mässigkeit in der Nahrung« als Hauptbedingung, die »man strenge zu beobachten und den Anordnungen der Brunnenärzte hierin pünctlich Folge zu leisten« habe.146 Ergänzend galten die Heiterkeit und Ruhe der Seele, das Freisein von Sorge, Berufspflichten und »Gemüthsaufregungen« und die Vermeidung des geschlechtlichen Genusses als unerlässliche Bedingungen zur erfolgreichen Durchführung einer Kur. Dem psychologischen Aspekt wurde damit bereits hohe Beachtung geschenkt. Die Karlsbader Brunnenkur gewann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgrund des Vorkommens von schwefelsaurer Soda, kohlensaurem Natron und salzsaurer Soda schnell an Bedeutung. Die Karlsbader Heilwässer wurden als Arzneimittel genau dosiert, zu bestimmten Tageszeiten und in vorgeschriebenen Zeitabstän-

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den verabreicht und ihre Wirkungsweise ärztlich überwacht und dokumentiert. Die Menge des Mineralwassers, die zu trinken war, bestimmte allein der Arzt. Das Wasser wurde morgens in der Regel nüchtern genommen und musste in kleinen Portionen und in Zwischenräumen von etwa 15–20 Minuten getrunken werden. Eine unerlässliche Bedingung für den Entfettungserfolg der Kur war, wie der Karlsbader Brunnendoktor Sorger berichtete, die Kombination mit einer zweckmäßigen Diät. Seine diätetischen Regeln wurden als »Evangelium des Körpers« oder »Sanitätspolizei«, der Heilkundige als »Körperentwicklungspfleger« bezeichnet, sodass hier erste Anzeichen eines veränderten Gesundheits- und Körperbewusstseins erkennbar wurden.147 Er versuchte als Anhänger der Naturheillehre im Konflikt zwischen alternativen Diätreformern und Wissenschaftlern zu vermitteln, indem er beiden Seiten Verdienst an der Diätetik zusprach, blieb mit diesen Bemühungen jedoch offenbar erfolglos. Sorger erläuterte zunächst die hauptsächliche Wirkungsweise des Karlsbader Heilwassers. Die schwefelsauren Mineralwässer besäßen eine aktivierende Wirkung auf das Muskelnervensystem und förderten die Sekretion und Exkretion. Das kohlensaure Natron strebe danach, sich mit Wasser, Säuren, fetten und wahrscheinlich anderen organischen Stoffen zu verbinden bzw. die Ausscheidungen über Haut und Nieren zu beschleunigen. Die salzsauren Sodawässer wirkten auf die Schleimhäute und Drüsensysteme und unterstützten somit die bei physiologischen Umwandlungsprozessen der Nahrung wichtigen Sekretionen. Auch das Wasser im Körper habe die Funktion eines allgemeinen Lösungsmittels bei den Exkretionen, sodass bei Sorger der übermäßige Mineralwassergenuss im Gegensatz zur Oertelschen Wasserentziehung stand.148 Mit den anschließenden »Regeln bezüglich der Functionen des physischen Lebens« und den »Regeln bezüglich der Functionen des psychischen Lebens« folgte Sorger einem ganzheitlichen Krankheitskonzept, das den Menschen als aus Leib und Seele bestehendes Wesen begriff, wie es in jener Zeit nur in der Naturheilkunde üblich war.149 Nach den Gesetzen bezüglich des physischen Lebens sollten alle Speisen aus frischen, unverdorbenen Substanzen bereitet, weich gekocht oder gebraten, ohne würzige oder fette Zutaten und frisch bereitet sein. Der Speisezettel gestaltete sich wie folgt:

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Zu den erlaubten Fleischarten zählten Rind-, Kalb-, Lamm- oder Ziegenfleisch, Hasen-, Reh- oder Hirschfleisch, wildes oder zahmes Geflügel. Vegetabilien schätzte Sorger wegen ihres Gehaltes an pflanzlichen Eiweißen, Fibrin und Kasein. Allerdings wählte er sie sorgfältig aus, da sie häufig schwer verdaulich seien und deshalb den Prozess der Verdauung erschweren könnten, denn einen je »grösseren Widerstand die Speisen dieser Auflösung entgegensetzen, […] desto länger dauert die Verdauung.«150 Zu den gestatteten Vegetabilien gehörten Spargel, Blumenkohl, Spinat, Möhren, junge Erbsen, Kompott von getrockneten Früchten, Brunellen, Pflaumen, Äpfel, Birnen, Kirschen, dann leichte, nicht zu fette Mehlspeisen mit Semmel, Reis, Sago, Grütze und Äpfeln bereitet. Im Gegensatz zu den Vollkornpropagandisten empfahl Sorger weißes, leichtes, nicht zu fettes Weizenbrot. Auffällig an der Karlsbader Diät war, dass sie nicht auf einer hauptsächlichen Fleischkost aufbaute, sondern den Verzehr von Gemüse und Obst vorsah. Sie verstieß damit gegen die in dieser Periode noch herrschende Liebigsche Fleischtheorie, nach der das pflanzliche im Vergleich zum tierischen Eiweiß minderwertig war. Sorgers vegetabilisierte Fleischkost stellte in der Entfettungspraxis der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Ausnahme dar. In Opposition zu Ebstein warnte er vor dem Nährstoff Fett und riet dringend von einem zu hohen Fettgenuss ab. Als diätetischer Leitfaden galt generell Mäßigkeit, auch bei qualitativ hochwertigen Speisen. Bier- und Weingenuss gestattete er den Kurgästen, aber nur in mäßigen Mengen, und machte genaue Angaben über die Beschaffenheit des Bieres und Weines. Die Biere sollten »mässig braune, leichte, abgelegene, aber auch nicht zu alte und säuernde Biere« sein. Die Weine dürften wegen der Gefahr der Übersäuerung und des hohen Alkoholgehaltes »nicht zu sauer und nicht zu feurig« sein. Alle anderen alkoholischen Getränke waren strikt verboten. Kaffee, Tee und Schokolade hingegen durften als Verdauungsanregungsmittel genossen werden, allerdings nur in Maßen. Der körperlichen Bewegung an frischer Luft schrieb Sorger eine fördernde Wirkung auf die inneren Lebensprozesse zu und berief sich dabei auf die Forschungen der neueren Physiologen. Demnach gehe mit dem Atmen eine »lebendige« Zufuhr des Sauerstoffes aus

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der Luft einher. Auf diese Weise erziele man eine bessere Oxidation des Eisens der Blutkügelchen und eine ausgiebigere Ausscheidung der Kohlensäure aus dem Blut. Beides sei von großer Bedeutung für die innersten Lebensvorgänge. Mäßigung sei nicht nur eine diätetische Tugend, sondern auch eine ethische Verpflichtung eines jeden Menschen. Jede gefühlsmäßige Erschütterung des Patienten im Verlaufe eines psychischen Umstimmungs- und physischen Umsetzungsprozesses während der Karlsbader Kur sollte vermieden werden, da sie sich in der Heilungsphase verhängnisvoll auswirken könne.151 Es wurde damit Askese auf allen Gebieten gefordert. Bereits in diesem 1853 veröffentlichten Buch erscheint Affektkontrolle als unausweichliche Vorbedingung für die Disziplinierung der körperlichen Triebe. Umgekehrt wurde anhaltende Heiterkeit für den Karlsbader Heilerfolg als ausschlaggebend angesehen. Amüsement im Sinne von Unterhaltung galt während eines Karlsbader Kuraufenthaltes als »Balsam für die Seele«. Sorgers Diätetikführer endete mit einem Anhang über die Hydrotherapie, die unausweichlich zur Karlsbader Entfettungskur dazugehörte. Die anschließenden Badekuren bewirkten nach Auskunft des Karlsbader Badearztes Buxbaum die Ausschwemmung von Stoffwechselschlacken, die Regelung der Darm- und Magentätigkeit, die Beeinflussung der Plethora, die Beeinflussung der harnsauren Diathese und Gicht und schließlich Glykosurie.152 Das böhmische Karlsbad als »Mekka der Feisten« war damit ein Ort der praktischen Umsetzung für die ärztlichen Entfettungsdiäten, die mit hydrotherapeutischen und anderen medizinischen Methoden kombiniert wurden. Konkurrierende Reformdiäten wurden aber ausschließlich in Naturheilsanatorien praktiziert. Marienbad hingegen galt als »Wallfahrtsort der Dicken«, die in Massen dort hinpilgerten. Vor allem seit den 1890er Jahren nahmen die Besucherzahlen erheblich zu. Dies war unter anderem auf die neue Reformmode und insbesondere die Ablösung des steifen Fischbeinkorsetts durch die elastischeren Reformkorsetts zurückzuführen, die nicht mehr ausreichten, um »Körperspeck« im Hüft- und Bauchbereich einfach einzuschnüren. Das adlige Schlankheitsideal wurde in dieser Epoche in erster Linie von gut betuchten Familien des Bürgertums aufgegriffen. Anderen Schichten war es kaum mög-

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lich, in Marienbad, Karlsbad oder einem anderen Entfettungsbad eine Kur anzutreten, denn dies war ein kostspieliges und zeitaufwändiges Unterfangen. Von der Kurtaxe befreit waren nur königliche Offiziere in und außer Dienst, Beamte, Ärzte und deren Angehörige. Jede Benutzung der Bäder musste separat gezahlt werden, und es fielen zusätzliche Kosten für Equipagenmietung, Theater und andere Veranstaltungen an. Aber Übergewichtsbekämpfung war auch ein Bildungsproblem. Gerade in einfacheren Volkskreisen, besonders auf dem Lande, wurde die Körperfülle noch mit »stämmig«, »kräftig«, »wohlgenährt« usw. umschrieben. Aufklärungsschriften zur Übergewichtsproblematik setzten sich erst langsam durch. Ein Sanatoriumsaufenthalt war nicht für jeden Fettleibigen finanzierbar, weshalb die Naturheilführer entsprechende Aufgaben bei den weniger privilegierten Schichten zu übernehmen hatten. Das Schlankheitsideal blieb zunächst ein schichtspezifisches und bildungspolitisches Phänomen. Erst ab 1910 begann sich der moderne Schlankheitskult als allgemeiner Modetrend durchzusetzen. Der Marienbader Brunnenarzt Enoch Heinrich Kisch gab um 1900 einen Kurführer zu den berühmtesten deutsch-böhmischen Bädern des ausgehenden 19. Jahrhunderts heraus, in dem er als Aufgabe eines Brunnenarztes definierte, in der Ernährung eine geeignete Auswahl und Mischung der Nährstoffe vorzunehmen. Im Fall zu großer Magerkeit sollte eine »Überernährung«, im Fall der Fettleibigkeit eine »Unterernährung« stattfinden. Zur Abmagerung sollte der behandelnde Arzt auf einen größeren Fettverbrauch und eine Förderung des Eiweißansatzes in Form von Muskelfleisch abzielen und die Kost nach dem durch die Erkrankung geänderten Bedürfnis des Organismus bestimmen. Dabei durfte sich der Brunnenarzt nach Kisch nicht mit einem schablonenhaften Verbieten gewisser Speisen und Getränke begnügen.153 Kisch bezeichnete Marienbad als einen wahren »balneologischen Mikrokosmos«, weil auf kleinem Terrain die stoffreichsten bekannten alkalisch-salinischen Quellen sprudelten, die sich durch hohe Wärmegrade oder Kombinationen von Salz- und Eisenverbindungen auszeichneten. Neben den geographischen Vorteilen, dem Vorkommen der eben erwähnten Quellen, dem Höhenklima und der Reinheit frischer Waldluft hob Kisch

Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib«

die balneotechnisch hervorragend ausgerüsteten und hygienischen Einrichtungen der Kuranstalten hervor. Marienbad sei für einen Entfettungskurort prädestiniert und regelrecht ein Prototyp – wegen der kräftigsten und sämtlich kalten Glaubersalzwässer, vereint mit reinen Eisenwässern, dem Ensemble von kohlensaurereichen Säuerlingsbädern, Eisenmoorbädern, Salzbädern, Dampfbädern und Gasbädern und dank der Höhenlage des Ortes in waldreichen Bergen mit einer großen Auswahl an ansteigenden Spazierwegen. Die Marienbader Trinkkur eigne sich für die Behandlung aller Arten der Fettleibigkeit, sowohl der angeborenen Form als auch der »Mastfettleibigkeit«, welche durch übermäßiges Wohlleben, fehlerhafte Ernährung und ungenügende körperliche Bewegung entstehe, jener Fettleibigkeit, die in den Wechseljahren der Frauen zum Tragen komme, und der Kombination aus Fettleibigkeit und Gicht, reichlicher Harnsäurebildung sowie Blutstockungen im Unterleib.154 Kisch versuchte, die therapeutische Wirkung der Marienbader Wässer mit allen bis zu diesem Zeitpunkt gemachten Experimenten wissenschaftlich zu belegen. Seegen hatte Stoffwechseluntersuchungen unter Anwendung der Marienbader kalten Glaubersalzwässer durchgeführt und festgestellt, dass durch kleine Gaben Glaubersalz die Stickstoffausscheidung über die Nieren beschränkt wurde. Er sprach die Ansicht aus, dass diese Salze den Fettumsatz sogar noch steigern könnten. Voit vertrat im Gegenteil die Meinung, dass schwefelsaures Natron eine vermehrte Wasserausscheidung und vermehrten Eiweißzerfall bewirke. Andere Forscher wie Jacques Mayer fanden heraus, dass beim Gebrauch des schwefelsauren Natrons die Zersetzung der stickstoffhaltigen Substanzen tierischer Produkte verringert wurde und diese Ersparnis im Eiweißgehalt im direkten Verhältnis zur eingeführten Salzmenge stand.155 Zuntz und Mering behaupteten, dass durch die Zufuhr von Salzlösungen die Sauerstoffaufnahme und Kohlensäureausscheidung sowie proportional die Fettverbrennung gesteigert werde. Ebenso meinte Loewy, »daß salinische Abführmittel, insoferne es zu einer verstärkten oder beschleunigten Peristaltik komme, eine Erhöhung des Gaswechsels, Zunahme der Kohlensäureausscheidung und des Sauerstoffverbrauchs herbeiführen«156, sodass eine vermehrte Fettzersetzung stattfinde.

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Während die Glaubersalzwässer vorzugsweise für die plethorische (blutreiche) Form der Lipomatosis empfohlen wurden, eigneten sich für anämische (blutarme) Fettleibige vor allem die reinen Eisenwässer. Zur Unterstützung der entfettenden Trinkkur dienten heiße Mineral- und Kohlensäurebäder und Bewegungskuren in Form von ausgedehnten Spaziergängen in Waldgebieten und auf Gebirgshöhen. Zur Marienbader Diätpraxis gehörten die Bantingkur, die Ebstein-Kur und die französische Tradition der Entfettungskuren nach Schindler oder Gollmann. Eine exakte Beschreibung der Marienbader Diät lieferte Kisch in seinem »Tisch für Fettleibige«. Darin kritisierte er die früheren Entfettungsversuche mit drastischen Medikamenten. Seiner Meinung nach war eine Entfettung ausschließlich mit einer zweckdienlichen Diät zu erreichen: Sie sei »einer der mächtigsten Hebel der ärztlichen Technik«157, weil sie bei Tag und Nacht wirke und sich ihre Wirkung jedes Mal erneuere. Kisch wehrte sich gegen den Vorwurf, dass die Auswahl eines bestimmten Kurortes mit einer ganz bestimmten Diät verbunden sei. Es gebe keine besondere Diät in den Kurorten, sondern nur jeweils eine Spezialdiät für eine besondere Krankheit. Dabei vertrat er die folgenden Diätgrundsätze während einer Trinkkur mit den Glaubersalzwässern: Jedes Übermaß in der Zufuhr von Nahrungsmitteln sollte vermieden werden. Das Hauptgewicht wurde auf eine ausreichende, dem Ernährungszustand, dem Alter, der Größe, der Beschäftigung und den Gewohnheiten entsprechende Eiweißzufuhr gelegt. Dabei durfte nur eine mäßige Menge Kohlenhydrate genossen werden, und die Fettzufuhr wurde auf ein Minimum reduziert. Die Flüssigkeitszufuhr wurde nicht beschränkt, geeignete Getränke waren mit Ausnahme des Alkohols nach Bedarf gestattet. Nur während der Mahlzeiten sollte wenig oder gar nichts getrunken werden. Der Körper wurde mit besonders sorgfältiger Berücksichtigung des Zustandes des Mastfettherzens methodisch trainiert, die Dauer des Schlafens herabgesetzt, der Stoffwechsel durch Bäder mit niedrigen Temperaturen und kalten Abreibungen angeregt.158 Eine Diät sollte nach Kischs Ansicht nie getrennt von einer Mineralwasserkur betrachtet werden. Die damals übliche Bantingdiät verurteilte er als zu einseitig und veraltet, weil zu dieser Zeit bereits

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neuere Ergebnisse zu den Ernährungsvorgängen vorlagen, wonach alle drei Nahrungsstoffe als Fettbildner in Frage kamen. Eine Entfettung konnte demnach nur unter Berücksichtigung der Energiebilanz erfolgen, d. h. es durfte nicht mehr zugeführt werden, als zur Erhaltung der Körpersubstanz unbedingt nötig war. Schon um 1890 beklagte sich Kisch über die »Entfettungssucht«, die manche Frauen und Mädchen ergriffen habe.159 Offensichtlich wurden die Entfettungsärzte bereits damals mit dem Problem von Essstörungen konfrontiert. Eindringlich warnte Kisch vor dem Griff zu gefährlichen Abführmitteln und Entfettungspillen, die in Anzeigen als wahre »Geheimwaffen« im Kampf gegen den Fettleib gehandelt wurden. Er betonte, dass nur eine schonende Diät den Normalzustand des Körpers ungefährlich und langsam wiederherstellen könne. Auch sei jede starke und monotone Nahrungsbeschränkung, wie z. B. die Bantingkur oder Milchdiät, abzulehnen. Für Kisch waren die drei Gebote der Abmagerung eine mäßige und genaue Regelung der Diät, der körperlichen Bewegung und des Schlafes. Blutarme und herzschwache Fettleibige sollten keine anstrengenden Bergtouren unternehmen. Er kritisierte die anstrengenden Muskelbewegungen der »Oertelschen Terraincur« und empfahl eine Luftkur im Mittelgebirge.160 Bei der Regulierung der Diät hielt er wie viele andere Mediziner an der Theorie der Vorherrschaft des tierischen Eiweißes fest. Er schrieb individuelle Speisepläne vor, abgestimmt auf die bisherige Lebensweise seiner Patienten. Dabei unterschied er zwischen blutarmen und blutreichen Fettleibigen. Fettleibigen mit guter Blutbeschaffenheit und kräftiger Herztätigkeit gestattete er, ihrem Durstgefühl entsprechende Wassermengen zu trinken. Blutarme Fettleibige durften nicht so viel trinken wie blutreiche; darüber hinaus verwarf er die Entfettungsmethode der Wasserentziehung, weil die Gefahr von Stauungen der Auswurfstoffe im Körper und einer Überladung der Gewebe mit denselben bestehe. Somit schien der Konflikt um die Frage, ob Fett oder Kohlenhydrate zu bevorzugen seien, entschärft zu sein. Voit hatte dank seiner neuesten Versuche belegt, dass die wichtigste Quelle des im Körper abgelagerten Fetts das mit der Nahrung aufgenommene Fett war. Aber auch die Kohlenhydrate gehörten zu den Fettmachern. Da

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Kisch von einer zu einseitigen Unterernährung abriet, entwickelte er eine Diät, die »derartig sein müsse, daß sie eine gemischte sei, sodass die Nahrungsmittel vorwiegend Eiweiß, geringe Mengen Kohlenhydrate und Leimstoffe und nur äußerst wenig Fett enthalten«.161 Trotz der empfohlenen Mischkost sollten nach Kisch die Fleischspeisen den Hauptbestandteil des Speisezettels für Fettleibige ausmachen. Nach damaliger ernährungswissenschaftlicher Auffassung enthielten Gemüse einen beträchtlichen Wasseranteil und nur geringe Mengen an Eiweißstoffen, weshalb sie keinen großen Nährwert besäßen. Sie wurden darum lediglich als schwer verdauliche Beikost betrachtet. Der Genuss frischen Obstes war dagegen gestattet, weil es reich an Pflanzensäuren war, nicht zu viel Zucker und Fett enthielt und ihm eine verdauungsfördernde Wirkung nachgesagt wurde.162 In Kischs Diät waren Rind-, Hammel- und Lammfleisch, Wild, Geflügel, Fisch- und Meerestiere, ferner Eier in geringer Menge, Gemüse und Obst sowie in geringer Menge Kornbrot erlaubt. Als Getränke durften Wasser, Säuerlinge, Mineralwässer, Tee, Kaffee, Zitronenlimonade, Buttermilch, magere Fleischbrühe und in mäßigen Mengen Rot- oder Apfelwein getrunken werden. Die »Homburger Diäten« waren um die Jahrhundertwende von Brunnenärzten erstellte praktische Diätschemata, denen bestimmte Krankheitsbilder zugeordnet wurden, sodass sie zur allgemeinen Richtschnur bei der ärztlichen Diätverordnung in der Praxis, im Krankenhaus und in Sanatorien wurden. Demnach gab es fünf Diätkostformen mit Unterabteilungen:

– Die erste Diätform war für Patienten mit chronischem Magenkatarrh oder Magenreizerscheinungen gedacht. Sie war eine chemisch, mechanisch und thermisch milde, reizlose Kost. Die Zuführung von stark gewürzten Speisen, schwer verdaulichen, zähen Fleisch- und groben Pflanzenfasern sowie minderwertigen Speisefetten sollte vermieden und von der Überfüllung des Magens mit zu reichlichen Mahlzeiten abgesehen werden. – Die zweite Diätform enthielt möglichst wenige Reizmomente und wurde bei chronischen Darmkatarrhen mit anhaltenden Diarrhöen verordnet. Wiederum sollten stark gewürzte Speisen, Fleisch und grobe Pflanzenfasern in schwer verdaulicher Form,

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ferner die Entstehung starker Kohlenhydratgärungen, die Zufuhr minderwertiger Speisefette sowie reizender Säuren und die Überfüllung des Magens durch zahlreiche Mahlzeiten und thermische Reize vermieden werden. – Die dritte Diätform war schlackenreich und derb, da sowohl die in der Nahrung enthaltenen mechanisch-diätetischen als auch die chemisch-diätetischen Reizmittel die Verdauung befördern sollten. Diese Diät wurde im Fall chronisch-konstipierter Patienten verschrieben. Leitende Gesichtspunkte waren »die Zuführung von Gemüsen, Kompott, Salat, derben Fleischsorten, Säuren, des Obstes, der Milch (Dickmilch, Buttermilch), der weissen Weine, ferner von Zucker und kohlensauren Wässern.«163 – Die vierte Diätform war eine spezielle Diabetikerkost, bei der Zucker (gesüßt wurde mit Saccharin) und Mehlsubstanzen verboten waren. Im Einzelfall durfte jedoch eine vom Arzt bestimmte Menge Brot, Kartoffeln, mehlhaltige Gemüse und sonstige mehloder zuckerhaltige Gerichte verzehrt werden. Großes Gewicht wurde dabei auf die Zuführung von Fleisch, guten Fetten, Gemüsen und von mittleren Mengen guten zuckerfreien Weines gelegt.164 – Die fünfte Diätform nannte sich Entfettungs- bzw. Schlankheitsdiät. Hunger- oder Durstgefühle durften nicht auftreten, die Zuführung von Fettbildnern und Flüssigkeit sollte möglichst vermindert werden, dagegen wurden mehr Eiweißträger empfohlen. Die Zubereitung der Speisen sollte leicht und gewürzarm sein, um keinen starken Durst zu erregen; auch Salzarmut der Kost wurde im Interesse einer Entwässerung der Gewebe empfohlen.165 Der Homburger Arzt Curt Pariser erklärte in seinem »Praktischen diätetischen Kochbuch« seine Entfettungstheorie. Es gehe ihm darum, den Körper in eine »stete Unterbilanz« zu bringen. Dies geschehe in erster Linie durch Verminderung der Einnahme (Zufuhr einer geringeren und wenig fettbildenden Nahrungsmenge) und in zweiter Linie durch Erhöhung der Ausgabe (gesteigerte Muskelarbeit und wärmeentziehende Wasserprozeduren). Pariser korrigierte den Ausdruck »Entfettungskur«, der seiner Meinung nach

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nicht präzise genug das eigentliche Therapieziel beschreibe, denn was man mit einer solchen Kur erreichen wolle, sei eine Gewichtsreduktion.166 Er schlug deshalb vor, von einer »Reduktionsdiät« zu sprechen. Diese Diätkuren bei Fettsucht seien aber nur in Fällen von »Luxuskorpulenz« oder einfacher »Mastkorpulenz« anwendbar. Bei der Korpulenz aus Anlage, der »konstitutionellen Fettsucht«, verursacht durch eine Unterfunktion gewisser Drüsen, reichten rein diätetische Maßnahmen nicht aus. Eine dritte Gruppe der Korpulenten bestehe aus Mischfällen, d. h. ein Teil der Krankheit beruhe auf Veranlagung und ein anderer Teil auf Mastfettsucht. In solchen Fällen könne ausschließlich die Mastfettsucht mithilfe einer Schlankheitsdiätkur bekämpft werden. Der Fortschritt der Ernährungswissenschaften wurde in den Homburger Diäten sichtbar, indem man sich allmählich von der Vorherrschaft des Fleisches löste und die vegetarische Diät in die Kostvorschriften aufnahm. Plötzlich ließen sich darin ovolaktovegetabile Speisezettel finden, wie z. B. dieser: –

7–7½ Uhr 1. Frühstück: 200 ccm Milch mit Tee- oder Kaffeegeschmack.



10½ Uhr 2. Frühstück: 200 ccm Milch mit Tee. Kopfsalat mit Zitrone bereitet



1–1½ Uhr Mittagbrot: Gemüse: Spargel oder Artischocken oder Haricots

oder etwas Obst (100g). verts, Blumenkohl ohne Buttersauce, nur mit etwas Salz. Die Milch als eine Art Milchsuppe (250 ccm) mit Vanillegeschmack ohne Mehl, vielleicht mit etwas Eiweißklößen und Saccharin gesüßt mit Zimt bestreut. (Dann vor dem Gemüse zu geben.) Auch Milchkakao-Suppe (Kakao ca. 5–7 g). Modifikation: a) wie oben Milchsuppe 250 ccm. Gemüse, 1 Mokkatasse koffeinfreier Kaffee 40–60 g, Saccharin. b) 1 kleine Tasse Bouillon (Mokkatasse) Gemüse. 250 ccm Milch. –

3 Uhr: 150 ccm Milch mit Tee- oder Kaffeegeschmack oder 100 ccm Milch und 50 ccm Tee oder Kaffee (bisweilen vorgezogen).



5 Uhr: 150 ccm Buttermilch.



7–7½ Uhr Abendbrot: wie Mittag, eventuell Salat hinzugefügt. (200 ccm Milch.)



9 Uhr: 200–250 ccm Milch mit Kaffee- oder Teegeschmack oder Vanilleoder Kognakgeschmack (15–20 Tropfen zugesetzt).167

Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib«

Die wachsende Systematisierung und Differenzierung der Diätkost Seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist eine zunehmende Systematisierung und Spezifizierung der Diätkost festzustellen. Schon die »Homburger Diäten« waren ein ausdifferenziertes System spezifischer Diäten, die bestimmten Krankheitsbildern zugeordnet wurden. Einen weiteren Systematisierungsversuch unternahm 1912 der Kopenhagener Ernährungswissenschaftler Jürgensen. Er betonte die Notwendigkeit einer gründlichen Diätschulung des Arztes. Die Rückständigkeit auf diesem Gebiet hänge damit zusammen, dass die Diätetik ein so großer, schwer zu beherrschender Stoff sei. Dieser sei weder literarisch noch wissenschaftlich hinreichend behandelt worden. Daran schloss Jürgensen eine Übersicht über die neueste Literatur zu dem Themenbereich an. Beginnend mit dem »Handbuch der Ernährungslehre und Diätetik« von Leyden kritisierte er, der Diätetikbegriff werde nicht in seiner umfassenden Bedeutung verstanden, sondern als »untergeordneter Appendix zur Ernährungstherapie«, obwohl »doch ›Diätetik‹ das große Ganze bedeute, und ›Ernährungstherapie‹ begrifflich scharf genommen, doch nur als ein besonderer Abschnitt der diätetischen Therapie zu gelten hätte, nämlich als die Seite der diätetischen Therapie, die ganz vorzugsweise auf die Beeinflussung der Ernährungsverhältnisse, des Ernährungszustandes der Kranken« ziele. Dann besprach er die »Grundzüge der Krankenernährung« von Moritz.168 Dessen Diätformen bei Verdauungsleiden, die auf der völligen Ausschaltung oder nur geringen Beanspruchung des Magens stufenweise von der leichtesten bis zur schwersten Diätform aufbauten, übernahm er weitgehend. Bei schweren Magenproblemen wurde eine rein flüssige »Suppendiät« gereicht, dann eine nicht mehr rein flüssige, zum Teil schon breiartige Nahrung, eine fleischhaltige Diät leichtester Art, noch vorwiegend breiartig, eine leichte fleischhaltige Nahrung in festerer Form und eine etwas schwerere Fleischdiät als Übergang zu gewöhnlicher Kost. Jürgensen akzeptierte keine fleischlosen Diäten. Er berücksichtigte bei der Zusammenstellung seiner Diätsystematik nicht nur die Zusammensetzung der Nahrungsstoffe in der Kost und ihr Verhältnis zueinander, sondern auch ihre Zubereitungsform und Konsistenz.

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Zu der zeitgenössischen Arbeit »Diätetik innerer Krankheiten« von Brugsch169 bemerkte Jürgensen, dieses Diätetikbuch sei unlogisch angeordnet und vernachlässige die allgemeine Diätetik stark. Überall gebe es sonst strenge Ordinationsformen, wie z. B. in der Pharmakologie. Die Ordination innerhalb der diätetischen Therapie sei dagegen völlig ungeordnet, systemlos und unübersichtlich, gerade bei einem so schwierigen Thema wie bei der »Materia diaetetica« sei dies unvertretbar. Schließlich diskutierte Jürgensen die Frage der rationellen Aufstellung von Diätformen.170 Es gehe dabei um die Lösung der schwierigen Aufgabe der Aufstellung allgemein-diätetischer Kategorien für ein System der Diätformen. Zunächst betrachtete er die bisherigen Versuche einer Systematisierung der Diätkost. Dabei beurteilte er unter anderem auch das »Homburgsche Diätdurchführungssystem«, von dem er sich 1911 während eines Besuchs des Homburger Sanatoriums von Dr. Pariser ein Bild hatte machen können. Zuerst lobte er das Homburger Diätdurchführungssystem und bezeichnete es wegen seiner Einfachheit und Selbstverständlichkeit als bewundernswert. Doch bei genauerer Betrachtung brachte er folgende Bedenken vor: Die Kategorisierung ist eine ganz ungleichartige; – untereinander sind die Diätformen allgemein-diätetisch und speziell diätetisch kategorisiert, womit niemals ein gutes logisches System zu erreichen ist. Dazu tritt, daß – in meiner Meinung nach praktisch ganz fehlerhafter Weise – die Detailausführung dieser Diätformen prinzipiell eine hauptsächlich verbietende ist.171

Im Anschluss daran referierte Jürgensen über einen weiteren Diätsystematisierungsvorschlag von W. Schlesinger. Dieser versuchte die infolge der Homburger Diäten üblich gewordene Einteilung nach den Krankheiten der einzelnen Organe zu umgehen, weil dadurch die Zahl der Diätformen zu groß werde. Schlesinger beschränkte seine Systematik auf vier Diätformen. Zur ersten Form gehörte die »flüssige Kost« als höchste Stufe der Schonkost, zur zweiten die »breiartige Schonungsdiät«, zur dritten die »leicht verdauliche extraktivarme Kost« und zur vierten Gruppe schließlich die »Eiweiß-Fett-Diät« für Zuckerkranke. Diese Diätverordnung erschien

Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib«

Jürgensen allerdings zu stark vereinfacht.172 Außerdem sei Schlesingers System nicht für den Krankenhauseinsatz geeignet, was eine Grundvoraussetzung sein sollte. Jürgensen setzte sich die Aufstellung einer homogenen Reihe kongruenter Diätmodifikationen und die Einordnung derselben in ein umfassendes Diätverordungssystem zum Ziel. Aus diesen Diätmodifikationen sollten dann die »Diätformen« mittels verschiedener Kombinationen aufgebaut werden. Auch an dieser Stelle setzte er sich wieder mit der Nomenklatur der Diätetik auseinander, indem er vorschlug, die Bezeichnung »Diätform« = »régime« solle nur als Ausdruck für eine genau definierte Krankenkost Verwendung finden. Seinen Ausführungen entsprechend kam er zu einer dreiteiligen Bestimmung und Bezeichnung der Diätformen. Noch ausführlicher behandelte er sein rationelles Diätverordnungssystem 1917 in der Monographie »Allgemeine diätetische Praxis«.173 Darin unterteilte er grob in »quantitative Diätkategorien« respektive Diätmodifikationen, »quanti-qualitative Diätmodifikationen« und »qualitative Diätmodifikationen«. Die »quantitativen Diätkategorien« waren wiederum gegliedert in »Mesodiät«, »Hyperdiät« oder »Plusdiät« als Überernährung, »Hypodiät« oder »Minusdiät« als Unterernährung. Zu den »quanti-qualitativen Diätmodifikationen« gehörten »Proteinhyperdiät« (proteinvermehrte Diät), »Protein-Lipo-hyperdiät« oder »Anthrakohydroid-hypodiät« (protein- und fetterhöhte Diät), »Protein-Anthrakohyperdiät« oder »Lipohypodiät« (fettarme Diät), »Lipohyperdiätmodifikation« (fettvermehrte Diät), »Lipo-Anthrakohydroid-hyperdiät« oder »Protein-hypodiät« (proteinarme Diät), »Anthrakohyperdiätmodifikation« (kohlenhydratvermehrte Diät), »Mineralstoffdiätmodifikation« (basenreiche Diät) und schließlich »Hydrohypodiätmodifikation« (Trockendiät). Die »qualitativen Diätmodifikationen« unterteilte er in eine »strenge« und »leichte Diätform« (feinpüreeförmig oder grobpüreeförmig), eine »Scorioid-Diätmodifikation« (schlackenreiche Diät), eine »Diätmodifikation nach Volumen«, »nach Wärmegrad«, »nach biologischen Qualitäten«, »abgestimmt auf Körperthätigkeiten«, eine »ephektische« (stuhlganganhaltende) und eine »hypaktische« (stuhlgangfördernde) Diät. Trotz dieser Differenzierung zeigte sich in der Folge die Tendenz,

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Fleischdiäten

Trinkkuren (Entfettung durch Mineralwasser) Marienbader Kur: Schindler u. Kisch Karlsbader Kur: Sorger

Kalorienreduzierte, eiweißreiche Fleischdiäten nach Camerer

Kalorienrduzierte Diäten

1. Dezennium 20. Jh.

Reine Milchkuren: Tarnier, Weir, Mitchel, Karell, Moritz

2. Hälfte 19. Jh.

1./2. Hälfte 19. Jh.

Ende 18./Anfang 19. Jh.

Seit Antike bis Beginn 18. Jh.

Eiweißreiche Fleischdiät Harvey-Banting-Kur Vogel Methode neue Bantingkur nach Wiel

Eiweiß- u. fettreiche Fleischdiät Ebsteinische Methode

Medikamentöse Entfettung Schilddrüsenpräparate (z.B. Thyreoidin, Belladonna, Leptynol)

Fleischdiät kombiniert mit Bewegung: Jockey-Diät nach Pavy Entrainment

Englisch-französische Entfettungstradition Wadd u. Gollmann

Elektrische Entfettung Bergonié Nagelschmidt Schnée Carulla

Deutsche Entfettungstradition: Aderlaß Klystiere Medikamentöse Behandlung Abführmittel Harntreibende Mittel

Wissenschaftliche Grundlage für vegetarische Diäten und Fastenkuren Schrothsche Kur; Fastenkuren; vegane, laktovegetabile und ovolaktovegetabile Diäten; Vollwertkost ergänzt durch Massage-, Bewegungs-, Licht-, Luft- und Hydrotherapien

Moderne Vitaminforschung Funk, McCollum, Davis u.a.

Durstkuren (Entfettung durch Wasserentziehung) Dancel, Oertel Schweninger

Moderne Ernährungswissenschaften Moderne Kaliorienlehre Liebigs Fleischtheorie als Hauptkraftquelle Liebigs Kohlehydrattheorie als Hauptfettbilder Voits Eiweißtheorie Rubners Eiweißtheorie

Rational-naturwissenschaftliches Konzept Mechanistische Krankheitsauffassung Zellularpathologie: Allopathie/Chirurgie

Englisch-französische Tradition der Entfettung Régime rouge/lymphatisches Temperament Régime rouge/sanguinisches Temperament

Philosopisch-deduziertes Konzept Medizinische Tradition der Humoralpathologie Temperaturen- bzw. Vier-Säfte-Lehre (Diätetik)

Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib«

von strikten Diätschemata abzurücken und individuelle, auf den jeweiligen Patienten zugeschnittene Diätpläne zusammenzustellen. Es fand damit eine Individualisierung der medizinischen Diätkost statt, wobei die alternativen Diätformen zugleich eine wachsende Verwissenschaftlichung erfuhren. Seit Eindringen der modernen Kalorienlehre gewannen auch die Vegetabilien in den Schlankheitsratgebern als kalorienreduzierte Kost schnell an Bedeutung – ein Trend, der sich aber erst deutlich nach 1900 abzeichnete. Neben den alternativen und medizinischen Reduktionsdiäten im Kampf gegen das Körperfett zeichnete sich um 1910 die zunehmende Neigung zur Verwendung von »medikamentösen Entfettungsmitteln«, insbesondere Schilddrüsenpräparaten, und von »elektrischen Entfettungsmethoden« ab. Zusammenfassend lassen sich die Fortschritte bei der medizinischen Entfettungsdiätetik wie folgt in einem Schema darstellen:

 Historische Entwicklungsstränge der medizinischen Entfettungsmethoden Entwurf: Sabine Merta

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Exkurs: Führte Diät halten schon damals zu Essstörungen? Zur Jahrhundertwende wurde der »Schnürwahn« vom »Schlankheitswahn« abgelöst, sodass man keineswegs von einer Körperbefreiung sprechen kann. Von der übertriebenen Schlankheitsnorm fühlten sich primär Frauen in ihrem Streben nach physischer Attraktivität angesprochen. Der Körper sollte durch die Veränderung der gesamten Lebensweise (Diäten in Kombination mit Körperfitness) oder durch Beschränkungen in der Nahrungszufuhr (Diäten durch Kalorienzählen) aktiv gestaltet werden.174 Körperfülle, einst durchaus gewollt, wurde zum sozialen Makel erklärt. Der Verzehr von kalorien- oder zuckerreicher Kost galt nun vor allem bei Frauen als Esssünde und löste Selbstvorwürfe aus. Bereits 1898 erinnerte ein Schönheitsratgeber daran, dass ein vollkommen gesunder und schöner Körper eher mager als fett sei.175 Jedes Vergnügen an der Sünde »Essen« zog Leiden in Form von Diäthalten nach sich; metrisches Essen wurde zur bürgerlichen Pflicht. Das Diäthalten wurde zur neuen Ersatzreligion; andererseits wurde das obsessive Fasten, nachdem es kein religiöser Akt mehr war, zunehmend als Zeichen einer psychischen Störung erkannt. Deshalb warnten Lebensreformer bereits in den 1920er Jahren, als der moderne Schlankheitskult ubiquitär zur Mode geworden war, vor der krankhaften Sucht, schlank zu werden.176

Exkurs

Das Schlankheitsideal entwickelte sich zunächst insbesondere bei Frauen zur Schönheitsnorm, aber auch Männer blieben davon nicht verschont. Positives Objekt des Begehrens war ein gesunder, gut ernährter und nach allen Ratschlägen der Zeit »fitter« Körper als Kapital für die Zukunft. Der Körper wurde überhaupt als Hoffnungsträger auf dem Markt der alltäglichen Berufsanforderungen und Eitelkeiten angepriesen.177 Das »Dicksein« wurde mit mangelnder Triebkontrolle in Zusammenhang gebracht, als hässlich, krank und bemitleidenswert geschildert. Der übermäßige Körperumfang galt als Ausdruck verlorener Selbstbeherrschung und ungezügelter »Fress«-Gier oder seelischer Probleme. Korpulente wurden zu »notorischen Dickwänsten«, »Fressern«, »Schläfern« und »Bierphilistern« herabgewürdigt. Die Bewertung des ungeschnürten Körpers in eine »gute« Figur oder »schlechte« Façon sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht fand sich um 1900 in fast allen Körperkulturbüchern und Schönheitsratgebern.178 Mit dem Entstehen der Psychoanalyse im späten 19. Jahrhundert wurde der Körper in verstärktem Maß als Ausdruck der Seele verstanden. Deshalb richteten sich alle Mäßigungsbestrebungen der Zeit gegen den eigenen Körper.179 Vor allem Damen, die sich zu den besseren Kreisen zählten, gerieten immer häufiger mit der Körpernorm der Jahrhundertwende in Konflikt, sodass hier eine erste größere Zahl magersüchtiger Frauen beobachtet werden konnte. Mithilfe der Kalorienlehre ließ sich die Energiebilanz exakt bestimmen. Auf der Einschränkung der Energiezufuhr durch gezügeltes Essverhalten und der Steigerung des Energieverbrauchs durch Anregung des Stoffwechsels bauten daher die meisten Schlankheitskuren auf.180 Abweichungen vom Normgewicht, bedingt durch Zu- bzw. Abnahme, vorwiegend des Fettanteils, wurden in ihrer extremen Ausformung als Adipositas bzw. Anorexie bezeichnet, wobei bereits erkannt wurde, dass das psychische Moment ausschlaggebend für die Entstehung jener Krankheiten war. Neben diesen offensichtlichen Störungen gab es ein gestörtes Essverhalten, das keinerlei Abweichungen vom Normgewicht mit sich brachte; dazu gehörte die Bulimie. Diese Essstörungen lassen wichtige Rückschlüsse auf das

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allgemeine Diätverhalten und die krankhaften Formen des Schlankheitswahns zu. Anorexia (Magersucht) Die Pubertätsmagersucht wurde im 19. Jahrhundert als eigene Kategorie in die Medizin aufgenommen. Als ihre charakteristischen Merkmale galten trockene Haut, schroffes Hervortreten der Knochen, muskelfleischarme Beine, Füße, Arme und Hände, energieund ausdruckslose Physiognomie, matte Augen, bleiche Lippen, Frösteln und angespannte Nerven. 1873 identifizierten der französische Neurologe Ernest Charles Lasègue und der englische Internist William Whitey Gull die Symptomatik der Magersucht, die sich vor allem in strikter Nahrungsverweigerung äußere, aber nicht notwendigerweise von Appetitlosigkeit begleitet sei.181 Typische Symptome seien die Uneinsichtigkeit der Patientinnen, die behaupteten, sich nie wohler gefühlt zu haben, die körperliche und geistige Überaktivität und die Hilflosigkeit des sozialen Umfelds, mit der Krankheit umzugehen. Gull fand unter den Symptomen weiterhin Amenorrhoe, Bradykardie, eine leichte Hypothermie, eine niedrige Respirationsrate sowie ein fehlendes Krankheitsgefühl trotz fortgeschrittener Abmagerung und eine merkwürdige Ruhelosigkeit.182 Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Magersucht im Zusammenhang mit der Hysterie gesehen. 1868 bestritt Gull aber diese Verknüpfung und nannte die Magersucht »Anorexia nervosa«, eine medizinische Nomenklatur, die bis heute in Gebrauch ist.183 In Deutschland wurde der Fachbegriff erst mit dem gehäuften Auftreten von Magersuchtsfällen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in den medizinischen Wortschatz eingegliedert. Überhaupt fand die Magersucht bis zum Ersten Weltkriegs kaum Beachtung in der Medizin. In der Mehrzahl wurde sie mit verschiedenen Formen der neurotischen Appetitlosigkeit und nervösen Dypepsie vermengt dargestellt und nur selten als eigenständiges Krankheitsbild erkannt.184 Um die Jahrhundertwende begann die übertriebene Sorge um das eigene Körpergewicht, und dies charakterisierte die Magersucht als eigenes krankhaftes Syndrom und unterschied sie von al-

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len früheren Formen der Essstörungen. Der Umgang mit tatsächlich überdurchschnittlichem Körpergewicht hatte sich gewandelt. Bis zur Jahrhundertwende waren Diäten, gymnastische Übungen und Massagen zunächst zur Beseitigung des Fettbauchs und starker weiblicher Hüften entwickelt worden, erst jetzt fanden auch die Gliedmaßen Beachtung. Dies war bei den Frauen auf die Abschaffung des Korsetts, bei den Männern auf die Berufsanforderungen der Leistungsgesellschaft zurückzuführen, die auf größtmögliche Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit Wert legte.185 Die Frage nach dem Normalgewicht wurde zu einem kulturgebundenen Syndrom. Es wurde für die Frau zur Pflicht, sich schön und schlank, für den Mann, sich jung und leistungsfähig zu halten. Bei den Frauen dominierte das Klischee vom »schönen Geschlecht«, das dazu bestimmt sei, sich sexuell attraktiv zu halten, um auf dem Heiratsmarkt vermittelbar zu sein. Bei Männern war ein größerer Körperumfang mit der Vorstellung vom »starken Geschlecht« noch sozial entschuldbar. Seit der Jahrhundertwende begann aber auch mancher Mann seinen »Schmerbauch« zu bekämpfen, da dieser als ein Indiz für eine Vernachlässigung der Körperformen angesehen wurde.186 Zwar wurde Körperfülle weiterhin als traditionelles Symbol für Macht und Würde vielfach akzeptiert oder zumindest als Resultat des natürlichen Alterungsprozesses toleriert. Doch auch beim männlichen Geschlecht existierte das Ideal des allseitig körpergestählten jungen Mannes. Dabei wurde aber interessanterweise weniger Wert auf Schlankheit als auf Muskulatur gelegt.187 Intensives Krafttraining galt als erforderlich. Der athletische Körper wurde zur Bedingung für gesellschaftlichen Erfolg und zum zwingenden Ideal aller Schichten und Altersgruppen. Als in den 1920er Jahren Diäthalten und Fasten im Gefolge der ersten extremen Schlankheitsmode besonders zunahmen, häuften sich auch die Anorexiefälle. Ärzte warnten vor dem »Unfug der schlanken Linie« und machten »Front gegen Entfettungsmittel«.188 Gerade in dieser Periode etablierten sich auch die wichtigsten Beförderer der amerikanischen Schönheitskultur: Mode- und Kosmetikindustrie, Schönheitswettbewerbe, Mannequins und Kino. Mit dem Einzug der Schönheitsideologie in die Volkskultur bemühten sich immer mehr Frauen aller Schichten und Lebensalter, dem

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schlanken Ideal zu entsprechen. Jede Überschreitung des Durchschnittsgewichts wurde als beginnende Verfettung wie der Teufel gefürchtet, auch wenn sie nur wenige Pfunde betrug.189 Im 20. Jahrhundert galt Dicksein nicht mehr als Zeichen von Reichtum und Gesundheit. Zwischen 1900 und 1920 begannen Schulmedizin und Versicherungsgesellschaften für einen idealen Körpertypus zu werben, und es entstanden die ersten Gewichts- und Gesundheitstabellen als Grundlage für die diagnostische Feststellung der Wohlstandskrankheit »Übergewicht«. Seit der Jahrhundertwende, nachdem die Hypothese bestätigt war, dass Übergewicht die Lebenserwartung herabsetzte, wurde die Gewichtskontrolle für die Arztpraxis obligatorisch.190 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hielt die Personenwaage in öffentlichen Einrichtungen (Schwimmbäder, Bahnhofshallen) und Privathaushalten Einzug. Ärzte begannen ihre Patienten regelmäßig zu wiegen, und es wurden Theorien über das Körpergewicht als Indikator für Geistesgestörtheit oder kriminelle Veranlagung entwickelt. Das Gewicht wurde zu einem wichtigen Persönlichkeitsmerkmal.191 In fast allen Schlankheitsbüchern forderte man den Leser auf, sich täglich zur selben Zeit und im selben Kleid zu wiegen. Die Waage informierte gnadenlos über das Versagen der Selbstbeherrschung oder den Erfolg des Diätens. Das Norm- und Idealgewicht wurde vor dem Hintergrund einer höheren Effizienz der Produktivkraft der arbeitenden Bevölkerung zum Gesundheitswert. Der Staat nutzte die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Ernährungsphysiologie, um die Arbeitsproduktivität der Bevölkerung und zugleich deren Gesundheit und Lebenserwartung zu steigern. Er versuchte auf die Bürger einzuwirken, sich in ihrem eigenen Interesse »richtig« zu ernähren. Schlanksein bedeutete nicht nur Schön- und Gesundsein, sondern vor allem »Sozial-Verträglich-Sein«. Die Schlankheit wurde so zu einer mehrfach erstrebenswerten Norm erhoben. Sie war Voraussetzung für soziale Akzeptanz und gleichzeitig Ausdruck von dynamischer Leistungsfähigkeit, begehrenswerter Attraktivität und persönlichem Glück.

Personenwaage; Quelle: Iß gut (o. J. [um 1926]) '

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Generell wurde gemutmaßt, dass »Dicke« zu viel essen und sich zu wenig bewegen würden, doch es waren noch andere Faktoren bekannt, die in die Übergewichtsproblematik hineinspielten, weshalb zwischen verschiedenen Arten der Fettsucht und Fettleibigkeit unterschieden wurde: Mastfettsucht, Trägheits- oder Faulheitsfettsucht, Hirnfettsucht oder Rubenstypus, Reithosentypus, Untertyp, Wechseljahrtypus bei der Frau und Falstafftypus beim Mann.192 Trotzdem beruhten die meisten Maßnahmen zur Behandlung von Übergewicht allein darauf, die Nahrungsaufnahme einzuschränken. Das anfängliche Schlankheitsideal, das sich am Kriterium der Gesundheit orientiert hatte, entfernte sich von dieser Ursprungsidee und sah in der Fettleibigkeit eine generelle Gefahr für die ganze Gesellschaft. Mit der Mode der extremen »Linealfigur« häuften sich die Beschreibungen typischer Magersuchtsfälle. Man schreckte vor radikalen Hungerkuren, die zu schweren Mangelerscheinungen führten, vor Appetitzüglern, die schwerste Abhängigkeit bewirkten, und vor gesundheitsgefährdenden Abführmitteln nicht mehr zurück. Es kam regelrecht zu einem kollektiven Schlankheitszwang. Schlankheit sollte um jeden Preis erzielt werden. Neben der Schlankheitsdiät wurde diszipliniertes Körpertraining für die leistungsorientierte Frau der Moderne gefordert.193 Eine der meistverbreiteten Verhaltensweisen während einer Diätkur war die regelmäßige Gewichtskontrolle. Die Körper wurden mittels festgelegter »Normalstandards«, die an individuelle Körper angelegt und überwacht wurden, kategorisiert. Für die Bevölkerung hatte dies zur Folge, dass sich jeder gemäß seines Grades der Übereinstimmung mit der gerade vorherrschenden Gewichtsnorm als »normal« oder als »abweichend« erlebte und sich im Falle der Abweichung darum bemühen musste, das Normalgewicht wiederherzustellen, um sich gesellschaftskonform zu verhalten. Die Praxis des Wiegens diente der Disziplinierung des Körpers, beispielsweise in Form von Prozeduren der regelmäßigen Gewichtskontrolle mit persönlichen Gewichtsrekorden, die als ritualisierte Elemente gewöhnlich in Diätprogrammen fest verankert wurden. Es stellte eine Strategie der »Normalisierung des Körpers« dar. Dieses erhöhte Interesse am »Diäten« zur Annäherung an das bestehende Schlankheitsideal ließ sich nicht zuletzt am rapide an-

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steigenden Umsatz der diätetischen Lebensmittel ablesen. Auch der Abführmittel- und Appetitzüglermissbrauch nahm deutlich zu, trotz der Gefahren, die mit der Einnahme solcher »Medikamente« verbunden waren. Eine klare Grenzziehung zwischen krankhafter Adipositas und Übergewicht fand bezeichnenderweise nicht statt. Damit entfernte sich die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert feststellbare Idee »schlank ist gesund« von ihrer ursprünglichen Intention und wurde von der Idee »schlank ist schön – koste es, was es wolle« in den Hintergrund gedrängt.194 Adipositas (Fettsucht) Die medizinische Entdeckung der Adipositas und ihre Klassifizierung erfolgte in den 1870er und 1880er Jahren, obwohl erste Schriften über typische Fallbeispiele bereits aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammen. Verstärkt ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Übergewicht als »Corpulenz«, »Obésité«, »Adipositas« und »Fettsucht« bezeichnet. Im speziellen Fall eines durch seelische Einflüsse nervös gestörten Appetitgefühls wurde auch manchmal der medizinische Begriff der »Dysorexie« benutzt.195 Manche Autoren unterschieden zwischen einer endogenen Fettsucht, die auf innere Ursachen wie Störungen der Drüsenfunktionen schließen lasse, und einer exogenen Fettsucht, die auf äußere Umstände wie Faulenzerei und Vielesserei zurückgehe.196 Seit etwa 1860, mit der »Bantingmode«, wurde die Adipositas zum medizinisch viel beschriebenen Phänomen. Der wissenschaftlichen Beschäftigung ging ein populäres Interesse voraus. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt ein »Embonpoint« noch durchaus als schicklich und als Zeichen der Genussfreudigkeit nicht nur beim Essen, sondern auch in der Liebe, aber seit den 1860er Jahren begann der »Sturm gegen das Fett«197 zunächst in der Ober- und Mittelschicht. 1898 hieß es z. B. anklägerisch: Das sogenannte Embonpoint kann, da der durchschnittliche Leibesumfang ungefähr der halben Körperlänge gleich kommt, schon allen Denen zuerkannt werden, deren Rumpf bei einer Körperhöhe von 1,68 Meter 1,15 Meter mißt. Es kommen aber Fälle vor, wo der Leibesumfang die Körper-

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höhe erreicht, ja übertrifft. Von diesen Bedauernswerthen hat natürlich die Schönheit Abschied genommen. Jede Spur harmonischer Gliederung ist verschwunden.198

Im Rahmen der medizinischen Literatur wurde Übergewicht jetzt öffentlich als Gesundheitsproblem angesprochen. Um 1900 begann die Pathologisierung auch des geringen Übergewichts. Die Medizin dehnte damit ihre Kompetenz auf die Übergewichtsvorsorge der ganzen Bevölkerung aus. »Fettsucht macht krank« und »Fettsüchtige sterben früh«199 propagierte sie und begann normativ ins Alltagsdenken über Körpergewicht einzugreifen, indem sie vor den Gefahren selbst geringen Übergewichts warnte und immer weiter sinkende Gewichtsnormen propagierte. In den folgenden Jahrzehnten erschienen immer mehr populäre Schriften, die die Fettleibigkeit oder Korpulenz, in den geringeren Graden als »Embonpoint« und in den höheren Stadien als »Fettsucht« bezeichnet, geradezu zu einer Modekrankheit stempelten.200 Interessanterweise beschäftigten sich viele Fettsuchtforscher des ausgehenden 19. Jahrhunderts zugleich mit der Magersucht und anderen nervös bedingten Essstörungen. Auch dies war ein Beweis dafür, dass sich der Begriff des körperlich »Normalen« im Prozess der Medikalisierung und Verwissenschaftlichung des Übergewichts verengte und zunehmend einen normativen Bedeutungsgehalt bekam, d. h. ein Überschreiten der üblichen Körpergrenzen nach der einen wie anderen Seite wurde nun gesellschaftlich geahndet und legte Zeugnis über den Verstoß gegen bürgerliche Normvorstellungen ab, zeugte von Unbeherrschtheit und verschwenderischer Schwelgerei. Noorden und Salomon sprachen 1929 von der »Akorie« (mangelndes Sättigungsgefühl) oder Polyphagie.201 Die Akorie unterscheide sich von der Bulimie durch das Fehlen der auf sofortige Stillung des Hungers gerichteten Gier. Sie sei oft streng an die Mahlzeiten selbst gebunden, d. h. es werde weit über den Bedarf hinaus gegessen, ohne dass als Reaktion das Gefühl der Sättigung ins Bewusstsein trete. Dies führe häufig zur Polyphagie und könne Überlastungskrankheiten des Verdauungsapparates, des Kreislaufs, der Nieren, der Gelenke und des Stoffwechsels (Fettsucht u. a.) zur Folge haben. Die Polyphagie begleite recht häufig abstumpfende

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Psychosen. Bei unzähligen Gewohnheitspolyphagen, deren Vielessen, Schlemmerei und Völlerei zur Mastfettsucht führe, vermuteten Noorden und Salomon eine gewisse angeborene, durch Erziehung und Selbstzucht nicht ausgeglichene Schwäche des Sättigungsgefühls. Sie bezeichneten die Polyphagie daher als »degenerative Errungenschaft der Menschheit«. Sie begrüßten die Eitelkeit oder den sonstwie begründeten Wunsch nach einer schlankeren Linie, der ihnen bei der Bekämpfung der Fettsucht zu Hilfe käme. Außerdem empfahlen sie zur Besänftigung des Hungergefühls Substanzen, die infolge ihrer Quellkraft den Magen füllten und dadurch sättigten, wozu die Präparate »Decorpa« und »Dr. Klopfers Pektin« gehörten. Als Entfettungsdiät schlugen sie, bereits dem Wissensstand der 1920er und 1930er Jahre entsprechend, den Verzehr reichlicher Mengen kalorienarmer Vegetabilien vor.202 Übergewicht wurde als Verletzung der Bürgerpflicht angesehen. Körperspeck als Folge von Esssünden sollte ein schlechtes Gewissen gegenüber den pflichtbewussten Schlanken erzeugen. Die Folgen unkontrollierter Hungerattacken mussten unschädlich bzw. unsichtbar gemacht werden, sei es durch Diäten oder selbst herbeigeführtes Übergeben. Bulimia nervosa (Fress- und Brechsucht) In der Literatur der Jahrhundertwende gibt es nur vereinzelte Schilderungen von Krankheitsfällen der Bulimie, die meist bei Frauen vorkam. Erst ab 1932 finden sich Fälle »typischer Bulimie« im heutigen Sinne, d. h. Fressattacken mit anschließendem selbstinduzierten Erbrechen und Abführen aus Angst vor Gewichtszunahme. Die Frage bleibt unbeantwortet, ob die damaligen Patientinnen ihrem Arzt diese heimliche Untugend verschwiegen oder ob sie diagnostisch vereinfacht als adipös eingestuft wurden. Noorden und Salomon wählten für die Bulimie bewusst das Wort »Triebstörung«, um den psychogenen Charakter des Leidens zu kennzeichnen, konnten aber weder über die Ursache noch über den Mechanismus beim Entstehen des übertriebenen Hungergefühls eine Aussage machen. Zur Behandlung schlugen sie kleinere Mahlzeiten zwischen den eigentlichen Hauptmahlzeiten, Tabakrau-

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chen und vorübergehendes Betäuben des Hungergefühls mit Opium sowie in hartnäckigen Fällen eine diätetisch-erzieherische Anstaltsbehandlung oder eine periodische Erholungsreise zur Ausspannung und Ablenkung vor.203 Der Begriff »Bulimia nervosa« weist eine ebenso lange Symptomatologiegeschichte auf wie jener der »Anorexia nervosa«. Unter den Bezeichnungen »Bulimie«, »Fames canina« bzw. »Kynorexie« und »Phagedena« wurden Anfälle eines als unwiderstehlich erlebten Heißhungers bereits von griechischen Schriftstellern erwähnt. Die Frage, inwieweit es sich dabei tatsächlich um Bulimie gehandelt hat, muss aber offen bleiben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts regte sich erstmals das Interesse an bulimischen Symptomen bei Internisten und Psychiatern. Der Begriff »Kynorexie« wurde erstmals 1867 von Blachez nosologisch beschrieben, verschwand danach aber wieder aus dem medizinischen Vokabular. Meist sprach man im Fall des Fehlens eines Sättigungsgefühls, das zum Verschlingen großer Mengen von Nahrungsmitteln führte, von »Polyphagie«. Von ihr differenzierte man schließlich die Bulimie, deren Besonderheit darin lag, dass die Patientin alle paar Stunden von starken Heißhungerattacken überfallen wurde. Außerdem erwähnten bereits zur Jahrhundertwende zahlreiche Autoren die ständige gedankliche Beschäftigung mit dem Essen und eine Angstphobie vor diesen Fressanfällen als Charakteristika. Die Bulimie wurde als neuartige, immer häufiger auftretende Form der Essstörungen gesehen, die zum zeitsymptomatischen Phänomen wurde. Historisch ging die Verbreitung der Magersucht der Ausbreitung der Bulimie voraus. Ähnlich wie bei der Anorexia bestand eine Gewichtsphobie, d. h. im Anschluss an die Fressattacken versuchte der Erkrankte durch selbstinduziertes Erbrechen oder Abführen die aufgenommene Nahrung wieder aus dem Körper herauszumanipulieren. Es war eine moderne Krankheit in einer Gesellschaft, in der gezügeltes Essverhalten die Ernährung nachhaltiger bestimmte als die Zusammensetzung der Nahrung. Bulimie war ein neues geschlechts- und kulturspezifisches Symptom der modernen Welt. Anorexie und Bulimie spiegelten allgemeine historische Entwicklungen im Umgang mit dem Körper wider. Beide können als Fortsetzung des Prozesses der Internalisierung der Affektkontrolle und der So-

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zialdisziplinierung, den Norbert Elias für das 17. und 18. Jahrhundert beschrieben hat, angesehen werden. Gegen das gesellschaftlich unakzeptable Übergewicht errichteten Ernährungswissenschaft und Naturheilkunde soziale Hemmschwellen, die unbedingte Einhaltung nötig machten. Zudem war die Bulimie das krankhafte Produkt der Diskrepanz zwischen Ernährungswissen und Ernährungspraxis sowie realem Körperbau und idealen Schönheitsbildern. Genussvolles Schlemmen konnte plötzlich, nachdem die Gesundheitsgefährdung erkannt worden war, Schuldgefühle und Gewissensbisse auslösen, da die Esssünden in Form von Körperfett direkt für Außenstehende erkennbar waren. Man konnte die gesellschaftlich in Verruf geratene Körpermasse nur noch mit einer ebenso »üppigen« Kleidung verhüllen, was seit der Mode der 1920er Jahre immer schwieriger wurde, weshalb manche Frau bereits zu jener Zeit stöhnte: »Ich könnte jedes fertige Kleid tragen, hätte ich nur nicht so starke Hüften.«204 Man versuchte deshalb, das überflüssige Körperfett so schnell wie möglich wieder unsichtbar zu machen, weshalb heimlich zu Abführmitteln gegriffen oder Erbrechen provoziert wurde, um der Gesellschaftsnorm der Schlankheit zu genügen. Dabei war eben die falsche Orientierung am Idealgewicht eine mögliche Ursache für diese krankhaften Essstörungen. Es kann jedenfalls kein Zufall sein, dass die Symptomatologie aller Essstörungen zeitgleich mit der Genese des modernen Schlankheitskults um die Jahrhundertwende entstanden ist. Der erste Höhepunkt des Schlankheitswahns in den 1920er und 1930er Jahren deckte sich mit dem der Essstörungen. Allen Essstörungen lag jedenfalls eine massive Gewichtsphobie aufgrund der Schlankheitsmode zugrunde. Das homöostatische Gleichgewicht der Energiebilanz und damit des Körpergewichts wurde so vehement gestört, dass entweder die Gewichtskontrolle übertrieben wurde, wie bei der Magersucht oder Bulimie, oder die Esskontrolle völlig versagte und in »Fress-Gier« überging. Seit den 1940er Jahren kam zuerst in den USA, dann auch in Europa eine wahre »Cholesterin-Phobie« hinzu, die der Diätbranche neue Perspektiven für einen Gewinnzuwachs eröffnete.205 Nach 1968 konnte man geradezu von einer Besessenheit im Hinblick auf den Traum von einer guten Figur oder von einer »Diätmanie« sprechen; die

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Das magersüchtige Fotomodell und Schlankheitsidol »Twiggy« in den 1960er Jahren; Quelle: Loschek (1987)

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Magersucht wurde aber gleichzeitig zu einem »Schreckgespenst« des Schlankheitsideals. abb28 Ein weiteres Indiz für den Zusammenhang zwischen Diäthalten und Essstörungen ist, dass auch der zweite Höhepunkt des modernen Schlankheitskults in den 1960er Jahren zu einem alarmierenden Anstieg der Magersucht und anderer Essstörungen führte. In späteren Jahren wurde sogar bekannt, dass die Verkörperung des extremen Schlankheitsideals jener Jahre, das gertenschlanke Modell »Twiggy«, einige Zeit unter Anorexia nervosa gelitten hatte und nur mit Mühe von dieser psychisch bedingten Essstörung geheilt werden konnte. Mittlerweile hat das ehemalige »Schlankheitsidol« mit Übergewichtsproblemen zu kämpfen.

1 Wadd (1839), 13. 2 Hippokrates, zitiert nach Rosenfeld (1886), 27. 3 Wadd (1839), 74. 4 Flemyng (1769), 20 ff. 5 Reymond (1886), 28 f. 6 Wadd (1839), 129. 7 Wadd (1839), 129 f. 8 Ackerknecht (1970), 178. 9 Ackermann, Johannes Christ. Gottl. (Hg.), Regimen sanitatis salerni sive scholae salernitanae de conservanda bona valetu dine praecepta (Stendal, 1790). 10 Opsomer, Carmélia, L’art de vivre en santé. Images et recetts du moyen age. Le Tacuinum Sanitatis (manuscrit 1041) de la Bibliothèque de Liège (s. l., 1991). 11 Flemyng (1769), 7. 12 Flemyng (1769), 8–10. 13 Wadd (1839), 19. 14 Graefe (1826), 367–393. 15 Graefe (1826), 367. 16 Wadd (1839), 17–47, 124–132. 17 Wadd (1839), 136.

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Wadd (1839), 138. Vogel (1873), 6. Vogel (1872), 130 f. Vogel (1872), 172 f. Aus damaliger wissenschaftlicher Sicht hatte das Fleischeiweiß für die menschliche Ernährung oberste Priorität und galt deshalb als besonders nahrhaft. Vogel (1872), 168 ff. Vogel (1872), 168 ff. Mayer (1886), 158–161. Loebisch (1887), 1–76. Mitchell (1887), 9. Vgl. hierzu Kompa (1982), 32 ff. Winternitz (1912), 5 f. Winternitz (1912), 7. Winternitz (1912), 464. Winternitz (1912), 469–471. Winternitz (1912), 469–471. Winternitz (1886), Sp. 6. Kontra Oertel: Kisch (1887), 353 f. Für Oertel: Hausmann (1886), 734–737. Hausmann (1886), 734; Kisch (1887), 354.

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Ritter/Buxbaum (1925), 109. Banting (1864). Loebisch (1887), 2. Banting (1864), 17–19. Baumgarten (1914), 49. Vgl. hierzu Banting (1864), 7 und Vogel (1873), 2. Vogel (1873), 57 f. Maas (1885), 32. Baumgarten (1914), 8. Brillat-Savarin (1978), 209 f. Brillat-Savarin (1978), 215 f. Gollmann (1857). Gollmann (1857), 34. Gollmann (1857), 14. Schindler (1876), VI. Ebstein (1882), 9. Ebstein (1882), 2 ff. Ebstein (1882), 19. Ebstein (1882), 22–25. Mitchell (1887), I. Mitchell (1887), 59 f. Mitchell (1887), 70 f. Pariser (1926), 51. Mitchell (1887), 59 f. Reymann (1911), 26 f. Wiel (1881), IV–VI. Kisch (1892), 124 f. Oertel (1884), 93. Ebstein (1885a), 5. Oertel (1885), 4–14. Kisch (1892), 118. Ebstein (1885b), Vorwort. Ebstein (1885b), 8 ff. Oertel (1885), 7. Kisch (1892), 109 f. Oertel (1885), 10 f. Basch (1885), 242, 244. Leyden/Pfeiffer (1885), 44. Anjel (1886), 346 f. Vgl. Kisch (1888), 261. Maas (1885), 36 ff. Rosenfeld (1886), 20.

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Maas (1885), 17. Demuth (1883), 381. Voit (1884). Demuth (1883), 378. Demuth (1883), 378 ff. Kisch (1888), 276 ff. Demuth (1883), 379. Ebstein (1885a), 17. Ziegelroth (o. J. [um 1905]), 17. Ziegelroth (o. J. [um 1905]), 34. Ziegelroth (o. J. [um 1905]), 11. Isaac (1924), 155. Vgl. z. B. Schattenfroh (1900), 93–113; Broden/Wolpert (1901), 298–311; Oeder (1909), 461–465. Broca (1868). Oeder (1909), 462. Isaac (1924), 161. DuBois/DuBois (1916), 887. Boothby/Sandiford (1922), 767. Günther (1929a), 155–177. Günther (1929b), H. 410, 2. Isaac (1924), 465. Rosenfeld (1904), 226–228. Rosenfeld (1904), 193 ff. Vgl. Noorden/Dapper (1894), Nr. 24. Hirschfeld (1892), 2. Hirschfeld (1892), 12 ff. Rosenfeld (1904), 196. Rosenfeld (1904), 228. Camerer (1888), 4. Glemser (1969), 79 f. Vgl. hierzu z. B. Sukup (1927) oder Iß gut (o. J. [um 1926]). Camerer (1888), 10. Camerer (1888), 57–63. Noorden/Salomon (1920), 821–823. Noorden/Salomon (1920), 1001 ff. Noorden/Salomon (1920), 1004. Noorden/Salomon (1920), 1020 ff.

Kampfstrategien gegen den zu »fetten Leib«

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145 146 147 148 149 150 151 152 153

Noorden/Salomon (1920), 1023. Noorden/Salomon (1920), 1024. Ewald (1915), 417. Ewald (1915), 418 ff. Ewald (1915), 422–427. Ewald (1915), 209 ff. Heuberger (1913). Ewald (1915), 425. Ewald (1915), 425. Kisch (1888), 277 ff. Kisch (1888), 278. Kisch (1888), 235 f. Kisch (1888), 278. Abderhalden (1913), 75–83. Vgl. Franke (1913), 995. Noorden (1915), 16–23. Noorden (1915), 17 ff. Noorden (1915), 21. Kompa (1982), 150 ff. Kauffmann (1914), 2089. Kauffmann (1913), 526. Veith (1913), 1345 f. Gärtner (1914), 1414. Roemheld (1913), 2908. Nagelschmidt (1913), Nr. 4; Schnée (1913), 1871–1874; Carulla (1913), Nr. 34. Böttcher (o. J. [um 1885]), 23; Reymond (1886), 44. Reymond (1886), 38 f. Schindler (1867), 36. Zu Karlsbad Sorger (1853), zu Marienbad Kisch (1912), zu Homburg Pariser (1910). Schindler (1867), 34 ff. Schindler (1867). Sorger (1853), 6 f. Sorger (1853), 10 ff. Sorger (1853), 17–55. Sorger (1853), 23 ff. Sorger (1853), 48, 50. Ritter/Buxbaum (1925), 109. Kisch (1912), 5.

154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174

175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187

Kisch (o. J. [um 1900]), 58. Mayer (1886). Kisch (o. J. [um 1900]), 82. Kisch (1892), 6. Kisch (1892), 67, 69. Kisch (1912), 9. Kisch (1892), 15. Kisch (1892), 24. Kisch (1892), 46. Kisch (1912), 6 f. Kisch (1912), 6 f. Pariser (1926), 44–53. Pariser (1926), 44 f. Pariser (1926), 52 f. Moritz (1898). Brugsch (1911). Jürgensen (1912), 166. Jürgensen (1912), 167. Jürgensen (1912), 169. Jürgensen (1917). Vgl. Kelch (1898b); Kühner (o. J. [um 1907]); Schweisheimer (1925), Garms/Reach (o. J. [1929]). Kelch (1898b), 298. Junkers-Kutnewsky (o. J. [um 1920]), 36 f. Junkers-Kutnewsky (o. J. [um 1920]), 36 f. Vgl. z. B. Stratz (1907), 37, 48. Kühner (o. J. [um 1907]), 6. Vgl. z. B. Bastheim (1925). Vandereycken et al. (1990), 167–169. Gerlinghoff et al. (1993), 204. Brumberg (1994), 10. Noorden/Salomon (1929), 400 ff. Wohlfarth (o. J. [um 1908]); Gerling (o. J. [1905]), 21. Kleinspehn (1987), 358. Vgl. Kapitel zur Geschichte der Bodybuildingbewegung.

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Entwicklungsstränge der modernen Diätkost

188 Obst (1925/26), 421 f.; Bornstein (1927), 49 f.; Meyer (1927), 72 ff. 189 Garms/Reach (o. J. [1929]), Vorwort. 190 Käding (1922), 433 f.; Schweisheimer (1925), 18. 191 Vandereycken et al. (1990), 226. 192 Reicher (1931), 3. 193 Vgl. Glucker (o. J. [um 1928]) oder Mar/Wolf (1928). 194 Vgl. z. B. Tuszkai (1930), 29 ff. 195 Tuszkai (1930), 19.

196 Tuszkai (1930), 7. 197 Reicher (1931), 23. 198 Kelch (1898b), 299. 199 Zikel (1925), 10. 200 Kelch (1898b), 299. 201 Noorden/Salomon (1929), 403. 202 Noorden/Salomon (1929), 403 f. 203 Noorden/Salomon (1929), 400–403. 204 Glucker (o. J. [um 1928]), 7. 205 Levenstein (1993), 251–253.

Zweiter Teil Zur Renaissance einer ganzheitlichen Körperkultur

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Zu Bewusstsein und Geschichte des menschlichen Körpers Definitorische Anmerkungen zum Körpervokabular Um die Jahrhundertwende begann die Erforschung der Körpererfahrung in der Neurologie, Psychiatrie und Psychologie. In dieser Phase entstand auch das Vokabular zur Körperthematik, vor allem Begriffe wie »Körper-Schema« oder »Körper-Bild«.1 »Körper-Bild« konnte wörtlich die Vorstellung des körperlichen Aussehens bezeichnen, in einem erweiterten Verständnis aber auch Körpereigenschaften, -funktionen und -fähigkeiten. Der Begriff »KörperSchema« wurde von Bonnier im Jahr 1905 geprägt. Man verstand darunter eine vorbewusste, ganz physiologisch gedachte Funktion der afferenten Reizverarbeitung.2 1935 schlug P. Schilder vor, »Körper-Schema« als neurologisches Konzept von »Körpererfahrung« als psychopathologisches Konzept zu unterscheiden. Er verstand unter »body scheme« oder »Körperschema« Informationen über Motorik, Haltung und Oberfläche des Körpers und unter »body image« oder »Körperbild« die Vorstellung vom und die Einstellung zum eigenen Körper.3 Schließlich wurden in der Folgezeit »body image« und »personality« zusammengebracht, sodass das Körper-Bild um ein psychologisches Moment, das sich nicht ausschließlich mit krankhaften Störungen befasste, erweitert wurde.4

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Zur Renaissance einer ganzheitlichen Körperkultur

Bei den Termini lassen sich insgesamt zwei Gruppen unterscheiden: zum einen Definitionen, die »kognitive« (verstandesmäßige) Prozesse der Informationsaufnahme und der Verarbeitung körperlicher Erfahrung wie Wahrnehmung, Vorstellung und Wissen unterstrichen, zum anderen solche, die »affektive« (gefühlsmäßige) Prozesse der Körpererfahrung wie Meinungen, Überzeugungen und Gefühle dem Körper gegenüber hervorhoben. Ein verbreitetes Konzept der Körpererfahrung war z. B. das physiologisch konzipierte Körper-Schema-Bild von Head.5 Dieses ging davon aus, dass eine direkte, unmittelbare Sinneswahrnehmung der Körperhaltung unmöglich sei, wenn kein Vergleichsmaßstab vorhanden sei. Dabei wurde von einer Speicherung durch visuelle Erfahrung in Form von Vorstellungen (»Körper-Bildern«) ausgegangen, die sinnlich wahrgenommen und dann im Gehirn weiterverarbeitet wurden und schließlich Auskunft über Lage, Beziehung und Orientierung der einzelnen Körperteile zueinander gaben, sodass der Mensch bei einer Reizung jederzeit den stimulierten Ort der Körperoberfläche lokalisieren könne. Schilders psycho-dynamisch konzipierte KörperSchema-Bild ordnete das Bewusstsein und die Anschauung vom eigenen Körper als zentrales Problem der Psychologie und Psychiatrie ein. Seine »Körper-Schema-Definition« lautete wie folgt: Als Körperschema bezeichne ich das Raumbild, das jeder von sich selber hat. Man darf annehmen, daß dieses Schema in sich enthalte die einzelnen Teile des Körpers und ihre gegenseitige räumliche Beziehung zueinander.6

Nun reichten die Begriffe »Körper-Bild« und »Körper-Schema« zur Beschreibung der Körperproblematik nicht mehr aus, weil damit Bewusstseinsprozesse nicht ausreichend erfasst wurden. Deshalb untersuchte man das »Bewusstsein vom eigenen Körper« oder die »Bewusstheit des eigenen Körpers« seit den 1920er Jahren als Aspekt der Körpererfahrung.7 Eine erste Vermutung war, dass durch Speicherung und Verarbeitung in den ersten Lebensjahren die physiologische Grundlage des Körperbewusstseins geschaffen werde, die sich unter dem Einfluss dieser Meldungen ständig weiter vervollkommne. Danach verwies der Begriff »Körperbewusstsein« auf einen subjektiven Tatbestand, der das »Bewusstsein der morpholo-

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gischen Bestimmtheit des Körpers«, seine Form, sein Ausmaß, die Anordnung der Körperteile, die Körperlage und Körperstellung umfasste. Das Körperbewusstsein konnte aber auch als »Raumbild des eigenen Körpers« ausgelegt werden. Ferner erschien der Körperbewusstseinsbegriff als »Kenntnis« und »Wissen« vom eigenen Körper, also Bewusstseinsinhalt oder Körpererlebnis, sodass ein dynamischer Faktor hinzutrat. Das Bewusstsein vom Körper wurde als Produkt von Wahrnehmung und Vorstellung, als »Wissen« über den eigenen Körper oder als »Objekt des Vorstellungsvermögens« interpretiert.8 Körperbewusstsein konnte aber auch so verstanden werden, dass der Körper nicht das Objekt des Bewusstseins war (Bewusstsein von Körper), sondern selbst zum »Subjekt« seines Wissens (Bewusstsein des Körpers) wurde. Demnach konnte der Körper nicht nur Ausdrucksmittel des »Selbst« sein, sondern eigenständig Signale versenden, sodass die menschliche Existenz stets dialogisch, dialektisch, interaktiv, ja sozial war.9 Der Körper, so hieß es, »schafft sich als Individuum und als Gattung einen sozialen ›Organismus‹, der sozusagen sein erweiterter Leib sei, seine Kultur im umfassenden Sinn von menschlichem Lebensvollzug.«10 Das bedeutet, es sollte zwischen einem »endogen-individuellen Körperbewusstsein« und einem »exogen-sozialen Körperbewusstsein« unterschieden werden, da die Sinnesperspektive entscheidend für das entstehende Geschichtsbild des Körpers ist. So konnte der zunächst persönlich erscheinende Wunsch nach körperlicher Bewegung, Sport und Fitness zum einen aus rein individuellen Motiven verfolgt werden, zum anderen konnte die dahinter stehende Motivation aber auch das Resultat gesellschaftlicher Zwänge sein, da man sich für das Funktionieren in der Arbeitswelt und für das soziale Umfeld in Form halten musste. Entsprechend den Interessen der Ökonomie wurde der kommerzialisierte Körper getestet, geprüft, geschult, ausgebildet, spezialisiert und trainiert.11 Der gesunde, trainierte, schlanke Körper und die bewusste Körperlichkeit wurden zu neuen gesellschaftlichen Werten der modernen Leistungsgesellschaft. Je höher die Stellung in der Gesellschaftshierarchie war, umso größer wurde der soziale Druck, eine »edle« Schlankheit und Jugendlichkeit des Körpers zu bewahren. Der »schlanke Körper«

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konnte somit zu einem Instrument sozialer Distinktion werden. Der sportlich getrimmte, fit gemachte, abgespeckte und entsprechend gekleidete Körper wurde als Konsumobjekt verstanden, an dem gesellschaftlicher Status vorgeführt werden konnte. Die Entstehungsgeschichte dieser von außen diktierten und dann verinnerlichten Körperwertvorstellungen des Fitness- und Schlankheitskults stellte wiederum ein Kulturphänomen dar, sodass individuelles und soziales Körperbewusstsein im kulturellen Körperbewusstsein verschmolzen. Der Philosoph Max Scheler sprach deshalb statt von »Körperbewußtsein« von »Leibbewußtsein«, da er die griechisch-philosophische Ganzheitslehre (Holismus) in der Vorsilbe »Leib« deutlicher repräsentiert sah.12 Im Deutschen wird im Allgemeinen zwischen dem biologischen Körper und dem beseelten Leib unterschieden, während die romanischen Sprachen diesen Unterschied nur mit einer adjektivischen Ergänzung andeuten (»corpo umano«, »corps humain« im Gegensatz zum globalen »corpo« oder »corps«). Das Wort »Leib« beschreibt nicht den biologisch funktionierenden Organismus, sondern seine harmonische, körper-geist-seelische Einheit, die den Menschen als Erfahrungswesen kennzeichnet, d. h. als Mittler zwischen dem Körper als Objekt und Subjekt und dem Geist im individuellen und gesellschaftlichen Bewusstsein. Die Lebensreformer des ausgehenden 19. Jahrhunderts machten diese Leiblichkeit zu ihrem Programm. Ihrer Ansicht nach reichte eine Revolution der Denkweise nicht aus. Sie beabsichtigten eine Versöhnung im Umgang mit Leib (Individuum) und Außenleib (soziale Umwelt).13 Auch und gerade in dieser ganzheitlichen Körpertheorie äußerte sich Zivilisationskritik. Insbesondere der Kampf gegen die moderne Volksseuche »Übergewicht« rückte ins Visier der Reformer. Der vermeintlichen Entzweiung zwischen Körper und Geist, Leib und Seele sollte entgegengearbeitet werden; beides sollte auf dem Wege der Versöhnung des »modernen Menschen« mit der Natur wiedervereinigt werden.14 Aber diese Überlegungen bewirkten ein verändertes Bewusstsein für den Körper in einem nie vermuteten Ausmaß. An der verlorenen Leib-Seele-Einheit übten die damaligen Körpertheoretiker Kritik und stellten ihr die Lobpreisung der Vitalphänomene entgegen. Im Gegensatz dazu bewertete Kant im Sinne

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der Aufklärung gerade die Trennung des Geistes vom Körper und dessen praktische Disziplinierung und Kultivierung, Moralisierung und Zivilisierung positiv. Er charakterisierte das Heraustreten des Menschen aus den Zwängen der Natur und das Fortschreiten zu individueller und gesellschaftlicher Freiheit als Befreiungsakt von unberechenbarer Wildheit zu berechenbarer Rationalität und sah die »humanitas« des Menschen durch dessen »animalitas« bedroht.15 Die Versuche einer »Renaissance des Leibes« waren dieser Idee Kants entgegengerichtet, weshalb die Lebensreformbewegung oft als rückwärtsgewandt fehlinterpretiert wurde.16 Die Lebensreformbewegung ließ sich nie in feste Definitionen pressen, sondern blieb stets ein vielschichtiges, schillerndes Abstraktum, das nur mithilfe von polaren Tendenzen umschrieben werden konnte: Rationalismus kontra Naturismus, Wissenschaftsgläubigkeit kontra Ganzheitsphilosophie, Körperdisziplinierung kontra Körperbefreiung, Körpervergessenheit kontra Wiederentdeckung des Körpers. Der Körper wurde als Protestmittel gegen Wissenschaft, Vernunft und Rationalität entdeckt. Die Lebensreform kann daher auch als Versuch des Wiederherstellens von »Körper haben« und »Leib sein« gedeutet werden.17 Das ambivalente Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Körper wurde auf den Prozess der Verwissenschaftlichung zurückgeführt, der eine bis zum Molekül zerlegende Betrachtungsweise des Körpers bewirkte, wodurch der Blick für den ganzen Menschen abhanden kam. Selbst die reformerischen Körpertheorien zogen zum Teil wissenschaftliche Studien zur Rechtfertigung ihrer Ideen heran, um dem allgemeinen Zwang nach wissenschaftlicher Beweisbarkeit Folge zu leisten. Der menschliche Körper unterlag stets den evolutionären Veränderungen im Zivilisationsprozess der Geschichte. Der Weg führt von Platons Philosophie der unzertrennlichen Einheit von Seele und Körper des Menschen in der »Verähnlichung mit Gott« über Descartes’ Entwurf der »Körpermaschine«, die die mechanistische Betrachtung des Körpers förderte, und die philanthropische Schulung des Körpers zu seiner neuen Bedeutung in der Reformpädagogik, die zur geistig-seelisch-körperlichen Harmonie des Menschen zurückkehren wollte. Auch der Bewegungsbegriff wandelte sich. Platons Bewegungsbegriff enthielt ethisch-politische Implikationen,

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während Descartes eine revolutionäre Wende brachte, indem er den Körper mit seinem »Bewegungsapparat« wissenschaftlich zu erklären versuchte. Bei den Philanthropen diente die Bewegung lediglich der ganzheitlichen Menschenbildung, wobei die Herrschaft des Geistes über den Körper erhalten blieb. Erst die Reformpädagogen versuchten seit 1900 zu einer »natürlichen« Körperbewegung zurückzukehren. Aber auch den reformpädagogischen Körpertheorien lagen wissenschaftlich abgesicherte Methoden zugrunde. Die rationalistischen Turnübungen der Philanthropen normierten den menschlichen Körper, indem sie ihn der Norm naturwissenschaftlichen Wissens unterstellten.18 Die Lebensreformer dagegen initiierten durch die Rückbesinnung auf antike Diätetik und Körperlichkeit moderne Trends, die sich verselbständigten und bis heute fortwirken. Körpergeschichte im Umriss Der menschliche Körper wurde erst in der jüngsten Zeit von der Geschichtswissenschaft als Forschungsgegenstand entdeckt. Dies signalisiert einen grundlegenden Wandel nicht nur des öffentlichen Interesses, sondern auch des Geschichtsverständnisses, wenngleich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Körper keineswegs neu ist. Erste Berührungspunkte mit der Geschichte des Körpers lassen sich in der Medizingeschichte, der Erforschung von Sitte bzw. Sexualität und Mode, der Erforschung des Tanzes und des Sports wie auch der Kunstgeschichte finden.19 Allerdings beschränkt sich die Medizingeschichte auf ihre Wissenschaftsgeschichte und ihre Errungenschaften, die Sittengeschichte auf den Wandel moralischer Wertvorstellungen und ihren Einfluss auf den gesellschaftlichen Verhaltenskanon, die Geschichte der Mode auf das Modebewusstsein, die Geschichte des Tanzes und des Sports auf die Entwicklung spezifischer Tanz- und Sportarten und die Kunstgeschichte auf Proportionslehren und künstlerisch-technische Darstellungsweisen des Körpers. Die Körpergeschichte besitzt jedoch viele verschiedene Dimensionen.20 Es muss darum gehen, die Wechselbeziehungen von Körper und Kultur interdisziplinär zu beleuchten. Der menschliche Körper

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ist in jedem Fall auch auf die Kultur hin angelegt, und die Kultur ist ihrerseits für den Körper offen. Körper und Kultur müssen in ihrer Unabhängigkeit wie in ihrem Zusammenspiel begriffen werden.21 Deshalb wäre es auch passender, in diesem Zusammenhang vom Kulturthema »Körper« zu sprechen, denn ebenso wie die Nahrung unterliegt der Körper einem fortwährenden Zivilisationsprozess. Die Vorläufer der modernen Fachhistorik beschäftigen sich durchaus auch mit den Sinnen und Organen des Körpers. Im »Prozess der Zivilisation« nahm die Unmittelbarkeit des sinnlichen Erlebens des Menschen ab, wurde der Gebrauch der Körperorgane durch sekundäre Systeme eingeschränkt und ersetzt. Im Zusammenhang mit dem Körper gab es dabei gravierende Innovationen: Das betraf die veränderte Einstellung zum Körper sowie die öffentliche Entdeckung und Aufwertung der Körperlichkeit unter dem Einfluss des Lebensstilwandels der modernen Konsumgesellschaft. Der Körper unterlag einer zunehmenden Medikalisierung, Rationalisierung, Funktionalisierung, Differenzierung, Institutionalisierung, Ästhetisierung und Kommerzialisierung. Die philosophischen Auffassungen vom Körper und seiner Verbindung mit dem Bewusstsein wie von seiner Stellung im Kosmos, in der Gesellschaft und Kultur wirkten sich ebenso auf den Umgang mit dem Körper, auf die sinnliche Freude oder den asketischen Verzicht aus wie entsprechende religiöse Gebote und Verbote. Der Körper gibt damit individuelle und soziale Idealisierungs-, Orientierungs-, Identifikations- und Repräsentationsmuster vor und kann ebenso Interaktionspartner sein, denn »Körper senden soziale Botschaften aus«.22 Eine Geschichte des Körpers bedeutet mithin immer zugleich die Behandlung der Geschichte der Körpersprache, der Kommunikationsformen des Körpers, der Affektlehre und Physiognomie, der Körperwahrnehmung, des Körpergefühls, der Körperdarstellung, der Körperbeherrschung, der Körpervorstellung und der Einbindung des Körpers in seine kulturelle Umwelt, mit anderen Worten: der Körpererfahrung im Sozialisations- und Zivilisationsprozess. Durch den Faktor der Bewegung kommt eine weitere Bedeutungsebene hinzu. Der Körper kann Individualität oder Gruppenidentität ausdrücken oder indirekte Informationen durch Körpersprache übermitteln, also personales oder soziales Medium sein. Er

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kann Statussymbol, kulturelle Metapher oder kulturelle Gebärde sein, denn er war und ist »in derselben Weise wie all die anderen technischen Dinge, deren Besitz den Platz des Individuums in der Klassenhierarchie bezeichnet, durch seine Farbe […], durch seinen Bau […], durch sein Volumen […], durch Weite, Form und Geschwindigkeit seiner Bewegungen im Raum […] ein Statussymbol – vielleicht das intimste und dadurch wichtigste von allen.«23 Demnach kann der Körper Instrument sozialer Distinktion sein. Er variiert lebenszyklisch, ist in ständiger Veränderung begriffen. Er kann Kommunikationsträger sein, z. B. durch Mimik, Gestik und spezifische Körperkonfigurationen, und ist somit ein Ausdrucksmittel für alle psychischen, sozialen und geistigen Akte.24 Der Körper verbindet den Menschen mit seinen Mitmenschen und stellt durch sein äußeres Erscheinungsbild Kontakt zwischen innen und außen, zwischen Individual- und Sozialkörper her. Mit dem Körper wird unverwechselbare Identität ausgedrückt, wobei das Äußere eine entscheidende Rolle spielt. Das soziale Leben ist durchgängig auf körperliche Berührung und Körpersprache angewiesen. Der Mensch wird im körperlichen Kontakt geboren, sucht in der Krankheit und im Sterben oft wieder körperliche Nähe. Körpervorstellungen spiegeln philosophische, religiöse, soziale, politische oder ökonomische Ordnungsvorstellungen wider und unterliegen daher einem steten Wandel. Der Körper stellt kein geschichtliches Einzelphänomen dar, sondern ist und bleibt in seiner kulturellen Eingebundenheit immer ein Zivilisationsphänomen, das einer ständigen »Evolution« unterworfen ist. Richard van Dülmen bezieht sich in seiner Körpergeschichte auf einschlägige Vorarbeiten von Norbert Elias und Michel Foucault, die zu Leitbildern einer neuen Zivilisationsgeschichte wurden, da sie die Unterdrückung und Sublimierung von Sinnlichkeit, Sexualität und Körperlichkeit als einen Grundzug des Modernisierungsprozesses erkannten. Dülmen geht sogar so weit, die These aufzustellen, dass eine Körpergeschichte die Bedeutung einer »neuen« Zivilisationsgeschichte habe, da nun alles als körperlich vermittelt erscheine.25 Auch Dietmar Kamper und Volker Rittner sind der Meinung, dass es bei einer Geschichte des Körpers stets auch um die Geschichte der gesamten Zivilisation gehe.26 Eugen König glaubt, dass eine

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Geschichte des Körpers »im ›Schicksal‹ der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften« bestehe, was unter den Begriffen »Körperdisziplinierung«, »Körperkultivierung«, »Körpermoralisierung« oder »Körperzivilisierung« zusammengefasst werden könnte.27 Er sieht die zentrale Aufgabe einer kritischen Körpertheorie in der Durchführung einer Formanalyse des Körpers und seiner Bewegungen, d. h. die scheinbar wertneutralen Formen des Körpers sind seiner Ansicht nach als politischer Inhalt zu lesen. Die Feministin Naomi Wolf interpretiert den modernen Körperkult als Mittel zur Unterdrückung der nach Gleichberechtigung strebenden Frau und zur Sicherung männlicher Machtstrukturen, denn je mehr Frauen rechtliche und materielle Schranken durchbrochen hätten, desto strikter seien die Schönheitsnormen geworden, mit denen Frauen konfrontiert wurden.28 Viele Autoren von Körpergeschichten sprechen vom »Verschwinden«, »Schweigen«, »Verstummen des Körpers«, von der »Verstümmelung« des Verhältnisses vom Menschen zu seinem Körper, ja von »Körpervergessenheit« oder vom mentalitätshistorischen Prozess der »Entkörperlichung« und versuchen, mit diesen Begriffen einen unfreieren Umgang mit dem Körper zu umschreiben.29 Bis zur »sexuellen Revolution« im 20. Jahrhundert war beispielsweise die Nacktheit des Körpers nur in Verbindung mit Sittlichkeit moralisch zu tolerieren. Der Kodex der guten Sitten für den Umgang mit dem Körper unterlag dem Prozess einer tiefen Verinnerlichung und war daher allen Mitgliedern einer bestimmten sozialen Gruppe gemein. Deshalb machen Kamper und Rittner in ihrer Körpergeschichte die von ihnen so genannte »Klassenscham« als Ursache für die »Körperscham« aus, denn jeder versuche, den Körper dem »Schönheitskanon der Oberklasse« anzupassen. Sie interpretieren diesen Trend als symbolischen Ausdruck der Beziehung, die die Mitglieder dieser Sozialschichten zu ihrem Körper unterhalten, des Gebrauchs, den sie von ihm machen, und der Funktion, die sie ihm zuschreiben.30 Aber im Gegenzug zum Verschwinden ist von der Wiederkehr des Körpers die Rede. Dies impliziert den Verlust einer ursprünglichen Einheit, die Trennung von Körper und Geist. Es geht um den

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Abstraktionsprozess des Lebens mit seiner Distanzierung, Disziplinierung, Instrumentalisierung des Körperlichen als Grundlage des historischen Fortschritts, um die damit einhergehende Ersetzung der menschlichen Natur durch ein vermitteltes Konstrukt, um Rationalisierung im weitesten Sinn.31 Es überrascht aber, dass in der Geschichte des Körpers die ästhetische Körperpflege in der Gesundheitsförderung deutlich vernachlässigt wurde. Die Menschen legen zunehmend Wert auf ihr Äußeres und versuchen darin Sinn und Orientierung zu gewinnen. Das »Kümmern um den Körper« entspringt allerdings nicht nur der Freude am Körper, sondern oft der Unzufriedenheit mit ihm. Manches Streben nach Schlankheit artet in einen Kampf gegen den Körper aus, z. B. in der Magersucht.32 Dahinter steht die Entfremdung von der Einheit aus Körper, Geist und Seele. Das Wissen über den Körper erschöpft sich nicht mehr in der Kenntnis seiner anatomischen und physiologischen Funktionen, sondern erlaubt die produktive Anwendung bisher brachliegender Kräfte und Energien. Mit der Konsolidierung maschineller Produktionsweisen in der industriellen Revolution verallgemeinert sich die »Zurichtung« des Körpers für die Zwecke effektiver Lohnarbeit; der Umgang mit dem eigenen Körper wird von nun an durch Zwänge beherrscht, denen sich das Subjekt immer weniger zu entziehen vermag.33 Noch anschaulicher kann die Trennung von Körper, Geist und Seele anhand des Medikalisierungs- und Spezialisierungsprozesses in der Geschichte der Medizin rekonstruiert werden. Der Weg führte von dem ersten großen medizinischen Körperkonzept der antiken »Humoralpathologie«, das in den Oberschichten des Abendlandes für fast 2 000 Jahre Gültigkeit hatte und von Galenus (130–199 n. Chr.) systematisiert und kodifiziert wurde, über die griechischen Naturphilosophen, die Vorsokratiker, die die irdischen Erscheinungen auf natürliche Weise zu erklären suchten, bis hin zur noch heute gültigen »Zellularpathologie«. Die antike Humoralpathologie leitete sich von den vier Naturelementen Wasser, Erde, Feuer und Luft ab, die den vier Körpersäften des Menschen entsprachen. Danach wurde dem Wasser der Schleim, der Luft das Blut, dem Feuer die Galle und der Erde die schwarze Galle zugeordnet. Mit dieser »Säftelehre« war eine »Harmonielehre« des aus Körper, Geist und

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Seele bestehenden Menschen verbunden. Die »Eukrasie« beschrieb einen Zustand, in dem sich die Körpersäfte im Gleichgewicht befanden. In diesem harmonischen Zustand der Säftemischung war der Mensch gesund. Geriet das System aus dem Gleichgewicht, wurde er krank. Dies konnte durch eine allgemeine oder lokale Ansammlung eines Krankheitsstoffes, bei Galen »materia peccans« genannt, geschehen, den dann der Körper durch Kochung (»pepsis« = Fieber) wieder in einen unschädlichen Zustand zu überführen, auszuscheiden oder abzulagern suchte. Gelang die Ausscheidung, wurde der Mensch gesund; gelang sie nicht, entstand entweder eine ungefährliche »Apostase« oder eine gefährliche »Metastase«. Die humoralpathologische Harmonielehre war eine Lebensphilosophie. Die ganzheitliche Sicht auf den Körper spielte dabei noch die tragende Rolle, und die Diätetik zur Regulation aller Lebensvorgänge war ihr Leitfaden. Für fast 2 000 Jahre blieb sie das beherrschende medizinische Konzept, wurde aber immer stärker dogmatisiert und eingeengt, sodass sie ihren philosophischen Hintergrund allmählich verlor. In der Universitätslehre des Mittelalters mit ihrem scholastischen Dogmatismus wurde die Diagnose und Therapie auf Harnschau und Aderlass beschränkt.34 Erst Paracelsus begründete in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen Wandel des Krankheitskonzepts und löste die galenische Lehre ab. Er vertrat im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit, von Patient, Arzt und Therapie. Seine »Iatrochemie« basierte zum einen auf der aristotelischen Vorstellung von »Hyle« (Substanz) und »Morphe« (Eigenschaft), zum anderen auf den Grundprinzipien der »Alchimie« als Prinzip alles Brennbaren und »Mecurius« als Prinzip des in Rauch Aufgehenden und Sublimierten; er selbst fügte »Sal« als Prinzip des Rückstandes bei der Verbrennung hinzu.35 Damit wurde der Körper neu definiert und als alchimistisches Laboratorium interpretiert. Hinzu kam die »Iatrophysik«, die den Körper gänzlich als eine physikalischen Gesetzen folgende Maschine begriff. Zum Kreis der »Iatrophysiker« waren Ärzte zu zählen, die zum ersten Mal Maß und Zahl in die Medizin einführten.36 Nach der kartesianischen Naturphilosophie baute sich die gesamte Natur aus drei verschiedenen Partikelformen auf: dem Feuerelement, das unsichtbar

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sei und alle Zwischenräume ausfülle, dem Himmelselement, dessen Teilchen ebenfalls unsichtbar seien, und dem Erdelement, dessen Partikel sichtbar seien. Aus der Mischung dieser Elemente erklärte Descartes »figura«, »magnitudo« und »motus« eines Körpers, so auch des menschlichen Leibes, den er als nach mechanischen Gesetzen funktionierende Maschine betrachtete. Die kartesianische Lehre forderte zum ersten Mal einen strikten Dualismus, d. h. die Trennung von Körperlichem und Seelischem. Erst im 17. Jahrhundert erkannte man allmählich den Zusammenhang zwischen Morphologie und Krankheit. Um die Wende zum 18. Jahrhundert wurde die mechanische Auffassung der Körpermaschine auf die Medizin übertragen.37 Der menschliche Körper wurde als von Gott geschaffener Mechanismus verstanden, der sich in fortwährender, geordneter Bewegung befinde. Fehlerhafte Bewegung führe zu Störungen im geordneten Körpermechanismus und zur Krankheit. Als Krankheitsauslöser wurde die Stockung der Säfte bzw. die Verstopfung des Körpers verantwortlich gemacht. Im 18. Jahrhundert führte Giovanni Battista Morgagni in dem Werk »De Sedibus et Causis Morborum« die Krankheiten ursächlich auf Organveränderungen zurück. Diese »Organpathologie« begründete die endgültige Abkehr von der »Humoralpathologie«. François Xavier Bichat legte 1802 das erste »iatromorphologische Medizinkonzept« vor, das besagte, dass die Krankheiten nicht an einzelne Organe, sondern an spezifische Veränderungen der Gewebe gebunden seien. Infolge der Unterteilung des Körpers in morphologische Einheiten ging die ganzheitliche Betrachtungsweise des Körpers verloren. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schritt diese Entwicklung fort. Rudolf Virchow wies nach, dass nicht Organe oder Gewebe, sondern die einzelnen Zellen krankhafte Veränderungen erfahren.38 Die »Zellularpathologie« hatte gravierende Folgen für die medizinische Körperauffassung. Nicht der beseelte »Leib« interessierte den Arzt, sondern nur noch die lokalen krankhaften Veränderungen im Körper wurden therapiert, sodass seelische Ursachen für das Entstehen von Krankheiten nahezu ausgeschlossen und Geisteskrankheiten als Gehirnerkrankungen klassifiziert wurden. Die endgültige Trennung von Körper, Geist und Seele war vollzogen. Die zwangsläufig damit einhergehende Spezialisie-

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rung der Ärzte beschleunigte diesen Prozess noch zusätzlich. Dieses Körper- und Krankheitskonzept gilt heute im Prinzip noch immer. Es vertritt die Grundsätze, dass alle Lebensvorgänge letztlich chemische oder physikalische Prozesse sind und ihre Störung Krankheit bedeutet. Dies schlägt sich in morphologischen Veränderungen nieder, die der Arzt mit seiner Therapie unmittelbar und gezielt zu beseitigen versucht. Der Körper als Ganzes ist aus dem Blick der Medizin geraten. Neben der rationalen und funktionalen Betrachtungsweise existierten aber auch immer alternative Sichtweisen vom menschlichen Körper. So entwickelte zu Beginn des 18. Jahrhunderts Georg Ernst Stahl ein ganzheitliches Körperkonzept. 100 Jahre danach war es Schellings naturphilosophische Medizin, die ein ganzheitliches Menschenbild schuf. Zur Zeit der Jahrhundertwende erlebte das ganzheitliche Krankheitskonzept in der Ausprägung der Naturheilbewegung eine wahre Renaissance, und die Ganzheitlichkeit des Körpers wurde als Lebensphilosophie wiederentdeckt. Der Körper wurde wieder zum gemeinsamen »Substrat« aller Lebensvorgänge erklärt. Die »anima« steuerte dabei den Körper; Gesundheit war Indifferenz, d. h. Harmonie, Krankheit Differenz, also eine Abweichung von Harmonie, Diätetik das Mittel zu ihrer Wiederherstellung. Der Traum von der Natürlichkeit zeichnete den Weg des »modernen Menschen« vor. Zwar nahmen die Beherrschung der Natur und die Kenntnis ihrer Gesetze in nie gekanntem Ausmaß zu, doch zugleich wurde der Einfluss auf das körperliche und seelische Befinden immer kritischer bewertet. Fortschritte der Bequemlichkeit und Effektivität, z. B. die zunehmend sitzende Beschäftigung am Arbeitsplatz, wurden nicht mehr als Fortschritt betrachtet. Die Spezialisierung der Arbeitsprozesse wurde als einseitige Deformierung des Körpers erkannt, gesunde Ernährung, Naturliebe, freie körperliche Bewegung und seelische Empfindung hingegen zu aktuellen Werten erklärt. Auch die Kunstgeschichte setzte sich mit dem Körper auseinander, beschränkte sich aber meist auf die historische Analyse von Proportionslehren, die zur Darstellung des menschlichen Körpers entwickelt wurden. Griechische Künstler errechneten die ersten Proportionen, die lange Zeit das Maß aller Dinge für die gesamte

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westliche Kunst blieben. George L. Hersey kam in seinem Buch »Verführung nach Maß« in Bezug auf die Schlankheitsthematik zu der Feststellung, dass die im abendländischen Kunstkanon in der Periode von ca. 450 v. Chr. bis 1900 n. Chr. bevorzugten selektablen Proportionen heute noch den allgemeinen Schönheitskanon bestimmen, ja dass sogar die Vorliebe für diese Proportionen verstärkt im modernen Fitness- und Schlankheitskult ihren Ausdruck gefunden und damit an allgemeiner Bedeutung gewonnen habe. Er postulierte, dass erstens die Kunst des Abendlandes die generell herrschende Vorliebe für diese Proportionen noch verstärkt habe und dass zweitens Kultur generell biologische Veränderungen präge oder wenigstens beeinflusse und die kanonischen Körpermaße des Medici-Typus das Ergebnis solcher Adaptionen seien.39 Die erste dieser Thesen ist nach Sichtung zahlreicher Diät- und Schönheitsratgeber der Jahrhundertwende sowie heutiger Diät-, Fitness-, Wellness- und »Beauty«-Literatur durchaus haltbar, denn nach wie vor entscheiden nicht nur Gewicht und Körpergröße über den Grad der anzustrebenden Schlankheit, sondern die Gesamterscheinung der Körpersilhouette mit ihren Proportionen. Dies wird besonders an Körperwahrnehmungsschablonen deutlich, die eingesetzt werden, um psychische und psychosomatische Ursachen für ein gestörtes Körperbewusstsein oder -gefühl diagnostizieren und therapieren zu können.40 Die zweite These, die von der modernen Evolutionstheorie eine Verbindung zum Proportionsschönheitsideal herzustellen versucht, ist dagegen als spekulativ anzusehen, da die meisten Menschen diesen Körperidealvorstellungen nicht entsprechen, sondern ihnen lediglich nachzueifern versuchen. Seit ca. 5 000 Jahren stellt sich der Mensch die Frage nach dem richtigen Maß in der Lebensweise (Diätetik), und ebenso lange macht er sich Gedanken über die rechte Proportion seiner Gestalt. Aus der »Anthropozentrik« mit ihrem Leitsatz »Aller Dinge Maß ist der Mensch« entstand die »Anthropometrie« als Versuch gliedernder Ordnung. Die griechische Philosophie bildete dabei den gemeinsamen Ursprung der Medizin und der Proportionslehre. So verband Vitruv seine Proportionslehre mit der platonischen Makrokosmos- und Mikrokosmoslehre und seiner eigenen Körpertheorie. Er glaubte, dass die Zahlenverhältnisse und Harmonien, nach

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denen die Welt geordnet sei, sich auch im menschlichen Körper wiederfänden, und dass auch seine Glieder über die Proportion mit seiner Ganzheit verbunden seien.41 Vitruv bezeichnete als proportioniert nicht zahlenmäßig festgelegte Maßverhältnisse, sondern Zahlenanalogien in der Verkettung von Körperteilen und -gliedern mit menschlichen Tugenden und den »artes liberales« etc. Über die sieben »artes liberales« hinaus galt die Medizin als »Summe aller Künste« bzw. Lebensregeln. Das Leitmotiv Isidors von Sevilla »medicina, id est a modo« fasste auch die Medizin ihrem Wesen nach als Proportionskunde und stand im harmoniebestimmten, über die Zahl vermittelten Kontext der Symbolik von Makro- und Mikrokosmos.42 Daher baute Vitruvs Proportionstheorie auf der Darstellung einer Figur in der vollkommenen Kreisgestalt des Kosmos auf. Die antike Proportionslehre besaß einen erweiterten Harmoniebegriff, wonach Harmonie das Zusammengeordnetsein aller Teile zum Ganzen darstellte; sie war der Grundbegriff der griechischen Kunstlehre und wurde nach Platon nur über die »schöne« Proportion erlangt. Polyklet baute deshalb seine Proportionslehre auf natürlichen organischen Einheiten, d. h. auf Körpergliedern auf. Sie besagte, dass die körperliche Schönheit vor allem auf Symmetrie beruhe. Das Element der Bewegung als Ausdruck der Lebendigkeit, Natürlichkeit und Schönheit störe den Gesamteindruck einer harmonischen Symmetrie der Körperproportionen dabei nicht, es bewirke im Gegenteil einen folgerichtigen Funktionszusammenhang.43 1753 griff der englische Zeichner und Karikaturist William Hogarth diesen Gedanken in seiner »Analyse über die Schönheit« auf und bezeichnete das Bewegungselement als »Linie der Schönheit«. Diese schlangenförmige Linie sei das eigentliche Geheimnis des Wohlgefallens zahlreicher griechischer Skulpturen und bestimme die Darstellung von natürlichen Bewegungsabläufen, sodass sich die Gestalt des Menschen in der Proportionstheorie seiner Meinung nach jeder einfachen Mathematisierbarkeit entziehe.44 Hogarths Proportionstheorie ging von den drei Prinzipien der Lebendigkeit aus, die letztendlich die Schönheit der Gestalt des menschlichen Körpers bedingen würden: das Feuer als Element der Bewegtheit und Symbolik, die Pyramide als ordnendes Element der Geometrie und die Schlange als Element des Ausdrucks, der Auswahl und

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Komposition der Figur im Raum. Mit seiner Proportionstheorie gab er dem Künstler ein erweitertes Repertoire zur Darstellung von Körperschönheit an die Hand. Nicht die Symmetrie der Körperteile zueinander stand im Mittelpunkt der Betrachtung des Körpers, sondern dessen Bewegung. Diese Sichtweise begegnet uns in der deutschen Gymnastik- und Tanzbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts wieder. Die dahinter stehende Philosophie verband medizinische, architektonische und musikalische Harmonievorstellungen mit denen des menschlichen Körpers. Proportionslehren wurden als Argumentationsbasis für lebensreformerische Körperschönheitsvorstellungen herangezogen; ihr gemeinsamer Nenner war die antike Harmonielehre. Der Aachener Kunsthistoriker Peter Gerlach betrachtet die Proportionsfrage vor einem rein philosophischen Hintergrund. Seiner Meinung nach sei dies keine naturphilosophische, sondern eine moralphilosophische Angelegenheit, da wahre Harmonie erst in Kombination mit »innerer« Schönheit entstehe. Gerlach schließt sich hiermit antiken griechischen Schönheitsvorstellungen an, die auch das Ideal vieler lebensreformbegeisterter Ästhetiker bildeten. Zur Proportion bemerkt er treffend: »Proportion beschreibt Regelhaftes, Karikatur lebt vom Verstoß gegen eben diese Regel«45; ein Satz, der am Rande erklärt, weshalb von der Körpernorm abweichende, zu »dünne« oder zu »dicke« Personen oft Opfer des Spotts werden. Ebenso sieht es der Kunsthistoriker Benno Herting, wenn er schreibt, »das Schöne« habe eine zweifache Wirkung auf unser Gefühl: Erstens gefalle es und finde unsere Zustimmung, und zweitens mache es Eindruck und löse Bewunderung aus. Die Dinge in der Welt seien nicht wahllos oder sinnlos beschaffen, sie seien geformt. Ideengemäß zu sein, sei demnach eine Voraussetzung der Schönheit.46 Ideengemäßes Aussehen werde als absoluter Maßstab an Körper und Verhalten angelegt und erkläre das ewige Bestreben der Annäherung an allgemeingültige Schönheitsideale. Als zweite Voraussetzung der Schönheit beschreibt Herting, ähnlich wie Hogarth, ein dynamisches Element, das Kraft ausstrahle und den Reiz des Geheimnisvollen und Bewundernswerten ausmache. Das Kräfteverhältnis, das zwischen den grundlegenden Formideen wirke,

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finde seinen Ausdruck in den Maßverhältnissen, den Proportionen einer Figur. Eine weitere Verbindungslinie zwischen Medizingeschichte und Kunstgeschichte lässt sich über die Entstehung der Anthropometrie ziehen, der griechischen Lehre von den Maßverhältnissen und der Messung des menschlichen Körpers. So sind die Brocasche Faustregel, die Berechnung des Körperbau-Indexes (BMI) zur Ermittlung des eventuell vorhandenen Grades an Fettsucht und der Konstitutionsindex in den Kontext der Entstehung der »medizinischen Anthropometrie« einzuordnen.47 Auch der Gedanke, Menschen in Konstitutionstypen aufzuteilen, ist sehr alt und gehört in diesen Zusammenhang. Bereits Hippokrates unterschied einen schlankwüchsigen »habitus phytisicus« von einem rundwüchsigen »habitus apoplecticus«; beide Haupttypen der Konstitutionslehre sind bis heute gültig geblieben. In den 1920er Jahren differenzierte der Körperbauforscher Ernst Kretschmer zwischen einem rundlichen »pyknischen« und einem schlanken »leptosomen« Körperbautypen und fügte als dritten Typus den »Athletiker« hinzu, der sich durch die besonders kräftige Entwicklung von Skelett und Muskulatur auszeichne.48 abb32

Kretschmers Körperbautypologie; Quelle: Kretschmer (1922)

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Die eigentliche Schwierigkeit bei vielen Körperbautypologien war, dass sie kaum über wissenschaftlich objektivierbare Verfahren zur Ermittlung der Konstitutionstypen verfügten, sodass sie immer von der Intuition des Forschers abhängig blieben. Eine aktuellere Konstitutionslehre liegt von dem deutschen Anthropologen Knussmann vor. Er entwickelte einen neuen Konstitutionsbegriff49 und erarbeitete 1968 eine körperbautypologische Einteilung, die auf anthropometrischen Messungen und möglichst wenig »vorgefassten« Typenvorstellungen basierte. In Anlehnung an seinen Vorgänger Kretschmer unterschied er zwischen den polaren Konstitutionstypen »leptomorph« (schlankwüchsig) und »pyknomorph« (rundwüchsig). Der Körperkulturanhänger Koch bestimmte schließlich noch den pyknischen, den asthenischen und athletischen Typ.50 Ein hochsensibler Indikator für kollektive ästhetische Empfindungen ist stets die Mode gewesen. Folglich reflektiert auch die Modegeschichte Momentaufnahmen der Körpergeschichte, wenn der Körper aufgrund gesellschaftsinterner Wandlungsprozesse in seinem Bedeutungsgehalt umdefiniert wird.51 Die überwiegend körperfeindlichen Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts zwängten den Körper in Kleidungsstücke, die seine Formen bewusst verhüllten. Erst um die Jahrhundertwende zeichnete sich eine freiere Einstellung zum Körper ab, die ein neuartiges Körpererleben und Körperhandeln ermöglichte und den Körper aus solchen rigiden Umhüllungszwängen befreite. Die Kleidung wurde leger geschnitten und komfortabler, eine »Versportlichung der Mode« fand statt. Später emanzipierte sich die Sportkleidung von ihrer Funktion und wurde zur Alltagsmode. Vermutlich lässt sich dieser Trend mit der Symbolkraft des sportlichen Körpers und der ihm zugeschriebenen Kleidung erklären, die Leistungsfähigkeit, Vitalität und Fitness signalisieren. Die Expansion des Sport- und Gesundheitsgedankens in den Mittel- und Oberschichten transportierte über die sportlichen Aktivitäten weitere Leitbilder, die sich in gebräunter Haut und einem alternativen Ernährungsverhalten äußerten, und deutete nicht nur auf eine bedrängte Körperlichkeit hin, sondern machte auch auf die Stilisierungserfordernisse aufmerksam, die infolge von gesellschaftsstrukturell erzeugten Individualisierungsschüben freigesetzt worden waren.

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Das gepflegte Äußere erhielt eine rang- und statusabstützende Funktion und wurde als demonstrativer moderner Konsumstil eingesetzt. Der braun gebrannte, in Sportvereinen, Gymnastik- oder Tanzschulen trainierte, narzisstisch aufgeladene und an neuartigen Gesundheits- und Schönheitsvorstellungen gemessene Körper erfuhr auf diese Weise eine Umwertung und wurde gesellschaftsfähig. Er sollte möglichst lange gesund, sportlich, aktiv und leistungsfähig erhalten werden, »um sich fit, reibungs- und lautlos einfügen zu können und ins geregelte soziale Geschehen hineinzupassen.«52 Der moderne Schlankheitsmythos wurde zum sozialen »Muss«.53 Das Suggerieren von Natürlichkeit, Gesundheit und Vitalität wurde zum Luxus, der nicht für jedermann finanzierbar war. Der durchgebildete Körper wurde zum Prestigeobjekt deklariert. Neben der Versportlichung von Mode und Alltagskleidung, dem Bräunungskult und der allgemeinen Sportbewegung stellte das »Bodybuilding« eine weitere typische Erscheinungsform der Körperaufwertung seit der Jahrhundertwende dar. Unter dem fiktiven Leitbild einer »ganzheitlichen« Behandlung des Körpers kam es aber bald zu einer neuen Einseitigkeit. Der Körper wurde paradoxerweise nicht in seiner Ganzheit trainiert, sondern in seine einzelnen Muskeln isoliert. Die Zergliederung des Körpers in seine Einzelbestandteile ließ sich demnach nicht nur in der Medizin, sondern auch im Körpertraining beobachten. Die Thematisierung des Körpers im Rahmen von Gymnastik, Tanz, Sport und Bodybuilding, Bräunungskult und allgemeiner Sport- und Schönheitsbewegung machte auf den gesellschaftlich erzeugten Bedarf nach einem funktionsfähigen und generalisierten Körperpotential aufmerksam. Der kanadische Historiker Harvey Levenstein spricht, ähnlich wie der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette, im Zusammenhang mit Ernährung von der »Paradoxie der Körperlichkeit«, mit der er das Phänomen der Gleichzeitigkeit von Körperdistanzierung und -aufwertung im Rahmen der europäischen Zivilisationsgeschichte zu erklären versucht. Es existiere in der modernen Gesellschaft sowohl die Tendenz der Körperaufwertung als auch jene der Körperverdrängung. Der Körper sei auf jeden Fall durch das Programm der Moderne deutlich beeinflusst worden. Es sei nicht nur zu einer Rationalisierung des Geistes, sondern auch zu einer verstandesmäßigen

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Übermacht und zur Beherrschung des Körpers gekommen. Beide Prozesse hätten das Körperprojekt der Moderne konstruiert, indem Jugendlichkeits-, Fitness-, Gesundheits-, Schlankheits-, Ganzheitsoder Natürlichkeitsbegriffe die Aspekte der Körperlichkeit im gesellschaftlichen Kommunikationspanorama präsent hielten.54 Körperlichkeit als soziale und politische Erscheinung besitzt damit auch eine emotionale Dimension. Mit der Geschichte des Körpergefühls, der Darstellung von Körperempfindungen und ihrem Einfluss auf das menschliche Bewusstsein in medizinischen und literarischen Werken des 19. Jahrhunderts hat sich explizit Jean Starobinski befasst. Er untersucht den geschichtlichen Definitionswandel des Begriffs »Körpergefühl«. Zentraler Begriff ist dabei die »Koenästhesie« als primäre Gegebenheit menschlichen Daseins (bewusste Wahrnehmung) und als »In-sich-Hineinlauschen« (ins Unbewusste). Der Begriff »coenaesthesis« tauchte erstmals 1794 in einer von dem Arzt Johann Christian Reil betreuten Dissertation auf, entsprach dem deutschen Wort »Gemeinwohl« und dem späteren französischen Äquivalent »sensibilité générale« oder »cénesthésie«.55 Reil orientierte sich bei der Aufstellung der drei Arten von Vorstellungen vermutlich an aristotelischen Gedanken und an Descartes’ Werk »Über die Leidenschaften der Seele«. Die Leidenschaften des Körpers waren danach Ausdruck des inneren Sinns (senus internus) auf der Bewusstseinsebene, wurden auf der Basis der äußeren Sinne (senus externus) durch Hören, Sehen, Schmecken und Tasten wahrgenommen und im Geist als Informationen verarbeitet. Nach der aristotelischen Lehre gelangten die über die äußeren Sinne vermittelten Informationen erst zum inneren Sinn, nachdem sie mit dem »Gemeinsinn« (sensorium commune) in Einklang gebracht worden waren. Entsprechend unterschied Descartes drei Wahrnehmungskategorien: erstens die auf die äußeren Gegenstände bezogenen menschlichen Vorstellungen, zweitens die auf unseren Körper gerichteten Ideen und drittens die auf die Seele bezogenen Bilder.56 Reil griff diese Dreiteilung der Vorstellungen auf und führte den Gemeingefühlbegriff in die deutsche Sprache ein, indem er schrieb, dass die Seele sich zunächst ihres eigenen geistigen Zustands, ihrer Kräfte, Handlungen, Vorstellungen und Begriffe gewahr werde, diese Dinge von sich selbst unterscheide und sich auf

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diese Weise ihrer selbst bewusst werde, sich zum anderen ihren äußeren Zustand oder die Verbindung des ganzen Menschen mit der Welt und schließlich ihren eigenen körperlichen Zustand vorstelle. Jede dieser drei Vorstellungsarten werde durch besondere Einrichtungen im Körper bewirkt: zum ersten durch das Gemeingefühl, durch welches der Seele mittels der Nerven der Zustand ihres Körpers vorgestellt werde, zum zweiten durch die Empfindung (sensatio externa) mithilfe der Sinne, und zum dritten werde das Seelenorgan selbst unmittelbar tätig. Seit der Einführung des Begriffs »coenaesthesis« diskutierten Physiologen und Psychologen über die Rolle der »somatischen Afferenzen« (Reizungen). Im 19. Jahrhundert galten diese als eigentliche Grundlage unserer Persönlichkeit. Liebe, Angst, Zorn usw. wurden als körperliche Ausdrucksformen der Leidenschaft interpretiert, die sich durch Reaktionen wie Hitze und Kälte sowie durch Zittern äußerten und zum Gegenstand weitreichender Forschungen wurden, bis sie in der wissenschaftlichen Diagnose den innerpsychischen Befindlichkeiten zugeordnet wurden. So wurden Träume bis dahin rein organischen Quellen zugeschrieben, bis schließlich Freud das Verdienst zukam, mit seiner Triebtheorie und Traumdeutung die determinierende Bedeutung der Körpergefühle analysiert und relativiert zu haben. Der Körper als Subjekt, als Selbst, als Ort bewusster Aufmerksamkeit für Unbekanntes und Vergessenes, als Experimentierfeld für schöpferische Selbsterfahrung und Wachstum, als gespürter, erlebter, offen wahrgenommener Partner fand ein neues Interesse. Um die Jahrhundertwende wurde der Körper »als Ort unbekannter Spiel- und Zwischenräume, neuer Bewegungsfreiheit, als gegenwärtige, anwesende, eigene Wirklichkeit wiederentdeckt.«57 Das Resümee von Starobinskis Untersuchung lautet, die gegenwärtige Aufmerksamkeit, die den unterschiedlichen Modalitäten des Körpergefühls gewidmet werde, sei ein Symptom der ausgeprägten narzisstischen Komponente, die unsere abendländische Zivilisation charakterisiere. Auch er entdeckt den Körper als Gegenpol zur Rationalisierung und Verwissenschaftlichung und damit als Medium moderner Zivilisationskritik. Der vorherrschenden Wissenschaftsgläubigkeit setzt er protestierend den »Somatismus«, den Kult des

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Körpers entgegen. In Bezug auf das Körperbewusstsein erkennt er: »Es ist also nicht der Körper, der dem Bewußtsein sein Gesetz aufzwingt. Es ist die Gesellschaft, die – mithilfe der Sprache – die Steuerung des Bewußtseins übernimmt und dem Körper ihr Gesetz aufzwingt.«58 Auch Starobinski geht also von einem individuellen und gesellschaftlich aufgezwungenen Körperbewusstsein aus. Eine häufig aufgeworfene Frage in der Körpergeschichtsforschung ist, ob der moderne Schlankheits- bzw. Schönheitskult eine Zwangsnorm oder ein Machtmedium darstellt. Beide Meinungen sind immer wieder zu lesen. Auf der einen Seite gibt es die hauptsächlich von Feministinnen vertretene These, der moderne Schlankheitswahn sei eine männliche »Erfindung« zur Unterdrückung weiblicher Selbstbehauptung und ein Instrument sozialer Kontrolle, wie es z. B. Naomi Wolf ausdrückt.59 Auf der anderen Seite wird die Schönheit umfassender begriffen und als »soziale Macht« interpretiert, die aus genetischer Sicht im Dienste der Lebenserhaltung stehe und zum gesellschaftlichen Erfolg verhelfen könne.60 Der springende Punkt dabei ist die divergierende Definition des Schönheitsbegriffes, wie dies auch Schlaffer bei ihrer Behandlung der Schönheitsthematik erkennt, wenn sie schreibt: »Das Hin und Her zwischen den Kontrahenten ist die Folge einer terminologischen Unschärfe.«61 Der Unterschied ist, dass die den feministischen Standpunkt vertretende Partei beinahe ausschließlich von einem Schönheitsbegriff ausgeht, der auf die äußere Erscheinung des Menschen fixiert bleibt und kaum andere Werte gelten lässt, sodass durch den Zwang, den äußeren Schönheitsnormen entsprechen zu müssen62, ein sogenannter »Schönheitsterror« entstehe, der vor allem die Frauen zu Diäten, Kosmetik und Schönheitsoperationen greifen lasse. Der Schlankheits- oder Schönheitskult wird nicht als historisch gewachsen aufgefasst, sondern nur als politische »Waffe« der Männer gegen die Frauen interpretiert, wenn es heißt: »Die Ideologie des Hungers ist ein wirksames Mittel gegen die Frauenbewegung.«63 Die Verehrer des Schönheitssinns hingegen, wie z. B. Bernd Guggenberger, vertreten die These des »Schönheitstabus«. Die Schönheit werde als »Waffe der Frau« im Geschlechterkampf eingesetzt; Männer seien durch den Einsatz dieser Waffe psychologisch manipulierbar, ja z. T. sogar hilflos. Gerade im Zeitalter der Reizüberflu-

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tung habe die Schönheit eine verstärkte Signalfunktion erlangt und stelle einen Machtfaktor dar, der an Bedeutung gewonnen habe.64 Guggenberger differenziert zwischen einer »objektiven Ästhetik«, worunter er die einem Gegenstand eingeschriebene Eigenschaft der Schönheit versteht, und einer »subjektiven Ästhetik« oder Rezipientenästhetik, bei der nicht der schöne Gegenstand selbst, sondern der Betrachter den Ausschlag für das Schönheitsempfinden gibt. Demnach richtet sich die Aufmerksamkeit »auf die Wahrnehmungs- und Erkenntnisbedingungen, den Anteil der Emotionen bzw. der rationalen Einsicht, auf alles, was der Rezipient an eigener Geschichte, Erfahrung, Wissen, Interesse, Motiven und Vorurteilen mit sich führt und was in seine Schönheitsbeurteilung einfließt.«65 Aus einem schlanken, attraktiven Körper könne enormes Kapital geschlagen werden, wenn man z. B. an das Einkommen heutiger Supermodels denke. Folglich definiert Guggenberger Schönheit ganz im Sinne Kants als etwas, was unsere Erkenntniskräfte in einen harmonischen Zustand versetzt. Mit dieser Definition erfasst er die individuellen Erkenntnisbedingungen, vergisst freilich dabei, die Wechselwirkung mit der sozialen Umwelt zu berücksichtigen. Beide Positionen bleiben so letztlich an eingeschränkte Schönheitsdefinitionen gebunden. Einen gewissen Ausgleich zwischen diesen beiden extremen Meinungen bietet Hannelore Schlaffers Arbeit über die »Schönheit«.66 Sie begreift die Schönheit und auch das Schlankheitsideal als ein historisch gewachsenes Phänomen, das sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene entstanden sei. Unter dem Begriff Schönheit fasst sie ein System von Verhaltensweisen, das wie Moral, Macht und Bildung das gesellschaftliche Leben organisiert, ergänzt so Guggenbergers Definition um das wichtige soziale Moment und bezeichnet Schönheit als Umgangsform in der Zeit, mit der die Menschen miteinander kommunizieren. Ihr umfassender Schönheitsbegriff führt sie, ähnlich wie Guggenberger, zu der Meinung, dass Schönheit nie allein ein weibliches Lustspiel für Männeraugen gewesen sei, sondern stets auch der Inszenierung von Macht gedient habe, der sich auch die Männer zu unterwerfen hatten. Schönheitsideale stellten zu allen Zeiten konstruierte Ideale dar und haben folglich eine eigene Geschichte. Deshalb ist es angebracht,

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von einem Schönheits- bzw. Schlankheits-»Kult« zu sprechen, denn Ethnologen haben den Kult als den ursprünglichen Ort der Schönheit beschrieben. Schönheit ist kein physischer Zufall, sondern eine Inszenierung zu Ehren der Götter, heute würde man sagen, zu Ehren der Gesellschaft. Schönheit impliziert etwas sozial Erstrebenswertes, das Streben nach Macht; sie ist eine soziale Geste und kann nicht als naturgegeben hingenommen werden. Die Kultur- und Frauensoziologin Farideh Akashe-Böhme bezweifelt in ihrem Buch »Reflexionen vor dem Spiegel«, ob man Schönheit überhaupt definieren könne, und gelangt zu dem Schluss, dass keiner der vielen unterschiedlichen Definitionsansätze wirklich greife.67 Die Historikerin Michèle Didou-Manent stellt den Schlankheitskult als Möglichkeit der Demonstration von Unabhängigkeit, ja Emanzipation der Frau dar: »Schlankheit bedeutet für die Frauen, dass sie in ihren Bewegungen frei und in ihrem Denken vital sind. Sie reagieren anpassungsfähiger auf Veränderungen und sind dadurch unabhängiger von ihrem Partner.«68 Anders gesagt: An der Schönheit soll aktiv gewirkt werden, um sie zur Tugend zu machen. Der Körper soll durch gesunde Ernährung und Bewegung in Form gehalten werden und nicht durch eine ungeordnete Ansammlung von Fettzellen aus dem Rahmen der gesellschaftlichen Schönheitsvorstellungen springen. In der antiken Philosophie bildete die harmonische Einheit von äußerer und innerer Schönheit das Ideal. Nach der Trennung der Wissenschaften von den schönen Künsten verlor dieses Schönheitsideal an Bedeutung. Erst im Zuge des naturphilosophischen Denkens erlangte die Schönheit als natürliche Ordnung aus der Hand des Schöpfers wieder ihr ursprüngliches Gewicht zurück: »Die Schönheit ist Ausdruck einer von Gott wohlgeordneten Welt.«69 Eine natürliche Schlankheit wurde Ordnungsmaßstab der Schönheit. Ein Vordenker dieser Richtung war der schottische Philosoph Francis Hutcheson, der aus der presbyterianischen Tradition kam und vermutlich Rousseau beeinflusst hat.70 Seine Ideen zu den Begriffen von Schönheit und Tugend gingen von einem natürlichen Gefühl für Schönheit aus, das dazu da sei, dem Menschen Vergnügen zu bereiten. Schönheit finde sich in der Natur und zeichne sich durch Regelmäßigkeit, Ordnung und Übereinstimmung der Körperformen aus. Hutcheson unterschied die »absolute Schönheit«, die die

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Schönheit eines Gegenstandes beschreibe, und die »relative Schönheit«, die sich aus der Schönheit des Gegenstandes und der Empfindung des Betrachters ergebe. Schönheit bestehe aber nicht nur aus äußerer, sondern auch aus innerer Schönheit, d. h. Moral oder Tugend: »Askese ist die vornehmste aller Tugenden, ob der Gott, dem sie dargebracht wird, Christus heißt oder Venus oder ›Gesundheit‹. Schlankheit steht heute als Synonym für Schönheit.«71 Akashe-Böhme betont den ambivalenten Charakter der Zuordnung der Schönheit zum weiblichen Geschlecht, da die Frau auf diese Weise in mystifizierte Ferne gerückt werde und die Schönheit als Machtfaktor ihre gesellschaftliche Macht kompensiere. Längst betreffe das »Schönsein« und »Gesundsein« durch »Schlanksein« nicht mehr nur Frauen; dies seien generell bedeutsame Werten im modernen Alltagsleben geworden. Das Thema »Schönheit« beschäftige nun Männer und Frauen gleichermaßen.72 Nach Schlaffers Meinung hat Schönheit als Normkodex schon immer existiert, und jedem bleibe selbst überlassen, wie er persönlich für sich Schönheit definiere. Schlaffer spricht deshalb von der Schönheit als demokratischer Möglichkeit. Schönheit sei in der Demokratie gerade deshalb das Glück für jedermann, weil jeder jeden unerträglich hässlich finden dürfe.73 Die Medizinsoziologin Elisabeth Redler bezeichnet dagegen das übersteigerte Schlankheitsideal als destruktive Tendenz, die den Menschen physisch und psychisch krank machen könne, und behauptet, Attraktivität bekomme man in die Wiege gelegt, und an den Ausgangsvoraussetzungen könne man wenig ändern. Lediglich der Umgang mit Schönheit könne toleranter werden.74 Die Feministin Viola Roggenkamp betont den psychischen Druck, den sozialen Normenterror, durch den Mode und Kosmetik zu einer ideologisch missbrauchten Geißel würden, die ohne Umwege direkt in die Diät treibe.75 Naomi Wolf hingegen interpretiert den Schönheitsmythos als »geschlechtsspezifische Norm«76, denn gerade Frauen unterlägen dem »Schönheitsterror«, der kulturell durch überlieferte Klischees gefördert werde. So existierten nach wie vor die Klischees der »hässlichen Intelligenten« und der »dummen Schönen«, sodass die Eigenschaften der Schönheit und Klugheit nach landläufiger Meinung unvereinbar seien. Im Gegensatz

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zur antiken philosophischen Schönheitstradition dürften Frauen Geist oder Körper haben, aber nicht beides gleichzeitig. Es gibt nun eine gesellschaftliche Realität, der sich keiner entziehen kann: Bereits Neugeborene werden aufgrund ihrer Attraktivität unterschiedlich behandelt, und das Stereotyp vom »Schönen und Guten« beeinflusst alle Situationen, in denen sich Unbekannte gegenüberstehen. Auch die Stereotypen vom »faulen Dicken« und »dummen Dicken« beeinflussen Menschen unterbewusst, z. B. bei Einstellungsgesprächen. Obgleich bei beiden Geschlechtern der Anteil an Übergewichtigen in etwa gleich ist, sind auch heute vorwiegend Frauen Teilnehmerinnen an Schlankheitsprogrammen77, da sie traditionell als das »schöne Geschlecht« stärker unter dem Druck des Schlankseinwollens stehen. Sie sind deshalb auch stärker der Gefahr von Essstörungen ausgesetzt. Ursula Nuber bestreitet diese Behauptung allerdings. Sie räumt zwar ein, dass vielen Essstörungen Diätversuche vorausgegangen seien, »doch ein eindeutiger Zusammenhang konnte bislang wissenschaftlich noch nicht belegt werden«.78 Im Allgemeinen gelten Essstörungen heute überwiegend als typische Frauenkrankheit, während dies zur Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Hysterie war.79 Die amerikanische Psychologieprofessorin Rita Freedman spricht sogar vom Zwang, schön zu sein, der seine Opfer fordere: »Körpertraining ist, wie Diät, anfangs oft eine Defensivstrategie gegen Ängste, kann sich aber zu einer zwanghaften Störung entwickeln. Zwanghaftes Körpertraining und chronisches Diäthalten werden manchmal als ›Doppelobsession‹ bezeichnet.«80 Für sie bleibt das Überdenken der bisherigen Schönheitsvorstellungen ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung des Feminismus. Das Selbstgefühl existiere nicht unabhängig vom Körper, es sei untrennbar mit dem Körper verbunden. Falsche Schönheitsvorstellungen brächten »falsche« Körperteile hervor, nämlich neumodellierte Taillen, Busen und Gesichter, die wie erworbene Accessoires getragen würden. Solange Frauen sich hinter solchen kulturellen Verzerrungen verbergen, so Freedman, werden sie auch von ihnen kontrolliert, ganz gleich, wie sicher sie sich damit fühlen mögen. Auch Freedman interpretiert den Schönheitsmythos als gesellschaftliche Kontrollinstanz zur Unterdrückung weiblicher Machtansprüche. Sie

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fordert neue, nicht rein auf das Äußerliche fixierte Schönheitsvorstellungen, entspannte und kraftvolle Persönlichkeitsleitbilder, die uns ein gesundes Selbstwertgefühl und die persönliche Freiheit als Grundbedingungen für die Erreichung unserer Lebensziele garantieren. Sie übersieht dabei aber, dass der moderne Schönheits- und Schlankheitsmythos nicht auf Frauen beschränkt geblieben ist, sondern längst auch in die Männerwelt eingedrungen ist, sodass die simple feministische Formel der 1980er Jahre »weiblicher Schönheitsmythos = männliches Machtinstrument zur Unterdrückung der Frauen« längst nicht mehr aufgeht und kaum noch in der neueren Schönheitskultliteratur vertreten wird. Die Kritik der feministischen Bewegung, der übertriebene Schlankheitskult sei ein Unterdrückungsinstrument der Männer gegen die Frauen zur Sicherung ihrer politischen Macht, ist nicht mehr haltbar. Diese Hypothese bedeutet ja, dass das Schlankheitsideal eine »Erfindung« der Frauen ist und diese sich aus ihrer unterwürfigen Position als für den Mann zur freien Verfügung stehendes Sexualobjekt mit der bewussten Unterdrückung erotischer Reize durch eingeschränkte Nahrungszufuhr befreit haben. Deshalb kehren manche Feministinnen inzwischen auch den modernen Fitnesskult ins Gegenteil um und interpretieren einen durchtrainierten Körper als Ausdruck eines unabhängigen Geistes und »triumphales Testament der feministischen Revolution«.81 Damit wären Schlankheit und emanzipatorische Bestrebungen historisch eng miteinander verknüpft, was wieder zur Lebensreformbewegung zurückführen würde. In dieser Weise interpretiert auch die Sozialwissenschaftlerin Christina von Braun das Schlankheitsideal. Sie glaubt sogar, einen Paradigmenwechsel der Geschlechterrollen feststellen zu können, der zu einer zunehmenden weiblichen Askese führe, und interpretiert Magersucht als Weigerung, dem von Männern entworfenen weiblichen Schönheitsideal weiter zu folgen.82 Das erotische Moment der Schönheit solle dadurch verweigert werden. Schönheit, Attraktivität und Erotik bilden ihrer Ansicht nach einen unauflöslichen Komplex, der biologisch begründet sei und dem sich keiner entziehen könne, es sei denn durch Verdecken des Körpers oder durch Selbstzerstörung (z. B. Magersucht).83 Aber auch immer mehr Männer machen sich zunehmend Sor-

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gen um ihre Körperformen. Die Anforderungen an den modernen Mann lauten: »Leicht gebräunt, sportlich, schlank und faltenlos«.84 Bei Männern scheint jedoch der Fitnesskult eine größere Rolle zu spielen, da die Muskulatur im Brennpunkt ihrer Schönheitsvorstellungen steht. Vielleicht hängt dies auch damit zusammen, dass der Mann nach wie vor, wenn auch in geringerem Maß als früher, der Hauptversorger der Familie ist und glaubt, auf diese Weise seine beruflichen Erfolgsaussichten verbessern zu können. Die Massenmedien suggerieren den Schlankheitsbewussten einen direkten Zusammenhang zwischen Idealgewicht und Lebensglück und implizieren das Scheitern einer Diät als Unvermögen, Willensschwäche und Versagen. Diäthalten bedeutet Steigern des Selbstwertgefühls, Scheitern der Diät das Sinken des Selbstwertes. Schlankheit wird so von den Massenmedien in der Gesellschaft durchgesetzt. Dabei sind immer mehr Wissenschaftler mittlerweile zu dem Schluss gelangt, »dass Übergewicht eher eine Schicksals- als eine Schuldfrage ist«85, da inzwischen eine genetische Veranlagung zum Übergewicht nachgewiesen werden kann. Im Zeitalter der Molekularbiologie lassen sich erhebliche Fortschritte in der Fettzellenforschung verzeichnen. Diese jüngsten Errungenschaften der Wissenschaft erlauben einen besseren Einblick in die Struktur des Fettgewebes und seine Wechselbeziehungen mit dem Gesamtorganismus und haben das Bild von der Fettsucht verändert, indem entdeckt wurde, dass Fettleibigkeit wie Magerkeit aus einer Kombination verschiedenster Faktoren resultieren, die genetisch-biologischer wie auch sozio-kultureller Art sein können.86 Einziger Ausweg aus dem »Schlankheitsterror« scheint zu sein, das Streben nach dem Idealgewicht zugunsten eines Wohlfühlgewichts aufzugeben, welches im Rahmen der physiologischen und psychologischen Möglichkeiten des eigenen Körpers steht. Man sollte sich nicht durch äußere, gesellschaftliche Zwänge zu einer Diät verleiten lassen, sondern nur dann, wenn man selbst den Wunsch des Sich-besser-Fühlen-Wollens verspürt. Auf keinen Fall soll man strikte Nahrungstabus auferlegen, um dem »Diät-Wahn«, der »Diät-Falle« oder der »Diätspirale« mit ihrem »Jo-Jo-Effekt« zu entfliehen.87 Die Überbewertung des Äußerlichen ist eine Krankheit unserer Zeit. Schuld daran sind falsche Normen, an denen sich der

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Schlankheitswahn orientiert. Die meisten Menschen leiden nicht an Gewichtsproblemen, sondern an sozio-kulturellen Imageproblemen. Unbestreitbar bleibt, dass mehrere Wirtschaftszweige am modernen Schlankheitswahn recht gut verdienen. Laut Umfragen sind zahlreiche Menschen bereit, für eine schnelle Gewichtsreduktion sogar ihre Gesundheit zu opfern. Neben der Pharmaindustrie profitieren auch zahlreiche Schönheitsinstitute von diesem Schlankheitswahn, die mit teuren, lebensgefährlichen und hochkomplizierten Verfahren Fett absaugen oder operativ entfernen. Selbst Kinder sind vom »Diätwahn« nicht verschont geblieben, da sich die positive Bewertung körperlicher Attraktivität in allen Altersgruppen finden lässt und Kinder diese Wertmaßstäbe bereits mit vier bis sechs Jahren verinnerlicht haben.88 Nach Stearns sind in Nordamerika bereits viele Kinder davon betroffen und müssen für ihre Figur z. T. hungern. Auch in England hat statistisch gesehen beinahe jedes zehnte Kind im Alter von sechs Jahren bereits eine Abmagerungskur gemacht. Kinder beschreiben schlanke Menschen als liebenswürdig und großzügig, während »Dicke« mit gemeinen, unfreundlichen Raufbolden assoziiert werden. Elisabeth Redler hat zum Wandel der Schönheitsideale und zum Bedeutungszuwachs einer schlanken Figur zwei Thesen vorgestellt. Erstens konzentrierten sich die Menschen immer mehr auf ihren Körper, weil sie immer weniger soziale und politische Einflussmöglichkeiten besäßen, aber gleichzeitig den Drang hätten, etwas zu bewegen. Zweitens sei das »Sich-in-Form-bringen« zum neuen moralischen Imperativ geworden und ein verlockender Ersatz für Altruismus und sinnvolle Arbeit. Der Wunsch gut auszusehen ersetze den Wunsch Gutes zu tun. In dieser säkularisierten Moral hätten Schönheitswerte und -ideale die traditionellen moralischen und religiösen Standards abgelöst.89 Die aktive Gestaltung der sozialen Umwelt sei damit auf die individuelle intime Ebene verlagert worden – ein Prozess, der von außen nach innen führe. Die erste These erscheint wenig plausibel, denn will ein Individuum sich tatsächlich aktiv an einer Problemlösung beteiligen, bestehen in einer Demokratie heute mehr Möglichkeiten dazu als früher. Der zweiten These kann man zustimmen, denn die Werte-

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bzw. Normverlagerung von außen nach innen lässt sich im Zusammenhang mit dem Wandel von Schönheitsidealen historisch nachvollziehen. Erstens gab es eine Verlagerung von äußerer Kontrolle (Beleibtheit zeugt von Schwäche) zur inneren Affektkontrolle (Triebbeherrschung), zweitens wurden äußere Hilfsmittel (Korsetts, Hüftgürtel) von innerlich wirkenden Schlankheitsmitteln (Diäten, Entfettungspillen, Abführmittel) abgelöst und drittens machte der äußere Feind der Schlankheit (überschüssige Nahrung, Bewegungsmangel) zunehmend einem inneren Feind (Cholesterinwerte) Platz.90 Seit einigen Jahrzehnten gelten erhöhte Blutfettwerte als zentrale Gesundheitsrisiken hinsichtlich der Entstehung von Arteriosklerose und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In den USA wurde deshalb in Interventionskampagnen gegen die »Blutfett-Teufel« mobil gemacht. In Deutschland raten Ernährungsmediziner dazu, den Fettverzehr qualitativ zu dritteln, indem sie empfehlen, ein Drittel gesättigte, ein Drittel einfach ungesättigte und ein Drittel mehrfach ungesättigte Fettsäuren zu sich zu nehmen.91 Dank intensiver Studien ist inzwischen aber längst bekannt geworden, dass Cholesterin ein Doppelagent ist; d. h. es gibt eine gesunde und eine ungesunde Cholesterinart. Offensichtlich ist es einfacher, bestimmte Lebensmittel, insbesondere die Fette, für das eigene Übergewicht verantwortlich zu machen als den Lebensstil (Nahrungsgewohnheiten, Bewegungsmangel etc.), denn das hieße, eigene Fehler eingestehen zu müssen. Soziale Statussymbole stellten immer ein Privileg dar. So kann auch die Schönheit gesellschaftliche Rangunterschiede zur Geltung bringen. Schöne Frauen waren daher schon immer ein Privileg mächtiger Männer, zunächst der Aristokraten. Dann eiferte das Bürgertum diesem sozialen Differenzierungsideal nach.92 Begüterte Oberschichten verfügten im Vergleich zum »gemeinen Volk« immer über mehr Nahrung und Zeit. Als das Bürgertum diese soziale Distinktionsmöglichkeit übernahm, musste es für Schönheit nicht nur sehr viel Geld, sondern auch eine Menge Zeit aufwenden. Laut amerikanischer Attraktivitätsforschung sind extreme Schönheit oder Hässlichkeit aber eher selten anzutreffen. Die meisten Menschen gelten als durchschnittlich attraktiv, können aber ihre Attraktivität durchaus positiv oder negativ beeinflussen.

Zu Bewusstsein und Geschichte des menschlichen Körpers

Global gesehen existieren die Paradoxa des Problems von Überfluss und Fettleibigkeit und dem Ideal der Schlankheit in den Wohlstandsstaaten und des Problems von Hunger und Dünnleibigkeit und dem Ideal der Beleibtheit in Entwicklungsländern.93 Ärmere Bevölkerungsschichten mussten früher auf dem Feld oder anderswo im Freien körperlich arbeiten. Reiche brauchten dies nicht, deshalb war es ein Privileg, eine blasse Haut zu haben. Nachdem aber nach der Industrialisierung auch die Arbeiter in dunklen Fabrikhallen »erblassten«, stellte dies kein besonderes Merkmal der vornehmen, gebildeten Oberschicht mehr dar. Nun wurde es zum Privileg, sonnengebräunt zu sein, da man aufgrund der finanziellen Unabhängigkeit über das notwendige Geld und die Freizeit für das »Sonnenbaden« verfügte. Heute könnte man dem alten Spruch »Wissen ist Macht« die Aussage »Schönheit ist Macht« zur Seite stellen. Schönheit ist heute weit mehr als früher eine soziale Macht. Dieses Phänomen erklärt auch, weshalb immer mehr Menschen sich um der Schönheit willen »malträtieren« – sie hungern bis zur Entstehung gefährlicher Krankheiten, unterziehen sich schmerzhaften Schönheitsoperationen und schlucken gesundheitsschädigende Mittel. Therapeuten berichten über eine wachsende Anzahl von Frauen, die ein obsessives Körpertraining betreiben, nur um dem aktuellen Schönheitsideal einer schlanken Figur zu entsprechen. Diese Patientinnen leiden unter schweren Ängsten, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren. Dieses phobische Symptom steht in unmittelbarer Verbindung mit dem veränderten Schönheitsideal.94 Schönheit und Gesundheit werden seit dem 20. Jahrhundert daher oft als unversöhnliche Gegensätze angesehen, weil Verschönerung eine nicht selten gewaltsame Zurichtung des Körpers bedeutet. Im bekannten Sprichwort »Wer schön sein will, muss leiden« manifestiert sich diese Ansicht. Ein Diäthalten, das durch äußeren gesellschaftlichen Druck motiviert ist, ist zum vorzeitigen Scheitern verurteilt. Erst wenn der oder die Diäthaltende aus subjektiven Gründen des Wohlbefindens abnehmen will, kann ein optimaler Umgang mit dem Schlankheitsideal vorausgesetzt werden. An die Stelle des »Schlankheitswahns« sollte eine »Wellnessbewegung« treten; ein Schlagwort, das in der heutigen Zeit stets häufiger fällt, was – vor-

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ausgesetzt, es ist wirklich so gemeint – positiv zu bewerten wäre. Schönheit könnte dann in den erweiterten Gesundheitsbegriff der WHO integriert werden, der unter Gesundheit nicht nur die bloße Abwesenheit von Krankheit, sondern ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden versteht. Schönheit könnte demzufolge im Sinne einer positiven Einstellung zur eigenen Person (Selbstachtung/Selbstwertgefühl), einer positiven Einstellung zur Umwelt (Bejahung der Umwelt/Liebesfähigkeit) und einer positiven Einstellung zur Zukunft (Optimismus) uminterpretiert werden.95

1 Paulus (1982), 17 ff. 2 afferent = vom Sinnesorgan zum Zentralnervensystem führend. 3 Hier zitiert nach Redler (1994), 58. 4 Fisher/Cleveland (1968), 6. 5 Head (1920). 6 Schilder (1923), 2. 7 Vgl. Schilder (1923); Conrad (1933), 346–369. 8 Fellsches (1991), 13 f. 9 Siehe Field (1978), 244–264. 10 Fellsches (1991), 15. 11 Milz (1992), 181. 12 Engelhardt (1999), 10 ff. 13 Fellsches (1991), 16 f. 14 König (1989), 3. 15 Zitiert nach König (1989), 4. 16 Vgl. z. B. Horkheimer/Adorno (1984). 17 Hirsch (1989). 18 König (1989), 12. 19 Milz (1992), 180. 20 Dülmen (1996), 7. 21 Engelhardt (1999), 15 ff. 22 Freedman (1989), 181. 23 Kamper/Rittner (1976), 170. 24 Engelhardt (1999), 14 ff. 25 Dülmen (1996), 9.

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Kamper/Rittner (1976), 8. König (1989), 2–4. Wolf (1991), 11. Kamper/Wulf (1982), 9; Kamper/ Rittner (1976), 7 ff. Kamper/Rittner (1976), 169 f. Kamper/Wulf (1982), 9. Redler (1994), 11. Hoffmann (1984), 38. Kamper/Wulf (1982), 289. Kamper/Wulf (1982), 290. Vgl. Braunfels et al. (1973), 107–121. Hoffmann (1695). Virchow (1858). Hersey (1998), 14 f. Paulus (1982), 93 ff. Braunfels et al. (1973), 43 ff. Gerlach (1990), 6. Braunfels et al. (1973), 37. Hogarth (1753), 14 f. Gerlach (1990), 3. Herting (1986), 45. Braunfels et al. (1973), 107–117. Kretschmer (1922). Braunfels et al. (1973), 117. Koch (1929), 89 ff. Bette (1989), 109 ff. Milz (1992), 181 ff.

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Wolf (1991), 386 f. Levenstein (1993). Bette (1989). Starobinski (1987), 11. Starobinski (1987), 14 f. Milz (1992), 182. Starobinski (1987), 20 ff. Wolf (1991), 13. Guggenberger (1995), 23. Schlaffer (1996), 122. Akashe-Böhme (1992), 16. Wolf (1991), 278. Guggenberger (1995), 167, 174. Guggenberger (1995), 51. Schlaffer (1996), 8 ff. Akashe-Böhme (1992), 16 ff. Didou-Manent et al. (1998), 220. Barck et al. (1990), 348 ff. Hutcheson (1762). Schlaffer (1996), 34. Akashe-Böhme (1992), 15. Schlaffer (1996), 125. Redler (1994), 12. Schwarzer (1986), 68.

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Wolf (1991), 271 ff. Wolf (1991), 128 ff. Nuber (1997), 102 f. Wolf (1991), 281. Freedman (1989), 201. Nuber (1997), 92 ff. Braun (1989), 68. Akashe-Böhme (1992), 17. Nuber (1997), 91. Nuber (1997), 94. Didou-Manent et al. (1998), 213. Vgl. Schwarzer (1986), 97; Klein (1991), 9, 23. Redler (1994), 62. Redler (1994), 40. Vgl. hierzu Didou-Manent et al. (1998), 204 ff. Klotter (1993), 71. Didou-Manent et al. (1998), 181. Didou-Manent et al. (1998), 203; Klotter (1993), 69. Freedman (1989), 200. Redler (1994), 26, 28.

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Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder« zum modernen Gesundheits- und Körperbewusstsein Die Lichtluftbadebewegung Zur Zeit der Jahrhundertwende ging die Lebensreformbewegung in ihre dritte historische Periode, die Phase der Entdeckung der Schönheit des menschlichen Körpers, über. Dabei fand die Körperkultur der Jahrhundertwende ihren revolutionärsten Ausdruck in der öffentlichen Inszenierung des nackten Körpers. Das Bewusstsein für den Körper als Quelle und Träger einer Universalsprache des Protests wuchs in dem Augenblick, als er durch den technischen, industriellen und wissenschaftlichen Fortschritt bedroht zu sein schien. Somit stellt die Integration der Einstellung zum menschlichen Körper und zur Sexualität in das Programm der Lebensreformbewegung ein Hauptcharakteristikum dar. Ihre Anhänger wollten eine »Revolutionierung des Körpers«, eine »Körperbefreiung« auf diesem durch anerzogene Schamgefühle verschlossenen Gebiet bewirken.1 Dass ihre Ideen auf fruchtbaren Boden fielen, lässt sich an dem allmählich freieren Umgang mit dem nackten Körper und den zur Jahrhundertwende aufkommenden Diskussionen über bis dahin

Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder«

tabuisierte Themen erkennen. Sexualreformerische Ideen, Programme, Reden und Schriften ebneten den Weg für den Ausbruch aus der Prüderie der wilhelminischen Körpernormen. Diese Wiederentdeckung des Körpers in einem ganzheitlichen Sinne war die eigentliche Leistung der Lebensreformer, die »Körperreform« war der dritte Hauptstrang ihrer Ziele.2 Die Grundlage hierfür bildeten die Begründer der deutschen Nacktkulturbewegung, die zur Zeit der Weimarer Republik zu einer Massenfreizeiterscheinung wurde. Die ästhetische Körperbildung beider Geschlechter wurde als lebensreformerische Aufgabe begriffen. Die einzelnen Körperreformbewegungen (Gymnastik-, Nacktkultur-, Sexualreform-, Kleiderreform- und Sportbewegung, Reformpädagogik, Ausdruckstanz) griffen jeweils einzelne Aspekte der erstrebten körperseelischen Regeneration heraus, ohne das Bewusstsein für das übergeordnete Ziel einer Sozialreform aus den Augen zu verlieren. Nur auf diesem Weg waren praktische Experimente alternativer Lebensgestaltung möglich, welche jeweils vom menschlichen Körper und seinen durch Industrialisierung und Urbanisierung verursachten Schwächungen bzw. gar Schädigungen ausgingen und über die gesundheitliche Regeneration des Körpers dem Menschen seine leibseelische Einheit zurückzugeben hofften. Das explosionsartige Bevölkerungswachstum und die Hochindustrialisierung provozierten als Gegenbewegung die Sehnsucht nach Licht, Luft, Sonne und körperlicher Ertüchtigung. Die Körperkulturbewegung opponierte gegen den körperlichen und »geistig-sittlichen« Verfall der Großstadtmenschen. Der Mensch im »Lichtkleid« sollte die heilenden und stärkenden Kräfte von Luft, Sonne, Wasser und Erde empfangen. Dabei wurde nicht an untätige Entspannung im Freien gedacht, sondern vielmehr sollte der Mensch seinen Körper durch Bewegung, Gymnastik, Sport und Atemschulung formen. Die Lebensreformer waren übereinstimmend der Meinung: »Was Not tut, ist das natürliche Gefühl für den Körper.«3 Die Nacktkulturbewegung hob das Tabu des Nacktseins auf, indem sie einen Umdenkungsprozess im Umgang mit dem eigenen Körper und seiner Sexualität initiierte: »Gesundung kann nur kommen durch Natürlichkeit und Nacktheit ist nun einmal natürlich.«4 Den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Körper bil-

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deten hygienische Überlegungen. Die Nacktkultur- wurzelte daher in der Naturheilbewegung. Besonders der Lichtlufttherapeut Arnold Rikli war den Nacktkulturanhängern ein Vorbild. Er entwickelte die These der »Thermodiätetik«, die besagte, dass der Mensch eigentlich ein »Lichtluftgeschöpf« sei und dass die Licht- und Luftbadkur eine raschere Gesundung des Menschen herbeiführe als jede noch so ausgebildete Wasser-Bäder-Kur.5 In seiner Schrift »Die Thermodiätetik« von 1869 bezeichnete er die natürliche Lebensweise als die am meisten beseelende Religion und entwickelte »Selbsterkenntniß, Selbstbeherrschung und Selbstveredlung« als idealistische Kampfbegriffe gegen die »verheerenden« Auswirkungen der unnatürlichen Lebensweise der modernen Zivilisation.6 Im ersten Teil seiner Thermodiätetik beschrieb er die äußere Abhärtung des Körpers durch die »Temperatur«- oder »Thermo-Elektrik«, die das Gleichgewicht, d. h. den Kreislauf der Säfte, reguliere. Die Ganzbewegung des Körpers (z. B. bei der Gartenarbeit oder beim Holzhacken) spielte neben dem barfüßigen Taulaufen eine bedeutende Rolle. Das natürlichste Licht- und Luftbad, so Rikli, bestehe in der Bearbeitung der »Mutter Erde«. Ein genauer Lichtluft-Kurplan mit Zeitangaben und zu berücksichtigenden Witterungsverhältnissen regelte den Tagesablauf in seiner Kuranstalt Veldes. Rikli verwarf die vornehme, aber seiner Lehre nach ungesunde Blässe, denn je mehr man ein Kind von »Sonnenschein, Licht, Luft fernhält, um so mehr wird es blaß, siech, schwächlich, und je unbekleideter man es unter diesen Naturalreizen sich herumtummeln läßt, um so kräftiger wird es gedeihen.«7 Er forderte eine permanente Lufterneuerung in Wohnräumen und empfahl seine Lichtluftbäder Lehrern und militärischen Ausbildern, denn »in allen Schulen sollte die Theorie der Abhärtung gründlich gelehrt, und namentlich in Turnschulen rationell practicirt werden.«8 Im zweiten Teil seiner Thermodiätetik befasste er sich mit der inneren Abhärtung, worunter er den regelmäßigen Kreislauf der Vollkraft-Bewegung und der Stoff-Metamorphose (Umwandlung) durch eine naturgemäße Ernährung unter Auslassung von Genussmitteln und Fleisch verstand. Die »Lichtluftbadebewegung« bildete den Anfang der Nacktkulturbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, blieb aber gleich-

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zeitig als eigenständige Bewegung der Naturheiltherapie bestehen.9 Außerdem führte mancher Weg von der Lichtluftbadebewegung zur Kleiderreformbewegung. Überhaupt lassen sich kaum klare Trennungslinien zwischen Lichtluftbade-, Nacktkultur-, Kleiderreform-, Jugend-, Frauen- und Sexualreformbewegung ziehen. Ihnen allen gemein war der Kampf für ein freieres Körpergefühl. Ein Beispiel hierfür war der Arzt Heinrich Lahmann, der für eine laktovegetabile Kost in der Diätreformbewegung (Lahmanns Nährsalztheorie), für das Lichtluftbad (Lahmanns Lichtluftbadetherapie) und für die Kleiderreformbewegung (Lahmanns Baumwolltheorie) agitierte. 10 Sein Sanatorium, der »Weiße Hirsch« bei Dresden, verschaffte ihm über die Grenzen Deutschlands hinaus Anerkennung. 1904 wurden bereits über 3 000 Heilungssuchende ganzheitlich behandelt. Eine Sonderschrift des Zeitschriftenverlages »Kraft und Schönheit« warb für den Lichtluftsport, der zur Erhaltung der Gesundheit und Schönheit »unserer Körper und Sinne ungemein wertvoll« sei.11 Die Anhänger der Lichtluftbadebewegung waren auch die ersten, die künstliche, elektrische »Sonnen« entwickelten, die Vorgänger der heutigen Sonnenbänke.12 Der moderne »Sonnenkult« geht in seinen historischen Ursprüngen deshalb auf die Lebensreformbewegung zurück, weshalb es nicht angebracht ist, von ihr als »rückwärtsgewandt« zu sprechen, da sie vielmehr wegweisend für moderne Trends war, wenn sie auch ihr eigentliches sozialreformerisches Ideal verfehlte. abb34 Von der naturheilkundlichen Lichtlufttherapie zur Nacktkultur Der eigentliche Begründer der Nacktkulturbewegung war der Lebensreformer und Künstler Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). Er wollte mit seinen Schülern im urchristlichen Sinne eine Einheit von Kunst und vorbildlichem Leben verkörpern, verzichtete auf alle äußeren Dinge und trug lang herabwallende Gewänder und Sandalen. Um 1890 lebte er von seiner Frau getrennt zuerst mit seinen Kindern und dann, als ihm das Sorgerecht entzogen wurde, mit sechs jungen Leuten in einem verlassenen Steinbruchhaus bei Höllriegelsgreut in der Nähe von München.13 Dann wurde er wegen unbefugter Errichtung einer Erziehungsanstalt vor Gericht gestellt,

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seine Wohnkommune wurde aufgelöst. Nach dem Tod seiner Frau wurden ihm seine Kinder wieder zugesprochen und er zog nach Baden bei Wien, später nach Triest und schließlich nach Capri.14 Die zweite führende Persönlichkeit der Nacktkultur war Johannes Guttzeit. Er lebte von 1881 bis 1882 in der vegetarischen Lebensgemeinschaft in Ascona, ging dann nach Berlin und führte von da an ein Vagabundenleben als Wanderprediger. 1895 führte ihn Diefenbach in seine Kleiderreform ein. Auch Guttzeit trat nun für einen einfachen, aus weißem Flanell gefertigten Männerreformanzug ein, der an das Gewand eines Urchristen erinnern sollte; manchmal trug er sogar einen Lorbeerkranz auf dem Kopf. Er scharte junge Anhänger um sich und in seinem Kleiderreformbuch »Auch ein heiliger Rock« empörte er sich über die Tatsache, dass Pilger nach Trier kämen, um dort den heiligen Rock Christi zu sehen, während er als »deutscher Sokrates« sich für seine Reformtracht vor Gericht zu verantworten habe und sogar in Irrenhäuser eingewiesen werde.15 Guttzeit bereiste wiederholt Italien und die Schweiz und löste wegen seiner Reformpredigten, die sich z. T. gegen die Kirche richteten, und seiner Reformtracht Zusammenstöße mit der Polizei aus. Er setzte sich für sittliche Nacktheit besonders »in geschlechtlicher Hinsicht« ein und unterschied zwischen einem »natürlichen und konventionellen Schamgefühl«, wobei das natürliche angeboren, das konventionelle anerzogen sei.16 Das in seinen Augen überstrenge konventionelle Schamgefühl führe zu einer krankhaft gestörten Sexualität, das natürliche Schamgefühl hingegen zu einem sittlich-moralisch vertretbaren Gefühl für den Körper und zu einem liebevollen Umgang mit der Sexualität. Er kämpfte um die Anerkennung der Naturrechte, dessen erstes und vornehmstes für ihn der naturgeschaffene Menschenleib und dessen freie Entfaltung war. Diefenbachs Nachfolger Hugo Hoeppener (1868–1948), Künstlername Fidus, verhalf der Nacktkultur mit seiner Kunst zum eigentlichen Aufstieg. Der Sohn eines Zuckerbäckers aus Lübeck war von der Nacktkulturidee Diefenbachs beeindruckt und mit seinem künstlerischen Schaffen wesentlich am Erwachen des Körpersinns um die Jahrhundertwende beteiligt. Besonders in seinem »Lichtgebet«, das die auf den nackten Menschen einströmende Kraft der Sonne feierte, hielt er symbolisch das »körperbefreite Lebensgefühl«

Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder«

Erste Sonnenbänke der Lebensreformer; Quelle: Jaerschky (1905)

fest.17 Die Schönheit des jugendlich-schlanken Körpers wurde in zahlreichen Jugendstildarstellungen zelebriert, weshalb er als einer der wichtigsten Bildinterpreten der Lebensreformbewegung gilt. Den Begriff »Nacktkultur« prägte der Soziologe und Sozialhygieniker Heinrich Pudor; erst um 1918 kam der heute gebräuchliche Ausdruck »Freikörperkultur« auf. Pudor gab unter dem Pseudonym Heinrich Scham 1893 die Schrift »Nackende Menschen – Jauchzen der Zukunft« heraus, die erstmals alle nudistischen Doktrinen enthielt.18 Der geistige Vater der Nacktkulturbewegung provozierte mit dieser Schrift die »Dunkelmänner«, »Mucker«, »Prüden«, »lichtscheuen Finsterlinge« und »Sittlichkeits-Apostel«, wie die Feinde der nackten Körperschönheit von den Naturisten gerne beschimpft wurden.19

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Pudor gelangte über die Freundschaft mit Guttzeit zur vegetarischen Lebensweise, zur Reformtracht und zum Nacktbaden. Er lebte von 1892 bis 1893 in Loschwitz bei Dresden, wo er sich zusammen mit zwei Schülern im Nacktbaden übte. Er kleidete sich mit einer kurzen leinenen Hose, Hemd und einem weißen Baumwollkittel, der von einem Lederriemen zusammengehalten wurde; dazu trug er weiße Kniestrümpfe und Sandalen und ernährte sich von Früchten.20 Pudor war erbost darüber, dass die Nacktheit erst wieder im Gegensatz zur zivilisierten Kultur popularisiert werden musste. Adam und Eva im Paradies seien »nackt« aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen und hätten sich vegetarisch ernährt. Und auch die Abstammungslehre Darwins belege seine Forderung nach naturgemäßer Nacktheit und Fruchtessertum. Sein erstes Vorbild war die »Natural-Food-Bewegung« in England und Amerika. Die Bestätigung für seine Rohkosternährung fand er später in der »Sonnenlichtnahrungslehre« Bircher-Benners. Übergewicht war seiner Meinung nach eine reine Zivilisationsseuche, weshalb er Schlankheit und Beweglichkeit forderte. Er pries das Idealbild eines »sammetrothbraunen« Menschen »mit dem schlanken Wuchs und dem edel gestalteten Leibe«, empfahl die Errichtung öffentlicher Schwimmund Sonnenbäder, verwarf Badehosen als geschmacklos und unsittlich und kritisierte generell den verloren gegangenen Körpersinn mit den Worten: »Das ist der Fluch unseres Zeitalters, daß es seinen Leib buchstäblich aus dem Auge verlor.«21 Pudor sah in der fehlenden Ausdünstung des Körpers die Hauptursache aller Krankheiten. Sich zu kleiden bezeichnete er als »Affenschande«, sich mittels Korsett zu schnüren als »Weiberschande« oder schlichtweg als »dumm«.22 Er plädierte für Barfußlaufen und Tautreten, für luftdurchlässige Sandalen und Fußgymnastik, warb für sittliche Nacktheit und Gymnastik und riet vom Korsetttragen ab. Rigoros verurteilte er die »Sittenpäpste«, die gegen die Nacktheit als Unsittlichkeit vorgehen wollten, denn der nackte Mensch sei ein Naturprodukt, die Kleidung dagegen ein Kunstprodukt. Erst sie fördere Unsittlichkeit, da jedes Kleidungsstück mit dem Körperteil kokettiere und ihn somit erst sexualisiere. Zur Sicherung sittlicher Nacktheit schlug er vor, eine »Keuschheits-Liga« zu bilden, deren

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Aufgabe sein sollte, den Vertrieb unsittlicher Literatur zu überwachen.23 Als übergeordnetes Ziel der Nacktkultur galt die Wiederherstellung der Harmonie von Körper, Geist und Seele durch ein verändertes Körperbewusstsein. Pudor empfand die damalige Kultur als einseitige »Kopfkultur«, zu der wieder eine »Körperkultur« hinzugefügt werden müsse. Kleidung sei lebensverkürzend und verweichlichend. Es genüge ein Blick auf Amerika, das im Hinblick auf die Nacktkultur bereits einen Schritt weiter sei als Deutschland und als Vorbild dienen könne. Es bedürfe einer »Gedankenrevolution« in Bezug auf den von Kleidung befreiten Körper, da Nacktturnen und Nacktsport nicht nur ein Kur- und Regenerationsmittel bzw. ein hygienisches Ideal seien, sondern vielmehr ein neues Lebensideal darstellten. Pudor vereinte dieses Streben sogar mit politischen Zielsetzungen, als er feststellte: »Die heutige Demokratisierungsbewegung, die das Volk emporzieht zu dem Tische des Reichen, wird dem Volke auch die körperliche Freiheit bringen, die mit der Nacktkultur anfängt.«24 Als der Nacktkulturbegriff einen negativen Beigeschmack bekam – wegen Nackttänzen in Lokalen, Orgienskandalen und sogenannten »Nackt-Logen« –, wurde er nach dem Ersten Weltkrieg von der Bezeichnung »Lichtbewegung« verdrängt. Man sprach nun von »Lichtmenschen, Lichtfreund, Lichtbrüdern, Lichtschwestern, der Lichtbewegung, dem Lichtkampf und dem Lichtkleid« oder »Naturkleid«25, weil man sich von den skandalträchtigen Varieté-Nackttänzen distanzieren wollte. In diesem Sinn definierte der Nacktkulturanhänger Josef Michael Seitz »reine Nacktkultur« als Veredelung der Sitten durch Nacktheit. Die Nacktkultur müsse die allmähliche Gewöhnung an den »natürlichen« Körper sein. Aber auch die Erziehung eines schönen Geistes gehöre dazu, ganz im Sinne des antiken Ideals »ein gesunder Geist in einem gesunden Körper«.26 Zahlreiche Schriften zur Distanzierung der »hygienischen Nacktkultur« von den Nackttänzen zu Unterhaltungszwecken wurden herausgegeben, da man diese als Gefahr für das Fortbestehen der Bewegung sah. Insbesondere die Schleier- und Nackttänzerinnen gerieten in die Kritik der Nacktkulturanhänger.27 Auch die neuen Formen der Nacktkultur des frühen 20. Jahrhunderts, der »Logen-

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kult« und die »Schönheitsabende«, stießen auf heftige Kritik der »Sittlichkeitsfanatiker« und der gemäßigten Nacktkulturanhänger, die darin einen Schaden für die gesamte Bewegung befürchteten. Zu den gemäßigten Vertretern der Nacktkultur gehörte John Keidel. Er sprach sich für das nach Geschlechtern getrennte Nacktbaden und für das Tragen von Badekleidung in Frei-, Schwimmund Seebädern aus und erklärte sich zum entschiedenen Gegner des Ganz-Nackt-Kultus.28 Er versuchte sich dadurch von den »Nacktradikalen« wie Diefenbach, Fidus, Pudor u. a. zu distanzieren. Ein typischer »Nacktradikaler« war der Thüringer Gärtner und spätere Brotfabrikant Richard Ungewitter. Zur Propagierung der Nacktkulturidee entwickelte er seine absurde »Theorie der evolutionären Rückentwicklung des Fells beim Menschen durch Bekleidung des Körpers«, die ihr wohl mehr geschadet als genutzt haben dürfte.29 Um die Jahrhundertwende wurde das Nacktbaden trotz aller Reformbemühungen strafrechtlich als »Erregung öffentlichen Ärgernisses« bezeichnet. Es kam zu Verhaftungen, Verboten, Prozessen und der Veröffentlichung von »Anti-Nacktkulturschriften«.30 Dies zeigt, welchen Rechtfertigungszwängen die Nacktkulturanhänger bei ihren sexualemanzipatorischen Bestrebungen ausgesetzt waren. Auch Ungewitter gab zahlreiche Publikationen heraus. In einigen klingt ein rassenhygienischer (eugenischer) Tenor an, der auch bei anderen germanisch-völkischen Nudisten wie Lanz von Liebenfels, Pudor und Fidus wahrzunehmen ist. Dies kündigte bereits die Rassenideologie der kommenden Zeit an.31 Der Schwerpunkt bei Ungewitter lag aber auf der Ästhetisierung des Körpers und der Abschaffung des »Panzerkorsetts«. Ähnlich wie Lahmann und andere Körperästhetiker begann er mit der »gnadenlosen« Bewertung der entblößten Körper, indem er Abbildungen wie folgt kommentierte: »gut entwickelter junger Mann«, »prächtiger ebenmäßiger Körper«, »prächtige Figur«, »schlechte Figur mit zu kurzen Beinen«, »Frau mit schwach entwickelter Brust und schlechtem Brustkorb«, »ganz hervorragend gut gebauter Körper« oder »durch Gymnastik schön entwickelter muskulöser Körper«.32 Auffällig ist an allen Fotografien und Zeichnungen, die in Nacktkulturbüchern erschienen, dass nie alte oder »unförmige« Personen abgebildet wurden. Der Jugend- und Schlankheitskult hatte bereits

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eingesetzt. Seit der Jahrhundertwende begann man, den nackten Körper mithilfe von Fotografien real existierender Personen nach Schönheitskategorien zu bewerten und zu kritisieren. Man wagte erstmals, bisher in der intimen Privatsphäre Verborgenes massenwirksam zu inszenieren und sich auch zum eigenen Körper zu bekennen, der der Bewertung durch andere standhalten musste. In dieser Periode entstand allerdings auch die erste kommerzielle Nacktfotografie. Den sexualisierenden Effekt begehrenswerter ästhetischer Körper versuchten die Nacktkulturanhängern dabei völlig zu ignorieren, da sie glaubten, sonst im Kampf gegen das öffentliche Nackttabu nicht bestehen zu können. Sie vertraten die Meinung, es sei die Kleidung, die sexuell stimuliere; die natürliche Nacktheit dämpfe hingegen den Sexualtrieb und führe zu einem Wegfall zivilisationsbedingter lasterhafter Ausschweifungen, von Prostitution, Geschlechtskrankheiten und Sittenlosigkeit.33 Hygienische Volksbelehrung, persönliche Gesundheitspflege und Leibesübungen wurden als das beste Keuschheitsmittel propagiert.34 Die Vorstellung einer moralisch akzeptablen, rein aus hygienischen Gründen betriebenen Nacktheit sollte den Nudisten zur Durchsetzung ihrer Ziele verhelfen. Körperkultur und Sittlichkeit sollten einen unzertrennlichen Komplex bilden, zumal die Körperkulturbewegung davon ausging, dass die Nacktheit für die Öffentlichkeit nur dann tolerierbar werde, wenn jeder Zusammenhang mit der Sexualität strikt geleugnet werde: Es gebe keine Kultur ohne Körperkultur, keine Sittlichkeit ohne unbefangene Anschauung des nackten Menschenleibes.35 Nacktkulturbewegung und Sexualreformbewegung wirkten skandalös, denn sie zerstörten das Selbstverständnis der wilhelminischen »Sittlichkeit« durch die Erkenntnis, dass das Schamgefühl nicht ursprünglich, sondern erst im Kulturprozess erworben und deshalb eine Folge der Erziehung sei. Diese Aussage fand auch in der zu dieser Zeit neu entwickelten Psychoanalyse, in Sigmund Freuds Thesen der frühkindlichen Sexualentwicklung ihre Bestätigung. Die Nacktkulturbewegung hatte sehr viel mehr mit sexueller Befreiung zu tun, als man öffentlich zugeben wollte. Sie zielte unter Beibehaltung der traditionellen Geschlechterrollen auf eine gemächliche Befreiung der Sexualität ab. Doch bewirkte sie durchaus eine allgemeine Veränderung in Bezug auf das damalige Körper-

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gefühl. Neue Modeströmungen wie die primär aus England kommende Sportbewegung, aber auch Rückgriffe auf die aus der griechischen Antike stammende und von der Naturheilkunde wiederentdeckte Freilichtgymnastik wurden in ihr Programm der Körperschönheit integriert. Gymnastik und Tanz wurden als Medium der Körpererziehung eingesetzt. Die wachsende Kooperation zwischen Körperkultur und Sport lässt sich u. a. im Schrifttum ablesen. Eine erste »Zeitschrift für vernünftige Leibeszucht« mit dem Titel »Kraft und Schönheit« wurde 1901 von Karl Mann und Fritz Hofmann begründet. Die erste Zeitschrift, die dem wiederentdeckten Körper vom ästhetischen Standpunkt her huldigte, war das 1902 von Karl Vanselow gegründete Blatt »Die Schönheit«. Um die Jahrhundertwende erschienen zudem erste Bücher zur Körperertüchtigung für Frauen, z. B. von Dora Menzler, August Glucker oder Debora Primrose und Margot Zepler, die Gymnastik, Tanz und Sport gezielt zur Förderung schöner und schlanker Körperformen einsetzten.36 Die Ursprünge dieser ersten Körpertrainingsbücher sind in der Naturheilkunde zu finden und führen bis zum »Turnvater Jahn« und zur »schwedischen Heilgymnastik« zurück. Der Haut- und der Fitnesskult gingen eine feste Verbindung ein, indem die »Lichtluftbäder« verstärkt mit Turn-, Spiel- und Sporteinrichtungen ausgerüstet wurden. Die Nacktkultur erblickte in den Disziplinen »Nacktgymnastik« und »Nacktsport« einen neuen Rückhalt für ihre Bewegung. Das alles hatte Auswirkungen auf den Sportunterricht in den Schulen wie auch auf das Freizeitverhalten. Seit Mitte der 1890er Jahre setzten sich vor allem Naturheil- und Vegetariervereine und deren Verbandszeitschriften für die Einrichtung öffentlicher Luftbäder ein und der Schulsport wurde verstärkt in Freiluftanlagen betrieben. Bald richteten auch einzelne Gemeinden Sonnenbäder ein, die gelegentlich durch Schrebergärtenkolonien ergänzt wurden. 1907 konnten die Naturheilvereine stolz darauf verweisen, dass sie bereits über 180 »Luftbäder« und über 70 »Familiengartenkolonien« für ihre Anhänger, aber auch für das große Publikum in ganz Deutschland errichtet hatten.37 Haut- und Fitnesskult erzielten immer mehr Breitenwirkung und bildeten die Voraussetzungen für die Entstehung des modernen »Schlankheitskults«. Dieser Wandel schlug sich auch in den Werbeanzeigen nieder. Hatten die Annoncen zuvor für

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Bleichmittel, weißen Puder und blass machende Cremes geworben, so warben sie nun auf einmal für Sonnenschutzmittel und Badeanzüge. Das bisherige weibliche Schönheitsideal des zartweißen Teints und damit die Damenhandschuhe, breitkrempigen Hüte, Gesichtsschleier und Sonnenschirme, die bisher die Haut vor »unvornehmer Bräune« geschützt hatten, wurden verdammt. Der braun gebrannte, allseitig trainierte und schlanke Körper wurde zum neuen Schönheitsideal.38 »Sportlich«, »dynamisch«, »jung« und »leistungsfähig« wurden zu neuen Adjektiven in der Werbung, die in enger Verbindung mit dem aufkommenden Schlankheitsideal des 20. Jahrhunderts gesehen werden müssen. abb37 Die Einrichtung von Freiluftstätten Die Errichtung der ersten öffentlichen Luftbäder kam durch Unterstützung der Naturheil- und Vegetarierorganisationen zustande. Naturheilanstalten wie Gossmanns Naturheilanstalt in Wilhelmshöhe bei Kassel oder Lahmanns Sanatorium »Weißer Hirsch« therapierten schon seit den 1880er Jahren mit Lichtluftkuren. In den

Werbeanzeige für Schlankheitsgürtel (1917); Quelle: Berliner illustrirte Zeitung, 26 (1917)

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Vorstädten der Großstädte wurden zahlreiche Sonnenbäder errichtet, wie z. B. in Dresden ein großes Gemeindebad mit Lichtluftbad.39 Auch die Hydrotherapie übte einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Nacktkultur aus. Im April 1899 wurde die »Deutsche Gesellschaft für Volksbäder« mit dem Ziel gegründet, »dass jeder Bewohner des Deutschen Reiches einmal in der Woche ein Bad nehmen« könne.40 Anfang der 1880er Jahre wurde das erste Arbeiterbrausebad in Berlin-Charlottenburg eröffnet. Damit leisteten die hygienisch begründeten Anliegen einen wesentlichen Beitrag zur Eröffnung zahlreicher Frei- und Luftbäder in den Großstädten. Dort wurde zwar nach Geschlechtern getrennt und noch in Bekleidung gebadet, aber trotzdem entstand ein freieres Körpergefühl an der Luft und im Licht. Auch das Freibaden im Wasser wurde populärer. Im Jahr 1906 wurde das Freibad Wannsee bei Berlin eröffnet. Es schien dort nicht mehr selbstverständlich zu sein, nur bekleidet zu schwimmen.41 Das modische »Luftbad« bestand darin, den ganzen Körper von der Kleiderhülle zu befreien und in der Luft zu baden. Besonders heilkräftig wirke das Bad, meinte Pudor, wenn man es am Tage nehme, weil dann der Lichtreiz hinzukomme. Im engeren Sinne sei daher jedes Luftbad zugleich ein »Lichtbad« oder »ein Lichtluftbad«.42 Er differenzierte außerdem zwischen Zimmerluftbad und Schneebad im Winter, Taubad, Windbad, Erd-, Sand- und Meerbad im Sommer. In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende schufen die Vorkämpfer der Nacktkultur so in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen und Broschüren eine theoretische Begründung für das hüllenlose Baden.43 Die Anhänger der Nacktkultur rekrutierten sich aus Menschen verschiedenen Standes und Gesinnung, von progermanischen Fanatikern über sportliche Männer bis hin zu sonnenhungrigen Schönheitssuchern. Eine der ersten Vereinigungen war die 1906 gegründete »Wissenschaftliche Nacktloge ANNA« (Aristokratische Nudo-Natio-Allianz), deren Gründer der Architekt Max Ferdinand Sebaldt war. Der Plan, ein Nacktkulturgelände in Monaco zu erwerben, scheiterte jedoch. Im Frühjahr 1907 entstand in Berlin die Nacktloge »Hellas«, die ebenfalls bereits nach zwei Jahren scheiterte. Diese Vereinigungen unterlagen einem stetigen Anpassungs-

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und Umformungsprozess. So kamen und gingen die »Luisenloge«, welche die Nacktkultur ohne religiösen Überbau pflegte, die »Loge Swastica«, in der theosophische Ideen wirksam waren, die »Wallhalla«, der »Verein der Turnfreunde« und der »Bund für allseitige Lebensreform«.44 Die erste größere Vereinigung, die ins Vereinsregister eingetragen wurde, war der 1909 in Berlin von Wilhelm Kästner initiierte »Freyabund«.45 Aus der Nachfolgevereinigung »Monboddobund« entstand zu Beginn des Ersten Weltkriegs die »Luftbad-Gesellschaft Berlin« mit Luftbädern in Berlin-Hermsdorf, Berlin-Köpenick und Berlin-Mahlsdorf. Richard Ungewitter gründete um 1910 aus rassenhygienischen Überlegungen die »Loge des aufsteigenden Lebens«. Die später in »Treubund für aufsteigendes Leben« umbenannte Vereinigung stieß aber wegen ihres starren Aufbaus, des Führungsanspruches Ungewitters und der völkisch-germanischen Zielsetzung auf wenig Zustimmung.46 Mit dem Ersten Weltkrieg endete die erste Organisationsphase der Freikörperbewegung. In vielen Jugendgruppen des Wandervogels wurde das unbekleidete Baden in der einsamen Natur zum selbstverständlichen Brauch. Aber es wurde nicht nur an abgelegenen Stellen so gebadet, sondern in jugendlichem Überschwang und Aufbegehren auch dort, wo es ausdrücklich verboten war. Derartige Vorkommnisse führten zu lebhaften Diskussionen unter der Jugend, an denen sich auch Erwachsene beteiligten. Sie drehten sich um die Frage, ob das gemeinsame Nacktbaden von Jugendlichen einen Verstoß gegen das geltende Strafrecht darstelle und ob es sittlich-moralisch vertretbar sei.47 Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Nacktkulturbewegung einen ersten Aufschwung. Nacktkulturanhänger lebten in den meisten größeren Städten und bildeten geschlossene Gruppen, die weiter warben und wuchsen. Die 1919 gegründete »Deutsche Luftbad-Gesellschaft, Verein für Volksgesundung durch Nacktkultur (DLG)« sollte eine ganz Deutschland umfassende Vereinigung sein und sich auf die praktische Gesundheitspflege durch Luftbäder konzentrieren. Ein Vorstandsmitglied der DLG, Fedar Fuchs, pachtete ein Gelände in der Nähe des Motzener Sees und nannte es »Freisonnland«. Von Bedeutung war auch der schwäbische »Bund der

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Lichtfreunde«, eine Absplitterung von Ungewitters Treubund. Sein Leiter war Josef Michael Seitz, der sich von Ungewitters Treubund gelöst hatte, die Zügel etwas lockerte und rasch Anhänger gewann.48 Nur mit ordentlicher Mitgliedskarte durfte man sein Freigelände benutzen und an den Veranstaltungen der Bünde teilnehmen. Eine spezielle, nur für Mitglieder der Jugendbewegung bestimmte Vereinigung war der 1923 eröffnete »Birkenheider Arbeitskreis«, an dem »Charly« Strässer (1900–1989) initiierend beteiligt war.49 In dieser Zeit entstanden zahlreiche weitere Nacktkulturvereine, so zum Beispiel 1920 der »Neusonnlandbund e.V. (NSB)«, der sich aus Mitgliedern der Jugend- und der Sportbewegung formierte. Einer der bekanntesten Vertreter war Hans Surén, Autor des Buches »Mensch und Sonne« von 1924. Darin beschrieb er sein Ideal des sittlichen Nacktsports, des »Sonnenglücks«. In den »Surén-KörperSchulungswochen« wurden Gymnastikübungen und Sport öffentlich vorgeführt. Seine Bücher dienten z. T. der Selbstinszenierung, denn alle wiesen zahlreiche Fotografien von seinem nackten, eingeölten Körper auf. Militärische »Drillfreiübungen« verabscheute Surén, denn sein Ziel war die Entdeckung der »Körperseele«.50 Das antike ganzheitliche Kalogathieideal galt als Vorbild und wurde zu einem neuen seelischen Körperempfinden übersteigert. Die Freikörperkulturzentren hatten ihren Schwerpunkt in Berlin. Versuche, sich überregional zu organisieren, schlugen zunächst fehl. Bereits 1921 hatte sich der »Neusonnlandbund« ergebnislos mit der Bildung eines Reichsverbandes beschäftigt. Stattdessen wurde um 1923 eine »Werbe- und Agitationszentrale der Arbeitsgemeinschaft der Bünde deutscher Lichtkämpfer« (RAGL) mit Sitz und Geschäftsstelle in Leipzig gegründet, die aber auch wenig Erfolg versprach, da der Hauptsitz der Bewegung Berlin blieb. Im Februar 1924 umfasste die »Arbeitsgemeinschaft deutsche Lichtkämpfer« (AGL) insgesamt 26 gesamtdeutsche Vereinigungen. Die 1920er Jahre waren für die Freikörperkulturbewegung eine Wachstumsphase. Sogar Filme wurden nun als Agitationsmittel für den Kult des natürlich-schlanken Körpers eingesetzt. 1924 kam der erste behördlich zugelassene Freikörperkulturfilm, der »Neusonnland-Film« von H. H. Rassow, zur Aufführung. Im gleichen Jahr folgte der von H. Schonger bearbeitete Film »Sonnenkinder – Sonnenmenschen«. Eine erhebliche

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Werbewirkung für die Körperkultur entfaltete vor allem der UFAFilm »Kraft und Schönheit«.51 Wichtigste Zeitschrift der zweiten Phase der Nacktkulturbewegung war die 1923 von Magnus Wiedemann begründete »Monatsschrift für deutsche Innerlichkeit: Die Freude«. Das von der RAGL geschaffene Organ »Lichtfreude« erschien nur kurze Zeit, und auch die darauf folgende Zeitschrift »Leben und Sonne« bestand nicht lange, obwohl inzwischen bis zu 50 Freikörperkulturvereinigungen existierten. Ende 1925 benannte sich die AGL in »Reichsverband für Freikörperkultur« (RFK) um. Die Mitgliederzahl stieg von 3 000 im Jahr 1926 auf 5 000 im Jahr 1927. Als neues Organ erschien ab Januar 1927 »Die Freikörperkultur«. Die letzte Freikörperkulturzeitschrift aus dieser Periode war das »Lachende Leben«.52 Für die sozialistische Freikörperkultur stand stellvertretend der Berliner Gymnasiallehrer und Sexualforscher Adolf Koch (1897– 1970). Als Lehrer hatte er an seinen Schülern aus dem Arbeiterviertel Moabit die Beobachtung gemacht, dass sie an Körper und Kleidung schmutzig waren und unter Rückgratverkrümmungen, schlechter Haltung und rachitischen Merkmalen litten. Deshalb führte er das Nacktturnen und -tanzen ein und fand bei vielen Eltern Unterstützung, als er bei den Elternberatungsgesprächen hygienische Ratschläge erteilte. Zunächst wurden zwei Knabengruppen, später zwei Mädchenabteilungen dem Alter und Körperbau entsprechend gebildet. Die Kinder übten erst bekleidet und legten nach positivem Körpererleben im Freien freiwillig ihre Kleidung ab. Dazu sollte niemals Zwang ausgeübt werden. Die Eltern verpflichteten sich schriftlich dazu, ihre Kinder täglich zu waschen oder den ganzen Körper feucht abzureiben, mit ihnen Atemübungen durchzuführen und Sexualaufklärung zu leisten. Sie hatten sich überhaupt zu aktiver Hygiene in der gesamten Familie bereitzuerklären.53 Seine öffentlichen Gegner zwangen den Sozialdemokraten Koch, teils wegen seiner sexualerzieherischen Bestrebungen, teils wegen seiner politischen Ambitionen, auf sein Lehramt zu verzichten. Dieser Moabiter Skandal machte die Freikörperkultur erst recht populär. Koch gründete 1924 die »Körperkulturschule Adolf Koch« in Berlin, aus der zwölf weitere Zweigstellen in anderen Städten hervorgingen. Diese Schule wurde unter dem Motto »Wir sind nackt

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und nennen uns Du« zum Sammelbecken der proletarischen Körperkulturbestrebungen. Seine Pläne zur Durchführung einer »Freilichtschule« für Arbeiterkinder in der Nähe von Berlin veröffentlichte Koch in der Schrift »Körperbildung, Nacktkultur«, in der er ein »Einheitsbewußtsein von Leib und Seele« als oberstes Ziel seines lebensreformerischen Handelns beschrieb. Die Ziele der Körperkulturbewegung definierte er als »die körperliche und sittliche Ertüchtigung des Menschen, eine Umwandlung und Vertiefung des Gesellschaftslebens durch die von den Naturgesetzen selbst bedingten Möglichkeiten, welche uns zur Förderung des reinen Persönlichkeitswertes, der harmonischen Ausbildung von Körper und Geist, zu Einfachheit und Natürlichkeit in unserer Lebensweise führen«.54 Die freien Gruppierungen der FKK-Bewegung waren bis 1925 noch der AGL angeschlossen, dann gingen sie ihre eigenen Wege und schlossen sich zu der Vereinigung »Freie Menschen, Bund für sozialistische Lebensgestaltung« zusammen. Die proletarische Freikörperkulturbewegung verfügte über ein weitgespanntes Ortsgruppennetz und konnte so auch Interessenten anwerben, die normalerweise nur schwer zu erreichen waren, sodass der mit der AdolfKoch-Schule zusammenhängende Bund gegen Ende 1929 ca. 2 000 Mitglieder zählte. Sie waren sexualreformerisch orientiert, weshalb sie mit den Zielvorstellungen des RFK in Konflikt gerieten. Während die proletarische Nacktkulturbewegung linksrevolutionär eingestellt war, blieb der RFK politisch neutral und hatte viele Wesenszüge mit der Jugendbewegung gemein. Koch veranstaltete mehrmals Matineen, auf denen er geladenen Gästen und Mitgliedern Nacktgymnastik zu Werbezwecken für seine Körperschulen zur Schau stellte. Deswegen wurde er später nicht nur von seinen Gegnern, sondern auch von dem RFK auf das Heftigste angegriffen. Robert Laurer (1899–1954) bildete den freiheitlichen Verband »Liga für freie Lebensgestaltung (LffL)«. Zweck der Liga war, alle Bestrebungen, die dem Gedanken einer freien Lebensgestaltung unter besonderer Berücksichtigung neuzeitlicher Freikörperkultur dienten, mit allen Mitteln und Einrichtungen zu fördern.55 Nachdem der Studienrat und Lebensreformer Walter Fränzel in Glüsingen ein vegetarisch ausgerichtetes Ferienheim erworben hatte, eröffnete er Ostern 1927 dort das erste »Lichtschulheim«, das auch in den Sat-

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zungen des RFK Erwähnung fand. Das »Lichtschulheim im Lüneburger Land (LLL)« war das erste derartige Institut in Deutschland und nach Theodore Faithfulls Priory Gate School in Walsham-leWittows (Suffolk) das zweite in der Welt. Das LLL wirkte sechs Jahre als staatlich anerkannte Privatschule, bis es 1933 geschlossen wurde. Die Vereinigungen der Freikörperkultur hatten sich bis 1927 soweit gefestigt, dass zwischen 1928 und 1932 ein stetiger Fortgang ohne grundlegende Änderungen zu verzeichnen war. Trotz der progermanischen und rassistischen Tendenzen wurde die Freikörperkultur am 3. März 1933 gemäß einem Runderlass Görings an die preußische Polizeibehörde verboten. Darin hieß es zur Begründung: »Eine der größten Gefahren für die deutsche Kultur und Sittlichkeit ist die sogenannte Nacktkulturbewegung.«56 Die Bewegung sei zu überwachen, ihre Verträge über Badeanstalten und Gelände aufzuheben und Übungsabende zu verbieten. Die Reste der FKK-Bewegung reorganisierten sich daraufhin als »Bund für Leibeszucht« und betrieben ihre Integration in die gleichgeschaltete NS-Sportorganisation. Auch Hans Surén konnte als »Sonderbeauftragter« in diversen Funktionen unter dem Regime und trotz einer im Sinne des Nationalsozialismus überarbeiteten Neuauflage des Buches »Der Mensch und die Sonne« im Olympia-Jahr 1936 die Freikörperkulturbewegung nicht retten.57 Die internationale und deutsche Kleiderreformbewegung Die bürgerliche Mode war in der Entstehungszeit der Kleiderreformbewegung (1890–1914) gekennzeichnet vom Leitbild des eleganten Herrn und der eleganten Dame, die einen möglichst hohen gesellschaftlichen Status zur Schau stellen wollten. Die Herrenkleidung dominierte der aus England kommende Dandy-Stil. Als modern galt ein maßgeschneiderter Anzug aus qualitativ hochwertigem Stoff mit weißer Hemdbrust und Stehkragen, »Vatermörder« oder Umschlagekragen, Krawatte und aufknöpfbaren Manschetten. Handschuhe, Stock und goldene Uhr gehörten zum modischen Beiwerk. Zudem war die Männermode des ausgehenden 19. Jahrhunderts am neuen Typus des bürgerlichen »Berufsmenschen« orientiert, d. h. sie sollte eine gewisse zurückhaltende »korrekte« Erscheinung vermitteln.

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Kleidung hatte sachlich und praktisch zu sein, individueller Ausdruck war nicht gefragt. Dunkle Farben wurden favorisiert. Jackett und Sakko dominierten die Oberbekleidung. Die Hosen waren gerade geschnitten, meist passend in Farbe und Musterung. Hauptkopfbedeckung war der Zylinder.58 Die Damenmode diente noch stärker repräsentativen Zwecken und war charakterisiert von kostbaren Stoffen und aufwändigem Aufputz wie Spitzen, Stickereien, Pailletten, schweren und zahlreichen Unterröcken. Das modische Leitbild der eleganten Dame war vor allem durch das Korsett vorgegeben, das eine schmale Taille als zwingend vorsah. Während bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Mode den Frauenkörper scheinbar in eine Kegelform verwandelte, wurde mit der Entdeckung der »schlanken Linie« in den 1870er Jahren erstmals der Unterleib in die Gestaltung des Kleides einbezogen, was den Trend zu einer bewegungsfreundlicheren Kleidung einleitete. Jedoch wurde noch während der Einführung der »schlanken Linie« das neuartige »S-Korsett« modern, das den Unterbauch nach innen presste und auf die Organe drückte. Es war beinahe ebenso gesundheitsschädlich wie das vorherige Wespentaillenkorsett.59 Der Protest der Kleiderreformer richtete sich vornehmlich gegen die von Paris diktierte Mode, die den Körper der Frau wie eine Skulptur behandelte, den man beliebig modellieren konnte. Die Abschaffung oder Modifizierung des Korsetts war deshalb das gemeinsame Ziel aller Reformer. Die Vorschläge waren allerdings unterschiedlicher Art. Sie reichten vom schmucklos-schlichten und asketischen »Gesundheitshänger« bis zum kostbaren, aus edlem Material gefertigten, aufwändig gestalteten »Künstlerkleid«. Gesundheitsbewusste Lebensreformer/innen forderten eine zweckmäßigere und bequemere Bekleidung. Das Korsett, die »Schnürbrust«, der »Schnürleib« und der »Brustpanzer« wurden als Marterinstrumente bezeichnet, mit denen der weibliche Körper jahrhundertelang gewaltsam in die von der Mode vorgeschriebene Form gepresst worden sei. Dieses Problem war freilich nicht neu, sondern hatte schon in der Aufklärung im Kreuzfeuer der Diskussionen gestanden.60 Der Anatom Samuel Thomas Soemmering verfasste bereits 1787 einen Aufsatz »Über die Schädlichkeit der Schnürbrüste«, in dem er die

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gesundheitsschädlichen Wirkungen des engen Schnürens beschrieb. Der aufgeklärte Reformpädagoge Christian Gotthilf Salzmann beschrieb 1788 die Schnürbrüste als ein »schönes Mittel seine Kinder zu Krüppeln zu machen«.61 Dass gerade zur Zeit der Französischen Revolution die einengende Kleidung thematisiert wurde, war kein Zufall. Der Freiheitsdrang sollte sich in dieser historischen Phase symbolisch auch darin äußern, dass man sich von solchen modischen Fesseln des Ancien Régime lossagte. Modern wurde das korsettlose, meist hauchdünne Chemisenhemd der Napoleonischen Ära (Empirekleid), ein lose fallendes Kleidungsstück, das sich an der antiken Tunika orientierte. Allerdings war dieser spöttisch auch »Nuditäten-Mode«62 genannten, ersten emanzipierten Form der Frauenkleidung (eine früheste Form veritabler Hosenanzüge) nur eine kurze Lebensdauer beschert. Bereits in der Zeit der Restauration und des Biedermeier kehrte der Schnürleib unter der neuen französischen Bezeichnung »corset« zurück. Auch der voluminöse Reifrock des 18. Jahrhunderts wurde in Form der »Krinoline« wiederbelebt. Der mit einem Gerüst aus Stahlstangen ballonartig aufgeplusterte Unterrock wurde 1870 von der amerikanischen Puritanerin und Frauenrechtlerin Marie M. Jones wegen seines Gewichts auf einer Konferenz der »New Yorker Health Association« erstmals öffentlich kritisiert. Jones schlug vor, ihn an einer Art Hosenträgern zu befestigen, sodass das Gewicht nicht allein auf den Hüften lag, sondern auf die Schultern verlagert wurde.63 Vermutlich stand sie bereits unter dem Einfluss des »Bloomerismus«, einer Bewegung, die aus Gleichberechtigungs-, Praktikabilitäts- und Bequemlichkeitsgründen ein weibliches Reformkostüm propagierte. Das nach der Quäkerin und Frauenrechtlerin Amelie Bloomer benannte zweiteilige »Bloomer-Kostüm« war einer der ersten Schritte in Richtung einer bewegungsfreundlicheren Kleidertracht, die aus einem knöchellangen Beinkleid und einer knielangen Jacke bestand. Der 1851 unternommene Reformversuch stellte die bis dahin gültigen Regeln einer frauengemäßen Kleidung in Frage, provozierte die konservative Sittenstrenge und sorgte so für Schlagzeilen, was das »Bloomer-Kostüm« weltweit bekannt machte. Sowohl naturheilkundliche Ideen als auch emanzipatorische Ansätze flossen in diese

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neue amerikanische Reformkleidung ein, die eine Vorbildfunktion für alle europäischen Kleiderreformbewegungen hatte. Der erste Schritt für eine Reform der Frauenkleidung ging von der Einberufung des weltweit ersten Konvents für die Gleichstellung der Frau aus, der 1848 in Seneca Falls im Staat New York stattfand. Im gleichen Jahr wurde dort die »Ladies Temperance Society« mit Amelie Bloomer als Vorstand gegründet. Sie war gleichzeitig Alleinherausgeberin einer kleinen Zeitung des Vereins. In »The Lily« warb Bloomer zusammen mit anderen Frauenrechtlerinnen wie Elizabeth Cady Stanton und Lucy Stone Blackwell für das »amerikanische Kostüm«.64 Die Reformtracht der »Bloomerites« wurde zum »Kampfkleid der Emanzipierten« erklärt. Der Bloomerismus beeinflusste bald auch Europa. Zum Beispiel wurde in England zur Unterstützung der Bewegung die »Association of Bloomers« ins Leben gerufen, die ihren Höhepunkt im Herbst 1851 im Rahmen einer Veranstaltung des Londoner »Bloomer-Komitees« fand, als etwa 20 Damen in Bloomer-Kostümen die Möglichkeiten der individuellen Gestaltung der Reformtracht auf der Bühne vorstellten. Dennoch blieb diese Tracht als Alltagskleidung sowohl in den USA als auch in England und Deutschland eine Randerscheinung, denn zum einen ernteten die Reformerinnen seitens der Allgemeinheit Spott, zum anderen wetterten Konservative auf kirchlichen Veranstaltungen und Konventen, in der Presse und auf dem Wege persönlichen Drucks gegen die »seltsame Bekleidungsweise gutsituierter Damen«. Lediglich als Turn-, Sport- oder Sanatoriumskleidung überdauerte sie, um in den 1880er Jahren als Radlerinnenkostüm für den Markt entdeckt zu werden. Auf diesen Gebieten konnte sie sich allmählich durchsetzen. Die Gründung der »National Dress Reform Association« im Jahr 1856 in Seneca Falls leitete dann eine Wende in der Reformkleiddiskussion ein, die die Zielsetzung auf gesundheitliche Aspekte verlagerte. Die Mitglieder der Vereinigung verpflichteten sich, die Frauenkleidung nach den Gesichtspunkten der Gesundheit, Schlichtheit, Ökonomie und Schönheit zu reformieren. Marie M. Jones verbesserte die Bloomer-Tracht, indem sie vorschlug, ein langes Reformkleid über der Bloomer-Hose zu tragen. Dies verursache weniger Aufsehen, denn sie selbst habe am eigenen Leib die Erfahrung

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machen können, dass die Reformtracht den Spott der Leute auf sich ziehe. Sie und andere amerikanische Frauenrechtlerinnen initiierten auch die deutsche Kleiderreformbewegung. Ähnlich wie in den USA war diese nicht offiziell, aber doch ideell und personell eng mit der Frauenrechtsbewegung verbunden.65 Auch erste künstlerische Ansatzpunkte zur Veränderung der weiblichen Kleidung kamen aus Amerika und England. In den USA war es 1885 Jenneß Miller, die das Schnüren mittels Korsett ablehnte und den größten Wert auf die künstlerische Gestaltung der Reformtracht legte. Miller gilt damit als Pionierin der künstlerischen Richtung der Kleiderreformbewegung.66 In England stand die auf Initiative von Lady Haberton 1881 gegründete »Rational Dress Society« am Anfang der Kleiderreformbewegung.67 1883 wurden in der Londoner Prince Hall im Rahmen einer umfangreichen Ausstellung unter dem Motto »Clothing should follow, and drapery not contradict, natural lines of the body« die Reformvorschläge der Öffentlichkeit präsentiert. Die nächste Präsentation von Reformkleidern fand anlässlich der International Health Exhibition in London statt, der ähnliche Veranstaltungen folgten. Die englischen Reformvorschläge fanden im Sportbekleidungssektor den größten Anklang, denn der Schwerpunkt wurde auf die ungehinderte Fortbewegung gelegt, weshalb »geteilte Röcke« als sportliche Alternativkleidung eingeführt wurden. 1884 entstand im Londoner Kaufhaus Liberty eine Spezialabteilung für diese Kleidung. Dies war die Vorwegnahme der in Deutschland um 1908 einsetzenden Einbeziehung künstlerischer Kleidung im Berliner Warenhaus Wertheim.68 Die deutsche Kleiderreformbewegung erlebte ihre Blütezeit von etwa 1900 bis 1905. Die Zahl der Frauen, die es wagten, diese teilweise doch recht ungewöhnliche Alternativmode zu tragen, blieb freilich verschwindend gering. Der viel verschmähte »Gesundheitshänger« wurde zur Zielscheibe des Spottes. Tournüre, Krinoline, Korsett, Wespentaille und andere »Modetorheiten« blieben zunächst dominant, sodass lebensreformorientierte Mediziner und Frauenrechtlerinnen weitere Schriften zur Verbreitung der Kleiderreformidee veröffentlichten. In ihnen wurde behauptet, die überwiegende Mehrzahl der Ärzte habe von jeher gegen das Korsett Stellung genommen, und ernsthaft verteidige es auch jetzt kein

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Arzt als unschädlich oder gar besser oder gesünder. Nur wie viele Frauen durch das Korsett geschädigt würden, ob 45 % (Stratz) oder 80 % (Schweninger), ob ihm ein größerer oder geringerer Anteil an gewissen lokalen und allgemeinen Störungen zukomme, darüber bestanden Meinungsverschiedenheiten.69 Wie alle lebensreformerischen Bestrebungen war auch die Kleiderreform auf ein gestärktes Gesundheitsbewusstsein zurückzuführen. Ein Zeitgenosse definierte Reformkleidung als eine Kleidung, die teils nach Regeln gestaltet sei, die ursprünglich für die menschliche Kleidung Geltung gehabt hätten, aber durch die Entwicklung der Mode zurückgedrängt worden seien, teils nach Gesetzen, die auf neuer wissenschaftlicher Erkenntnis beruhten und von der Mode bisher noch nicht berücksichtigt worden seien. Insbesondere Max Rubners Entdeckungen über die Hygiene der Stoffe führten dazu, dass auf die Webart der für die Kleidung verwandten Stoffe erhöhtes Gewicht gelegt wurde. Namentlich die Luftdurchlässigkeit der Unterkleidung sollte erhöht werden. Sie sollte eine den natürlichen Formen und Funktionen des Körpers entsprechende Gesundheitskleidung sein, sodass die Stoffe und Schnitte in den Blickpunkt der Reformer rückten.70 Vor allem der weibliche Körper sollte nicht mehr durch enge, luft- und leibabschnürende Korsetts geformt werden. Die Kleider sollten sich der Person und nicht die Person den Kleidern anpassen. Auch Frauen sollten wieder einen freien, gesunden, frischen, beweglichen und »unverdorbenen« Körper haben. Das sei das hygienisch, ästhetisch und ethisch Bedeutsame an der Reformtracht, schrieb ein deutscher Arzt.71 Die negativen Begleiterscheinungen des Korsett-Tragens waren allgemein bekannt, wie die berüchtigte »Schnürfurche«, das häufige »In Ohnmacht fallen« oder »Übelkeit« sowie medizinisch feststellbare Organ- und Knochenveränderungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eröffneten Lebensreformer publizistisch den »Korsettkrieg«. Auf das Korsett seien zahlreiche gesundheitliche Beschwerden zurückzuführen, etwa Bleichsucht, Blutarmut, Verödung der unteren Lungenflügel, Magenkrämpfe, Druckschmerz unter dem Brustbein, Magenkatarrh, Vertikalstellung und Senkung des Magens und Querdarms, Wanderniere, Verstopfung, Blutstauung im Unterleib, schmerzhafte Regel

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oder Ausbleiben derselben, Entzündungen und Lageveränderungen der Gebärmutter, Steigerung aller durch Unterleibsentzündung entstehenden Beschwerden, Erschlaffung der Bauchdecke, Schwund der Muskeln an der Druckstelle, Schwäche der Rückenmuskulatur, Rückenschmerzen, Nervosität, Schwindsucht, Atemnot, Herzbeschwerden, Krampfadern, Schnürleber, Gallensteine u. a. Um 1900 wurde das Modeideal der Wespentaille zwar von jenem der »geraden Taille«72 abgelöst, doch diese dann als ebenso gesundheitsschädlich von den Gesundheitsreformern verworfen. Riechfläschchen, Korsetthaken und das einzwängende Schnürmieder sollten nun einer gesünderen Reformkleidung weichen. Anfang der 1890er Jahre forderte Marie Albrecht eine Reformunterkleidung aus Hemdhose, Brustgürtel, Reformbeinkleid und Unterrock. Die neuen Reformobergewänder waren durch einen an die Empirezeit erinnernden Kleiderschnitt charakterisiert, sodass das Kleid lediglich den Schultern auflag. Die lose Form dieser Kleider sollte berufstätigen Frauen ihre Arbeit erleichtern.73 Diese Bekleidung war taillenlos und schwangerschaftsfreundlicher, ein einengendes Korsett, das die Organe oder Knochen in Mitleidenschaft ziehen konnte, damit überflüssig geworden. Solche Modelle wurden beispielsweise in Berlin von der »Vereinigung zur Bildung einer neuen Frauentracht« in einer internationalen Ausstellung zum Thema »Neue und zweckmäßige Kleidung« präsentiert. Da bei den Reformkleidern die natürlichen Körperformen deutlicher hervortraten, mussten Überlegungen zur geschickten »Kaschierung« unschöner Figuren angestellt werden.74 So wurde in einer Kleiderreformzeitschrift z. B. ein Faltenwurf im Rücken als Kunstgriff zur Kaschierung eines »starken« Gesäßes empfohlen oder Längsstreifen für die gesamtkorpulente Figur in einer Schönheitsfibel angepriesen. Darin hieß es: »Was in späteren Jahren am meisten alt macht, ist Korpulenz. Sie ist die größte Feindin der Jugendlichkeit.«75 Die Abschaffung des Körperkorsetts wurde der einschneidende Auslöser für den Bedeutungszuwachs der jugendlich-schlanken, weil nicht mehr von Kleidermassen zu verbergenden Körperform. Insgesamt sind zwei Kategorien von Kleiderreformern zu unterscheiden: einerseits jene, die als konsequente »Korsettfeinde« die gesamte Kleiderform der Oberbekleidung durch Gewichtsentlas-

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tung der Taille reformieren wollten, andererseits jene, die schwerpunktmäßig für atmungsaktive Stoffe der Unterkleidung eintraten, um so den Körper im Sinne der naturheilkundlichen Pathologie von »giftigen« Stoffwechselschlacken zu befreien. Sie entwickelten eine erste dehnbare Sportkleidung durch Verbesserung der Wirkverfahren von Woll- und Baumwollstoffen. Die Auseinandersetzung mit den Eigenschaften der Woll- und Baumwollstoffe Zu den medizinischen Vertretern der Reformkleidung, die die Berücksichtigung gesundheitlich-hygienischer Aspekte bei der Materialauswahl forderten, gehörten Gustav Eberhard Jaeger, Heinrich Lahmann und Sebastian Kneipp. Über die Wahl des richtigen Stoffes wurde heftig diskutiert: Lahmanns Reformbaumwolle war die Alternative zu Jaegers Normalwollkleidung, während Kneipp am groben Bauernleinen festhielt. Die Kleiderreformerin Doris Kiesewetter empfahl alle Naturmaterialien wie Leinen, Baumwolle, Wolle und Seide. Ihrer Meinung nach war ein poröser, grobfädiger Stoff als Unterkleidung deshalb so wichtig, da er körperlicher Trägheit vorbeuge. Sie zitierte Rubners »Lehrbuch der Hygiene«, in dem dieser bestätigte, dass vernünftige Kleidung ein hervorragendes vorbeugendes Gesundheitsmittel sei. Exemplarisch soll hier die Auseinandersetzung zwischen dem sogenannten »Wollregime« und den Anhängern der »Lahmann Baumwolle« behandelt werden. Gustav Eberhard Jaeger, den man später wegen seines »Evangeliums der Wolle« auch den »Wollapostel« nannte, studierte an der Universität Tübingen Medizin und wurde Privatdozent der Zoologie und Anatomie an der Universität Wien. Er verfasste Schriften zur Pharmakologie, Homöopathie, Hygiene, Natur- und Seelenforschung, Landwirtschaft sowie zur gesunden Bekleidung. 1884 zog er sich aus dem Staatsdienst zurück, um sich als Privat- und Geschäftsmann ganz der Entwicklung und Verbreitung seines »Wollregimes« zu widmen. 1885 begründete er in dem Buch »Mein System« seine »Wollkur« als angeblich heiltherapeutisch und gesundheitsprophylaktisch wirksames Mittel.76 Bei ihm waren nur Wolle, Haare und Federn von Tieren erlaubt, alles

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andere sollte aus der Bekleidung verbannt werden. Er begründete seine positiven hygienischen Erfahrungen mit der Wollkleidung mit der höheren Absorptionsfähigkeit des Materials. Über ganz Deutschland schlossen sich seit 1884 Anhänger der Wollkleidung zu »Jägerianer-Vereinen« zusammen. 1887 existierten 30 solcher Vereinigungen mit ca. 900 Mitgliedern, wenn man den Angaben des »Jägerschen Mitteilungsblatts« Glauben schenken darf. Jaegers System baute auf einer eigenen Theorie auf, die im Kern hieß: »Gestank ist Krankheit«.77 »Wollene Normalkleidung« sollte für genügend Atmung und Ausdünstung von gefährlichen Stoffwechselgiften und Krankheitserregern über die Haut sorgen. Zusätzlich sollte diese »Blutreinigungskur« durch körperliche Bewegung unterstützt werden. Deshalb unternahm Jaeger 1869 ein Experiment zur Erforschung der Wirkung der Körperbewegung mithilfe eines bei den Astronomen gebräuchlichen Hippokratischen Chronoskops an Zöglingen eines Turnkurses. Davon ausgehend, dass jeder Mensch bei seinen willkürlichen Bewegungen ein gewisses natürliches Tempo habe, über das hinaus ihm eine Beschleunigung nicht gelinge, versuchte er das Tempo der natürlichen Bewegung zu bestimmen. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass der bei der Gymnastik vermehrt produzierte Wasserschweiß das Moment sei, welches beim durchtrainierten Körper das natürliche Tempo verlangsame. Er identifizierte den Wasserschweiß als das »verweichlichende Element« der degenerierten Gesellschaft und bekämpfte deshalb auch die Zivilisationsseuchen »Trägheit« sowie »Übergewicht« mit seiner Wollkleidung, weshalb diese auch auf den neuen Markt der Sportkleidung vorstieß. Seine Wollkleidung sollte entwässernd wirken und den Schweiß aufnehmen. Auf diese Weise sollte gleichzeitig Gesundheitsvorsorge betrieben werden. Erst durch das Wollregime würde der Körper nach außen »wetterfest, seuchenfest« und nach innen »affektfest«. Dabei habe die »Seelensubstanz« des lebendigen Wesens die Eigentümlichkeit, dass sie in zwei ganz entgegengesetzten Formen vorkomme, als »Luststoff« und »Unluststoff« oder »Angststoff«. Dabei seien die Seelenstoffe im Körper nicht fortwährend in Tätigkeit. In dem Zustand, den man völlig zutreffend »Seelenruhe« oder »Gemütsruhe« nenne, seien sie in der lebendigen Substanz des Körpers, und zwar in dem Teil, den man Eiweiß nenne, gebunden.

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Erst wenn dieses zersetzt werde, würden sie frei, könnten sinnlich wahrgenommen werden, erzeugten die seelische Stimmung. Sei die Seelensubstanz in der Form des Luststoffes frei geworden, so befände man sich im Zustand der heiteren, unternehmungslustigen, mutigen Seelenstimmung und habe einen guten Appetit. Sei die Seelensubstanz hingegen in Form des Unluststoffes entbunden worden, so werde eine traurige, niedergeschlagene und mutlose Stimmung erzeugt, in der auch das Essen nicht schmecke. Gemütsruhe trete erst dann wieder ein, sobald keine neue Seelensubstanz mehr frei werde und die in freien Zustand geratene aus dem Körper hinausgeschafft worden sei. Letzteres geschehe mit dem Atem und mit der Hautausdünstung, zum Teil auch mit anderen Exkreten.78 Der wegen dieser Theorie auch »Seelen-Jäger« genannte Professor schlug deshalb für alle Lebenslagen Kleidung in Form von Schafs- oder Kamelhaarwolle vor, der die Aufgabe zukam, die krankmachenden »Unlust- oder Angststoffe« über die Haut wieder auszuscheiden, d. h. sie sollten die von ihm so benannte »Desodorisation«79 befördern, da Schmutz und Gestank die Quelle vieler Krankheiten seien. Die Wolle sei der eigentliche Gesundheitswächter. Nicht nur die Unter- und Nachtkleidung, sondern vor allem auch die Oberbekleidung sollte zur »Desodorisierung« aus Wolle sein. 1879 wurde das Flanellgewebe der ursprünglichen Jäger-Normalunterwäsche infolge der Einführung der Rundwirktechnik mehr und mehr von dem weicheren und elastischeren Wolltrikotstoff abgelöst. Für die männliche Oberbekleidung entwarf er die »JaegerUniform«80, die eine Art deutsche Nationaltracht werden sollte. Jaegers Sanitätshose sollte keinen mittellinigen Schlitz besitzen, da dies »eine hygienische Pfuscherei«81 sei, die die richtige Blutverteilung störe. Die Hosenbeine sollten möglichst keine Innennaht haben und unten absolut geschlossen sein. Auch schlug er eine neue Gestaltung des Sakkos vor, indem er die Modelle »Normalrock«, »Sanitätsrock« und »Interimsnormalrock« entwarf. Der Überrock war ganz aus Flanell oder aus Wolltrikot gefertigt, möglichst ohne Futter, vorne nur mit doppeltem Brustlatz versehen, mit eng anliegenden Ärmeln, alles in den Farben naturbraun oder indigoblau. Der eng anliegende Schnitt des Überrocks und der doppelte Brustlatz sollten eine Ventilation am Körper schaffen und dabei den Brustraum be-

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sonders schützen. Sanitäts- und Normalrock waren vom Schnitt her beinahe identisch, nur mit dem Unterschied, dass beim Sanitätsrock der Schoß an beiden Seiten geschlitzt und kürzer gestaltet war. Der Sanitätsrock sollte möglichst mit »Leibgurt« getragen werden. Die Wollkleidung der Knaben und Männer sollte nur aus Hemd, Socken, eng anliegenden Beinkleidern und einem Rock bestehen. Zusätzlich trat Jaeger für das »Farbstoffregime« ein, d. h. seiner Theorie entsprechend waren für die Gesundheit dunkle Farben schlechter als helle Farben, Naturfarben besser als Kunstfarben und echte Farben besser als unechte Farben. An der damaligen Frauenkleidung kritisierte er das viele Weißzeug und die durch den Straßenschmutz kehrenden, bis auf den Boden reichenden Oberkleider, sodass der Körper gleichsam unter einer Käseglocke stecke. Statt dessen schlug er vor, ein »Wollhemd, Wollstrümpfe, Unterhosen und ein Unterrock von Flanell, kein Korsett und ein Oberkleid aus wollenem Stoff bis an den Hals heraufgeschlossen und über die Brust herunter doppelt mit Flanell gefüttert sowohl im Sommer als auch im Winter zu tragen.«82 Das Korsett verwarf Jaeger nicht gänzlich, sondern empfahl sein eigens entwickeltes »Normalkorsett«, das ebenfalls aus elastischer Wolle gefertigt war. Neben dem Stoff sei der Schnitt der Kleidung nur insofern von Bedeutung, als er darüber entscheide, ob ein Blutstau entstehe oder nicht. Die Jaegersche Oberbekleidung der Frauen entsprach eher der damals herrschenden Mode mit ihrer eng anliegenden Taille, dem weiten, schleppenden Rock und ihren Drapierungen. Es war die traditionelle Mode mit »Küraßtaille«. Seine Frauenkleidung wirkte zwar etwas schlichter als die modische Kleidung der Zeit, war aber kaum den reformerischen Ideen entsprechend schnitttechnisch verbessert. Zu seinen Reformartikeln gehörten Normal-Strümpfe, NormalSocken, Normal-Nachtbekleidung, Normal-Sonnen- und Regenschirme, die Normal-Nachtkutte, Normal-Unterkleidung, NormalHosenträger, Normal-Bürsten für Wollstoff, das Normal-Kostüm, Sanitätsbetten, Normal-Hüte, Normal-Korsette, der Normal-Arbeiter-Anzug, Kamelhaarwatte, Porzellanteller mit Speiseregeln, Normaltoilettenseife, Normal-Damen-Trikot-Taillen, Normal-DamenHüte, Normalgürtel, wollene Unterkleidung, Normalkleider, Scho-

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kolade ohne Vanille, Normal-Kern-Cichorie, Normal-Hemden und Hemdhosen, Normal-Stiefel, Normalschuhe, Normal-Umschlagetücher etc. Die Jaegersche Reformkleidung wurde seit 1879 in Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Wirkerei Wilhelm Benger & Söhne hergestellt. Man kann von einem Reformwarengewerbe sprechen, das besonders auf dem Sportsektor tätig wurde.83 Zunächst stand vor allem der hygienische Nutzen des Sports im Vordergrund. Jaegers Sportkleidung bot aber auch eine bessere Bequemlichkeit wegen der strickgewirkten Dehnbarkeit des Materials. Der Käufer glaubte, aktiv und bewusst etwas für seine Gesundheit und Schönheit zu tun, wenn er Kleidung des geschäftstüchtigen Lebensreformers trug. Nach eigenen Angaben machte die württembergische »Normalkleidungsindustrie« einen Jahresumsatz von mehreren Millionen Mark. 1886 gab es in über 150 Städten Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Schweiz von Benger und Jaeger lizenzierte Geschäfte, die »Normal-Waren« zum Verkauf anboten. Anfang 1885 betrug die über die »Normal-Bekleidungsgeschäfte« ermittelte Zahl von Reformkleidungsträgern ca. 50 000.84 Jaeger war damit einer der größten Sportbekleidungshersteller der Jahrhundertwende. Zudem führte er in Überkingen bei Geislingen in Württemberg eine »Wollkur-Anstalt« und ein »Stahlbad«, die er in Annoncen zur Entfettung anpries. Seine Wollkleidung sei nämlich zugleich ein ausgezeichnetes Entfettungsmittel. Der entwässernde und entfettende Effekt seiner dehnbaren Wollkleidung bringe den »schönen Körper des Apollo« hervor. Dabei maß er den Leibesübungen eine hohe Wertschätzung bei, da sie eine derartige Entwässerung und Entfettung des Körpers noch schweißtreibend unterstütze.85 Die Erfolge der Jaeger-Wolle In England fanden Jaegers Wollartikel sogar Eingang in die Alltagsmode. Während in Deutschland mit »Jaeger-Kleidung« primär Unterwäsche in Verbindung gebracht wurde, verstand man dort darunter auch die dazugehörige Oberbekleidung. Ein Hauptgrund für die schnelle Akzeptanz der Jaeger-Kleidung in England mag die seit den 1860er Jahren verbreitete Gewohnheit, »Jerseyoberteile« als Sport-

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bekleidung einzusetzen, gewesen sein. Der Jaegersche Trikotstoff in seiner Eigenschaft eines elastisch-bequemen und hochwertigen Gewebes eignete sich offenbar ganz besonders dazu. Kein Wunder, dass gerade in England seine Wollkleidung wegen des Aufblühens der Sportbewegung enorme Erfolge feiern konnte. Er war einer der erfolgreichsten Sporttrikothersteller zunächst in England und dann auch in Deutschland.86 Einer der erbittertsten Konkurrenten Jaegers auf dem Reformkleidungssektor war der Arzt Heinrich Lahmann mit seiner baumwollenen Unterkleidung. Lahmann entwickelte eine spezielle »Reformbaumwolle«, die eine wesentlich höhere Luftdurchlässigkeit als Wolle erzielte. Er forderte für die Frau eine indifferente, aber nicht die Haut reizende Unter- und Oberbekleidung.87 Es sollte eine Kleidungsform sein, die den menschlichen, insbesondere den weiblichen Körper nicht gesundheitswidrig beeinträchtige. An Jaegers Konzept bemängelte er, dass die Wollkleidung als Unterkleidung durch geringe Schweißaufnahme und Hautreizung sogar gesundheitsschädlicher als die bisher übliche Leinenunterkleidung sei und dass Jaeger fälschlicherweise die beobachtete Heilwirkung seiner Wollkleidung zur Norm für Gesunde gemacht habe.88 Lahmanns Grundforderungen lauteten demgegenüber: Die Kleidung müsse durchlässig sein, eine Indifferenz des Stoffes müsse vorherrschen, d. h. der Stoff dürfe keine Hautreizung hervorrufen. Außerdem kritisierte er, dass Jäger glaubte, durch Ausdünstung rein quantitativ die Lösbarkeit und Ausscheidung von schädlichen Giftstoffen beeinflussen zu können, während Lahmann annahm, dies auch qualitativ durch diätetische Maßnahmen erreichen zu können.89 Er plädierte für die radikale Abschaffung des »Panzerkorsetts«, empfahl Büstenhalter und die erste Form eines zweiteiligen »Schwimmanzugs für Frauen«, der bereits den »Bikini« vorwegnahm. Seine »Reformbaumwolle« wurde nach einem veränderten gewirkten Produktionsverfahren hergestellt, war deshalb strapazierfähiger und elastischer als die handelsübliche Baumwollkleidung. Andere Kleiderreformer, wie z. B. Karl Spener in seinem Buch »Die jetzige Frauenkleidung und Vorschläge zu ihrer Verbesserung« (1897), glaubten, die Frauen könnten wegen der Folgen des Schnürens nicht völlig auf eine künstliche Stützhilfe verzichten, und boten

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Thalysia-Reformunterwäsche für »Problemfiguren« Quelle: Vegetarische Warte, 42 (1909)

deshalb verbesserte Schnürmieder und Reformkorsetts an.90 Die Reform der Unterkleidung war zunächst die wichtigste Aufgabe der Kleiderreformbewegung. Große Berliner Bekleidungshäuser wie Rudolph Hertzog, Heinrich Jordan, Theodor Lindner, Max Kühl, »Bazar« Nürnberg und Carl Braun gingen bereitwillig auf solche neuen Anregungen ein. Einer der größten Anbieter auf dem Gebiet der Reformunterkleidung war der Versandhandel von Paul Garms GmbH in Leipzig, besser bekannt unter dem Namen »Thalysia«. Der Sport machte die Reform der Unterkleidung zwingend notwendig. Später übernahm die Firma Bleyle die führende Rolle auf diesem Gebiet. Hemdhosen, Beinkleider, Ersatzkorsetts etc. wurden sowohl von ihren Zweiggeschäften als auch von anderen Firmen vertrieben. Aber nur ein geringer Teil der zum Kauf angebotenen Reformwaren entsprach den Vorstellungen und Anforderungen der Kleiderreformvereine.91 Diese Gesundheitskorsetts, Reformleibchen, Brustgürtel und Brusthalter kamen um die Jahrhundertwende mit Namen wie »Hygiea«, »Liebling« oder »Freiheit« auf den Markt

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und stellten im »Korsettkrieg« meistens eine vorläufige Kompromisslösung dar. abb39 Neben der Materialfrage spielte auch hier die »Schnitt-Frage« eine entscheidende Rolle. Die schlichten »Gesundheitshänger« sollten von berühmten Jugendstilkünstlern mit dekorativen Mustern und künstlerischer Formgestaltung ansprechender gestaltet werden.92 Der Wortführer dieser Bestrebungen war der Maler, Architekt und Mitbegründer des Deutschen Werkbunds Paul Schultze-Naumburg (1869–1949), der aus medizinischer wie ästhetischer Sicht gegen das Diktat der Mode anging. Auch er fand in der Antike die besten Beispiele für eine schöne, unverkümmerte Leiblichkeit, artikulierte in seinem Buch »Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung« 1902 ein neues Gesundheits- und Körperbewusstsein oder, wie er es nannte, »körperliches Gewissen« und forderte die Rückbesinnung auf die ursprüngliche Schönheit des menschlichen Körpers.93 Der unverdorbene, ursprünglich-natürliche weibliche Körper ohne jegliche künstliche Deformierungen war sein Gesundheits- und Schönheitsideal. Die Gesundheitsschäden des Korsettschnürens waren, wie Schultze-Naumburg berichtete, tatsächlich erheblich und seit 1900 bereits hinreichend bekannt, doch wurde das Schnüren immer noch oft als Training der Selbstdisziplin verstanden.94 Besonders ausgeprägt war der »Schnürwahn« in der Übergangszeit zwischen Korsett und Diät am Ende des 19. Jahrhunderts. Das Korsett war nie zuvor von so vielen Frauen so extrem eng geschnürt worden wie in dieser Periode. Manche Frauen legten es selbst nachts nicht mehr ab, Mädchen mussten in den Schulen darin turnen. Das Korsett war ein äußeres Erkennungszeichen rigider Beherrschtheit im Erdulden von Schmerzen. Die Ästhetik der Zukunft sei die zusammenfassende Erkenntnis aller biologischen und motorischen Momente des Körpers, meinte Schultze-Naumburg vorausschauend. Er kritisierte in schärfster Weise, dass sich das von der Mode vorgeschriebene Schönheitsideal immer an der Silhouette der »bekleideten« Frau orientiere, aber keineswegs an einer schönen Figur des nackten Körpers, und merkte hierzu ironisch an: »Aber woher auch soll man den Körper kennen. Unsere Lebensformen haben zum unbekleideten Körper eine ignorierende oder gar negierende Stellung genommen.«95

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Weitere bedeutende Vertreter der medizinisch-hygienischen Richtung der Kleiderreform waren der Arzt Adolf Thiele mit seiner 1903 verfassten Schrift »Zur Philosophie der neuen Kleidertracht«, Heinrich Jaeger und seine Ehefrau mit ihrer »Hygiene der Bekleidung« und C. H. Stratz, der in seinen Büchern mit zahlreichen Aktfotografien dem Betrachter im Detail alle korsettbedingten Deformationen vor Augen führte.96 Das vorherrschende Schönheitsideal dieser Zeit blieb dennoch vorerst die Korsettfigur. Die Kleiderreformer setzten sich das ehrgeizige Ziel, das Ideal der »Normalfigur« zu schaffen, und entwarfen zunächst nach ihren eigenen subjektiven Vorstellungen ein neues Schönheitsbild, das in der Folgezeit tatsächlich tendenziell Bestätigung finden sollte. Schultze-Naumburg appellierte an die Kleiderreformer: »Die Seele unserer gesamten Frauenkleidung muß eine andere werden.«97 Er empfahl darum, den Korsettkampf aus dem nur hygienischen oder nur ästhetischen Gebiet auf eine ethische Ebene zu heben. Sein Hauptvorwurf an die offizielle Modewelt lautete, die »entkörperlichte« Kleidung müsse sich wieder dem menschlichen Körper annähern. Seine Körperanschauung klang dabei schon recht fortschrittlich: »Der Körper sei schlank, edel und schön«.98 Lebhafte Unterstützung fanden die Schultze-Naumburgschen Ideen durch Jeannie Watt, die in den folgenden Jahren viel zur Transformierung und Popularisierung des Reformkleides im Alltag beitrug. In ihrer Schrift »Das Zukunftskleid der Frau« gab sie Schnittmusteranleitungen für Tages- und Abendtoiletten, Radfahrerkostüme, Dienstmädchen- und Kinderturnkleidung an die Hand. Jeannie Watt unterschied dabei zwischen einer »künstlichen Schlankheit«, die durch das Korsett erzwungen sei, und einer »wirklichen Schlankheit«, die durch die biologischen Gegebenheiten der Gesamterscheinung von Natur aus vorbestimmt sei.99 Neben zahlreichen praktischen Anleitungen zur Selbstfertigung von Reformkleidern oder zur reformerischen Umgestaltung der üblichen Mode entstanden in den Zentren der Kleiderreform wie Berlin und Dresden erste Ateliers für die Anfertigung maßgeschneiderter Reformgewänder, wie die Werbeanzeigen zeigen. Die Kleiderreformer propagierten eine natürliche Schlankheit, die sich nicht durch Korsetts erzwingen ließe, sondern sich lediglich

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aus Mäßigkeit im Essen und dem natürlichen Ebenmaß der Glieder ergeben konnte. Ähnlich sahen auch Ludwig Gummert und Clara Stryovski-Bädeker die »Figurfrage«. Ihr Anliegen drückten sie in dem Satz aus, alle Bestrebungen zur Verbesserung der Frauenkleidung müssten von dem einen Gedanken getragen sein, den Körper der Frau gesund, leistungsfähig und zugleich schön zu erhalten. Ohne die »drei Heilgötter der Natur« könne keine »köstliche Harmonie der Linien« und der »Leibes-Formen« entstehen.100 Künstlerkleider Um die Jahrhundertwende wurde das Reformkleid als künstlerisches Medium entdeckt und von Künstlern wie Henry van de Velde, Alfred Mohrbutter, Richard Riemerschmid, Peter Behrens, Gustav Klimt, Bruno Paul, Otto Eckmann oder Joseph Maria Olbrich reich mit Dekor wie etwa Ornamenten und Schärpen versehen.101 Die Reformkleider sollten dem naturhungrigen Lebensgefühl in seiner künstlerischen Ausformung des Jugendstils entsprechen, dem Prinzip der natürlichen Beweglichkeit folgen, durch Ausgewogenheit der Proportionen eine Zweckschönheit erreichen, die Gebärfähigkeit der Frau erhalten, individuell, hygienisch und sittlich sein. Vor allem der belgische Architekt und Designer Henry van de Velde machte sich »Die künstlerische Hebung der Frauentracht«102 zur Aufgabe. Er strebte die Harmonie von Kunst und Leben in allen Lebensbereichen an, d. h. von der Architektur über das Interieur bis zum Kleid der darin Wohnenden; alles sollte ein »Gesamtkunstwerk« ergeben, das allein den Prinzipien der Vernunft, Zweckmäßigkeit und Schönheit gehorche. Das Ziel war der Kampf gegen die kommerzielle Modeindustrie und der Entwurf eines »Eigenkleides«, d. h. eines Kleides, das nach den individuellen Vorstellungen und Bedürfnissen seiner Trägerin gestaltet war. Van de Veldes Ehefrau Sèthe beschäftigte sich ebenso mit Entwürfen von Kleidern, die sich von dem überladenen Stil und den voluminös aufgebauschten Röcken der Vorzeit abhoben und funktionellen Überlegungen folgten.103 Allen Kleidermodellen war das praktische Konstruktionsprinzip des nicht die Körpermotorik einengenden Schnittmusters gemein. Funktionsloser Zierrat sollte radikal entfernt werden.

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Die Bewegung als Zeitsymbol des Jugendstils sollte sich auch in den Kleidern mit tiefen, weichen und bewegten Falten widerspiegeln. Friedrich Deneken, der 1897 die Direktion des »Krefelder Kaiser Wilhelm-Museums« übernommen hatte, organisierte im Frühjahr 1900 eine erste Sonderausstellung moderner Künstlerkleider, zu der Henry van de Velde einlud. 1901 wurden auf der Dresdner »Internationalen Kunstausstellung« und auf einer in Leipzig veranstalteten »Kunstgewerblichen Ausstellung für Bekleidung« Künstlerkleider ausgestellt. Paul Schultze-Naumburg veranstaltete 1902 in Berlin die »Ausstellung für neue Frauentracht« mit rund 100 Reformmodellen, und zur gleichen Zeit konnte man in Wiesbaden in der Ausstellung »Deutsche künstlerische Frauenkleider« weitere Reformanregungen begutachten. 1903 war es bereits möglich, im Berliner Kaufhaus Wertheim Reformkleider zu erstehen, die unter der künstlerischen Leitung von Else Oppler entstanden waren. Die Kleiderreformerin appellierte in ihrer Schrift »Das Eigenkleid« an die Frauen, sich eigenverantwortlich und mit persönlichen Ambitionen aktiv am Entwurfs- und Entstehungsgeschehen der Kleider zu beteiligen und nicht länger blind dem Modediktat zu folgen.104 Die kostbaren und aufwändig gestalteten Antimode-Kleider konnten sich jedoch in der breiten Öffentlichkeit ebenso wenig durchsetzen wie der Gesundheitshänger, der als hässlicher »Reformsack« abgelehnt wurde. Die Jugendstilkünstler scheiterten mit ihren wagemutigen Kreationen am eigenen überhöhten ästhetischen Anspruch und an den für den Durchschnittsbürger unerschwinglichen Preisen. Die künstlerischen Reformkleider wurden als produktionshemmend bezeichnet, da sie antimodisch, antikonfektionell und unwirtschaftlich waren. Immerhin aber schärften sie das neue Bewusstsein für den Körper höchst publikumswirksam. Der Einfluss der Frauenbewegung auf die Kleiderreform In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fasste die Frauenbewegung in Deutschland Fuß. Frauen begannen sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Die deutsche Frauenbewegung war vor allem im Gefolge der außerhäuslichen Berufstätigkeit und dem Eindringen in traditionelle Männerberufe entstanden. Die Befrei-

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ung des weiblichen Körpers vom Korsett symbolisierte auch eine geistige Befreiung. Diese Thematik wurde lebhaft diskutiert und karikiert. Kleiderreformerinnen wurden oft mit hässlichen Klischees belegt, da man sie mit den Frauenrechtlerinnen gleichsetzte. Die bürgerliche Frauenbewegung forderte die Befreiung vom Korsett und von anderen »Modetorheiten«, die sie als Symbole der körperlichen und geistigen Unterdrückung der Frau interpretierte. Die diktierte Mode mit dem Schnürkorsett, die die Frauen zu eingeschränkt bewegungsfähigen Hausgeschöpfen degradierte, hatte mit dem Alltag der meisten Frauen nichts zu tun.105 1896 fand in Berlin der »Internationale Kongreß für Frauenwerke und Frauenbestrebungen« statt, der sich in einer gesonderten Sektion auch mit der Reformierung der Frauenkleidung, vor allem der Berufskleidung, befasste. Hauptreferent zum Thema einer rationalen Kleiderreformbewegung war Dr. med. Karl Spener, der für Frauenhosen als Berufskleidung eintrat, während seine Korreferentin Sera Proelss einer modifizierten Empiretracht den Vorzug gab.106 Bereits zwei Wochen später wurde der »Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung« unter dem Vorsitz von Margarete Pochhammer in Berlin gegründet. Der Verein bot Gymnastik- und Atemübungen und Nähkurse zur Selbstherstellung von Reformkleidern an und organisierte Agitationsvorträge im In- und Ausland. Bei seiner Gründung hatte vermutlich die englische »Rational Dress Association« Pate gestanden, wie an den vier Grundsätzen für die Verbesserung der Frauenkleidung erkennbar wird: 1. Befreiung von allem Druck und jeder Einschnürung, 2. Verminderung der gesamten Kleiderlast, 3. Verteilung des Gewichts der Kleidung auf Schultern und Hüften, 4. Verbannung der Straßenschleppe.107 Der Verein, der von namhaften Ärzten und Künstlern unterstützt wurde, hielt öffentliche Versammlungen ab, publizierte Mitteilungsblätter und Zeitschriften, veranstaltete Vorträge, Preisausschreiben und Ausstellungen. Die Öffentlichkeitswirksamkeit wurde über die Zusammenarbeit mit der »Modewelt« und der »Illustrierten Frauenzeitung« erhöht. Dank der Aufnahme der Reformmodelle in diesen großen Modezeitschriften wuchs die Bereitschaft der Kleiderhersteller, solche Modelle anzufertigen. Die meisten Reformkleider blieben aber Einzelanfertigungen von kleinen Schneidereien und

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Künstlerwerkstätten, industriell wurden kaum Reformkleider hergestellt. Auf einer Ausstellung des Vereins wurde 1897 eine Unterbeinkleidung zum zentralen Merkmal der neuen Kleidung erklärt und unter Namen wie »Labora« oder »Frauenheil« angepriesen; sie konnte sich relativ schnell durchsetzen. Die Kleiderreformer führten auch den Büstenhalter endgültig in die Damenunterwäsche ein. In der Oberbekleidung folgten Sportkostüme mit Hosenröcken, sogenannte »getheilte Röcke« oder auch »Rockbeinkleider«. abb79 Ebenso wie die Frauenkleidung sollte die Kinderkleidung reformiert werden, denn noch bis um 1900 war es für zwei Drittel der Mädchen üblich, während des Schulturnunterrichts ein Korsett zu tragen. Matrosenkleider wurden als Turnkostüme für Mädchen vorgeschlagen.108 1899 erging in Preußen eine ministerielle Vorschrift, die vorsah, dass Mädchen im Turnunterricht ein Leibchen aus weichem, porösen Stoff mit Achselbändern tragen sollten, woran ein Stoffbeinkleid angeknöpft und worüber ein Oberkleid in Kittelform getragen wurde. Eine weitere Forderung war jene nach einer vernünftigen Arbeitskleidung für Frauen. Schließlich wurde auf Initiative der bayerischen Oberin von Wallmenich eine hygienische Krankenpflegerinnenkleidung für Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes durchgesetzt.109 Mit der Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit nahm auch der Gebrauch der Hose als praktikable Alternativkleidung für Frauen stetig zu. Der Künstler und Lebensreformer Hugo Höppener (Fidus) stellte als erster deutscher Kleiderreformer Hosen als weibliche Arbeitstracht zur Diskussion. Um 1900 schlug er Pumphosen als geeignete Frauenarbeitskleidung vor, die sich aber in der Praxis kaum durchsetzen konnten. Ebenso betonte Heinrich Pudor, dass die Frau nicht nur Arme, sondern auch Beine habe.110 Er kritisierte die Empfehlungen des deutschen Vereins zur Verbesserung der Frauenkleidung als nicht radikal genug, weil sie am Rock als Normalkleidung der Frau festhielten und seiner Meinung nach zu wenig den modernen Trend zu einer speziellen Sportmode aufgriffen. Auch die Ehefrau des niederländischen Nacktkulturanhängers Professor Salomon entwickelte ein variables Arbeitskleid, das zum einen als Kleid und zum anderen als Pumphose während der Arbeit getragen werden konnte. Zwischen 1914 und 1918 setzte sich die Kleiderreformbewe-

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Reformsportkleidung für Männer und Frauen um 1900 Quelle: Wendler/Gerling (o. J. [um 1900])

gung keineswegs für eine uneingeschränkte Übernahme der Frauenhose für alle Lebensbereiche ein; sowohl im Alltag als auch für bestimmte Berufe wie Lehrerin, Verkäuferin oder Post- und Telegraphenbeamtin sollten Röcke beibehalten werden.111 Für eine Kleiderreform für die arbeitende Frau des Industriezeitalters trat insbesondere Else Wirminghaus mit ihren Büchern »Das Kleid der arbeitenden Frau« und »Einfache Kleider: Unterkleidungswäsche« ein, in denen praktischerweise die entsprechenden Schnittmuster gleich mitgeliefert wurden.112 Von einer Reform der Frauenberufskleidung ließ sich erst nach dem Ersten Weltkrieg sprechen, als Frauen zunehmend in der Industrie, insbesondere in der Rüstungsindustrie, eingesetzt wurden. An die moderne Frau des Industriezeitalters wurden nun neue, leistungsorientierte Maßstäbe angelegt.

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Die neue Gesundheitskleidung der »Wandervögel« und anderer Jugendgruppen Die Zeit der Jahrhundertwende war eine Zeit der Umbruchstimmung, die gekennzeichnet war von immensen medizinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritten, von der Entstehung der Psychoanalyse und von der allgemeinen Entdeckung der jugendlichen Schönheit – man denke hierbei vor allem an die zeittypischen Erscheinungen der Jugend- und Wandervogelbewegung.113 Im Wandervogel entkamen die jungen Leute dem Elternhaus und der Schule, die Gruppe der Gleichaltrigen war für sie eine Enklave. Die Jugend entdeckte »die Jugend« als Lebenszeit. Infolgedessen wurde der Begriff des »Jugendlichen« in den 1920er Jahren geprägt. Die Wandervögel wurden wegen ihrer Bekleidung als »Fürsten in Lumpen und Loden« bezeichnet.114 Die Vorwandervogelbekleidung (ca. 1896 bis 1904) bestand zunächst aus der Kleidung höherer Schüler. Eine spezielle Wandervogel-»Kluft« hatte sich noch nicht ausgebildet. Zunächst bildeten Schüleranzug, Schülermützen, später Wandervogelmützen aus grünem Tuch mit goldenen und roten Streifen oder ein breitkrämpiger Schlapphut sowie eine durch das Knopfloch gezogene Schnur ebenfalls in den Farben des Wandervogels grün-rot-gold – dies war die Kleidung der deutschen Jugendbewegung. Als Accessoires wurden Ranzen und Regenschirm und eventuell ein rotes Halstuch getragen. In den Jahren von 1904 bis 1911 wich der Schüleranzug einer zweckmäßigen Wanderkleidung. Sie bestand aus einem bequemen grauen oder grünen Lodenanzug mit großen Jackentaschen, Kniebundhose, Wollstrümpfen und Sporthemd ohne weißen Wäschekragen, Schnürstiefeln, Schülermütze oder Seppelmütze mit oder ohne Fasanenfeder. Als Accessoires wurden Rucksack mit Schlafdecke und Wanderstock, Mundharmonika, Okarina oder Gitarre mitgeführt. Mit der Bekleidung wollte man die Jugendlichkeit betonen, um sich gegen die »alters«starre Gesellschaft abzugrenzen. Die »Wandervogelkluft« spielte eine wichtige Rolle zur Stärkung des »Wir-Gefühls« und musste zweckmäßig für die sport-freizeitlichen Aktivitäten in der Natur sein.

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Übergeordnetes Ziel war, wie bei allen lebensreformerischen Bewegungen, die kulturelle Erneuerung und nicht das Wandern als reines Freizeitvergnügen. Das Bild der Jugend wurde zum Zeitsymbol hochstilisiert. Kinder und Jugendliche wurden nicht mehr wie kleine Erwachsene behandelt, sondern ihnen wurde eine eigene Welt zugestanden. Die Jugend entwickelte ihre eigene sportliche Freizeitmode. Erst durch die Rezeption der Reformkleidung im Wandervogel und in der aus ihm hervorgehenden Jugendbewegung erlangten die Reformversuche eine größere Relevanz, nicht zuletzt durch den Sport. Der jugendliche, schlanke Körper wurde zu einem leitenden Motiv in der bildenden Kunst. Die Körperkultur der Jahrhundertwende fand ihren revolutionärsten Ausdruck in der öffentlichen Inszenierung dieses nun als »schön« geltenden, grazilen, nackten Körpers.115 Als zeitcharakteristisches, erotisches Schönheitsideal wurde der mädchenhafte, jungfräuliche Frauentypus entworfen. Das schlanke Schönheitsideal verband nun das äußere Erscheinungsbild mit den von der bürgerlichen Gesellschaft positiv bewerteten Tugenden der »Keuschheit« und der »Selbstbeherrschung«.116 Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Reformmode Die Wirkung der Reformkleider auf die Öffentlichkeit blieb relativ gering. Sie fanden kaum Anhänger. Für das Scheitern der Reformbestrebungen können mehrere Gründe ausfindig gemacht werden. Erstens richtete sich das Ideal der Volksgesundheit als Argument für eine hygienische Kleidung in erster Linie gegen die westliche, konventionelle Mode und erst in zweiter Linie gegen die tatsächlichen, durch falsche Kleidung verursachten Gesundheitsschäden, insbesondere bei Frauen. Zweitens schlugen die Kleiderreformer zwar eine zweckmäßige Arbeitskleidung vor, änderten aber dadurch nichts am Problem des sozialen Elends der Arbeiterfamilien. Die lebensreformerischen Zielsetzungen waren und blieben politisch unwirksam. Drittens ließen sich die Kleiderreformer bei ihren Reformvorschlägen auf zu viele Kompromisse ein, sodass z. B. die Kleider für den Mädchenturnunterricht beinahe bodenlang und am Hals hochgeschlossen blieben, sich kaum von der konventionellen Turnkleidung unterschieden und wenig hygienische Verbesserungen

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aufwiesen. In der allgemeinen Mode stieß die Reformidee zunächst auf wenig Zustimmung. Im Gegenteil wurden die Reformkleider als unschön und der weiblichen Figur wenig schmeichelnd aufgefasst, lediglich der gesundheitliche Wert wurde dieser Kleidung allgemein zuerkannt. Generell wurde bemängelt, dass die Frau bereits eine schlanke Figur besitzen müsse, um in den neuen Reformkleidern ästhetisch zu wirken.117 Die Reformbefürworter ließen dieses Argument gegen die Reformkleider nicht gelten, denn ihrer Ansicht nach entsprach eine »dicke«, ins Korsett gezwängte Frau ebenfalls nicht dem ästhetischen Empfinden: Einwand: Ja, das ist gut für die Schlanken, aber was sollen die Dicken anfangen ohne Korsett? Scheint mir nicht berechtigt. Legen wir mal die Hand auf das Herz: Wirkt eine dicke Frau, die, in der Taille eingeschnürt, oben und unten auseinanderquillt und eine semmelförmige Figur darstellt, ästhetisch?118

Zumindest reagierte die Öffentlichkeit auf die Kleiderreformbewegung. Wie im Fall der Ernährungsreform kamen die heftigsten Reaktionen und eine erste Protestschrift aus den Reihen der Schulmediziner. Ein gewisser Max Heszky, früherer Redakteur des »ArztSpezialisten«, versuchte die gesundheitlichen Argumente der Lebensreformer durch eine »Kulturgeschichte des Korsetts von ihren Uranfängen in den Römerzeiten bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts« zu entkräften.119 Wenn man seiner »Antipropaganda«-Schrift Glauben schenken darf, hat man in hochzivilisierten Kulturen stets auf den Körper zur Erzielung einer grazilen Schlankheit einzuwirken versucht, nur werde dies nunmehr mit Einschränkung der Nahrungszufuhr und aktivem Fitnesstraining getan. abb80 Die Pariser Reformmode und die beginnende Versportlichung der Kleidung Obwohl die ursprünglich einfachen Reformkleider kein allgemeiner Trend wurden, reagierten die richtungsweisenden französischen Modeschöpfer wie Paul Poiret auf diesen Anstoß. So zeichnete sich bereits in den 1880er Jahren in der Damenmode eine Tendenz zur

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Karrikaturstreit der konventionellen Mode kontra Reformmode

Adaption männlicher Stilelemente ab, beispielsweise in der Gestaltung von Kostümjacken. In den 1890er Jahren nahmen die Pariser Haute Couturiers Abschied vom »Cul de Paris«, einem künstlichen Gesäßkissen, und lancierten unter dem Einfluss der Reform- und Sportmode locker fallende Glockenröcke in Kombination mit Blusen. Um 1910 kam es erstmals zu einem relativen Gleichklang von

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Reform- und Modekleidung, wobei es schwer fällt zu beurteilen, ob die Einführung der modischen, auf Einschnürungen verzichtenden Hängekleider auf die Vorgaben der Kleiderreformbewegung zurückgingen oder allgemeine gesellschaftliche Tendenzen widerspiegelten.120 In einer Kleiderreformzeitschrift wurde sogar von der »Pariser Reformmode« des Künstlerschneiders Paul Poiret berichtet. Er war ein ehemaliger Mitarbeiter der Modehäuser Worth und Doucet, der sich 1904 selbstständig gemacht hatte und mit schicken Kleidern überraschte, die keine Korsetts und Unterröcke mehr benötigten. Poiret erkannte die Marktlücke der bewegungsfreundlicheren Freizeit-, Sport- und Berufskleidung und stellte erste zweiteilige Sportkostüme, fußfreie Röcke, Hosenröcke und Hosen für Frauen vor. Im Zuge der reformierten Mode der Jahrhundertwende wurden Vorführdamen für die Präsentation der neuen Pariser Reformmode eingesetzt. Die im Französischen so genannten »Mannequins« mussten nun zur ästhetischen Vervollkommnung einen schlanken Körperbau aufweisen, da die Kleider die individuelle Körpersilhouette stärker herausstrichen. Mannequins übernahmen damit die Vorbildfunktion im Metier der Körperschönheitsideale. Das künstliche Modeideal des 19. Jahrhunderts (schlanke Wespentaille und kleiner Fuß) wurde nach und nach gegen das künstliche Schlankheitsideal der Mannequins und »Theaterstars«, später der »Filmstars« und der heutigen »Supermodels« ausgetauscht.121 Je stärker sich der Unterschied zwischen Ober- und Unterwäsche im Lauf dieses Jahrhunderts verringerte, desto enger verknüpfte sich der Begriff des idealen erotischen oder zumindest attraktiven Frauenkörpers mit dem unmanipulierten, nackten Körper. Dieser natürliche Körper konnte nur noch indirekt moduliert werden.122 Ein schlanker, sportlicher, attraktiver Körper konnte folglich nur noch durch eine vernunftgesteuerte Kontrolle der Nahrungsaufnahme, durch reichliche Bewegung oder schließlich chirurgisch erzielt werden. Dieser Trend machte sich in Form der »Versportlichung der Mode« bemerkbar. Auch unter der Sportkleidung konnten steife, »sperrige« Korsetts nicht mehr so einfach verborgen werden. Zunächst wurden leichtere, elastischere Reformkorsetts bzw. Sportmieder entwickelt. Schließlich verschwand das Korsett seit dem Ersten Weltkrieg aus Praktikabilitätsgründen völlig, was in der Modegeschichte als »Re-

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volution der Dessousmode« bezeichnet wurde.123 Damit rückte der individuelle Körperbau in den Blickpunkt des Interesses. Gezieltes Training zur Gestaltung schlanker Körperformen begann. Nicht mehr die ursprünglichen kalisthenischen Übungen zur Erhöhung der Anmut waren gefragt, sondern ganze Gymnastik-, Tanz- und Sportprogramme zur gezielten Schulung der natürlich-schlanken Körperschönheit wurden entworfen. Die Entwicklung des Frauensports stellte die augenfälligste Widerspiegelung des Wandels der Rolle der Frau in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts dar.

Sportliche Frauen in einer Werbeanzeige für das Diätpräparat Eno’s Fruchtsalz; Quelle: Vegetarische Warte, 63 (1930)

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Die Entwicklung des Frauensports erfolgte in drei Etappen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Ziel einer Frau in der Regel eine standesgemäße Heirat als die adäquate, von der Gesellschaft sanktionierte Form der Versorgung, und »kalisthenische Übungen« sollten dazu dienen, Missbildungen und Fehlhaltungen zu verhindern, Schönheit und Anmut zu steigern, um die Chancen auf dem Heiratsmarkt zu verbessern. Zwischen 1850 und 1880 zeichnete sich ein Einstellungswandel in Bezug auf die Gesundheit ab. Das zur Passivität zwingende Korsett der Frauen wurde als gesundheitsschädlich erkannt, wobei man Komplikationen, die bei Schwangerschaften und Geburten auftraten, als besonders gravierend empfand. Erste frauenemanzipatorische Überlegungen zielten darauf ab, die Diskriminierung von Frauen durch Stärkung der weiblichen Physis mittels Gymnastik zu überwinden. Die dritte Phase setzte in den 1880er Jahren im Zuge der Konstituierung der modernen Industriegesellschaft ein, als die aktive Erwerbstätigkeit der Frau gefordert wurde. Die Verbindung von Berufsleben mit Hausfrauen- und Mutterpflichten konfrontierte die Frauen mit erhöhten physischen und psychischen Anforderungen. abb 42 Die Institutionalisierung des Sportunterrichts für Mädchen, Frauen-Sportvereine und Wettkampfveranstaltungen trugen dazu bei, das im Volksmund so genannte »schwache Geschlecht« sowohl physisch als auch psychisch zu stärken. Hausturnapparate, Zimmerfahrräder und Kraftgeräte wurden auf den Markt gebracht. Die Kleidung wurde immer figurbetonter. Entsprach zur Zeit des Fin de siècle noch ein aus heutiger Sicht kräftiger, »pummeliger« Körper mit betont weiblichen Rundungen dem allgemeinen Schönheitsideal, so bestimmte in den 1920er Jahren der knabenhafte Frauentyp des »Garçonne« die Mode. Die Tagesmode setzte schon zu Beginn der 1920er Jahre eine zurückhaltende Schlichtheit sowohl in der Form als auch bei den verwendeten Materialien durch. Keine steifen Fischbeinkorsetts schränkten mehr die Bewegung, keine bodenlangen Röcke den freien Gang ein. Die bisher wirkungsvoll inszenierten fraulichen Attribute wie Busen, Taille, Hüfte, Gesäß und lange Haare schienen ihre Bedeutung mit dem Aufkommen der geraden, knabenhaft-schlanken Linie und der Bubikopf-Frisur eingebüßt zu haben. Im Typ der »Garçonne« erfuhr diese Tendenz ihre

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leitbildhafte, mit dem Emanzipationsgedanken verbundene Ausformung.124 Erstmals durften entblößte Arme und etwas mehr Bein gezeigt werden, fließende Stoffe schmiegten sich eng an den Körper. Damenbeine, die jahrhundertelang tabuisiert worden waren, prägten nun das Straßenbild. Die neue Frauengeneration brach radikal mit dem tradierten Frauen- und Körperbild der Vorkriegsgeneration und schuf noch heute gültige Muster. Die veränderte weibliche Lebensrealität dokumentierte sich in der Propagierung eines schlanken, sportlichen Frauentyps. Gekoppelt an das veränderte Schönheitsideal war auch eine gewandelte Vorstellung von Gesundheit, denn die schlanke, sportliche Frau galt von nun an als widerstandsfähiger in jeder Hinsicht, selbst im Hinblick auf das Kindergebären. Das Korsett hatte endgültig ausgedient, nur noch Hüftgürtel konnten getragen werden, ansonsten war seit dieser Zeit »Diät halten« und »Sport treiben« angesagt. Der »Schnürteufel«, die Sucht, den Körper einzuschnüren, um ihm eine schlanke Gestalt zu geben, wurde vom »Diätwahn« abgelöst. Die schwäbische Firma Bleyle stellte erste unauffällige Unterbeinkleider, die sogenannten »Ojas«, für die moderne, berufstätige Frau der 1920er Jahre her. Es handelte sich dabei um Reformbeinkleider für Damen und Mädchen, die es in drei Ausführungen gab: kurz, knielang und lang. Die in den Werbeannoncen gezeigten Bleylemodelle entsprachen dem »Girl-Typus« der »Neuen Sachlichkeit«: jung, gertenschlank, mit flachem Po und Busen, pflegeleichtem Bubikopf oder gewelltem Kurzhaarschnitt. Das sportliche Aussehen des neu aufkommenden »Jumpers« wurde mit Accessoires wie Tennis- oder Golfschlägern unterstrichen. Spezialmieder für sportliche Aktivitäten, z. B. für das Skifahren, wurden unter dem Schlagwort »Wir verkaufen Ihnen Schlankheit« angepriesen, da man zunächst glaubte, ohne äußere Hilfsmittel nicht auskommen zu können. Die Firma Bleyle bot zunächst Strickwaren als vollwertige Sportkleidung an, später auch praktische Berufs- und Freizeitkleidung für alle Gelegenheiten. Das Argument, die Körperbewegungen in den Reformkleidern seien unästhetisch, entkräftete man mit dem Gegenargument, dass da nur ein neuer Bewegungsstil Abhilfe schaffen könnte.125 Darauf reagierten die Körperreformer mit einer neuen

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Ausprägung der Lebensreform, mit dem Rhythmus- und Ausdruckstanz, dessen wichtigste Repräsentanten Adolf Salge, Olga Desmond, Isodora Duncan und Adorie Villany waren.126 Die antikisierenden und durchsichtig-fließenden Schleiergewänder des Reformtanzes veranschaulichten die modischen Konsequenzen eines neuen Körpergefühls. Die neue Kleidung musste leicht, bewegungsfreundlich und bequem sein. Ein neues Körperbewusstsein, auf das die Mode reagieren musste, war entstanden. Bereits ab 1898 wurden in Deutschland Reformkleider propagiert. Die neue Gegenmode konnte allerdings erst aufgrund des Einflusses der Jugendbewegung und insbesondere der Sportbewegung beim breiten Publikum Erfolge feiern. Nach dem Ersten Weltkrieg setzten sich die hier zum Ausdruck gebrachten Forderungen nach einer bequemeren, bewegungsfreundlicheren Kleidung durch, was heute mit dem Begriff der »Versportlichung der Mode« historisch beschrieben wird.127 Die deutsche Sport- und Spielbewegung Die Ausdifferenzierung des modernen Sportsystems in Deutschland korrespondierte mit dem im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Prozess eines neuen Bewegungsverhaltens, verursacht vom Erstarken zivilisationskritischer Positionen im Umfeld der Lebensreform. Nach dem Vorbild der konventionellen leistungsorientierten Sportarten englischer Provenienz gewannen alternative Bewegungskonzepte an Bedeutung, die ein gewandeltes Körperverständnis, eine Neudefinition sportpädagogischer Grundlagen sowie neue Organisationsformen und Prinzipien im Freizeitverhalten offenbarten.128 Den Boden für die deutsche Sportbewegung bereiteten Diskussionen über den schlechten gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung sowie über die gesellschaftliche Bedeutung von Gesundheit und körperlichen Fähigkeiten für die allgemeine Wohlfahrt des Staates. Naturistisch eingestellte Mediziner, Philanthropen, Pädagogen und Reformer forderten volkstümliche Übungen wie Laufen, Springen, Werfen etc. sowie Leibesübungen, die der formalen Kräftebildung dienten. Die Schulen rückten als zentrale Organisationsstätten für die körperliche Erziehung der Jugend im Dienst der Gesundheits-

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förderung und der moralisch-geistigen Stärkung in den Mittelpunkt des Interesses. Johann Christoph Friedrich GutsMuths mit seinem 1793 entstandenen Werk »Gymnastik für die Jugend« und Friedrich Ludwig Jahn, der Gründer des ersten deutschen Turnplatzes auf der Berliner Hasenheide, standen am Beginn der Entwicklungsgeschichte des Sports. Die »preußische Turnsperre« bedeutete einen Einschnitt in der deutschen Sportgeschichte, da sich mit dieser politischen Intervention zunächst die Bedingungen für die strukturelle Festigung der Turn- und Vereinsbewegung verschlechterten.129 Trotz oder gerade wegen dieser ungünstigen Bedingungen verlagerte sich das Interesse auf das Schulturnen. Der gesundheitliche Nutzen des Turnens wurde als Erziehungsmittel erkannt. 1829 gab der Schweizer Lehrer Clias, der in England Mädchen aus vornehmen Kreisen unterrichtet hatte, unter dem Titel »Kallisthenie oder Übungen zur Schönheit und Kraft für Mädchen« das erste bedeutendere Werk über Leibesübungen für Mädchen heraus. Er beeinflusste auch J. A. L. Werner, der sich in seinen Gymnastikanstalten in Dresden und später Dessau insbesondere für die Leibesübungen der Mädchen in den Schulen einsetzte.130 Zu den frühen Formen des Mädchenschulturnens gehörten z. B. Keulenschwingen oder Stabübungen, die auch heute noch in der orthopädischen Rekreationstherapie Anwendung finden. Ärzte und Pädagogen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren sich über die Ziele weiblicher Leibesübungen weitgehend einig. Sie wiesen darauf hin, dass den typischen Frauenkrankheiten der Zeit – Rückgratverkrümmungen, Bleichsucht, Kurzatmigkeit – durch regelmäßig betriebene Leibesübungen vorgebeugt und mancher schon entstandene Schaden behoben werden könnte. Zusätzlich versprach man sich vom Schulsportunterricht für Mädchen auch positive Auswirkungen auf die Anmut der Bewegung und die Schönheit der Körperformen. Die Pädagogen erwarteten vom Schulsport erzieherische Effekte wie die Erlernung der Fähigkeit zur Unterordnung, zum Gehorsam und zur Willensbeherrschung sowie die Gewöhnung an Entbehrungen. Die Ausrichtung der Leibesübungen entsprach den geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen. Der Frauensport sollte Gesundheit, eine gesunde Mutterschaft und

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Schönheit, der Männersport Gesundheit, Wehrhaftigkeit, Berufstüchtigkeit und Loyalität zur Folge haben.131 Die Leitfiguren des Schulturnens waren Adolf Spiess und Hugo Rothenstein, die unter klarer Abgrenzung vom »freien« Jahnschen Turnen neue pädagogische Inhalte entwickelten, in denen Frei- und Ordnungsübungen dominierten. Das Ziel war innere Disziplin und äußere Schönheit. Das Schulturnen wurde in den 1840er Jahren in den öffentlichen Schulen eingeführt, in den 1860 Jahren zur Pflicht in den höheren Schulen, dann in den Volksschulen und schließlich in den Mädchenschulen, sodass die Institutionalisierungsphase um die Jahrhundertwende abgeschlossen war. Strukturelle Veränderungen waren der verstärkte Bau von Turnhallen, die zunehmende Professionalisierung der Lehrenden und die Etablierung von Berufsvereinigungen. Erst mit der Stärkung der Nationalbewegung Anfang der 1860er Jahre nahm auch die Entfaltung des bürgerlichen Vereinswesens und mit ihr der Turnvereine zu. Am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Expansion, technischen Fortschritts und imperialistischer Großmachtpolitik unter Wilhelm II. neue Orientierungen und Strukturen in der Turnund Sportbewegung, die zur Ausweitung der Anzahl der Mitglieder wie auch der betriebenen Turn- und Sportformen führten. In der Ausdifferenzierung der deutschen Sportgeschichte lassen sich zwei charakteristische Kennzeichen feststellen. Zum einen war dies die Tendenz zur weltanschaulich, religiös und parteipolitisch orientierten Differenzierung der Vereine und Verbände, zum anderen die Etablierung des »Zentralauschusses zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in Deutschland«, der seit 1891 für die Durchsetzung des Sports in der Bevölkerung eine entscheidende Rolle spielte. Diese Bewegung integrierte das Spiel in den schulischen Turnunterricht, um der geistigen Überbürdung durch Körperertüchtigung entgegenzutreten. Zudem initiierte sie den Ausbau von Turn-, Spiel- und Sportgelegenheiten in größeren Städten. Die Spielbewegung trug zur Akzeptanz und Integration des Sports bei, indem sie vom starren Ordnungsturnen wieder zu den freieren Körperübungen Jahnscher Prägung führte. Parallel dazu wirkten sich Einflüsse der aus England kommen-

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den Sportbewegung aus, zunächst in der Oberschicht. Traditionelle Sportarten wie Pferderennen, Rudern etc. wurden aus England importiert. In einigen größeren Städten begann sich in den 1880er Jahren die Körper- und Sportkultur nach englischem Vorbild auch in den bürgerlichen Schichten auszubreiten. Die Mittelschicht entwickelte aus den traditionellen Sportaktivitäten durch Veränderung alter und Einführung neuer Spielformen ihre eigenen Mannschaftssportarten wie Fußball, Hockey, Leichtathletik, Rückschlagspiele, Schwimmwettbewerbe etc. So entstand ein Konkurrenzkampf zwischen der deutschen Turnbewegung und der englischen Sportbewegung. Das Prinzip des Sports war die persönliche Höchstleistung, das Prinzip des Turnens die hygienische, ästhetische und kräftestärkende Körperbildung. Das Ziel der Leistungssteigerung des Einzelnen wurde gefördert, da es Hand in Hand mit den Expansionsbestrebungen des Staates ging, sodass enorme finanzielle Zuschüsse für den Aufbau von Sportstätten, die Einführung von Spielnachmittagen an Schulen und die Organisation von Spielfesten und Wettkämpfen flossen. Auch dem Studentensport kam diese Starthilfe zugute. Um die Jahrhundertwende bildeten sich für die aus England kommenden Sportarten wie Rudern, Segeln, Golf, Rollschuhlauf, Kampf-, Schieß-, Kraft-, Wasser-, Ball-, Pferde-, Ski-, Eis-, Radsport, Leichtathletik etc.132 organisatorische Strukturen in Form von Dachverbänden aus, die sich um Wettkampfbestimmungen und Regelwerk bemühten. Um 1900 nahm das Fahrradfahren einen allgemeinen Aufschwung. Das »Velociped« wurde zum erschwinglichen Sportgerät der oberen Mittelklasse.133 Das Frauenradfahren war umstritten, denn das Fahrrad galt als »Emanzipationsvehikel«. Der Lebensreformer Heinrich Pudor meinte 1903 hierzu: »Möge die so berechtigte Frauenbewegung der Frau Bewegung schaffen lehren und sie nicht nur die geistigen, sondern auch die körperlichen Gebiete erobern lassen.«134 Das Fahrradfahren galt nach der Meinung einiger Ärzte ethisch und hygienisch aber nicht immer als empfehlenswert. Abgeleitet von den Fahrrädern kamen schließlich die ersten »Hometrainer«, wie z. B. das »Velotrab«, zur gezielten ästhetischen Körperschulung auf den Reformwarenmarkt. abb44

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Körperkulturbewegungen und ihre Initiatoren Die Körperkulturbewegungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts fanden wie die lebensreformerischen Bewegungen ihr Vorbild in den Idealen der griechischen Antike. In einem Schönheitsratgeber hieß es deshalb: »Die neue Kultur entsteht aus einer Vermählung des modernen Geistes mit der Antike.«135 So wie die Naturheilkunde- und Ernährungsreformbewegung auf der antiken Diätetik aufbauten, galt das griechische Bildungsideal der »Kalokagathie« bei den Körperkulturbewegungen.136 Der Arzt und Lebensreformer Christoph Heinrich Stratz sprach in seiner »Körperpflege der Frau« von der »Kallobiotik«, die sich aus dem griechischen Begriff für schön »kalós« und »-biotik« aus dem zweiten Teil des Wortes »Makrobiotik« in Anlehnung an Hufelands Buch zusammensetzte. Damit unterstrich Stratz die Funktion seines Werkes als Lehre sowohl der physiologischen als auch der ästhetischen Diätetik. Es stellte eine Anleitung dar, »schön, d. h. gesund zu leben«.137 Der Verfasser des »Lexikons der Schönheitspflege« Kurt Adelfels benutzte die Bezeichnung »Kalogathon«138 in Ableitung vom Griechischen »kalós« und »agathós« für »schön« und »gut«. Philosophisch galt die Kalokagathie als Erziehungsideal einer sowohl die Tugend als auch das Wissen fördernden Bildung. Der über allen deutschen Körperkulturbewegungen schwebende Leitsatz war das Gesundheits- und Bildungsideal »Mens sana in corpore sano«. Das Gymnasium sollte in seinem ursprünglichen Sinn nicht nur eine Lehranstalt des Geistes und der Seele sein, sondern auch der Schulung des Körpers dienen. Erste Forderung in diesem Kontext war »die Zucht der Nacktheit«, denn »wir lösen das Problem eines gesunden Geistes in einem gesunden Körper durch eine vernünftige Nacktgymnastik«.139 Auf der griechischen Harmonielehre der Kalokagathie bauten die gesamten lebensreformerischen Körperkulturbewegungen auf. Aber auch die naturheilkundliche Krankheitslehre (Schlackentheorie) spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Bewegungsdiätetik. Hierzu zählten die Nacktkultur-, Kleiderreform-, Turn- und Gymnastik-, Tanz- und Sport- sowie die Schlankheitsbewegung.

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»Velotrab«, ein erster »Hometrainer« um 1900; Quelle: Wendler/Gerling (o. J. [um 1900])

Das Netz der lebensreformerischen Körperkulturbewegungen war wiederum auf das engste mit der Frauen-, Jugend- und Wandervogelbewegung verwoben und stand unter dem Einfluss neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf den Gebieten der Ernährung, Medizin und Psychoanalyse. In zeitgenössischen Schönheitsratgebern ließen sich erstmals psychologische Begriffe wie jener des eigenen »Ichs« finden, die eine Voraussetzung für die Entwicklung eines bewuss-

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ten Körpererlebens bildeten.140 Ein zeitgenössischer Arzt schrieb in diesem Sinn: »Eine engere Durchdringung von Wissenschaft und Kunst, von Natur und Seele wird uns höhere Lebensformen geben. Schafft erst die Voraussetzung einer edlen, wahrhaft deutschen Kunst: Kultur des Körpers und deren Verseelung!«141 Die Frauen- und Jugendbewegung und die Entstehung der Psychoanalyse sind als historische Zeitcharakteristika des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts frühzeitig erkannt worden, wogegen die epochemachenden Wirkungen der Körperkulturbewegungen bisher als »Motor« eines gewandelten Körperbewusstseins unterschätzt wurden. Sie leiteten die Phase des modernen Fitnesskults ein. Der Körper sollte »vernünftig« ernährt und bewegt werden. Bei Nietzsche hieß es: »Der Körper ist eine große Vernunft.«142 Damit hat die deutsche Sportgeschichte ihre Wurzeln in mehreren alternativen Bewegungskulturen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich etwa zeitgleich formierten. Anfänge und Ausbildung der Heilgymnastik Der naturheilkundliche Gymnastikbegriff war ursprünglich an dem Platons orientiert, wonach die Gymnastik der Reinigung des Körpers (katharmos, katharsis) dienen sollte. Die Schönheit der Seele sollte die Schönheit des Leibes bedingen. Platons Anthropologie wurde in praktischer Hinsicht vollendet durch die »Kunst der Leibesübungen (gymnastike)«, die neben der Heilkunst die wichtigste unter den vielen Arten der Reinigungen des Körpers war. In der Gymnastik wurde der Körper durch die »richtige« Aussonderung gereinigt.143 Entsprechend sollten Leib, Geist und Seele durch gymnastische Übungen gestärkt bzw. geheilt werden. Gymnastik und Massage wurden in diesem Fall aus naturheiltherapeutischen und gesundheitsprophylaktischen Gründen gezielt eingesetzt,144 bis jene Heilmittel einige Jahrzehnte später als »Schlankheitstherapie«, z. B. in Form einer »Bauchmassage« oder als Sonderübungen für Korpulente, entdeckt wurden. Zunächst konzentrierten sich die Bemühungen um Schlankheit bei Frauen vor allem auf die Hüften und bei Männern auf den Bauch. Im Idealfall sollte die Gymnastik nicht in Turnhallen ausgeübt werden, sondern an der frischen

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Luft und möglichst nackt. Dies war der heilgymnastische Grundgedanke. Eine der frühen Schriften zur Heilgymnastik war das Buch »Medicina Gymnastica oder Von der Leibesübung in Ansehung der animalischen Ökonomie« des englischen Arztes Francisco Fuller, das 1750 in deutscher Übersetzung erschien. Fuller kritisierte darin, Ärzte und Patienten nähmen alle Methoden der Selbstheilung in Anspruch, nur die der ausreichenden Bewegung nicht: »Wenn einige aus der Leibesübung entstehende Vorteile durch irgendein Arzneimittel verschafft werden könnten, so würde nichts in der Welt in größerer Achtung sein als solches Arzneimittel.«145 Allerdings war die Schrift nur für eine wohlhabende Klientel verfasst worden, da Fuller den Reitsport als Universalheilmittel empfahl – eine Sportart, die nur von Mitgliedern der gehobenen Gesellschaftsschichten ausgeübt werden konnte. Zudem konnte sich zu jener Zeit nicht jeder einen Arzt leisten. Nach Fuller gab der französische Arzt Joseph-Clément Tissot (1747–1826) die Schrift »Medizinische und chirurgische Gymnastik, oder Versuch über den Nutzen der Bewegung oder der verschiedenen Leibesübungen, und der Ruhe bey Heilung der Krankheiten« heraus und fasste darin zusammen, was bis dahin von der griechischen Heilgymnastik tradiert worden war. Tissots Heilsystem basierte auf dem geschickten und ausschließlichen Wechsel von Bewegung und Ruhe. Er argumentierte, dieser Wechsel sei seit Urbeginn der medizinischen Gymnastik als Therapeutikum eingesetzt worden und habe sich auf diese Weise bewährt. Die Unmäßigkeit und den Müßiggang in der Lebensweise sah er als Ursache vieler Krankheiten und verordnete je nach Krankheitsbild, Leibesbeschaffenheit, Konstitution, Alter und Geschlecht entsprechende Bewegung zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit. Tissot definierte den Begriff »Bewegung« naturphilosophisch. Bewegung sei die Seele der ganzen Natur. Mit ihr fange man das Dasein an und beschließe es mit ihrem Verlust; sie bilde die Säfte und zerstöre sie wieder; sie feuchte die Fasern an und trockne sie wieder aus; sie ernähre, und man verzehre sie. Mit einem Wort, alles bestehe durch Bewegung, alles werde durch sie erhalten und zerstört. Hieraus ergebe sich das Prinzip der Bewegung und das ihm

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entgegengesetzte Prinzip der Ruhe.146 Die Bewegungstherapie war seiner Meinung nach das beste Heilmittel der Natur und stand im Zentrum seines Heilens. Die Bewegung könne oft an die Stelle der Arzneien gesetzt werden, aber nie könnten die Arzneien an die Stelle der Bewegung treten. Seiner Ansicht nach trug die Körperertüchtigung zur Erhaltung der Gesundheit bei, indem sie die Verdauung fördere, die Lebensgeister belebe, der Seele neue Kräfte verleihe, den ganzen Körper stärke und der Natur die Mittel zur Verfügung stelle, die zur Überwindung einer stockenden Bewegung der Säfte und einer unvollkommenen Ernährung notwendig seien. Tissot unterteilte seine Übungen nach Stufen, die dem jeweiligen Gesundheits- bzw. Krankheitszustand des Patienten entsprachen, und beschrieb diese in insgesamt drei Paragraphen. § 1 fasste Übungen der ersten Klasse zusammen, worunter er Billard, »boule«, Kegeln, »palet«, Federball, Ballspiele, Jagd, Schwimmen, Fechten, Tanzen, Springen, Spazierengehen, Laufen und »frotage« verstand, die den gesamten Körper in Bewegung setzten.147 Für alle möglichen Schwächen und Schäden des Körpers führte Tissot in seinem Gesundheitsratgeber Übungen auf, die aus dem Bewegungsrepertoire des täglichen Lebens entnommen waren. Dazu gehörten auch die unter § 2 aufgeführten Übungen der zweiten Klasse, die eine gemäßigte, passive Bewegung wie das Hin- und Herwanken in einer Kutsche oder Körperreibungen vorsahen. Durch Reiben und leichte Erschütterungen werde Wärme erzeugt, die sich auf die Eingeweide auswirke und auf diese Weise die Beförderung der Ab- und Aussonderungen und die Stärkung der Verdauungsorgane bewirke. Zu den Übungen der dritten Klasse unter § 3 zählte er alle sportlichen Aktivitäten, die man sitzend ausüben konnte, wie z. B. Schaukeln oder Reiten. Besonders interessant waren seine »gymnastischen Regeln«, die an die allgemeinen diätetischen Maßregeln erinnerten. Die erste Regel bestimmte das »richtige Maß der Übung«, die zweite »die schicklichste Zeit«, die dritte »die Stärke und Dauer der Bewegungsübung je der Jahreszeit, dem Alter, Geschlechte und Temperamente entsprechend«, die vierte umfasste das »Ende der Uebung«, das einen langsamen, harmonischen Übergang von der Bewegung zur Ruhe vorschrieb.148 Einen umfangreichen Anhang widmete Tissot dem sogenannten »Reiben«, d. h. einer frühen Form der Massage,

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die zur stärkeren Durchblutung und Beförderung der Säfte nützlich sein sollte. Eine allgemeine Entwicklungstendenz der Gymnastik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts war, dass die bis dahin relativ »freien«, d. h. den natürlichen Bewegungsabläufen des täglichen Lebens entnommenen Bewegungen von »künstlichen«, mithilfe spezieller Heilturngeräte vorzunehmenden Bewegungsabläufen abgelöst wurden. Entsprechend dem Grad der Schwächlichkeit wurden statt aktiver Muskelbewegungen passive erdacht, bei denen Helfer einen Körperteil bewegten und den Kranken gegebenenfalls Widerstand gegen die Gliederführung leisten ließen (Widerstandsübungen). Das »orthopädische Turnen« mit »künstlichem Turngerät« war besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet und wurde schließlich zugunsten der freieren Bewegung an der frischen Luft um die Jahrhundertwende wieder aufgegeben. Diese deshalb auch so genannten »Freiübungen« sollten rein der Gesundheit dienen und standen unter dem Einfluss der »Schwedischen Heilgymnastik«.149 Diese lässt sich in zahlreichen naturheilkundlichen Gesundheitsratgebern und Hygienehandbüchern der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden und geht auf Pehr Henrik Ling (1776–1839) zurück. Er praktizierte sein Gymnastiksystem ursprünglich an Schulen sowie Militäranstalten und unterteilte es in hygienische, pädagogische, militärische und ästhetische Bereiche. Dabei legte er vor allem Wert auf Freiübungen ohne Gerät und entwickelte neue Übungen, die schwerpunktmäßig auf die Verbesserung der Gesundheit abzielten, aber weder von den griechischen Übungen noch von alltäglichen Bewegungen abgeleitet waren und somit ein eigenes System darstellten. Die schwedische Gymnastik war durchdacht und wirksam, jedoch noch statisch, da sie jeglichen Schwungs und Elans entbehrte. Ling verband seine Gymnastik aber bereits mit einer Natur- und Lebensphilosophie und wollte durch die einfache rhythmische Strukturierung der Gymnastik »zurück zur Urbewegung«.150 Mit zunehmender Industrialisierung gewann seine »Ausgleichsgymnastik« im Zuge der Naturheilbewegung an Bedeutung und wurde ein fester Bestandteil von Bewegungstherapien in Sanatorien. Zur Steigerung der Bewegungsmöglichkeiten in der Gymnas-

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tik verwendete Ling später technische Hilfsmittel wie Bälle, Keulen, Fahnen, Seile, Hanteln und Eisenstangen, die sich schließlich zur Kategorie der »Gerätegymnastik«151 verselbstständigten und in zahlreichen Übungen ihren Niederschlag fanden. Der »Wettkampfgedanke« spielte dabei noch keine Rolle.152 Die Naturheilbewegung berief sich später in ihren Festschriften auf die Hydrotherapie und ausdrücklich auf den »Turnvater Jahn« als Urvater für ihre Entstehung, da Jahns Übungen weniger strikt militant und festgefahren waren, an frischer Luft, standesgleichberechtigt und unter den Augen der Öffentlichkeit stattfanden. Sie entsprachen damit eher dem naturistischen Konzept. Die heilgymnastische Tradition fand ihre Fortsetzung in der Nacktkulturbewegung, in der es nicht mehr nur um den gesundheitlichen Wert der körperlichen Bewegung an der frischen Luft ging, sondern um eine neue Lebensphilosophie, um das Ganzheitserleben des menschlichen Körpers als Bestandteil der Natur. Orthopädisches Turnen für Mädchen und Hausfrauen daheim lässt sich in dieser Periode hygienischen Denkens nicht nur in Gesundheitslehren, sondern auch in Spezialmonographien finden.153 Nachdem die Übungen bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Stellungen, Reigen und Formationen ohne Bewegungsfluss erstarrten, begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Phase, in der man den eigentlichen Bewegungsablauf hinterfragte, analysierte und systematisierte. Das Prinzip der Statik wurde vom Prinzip der Dynamik und der rhythmischen Bewegung abgelöst. Die Neuerungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren Beweglichkeit und Ausdruck, zu denen eigene Körpertheorien entwickelt wurden. Das orthopädische Turnen mittels Keulen, Stäben oder Bällen und die Massage werden heute noch zur Rekreationstherapie nach Unfällen angewandt. Gymnastik als neuer ästhetischer Lebensstil Die Zeit zwischen 1890 und 1914 war eine Periode des Umbruchs. Ein völlig neues hinzutretendes Kennzeichen der Epoche war motorischer Art: Tempo, Körper, Rhythmus, Bewegung, Tanz und Gymnastik wurden als Alternative zu der Bewegungseinschränkung

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beim Arbeitsprozess entdeckt, bei dem die Handarbeit zurückging. Der Prozess der Technisierung und Funktionalisierung wurde von vielen Menschen als existentiell bedrohlich empfunden, da der menschliche Körper zum Instrument der modernen Industrie- und Leistungsgesellschaft degradiert wurde (»Taylorisierung« des Körpers). Aus dieser zivilisationskritischen Haltung heraus entstanden Körperkulturbewegungen. Ein neues freies Körpergefühl sollte ein Lebensgefühl erzeugen, das wie im vorindustriellen Zeitalter nicht von mechanischen Zwängen geprägt war. Die Vertreter des Jugendstils wollten eine Verschmelzung von Natur und Technik, von Seele und Zivilisation, von organischer und konstruierter Welt und fühlten sich damit keineswegs rückwärtsgewandt, sondern zukunftsweisend. Der Jugendstil war eine Art neue Romantik und im Grunde mehr als eine Kunstrichtung, denn er umfasste auch eine neue, freie Kultur des Körpers. Immer wiederkehrende Begriffe in der Lebensreform waren Worte, die Bewegung ausdrückten: Rhythmus und Raum, bewegte Linien und Motive aus der Natur, Wandern und in die Ferne schweifen, körperliche Arbeit in freier Natur, Tanz und Gymnastik einschließlich Freiluft- und Nacktübungen. Der menschliche Körper war das unmittelbarste Medium, um eine organische Einheit mit der natürlichen Umwelt einzugehen. So entdeckte die deutsche Wandervogel- und Jugendbewegung seit Mitte der 1890er Jahre »das Wandern als Urform wirklichen Lebens«154, da auch die Natur in ständiger Bewegung sei: Wasser fließe, der Wind bewege Wolken und Blätter, Tiere, Menschen, Pflanzen, biologische Prozesse und Zyklen seien in ständiger Bewegung. Körperliche Trägheit sollte ebenso wie die »Fettpölsterchen« infolge von Überernährung bekämpft werden. Die Zweidimensionalität wurde gegen die Dreidimensionalität aufgehoben, der rhythmische Raum entwickelte sich zum wichtigen Gestaltungsmoment des Jugendstils. Der kosmische Rhythmus wurde in rhythmische Ganzkörperbewegung umgesetzt. Die Tänzer, Gymnastiker und Wandervögel demonstrierten die rhythmischen Linien des Jugendstils in ihrem Bewegungsverhalten, das ein Protest gegen die Zunahme sitzender Tätigkeiten und einseitiger Bewegungen im modernen Arbeitsprozess war. Deshalb gehen z. B. alle modernen

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Tanzarten auf die Epoche des Jugendstils und des frühen Expressionismus zurück. Während in der Körperbewegungstradition bis ins ausgehende 18. Jahrhundert noch die »Viersäftelehre« mit ihren klassischen Temperamenten in Beziehung zu entsprechenden Bewegungen gesetzt worden war, führte der Tanztheoretiker Carlo Blasis im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine völlig neue Betrachtungsweise des bewegten Menschenkörpers ein.155 Er ging beim Entwurf seiner Bewegungskonzepte von der Physis, Anatomie und Muskelbeschaffenheit und damit von einem bestimmten Bewegungspotenzial des Körpers aus. Auch hier bildete die romantische Interpretation von der Natur Rousseauscher Prägung die historische Vorbedingung. Die romantische Vorstellungswelt von Natur war geprägt von fundamentalen Widersprüchen in den Lebensbedingungen der Menschen, der Spannung zwischen Natur und Zivilisation, Gefühl und Vernunft, Individuum und Gesellschaft. Die Bewegungskunst nahm die Aufgabe wahr, zwischen diesen Polen zu vermitteln. Als adäquate Form der Vermittlung zwischen beiden Welten etablierte die Romantik die metaphysische Sphäre. Nicht mehr die normierten darstellerischen Bewegungen waren nunmehr von Interesse, sondern die individuellen, ja intuitiven Bewegungen von spezifisch dynamischer Qualität. Dieser Wandel im Bewegungskodex äußerte sich in fließenden Bewegungen, die insbesondere auf den Oberkörper konzentriert blieben, ganz im Gegensatz zum klassischen Bewegungsprinzip, bei dem das Rückgrat das Zentrum aller Körperbewegungen bildete. Der Tanz wurde zum Äquivalent innerer Vorgänge, als Medium des persönlichen Ausdrucks erkannt. Die Veränderungen waren subtil, sie verlagerten den ideellen Schwerpunkt des Tanzes von der Ausdrucksfähigkeit des klassischen Tanzsystems auf jene der Bewegung. Dieser Prozess fand einen ersten Höhepunkt in der »Schleierund Nackttänzerin« Isadora Duncan. Duncan entdeckte den »Solarplexus« als Ursprung ihrer Bewegungen und wurde sich damit dem »dritten Chakras« (Manipura) bewusst, in dessen Herrschaftsbereich ihrer Ansicht nach der Wille zur Macht, die Emotionen und die Träume fallen. Durch die Konzentration auf das dritte, das persönliche der sieben Chakras der Wirbelsäule entstand ihrer Ansicht

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nach eine freiere Beweglichkeit des Oberkörpers und vor allem eine Erweiterung des Bewegungsrepertoires der Arme, des Kopfes, der Mimik und der Gestik. Die komplette Wahrnehmung war auf das Innere der eigenen Person gerichtet; der Tanz oder generell die Körperbewegung wurde zum Akt der Selbstfindung und Körperästhetik im lebensreformerischen Sinne. Die Natur und der gesamte Kosmos, bisher nur bildhafte Objekte einer Kunstsparte, sollten in die eigene Person projiziert werden. Subjekt und Objekt, Mensch und Welt sollten durch die Körperbewegung in Einklang miteinander gebracht werden. Die bewusst vollzogene Entdeckung der »Chakras« im Tanz der Duncan wies Ähnlichkeiten mit fernöstlichen Praktiken der Bewusstseinserweiterung beim Tanz auf, die durch das meditative und ekstatische Element der Bewegung charakterisiert waren und ein ganzheitliches Körper-Welt-Empfinden vermittelten. Die Bewegung war Ausdruck der Persönlichkeit und gleichzeitig kosmischer Kräfte; mit dieser Vision folgte Duncan einer eigenschöpferischen Form der »Mimesis«, die an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »mimesthai« (Darstellung oder Ausdrucksform) anknüpfte. Die originale Bedeutung von Mimesis dürfte nahe an Friedrich Nietzsches Begriff des »Dionysischen« oder Martin Heideggers ekstatischem »Spiel der Welt« liegen; gemeint war das kosmische Spiel vom Werden und Vergehen, das sich im Individuum manifestiere. Letztendlich bildeten exotische Vorbilder und religiös-rituale Tänze, aber auch das griechische Ideal paradigmatisch das neuartige körperbewusste Bewegungskonzept der Jahrhundertwende. abb47 Die Delsartik oder das neue dynamische Element in der Gymnastik Die deutsche Gymnastikbewegung wurde nachhaltig von der amerikanischen Gymnastik beeinflusst, die auf der Trinitätstheorie der Entsprechung von Geist, Seele und Körper des französischen Pädagogen und Philosophen François Delsarte (1811–1871) aufbaute.156 Er führte das dynamische Element in die Gymnastik ein, indem er natürliche und künstlerische Bewegungsformen kombinierte. In seiner Funktion als Schauspiellehrer legte er besonderen Wert auf Gestik und Mimik in der Gymnastik, da er ähnlich wie Kant und

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Schleiertänzerin in einer Werbeanzeige für ein Schlankheitsbad der 1920er Jahre Quelle: Berliner illustrirte Zeitung, 38 (1929)

Lessing glaubte, dass die Körperhaltung den Geist beeinflusse und dass umgekehrt geistiges Geschehen auf den Körper wirke. Erst Delsartes Schüler Steele MacKaye und Genevieve Stebbins setzten seine Gymnastiktheorie in die Praxis um und machten sie berühmt. In der »Delsartik« diente der Körper prinzipiell dem Geist. Jeder Körperteil sollte selbstständig und langsam bewegt werden, um so zu »Anmut und Schönheit des edlen Menschen«157 zu gelangen. In Anlehnung an die griechische Gymnastik mit ihrem Ideal der ebenmäßigen und gleichzeitigen Entwicklung von Körper, Geist und Seele forderte Delsarte die Natürlichkeit der Bewegung und lehnte alles Schablonenhafte ab. Dieses Ganzheitskonzept seiner Gymnastiktheorie legte den Grundstein für die »Ausdrucksgymnastik«. In der Delsartik ließen sich die folgenden Charakteristika der Lebensreform wiederentdecken: Das Leben sei die Aktion

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der sensuellen, vitalen und physischen Kräfte des Seins, die durch die Expansion der Körperteile nach dem Kontakt mit dem Außen, mit der Natur suchten; die beweglichen Körperteile seien dabei das physische Mittel der Manifestation. Delsarte nannte sie deshalb exzentrisch (Mensch und Natur als Einheitserlebnis). Im Mittelpunkt von Delsartes Theorie stand der ganze Mensch, der im Sinne seiner romantischen Konzeption Mittler zwischen Realität und Utopie als Künstler und Objekt der Kunst sein sollte. Der Mensch sei eins, dreifältig in seiner Natur. Da Gott ebenso eins und dreifältig sei und seine Eigenschaften unendlich seien, manifestiere auch der Mensch dessen unendliche Merkmale. Der Körper wurde so in der Lehre Delsartes zum Medium der Selbstdarstellung und zu einem neuen Lebensstil, wie auch die Ernährung diese ideelle Funktion bei anderen Lebensreformern übernehmen konnte. An dieser Stelle wird der Parallelismus zwischen dem alternativen Gesundheits- und Ernährungsideal und der alternativen Körperauffassung deutlich. Das übergeordnete Ziel Delsartes war dabei ebenfalls eine Gesellschaftsreform. Delsartes Verdienst war es, auf die verloren gegangene Ganzheit des Menschen verwiesen zu haben. Er ordnete Bewegungsabläufe und -sequenzen nach den Prinzipien »excentrique«, »concentrique« und »normal« und entwickelte darauf aufbauend die »neun Gesetze der Bewegung«158, die sich wie folgt ergaben: Die Delsartik teilte den menschlichen Körper in drei Hauptzonen ein. Der Kopf als erste Zone drückte alles Geistige aus, der Rumpf als zweite Zone repräsentierte Empfindung und Willen, die Gliedmaßen als dritte Zone symbolisierten Tätigkeit. Diese grobe Einteilung wurde weiter präzisiert, indem jeder Zone wieder drei Unterabteilungen zugeordnet wurden: Stirn und Augen drückten am stärksten das Geistige aus, Wange und Nase den seelischen und willensmäßigen Teil, Mund und Kinn spiegelten das Körperlich-Sinnliche wider. Die Brustzone sei der geistige Teil des Rumpfes, der Rücken der Sitz der Kraft, Herz, Zwerchfell, Magen und Leber seien seelischer und die Beckenzone körperlich-sinnlicher Natur. Die Oberschenkel und Oberarme seien Träger der Kraft, der Unterschenkel unterstütze die seelischen Regungen. Zum Beispiel drücke das »Knien« Ehrfurcht, Liebe oder Gehorsam aus. Delsartes Lebensphilosophie der Bewegung lautete,

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dass jede Bewegung dem Ausdrucksgesetz unterliege und dass man durch edle Bewegung den Menschen veredeln könne. Die »neun Gesetze der Bewegung« erinnerten an Bircher-Benners »neun Gesetze der Ernährung« und belegten damit den Parallelismus zwischen Diätreform und Körperreform. Lebensreformer machten sich damit nicht nur Gedanken über eine Ordnung der Nahrung, sondern auch über eine Ordnung der Körperbewegung.159 Auf der Delsartik bauten die 1871 geschaffene »ästhetische Gymnastik« seines amerikanischen Nachfolgers James Steele MacKaye und die »harmonische Gymnastik« von Geneviève Stebbins auf.160 MacKaye setzte Delsartes Gedanken als Lehrer an der »Bostoner University School of Oratory« in die Praxis um und gründete 1873 die »School of Expression«. Er glaubte, wenn die Seele sich körperlich ausdrücken wolle, müsse der Körper in all seinen Gliedern und Funktionen so gebildet und trainiert werden, dass er imstande sei, seelische Erlebnisse sofort in Körperbewegungen umzusetzen. Auf dieser Grundlage entwickelte er spezielle kräftigende »Spannungsübungen« und geschmeidig machende »Lockerungsübungen«. MacKayes berühmteste Schülerin war Geneviève Stebbins. Sie nannte ihre von Musik begleiteten Übungen »harmonische Gymnastik«. Dabei handelte es sich um ein exaktes, typisch amerikanisches Trainingsprogramm, das sowohl künstlerisches Medium als auch Übung zur Schönheitsentwicklung des Körpers war. Ihr erstes Buch erschien 1885 unter dem Titel »The Delsarte System of Expression« und erlebte bis 1902 sechs Auflagen. Auf Stebbins geht auch eine spezielle »Atemgymnastik« zurück, die noch heute in der Schwangerschaftsgymnastik Anwendung findet. Stebbins war überzeugt, mithilfe ihrer Atemlehre »Dynamic Breathing« im Menschen die Fähigkeit zu entwickeln, sich in der rechten Weise anspannen und entspannen zu können. Ihre Übungen stellte sie 1898 zu einem »Genevieve Stebbins System of Physical Training« zusammen. Dieses enthielt Übungen des Kopfes, des Kinns, des Gesichts, der Brust, des Unterleibs, der Waden, der Oberschenkel, Atem-, Entspannungsund Spannungsübungen, Heimgymnastik, Schulgymnastik, ästhetische und dramatische Gymnastik. Diese Übungen sollten Frauen dazu befähigen, sich mit graziöser Haltung und beseelter Anmut bewegen zu können, dienten aber auch dazu, eine wohlgeformte,

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schlanke Statur zu bewahren. Sie wurden ein Dezennium später zur reinen Schlankheitsgymnastik umfunktioniert. Die eigentliche Entdeckung und wichtigste Leistung für die Gymnastik war die Forderung der Delsartik nach einer Einheit von Körper und Geist. Der Geist sollte sich in der Einheit mit dem Körper voll entfalten können. In der Delsartik blieb der Körper jedoch Diener des Geistes, obwohl ihre Anhänger auch die Meinung vertraten, dass eine bestimmte Haltung oder Bewegung des Körpers auf die Seele zurückwirken könne; so bewirke z. B. häufiges Lächeln, dass ein Mensch glücklicher werde. Zwischen 1885 und 1910 konnte man in Amerika von einem Delsarte-Rausch sprechen, der kurz darauf auf Europa übergriff.161 Die Delsartik bewirkte eine Art von »moralischer Revolution« des Körpers. Sie habe, so hieß es lobend, zum mindesten die wohlhabende amerikanische Frau im Namen des beseelten Körpers von Korsett und verlogener Scham befreit und die körperfeindliche Moral des amerikanischen Puritanismus abgebaut.162 Andere Forscher sahen Delsarte sogar »als Wiederentdecker des menschlichen Körpers in seiner Trinität von Kopf, Torso und Gliedern«.163 In den USA wurden Delsartes’ Gymnastikarten unter Ruth St. Denis, Sent M’ahesa und Martha Graham in den 1920er Jahren als »Modern Dance« weiterentwickelt.164 In Deutschland entwickelte sich daraus eine eigene Form der »ästhetischen Gymnastik«. Herausragende Persönlichkeiten dieser Bewegung waren Bess Marguerite Mensendieck und Hedwig Kallmeyer. Beide wandten sich der »Wirkungs- bzw. Zweckgymnastik« der hygienisch-ästhetischen Richtung zu und entwickelten Gymnastiksysteme, die für den modernen Schlankheitskult im frühen 20. Jahrhundert entdeckt wurden. abb48 Bess Mensendieck studierte Gesang und Anatomie in Paris und Gymnastik bei Geneviève Stebbins in New York. Aufbauend auf der Delsartik entwickelte sie ihre »Funktionelle Frauengymnastik«, die Spezialübungen zum Erhalt einer schlanken Figur enthielt und bei »Bewegungsproblemen« in das Geheimnis der Gestaltung schlanker Arme durch Gymnastik einwies.165 1910 eröffnete sie ihr erstes »Zentralinstitut für Mensendieck-Gymnastik« in Berlin. Fortschrittliche bürgerliche Frauen »mensendieckten« von da an, wie hohe Aufla-

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Mensendieck-Übungen um 1900 zum Erhalt einer schlanken Figur Quelle: Mensendieck (1906)

genzahlen ihres Buches belegen. Ihre Bücher gehörten fortan obligatorisch zum Bestand vieler Sportbibliotheken. Auch Mensendiecks 1906 erstmals erschienenes Werk »Körperkultur des Weibes« erlebte zahlreiche Auflagen; 1912 wurde das Buch in fünfter Auflage im Zuge von Emanzipationsbestrebungen in »Körperkultur der Frau« umbenannt. Im Gegensatz zur Delsartik ging es im MensendieckGymnastiksystem nicht um Ausdruck, Seele und Anmut, sondern mehr um Kraft, Schönheit, Gesundheit und Funktionsfähigkeit des durch Zivilisation und Industrialisierung geschwächten und durch die Mode der damaligen Zeit verkrüppelten Frauenkörpers. Ausgangspunkt der Mensendieck-Gymnastiklehre bildete das Becken, das zum Zentrum des Körpers erklärt wurde. Der Einfluss der Nacktkulturbewegung machte sich in der Tatsache bemerkbar, dass Mensendieck ihre Schülerinnen unbekleidet üben ließ, da jede Kleidung die freie Bewegung störe und sie auf diese Weise auch

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eine bessere Kontrolle über die Bewegungen erreichen könnten. Ihr Gymnastiksystem galt primär der Schönheitspflege des weiblichen Körpers und sekundär der Förderung der Gesundheit. Das Thema »Schlankheit« spielte in ihrer Literatur bereits eine bedeutende Rolle. Viele Bücher richteten sich deshalb an Hausfrauen, junge, unverheiratete Frauen und Mädchen. Gegenüber der künstlerisch ausgeprägten amerikanischen Delsartik, die im Körper nur ein Ausdrucksinstrument des Geistes sah, war gerade die Betonung des Gesundheitswertes der Gymnastik für den weiblichen Körper ein Fortschritt. Die Gymnastiklehrerin Margarete N. Zepler vermengte dann die amerikanische Delsartik mit den englischen »Calisthenics« und der schwedischen »Ling-Gymnastik« zu einem auf Erwerb und Erhalt der schönen, natürlich-schlanken Frauengestalt ausgerichteten System. Zepler betonte die Notwendigkeit einer zugleich gymnastischsportlichen als auch tänzerisch-künstlerischen Körpererziehung. Hierzu schrieb sie 1906 das Buch »Erziehung zur Körperschönheit«. Ihre Vorliebe galt der englischen Calisthenics, da sie davon ausging, dass diese eine Synthese der in England weit verbreiteten LingGymnastik mit antiker Gymnastik sei. Sie definierte die »Calisthenics« als Übungen, die dem oberflächlichen Beobachter einfach als »Turnfreiübungen« erscheinen mögen, aber in Wirklichkeit verstehe man darunter die edelste Form der Gymnastik, die eine völlige Beherrschung des Körpers, vollendete Harmonie, Anmut, Grazie, Beweglichkeit, Heiterkeit und Geschmeidigkeit erstrebe. Sie verschaffe der Seele eine starke und zugleich edelschlanke Hülle. »Calisthenics« seien die ganz allmähliche Entwicklung der Kräfte vom Gesichtspunkt der Schönheit und Anmut aus, wobei ein wesentliches Moment sei, dass jede Gezwungenheit oder Geziertheit von selbst verschwinde und die Übungen den Eindruck gesunder, unbefangener Natürlichkeit machen würden.166 Ursprünglich dienten die Calisthenics offenbar den jungen »Damen des gehobenen Standes« dazu, ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt durch gezielte Schulung der Anmut und edlen Schlankheit der Körperformen zu verbessern. Später übernahmen aber auch viele bürgerliche Frauen solche Übungen. Zeplers Schülerin Hedwig Kallmeyer erweiterte das System zur

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»Künstlerischen Gymnastik«. Sie bevorzugte die anmutige Bewegung durch Nachahmung klassischer antiker Stellungen und richtete 1908 in Berlin-Schlachtensee ihr »Institut für harmonische Körperkultur« ein, an dem Formalismus, Positionalität und Langsamkeit neben Natürlichkeit, Beweglichkeit und Lebendigkeit gelehrt wurde.167 Da sie bereits von Jaques-Dalcrozes Rhythmustheorie beeinflusst war, lehnte sie sowohl die relativ »künstlich« wirkenden kalisthenischen Übungen als auch die schwedische Ling-Gymnastik ab, die ihrer Meinung nach lediglich eine »gradlinige Kraftausbildung ohne Geist und Ausdruck« waren.168 Sie unterrichtete ästhetisch-hygienische Gymnastik nach dem System Stebbins-Kallmeyer und Ausdrucksbewegung für die Bühne aufgrund des Delsarte-Systems und bildete in plastischer Darstellung der Musik nach dem System von Jaques-Dalcroze aus.169 Damit vereinte sie die modernsten Gymnastiktheorien jener Zeit zu einem selbstständigen, umfassenden System, das ebenfalls ab 1910 für die Schlankheitsgymnastik entdeckt und darin aufgenommen wurde. Mit ihren Gesetzen und Übungen schuf Kallmeyer sowohl eine hygienisch-körperbildende als auch eine künstlerisch-tänzerische Gymnastik. Zu ihren Schülerinnen gehörten Hedwig von Rohden, Elsa Gindler und Dora Menzler, aber auch die erste Vertreterin des deutschen Ausdruckstanzes Gertrud Leistikow (1885–1948). Hedwig von Rohden gründete zusammen mit der Mensendieck-Schülerin und Anthroposophin Louise Langgaard in Kassel später ein »Seminar für klassische Gymnastik«, aus dem sich nach dem Ersten Weltkrieg die »Lohland-Gymnastik« entwickelte. Auch Dora Menzler befasste sich intensiv mit der »Körperschulung der Frau«. Um die Jahrhundertwende waren es folglich hauptsächlich Frauen, die sich mit der Weiterentwicklung der Gymnastik beschäftigten. Eine Welle von Schulgründungen im Schnittpunkt von Gymnastik, Tanz und Lebensreform war zu beobachten. Außerdem wurde der amerikanische Einfluss in den Ansätzen einer »ästhetischen Gymnastik« erkennbar. Insbesondere die »Girlkultur«170 von Fritz Giese hinterließ in Deutschland deutliche Spuren. Die ästhetische Gymnastik schlug drei völlig unterschiedliche Entwicklungslinien ein: Zunächst entwickelte Émile Jaques-Dalcroze aus der ästhetischen Gymnastik die »rhythmische Gymnastik«, aus

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der schließlich eine eigene, deutsche Rhythmusbewegung und die Ausdrucksgymnastik hervorgingen. Ferner bildeten die Einflüsse der ästhetischen Gymnastik, der rhythmischen Gymnastik und der Nacktkulturbewegung einen fließenden Übergang zur deutschen Tanzbewegung, zum Nackttanz, Modern Dance und Ausdruckstanz.171 Schließlich wurde sie vor allem für Frauen in den 1920er und 1930er Jahren zum Erhalt einer »schlanken Körpergestalt« um entsprechende Übungen erweitert und zur speziellen Schlankheitsgymnastik ausgebaut.172 Die Rhythmusbewegung: Émile Jaques-Dalcrozes Harmonielehre Der Begründer der »Gymnastique Rhythmique« und auch der deutschen Rhythmusbewegung war der Schweizer Musikpädagoge, Komponist und Gymnastiktheoretiker Émile Jaques (1865–1950), der sich später Jaques-Dalcroze zur Erinnerung an seinen Geburtsort nannte.173 Seit 1892 unterrichtete er Gesang und Harmonielehre am Konservatorium in Genf. Dort komponierte er Lieder, die zum Gesang tänzerische oder pantomimische Bewegungen erforderten. Er entdeckte den musikalisch-akustischen Rhythmus, der den Rhythmus im Körper erweckte. So fand er die von der ganzen Epoche ersehnte Einheit von Musik und Bewegung, Seele und Körper, Geist und Natur. Seine Körpertheorie besagte, der Körper nehme Musik in sich auf und mache damit den Rhythmus dieser Musik erfahrbar; dadurch werde der Geist verkörpert und der Körper vergeistigt. Die Hoffnung, seine Rhythmuslehre könne die sozialen Probleme lösen, blieb allerdings ein Trugschluss. Immerhin wurde hier Gesellschaftskritik geübt, indem auf die verklemmte Körperlichkeit aufmerksam gemacht wurde. Eine wieder ganzheitlich denkende Gesellschaft sollte neu geformt werden. Der Körper war für Jaques-Dalcroze ein Instrumentarium der Musik, aber auch ein Medium des Ausdrucks individueller Persönlichkeit (Seele und Körper) und der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen (Geist und Körper). Seine ganzheitliche Denkweise im Geist der Lebensreformbewegung führte ihn zu seiner Harmonielehre. Dieser legte er den Begriff »Arhythmie« zugrunde, der vom medizinischen Arhythmiebegriff abgeleitet war. Jaques-Dalcroze

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übernahm den Begriff zur Bezeichnung gestörter menschlicher Bewegung, die er als widernatürlichen Krankheitszustand interpretierte. Den Gegenbegriff bildete die »Eurhythmie«, ein Zustand von natürlich und harmonisch geordneter Bewegung. Jaques-Dalcroze wandte in der Einleitung seines Buches »Rhythmische Gymnastik« den Arhythmiebegriff nicht nur auf das Musikverhalten, sondern auf das gesamte Körperverhalten an.174 Mangelnde Souveränität bei der Körperbeherrschung und Bewegungshemmungen deutete er lebensreformerisch als Ergebnis falscher Lebensweise und »Überzivilisation«. Damit interpretierte er die Arhythmie sowohl als mangelnde Fähigkeit eines Individuums, musikrhythmische Abläufe in seiner Körpersprache wiederzugeben, wie auch als Krankheitssyndrom einer zivilisationsbedingten »Körperträgheit«, die zu Übergewicht und anderen Zivilisationsseuchen führe. Eine besondere Rolle spielten seine rhythmischen Atemübungen. Der Kampf für das Ablegen des Korsetts und für eine bewegungsfreundliche Gymnastikkleidung hatte auch die Sensibilität für die Atmungsfunktionen gesteigert. Spezifische Übungen zur Stärkung der z. T. durch Schnüren in Mitleidenschaft gezogenen Lungen wurden entwickelt. Jaques-Dalcroze öffnete am Ende des 19. Jahrhunderts dem in Notendrill erstarrten Musikunterricht einen neuen Zugang zum Körperausdruck. Bewusst riskierte er die damit verbundene Konfrontation mit den Normen des bürgerlichen Körperkanons. Wie die anderen Pioniere der Körperbefreiung förderte er die Akzeptanz des fast unbekleideten Körpers und die Beobachtung der muskulären Grundlagen der Bewegungsvorgänge sowie der Atmung. Er fokussierte den Blick direkt auf den Körper und vermittelte seinen Schülern dieses bewusste Hinsehen anstelle des puritanischen Wegschauens als produktive Grundhaltung, schärfte aber gleichzeitig das Bewusstsein für das Körperinnere und wurde so zu einem Pionier der Körpererfahrungen. Jaques-Dalcrozes »Gymnastique Rhythmique« wurde 1905 erstmals auf dem Schweizer Musikfest in Solothurn aufgeführt und mit Begeisterung aufgenommen.175 Sein Buch »Methode JaquesDalcroze zur Entwicklung des Gefühls für Rhythmus und Tonart sowie zur Ausbildung des Gehörs. Erste Abteilung: Rhythmische Gymnastik« erschien 1906 in französischer, englischer und deut-

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scher Sprache. Er richtete in der Künstler- und Gartenstadtkolonie Hellerau bei Dresden ein »Rhythmus-Institut« ein, das von 1905 bis 1914 existierte und dazu diente, einen bewussteren Umgang mit dem Körper zu vermitteln.176 Von den Jugendstilkünstlern Henry van de Velde und Fidus wurde er als »Erlöser der Zeit« bzw. »Befreier von Körperfeindlichkeit« und als »Erzieher von Zukunftsmenschen« gefeiert.177 Ganz im Sinne des damaligen lebensreformerischen Weltbildes erklärte er den Rhythmus zum Allheilmittel gegen die Übel der Zivilisation. Sein Erfolg war nicht nur ein neuer Weg der musikalischen und körperlichen Erziehung, sondern führte zur Heilpädagogik, Musiktherapie und Reform der Bühnenkunst. Ein weiterer herausragender Repräsentant der deutschen Rhythmusbewegung war Rudolf Bode (1881–1970). Er kritisierte alle bisherigen Gymnastiksysteme, da sie nicht die dem Körper innewohnende Seelenkraft ins Zentrum stellten, sondern nur den von der Musik geleiteten oder vom Willen eines außenstehenden Gymnastiklehrers dressierten Körper. Diese Art der Körperbewegung dränge die »innere« Kraft zurück, die Bode »die leibliche Formkraft des Körpers« nannte und deren »Wirkung die Gestalt des menschlichen Körpers« bestimme. Bode ging im Gegensatz dazu vom Rhythmus als einem dem Körper selber innewohnenden Bewegungsphänomen aus, das beim Kind in seiner ursprünglichen Form noch vorhanden sei, aber leicht durch falsch verstandenen Turn- und Tanzunterricht gestört werde. In dem Maß, wie das Kind sich seines Willens bewusster werde, wachse die Gefahr, dass die Willkür eingreife in das geheime Walten der formgestaltenden Kräfte des Menschenleibes, dass eine Störung eintrete, die sich in einer Entstellung der ursprünglich von der Natur gewollten Körperform und in dem Zurücktreten der seelischen Betonung in der Bewegung zeige. Die eigentliche Gefahr, so Bode, sei »eine hundertjährige Überlieferung aus dem Gesetz der Trägheit«178, die sich als stärker erweise als die Bestrebungen, die die rhythmische Gymnastik fördern wolle. Damit erklärte er dem traditionellen Turnen und den drillhaften Gymnastik- und Tanzvorschriften den Krieg. Die wahren Aufgaben der Gymnastik definierte er so:

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Die Aufgabe der Gymnastik sei es, hier eine höhere Einheit zu schaffen, diese beiden das menschliche Leben beherrschenden Grundtatsachen, das bewußte und seelische Leben zusammenzuschmelzen, den Körper unter den Bedingungen zu stellen, welche eine Steigerung der Willenskraft ohne Verdrängung der seelischen Kräfte ermögliche, welche eine Entfaltung der seelischen Kräfte ermögliche, ohne Schwächung der Willenskraft. Dies sei die Aufgabe, die den Kern jeglicher Erziehung überhaupt ausmache. Für die Gymnastik sei diese Aufgabe dadurch deutlich bestimmt, als für sie das Seelische sich in der Gestalt und den Bewegungen des Körpers widerspiegele.179

Die große Aufgabe der gymnastischen Kultur sei es, die technische Beherrschung der körperlichen Bewegung und die seelische Lebendigkeit und Ursprünglichkeit der Bewegung zu einer höheren Einheit zusammenzuschließen. Während der vom Körper verbildlichte musikalische Rhythmus eine Sache des menschlichen Willens und Geistes war, bedeutete Rhythmus nach Bode die Hingabe an die den Menschen tragenden Rhythmen der Natur. Ebensowenig wie die Schönheit einer Gestalt könne man den Rhythmus über das von der Natur dem Körper verliehene Maß steigern. Beides sei von der Natur vorgegeben. Nur das in diesem Rahmen Mögliche solle zur »restlosen Entfaltung« dieser »Naturkraft« bzw. »Lebenskraft« oder auch »Formkraft« des Körpers vorangetrieben werden, nur das sei das Ziel der Gymnastik. Bode verwarf übertriebenes Krafttraining und Schönheitskult sowie das Höchstleistungsprinzip des englischen Sports. Er erweiterte damit den Rhythmusbegriff so, wie er heute noch in der modernen Naturwissenschaft zu finden ist. In den 1930er Jahren verband er dann seine Bewegungslehre mit der Blutund Bodenmystik des Nationalsozialismus wie auch einige andere Körperkultur- und Lebensreformanhänger.180 Ausgehend von den erwähnten Aufgaben der Gymnastik formulierte Bode seine vier Gesetze zur Beherrschung des Körpers durch innere Naturnotwendigkeit. Sein erstes Gesetz lautete, jeder Organismus sei an den Wechsel von Ruhe und Bewegung gebunden. Das zweite Gesetz umschloss die im Raum vom Körper »gezeichnete« Bewegung: Jeder Körper ziele dahin, einen bestimmten Rauminhalt lebendig zu erfüllen. In dem Maß, wie dieses Raummaß nicht erfüllt

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werde, habe man sofort den Eindruck erheblich eingeschränkter Lebenskraft. Seine Raumlehre nannte er »metrische Gymnastik«. Diesen Begriff benutzte er synonym für die rhythmische Gymnastik. Das Ziel war die »Beherrschung von Raum und Zeit durch Bewegung.«181 Das dritte Gesetz besagte, dass alles Lebendige eine ganz bestimmte räumliche Form anstrebe und in dem Maß, wie diese angestrebte Form zerstört oder verschoben werde, der einheitliche lebendige Ausdruck herabgesetzt werde. Mit anderen Worten sei eine unabdingbare Voraussetzung für die Anmut der Bewegung die natürliche Entfaltung der Formkraft des Körpers. Das vierte Gesetz brach mit der bisherigen Gymnastiktradition: Bode lehnte für die Zeit der Ausbildung des jugendlichen Körpers alle Übungen ab, die der ethischen Forderung des aufrechten Gangs widersprachen, insbesondere Übungen, die die natürliche statische Aufgabe des Schulter- und Beckengürtels miteinander vertauschten. Die Rhythmusbewegung war das Bindeglied zwischen der Gymnastik- und der Tanzbewegung. Aus diesen Schulen erwuchs der Ausdruckstanz der 1920er Jahre. Das dynamische Bewegungsbedürfnis ging konform mit dem zeitlichen Fortschritt, indem es einer neuen Art und einem neuen Maß der Geschwindigkeit gerecht wurde. Die Gymnastik entwickelte sich in Deutschland vom Statisch-Drillhaften zum Dynamisch-Ästhetischen. Soziale Umschichtungen, industrielle und wissenschaftliche Revolutionen, politische Umwälzungen und ausländische Einflüsse waren dabei wirksam. Gymnastik veränderte nicht nur die Gesellschaft, sondern spiegelte auch den Wandel dieser Umbruchszeit wider. Seit dieser Periode wurden die bisherige Mensendieck-, Kallmeyer-, Stebbins- und Zepler-Gymnastikkonzepte von der Ausdrucksgymnastik und dem Ausdruckstanz in den Körperschönheits- bzw. Schlankheitsratgebern abgelöst.182 Vom Nackttanz zum Ausdruckstanz Während vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die »ratio« den klassischen Tanz bestimmte, trat gegen Ende des 19. Jahrhunderts die naturistisch-emotionale, mythisch-ganzheitliche Sicht hinzu, die den modernen Tanz hervorbrachte und prägte. Ein neues Element

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dieser Bewegungsmode war der »Seelentanz« mit seinen natürlich wogenden Rhythmen und fließenden Bewegungen, die an die Linienführung des Jugendstils erinnerten.183 Der Tanz signalisierte um 1900 einen neuen, »körperbefreiten Lebensstil«. Zu den berühmtesten Vertretern des Nackttanzes, auch »Licht- oder Schleiertanz« genannt, gehörten Isadora Duncan (1877–1927), die die »Rückkehr des Tanzes zur Natur« versprach und den Tanz als Befreiungsakt von der Körperfeindlichkeit feierte, sowie Olga Desmond, Loie Fuller, Grete Wiesenthal und Adolf Salge.184 Bereits Jaques-Dalcroze strebte die »Wiedergeburt des Tanzes« an, die er aber nicht umsetzen konnte, da ihm die tänzerischen Voraussetzungen fehlten. Dennoch beeinflusste er den deutschen Reformtanz nachhaltig, indem er zwei Entdeckungen machte, die zu einer völlig neuen Grundlage des Tanzes wurden: die »Dreidimensionalität der Bewegung« und das neue Verhältnis von Musik und Bewegung. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch diente die Musik dem Tanz, insbesondere im Ballett. Jaques-Dalcroze kehrte die Beziehung von Musik und Bewegung um; bei ihm bestimmte nun die Musik die Bewegung. Schülerinnen Jaques-Dalcrozes waren die in den 1920er Jahren bekannt gewordenen Ausdruckstänzerinnen Hannelore Ziegler, Hedwig Nottebohm und Edith von Schrenck.185 So entstand als Folge des Einflusses moderner rhythmischer Gymnastik in den USA sowie in Deutschland der moderne Tanz. In Deutschland ging die »Tanzrevolution« von der Amerikanerin Isadora Duncan aus. Sie war in ihrer Anfangszeit von der Delsartik geprägt, entwickelte später aber einen eigenen Tanzstil. In Paris lernte sie die zu dieser Zeit bereits berühmte »Licht- und Schleiertänzerin« Loie Fuller kennen, mit der sie dann nach Berlin und Budapest ging. Dort feierte Duncan ihre ersten Erfolge als »Nackttänzerin«, schloss sich der Lebensreformbewegung an und führte fortan ein »alternatives« Leben.186 Sie kannte keine Trennung zwischen Gymnastik und Tanz, für sie war Gymnastik die Vorstufe zum Tanz. Darauf gründete sie auch ihr pädagogisches Konzept, denn Gymnastik sollte die Grundlage jeder körperlichen Erziehung sein. Alle Kraft des Körpers müsse ihre volle Entfaltung erfahren; das sei die wesentliche Aufgabe der Gymnastik. Nur in einen ästhe-

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tisch-harmonisch entwickelten Körper könne der Geist des Tanzes eindringen.187 Auf diesen Grundsätzen basierte die 1904 in Berlin-Grunewald gegründete »Duncan-Schule für Kinder«, die unter der Leitung ihrer Schwester Elisabeth stand. Von klein auf sollte der Körper, beginnend mit einfachen gymnastischen Übungen, schlank und geschmeidig gemacht werden. Spiele, Laufen, Springen und Gehen gehörten zum Unterrichtsprogramm. Die Kinder sollten lernen, sich durch körperliche Bewegung so auszudrücken wie andere mit Worten oder Gesang. Bis etwa 1910 feierte Duncan Erfolge in ganz Europa; dann löste eine hektischere, eckigere Tanzart ihren fließenden Stil ab. Der »Seelentanz« wurde von Adorée-Via Villány, einer ehemaligen Nackttänzerin, entwickelt. Ihrer Auffassung nach konnte im Tanz nur der nackte Körper die ganze Seele künstlerisch und individuell ausdrücken. In den 1920er Jahren kam das zeitcharakteristische Element des ekstatisch-expressionistischen Ausdrucks hinzu. Gertrud Leistikow (s. o.) repräsentierte eine Übergangsfigur vom Seelentanz zum Ausdruckstanz. Der bedeutendste Körpertheoretiker des deutschen Ausdruckstanzes war Rudolf von Laban (1879–1958). Sein Hauptverdienst war die Entwicklung einer Methode zur genauen Strukturanalyse der Körperbewegung. Seine Theorien übten einen Einfluss auf die Psychologie, die Pädagogik, insbesondere den Sportunterricht, das Theater, die Ergonomik, Medizin und Anthropologie aus. Sein Hauptwunsch war, der von der industriellen Mechanisierung erzeugten Disharmonie von Körper, Geist und Seele entgegenzuwirken. Insbesondere die körperliche Bewegung werde zunehmend vernachlässigt. Er wollte die Harmonie von Körper, Geist und Seele durch kreative und ausdrucksvolle Bewegung wiederherstellen. Im Gegensatz zu allen bisherigen Theorien stellte er eine »choreologische Ordnung ausdrucksvoller Bewegung« auf, wonach die menschliche Bewegung nicht ein zufälliges Moment war, sondern nach ganz bestimmten, durch den Raum vorgegebenen Größen erfolgte.188 Im Sommer 1913 begab sich Laban auf den Monte Verità bei Ascona, wo er seine Instrument-Trainingsmethode, die als »Laban-Sprünge« bekannt wurde, kreierte. Er gründete dort seine erste

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»Schule für Kunst der Coopérative individuelle«, die im Volksmund auch »Tanzfarm« genannt wurde. Damit versuchte er, den Naturismus mit der Körperbewegung als Lebensphilosophie zu kombinieren. Auch die Reformtänzerin Mary Wiegmann, die sich den Künstlernamen »Wigman« zulegte, und ihre Kollegin Leistikow lebten in dieser vegetarischen Siedlungsgemeinschaft »alternativ«. Gymnastik und Tanz gehörten dort fortan untrennbar zum alternativen Lebensstil. Wigman wurde Labans Assistentin und eine der berühmtesten Ausdruckstänzerinnen ihrer Zeit.189 Labans Hauptthese lautete: Nicht der Körper allein sei das Ausdrucksmittel des Tanzes, sondern er brauche hierfür die Verbindung mit dem Raum. Der Tänzer zeichne mit seinem Körper Formen, Figuren und Rhythmen in den Raum, und daraus konstruiere sich erst der eigentliche Tanz. Elemente der Philosophie, Mathematik, Architektur und Malerei ergaben die Lehre seiner »Choreutik«190, die eine Studie des Körpers im Raum darstellte. Eine weitere wichtige Erkenntnis Labans war die der »Bipolarität der Bewegung«, die sich folgendermaßen zusammensetzte: aufsteigen/sinken, öffnen/schließen, vorwärtsgehen/sich zurückziehen, kleiner werden/größer werden, symmetrisch/asymmetrisch, widerstandslos/Widerstand leistend, der Schwerkraft nachgebend/die Schwerkraft bekämpfend, Spannung/Entspannung etc. Körperbewegung war Labans Theorien zufolge zwar ein von Regeln geprägtes, aber dennoch unabhängiges Ausdrucksmittel des eigenen Ichs und zugleich eine soziale Kommunikationsform.191 Laban entwickelte eine eigene Wissenschaft der Analyse der menschlichen Bewegung, die er »Choreologie« nannte und die ihm 1927 zum Durchbruch verhalf. Heute ist das Konzept unter der Bezeichnung »Labanotation« ein Begriff. Labans Werbeschrift für das neue Körpergefühl wurde weltweit bekannt und anerkannt. Die »Anmut der Bewegung« und die »Geschmeidigkeit des Körpers« spielten auch in zeitgenössischen Schlankheitsratgebern eine große Rolle. Sie seien unentbehrlich, wenn ein Körper schlank wirken wolle. Der moderne Tanz und die moderne Gymnastik wurden als »Kalorienmörder« im Dienste einer harmonischen Schlankheit entdeckt. Im Ullstein-Sonderheft »Iss gut und bleib schlank« oder in der

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Monographie »Dickwerden und Schlankbleiben« wurden wissenschaftliche Untersuchungen von Kestner und Knipping über den Kalorienverbrauch einzelner Leibesübungen nach einstündiger körperlicher Betätigung angeführt, um über deren fetteinschmelzenden Wert ausreichend informiert zu sein. Darin wurde zu den Müllerschen Freiübungen vor dem täglichen Bad und zum Tanz als ideale Schlankheitsleibesübung geraten.192 Gymnastik und Tanz in der Gartenstadtsiedlung Hellerau bei Dresden Die Gartenstadt Hellerau bei Dresden wurde von einer Reihe tatkräftiger Menschen, die auf dem Gebiet Bauwesen, Siedlungs- und Wohnkultur nach Neuem suchten, im Jahr 1909 gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern zählten Karl Schmidt, Schreinermeister der »Dresdner Werkstätte für Kunsthandwerk«, Karl Bertsch, der die Verbindung zu den »Münchner Werkstätten für Wohnungseinrichtungen« herstellte, sowie die Werkbund-Architekten Richard Riemenschmid, Hermann Muthesius und Wolf Dohrn. Sie gründeten ihre Siedlung, die aus Werkstätten für über 500 Arbeiter und angrenzenden Wohnsiedlungen bestand, auf einem ehemaligen Exerzierplatz über der Stadt Dresden.193 1910 kam Jaques-Dalcroze nach Hellerau und eröffnete eine Lehranstalt für seine Gymnastik. Im Herbst 1911 wurde das Gebäude der Bildungsanstalt Hellerau fertiggestellt. Sie war eine Art Tempel der hohen Künste, ein für die damalige Zeit architektonisch überaus modernes Gebäude, das den eigentlichen Mittelpunkt der Siedlungsgemeinschaft bildete. Der Stundenplan in der Bildungsanstalt bestand aus 21 Unterrichtsstunden, die rhythmische Gymnastik, Gehörbildung und Improvisation sowie Tanz, Anatomie und Chorsingen umfassten. Jeder Schüler hatte sein eigenes Klavier. Die Wohnanlagen waren seitlich dem rechteckigen Bildungsgebäude vorgelagert, das das Zentrum bildete, und standen sowohl Schülern als auch Lehrern zur Verfügung. Es gab eine besondere Unterrichtskleidung, die zwecks mehr Bewegungsfreiheit zweiteilig war und aus einem schwarzen, eng anliegenden und hosenbeinlosen Körpertrikot für die rhythmische Gymnastik bestand; hierzu wurden

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Sandalen getragen. Auch Diplomprüfungen wurden dort von einer Kommission abgenommen. Den Höhepunkt ihrer Aktivität erreichte die Lehranstalt mit den Hellerauer Schulfesten von 1912 und 1913, auf denen die bisher erworbenen Kenntnisse in rhythmischer Gymnastik und in selbstentwickelten musikalischen und körperlichen Gestaltungen öffentlich vorgestellt wurden. Auf diese Weise wurden neue Schüler gewonnen. Wie groß die Resonanz auf die Bildungsanstalt war, geht aus den relativ hohen Besucherzahlen von ca. 4 000 hervor, davon über 500 aus dem Ausland. 1913 wurde eine Aufnahmeprüfung eingeführt, da sich zu viele Schüler angemeldet hatten. Seit 1911 entstanden Zweiginstitute der Bildungsanstalt in Berlin und Dresden. Die Jaques-Dalcroze-Methode fasste in zahlreichen Ländern (Amerika, Belgien, England, Finnland, Frankreich, Holland, Italien, Österreich und Russland) Fuß. In dieser Periode wurden etwa 7 000 Schüler in 127 Lehranstalten unterrichtet, wobei der Unterricht in 23 Konservatorien, Musik- und Theaterschulen, Gymnasien, Privatschulen, Pensionaten und Kindergärten abgehalten wurde. Wirkung und Verbreitung der Jaques-Dalcroze-Gymnastikschule waren enorm.194 Nach diesen Erfolgen gab es 1914 einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Siedlungsgemeinschaft. Die Bildungsanstalt musste im März 1915 Konkurs anmelden. Ihre GmbH-Rechte übertrug sie auf eine »Neue Schule für angewandten Rhythmus« in Hellerau.

Demonstration der schlankmachenden Wirkung von Gymnastik auf die Figur; Quelle: Mensendieck (1909)

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Hiermit begann die zweite Periode der »Neuen Hellerauer Schule«. Erst 1919 konnte eine Lehrerin der Jaques-Dalcroze-Methode, Christine Huntington Baer-Frissell (1886–1932), den Unterricht wieder aufnehmen. Von 1919 bis 1932 war sie die treibende Kraft in Hellerau. Nach ihrem Tod 1932 übernahm ihr langjähriger Mitarbeiter Ernst Ferand (*1872) die Schule.195 Die Deutsch-Böhmin Valeria Kratina (1892–1983) übernahm den Unterricht im Hauptfach »Ästhetische Körperbildung«. abb51 In den Nachfolgeschulen erfuhr Jaques-Dalcrozes Zielsetzung eine Wandlung. Die »rhythmische Gymnastik« wurde in mehrere Teilgebiete mit entsprechend ausgebildeten Fachkräften aufgespalten, sodass die Schüler ein Fachgebiet ihrer Neigung frei auswählen konnten. So unterrichtete der deutsche Kleiderreformer Otto Neustätter beispielsweise das Fach »praktische Anatomie«. Der britische Pädagoge Alexander Sutherland Neill (1883–1973)196 führte einen »antiautoritären« Erziehungsstil ein. Er war der Begründer der deutschen »Landschulheime«. Hellerau war ein Experimentierfeld sowohl für fortschrittliche Erziehungsmodelle als auch für neue Körpererfahrungen. Das Konzept der »Neuen Hellerauer Schule« wurde in zahlreichen Aufführungen in Dresden, Berlin und Leipzig der Öffentlichkeit vorgestellt und stieß auf große Resonanz. Die zweite Phase der Hellerauer Schule war von einer noch stärkeren Betonung des Körperlichen gekennzeichnet. Eine der führenden Persönlichkeiten dieser Neuen Hellerauer Schule war Valeria Kratina. Ihr Ziel war es, die Wandlungsfähigkeit des menschlichen Körpers unter dem Einfluss der Musik zu veranschaulichen. Im Schuljahr 1922/23 richtete sie ein spezielles »Seminar für Bewegungserziehung« unter der Leitung der Tschechin Jarmila Kröschlová (1893–1983) ein, das kurz darauf in »Körperbildung«197 umbenannt wurde. Unter Körperbildung wurde die Bildung der Muskeln und des Organsystems verstanden. Die Grenze zwischen Körper- und Geistesbildung sollte durch Koordination verwischt werden. Als rein geistiges Ziel der Gymnastik hatte man die Förderung des Ordnungssinnes vor Augen. Belebung und Schöpferkraft sollte aus jeder Körperübung, wenn sie energisch genug, vielseitig, erlebnisreich, naturnah und nicht überanstrengend war, entstehen.198

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Im Oktober 1923 wurde ein Gastspiel in Wien im Rahmen der »Modernen Musikwoche« veranstaltet, das sich aus einer pädagogischen und zwei künstlerischen Ausführungen zusammensetzte. In der pädagogischen Vorstellung wurden Szenen aus der musikpädagogischen Arbeit, der Gehörbildung und der rhythmischen Gymnastik zu vorgegebenen und zu improvisierenden Themen gezeigt. Der zweite Teil der Schau war der tänzerischen Ausbildung gewidmet. Es waren die berühmten »Gruppentänze Kratinas«, aber auch Tänze der später bekannt gewordenen Rosalia Chladek zu sehen. Das Hauptfach »Körperbildung« wurde 1919 in der »Neuen Hellerauer Schule« eingeführt. Die Aufnahme von Jarmila Kröschlová in das Lehrerkollegium bewirkte eine verstärkte Schwerpunktsetzung auf die Körperbildung. Sie hatte 1918 ein privates Studium der Mensendieck-Gymnastik absolviert, studierte ab 1919 in Genf und schließlich in Hellerau rhythmische Gymnastik und beeinflusste nachhaltig die deutsche Sportgeschichte der 1920er und 1930er Jahre. Seit dieser Zeit blieb das Fach »Körperbildung« bestehen, wenn auch die Inhalte variierten. abb52 Von 1930 bis 1938 reichte die dritte Phase der »Hellerauer Gesellschaft für Bewegungskunst«, die »Laxenburger Jahre«, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Die rhythmische Gymnastik war über sich selbst hinausgewachsen und steuerte bewusst in die Richtung einer Erneuerung der Tanzkunst, in der sich die Lebensgefühle der Menschen am unmittelbarsten entfalten konnten, im Ausdruckstanz. Die historischen Übergänge zwischen der deutschen Rhythmusbewegung und der Ausdruckstanzbewegung waren deshalb fließend. Kennzeichnend für die 1920er Jahre war ein heftigerer, erregter und ausdrucksstarker Bewegungsstil, wie er sich auch in der bildenden Kunst des »Expressionismus« niederschlug. Die schöne Bildung eines ästhetisch-schlanken Körpers mithilfe von Gymnastik, Tanz und Sport bildete ab ca. 1920 eine neue Zielsetzung in den Leibesübungen, wie sie zuvor nie ausgeprägt war.199

Titelblatt einer Schrift der Dora Menzler-Schule für moderne ' Schlankheitsgymnastik; Quelle: Menzler (1924b)

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Die angelsächsische »Fitness«-Bewegung: Der Kraftsport als Heiltherapie Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert begeisterte eine völlig neuartige Körperkulturmode Europäer und Amerikaner. Zahlreiche Bürger gerieten in Bewegung, betrieben Sport. »Mensch, bewege Dich!«200 lautete ihr Schlachtruf gegen die Trägheit. Körperliche Passivität erhielt negative Konnotationen und wurde mit Faulheit assoziiert. Man stemmte Gewichte, übte Gymnastik, schwang Hanteln und Keulen und badete nackt im Wasser, in Sonne und Luft. Beeinflusst durch die aus England kommende Sportbegeisterung etablierte sich der deutsche Kraftsport. Während in der Turn-, Gymnastik- und Tanzbewegung vorwiegend philosophische, pädagogische, nationale, künstlerische und ästhetische Motive im Vordergrund standen, dominierte in der Sportbewegung der Wettkampfgedanke, nach dem Motto: »Höher, weiter, schneller, stärker«.201 Der antike Olympiagedanke, das Kräftemessen im internationalen Vergleich, wurde für die auf Leistung fixierte Industriegesellschaft wiederentdeckt. Vegetarier versuchten, durch Erfolge bei Marathonläufen für ihre Ernährungsweise zu werben.202 Die neue Reformkultur sollte aus einer Vermählung des modernen Geistes mit der Antike erstehen. Der Verfasser der Broschüre »Körperschönheit durch Körpertraining« beschrieb das holistische Ideal der Antike, die Vollkommenheit des Körpers und des Geistes, auch als das Bestreben seiner Zeit. Gesundheit und Schönheit seien untrennbar miteinander vereint. Die Harmonie des ganzen Körpers als Einheit zwischen Körperrhythmus und Seelenausdruck sei Grundbedingung. Das eigentliche Ziel allen Körpertrainings seien die sehnigen, schlanken Gestalten mit ihren in der freien Natur gekräftigten Körpern, deren Ausdauer gegenüber Witterung und Anstrengung gerade darauf beruhe.203 Spezialübungen zur ästhetischen Muskelbildung entstanden. Fitnessratgeber schufen einen neuen Literaturmarkt. Eine Diskussion über die »richtige« Methode, d. h. über den gesundheitlichen Wert und die Zweckmäßigkeit der verschiedenen Systeme, die auch heute noch in der Bodybuilding-Diskussion zu beobachten ist, erhitzte die Gemüter der verschiedenen »Systemapostel«, denn jeder

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versuchte sein eigenes Muskelbildungssystem gegen die Konkurrenz zu verteidigen. Angesichts der Fülle von guten Ratschlägen machte sich bei den Heimsportlern schon bald eine gewisse Ratlosigkeit breit.204 Einer der ersten Fitnessjünger war der aus der skandinavischen Gesundheitsbewegung und dem Freiluftsport kommende Leutnant a. D. des Kgl. dänischen Ingenieurs-Korps, Jens P. Müller (*1866). Er erklärte die »täglichen fünfzehn Minuten Gymnastik« zur bürgerlichen Pflicht und vertrat eine eigene Kraftgymnastik, die er »Mein System«205 nannte. Die gleichnamige Schrift erschien im Jahr 1904 mit einer Auflage von 2 000 Stück, die in vier Tagen vergriffen waren. Bis 1930 wurde das Buch in 24 Sprachen übersetzt und fand einen Absatz von rund 1 ½ Millionen Exemplaren. Müller trat vorwiegend aus hygienischen Gründen für die Gymnastik ein, betonte aber auch den körperbildenden Zweck seiner Heil-, Atem- und Kraftgymnastik. Er studierte zunächst Theologie, gab aber bald das Studium auf und wurde Offizier. Danach arbeitete er als »Privatingenieur« und später als Inspektor am »Vejlefjord-Sanatorium«. Von da an widmete er sich der Verbreitung seines Gymnastiksystems durch Schriften.206 In London gründete er ein »Institut für körperliche Erziehung«. Er hatte bereits zahlreiche Sportarten ausprobiert, bevor er zum Kraftsport kam, der ihm angeblich »seinen klassischen, den Maßen des Speerträgers von Polyklet entsprechenden Körper bis ins Alter bewahrt« habe.207 Müllers ursprüngliches System verlangte lediglich 15 Minuten täglicher Übungszeit für die Gesundheit und versuchte damit dem Argument, es fehle die Zeit zur körperlichen Ertüchtigung, zu begegnen. Richtschnur bei der Erstellung seines Systems war das Prinzip, wenige Übungen durchzuführen, aber jede Übung einen ganz bestimmten Körperbildungszweck erfüllen zu lassen. Von diesen Körperbildungsübungen suchte er die kürzesten und zweckmäßigsten aus, sodass ein 15-minütiges Trainingsprogramm entstand, bei dem jede Übung den für ihren Zweck höchsten Nutzwert bei geringstem Zeitverbrauch und bei höchstmöglicher Einfachheit haben sollte. Ausgehend von der These, dass Haut und Rumpf bei den meisten Menschen am stärksten vernachlässigt wurden, bildeten Abreibeund Rumpfübungen den Großteil der Bewegungsanleitungen. Es

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gab 18 Rumpfübungen, zwischen die eine kalte Abwaschung mit anschließendem Frottieren eingeschoben wurde. Es handelte sich hierbei um eine Kombination aus Bewegungs- und Hydrotherapie, die dem damaligen Zeitgeist entsprach. Müller schob die kalte Waschung nach den ersten acht Übungen ein, nachdem bereits genügend Eigenwärme entstanden war und eine Abkühlung eher als wohltuend empfunden wurde. Nach dem anschließenden Frottieren, das ebenso die Blutzirkulation förderte, folgten die letzten zehn Übungen. Die durchblutungsfördernde Wirkung der kalten Abwaschung mit darauffolgendem kräftigen Abtrocknen zeigte Wirkung auf die Haut, wie ein Anhänger Müllers berichtet: »Wer müllerte, war von vornherein durch eine glänzende, feste Haut kenntlich und war auch durch diese durchgeturnte Haut gegen Erkältungen gefeit.«208 Das »Müller-System« war als Grundausbildung für den Körper gedacht, an das sich sein »Fünf-Minuten-System« anschließen sollte. Die Absicht Müllers war, die durch die Grundkörperausbildung geschaffene »Figur« zu erhalten und sich generell »fit« zu halten. Er empfahl sein System beiden Geschlechtern und für jedes Alter von fünf bis 85 Jahren. Es wurde marktstrategisch für Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen entworfen. Sein Körperbildungsprogramm wurde von Seiten der Medizin kritisiert, wie auch jede neue aus England stammende Sportart auf das genaueste auf ihre »Nebenwirkungen« wissenschaftlich untersucht wurde. Zur Ausschaltung des konkurrierenden »Schwedischen Systems« übte Müller an der Lingschen Heilgymnastik scharfe Kritik.209 Ein anderer »Athletenvater« war der Vegetarier Theodor Siebert (1866–1961). Er publizierte zahlreiche Schriften über Körperkult, Naturphilosophie und andere lebensreformerische Themen. Um seine etwas schwächliche Konstitution zu verbessern, begann er als Autodidakt mit dem Heben von Gewichten und entwickelte aufgrund von Selbstversuchen ein spezielles Hantel- und Gewichtssystem zur Erlangung eines muskulösen Körpers. Danach widmete er sein ganzes Leben dem Bodybuilding, Gewichtheben und Ringen, aber auch dem Vegetarismus, der Artistik, Nacktkultur, Gesundheitsreform, ganzheitlichen Lebensweise, Esoterik und Theosophie. 1901 eröffnete er ein »Erholungsheim für vernünftige Lebensweise« und darin die »Erste Trainerschule für Körperkultur« in Deutsch-

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land.210 Kraftsport war für ihn mehr als bloßer Muskelzuwachs, sondern eine neue Lebenseinstellung, die er mit einer selbstentworfenen Philosophie verband. Siebert betonte in seiner Lebensauffassung ebenfalls die Dreieinigkeit von Seele, Geist und Körper. Diese Dreiheit bilde die unteilbare Einheit Mensch, denn fehle ein Teil, so sei es kein Mensch mehr. Einen »Katechismus der Athletik« schrieb Siebert 1898; seine Kraftsportlehre stellte er 1907 in dem Buch »Der Kraftsport« vor. Den berufsmäßigen Kraftsportlern, Gewichthebern, Ringern und Schauspielartisten bot Siebert eine ganzheitliche Trainingsmethode an, die eine Kombination aus Leicht-, Mittel- und Schwergewichtsübungen darstellte. Er lehrte Techniken des Gewichthebens und der Atmung sowie originelle Krafttricks, wie z. B. das Kettenzersprengen. Mit einfachen Slogans versuchte er seine Schüler zu motivieren, wie z. B. »Fett ist nur unnützer Ballast!« oder »Schönheit ist Kraft! Schönheit ist Vollkommenheit, und in der Regelmäßigkeit der Schönheit des Menschenleibes ist der Sitz der Kraft zu suchen.«211 In seinem Sanatorium waren vegetarische Ernährungsweise, sexuelle Abstinenz, Tabak- und Alkoholverbot für die körperliche Reinigung und Atemübungen sowie yogaähnliche Entspannungsübungen für die geistige Selbstfindung vorgeschrieben. Kaltwasserbäder, Hanteltraining und Nacktsport galten der körperlichen Abhärtung und dem Muskelaufbau. Das Programm umfasste damit beinahe alle Punkte, die die damalige Alternativbewegung bot. Sieberts System war sowohl für Männer und Frauen als auch für Kinder anwendbar. 1913 musste er sein Erholungsheim schließen. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang ihm aus finanziellen Gründen der Wiederaufbau nicht mehr, sodass er gezwungen war, wieder in seinem ursprünglichen Beruf als Buchhändler zu arbeiten. Er galt eine Zeitlang als Koryphäe auf dem Gebiet des Kraftsports, blieb aber seinerzeit relativ unbekannt. Als »russischer Löwe« wurde der aus seiner Schule stammende Kraftsportler George Hackenschmidt (1878–1968) eine Legende. Auch Hackenschmidts Schule brachte erfolgreiche Ringer, Gewichtheber und Bodybuilder hervor. Er lehrte seine Methode im damaligen Standardwerk des Krafttrainings »Der Weg zur Kraft«. Sein wöchentliches Training, ergänzt durch eine vegetarische Diät und

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eine Ganzheitsphilosophie, umfasste Übungen wie z. B. das 50-malige Überspringen einer Stuhllehne. Der erste »Apostel eines Zimmerturnsystems«212 war der Badener Berufsathlet und Leiter einer Sportschule Louis Dürlacher. Selbst Mediziner lobten sein System der Zimmergymnastik als eine sorgfältige Auswahl von Übungen, die auf eine planmäßige Durcharbeitung des ganzen Körpers in kurzer täglicher Übungszeit abzielten. Männliche Körperschönheitsideale wurden z. T. direkt aus England oder Amerika importiert. Als Vorbild zu nennen ist z. B. der Engländer Lionel Strongfort (1876–1967), der mit bürgerlichem Namen Max Unger hieß und wegen seiner sportlich ausgebildeten Muskeln um die Jahrhundertwende als schönster Mann Europas galt, oder der Deutsche Eugen Sandow (1867–1925), der insbesondere in Amerika ein »Bodybuildingstar« war.213 abb54 Strongfort und Sandow waren aus Dürlachers Sportschule in Brüssel hervorgegangen. Dürlacher benutzte für sein System 21 Übungen und versprach, einen Mann von durchschnittlichem Körperbau nach sechs Monaten so weit zu bringen, dass er die »gebräuchlichsten Hünen-Kraftstücke«214 nachahmen könne. Dazu sei eine tägliche einstündige Übung mit kleinen Hanteln und die zeitweise Verwendung schwerer Gewichte notwendig. Nach dieser Grundausbildung könne man sich durch je eine Viertelstunde Arbeit mit Fünf-Pfund-Hanteln morgens und abends den erreichten Muskelzustand erhalten. Sandow war Dürlachers erfolgreichster Schüler. Das »SandowSystem« wurde durch die aufsehenerregende Körperlichkeit seines Erfinders bekannt. Er hatte einen Brustumfang von 122 cm ausgeatmet bzw. 157,5 cm eingeatmet, einen Bauchumfang von 86 cm, sein rechter Oberarm maß 49 cm, sein Oberschenkel 66 cm, seine Wade 45 cm, sein Hals ebensoviel, sein Gewicht betrug 91,5 kg bei einer Größe von 1,75 m.215 Er selbst bezeichnete sich als Verkünder und Prediger eines neuen Evangeliums des Körpers.216 Sandow, mit bürgerlichem Namen Karl Friedrich Müller, wurde 1867 im ostpreußischen Königsberg geboren. Bereits als 15-Jähriger schlug er sich als »Kraftmensch« in einem Wanderzirkus durch. Danach arbeitete er zeitweilig als Modell für Anatomie- und Kunststudien. Bei dieser Gelegenheit wurde er schließlich von Dürlacher

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entdeckt, der ihn fachmännisch ins Rampenlicht rückte. Von diesem Zeitpunkt an ging das Duo auf Tournee. Dürlacher und Sandow führten in vielen europäischen Hauptstädten ihre Kraftkunststücke vor, so z. B. in dem Amsterdamer »Paleis voor Volksvlyt«. Eine besondere Popularität erreichte Sandow im Alter von 22 Jahren durch einen Kampf gegen den angeblich »stärksten Mann der Welt« namens »Samson«. Im Oktober 1889 wurde er durch den Sieg gegen Samson innerhalb weniger Tage in London und schließlich in ganz England berühmt.217 Damals war der Kraftsport noch mehr Show als Sport; dennoch sind dies die historischen Wurzeln des modernen Bodybuildings. 1891 verbanden sich junge Vereine zum »Deutschen Athleten-SportVerband«, sodass bereits 1893 deutsche Meisterschaften abgehalten werden konnten. 1896 stand erstmals das Gewichtheben auf dem Programm der Olympischen Spiele. Im Jahr 1905 fand dann die erste »offizielle Weltmeisterschaft« statt. Im Sommer 1893 nahm Sandow ein Engagement in Amerika an, zuerst im »Casino Theater« am New Yorker Broadway und schließlich bei einem leitenden Veranstalter der amerikanischen Unterhaltungsbranche, Florenz Ziegfeld jr. In der Saison 1893 war er »The Modern Hercules«, so die Ankündigung auf einem zeitgenössischen Werbeplakat des Chicagoer »Trocadero«. Er rief in den Vereinigten Staaten Begeisterungsstürme hervor, als er unter der musikalischen Begleitung eines klassischen Pianisten einen Mann mit der flachen Hand stemmte, einen Schürhaken umbog, einen Tresor mit den Zähnen öffnete und Gewichte bis zu 300 englischen Pfund (= 136 kg) hob. Besonderes Aufsehen erregte er wegen seines freizügigen Auftretens. Während andere Berufsathleten jener Zeit ein Leopardenfell und eng anliegende weiße Trikothosen trugen, trat Sandow fast völlig nackt auf; lediglich die primären Geschlechtsmerkmale bedeckte ein Feigenblatt aus Papier oder Stoff. Dies ist auf seinen gesamtreformerischen Lebensstil zurückzuführen: Er pflegte den »Nacktsport«, imitierte klassische Posen in öffentlichen Vorstellungen und riet in der Diätfrage zu einer gemischten Kost mit weniger Fleischverzehr als üblich und zu »Plasmon«, einem bekannten pflanzlichen Eiweißpräparat.218 Den Begriff »Körperkultur« interpretierte er als Erziehung zu einem vollkommenen Körper und als Ausmerzung aller

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durch Vernachlässigung des Körpers verursachten Schäden, denn diese seien eine Sünde gegen die Natur. Sein Krafttrainingssystem war eine lebensreformerische Gesamtphilosophie. 1896 kehrte Sandow nach Europa zurück und wurde nun auch innerhalb Deutschlands bekannt. Er verfasste ein erstes Buch über »Body building«, worauf die heutige englische Bezeichnung für das Wort »Körperbildung« zurückgeht.219 Es erschien mit zwei englischen Ausgaben in den Jahren 1905 und 1919. Seine folgende Schrift »Strength and How to obtain It« erschien mit vier englischen Ausgaben von 1897 bis 1911 und in Deutschland 1904 und 1925 unter dem Titel »Kraft und wie man sie erlangt«. Er war die führende Autorität sowohl auf dem Gebiet des Muskeltrainings als auch in Fragen der Gesundheitserziehung und Vorreiter unseres heutigen Bodybuildings. Bei seiner Übungsauswahl sollte jeder Muskel mindestens einmal stark beschäftigt werden, dann aber bei abwechselnder Beanspruchung verschiedener größerer Muskelgruppen noch mehrfach zu mäßiger Arbeit herangezogen werden. Eine Art Ausgleichsgymnastik wurde durch eine vernünftige Reihenfolge der Übungen erzeugt, indem sich der soeben stark beschäftigte Muskel bei der nächsten Übung ausruhte. Die Anzahl der Bewegungsübungen wurde langsam gesteigert. Begonnen wurde mit dem Fünf-Pfund-Gewicht. Nach sechs Monaten wurde ein Pfund hinzugefügt, nach einem Jahr zwei Pfund. Über zehn Pfund durfte aber nicht hinausgegangen werden. Sandow sah als wesentlichen Faktor für den Erfolg seines Systems die »Willenskonzentration auf die Arbeit«. Demnach sollten Physis und Psyche in ihrer Gesamtheit »gestählt« werden. Diese »Willenskraft« beschleunige ein schnelles Wachstum der Kräfte und Muskeln. Das »Sandow-System« erregte Anfang der 1890er Jahre viel Aufsehen und heftige Kritik bei einigen Medizinern. Viele lebensreformerische Körperkulturanhänger standen unter einem regelrechten »Rechtfertigungsdruck« ihrer Systeme und fügten deshalb ihren Schriften medizinische Gutachten, Briefe, Zertifikate und persönliche Auszeichnungen zur Untermauerung des hygienischen Wertes der Übungen bei. Deshalb demonstrierte Sandow seine Methoden vor sportlichen, wissenschaftlichen, pädagogischen, medizinischen

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und militärischen Gremien und betonte ausdrücklich die gesundheitsfördernde Intention bei der Abfassung seiner Schriften, dem lediglich noch das reformerische Hauptziel einer »seelischen Erneuerung« des Menschen übergeordnet sei.220 Sandows Übungssystem war nicht ausschließlich für jüngere Menschen konzipiert, sondern sollte allen Hilfe bieten, die unter einem geschwächten Nervensystem oder unter körperlichen Krankheiten und Gebrechen litten. Pionierarbeit leistete er, indem er in seine Methoden Frauen und Kinder einbezog, in einer Zeit, als die sportliche Betätigung für die Frau noch keine Selbstverständlichkeit war. Drei Veränderungen im Leben der modernen Frau wünschte er sich, die für die damalige Zeit recht fortschrittlich wirkten: Erstens sollte sie leichte, luftige Kleidung tragen, zweitens Freiluftgymnastik betreiben und drittens systematisch ihren Körper üben. Vehement bekämpfte er das Korsett und gestattete nur übergangsweise das Tragen eines Reformkorsetts, solange die Rückenmuskulatur durch gezieltes Training noch nicht ausreichend gestärkt war; die Körpersilhouette sollte sich ausschließlich nach den von der Natur gegebenen Linien richten. Für jeden seiner Schüler stellte er eine individuelle Übungsfolge mit Lang- und Kurzhantel zusammen. Fortschritte in der körperlichen Entwicklung waren jederzeit durch Muskelumfangmessungen mithilfe seiner Messkarte möglich.221 Er war der Erfinder der »Greifhantel«, einer aus zwei Hälften bestehenden Kurzhantel, die mit Federn verbunden waren. Das Zusammendrücken dieser Federhantel bewirkte eine Spannungsarbeit der Hand- und Unterarmmuskeln; sie ist heute noch eines der üblichen Trainingsgeräte zur Muskelentwicklung. Zu Sandows Trainingsgeräten zählte schließlich der »kombinierte Muskelstärker«222, im Englischen als »Sandow’s Own Combined Developer« bezeichnet. Dieser war eine Kombination von elastischen Trainingsbändern aus Gummi, Expandern und leichten Kurzhanteln. Zusätzlich bot der »stärkste Mann der Welt« mit großem kommerziellen Erfolg Trainingsanleitungen in Fernkursen per Post an. Dies weitete sich später zum Versandgeschäft aus.223 Im Unterschied zu anderen Sportarten, bei denen Geschick, Kondition, Anmut und künstlerischer Ausdruck geschult wurden, sollten in seiner männlichen Körperbildung hauptsächlich die Muskeln aufgebaut werden,

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wozu u. a. besondere anatomische und physiologische Vorkenntnisse erforderlich waren. Sandow kannte aus seiner Studienzeit in Brüssel die Körperfunktionen und Muskeln, die er allesamt mit ihrem lateinischen Namen benennen konnte. Manchmal gab er im Anschluss an Veranstaltungen Lektionen in Anatomie und in seinem System der »Körperstählung«.224 Der frühe Tod Sandows durch einen Autounfall im Alter von 58 Jahren überraschte seine weltweite Anhängerschaft. Er geriet schnell wieder in Vergessenheit, obwohl seine Bedeutung als Wortschöpfer und Initiator des modernen Bodybuildings unbestritten ist. Auch er selbst verzeichnete bereits einen bewussteren Umgang mit dem Körper, als er schrieb: »Ohne Zweifel beginnt die Welt jetzt eine gesündere Anschauung des körperlichen Lebens zu bekommen.«225 Weitere Zeugnisse von in dieser frühen Periode des modernen Körperkults herausgegebenen Systemen zur Muskelbildung sind die beiden Bücher des Deutschen Albert Stolz, in denen er den Sieg des modernen, kraftgebildeten Körpers über den »altmodischen«, schwächlichen, weil zivilisationsgeschädigten Körper verkündete, die Schrift »Mensch, bewege Dich!«, das »Athletik-Hantelsystem« des Amerikaners R. Fay und das Körperkulturbuch »Weg zur Kraft und Formenschönheit« von Willy Olympier.226 Letzterer gab sich als Lebensreformer zu erkennen, indem er einige Grundregeln des lebensreformerischen Programms wie ausreichende Zufuhr von frischer Luft für Lunge und Haut, Sonnenlicht und Abhärtung, Mäßigkeit im Essen, Trinken, Rauchen und in sexueller Beziehung, allseitige Bewegung durch Turnen, Gymnastik oder Sport wiederholte.227 Die Berücksichtigung der Individualität bei der Wahl der Übungsart war ein wesentliches Kennzeichen der lebensreformerischen Körperkultur, die vom kommandierten Massenturnen zur individualisierten Körperbildung führte und damit eine historische Gegenbewegung zur Entwicklung des modernen Massensports darstellte. Allerdings versuchte jeder »Systemapostel«, seine eigenen Übungen zu propagieren, sodass ein allgemeiner »Systemwirrwarr« auf dem damaligen Lektüremarkt für Bodybuilder herrschte. Olympier beispielsweise wandte sich wegen der Kaltwasseranwendung zwischen den Leibesübungen gegen das Müllersche System. Von den bisher behandelten Kraft- und Muskelausbildungssyste-

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men unterschied sich das 1905 erstmals verkündete »Proschek-System« grundlegend. Es war ein »Übungssystem koordinierter Muskelgruppen«, das von dem Arzt Ferdinand Hueppe als psycho-physisches System eingestuft wurde.228 Hierbei wurde grundsätzlich auf die Verwendung von Hanteln oder Hilfsgeräten verzichtet. Ein Muskelzuwachs sollte lediglich durch den Einfluss des Willens auf den zu bewegenden Muskel und durch den Gegenzug der selbst gesetzten Widerstände in den gegengeordneten Muskeln erzeugt werden (Widerstandsübungen). Diese Ausbildungsweise ermögliche, so wurde behauptet, die Bildung und Beherrschung einzelner Muskelgruppen bis zur plastischen Modellierung der Muskulatur und wirke damit ganz besonders auch auf die Willensbildung. Proschek bezeichnete sein System sowohl als Muskel- als auch als Nervenübung, weshalb es sich zum selbstständigen System der Körperausbildung eigne und insbesondere für Nervöse und Neurastheniker geeignet sei. Proschek leitete sein System mit drei speziellen Atemübungen ein, die Grundvoraussetzungen für den Erfolg seien. Seinen Muskelübungen schickte er anatomische Grundkenntnisse voraus. Insgesamt schlug er 14 »Widerstandsübungen« vor. Als Beleg für die Wirksamkeit und den Erfolg seines Systems führte er eigene Leistungsauszeichnungen, Beurteilungen, Atteste und Briefe prominenter Ärzte, schließlich den Erfolg bekannter Sportler, wie z. B. des besten Dauergehers jener Zeit, an.229 Er druckte in seinem Buch sogar ein Schreiben von Bircher-Benner ab, in welchem dieser das Proschek-System wegen seiner zusätzlichen Heilwirkung lobend hervorhob. Als »Übersteigerung des Proschek-Systems« bezeichnete ein Gymnastiktheoretiker des frühen 20. Jahrhunderts das »MaxickSystem«, das im Buch »Muskelbeherrschung oder Körperentwicklung durch Willenskraft« beschrieben wurde. Der Autor behauptete, seinerzeit als kränklicher und schwächlicher Knabe im Krankenbett auf das Proschek-System aufmerksam geworden zu sein. Während seiner Lehrlingszeit als Mechaniker sei ihm aufgefallen, dass arbeitende Muskeln sich erst dann entwickelten, wenn sich die Aufmerksamkeit des Menschen nicht auf die Arbeit beschränkte, sondern auf die Muskeln gerichtet werde. Diese Aufmerksamkeit müsse sich sowohl auf die Spannung der ausführenden Muskeln wie auch auf

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die Entspannung der Gegenmuskeln erstrecken. Die Muskelsteifheit sei »der tödliche Feind der Beweglichkeit und Ausdauer«.230 Die Trainingsmethode nach Maxick bestand aus 21 Übungen. Nach einer einleitenden »Entspannungsübung« folgten »Anspannungsübungen« von Muskelgruppen und einzelnen Muskeln, z. B. die isolierte Anspannung und Entspannung des dreieckigen Rückenmuskels oder des großen Brustmuskels. Maxick übernahm demnach die Grundideen des Proschek-Systems und ergänzte diese lediglich mit Zusatzübungen zur Körperbeherrschung, d. h. zur Bewegung einzelner Muskeln bzw. Muskelgruppen. Gerade die Zerlegung des Körpers in einzelne Muskelpartien im Bodybuilding kritisierten einige Lebensreformer vehement, da sie fürchteten, das antike Holismusideal werde aus den Augen verloren. Ein Bodybuilder, Nacktkulturanhänger und »Gymnastikapostel« war ferner der schon erwähnte Hans Surén (1885–1972). Seine Gymnastik ging von einem kräftigen männlichen Körperbildungsideal aus, dem der Autor selbst vorbildhaft mit seinen eigenen Körperformen zu entsprechen glaubte. Surén nahm in sein Gymnastikprogramm auch das Arbeiten mit Gewichten auf, nur mit dem Unterschied, dass er hierzu einen natürlichen Feldstein an Drahtaufhängern benutzte. Später fügte er seinen gymnastischen Übungen die Kugel, den Hammer, den Medizinball und alle Arten von Schwunggewichten als Hilfsmittel hinzu. Er kritisierte in den Einleitungen seiner Bücher vehement die Müllersche Bewegungstherapie als konkurrierendes System gymnastischer Freiübungen. Als überzeugter Lebensreformer begriff er das Nacktsein als »Einswerden mit der Natur« und auch den Rhythmus als etwas Natürliches, weshalb er apodiktisch feststellte: »Der richtig verstandene Sport wie auch das Nacktleben saugen den Rhythmus aus Himmel und Erde.«231 Suréns Gymnastik stand bereits unter dem Einfluss der Rhythmuslehre Jaques-Dalcrozes, wie die Aufnahme der sogenannten »zwanglosen Stellungen«, die an dessen »Lebende Bilder« erinnern, zeigt. Wie Bess Mensendieck bevorzugte er den Ausdruck der »funktionellen Gymnastik«. Unter diesem Begriff wurden Leibesübungen zusammengefasst, die Stoffwechsel, Kreislauf und Ausscheidung anregten. Mit seiner Kraftgymnastik kritisierte Surén die Überentwicklung der Beinmuskulatur in zahlreichen anderen Gymnastiksystemen

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gegenüber der Armmuskulatur, die zu einer Disharmonie der Körperformen führe. Außerdem bemängelte er das »Kommandieren der Leibesübungen«, was für einen ehemaligen Major zunächst überraschen mag. Mit diesem Kampf gegen das Kommando bei den Leibesübungen führte er die Körperübungen endgültig vom »drillmäßigen Massenturnen« weg zur individualisierten Gymnastik, d. h. einer Bewegungskunst, die einen Beitrag zur Selbstfindung und Gesellschaftsreform leisten sollte.232 Viele Bodybuilder gerieten in den Sog germanisch-völkischer Schwärmereien wie z. B. Siebert und auch Surén, der den Buchtitel »Mensch und Sonne« in der NS-Zeit mit dem Zusatz »ArischOlympischer Geist« versah. Ein weiteres Beispiel für solchen Germanenwahn war der Kraftathlet Bernhard Leitner, der in seiner Anleitung »Wie wurde ich stark?« bereits 1897 die Dichter und Denker als »Greise von 20 Jahren, mit schlappem Gang, gebeugtem Rücken und wadenlosen Beinen« bezeichnete und Visionen vom künftigen Schicksal Deutschlands verkündete, das von der Erlangung körperlicher Fertigkeiten und der »Stählung des physischen Menschen im Völkerduell« abhänge. Solchen Gedanken folgten auch Albert Stolz, Otto Ammon, Willibald Hentschel, Jörg Lanz von Liebenfels und der »Nacktkulturapostel« Richard Ungewitter. Sie sahen in dem neuen Körperkult um 1900 einen Weg zur »Erneuerung der germanischen Rasse«. Der muskulöse Körper wurde in diesem Fall als Demonstrationsobjekt für weltanschauliche, politische oder soziale Überzeugungen missbraucht.233 Die Übergänge von der physiologisch-hygienischen Richtung zur technischen und ästhetischen Richtung der Gymnastik waren fließend und knüpften an die Frage nach dem richtigen Gymnastiksystem an.234 Der damalige Leiter der »Deutschen Hochschule für Leibesübungen« Carl Diem verstand unter Gymnastik der technischen Richtung »Kraftübungen zur Vorbereitung auf die Leichtathletik«. Um die Jahrhundertwende war es noch üblich gewesen, ohne jegliche technische Vorübung mit der sportlichen Ertüchtigung anzufangen. Die Olympischen Spiele 1912 in Stockholm brachten infolge des überlegenen Sieges der amerikanischen Mannschaft dann eine Wende für die Deutschen. Die US-Mannschaft schien nicht technisch, wohl aber kraftmäßig überlegen zu sein. Zur Erkundung

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der Ursachen der besseren Leistung der amerikanischen Athleten wurden Carl Diem und Josef Waitzer, ein berühmtes Mitglied der Sportabteilung des »Münchner Turnvereins«, in die USA geschickt. Während ihrer dortigen Studienreise kamen sie zu dem Ergebnis, dass viele Sportübungen nicht »selbstübend« waren, sondern als Hilfs- und vorbereitende Übungen dienten.235 Der »Deutsche Reichsausschuß für die Olympischen Spiele« setzte von nun an Sportlehrer ein, die eine vorbereitende Gymnastik für die Leichtathletik und für andere Sportarten einführten. Auf der Suche nach einem geeigneten System der »Kraftgymnastik«, einschließlich Dehn- und Aufwärmübungen, stieß man auf die unterschiedlichen vorhandenen Körperbildungssysteme, die nun diese Aufgabe zu übernehmen hatten. Eine Zeit lang wollte man ein einheitliches System einführen, weshalb die Diskussion über das wirksamste Kraftsystem wieder einsetzte. Schließlich entschied man sich aber dafür, je nach Sportart und Leistungsziel bzw. Bildungsziel, d. h. je nachdem, ob Organe oder Muskeln geschult werden sollten, aus der Vielfalt der angebotenen Systeme das jeweils Passende auszuwählen. Der moderne Kraftsport wurde damit auch für die lebensreformerische Ästhetikbewegung entdeckt. Er wurde zur Bildung schöner Männerkörper eingesetzt, um im Kampf gegen den Fettleib zu bestehen. Der Mann hatte sportlich, schlank und gleichzeitig kräftig zu sein. Die bis dahin entwickelten Bodybuildingschulen mit oder ohne Spezialgerät eigneten sich für die Ausbildung dieser Art der idealen »Männerschönheit« hervorragend und wurden noch weiter präzisiert. An dieser Stelle wird die enge Verstrickung zwischen den einzelnen Körperkulturbewegungen erkennbar. Die Schlankheitsgymnastik in ihren Absichten und Wirkungen Im Gefolge von zunehmender Rationalisierung und Technisierung sank der Anteil der körperlichen Schwerarbeit im Arbeitsprozess. Das wachsende Gesundheitsproblem der »Dickbäuchigkeit« wurde als Folge des neuen »Maschinenzeitalters« aufgefasst. In der Tat stieg der Anteil an sitzenden Tätigkeiten im Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich stark an. In der Großstadt existierten noch kaum Einrichtungen für aktiven Freizeitsport, abgesehen von we-

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nigen Anlagen, die auf Betreiben der Lebensreformer in Form von Freiluft- und Schwimmbädern, Gymnastik- und Spielplätzen sowie Schrebergärten im Entstehen waren.236 Die »moderne Diätetik« der Lebensreformer erforderte neben der Diätreform auch eine Körperreform, die für die individuelle und soziale Gesundheit unabdingbar war, wenn man im ganzheitlichen Sinne »naturgemäß« leben wollte. Das »Übergewicht« stand im offenen Widerspruch zur naturheilkundlichen Gesundheitsauffassung, weshalb Lebensreformer die ersten wirksamen Diät- und Körperkonzepte dagegen entwickelten, bevor sich Mediziner mit diesem Thema intensiv auseinandersetzten. So warnte zum Beispiel die Verfasserin eines auflagenstarken Naturheilführers, Anna FischerDückelmann, vor den Gefahren abnormer Fettleibigkeit infolge von »überreichlicher« Kost und unzureichender Körperbewegung. Sie schlug vegetarische Kost und schwedische Heilgymnastik als Vorbeuge- und Therapiestrategien vor. Schon Ende des 19. Jahrhunderts

Leibesübungen zur Bekämpfung überflüssiger Fettablagerungen Quelle: Garms/Reach (o. J. [1929])

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standen der regelmäßige Wechsel zwischen aktiver Bewegung (z. B. Schwimmen, schwedische Heil- und Zimmergymnastik, ausgiebige Spaziergänge, Calisthenics etc.) und Ausruhen sowie passiver Bewegung (Massage und Bäder etc.) neben der Diättherapie und Wassertrinken auf dem Tagesprogramm in Sanatorien. Wegen des streng geregelten Tagesablaufs sprach Thomas Mann sogar von einem »hygienischen Zuchthaus«. Die Zivilisationsseuche »Übergewicht« wurde als Folge falscher Lebensweise und »Überzivilisation« interpretiert, der entwurzelte Mensch der Moderne sollte durch strenge Diät und intensive Bewegung zu einer gesunden Lebensweise zurückgeführt werden. abb58 An Gymnastiksystemen waren es zuerst die üblichen Calisthenicsübungen, die schwedische Heilgymnastik, Freiübungen oder Zimmerturnsysteme, die die natürlichen Körperformen des degenerierten Menschen wieder ins Lot bringen sollten. Dann kamen seit der Jahrhundertwende die diversen Körperschulen hinzu, z. B. die »Dora-Menzler-Schule«, »Günther-Schule«, »MensendieckSchule«, »Duncan-Schule«, »Schule für Delsartik«, »Hellerauer Körperschule«, »Bode-Schule«, »Gluckerschule« und auch die beschriebenen verschiedenen »Bodybuilding-Schulen«. Dabei war zunächst nur von guter Haltung, Anmut und Grazie der Bewegung und generell von schönen Körperformen die Rede. Man begann anhand von Fotografien Körperfiguren öffentlich zu bewerten und eine »Normalfigur« zu entwerfen, die noch recht individuell variieren konnte, wenn man etwa die weibliche Normalfigur bei Stratz mit der von Mensendieck vergleicht. Erst in den 1920er und 1930er Jahren begann man allgemeingültige Körperideale anhand von Bildern massenwirksam zu propagieren.237 Seit dieser Zeit war der Begriff »Schlankheit« in den Schönheitsratgebern sehr viel häufiger zu lesen. Obschon dieses Schlankheitsideal recht progressiv wirkte, tauchte darin immer noch der ursprüngliche Lebenskraftbegriff der Naturheilbewegung auf, der auch im Schlankheitsstreben das übergeordnete Ziel bleiben sollte. Das »zweckmäßige Körpertraining«, so Glucker, sollte in anatomischer, physiologischer und seelischer Hinsicht zugleich wirken, denn nur die Gesamtheit der körperlichen und geistig-seelischen Leistung des Menschen sei Ausdruck seiner ganzen Lebenskraft.238

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Eine Vorbildfunktion hatten in Bezug auf Gesundheit, Widerstandskraft und Körperschönheit immer noch die »Naturvölker«. Das Naturismusideal wurde zukunftsweisend zum »Vorwärts mit der Natur!« umgewandelt. Das seit der Naturheilbewegung wiedererweckte philosophische Ideal der Vollkommenheit von Körper und Geist blieb unangetastet bestehen. Trotz ihrer Harmonielehre, wonach sich Gesundheit und Schönheit gegenseitig bedingten, hofften die Lebensreformer mit ihren Gymnastikübungen auf eine ganz bestimmte Wirkung, nämlich beim Mann auf Muskelbildung und bei der Frau auf Schlankheit der Körperformen. Die Muskelausbildung sollte nicht einseitig erfolgen, sondern holistisch zur Kraft, Schnelligkeit und Dauerleistung erziehen, d. h. Eigenschaften fördern, die für die moderne Leistungsgesellschaft durchaus brauchbar waren. Schönheit sei kein Zustand, hieß es, sondern ein Tun und Wirken. Der Namensgeber der berühmten großstädtischen »Schrebergärten« war zugleich auch der Erfinder erster moderner »Fitnessgeräte«. Die von ihm konstruierten Heilapparate »Werde gesund« und »Sanasat« dienten bereits Ende des 19. Jahrhunderts in Kuranstalten der aktiven Körpergestaltung. Um 1900 waren es dann die lebensreformerischen Körperschönheitsenthusiasten, die modernes Trainingsgerät für Widerstandsübungen zwecks schlankerer Körperformen entwickelten, wie z. B. den sehr beliebten »Autogymnasten« mit zahlreichen Spezialübungen für das allseitige »Körperstählen« oder den »Ergostat«.239 Schließlich folgte in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts der »Olympia-Maximator«, der bereits bei jungen Leuten vorbeugend gegen Fettablagerungen zum Einsatz kommen sollte. Neben diesen Geräteübungen wurde eine neue spezielle Schlankheitsgymnastik entwickelt. »Schlank werden – schlank bleiben auf natürlichem Wege ohne Entbehrungen« hieß das neue Credo der modernen Lebensreform der 1920er Jahre.240 Das Hauptargument für das Schlankheitsideal war die Gesundheit, deren Erhaltung schließlich die soziale Pflicht eines jeden Einzelnen sei: »Wer seine Gesundheit und Leistungskraft erhalten will, muß daher unbedingt sorgen, schlank zu bleiben oder wieder schlank zu werden.«241 Statt von Lebenskraft sprach man hier interessanterweise nun von »Leistungskraft«. Als Hauptursachen für Korpulenz oder Fett-

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leibigkeit wurden zu geringe Körperbetätigung, Bewegungsmangel, sitzende Lebensweise, falsche Ernährung, Drüsenstörungen und Hormonumstellungen bei der Frau verantwortlich gemacht. Grundbedingung für den Erhalt einer schlanken Körpergestalt sei die laufende Kontrolle von Gewicht und Körperumfang. Selbst unmerkliche Veränderungen der Körperformen führten zur Schädigung der Gesundheit und Schönheit, weil sie die gesetzmäßige Ordnung des Körpers beeinträchtigten. Das bedeutete, dass auch die Gymnastik zur Ordnungstherapie gehörte.242 Spezialübungen für einzelne Körperteile, die besonders vom Fettbefall betroffen waren, wurden beschrieben, z. B. Übungen zur Beseitigung von starken Hüften, Fettansatz am Gesäß, im Nacken und in der Schultergegend, Übungen gegen dicke Oberarme, starken Nacken, starke Oberschenkel und gegen zu starke Fesseln, Übungen zur Beseitigung des Doppelkinns und des Fettbauchs. abb61 Knet- und Streichmassage, Massage der Brust und der Haut, später auch die elektrische Vibrationsmassage der Ober- und Unterschenkel gehörten zum Ergänzungsprogramm ebenso wie die »Atmungsgymnastik«. Bauch-, Lenden- und Vollatmung konnten angeblich einen Hängebauch sowie Darm- und Stoffwechselstörungen beseitigen, die Brust straffen und den Rücken strecken. In vielen Schlankheitsgymnastikbüchern wurden ferner Diättipps gegeben, z. B. eine einfache und natürliche Kost mit reichlich Gemüse und Obst und unter möglichst starker Einschränkung von Fleisch und Salz. Meist lag ihnen eine der geschilderten Diätreformbewegungen zugrunde, wie z. B. die Haigsche Harnsäureverschlackungstheorie mit der Nährsalzbewegung.243 Der Lebensreformer Louis Bastheim identifizierte in seiner »Schlankheitsgymnastik« zwei Ursachen für die zunehmende Überernährung, erstens einen steigenden Bewegungsmangel infolge von »Überzivilisation« und zweitens ein kulturell gestörtes Hungergefühl durch »falsches Kauen« und »falsche Ernährungserziehung«. Er riet zu vier Schlankheitsmitteln, die den Metabolismus und die Ausscheidung überschüssiger Nahrungssubstanzen beschleunigen sollten: Wasser, Rohkost, Fasten und Massage, dazu allgemeine Leibesübungen.244 Die deshalb von ihm so benannte »Ausgleichsgymnastik« wurde auf der Grundlage bereits existierender körperhy-

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Elektrische Vibrationsmassage zur Reaktivierung von Körperfett in den Beinen Quelle: Berliner illustrirte Zeitung, 37 (1928)

gienischer Übungen aufgebaut. Das Ziel seiner Bemühungen war eine »geschmeidige Schlankheit«, denn gleichzeitig sollte auch die Grazie und Anmut der Bewegungen durch Körpertraining geschult werden, wie dies zuvor in der englischen »Calisthenic« der Fall gewesen war.

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Im Zuge des sich wandelnden Gesundheitsinteresses, der Einführung der »schlanken Linie« in die Mode und der aus England kommenden Sportbewegung trat um die Jahrhundertwende das Schönheitsideal eines durch Leibesübungen wohlgeformten, schlanken Körpers hinzu. Die anfangs nur aus gesundheitlichen Gründen entstandenen gymnastischen Übungen wurden zur betonten »Schlankheitsgymnastik« bzw. zur »Gymnastik als Kalorienmörder«, wie der Titel eines Gesundheitshelfers lautete, umfunktioniert. Diese ersten spezifischen »Schlankheitsratgeber« stammten ebenso wie die zahlreichen Diätlehren aus lebensreformerischen Kreisen. Sie wurden in erster Linie als natürliche Gesundheitsführer verstanden, da bereits vor dem Eintritt krankhafter »Fettsucht« dem Übergewicht vorgebeugt werden sollte. Das Bewahren einer »normalen Gestalt« wurde quasi zur bürgerlichen Pflicht der modernen Leistungsgesellschaft erklärt. Der Körper wurde als Arbeitsinstrument zum Verdienen des Lebensunterhalts, aber auch als Medium des Lebensgenusses verstanden, dessen Nachlassen eine Einbuße an Lebensfreude zur Folge habe. Ein »bewußteres Gesundsein« müsse an die Stelle der Unkenntnis über die einfachsten Regeln der Gesunderhaltung und der Hilflosigkeit bei kleinsten Störungen des Wohlbefindens treten. In den USA war die Körperpflege durch Gymnastik bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem früheren Einsetzen einer allgemeinen Gesundheitswelle zu einem Massenphänomen geworden, sodass in deutschen Schlankheitsbüchern gerne mit einem Fingerzeig auf Amerika hingewiesen wurde, weil man hoffte, auf diese Weise den Prozess auch in Deutschland ankurbeln zu können. Schlankheit wurde als »innere Körperpflege« gesehen, die nicht übertrieben und der jeweiligen Konstitution angepasst werden sollte. Eine »gesundheitliche Schlankheitsreform« war die Lebensphilosophie, die das Übergewichtsproblem durch eine gesamtnatürliche Lebensweise lösen sollte. Sie zielte auf die »Normalfigur«, d. h. die der individuellen Konstitution entsprechende Körpersilhouette, ohne Orientierung an einem übertriebenen Modeideal. Dabei blieb das klassisch-griechische Körperideal stets Vorbild. Mäßige, überwiegend vegetarische Vollwertkost in Verbindung mit reichlichem Kauen und zeitweiligem Fasten, Körperpflege durch Licht-Luftbä-

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der, bewegungsfreundliche Kleidung bzw. Abschaffung des Korsetts, Atemgymnastik und Sport als körperliche und geistige Erziehung245 waren die lebensreformerischen Patentrezepte bei dem Appell an die »schmerbauchverseuchte Industriegesellschaft«246, der da lautete: »Weg mit dem Körperfett!« abb 63 Einige der Schlankheitsratgeber setzten ihren Schwerpunkt auf den Sport: »Der Sport ist es, […] der uns den Typ des schlanken, geschmeidigen, sehnigen Sportmenschen, sowohl des Sportsmannes, als auch des Sportgirls geschenkt hat […].«247 Der Sport sei »nicht allein ein Bringer der Gesundheit und schöner Gestalt, sondern auch ein Förderer anständiger, fairer Gesinnung«, die man in Deutschland sowohl im privaten als auch im politischen Leben gut gebrauchen könne. Andere legten mehr Gewicht auf die »natürliche Ernährungsweise«.248 Während die Ernährung in erster Linie dem Aufbau des Körpers und dem Erhalt seiner Funktionen diene, seien Körperpflege und Gymnastik hauptsächlich dazu da, die Ausscheidung des Überschusses an Nahrung und der durch das Verbrennen der Nahrungssubstanz erzeugten Gifte aus dem Körper zu befördern. Körperpflege und Gymnastik sollten wie eine »naturgemäße Diät« die gefährliche »Schlackenbildung nach Haig« verhindern, vermeintlich Hauptursache aller Krankheiten. Nach Meinung der Lebensreformer konnte nur eine Reform der gesamten Lebensweise und eine Mentalitätsveränderung in der Einstellung zur Ernährung und zum Körper zu einem gesunden und schlanken Körper führen. Die Abschaffung falscher, in der Gesellschaft herrschender Vorurteile war für sie die Hauptbedingung für das Wirksamwerden ihrer ersten Schlankheitstipps. Kritisiert wurden die Entfettungspillen und Abführmittel, die erhebliche Gesundheitsschäden hervorrufen konnten, da sie die Verdauung schädigten und deshalb nur zeitlich begrenzt anwendbar waren. Die »Verfahren des Entfettungsstuhles« gehörten zu den damals üblichen, medikamentösen Praktiken zahlreicher renommierter Diätkuranstalten, z. B. in Karlsbad. Es war aber auch bereits bekannt, dass solche Methoden zwar eine schnelle Gewichtsreduktion hervorriefen, aber nur von vorübergehender Wirkung waren, was heute mit dem Begriff »Jojo-Effekt« umschrieben wird. Nur eine stetige Körperpflege mit gesunder Ernährung sowie gymnastischer

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Titelblatt der Schrift »Weg mit dem Körperfett!«; Quelle: Garms/Reach (o. J. [1929])

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und sportlicher Betätigung könne zum fortdauernden Erfolg einer »natürlich schlanken Figur« führen.249 Ein weiteres gesellschaftliches Vorurteil, das nach Bastheims Ansicht zu beseitigen war, bestand in der Meinung, jeder könne rank und schlank werden, wenn er nur wolle. Er wies eindringlich auf das Problem der genetischen Vorbestimmung von Körperkonstitutionen hin, das häufig bei der Frage nach geeigneten Entfettungsmethoden unberücksichtigt blieb. Das Ideal war eine »gesunde Schlankheit«, die durch Wiederherstellung des natürlichen Gleichgewichts des Körpers erzielt werden sollte. Oberstes Gebot blieb die Mäßigkeit in allen Lebensbereichen. Dem Körper sollte nur so viel Nahrung zugeführt werden, wie er gerade benötigte. Wichtigster Gesundheitswegweiser sei dabei das natürliche Hungergefühl, der Appetit, der genau sage, was, wann und wie viel man essen solle. Wenn man von frühester Kindheit an dazu erzogen worden wäre, diesem Führer gewissenhaft zu folgen, dann besäßen gewiss alle eine normale Gestalt, und es läge keine Veranlassung vor, Lehren zu verbreiten, wie sie zu erlangen sei. Bastheim betonte die Ernährungserziehung mit dem Argument, der Allgemeinheit fehle das nötige Verständnis für das Ernährungsproblem »Übergewicht«. Nach wie vor bestehe bei den Eltern die Ansicht, dass ihre Kinder besonders nahrhafte Speisen und möglichst viel davon zu sich nehmen sollten. Die natürliche Neigung der Kinder nach den für die Ausscheidung so notwendigen ungekochten Nahrungsmitteln wie rohen Wurzeln, rohen Kräutern und rohem Obst würde systematisch von klein auf unterdrückt. Schuld daran sei der frühere »Gelehrtenstreit« der Ernährungswissenschaftler, bei dem man sich lange nicht darüber einig gewesen sei, ob Obst ein Genuss- oder ein Nahrungsmittel sei, was zur Verunsicherung der Bevölkerung beigetragen habe.250 Dabei sei ein Nahrungsmittel, wie es direkt aus der Natur komme, ohne Zweifel »von außerordentlicher Wichtigkeit für das Wohlbefinden«251, meinte der Lebensreformer Bastheim. Glücklicherweise habe sich aufgrund der Entdeckung der lebensnotwendigen physiologischen »Salze« und der Vitamine in ungekochten Vegetabilien eine Wandlung zum Besseren vollzogen. Nun sei endlich der Wert vorwiegend vegetarischer Kost erkannt worden. Im Folgenden wiederholte Bastheim die bereits bekannten Ma-

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ximen der Ernährungsreformer, d. h. er unterstrich die Wichtigkeit der »Nährsalze« und der Vitamine als lebensnotwendige Bestandteile menschlicher Nahrung, empfahl den Appetit als natürlichen Ernährungsregler, betonte die Bedeutung des richtigen Kauens der Nahrung und riet zu zeitweiligem Fasten in Kombination mit Einläufen, reichlichem Wassertrinken und Rohkost zur inkorporalen Reinigung von Stoffwechselschlacken über Darm, Nieren und Leber. Ballaststoffreiche Frühstücksspeisen (Birchermüsli, KollathFrühstück, Kelloggs’ Cornflakes), Porridge und kleiehaltiges, grobes Brot (Steinmetzbrot, Grahambrot, Simonsbrot) seien Grundlagen für einen gesunden und damit schlankheitsfördernden Lebensstil. Als weiteres Mittel zur Förderung des Stoffwechsels nannte Bastheim die äußere Körperpflege durch Massage. Wegen der körperlichen Anstrengung sei die Eigenmassage ratsam.252 Strecken, Dehnen des Körpers, Kneten, Reiben und Abklopfen des Ober- und Unterschenkels, Massage des Leibes zur Anregung der Magen-, Darmund Leberfunktion, der Brust zur leichten Steigerung der Atmung, des Rückens und der Hüften zur Förderung der Nierentätigkeit sollten obligatorisch zur Morgentoilette gehören. Anschließend sollten gymnastische Übungen folgen, wie Drehung der Hände und Fußgelenke im Bett, Schleudern der Hände und des Unterarmes unter Anwendung von Muskelkraft und Drehen des Halses sowie mehrmaliges Heben des Oberkörpers bei gleichzeitiger Ruhelage des Unterkörpers zur Stärkung der Bauchmuskulatur. Nach dem Aufstehen sollten das Hochwerfen der Arme aus dem Oberarmgelenk, Massage des Rückens, der Arme, der Beine und der Brust durch Strecken mit gleichzeitiger Rumpfbeugung und Tiefatmung nach »Müllers System« geübt werden. Es folgten dann Beinübungen, wie Schleudern und Hochwerfen der Beine, Rumpfbeugen und Rumpfkreisen mit gleichzeitigen Armübungen.253 Auch Dehnübungen sollten zum morgendlichen Trainingsrepertoire gehören, z. B. das Anlehnen an einen Gegenstand und Pressen des Körpers durch Anspannen aller Muskeln zur Förderung des Blutumlaufs. Nach der Gymnastik sollte eine kurze Ruhepause eingelegt werden; Stuhlgang, Bad oder Ganzwaschung, kosmetische Behandlung der Haut und Ankleiden sollten folgen. Der Autor beschloss den gymnastischen Teil mit dem Hinweis,

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dass er nur die unbedingt notwendigen Übungen und diese mit Absicht ohne genaue Zahlenangaben genannt habe, da sie erst mit wenigen Wiederholungen durchgeführt und dann stufenmäßig in der Zahl gesteigert werden sollten. Spezialübungen für den Beruf konnten eingelegt werden, frei nach eigener Phantasie; d. h. die einst statischen und militärisch-drillhaften Übungen sollten vom freien Tanz und von improvisierten gymnastischen Übungen ersetzt werden. Denkende Menschen brauchten keine genauen Vorschriften. Es reiche die reine Selbstbeobachtung des Körpers, ein verändertes Bewusstsein für den Körper. Bastheims Meinung war: »Wir müssen unseren Körper kennen lernen.«254 Dieses neue Körpergefühl kennzeichnete die zweite Phase der modernen Schlankheitsgymnastik, die von den ausdrucksstarken und rhythmischen Bewegungen des Tanzes und der Gymnastik der 1920er Jahre geprägt war. Für Bastheim als Lebensreformer war es eine Selbstverständlichkeit, dass die Gymnastik entweder in unbekleidetem Zustand vorzunehmen war oder dass zumindest bei der Kleidung alle hemmenden, einengenden Vorrichtungen fehlen sollten. Naturgemäße Schlankheit herrsche nur da vor, wo das natürliche Bedürfnis des Körpers nach Bewegung genügend befriedigt werde. Den Kraftsport mit seinen übertriebenen Muskelpaketen verwarf er als unnatürlich. »Fitneß« und »geschmeidige Schlankheit« sollten durch die Bewegungen des Tanzes, besonders aber durch die gymnastischen Vorübungen zum Tanz erzeugt werden. Zusätzliche Berücksichtigung fanden die Pflege der Haut mit natürlichem Sonnenlicht oder UV-Lampe, tägliche Luftbäder und die Atemgymnastik. Ideale Schlankheit sah Bastheim in der amerikanischen Ausdruckstänzerin Ruth St. Denis verkörpert, weshalb er ein Foto von ihr für das Titelblatt seiner Schrift auswählte. Er erklärte sie zur »formvollendetsten Frau Amerikas« und zum Schlankheitsvorbild für deutsche Frauen. Ein anderes Schlankheitsgymnastikbuch verfassten der Naturarzt Friedrich Wolf und die Leiterin der »Gymnastikschule BadenBaden« Lisa Mar. »Schlank und Gesund: Ein natürlicher Weg zur Beseitigung heutigen Kultursiechtums« erschien im Jahr 1928 in einer Auflage von 20 000 Exemplaren. Der Schlankheitsratgeber war Bestandteil der Lebensreformreihe »Lebensbücher des modernen

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Menschen«, in der noch weitere frühe Schlankheitsratgeber erschienen, z. B. »Die Korpulenz eine Gefahr«, »Schlank werden: Schlank bleiben« oder »Körperschönheit durch Körpertraining«. abb65 »Schlank und Gesund« war in sozialreformerischer Intention geschrieben. Übermäßige Körperfülle wurde zu einem sozialen Makel der Gesamtgesellschaft deklariert und das »Schlanksein« mit positiven Konnotationen und Wertvorstellungen belegt.255 Es wurde mit Jugend, Leistungsfähigkeit, Erfolg, Energie, Gesundheit und langem Leben assoziiert, während der »Dicke« mit negativen Konnotationen und Krankheiten in Verbindung gebracht wurde. Der Körper wurde für die moderne Leistungsgesellschaft instrumentalisiert und der Fettleib von einer naturorientierten Gegengesellschaft problematisiert. Die nachfolgende Abbildung stammt aus der Schrift »Iß gut und bleib schlank!« (um 1926): Die in dem Schönheitsratgeber von Mar und Wolf beschriebene Schlankheitskur wurde dem Leser als »natürliche Verjüngungskur« verkauft. Ganz im Sinn der Naturheilkunde sollte der Basenreichtum der ungekochten vegetarischen Nahrung anfangs nur möglichst lange gesund und jung erhalten, jetzt sollte er zusätzlich schlank machen.256 Wie sich unschwer erkennen lässt, stammte auch diese »Bewegungsdiätetik« aus der Naturheilbewegung. Nicht die Leibesfülle machte mehr einen gesunden, starken Mann aus, sondern »der Sporttyp« mit seiner schlanken, beweglichen, gestählten Figur.257 Mar und Wolf differenzierten genau, welche Art von Fettsucht ihr Schlankheitsratgeber zu heilen vermochte, nämlich nicht die von angeborenen Drüsenstörungen verursachte Adipositas, sondern lediglich die infolge falscher Ernährung, übermäßiger Flüssigkeitszufuhr, mangelnder Bewegung, schlechter Darm- und Hauttätigkeit im Unterhautgewebe auftretende Fett- und Flüssigkeitsansammlung. Diese »Kultursünden« erzeugten Krankheiten wie harnsaure Diathesen (Rheuma, Gicht, Nervenentzündung, Migräne), die im weiteren Verlauf zu Herzstörungen, Gefäßerschlaffung, Arteriosklerose, Nierenentzündung mit Blutdrucksteigerungen und Schlaganfällen führen. »Eiweißmast«, Überernährung und »Muskelfaulheit« Titelblatt des Schlankheitsratgebers »Die Korpulenz eine Gefahr« ' Quelle: Reicher (1931)

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wurden als Hauptursachen moderner Zivilisationskrankheiten kritisiert. So wurden sie auch als Auslöser für die zahlreichen Krebsleiden gesehen, die gerade in den hochindustrialisierten Ländern rapide angestiegen seien.258 Der Krebs wurde entsprechend der Haigschen Schlackentheorie als chronische Selbstvergiftung des Körpers über den Darm interpretiert. Zu heilen seien der Krebs und alle anderen genannten Krankheiten ausschließlich über eine Umstellung der Lebensweise durch moderne Diätbehandlung mit Rohkost, Hydrotherapie und Gymnastik. Mar und Wolf begründeten nochmals den gesundheitlichen und erzieherischen Wert der »Nacktübung« und rezipierten die praktischen Erfahrungen des Berliner Gründers der »Deutschen Hochschule für Leibesübungen« August Bier, die er in seiner Lichtluftheilanstalt für Lungenkranke in Hohenlychen machen konnte. Bier hatte beobachtet, dass durch das Freiluft- und Sonnenbaden in Kombination mit physischen Übungen die »Dicken« ihr Fett verloren und an Muskeln gewannen, die Mageren an Fett und Muskeln zunahmen, die Blutarmen nach Menge und Zusammensetzung besseres Blut bekamen und die Körperformen an Schönheit und Brauchbarkeit gewannen. Diese Therapien würden den gesunden und der natürlichen Konstitution angepassten »schlanken« Körper ausformen, da die Gymnastik, regelmäßig und planvoll durchgeführt, eine Verbesserung des Blutumlaufes und des Stoffwechsels bewirke.259 In Schönheitsratgebern des 19. und 20. Jahrhunderts ließen sich ebenfalls zahlreiche Anleitungen zur Schlankheitsgymnastik finden. Sehr interessant gestalteten sich die unterschiedlichen Beurteilungen der verschiedenen Gymnastiksysteme durch die jeweiligen Autoren, je nachdem, welcher der »verfeindeten« Parteien sie angehörten, ob der lebensreformerischen oder der medizinischen Seite. Manche nahmen wie schon im Schulmedizin-Naturheilkunde-Konflikt, in der Eiweißdiskussion oder im Entfettungsmethodenstreit eine neutrale Position ein, da sie sowohl lebensreformerisch überzeugt als auch universitär gebildet waren. Auf weitreichende Zustimmung, auch von ärztlicher Seite, stieß das reformerische »MensendieckSystem«, das allgemein als gesundheits- und schönheitsfördernde Gymnastik anerkannt wurde.260 Das Mensendieck-System war eine

Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder«

Spezialgymnastik, die primär Körperschlankheit bezweckte. Sie kennzeichnete bereits die dritte Phase, die Spezialisierungszeit der modernen Schlankheitsgymnastik. Hingegen wurde das »body building« aus medizinischer Sicht teilweise als bedenklich eingestuft, da der gesundheitliche Aspekt hier zusehends ins Hintertreffen geriet und meist nur noch auf eine möglichst effektive und schnelle Gewichtsabnahme abgezielt wurde. Die damalige Kontroverse war der heute noch anhaltenden »Bodybuilding«-Diskussion in der Heftigkeit schon recht ähnlich. Daneben fanden sich auch eigenständig entwickelte Körperschönheitssysteme, die zur Begründung ihrer »einzig wahren Methode« zur Erzielung einer schlanken Körpergestalt andere Gymnastikschulen durch gezielte Kritik als Konkurrenz auszuschalten versuchten, mit Bemerkungen wie: »Durch das neue Verfahren werden alle sonstigen ›Methoden‹ oder ›Systeme‹ in den Schatten gestellt.«261 Hier lässt sich wieder eine Parallele zu den alternativen Diättheorien ziehen. Auch bei den Körperschulungssystemen existierten viele verschiedene Theorien bzw. Konzepte nebeneinander. Wohlfarths Buch »Das neue Verfahren zur Wiedererlangung schlanker Hüften und zur Beseitigung des Fettleibes ohne Apparat und ohne fremde Hülfe« beschränkte sich z. B. auf spezifische Methoden und die Behandlung einzelner Körperteile. Ihr Schlankheitsbuch unterschied zwischen äußeren und inneren Fettschichten. Zur Beseitigung des äußeren Körperfetts empfahl sie lokale Spezialmassagen, kalte Waschungen und Leibumschläge. Zur Beseitigung des inneren Fetts beschrieb sie verschiedene Atemtechniken, die sich auch in anderen Gymnastikratgebern jener Periode fanden. Das Buch »Die Schönheit des Menschen: Ihr Schauen, Bilden und Bekleiden« des deutschen Arztes Johannes Grosse besaß dagegen gleich zwei gesonderte Kapitel zur »Formenschönheit«. Er plädierte für eine »ästhetische Gymnastik« oder »Gymno-Ästhetik« zur Ausbildung weiblicher Körperschönheit. Das besondere Vorbild für diese Gymnastikart stellte für ihn das System von Bess Mensendieck dar, das er an einer Stelle zitierte und dann schrieb: »Nicht nur die Gesichter sind im Ausdruck verschieden, sondern auch die Körper.«262 Er stellte das »Gesetz der parallelen Abhängigkeit von Körper und Seele« auf, mit dem er den Körper als Abguss der in-

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20. Jh.

Jugendkult

Wandervogel-/ Jugendbewegung Jugendstilbewegung

Jahrhundertwende

2. Hälfte 19. Jh.

1. Hälfte 19. Jh.

Gedanklicher Überbau 18./19. Jahrhundert

Diätreformbewegungen

Aktuelles Schönheitsideal eines jungen, sportlichen, schlanken Körpers

Schlankheitskult

Kleiderreformbewegung (einschließlich emanzipatorischer Bestrebungen) u. Mode

Sport- und Fitneßkult

Gymnastik-/ Sport-/ Tanzbewegung

Deutsche Lebensformbewegung mit ihren verschiedenen Körperformbewegungen

Freilicht-/Luft-Therapie

Deutsche Naturheilkundebewegung

Naturismus

Körperkult

Körperkulturbewegung (einschließlich sexualreformerischer Ambitionen

Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder«

neren Seelenform, als »Plastik der Seele« beschrieb. Er ging von der »These einer Physiognomie des Gesamtkörpers«, einer stillen Sprache des Leibes aus und glaubte, von den Körperformen auf den geistigen und seelischen Zustand einer Person schließen zu können. Eine Synthese des Inneren mit dem Äußeren, die schließlich zu einer Harmonie zwischen Mikro- und Makrokosmos führen könne, war die erklärte Absicht eines Daseins auf Basis der Körperreform: »Mehr Körper, mehr Schönheit in unsere Seelen, mehr Seele, mehr Schönheit in unseren Leib! Beginnen wir allererst mit der Körperverseelung, dann folge Sitte und Kultur!«263 Festzuhalten bleibt, dass die ersten Schlankheitsführer und anderen Ratgeber zur Körperschönheitspflege alle aus dem Kreis der Lebensreformer stammen. Diese hatten offenbar das Schlankheitsmetier als Marktlücke schon um die Jahrhundertwende erkannt, da Fettleibigkeit und der propagierte neue natürliche Lebensstil miteinander unvereinbar erschienen. Der moderne Mensch im Industriezeitalter hatte sich in der Wettbewerbsgesellschaft möglichst lange gesund, jung und leistungsfähig zu erhalten. Die angeblich rückwärtsgewandten, fortschrittsfeindlichen Lebensreformer arbeiteten vielleicht unbewusst diesem Trend entgegen. Drei Kategorien von Schlankheitsgymnastikbüchern lassen sich unterscheiden. Die Bücher der Frühphase griffen auf altbewährte Heilgymnastiksysteme wie die schwedische Heilgymnastik oder das »Müllern« zurück. Körperliche Bewegung in Licht, Luft und Wasser sowie Rohkosternährung wurden zum bewussten Lebensstil erkoren. Um 1900 wurden dann die alternativen Bewegungskonzepte der lebensreformerischen, ausdrucksstarken, körperbildenden Gymnastik- und Tanzschulen für die Schlankheitsführer entdeckt. Sie enthielten alternative Bewegungskonzepte vermengt mit der »modernen Kalorienlehre«.264 Körperaktivität sollte zusätzlich zur kalorienreduzierten Diät den Stoffwechselumsatz und damit den Fettverbrauch steigern. Schließlich setzte die dritte Phase der modernen Schlankheitsgymnastik, ihre Spezialisierungsphase, ein, d. h. es wurden besondere Übungen gegen den Fettleib, dicke Beine und  Lebensreformerische Bewegungen und ihr Einfluss auf die Entstehung des modernen Körperideals; Entwurf: Sabine Merta

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Zur Renaissance einer ganzheitlichen Körperkultur

Arme, das Doppelkinn und ein übermäßiges Gesäß entwickelt.265 Neben den besonderen Schlankheitsratgebern beschäftigten sich auch allgemeine Schönheitsratgeber mit dem Schlankheitsproblem, indem sie Anleitungen zur inneren und äußeren Schönheitspflege mittels einer regelmäßigen und geordneten Lebensweise266 oder mittels gefährlicher Entfettungspillen gaben. Auch einige wenige Schlankheitsratgeber aus ärztlichen Kreisen waren zu finden267, die neben Diät und Körperbewegung Abführmittel und Schilddrüsenpräparate oder medizinische Entfettungsmethoden (einseitige Fleischdiät) empfahlen.268 Vermutlich standen diese Mediziner als Kurärzte in Marienbad oder an Spezialkliniken unter dem Zwang, schnellere Entfettungserfolge vorweisen zu müssen, selbst wenn die zugrundeliegenden Methoden nachweislich gesundheitsschädlicher waren.

1 Volksgesundheit 37 (1927). 2 Andritzky/Rautenberg (1989), 16 f. 3 Kiesewetter (1908), 12. 4 Seitz (1923), 25. 5 Rikli (1869), V; Rikli (1877), 1. 6 Rikli (1869), 1. 7 Rikli (1869), 7. 8 Rikli (1869), 48. 9 Nikola (1921); Griebel (1897); Ziegelroth (1907); Satow (1911). 10 Lahmann (1898). 11 Sportluftbad (1906), 12. 12 Siehe z. B. Lahmann (1898), 23. 13 Pudor (1906a), 19. 14 Diefenbach (1907). 15 Guttzeit (1893), Vorwort. 16 Guttzeit (1908), 41, 52. 17 Vossen (1956), 5 f. 18 Pudor (1893). 19 Kästner (o. J. [um 1910]), 7, 12, 19; Knortz (1920), 5; Seitz (1923), 10, 17. 20 Pudor (1906a), 22.

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

37 38 39

Pudor (1893), 11–22. Pudor (1906b), Bd. I, 15. Pudor (1906b), Bd. II, 12 f. Pudor (1906b), Bd. I, 49. Seitz (1923), 12 ff. Seitz (1923), 23. Keidel (1909), 4. Keidel (1909), 6. Erdmann-Ziegler (1990), 14. Vgl. hierzu Schurtz (1891). Vgl. z. B. Ungewitter (1919). Ungewitter (1913), 5, Abb. 3, 4, 9, 31, 37, 38, 51. Köhler (1985), 343. Leibesvisitation (1990), 26. Metzler (o. J. [um 1900]). Menzler (1924a); Menzler (1924b); Glucker (o. J. [um 1925]); Primrose/Zepler (1906). Andritzky/Rautenberg (1989), 17 f. Andritzky/Rautenberg (1989), 17 f. Pudor (1906a), 23–31.

Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder«

40 Zitiert nach Pudor (1906b), Bd. I, 18 f. 41 Vossen (1956), 6. 42 Pudor (1906a), 34. 43 Vossen (1956), 8. 44 Vossen (1956), 9 ff. 45 Kästner (o. J. [um 1910]), 8. 46 Vossen (1956), 12. 47 Schulze (1927). 48 Erdmann-Ziegler (1990), 22–25. 49 Strässer (1981), 53 f. 50 Surén (1927), 9–14. 51 Seitz (1923), 97–100. 52 Erdmann-Ziegler (1990), 8. 53 Koch (1924), 117. 54 Koch (1924), 89. 55 Vossen (1956), 22. 56 Vossen (1956), 26. 57 Erdmann-Ziegler (1990), 25–27. 58 Köhle-Hezinger/Mentges (1993), 142. 59 Vgl. dazu etwa Thiel (1980) oder Boehn (1963), 207–211. 60 Welsch (1996), 7. 61 Salzmann (1788), Nr. 181. 62 Wolter (1994), 32 f. 63 Siehe Jones (1870), 5. 64 Siepmann (1978). 65 Wolter (1994), 57. 66 Reformkleidung (1912), 195. 67 Siehe zur Oberbekleidung Newton (1974), zur Unterbekleidung Willett/Cunnington (1981). 68 Welsch (1996), 33. 69 Neustätter (1903). 70 Vgl. z. B. Mohrbutter (1904). 71 Neustätter (1903), 105. 72 Vgl. z. B. Neustätter (1903), 14. 73 Reformkleidung (1902/03), 281 f. 74 Reformkleidung (1902/03), 281. 75 Krapf (1934), 62. 76 Jaeger (1885a). 77 Jaeger (1977), 40 ff.

78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

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Jaeger (1885b), 59. Jaeger (1977), 33. Jaeger (1885b), 76. Jaeger (1977), 9. Jaeger (1977), 32 f. Vgl. hierzu Köhle-Hezinger/ Mentges (1993), 173–192. Das Mitteilungsblatt (1886), 8. Newton (1974), 99. Newton (1974), 89–115. Lahmann (1903), 53. Lahmann (1903), 10–22. Lahmann (1903), 123 f. Spener (1897). Reformkleidung (1912), 198. Siehe z. B. Mohrbutter (1904), 85 f. Kiesewetter (1908), 12. Schultze-Naumburg (1904), 83 ff. Schultze-Naumburg (1904), 15. Thiele (1903); Jaeger/Jaeger (1906); Stratz (1898); Stratz (1904). Reformkleidung (1912), 200. Schultze-Naumburg (1904), 59. Watt (1903), 4–6. Gummert/Stryovski-Bädeker (1906), 19. Mohrbutter (1904), 85 f.; Reformkleidung (1912), 198. Velde (1900). Velde (1902), 366. Reformkleidung (1912), 200. Siehe Fraisse/Perrot (1994). Wolter (1994), 90 f. Blätter für Volksgesundheitspflege (1901), 341 ff. Adamek (1982), 157 ff. Reformkleidung (1912), 199. Zitiert nach Wolter (1994), 95. Wolter (1994), 216. Wirminghaus (1916); Sander/ Wirminghaus (1916).

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Zur Renaissance einer ganzheitlichen Körperkultur

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Rothschuh (1983), 106–109. Grob (1985), 91. Andritzky/Rautenberg (1989), 21. Schultze-Naumburg (1904), 49 ff. Für und Wider (1903), 29. Für und Wider (1903), 18. Heszky (o. J. [1900]), 3. Wolter (1994), 100. Vgl. hierzu Lehnert (1996). Habermas (1990), 167. Saint-Laurent (1986), 147. Samson (1927/28), 254, 256. Platen (1899), 390. Giese (1928). Adamek (1982), 102. Wetterich (1993), 13 ff. Hartmann-Tews (1996), 57 f. Vgl. z. B. Werner (1834). Vgl. Nielsen (2000). Siehe hierzu Ueberhorst (1980), 350–412. Ueberhorst (1980), 356. Zitiert nach Fischer/Brix (1997), 54. Grosse (1912), 267. Kelch (1898b), 228. Stratz (1907), VIII. Adelfels (o. J. [um 1893]), X. Grosse (1912), 286. Diem (1930), 99–104. Grosse (1912), 264 f. Nietzsche, zitiert nach Grosse (1912), 279. König (1989), 41. Vgl. z. B. Fuller (1750) oder Tissot (1782). Zitiert nach Diem (1930), 63. Tissot (1782), 17 f. Tissot (1782), 43–98. Tissot (1782), 99–138. Fischer-Dückelmann (1908), 656. Diem (1930), 213.

151 Vgl. Lion (1868) oder Möller (1899). 152 Zur Entstehung des Leistungssports siehe Ueberhorst (1982), 679 f. 153 Angerstein/Eckler (1899). 154 Zitiert nach Ueberhorst (1980), 570. 155 Blasis (1820). 156 Oberzaucher-Schüller (1992), 16 f. 157 Oberzaucher-Schüller (1992), 28. 158 Vgl. hierzu Stebbins (1885). 159 Diem (1930), 105. 160 Vgl. MacKaye (1927); Stebbins (1892). 161 Shawn (1974). 162 Ueberhorst (1980), 572–593. 163 Oberzaucher-Schüller (1992), 3. 164 Hedinger (o. J.), 79–85, 92. 165 Mensendieck (1923). 166 Primrose/Zepler (1906), 28. 167 Ueberhorst (1980), 574; Oberzaucher-Schüller (1992), 29. 168 Kallmeyer (1910), 76 ff. 169 Ueberhorst (1980), 574. 170 Vgl. Giese (1928). 171 Oberzaucher-Schüller (1992), 95–115, 143–165. 172 Vgl. z. B. Bastheim (1925); Glucker (o. J. [um 1928]). 173 Oberzaucher-Schüller (1992), 38. 174 Vgl. Eggebrecht (o. J.), 8 ff. 175 Vgl. Storck (1912). 176 Vgl. Diem (1930), 108–110; Oberzaucher-Schüller (1992), 35–69. 177 Berchtold (1965), 96. 178 Bode (1933), 20. 179 Bode (1933), 5–9. 180 Krabbe (1989), 431–461. 181 Bode (1933), 9. 182 Vgl. Primrose/Zepler (1906) mit Bastheim (1925).

Körperkulturbewegungen als »Pfadfinder«

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Vgl. Hermand (1971), 362 ff. Vgl. z. B. Tepp (1919). Ueberhorst (1980), 588. Vgl. Ueberhorst (1980), 588. Vgl. Bloch (1926). Vgl. hierzu Lämmel (1928), 75. Oberzaucher-Schüller (1992), 105–115. 190 Vgl. Laban (1920). 191 Siehe Laban (1920). 192 Iß gut (o. J. [um 1926]), 20. 193 Vgl. Simons (1912), 31–42. 194 Otto (1912/13), 143–169. 195 Ernst Ferand nannte sich auch Ferand-Freund. Vgl. FerandFreund (o. J.). 196 Vgl. Neill (1983). 197 Vgl. Kröschlová (1922). 198 Diem (1930), 179. 199 Vgl. z. B. Fischer (1928); Matthias (1929); Kariela (1930). 200 Fay (o. J. [um 1906]). 201 Vgl. Glucker (o. J. [um 1925]), 6. 202 Ueberhorst (1980), 522–568. 203 Glucker (o. J. [um 1925]), 3. 204 Wedemeyer (1996), 15. 205 Müller (o. J. [um 1904]). 206 Müller (1913). 207 Diem (1930), 69. 208 Diem (1930), 70 f. 209 Müller (o. J. [um 1904]), 15. 210 Vgl. Wedemeyer (1996), 83. 211 Siegfried: Monatsschrift für Körperkultur und Geisterveredelung (2, 1902, 13). 212 Sandow (1904), 177. 213 Sandow (1904), 143–167. 214 Sandow (1904), 177. 215 Diem (1930), 66. 216 Sandow (1904), 15. 217 Sandow (1904), 115–126. 218 Sandow (1904), 83 f. 219 Sandow (1905).

220 Zitiert nach Stolz (o. J. [um 1900]). 221 Sandow (1904), 89 f. 222 Sandow (1904), 91–93. 223 Sandow (1904), 188. 224 Sandow (1904), 186 ff. 225 Sandow (1904), 18. 226 Stolz (o. J. [um 1900]); Stolz (1913); Fay (o. J. [um 1906]); Olympier (o. J. [um 1906]). 227 Olympier (o. J. [um 1906]), 42 f. 228 Proschek-System (1921). 229 Vgl. Proschek-System (1921), Abbildungen zu den Übungen, z. B. Nr. 4, 1. Woche. 230 Zitiert nach Diem (1930), 74. 231 Zitiert nach Diem (1930), 76. 232 Diem (1930), 76. 233 Vgl. hierzu Wedemeyer (1996), 165–178. 234 Diem (1930), 65–78, 82. 235 Diem (1930), 79. 236 Vgl. Simons (1912). 237 Glucker (o. J. [um 1925]). 238 Glucker (o. J. [um 1925]), 6 ff. 239 Gerling/Wendler (o. J. [um 1900]). 240 Glucker (o. J. [um 1928]). 241 Glucker (o. J. [um 1928]), 7 ff. 242 Glucker (o. J. [um 1928]), 10–12. 243 Glucker (o. J. [um 1925]), 31. 244 Bastheim (1925), 14 f., 17 f. 245 Bastheim (1925), 9–29. 246 Grosse (1912), 264. 247 Bastheim (1925), Titelblatt und 30. 248 Bastheim (1925), 8 ff. 249 Bastheim (1925), 9. 250 Paczensky/Dünnebier (1994), 496 ff. 251 Bastheim (1925), 11. 252 Bastheim (1925), 18 f. 253 Bastheim (1925), 20 ff.

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Zur Renaissance einer ganzheitlichen Körperkultur

254 Bastheim (1925), 18. 255 Vgl. Nold (o. J. [um 1930]). 256 Mar/Wolf (1928), 21. 257 Vgl. Glucker (o. J. [um 1925]), 12. 258 Mar/Wolf (1928), 7. 259 Mar/Wolf (1928), 9 f. 260 Vgl. z. B. Reicher (1931), 22. 261 Wohlfarth (o. J. [um 1908]), 11. 262 Bess Mensendieck, zitiert nach Grosse (1912), 292.

263 Grosse (1912), 288. 264 Vgl. z. B. Iß gut (o. J. [um 1926]) oder Garms/Reach (o. J. [1929]). 265 Glucker (o. J. [um 1928]), 39 ff. 266 Vgl. z. B. Grosse (1912); Kühner (o. J. [um 1907]); Gerling (o. J. [1905]); Kelch (1898b). 267 Vgl. Tuszkai (1930); Reicher (1931). 268 Vgl. z. B. Goupy (o. J. [um 1900]).

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Fazit Kulturelle Wandlungsprozesse als Motor des modernen Schlankheitskults Die Entstehungsgeschichte des modernen Schlankheitskults muss vor dem Hintergrund einschneidender Wandlungsprozesse wie Urbanisierung und Industrialisierung gesehen werden. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden alternative Diät- und Bewegungskonzepte, die noch heute, im Gegensatz zu den medizinischen »Fleischdiäten«, in der Entfettungspraxis gebräuchlich sind. Schon wegen ihrer ausschließlich lebensphilosophisch begründeten Haltung verwarfen ihre Vertreter geschmacklich eintönige und nährstoffmäßig unausgewogene Diäten und verfälschte Lebensmittel. Sie propagierten stattdessen Vollwertkost oder vitaminreiche Mischkost, bevor die moderne Vitaminlehre ihren Anfang nahm und in das Allgemeinwissen eindrang. Seit dem späten 18. Jahrhundert vollzogen sich immense soziale Umwälzungen im Familienleben, in der Arbeitswelt und im politischen Bereich. Die normative Disziplinierung und Moralisierung des privaten Lebens schritt voran und wurde zur öffentlichen Angelegenheit erklärt. Gesellschaftliche Wertvorstellungen wie Enthaltsamkeit, Einfachheit und Mäßigkeit gewann im Bürgertum an Bedeutung, ebenso der Wert »Gesundheit«. Das Bürgertum eiferte den ehemals der Aristokratie vorbehaltenen Privilegien nach, die

364

Fazit

sich dem Müßiggang hingeben konnte und wesentlich früher mit Korpulenz zu kämpfen hatte. In dieser Zeit entstanden erste Monographien, die sich mit der Wohlstandskrankheit der Fettleibigkeit befassten, aber kaum konkrete Diät- oder Heilanweisungen enthielten. Purigieren, Aderlass und andere gefährliche und teure Arzneien wurden in der Therapie der Fettsucht angewandt. Erste Fettleibigkeitsratgeber richteten sich meist an eine »gehobene« Klientel, die sich den Rat von Ärzten leisten konnte. Mit der Verwissenschaftlichung der Medizin trat auch die erste Welle der Quantifizierung in Erscheinung, d. h. erste Versuche einer wissenschaftlichen Anthropometrie, Kalorienlehre und Gewichtsbestimmung waren zu verzeichnen. Die Entdeckung und Diagnostizierung der Fettleibigkeit führte zu einer zunehmenden Sensibilisierung der Gesellschaft für diese Krankheit. Dieses Gewahrwerden zog wiederum eine neue Sicht von Körperfett und neue Gesundheitsvorstellungen nach sich. In der Mangelgesellschaft bis zum 17. Jahrhundert war Dickleibigkeit ein Statussymbol für Luxus und Macht. Übermäßige Schwelgerei konnten sich bis dahin nur wenige Privilegierte leisten. Aber mit der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung breiter Bevölkerungsschichten seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Körperfett, einst ein Instrument sozialer Distinktion der Oberschicht, für diese immer uninteressanter, da es sie nicht mehr eindeutig genug von der Mittelschicht differenzierte. Die Schlankheit – als Ausdruck von Schönheit und Tugend (Hutcheson) – wurde von da an von der Mittelschicht als soziales Distinktionsmittel zur Abgrenzung von der Unterschicht übernommen und Körperfett zum Unterschichtsund Ungebildetenstigma abgestempelt und tabuisiert. Zudem hatte Körperfett lange als äußeres Erkennungszeichen für gesundheitliche Abwehrstärke gegen gefährliche Infektionskrankheiten wie Tuberkulose gegolten. Doch nach der Entdeckung der Bakterien sowie der Vitamine und Mineralien erweiterten sich die medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse, sodass diese These revidiert wurde und sich schließlich ins Gegenteil verkehrte: Schlanksein wurde von nun an mit Gesundsein gleichgesetzt. Fettleibigkeit zeugte von ungenügenden Kenntnissen auf dem Feld der Gesundheitsaufklärung.

20. Jh.

Jugendkult

Wandervogel-/ Jugendbewegung Jugendstilbewegung

Jahrhundertwende

2. Hälfte 19. Jh.

1. Hälfte 19. Jh.

Gedanklicher Überbau 18./19. Jahrhundert

Diätreformbewegungen

Aktuelles Schönheitsideal eines jungen, sportlichen, schlanken Körpers

Schlankheitskult

Kleiderreformbewegung (einschließlich emanzipatorischer Bestrebungen) u. Mode

Sport- und Fitneßkult

Gymnastik-/ Sport-/ Tanzbewegung

Deutsche Lebensformbewegung mit ihren verschiedenen Körperformbewegungen

Freilicht-/Luft-Therapie

Deutsche Naturheilkundebewegung

Naturismus

Körperkult

Körperkulturbewegung (einschließlich sexualreformerischer Ambitionen

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Körperbewegung in ihr Reformprogamm einbezogen, während Mediziner erst zur Zeit der Jahrhundertwende unter dem Einfluss der englischen und französischen Sportwelle Bewegungskonzepte in ihre Diätratgeber aufnahmen. Erste naturheilkundliche Diät-, Fasten- und Fitnessratgeber In der bisherigen Geschichtsschreibung wurden die Lebensreformer als rückwärtsgewandte, weltfremde Sektierer und Gesellschaftsanarchisten geschildert, was aber nur für eine kleine Randgruppe zutraf. Tatsächlich diffundierten viele ihrer Ideen bewusster Lebensweise wie ökologischer Landbau, Vollwerternährung, Sonnen-, Körper-, Fitness- und Schlankheitskult in das Alltagsleben. Es ist deshalb berechtigt, in diesem Zusammenhang von einer »unterschwelligen Gesellschaftsveränderung« zu sprechen. Vor dem Hintergrund größtmöglicher Naturnähe und antiker philosophischer Ideale entstanden neue Gesundheits- und Schönheitswerte, die in ihren Ursprüngen auf die Naturheilbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückgehen. Zu den wesentlichen Verdiensten der Naturheilbewegung zählt, dass sie die Universitätsmedizin wieder auf Naturheilverfahren wie Diät, Fasten, Bäder, Heilgymnastik, Körperpackungen und Massagen aufmerksam gemacht hat. Die Naturheiler praktizierten nichts anderes als die Fortführung der von der Antike bis ins frühe 19. Jahrhundert betriebenen Diätetik im Rahmen der alten »ars medica«. Im Medikalisierungs-, Professionalisierungs- und Verwissenschaftlichungsprozess des späten 19. Jahrhunderts glaubten viele Schulmediziner, von dieser Diätetik als veralteter Behandlungsmethode Abschied nehmen zu müssen, sodass sie eigene, ihrem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechende Therapien, Impftechniken und ernährungsphysiologische Entfettungsmethoden entwarfen. Damit waren die Naturheiler aber nicht zufrieden. Ihrer ganzheitlichen Krankheitsauffassung widersprach der aus dem Gleichgewicht geratene, üppige Körper, weshalb sie umfassende Konzepte zur Bekämpfung der Zivilisationsseuche »Übergewicht« entwickelten. Sie forderten die Wiedereinführung der Hydrotherapie und anderer diätetischphysikalischer Behandlungsmethoden in den medizinischen Uni-

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versitätsunterricht sowie in die ärztliche Praxis. Daraus erwuchs ein Konflikt zwischen Naturheilern und Schulmedizinern, der sich wie ein roter Faden durch die gesamte Diätgeschichte zog. Er begann in der ersten Phase des Naturheil-Schulmedizin-Streites mit der Diskussion über die Frage, ob animalische oder vegetarische Kost gesünder sei. Liebigs Theorie über das tierische Eiweiß als Quelle menschlicher Muskelkraft blieb seit ihrer Begründung im Jahr 1870 als wissenschaftliches Ernährungsdogma bestehen und rechtfertigte die Dominanz des Fleisches als Hauptnahrungsmittel, weshalb die herrschaftliche wie die bürgerliche Küche forderten, mindestens einmal pro Woche Fleisch zu essen. Fleischgerichte galten als energiereiche, gesunde Nahrung. Auch Arbeiterhaushalte versuchten diesem Ernährungsideal nachzueifern, mussten aber aus finanziellen Nöten auf minderwertigere Fleischteile und Ersatz wie z. B. Hülsenfrüchte zurückgreifen. Liebigs Eiweißdogma schrieb ein relativ großes Quantum an tierischem Eiweiß (ca. 120 g) als täglichen Mindestbedarf vor. Die Vegetariervereine ließen durch ihre demonstrativ gelebte pflanzliche Ernährungsweise Zweifel an diesem Dogma aufkommen. Sie versuchten nachzuweisen, was die damalige Ernährungswissenschaft öffentlich bestritt, nämlich dass man sich auch von eiweißärmerer Pflanzenkost gesundheitlich optimal ernähren könne. Die Naturheiler entdeckten schnell den Wert vegetarischer Diäten im Kampf gegen den Fettleib, der als hässliche Folge einer widernatürlichen Lebensweise angesehen wurde. Infolge der zunehmenden Mechanisierung wurden immer mehr manuelle oder körperliche Schwerstarbeiten von Aufsichts-, Kontroll- und Bürofunktionen abgelöst, die zwar hohe Anforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit stellten, den Energiebedarf aber deutlich senkten. Bei gleichbleibender Ernährung mit hoher Kalorienaufnahme führte dies zwangsläufig zur neuen Zivilisationskrankheit »Übergewicht«. Eine wirksame Kontrolle des Körpergewichts war auf Dauer nur über eine rigorose Einschränkung der Nahrungsenergie möglich. Die Schulmediziner plädierten für eine ausschließliche Fleischdiät als Entfettungsdiät, da sie, vertrauend auf Liebigs Eiweißtheorie, glaubten, auf diese Weise Körperfett in Muskulatur umwandeln zu können. Die Naturärzte hingegen praktizierten vegetarische Diäten,

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Mineralwassertrinken oder Fastenkuren in ihren Sanatorien, um lästige und unschöne Fettpolster zu beseitigen. In der zweiten Phase verschärfte sich die Kritik der Naturheiler an der medizinischen Ernährungslehre im Streit um die »Eiweißfrage«. Während die universitären Mediziner weiterhin reine Fleischdiäten als medizinische Entfettungsmethoden entwarfen, sahen sich die Vegetarier bzw. Ernährungsreformer jetzt gezwungen, eigene Theorien zu entwickeln, da sie angesichts der erstarkenden naturwissenschaftlichen Ernährungsforschung unter wachsenden Rechtfertigungsdruck gerieten. Beinahe alle diese neueren vegetarischen und gemischten Diättherapien knüpften an die Haigsche Harnsäureverschlackungstheorie an, die die frühere Frugivorentheorie ablöste. Wesentliche Ergänzungen bildeten die Lichtquantentheorie und die Vollkorntheorie nach Schlickeysen, die Sonnenlichtlehre Bircher-Benners, Kollaths Vollwertlehre, die Lahmannsche Blutentmischungstheorie und die Theorien der Ergänzungsstoffe nach Berg und Röse. Dennoch gelang die Verbreitung dieser kalorienarmen und vitaminreichen Diätkostformen in die medizinische Entfettungspraxis erst nach der Entdeckung der Vitamine und der festen Integration der Kalorienlehre in die modernen Ernährungswissenschaften. Bis dahin blieb der Disput zwischen Medizinern und Ernährungswissenschaftlern auf der einen und Naturheilkundlern auf der anderen Seite noch unentschieden. In einer dritten historischen Phase spielte sich der Streit vor allem unter den einzelnen medizinischen Entfettungstheoretikern ab. Sie diskutierten vor allem über die Nebenkost, d. h. ob Fett oder Kohlenhydrate den Fleischdiäten zur Eiweißeinsparung beigefügt werden sollten. Die naturärztlichen Ernährungsreformer hatten bereits den steigenden Fett- und Zuckerkonsum in den Privathaushalten öffentlich kritisiert, weshalb sie an dieser Diskussion nicht teilnahmen. Sie verwiesen nur auf die internationalen neuen Ergebnisse der Mineralstoff- und Vitaminforschung, um an ihren meist vegetarischen Diättheorien festhalten zu können. Liebig hatte die Kohlenhydrate zu den hauptsächlichen Körperfettbildnern erklärt, sodass z. B. der ihm folgende Mediziner Ebstein seinen Reduktionsdiäten Fett hinzufügte. Nachdem aber Voit auch das Nahrungsfett als entscheidenden Körperfettbildner erkannt hatte, gewann das Thema an

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Brisanz. Erst nach der Entdeckung, dass alle drei Nahrungsstoffe, Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß, für die Körperfettbildung verantwortlich waren, legte sich schließlich diese heftige Diskussion. Bis zu diesem Zeitpunkt dominierten noch die einseitigen medizinischen Entfettungsmethoden an den »Pilgerstätten der Dicken« wie z. B. in Marienbad und Karlsbad. Die allmähliche Identifizierung der Vitamine löste eine »Revolution« in der Diätgeschichte aus, denn erst dieser wissenschaftliche Fortschritt verhalf der überwiegend vegetarischen Schlankheitsdiät, insbesondere der Rohkost, in den 1920er und 1930er Jahren zum Durchbruch. Nun erst waren auch sie ernährungswissenschaftlich anerkannt. Einen ebenso langen Irrweg hatte die traditionsreiche, seit der Antike praktizierte Fastentherapie hinter sich. Die absolute Nahrungsenthaltung war im Prozess der Rationalisierung, Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung der Medizin ebenso wie die klassische Diätetik in Vergessenheit geraten, da man das Fasten nur noch für einen religiösen Brauch hielt, der nichts mit der aufgeklärten wissenschaftlichen Medizin zu tun hatte. Man könnte in diesem Kontext auch von einer »Entphilosophierung« der Medizin, d. h. von der Emanzipation der Medizin von der Philosophie, sprechen. Erst im Zuge des Aufkommens der deutschen Naturheilbewegung wurde die zeitweise Nahrungsreduktion als Therapieform wiederentdeckt. Der Wegbereiter der deutschen Fastenbewegung war der Naturarzt und Erfinder der sogenannten »Trockenkur« Johannes Schroth. Wie bei den Vegetarismus- oder Diätreformbewegungen kamen die ersten Anstöße für die Wiedereinführung des Fastens aus der amerikanischen Hygienebewegung, aus Frankreich und England. Zu den herausragenden Persönlichkeiten und Begründern der deutschen Fastenbewegung gehörten Richard Kapferer, Gustav Riedlin, Siegfried Möller, Otto Buchinger und Eugen Heun. Auch diese »Hungerkünstler« gerieten immer wieder ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Schulmediziner stuften das Fasten als lebensgefährlich ein, denn es könne zum Hungertod führen, wenn man diesem »falschen Instinkt« therapeutisch Folge leiste. Die Vertreter des Heilfastens formulierten deshalb Gegenthesen: Hungern sei im Krankheitsfalle eine natürlich-biologische Instinkthandlung,

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Fasten folge aber einer jahrtausendelangen, philosophisch-religiös erdachten und medizinisch-hygienisch erprobten Tradition. Darüber hinaus diene es der geistigen und körperlichen Regeneration, der Entgiftung des Körpers, der Reaktivierung der Lebenskraft und schließlich der hygienischen Krankheitsprophylaxe. Das Fasten sei eine national-ökonomische Pflicht zur Wiedererlangung der Volkskraft und zur Vermeidung von Überfluss und Wohlstandskrankheiten sowie ein Medium der Selbstreform; es schaffe damit erst die Grundlage für eine umfassende Gesellschaftsreform. Die Fastenkuren, meist in Kombination mit Rohkostsäften, entfernten sich zusehends von ihrem hygienischen Nutzen und wurden wie die anderen vegetarischen Reformdiäten in den Dienst schlank machender Schönheitsmittel gestellt, weshalb sich gerade auf dem ersten Höhepunkt des modernen Schlankheitskults in den 1920er und 1930er Jahren eine auffällige Häufung von Publikationen zu den Themen Hunger-, Unterernährungs- und Diätkuren finden lässt. Naturärzte waren deshalb auch die ersten Verfasser moderner Diät- und Fastenratgeber, die auf einen gesunden Geist in einem schönen Körper und damit auch auf Übergewichtsbekämpfung zwecks schlanker Körperformen abzielten. Zuerst erschöpften sich ihre Wegweiser in pauschalen Anweisungen, wie z. B. der Bevorzugung leichter oder vegetarischer Kost, ohne dabei genaue Speisezettel für Übergewichtige anzugeben. Dies kennzeichnete die erste Phase der damaligen Diätratgeber, die generell als Allheilmittel hinsichtlich des diätetischen Essens wenig Fleisch, viel Obst und Gemüse, zeitweiliges Fasten und reichliches Mineralwassertrinken sowie ausreichend körperliche Bewegung an Licht, Luft und im Wasser in Hinblick auf die Fitness empfahlen. Erst mit der Ausdifferenzierung der einzelnen Diätreformbewegungen wurden spezifische Kochbücher für kochsalzarme, basenreiche, rohköstlerische oder andere vegetarische Reduktionsdiäten verfasst. Dabei stellte sich insbesondere die Rohkosternährung als geeignete Schlankheitsdiät heraus. Seit der Jahrhundertwende beherrschte die moderne Kalorienlehre die Diätratgeber. Seitdem halfen Kalorientabellen die Grunddiäten wissenschaftlich zu rechtfertigen. So verbanden die Schlankheitsdiätratgeber der zweiten Generation naturgemäße Lebensphilosophie und ernährungswissenschaftliche Kalorienlehre.

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Lebensreformer als Hersteller und Vertreiber von Diätwaren und Fitnessgeräten Vegetarische Diätprodukte, Frucht-, Rohkostsäfte und andere antialkoholische Getränke, Vitamin- und Mineralstoffzusatzpräparate mussten ebenso wie die übrige Naturkost erst von Lebensreformern produziert und in Spezialgeschäften (Reformhäusern) verkauft werden. Zur Werbung erschienen erste spezielle Schlankheitsratgeber, die die Diätwaren, Fitnessgeräte und elastischen Kleidungsstücke anpriesen. Sie demonstrierten ein kritisches, umwelt- und gesundheitsbewusstes Verbraucherverhalten gegenüber der beginnenden modernen Lebensmittelproduktion mit ihren chemischen Zusätzen, Konservierungsmitteln und Massenherstellungsverfahren und plädierten bereits für natürlichen Landbau und naturgemäße Tierhaltung. Zudem waren die Lebensreformer die ersten Hersteller elastischer Sporttrikots und Bodybuilding- und Fitnessgeräte (Hometrainer, Muskelstärker etc.). Auch erste Höhensonnen, Sonnenbänke und Sonnenschutzmittel gehörten zu ihrem frühen Reformwarensortiment. Reformdiätkost kontra »Fleischdiäten« als Entfettungsmittel Die ersten medizinischen Diätbücher mit Entfettungskuren erschienen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich und enthielten noch keine konkreten Speisepläne, sondern empfahlen lediglich als Allheilmittel Mäßigkeit auf allen Lebensgebieten, körperliche Bewegung und »leichte« Kost. Die medizinischen Diätratgeber waren meist ähnlich aufgebaut: Sie untersuchten die Ursachen und Formen der Fettleibigkeit und machten entsprechende Behandlungsvorschläge. Anfang der 1860er Jahre gehörte die »Bantingkur« zu den bedeutendsten Entfettungsmethoden. Dieses Diätsystem war eine fettund kohlenhydratarme Fleischkost. Den Versuch, die Bantingdiät den Essgewohnheiten der Deutschen anzupassen, unternahm der Arzt Julius Vogel. Er definierte die Begriffe »leichte« und »schwere« Kost, indem er die Nahrungsmittel in Anlehnung an die antike Viersäftelehre nach ihrem Verdaulichkeitsgrad beurteilte. Erst mit der

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Einführung der allgemeinen Kalorienlehre wandelte sich der Begriff einer »leichten Kost« in Richtung einer kalorienreduzierten Kost. Als konkurrierende ärztliche Entfettungsmethode entstand in den 1880er Jahren die »Ebsteinsche Methode«. An ihr entbrannte die Auseinandersetzung um das Eiweißkostmaß bei der Auswahl der Nahrungsmittel erneut. Da aber die Liebigsche Fleischtheorie weiterhin als Dogma der Ernährungslehre fortbestand, verlagerte sich die Eiweißdiskussion von der Hauptkostfrage der gesunden Ernährung (Fleisch oder Vegetabilien?) auf die Nebenkostfrage der Entfettungsdiäten (Nahrungsfett oder Kohlenhydrate?). Ebstein behauptete, dass die Hinzufügung von Nahrungsfett zur Fleischdiät beim Entfetten einem Körpereiweißabbau vorbeugen könne – ein schwerwiegender Irrtum, der von Voit experimentell widerlegt werden konnte, sodass ein Streit zwischen Voit und Ebstein über die »Fettfrage« entstand. Trotz der Voitschen Versuchsergebnisse, die belegten, dass aus Nahrungsfett Körperfett gebildet werden konnte, versuchte Ebstein weiterhin an seiner Theorie festzuhalten. Ein weiterer erbitterter Gegner Ebsteins war der Münchner Medizinprofessor Max Josef Oertel. Er kritisierte Ebsteins Entfettungsmethode und entwarf eine eigene Therapie der Kreislaufstörungen im Fall der Fettleibigkeit, die auf dem Prinzip der Wasserentziehung und anstrengender Muskelbewegungen basierte. Oertels Theorie besagte, dass ein überreicher Wassergenuss die Ablagerung von Fett am menschlichen Körper befördere. Sie rückte die bis dahin wissenschaftlich anerkannten »Mineralwassertrinkkuren« als Entfettungsmethode ins Zwielicht und stieß deshalb auf heftigen Protest. Anstrengende Muskelbewegungen sollten die Körperfettverbrennung beschleunigen, was wiederum von Verteidigern der Trinkkuren als »lebensgefährlich« bei Herzkranken kritisiert wurde. Auch die Schweningerdiät bestand aus einer – allerdings im Vergleich zur Oerteldiät etwas reduzierten – eiweißreichen Kost, die im Tagesverlauf in vielen kleinen Portionen verabreicht wurde, sodass kein auffälliges Hungergefühl beim Patienten entstehen konnte. Die Flüssigkeitszufuhr wurde auf ein geringes Maß reduziert und körperliche Bewegung in Form von morgendlichen Spaziergängen angeraten. Um die Jahrhundertwende wechselten die Entfettungsmoden ständig. Praktiziert wurden sie meist unter ärztlicher Aufsicht in

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den dafür berühmt gewordenen Kuranstalten wie Karlsbad oder Marienbad. Alle medizinischen Entfettungsdiätformen bestanden aus einer reinen Kochdiät im Gegensatz zur reformerischen Rohkost. Nach der Einführung der Kalorienlehre in die medizinische Entfettungspraxis gingen die Ärzte dazu über, die Nahrungsmittel nach ihrem Kaloriengehalt zu beurteilen und für den Grad der Fettbildung am Körper verantwortlich zu machen. Bis dahin waren nur die Nahrungsstoffgruppen der Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate bekannt gewesen. Die Entdeckung wichtiger Vitamine im Jahr 1914 bewirkte, dass die bis dahin gültigen medizinischen Entfettungsmethoden, die vorwiegend aus einer reinen Fleischdiät bzw. aus einer hauptsächlich auf tierischem Eiweiß aufbauenden Mischkost bestanden, endgültig von ihrem scheinbar sicheren wissenschaftlichen Sockel gestoßen wurden. Seitdem gewannen die primär auf Pflanzenkost basierenden kalorienarmen Reformdiäten, besonders die Rohkost, als Reduktionskost an Bedeutung. Sie wurden im Zuge der Erweiterung des Ernährungswissens weiter spezifiziert. Die »Homburger Diäten« waren bereits eine revidierte Form der medizinischen Entfettungsmethoden. Sie integrierten Gemüse und Obst in die Fleischdiäten und blieben als ärztliche Varianten neben den Reformdiäten bestehen, bis sie schließlich durch verbesserte Diätpraktiken ersetzt wurden. Während die Mediziner ab 1900 mit zunehmender Systematisierung und Spezifizierung der Reduktionskost zu festen Diätschemata übergingen, die bei Fettsucht oder Übergewicht schablonenhaft vorgeschrieben waren, verordneten Naturärzte eine speziell auf die einzelne Gesamtperson zugeschnittene Individualdiät. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Diät- und Fastenvarianten nach ihrem Erfinder (»Banting-Diät«, »Schroth-Kur«, »Buchinger-Fasten«), ihrem Entstehungs- oder Anwendungsort (»Marienbader Diätkur«, »Homburger-Diät«), nach Krankheitsbildern (»Entfettungsdiät«, »Diabetikerdiät«), nach den Hauptnahrungsmitteln (»Kartoffeldiät«, »Obstfasten«, »Milchkur«), nach ihren primären oder reduzierten Nährstoffen (»Eiweiß-Fett-Diät«, »kochsalzarme Diät«) oder nach ihrer Haupttheorie (»Vollwertkost«) benannt wurden. Eine Diätkur konnte unter ärztlicher Aufsicht in einem Sanatorium oder Krankenhaus oder mithilfe von Gesund-

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heits- und Schlankheitsratgebern, Kochbüchern, Zeitschriften bzw. auf der Grundlage von Ratschlägen von Naturärzten, Bekannten oder Freunden privat durchgeführt werden. Motive für das Diäthalten oder Fasten gab es bis zur Jahrhundertwende viele; es konnte weltanschauliche, soziale, ökologische, individuelle, hygienische und ästhetische Gründe geben. Nach der Jahrhundertwende wurde mit dem Bedeutungszuwachs der Schlankheitsmode das ästhetische Moment der Körpergestaltung durch eine teilweise oder totale Nahrungsbeschränkung zu einem neuen Hauptmotiv neben dem der Gesundheit. Zur Begriffsgeschichte des Körperbewusstseins Erste Untersuchungen zu Bewusstseinsstörungen in Bezug auf den Körper stammen bereits aus den 1920er und 1930er Jahren. Thesen über die Genese des Bewusstseins vom eigenen Körper wurden 1894 von dem Psychiater C. Wernicke aufgestellt. Er verstand darunter das Raumbild des eigenen Körpers und ordnete ihm ein Wahrnehmungsbild, ein Anschauungsbild und ein Vorstellungsbild zu. Ferner sei das Wissen über den eigenen Körper als unanschaulicher Bewusstseinsinhalt und als Objekt des Vorstellungsvermögens zu verstehen. Der Körper existiere demnach nie losgelöst vom sozialen Organismus der Gesellschaft, seiner Kultur, die sein erweiterter Leib sei. Meiner Ansicht nach sollte daher zwischen einem endogen-individuellen und exogen-sozialen Körperbewusstsein unterschieden werden, die als Kulturphänomene historisch betrachtet werden sollten. Max Scheler sprach zu Beginn des 20. Jahrhunderts anstelle von Körperbewusstsein vom Leibbewusstsein, da der Begriff »Leib« aufgrund seiner antiken philosophischen Vorgeschichte wesentlich umfassender sei. »Leib« bezeichne nicht nur den Körper als biologischen Organismus, sondern auch die Körper-Geist-Seele-Einheit oder Gesamtheit des Körpers als Mittler zwischen Individuum und Gesellschaft im kulturellen Prozess. Gerade der Verlust der LeibSeele-Einheit in der Medizin führte dazu, dass der Körper zunehmend in den Brennpunkt der Gesellschaftskritik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet; in der Folge wurde der menschliche Körper als ganzheitliche natürliche Einheit das Hauptthema »al-

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ternativ« denkender Menschen. Die Lebensreformer entwickelten ursprünglich aus einer Protesthaltung heraus »alternative« Ernährungsweisen und Körperbewegungen, die im Hinblick auf eine zunehmende Taylorsche Funktionalisierung des Körpers sogar gerade den neuen Anforderungen der modernen Industriegesellschaft entgegenkamen. Hierzu gehörte z. B. auch die Genese des modernen Körperbewusstseins im Kontext eines veränderten Gesundheitsund Ernährungsbewusstseins, welches bisher nur aus einseitiger Perspektive, z. B. aus der Sicht der Medizingeschichte, der Kunstgeschichte oder aus dem Blickwinkel der Erforschung von Sitte, Sexualität, Mode, Tanz und Sport untersucht, aber nie interdisziplinär als Gesamtphänomen betrachtet wurde. Eine Geschichte des Körpers weist deshalb mehrere Dimensionen auf und stellt eine vielfältige kulturelle Bedeutungslandschaft dar. Sie umfasst zugleich immer eine Geschichte der Körpersprache, der Affektlehre, der Physiognomie, der Körperwahrnehmung, des Körpergefühls, der Körperdarstellung, der Körperbeherrschung, der Körpervorstellung, der Körpererfahrung, der Körperideale und des Körperbewusstseins. Der Körper ist wegen seiner kulturellen Einbindung in den Zivilisationsprozess im ständigen Werden, weshalb sich auch die Vorstellungen von Schlankheit im Laufe der Jahrhunderte wandelten. Körperkulturbewegungen als Genesebedingungen des Schlankheitskults Die Geschichte der deutschen Körperkulturbewegung begann mit naturheilkundlichen Lichtluftbädern und führte zu den ersten Nacktkulturanhängern. Die nudistischen Argumente für die körperliche Befreiung aus der Kleidung lauteten: »Der Mensch sei ein Lichtluftgeschöpf!« Nacktheit bedeute Natürlichkeit, denn laut der Evolutionslehre stamme der Mensch vom Affen ab, und auch Affen trügen bekanntlich keine Kleidung. Den Haarverlust am menschlichen Körper führten die Nudisten auf das unnatürliche Tragen der Kleidung, auf die »Kleidersünde« und den »Kleideraberglauben« zurück. Nacktheit bedeute Natürlichkeit, denn selbst die christliche Schöpfungsgeschichte bestätige: Adam und Eva seien nackt aus der

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Hand des Schöpfers hervorgegangen. Nacktheit bedeute Sittlichkeit, denn Scham sei etwas Unnatürliches, Anerzogenes und basiere auf einer künstlichen Herstellung einer Verbindung von Nacktheit und Unsittlichkeit, die von der jüdisch-christlichen Religionskultur geschaffen worden sei. Nacktheit bedinge Sittlichkeit, denn Kleidung sexualisiere durch Hervorhebung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Nacktheit bedeute Ästhetik. Nacktheit bedeute Gesundheit, denn es werde im Lichtluftbad die Hautatmung und damit die natürliche Ausdünstung und biologische Blutreinigung von gefährlichen Krankheitsstoffen gefördert. Nacktkulturanhänger initiierten den modernen Sonnenkult, indem sie zuerst zum Sonnenbaden aufforderten, spezielle Hautöle, Sonnenmilch und elektrische Sonnenbänke entwickelten. Vornehme Blässe, zunächst ein Privileg der gehobenen Stände, die nicht an der frischen Luft arbeiten mussten, wurde von dem Schönheitsideal des braungebrannten und allseitig trainierten Körpers abgelöst. Sonnenkult und Körperkult bedingten einander und provozierten wiederum den Bedeutungszuwachs von Schlankheit, indem sie den entblößten Körper in den Blickpunkt rückten und mithin der öffentlichen Kritik aussetzten. Er musste nun auch ästhetischen Ansprüchen genügen und war plötzlich der Bewertung durch andere ausgesetzt. Edle Schlankheit diffundierte als einstiges Schönheitsideal der Adligen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in die Mittelschicht und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts mit positiv bewerteten bürgerlichen Tugenden wie Jungfräulichkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit und Mäßigkeit verbunden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Schlankheit zunehmend mit Sportlichkeit assoziiert, wobei diese zunächst ein Freizeitprivileg der gebildeten Schichten blieb. Dabei diente Schlankheit vor allem Repräsentationszwecken und der sozialen Abgrenzung von den unteren Schichten. Auch der praktische Nutzen des Erhalts der körperlichen Arbeitskraft gewann in der Leistungsgesellschaft an Bedeutung. So spielten medizinische, ökonomische, körperästhetische, kleidermodische, sozialdisziplinierende und vor allem lebensreformerische Überlegungen in die öffentliche Schlankheitsdebatte hinein. Der Übergang von der Idee der Körperkultur zur Kleiderreform war fließend, denn in beiden Bewegungen wurde ein verändertes

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Körperverständnis erkennbar. Das neue, von den Lebensreformern initiierte Körpergefühl der Jahrhundertwende erforderte auch eine neue Mode, eine zwanglose Reformkleidung. Die Kleiderreformbewegung machte auf die Notwendigkeit einer praktischeren Berufsund Sportkleidung aufmerksam. Zeitgenössische Modemacher reagierten deshalb um 1900 mit der Einführung von Zweiteilern, wie z. B. von Rock und Bluse, speziellen Sportkostümen oder Frauenhosen. Außerdem machte die Kleiderreformbewegung mit ihren Protestaktionen gegen die bestehende Mode deutlich, dass die Kleidung wieder in den Dienst des natürlichen Körpers gestellt werden musste. Deshalb sprach man von der »Normalkleidung«, die sich an der seit der Antike kanonisch beschriebenen »Normalfigur«, dem »gesunden« Körper ohne Deformationen oder überflüssige »Pfunde«, orientierte. Zusätzlich kam ab 1880 der Einfluss der Sportbewegung hinzu, die diese Forderungen nach mehr Bewegungsfreiheit der Kleidung unterstrich. Erste Reformwaren auf dem Sportbekleidungssektor waren Schwimm-, Reit-, Bergsteiger-, Reise-, Wintersport-, Jagd-, Fecht- und Radfahrerkostüme, Turn- und Tenniskleider oder auch Fliegeranzüge für Damen, die zunächst nur von den vermögenden Schichten gekauft werden konnten. Doch schon bald erfreute sich der Sport allgemeiner Beliebtheit, und auch die Konfektionsmode wurde darauf ausgerichtet. Die Sportmode wurde nun billiger und zugleich figurbetonter. Dieser Wandel im Umgang mit dem Körper, vor allem mit dem weiblichen Körper, fand in dem Schlankheitsidealstreben des 20. Jahrhunderts seine spezifische Ausprägung. Lebensreformer als Initiatoren der Fitness- und Wellnessbewegung Die Sportbewegung basierte auf dem Fundament eines ersten »Ganzheitskults«, wie er in der heutigen Fitness- und Wellnessbewegung wiederzufinden ist. Ihre Eckpfeiler waren »Sport«, »gesunde Ernährung« und eine »bewusste Lebensweise«. Hier nahm der moderne Körperkulturboom seinen Anfang. Die Einheit von Sport, Freikörperkultur und Reformbewegung, gepaart mit der Ablehnung der Industriekultur, leitete den Bewusstseinsprozess für eine gesunde Ernährung und den befreiten Körper ein. Vor dem Hintergrund des

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antiken Kalogathieideals, das die Vollkommenheit von Körper und Geist forderte, und des Holismusideals, das Schönheit und Gesundheit harmonisch miteinander verbunden wissen wollte, wurden neue alternative Bewegungskonzepte im Kampf gegen Fettmassen und zu deren aktiven Vorbeugung als Freizeitgestaltung entworfen. Zunächst wurde die aktive (orthopädische Heilgymnastik) und passive Bewegungstherapie (Massage) mit dem Wiederaufleben der Diätetik in die Heilpraxis wiedereingeführt. In ihrer Zukunftsvision warnten die Lebensreformer vor dem »übergewichtigen« Menschen des Industriezeitalters. Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene alternative Gymnastik-, Tanz- und Sportkonzepte entwickelt, die den Geist und die Seele im »wohlgeformten«, schönen Körper widerspiegeln sollten. Um die Jahrhundertwende kam das zusätzliche Element des »bewegten Rhythmus« hinzu, da sich auch die Natur in ständigen Rhythmen, sprich Zyklen befände, denen auch der Mensch unterläge. In dieser Periode stand die Entdeckung der Schönheit des nackten Körpers im Mittelpunkt und markierte die dritte Phase der Lebensreformbewegung. Die »schlanke Linie« wurde in die Mode eingeführt. Der Körper musste von da an durch gezielte Körperbildung in Form gebracht werden. Während die Trainingskonzepte für Männer meist auf die Steigerung von Muskulatur und Kraft zielten, waren die gymnastischen, tänzerischen und sportlichen Übungen für Frauen auf Schlankheit ausgerichtet. Vorhandene hygienische Gymnastiksysteme, z. B. von Bess Mensendieck oder Jens Peter Müller, wurden zur Erzielung von Frauenschlankheit und Männermuskeln eingesetzt. Bodybuilding und Schlankheitsgymnastik waren ebensowenig Erfindungen neuester Zeit wie das Müsli oder die Vollwerternährung. Die Lebensreformer entwickelten Fitnessgeräte, BodybuildingHanteln, Hometrainer, Massageroller, Autogymnasten etc. und verkauften diese in ihren Reformhäusern. Sie sprachen bereits um die Jahrhundertwende von »Körpergefühl«, »Körperverseelung« oder »Körpersinn«, bevor der moderne Körperbewusstseinsbegriff geprägt wurde. In den Anfängen der Fitnesskultur fand, wie auch in der modernen Diätkultur, eine Schwerpunktverlagerung von Gesundheit auf Schönheit statt.

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Diätkost und Körperkultur im Dienste eines neuen Schönheitsideals Im späten 19. Jahrhundert setzte sich auch in Mitteleuropa ein neues Ideal durch, geprägt von der fleißigen, aufstrebenden Bürgerschicht, für die Arbeit eine Tugend und Prassen eine Sünde war. Ein solcher Mensch hatte nicht übergewichtig zu sein, sondern schlank als äußeres Zeichen der Beherrschtheit, Mäßigkeit und Bescheidenheit. Gesellschafts- und zivilisationskritische Lebensreformbewegungen, Mode, Medien und Ärzte förderten die Schlankheitsnorm. Die Fettleibigkeit wurde von Medizinern als Gesundheitsrisiko erkannt, daher wurden verbindliche Normgewichte festgelegt. Zunächst gab es das »Normalgewicht«, schließlich das von den Krankenversicherungen ins Leben gerufene sogenannte »Idealgewicht«, an welchem sich viele Menschen bis heute orientieren. Historische Bedingung für das Schlankheitsideal war die Entwicklung und Ausbildung eines neuen Körperbewusstseins. Maßgeblich daran beteiligt waren die Lebensreformbewegungen zur »Revolutionierung« des Körpers, wozu die Nacktkultur, die Kleiderreform, der Wandervogel, die Gymnastik, der Tanz und der Sport, aber auch emanzipatorische Bestrebungen gehörten. Sie rückten den Körper des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. Die natürliche, gesündere, sportlichere und somit auch bewegungsfreundlichere und weniger körperverdeckende Kleidung verdrängte das Korsett und passte die Bekleidung an die natürlichen Körperformen an. Diese Tendenz wurde in der Modegeschichte vereinfacht als Einführung der »schlanken Linie« bezeichnet und ging auf den französischen Jugendstildesigner Paul Poiret zurück, der die Ideen deutscher Kleiderreformer auf die führende Pariser Mode übertrug. Körperkulturanhänger und Kleiderreformer kreierten, in Rückbesinnung auf die Antike, die »Normalfigur« oder den »gesunden Normalkörper«. Der Grundgedanke war nicht, übermäßig dünn zu werden, weil es »modern« war, sondern es ging vielmehr darum, die Vollkraft der Gesundheit zu bewahren, d. h. dem Körper ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit zu entlocken, was nur durch Erhalt des Normalgewichts zu erreichen sei. Die Reformer waren der Meinung, dass ein Mensch, der mittels Willenskraft seinen Körper

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auf Normalgewicht bringen könne, auch Fähigkeiten wie Tatkraft, Zielbewusstsein und Energie besitze und sich deshalb besonders als sozialer Mitbürger eigne. Der Ruf nach der unverbildeten Natur des Körpers wurde zur Forderung nach Selbstkontrolle in der Nahrungsaufnahme, denn künstliche Mittel wie Korsett oder Mieder zur »Verbesserung« oder Kaschierung von Körperfehlern fielen mittlerweile weg, da sie die Funktionsfähigkeit des Körpers einschränkten. Insbesondere Frauen waren von diesem neuen Schlankheitsideal betroffen. Im Streben nach Schlankheit wurde strenges Diäten oder Fasten und gezieltes Körpertraining für diejenigen, die diesem Schönheitsideal von Natur aus nicht entsprachen, zum sozialen Muss. Erste Gymnastikschulen und Bodybuildingsysteme entstanden schwerpunktmäßig in der Periode zwischen 1900 und 1920, während spezielle Schlankheitsdiäten erst nach 1920 gehäuft zu finden waren. Vermutlich hing dies mit den Hindernissen, die die Ernährungswissenschaftler den Diätreformern bei der Durchsetzung ihrer vegetarischen Diäten in den Weg stellten, zusammen. Mit dem historischen Bedeutungswandel der Gesundheits- und Schönheitsvorstellungen wurde der Wunsch nach einer schlanken, sportlichen Körpergestalt der häufigste Grund für ein gezügeltes Essverhalten und für eine bewusste »Trainingskultur«. Je figurbetonter die Kleidung wurde, desto extremer wurden die Schlankheitsideale. Zur Jahrhundertwende entsprach noch ein etwas kräftigerer Körperbau mit leichten weiblichen Rundungen dem Schönheitsideal. Als ästhetische Vorzüge wurden ein weicher Übergang von der Wange zum Hals, ein runder Hals, vorstehende, gewölbte Hinterbacken, runde, dicke Oberschenkel, hochgestellte, runde, pralle Brüste, runde Waden und weiche Knieumrisse, ein kleines Bäuchlein und eine deutlich eingebuchtete, schlanke Taille beschrieben. In den 1920er Jahren wurde das erste extreme Schlankheitsideal einer grazilen Figur mit deutlich reduzierten weiblichen Formen modern, weshalb in der zeitgenössischen Literatur zu recht abwertend von der »Linealfigur« gesprochen wurde, da erste Magersuchtsfälle bekannt wurden. Nach den Entbehrungen des Zweiten Weltkrieges kam wieder eine extrem weibliche Figur in Mode, die aber nicht mit jener der Jahrhundertwende verglichen werden kann, da sie stärker proportionsmäßig orientiert war, d. h. man legte auf

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ein großes Oberteil und eine schmale Taille mit dadurch üppig wirkenden Hüften und dennoch schlanken Beinen Wert. Danach wurde in den 1960er und 1970er Jahren das bisher extremste Schlankheitsideal des Mädchentypus entworfen, das von dem englischen Fotomodell »Twiggy«, mit bürgerlichem Namen Leslie Hornby, in idealer Weise verkörpert wurde. Dieses ungesunde Körperideal hinterließ zahlreiche Fälle von Essstörungen und kennzeichnet den zweiten historischen Höhepunkt des modernen Schlankheitswahns. Seit den 1980er Jahren ist das Schlankheitsideal aus Vernunftsgründen nicht mehr ganz so extrem wie in den 1960er Jahren, liegt aber dennoch weiterhin an der untersten Grenze des Idealgewichts. Dieser kurze und skizzenhafte Überblick über die historische Entwicklung von Körperschönheitsidealen zeigt, dass sich das Schlankheitsideal der heutigen Zeit erst im Lauf eines langwierigen Prozesses entwickelt hat und dass die Schlankheitsvorstellungen sich im Lauf der Geschichte verändert haben. So existierten neben dem über die Massenmedien verbreiteten kollektiven Schlankheitsideal noch individuelle Körperschönheitsideale, die hier keine Berücksichtigung finden sollen. Trotzdem ließ sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Trend beobachten, dass »schlank sein« als schön galt und Korpulenz als unschön empfunden wurde. So hieß es z. B., dass man zwischen schlanken und gedrungenen Gestalten zu unterscheiden habe, wovon die Ersteren der Schönheit und dem Ideal der Kunst angehörten, während die Letzteren nicht dazu zählten. Bereits zu jener Zeit wurde eine schlanke Gestalt als harmonische Längenbildung der Wirbelsäule und aller übrigen Körperteile zueinander umschrieben, da eine edle Schlankheit immer mit Höhenentwicklung vereinigt sei. Es fand eine stärkere Berücksichtigung der Körperproportionen in Längen- und Breitenverhältnissen, insbesondere der zunehmend sichtbaren Gliedmaßen statt, während die Taille allmählich leicht deakzentuiert wurde. Diese Tendenz ließ sich besonders seit der Jahrhundertwende als Schönheitskriterium für den Körperbau der Frau beobachten. Die Bedeutung ausgeglichener Proportionen von Körperteilen und Gliedmaßen nahm zu. Dieses Körperbild lässt sich in einigen Schönheits-, Gymnastik- und Sportfibeln für junge Frauen und Männer finden, die schon diätetische Vorschläge zur inneren Ausschlackung und

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Leibesübungen zur äußeren Körperpflege zwecks Vermeidung »unschöner« Fettansätze enthielten. Man »mensendieckte«, »müllerte«, betrieb Bodybuilding nach dem Sandow-System oder machte Autogymnastik. Junge Frauen aus der Oberschicht begannen ihre Körperformen durch Fasten und Callistenics zu kontrollieren, um ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt zu verbessern. Aber dies war erst der Anfang. Dass das Eindringen der »schlanken Linie« in die Schönheitsauffassungen zuerst in den gehobenen Schichten beobachtet werden konnte, lässt sich auch damit erklären, dass die Mode, die zuvor ein Privileg der Feudalgesellschaft gewesen war, erst allmählich im gehobenen und mittleren Bürgertum Fuß fasste. Dies war die Folge der Produktion von Konfektionsmode und deren Verbreitung durch Kommunikationsmittel. Seit den 1920er Jahren wurde die Sorge um einen schlanken Körper zu einem Massenphänomen. Der schlanke Körper strahlte nun jugendliche Aktivität, Selbstkontrolle und Erfolg aus. Mit der allmählichen Verbesserung der sozialen Situation stand genügend Nahrung zur Verfügung, sodass Schlankheit als Körperschönheitsideal an Bedeutung gewann und zum typischen Kulturphänomen eines Wohlstandsstaates wurde. In diesem Kontext bedingte also nicht die Kultur den Schlankheitskult, sondern die kulturellen und ökonomischen Voraussetzungen. Tiefgreifend prägte schließlich die Industrialisierung mit der sie begleitenden Funktionalisierung und Rationalisierung den menschlichen Körper, d. h. auch der männliche Körper sollte möglichst leistungsfähig und effektiv für den Produktionsprozess dienstbar gemacht werden. Entsprechend des traditionellen Musters lag für das »schöne Geschlecht« der Schwerpunkt auf anmutiger Schlankheit und für das »starke Geschlecht« auf sehniger Schlankheit mit Muskelentwicklung. Dem widersprach das Stereotyp des faulen, unbeholfenen, schwerfälligen und unflexiblen »Dicken«, der sich kaum in die Dynamik und Schnelligkeit der Moderne einfügen ließ, sodass auch im Interesse der Industrie- und Leistungsgesellschaft neue Anforderungen an den Körper, auch an jenen der arbeitenden Frau, gestellt wurden. So wurde die Schlankheit, ursprünglich ein schichtspezifisches Phänomen, zu einem rollenspezifischen Phänomen.

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Aber auch im Privatleben gewann das Schlankheitsideal zur Steigerung der Chancen auf dem Heiratsmarkt an Bedeutung. Gegen Korpulente herrschten Vorurteile in der Gesellschaft vor. Bereits frühe Diätratgeber griffen in ihren Einleitungen diese Vorurteile bewusst auf, um einen verstärkten Anreiz für das Streben nach Schlankheit zu geben. Die Verfasser dieser Diätführer hatten sehr wohl die entscheidende Bedeutung des psychologischen Moments beim Durchhalten von Schlankheitsdiäten erkannt, als sie gebräuchliche Schimpfworte und allgemeine Vorurteile gegen übergewichtige Menschen wie »Dicke Maschine«, »Dampfwalze«, »Bierfaß« aufgriffen, um an die persönliche Eitelkeit zu appellieren. Die Fettleibigkeit beim Mann oder bei der Frau wurde als etwas Hässliches, Krankes und Bemitleidenswertes angesehen. Die bereits von dem Ernährungsreformer Bircher-Benner befürwortete Selbstbeherrschung wurde propagiert und Korpulenz als Zeichen der Unbeherrschtheit und als Verstoß gegen die von der Gesellschaft normativ reglementierte Triebkontrolle verstanden. Den Charakterbeschreibungen von Schlanken und Korpulenten wurden teilweise ganze Kapitel gewidmet. In der allgemeinen Vorstellung herrschte lange Zeit das Vorurteil vor, dicke Menschen seien gutmütiger, vertrauenswürdiger und umgänglicher als dünne. Beim Kampf ums Idealgewicht ließ sich jedoch ein Wandel in der Einstellung zu dicken Menschen feststellen, der immer mehr in die Richtung negativer Assoziationen ging. »Dick« wurde immer häufiger mit negativen Gefühlswerten belegt. Aber auch übermäßige Magerkeit entsprach nicht dem damaligen Schönheitsideal und wurde wie die »Fettleibigkeit« systematisch bekämpft. Neben Werbung für Entfettungspillen, Mieder, Sport- und Massagegeräten gab es Annoncen für Kräftigungsmittel und Wundermittel zur Vergrößerung der weiblichen Brust. Der ideale junge Körper war schlank, aber nicht mager. Das überschüssige Körperfett sollte mithilfe einer reduzierten Energiezufuhr und eines erhöhten Energieverbrauchs bekämpft werden. Die Nahrungsgewohnheiten in der aufkommenden Massenkonsumgesellschaft widersprachen aber einer gesunden und schlankheitsfördernden Ernährung. Im Industriezeitalter musste weniger hart körperlich gearbeitet werden, während die Nahrungs-

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gewohnheiten kaum an die neuen Gegebenheiten angepasst wurden. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ernährte sich von zu fett-, eiweiß- und kohlenhydratreicher Kost, die immer weniger in Relation zur tatsächlich erbrachten körperlichen Leistung stand, was Auswirkungen auf den menschlichen Körper in Form von zusätzlicher, überflüssiger Körpersubstanz zur Folge hatte. Die Industrialisierung und Urbanisierung stellte eine Zäsur in der neueren Ernährungsgeschichte dar. Mit ihr stieg der Verzehr von Fleisch, Eiern, Käse und Fetten sowie von Zucker, Feingemüse, Obst und Südfrüchten an. Der Verzehr von Getreide, Kartoffeln, Hülsenfrüchten und Grobgemüse sank dagegen. Die schwere körperliche Arbeit, die der Bauer und der Handwerker einst zu leisten hatte, wurde durch die stehenden oder sitzenden Tätigkeiten in den Fabriken und Büros ersetzt. Der Anteil der Schwer- und Schwerstarbeiter, die das Hauptkontingent der Bevölkerung im vorindustriellen Europa gestellt hatten, ging in der Zeit von 1882 bis 1961 auf ein Drittel zurück. Dieser Wandel führte dazu, dass beim modernen Menschen der Bedarf an Kalorienträgern für die Muskelarbeit zugunsten des Bedarfs an tierischem Eiweiß zurückging. Die Ernährungsreformer erkannten bereits zur damaligen Zeit das Gesundheitsproblem »Übergewicht« als Zivilisationskrankheit des modernen Kulturmenschen. Einige Lebensreformer stützten auf diese Feststellung ihre Forderung nach einer Diätreform. Sie waren davon überzeugt, dass die Technik den menschlichen Körper ändere und eine allgemeine Ernährungsreform in der modernen Gesellschaft von Nöten sei. Die Gefahr der »Korpulenz« wurde für viele Menschen zu einem aktuellen Thema. Oft wurde sogar auf die Schwierigkeit hingewiesen, eine einmal erworbene Disposition zur Fettbildung wieder zu beseitigen. Eine Vernachlässigung des Körpers wurde als »Sündigen gegen den natürlich-schönen Körper« bezeichnet. Man erkannte aber auch sehr wohl, dass das Problem der Fettleibigkeit mit überreichlicher oder zu reichhaltiger Nahrung und zu wenig körperlicher Bewegung zusammenhing. Deshalb begab man sich auf die Suche nach geeigneten, energiearmen Diäten und stieß auf die von Naturheilkundlern und Ernährungsreformern entwickelten alternativen, meist vegetarischen Kostformen, die eine gesündere und leistungsfähigere Konstitution versprachen. Die damit konkurrierenden me-

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dizinischen Entfettungsmethoden waren wegen der einseitigen Unterernährung nur periodisch anwendbar. Sie bewirkten zwar einen schnellen Abmagerungsprozess, der aber nur von kurzer Dauer war und danach meist sogar eine rapide Gewichtszunahme nach sich zog. Die vegetarischen Diätkuren konnten dagegen als dauerhafte Ernährungsumstellung praktiziert werden. Diese Tendenz der Schlankheitskost weg von gesundheitsgefährdenden Fleischdiäten und Entfettungsstühlen hin zu schonenderer Vollwertkost ließ sich insbesondere in den 1920er Jahren beobachten, als das moderne Schlankheitsideal seinen ersten Höhepunkt erreichte. Die Vollwertkost war abwechslungsreicher und gesundheitsschonender und konnte geschmacklich verfeinert werden. Die von den Diätreformern entwickelten Reformdiäten wiesen zugleich den Nebeneffekt des Schlankmachens auf. Sie waren z. T. fett-, kohlenhydrat-, eiweiß- und kochsalzarm und reduzierten gleichzeitig dauerhaft das Körpergewicht. Sie verursachten eine mehr oder weniger starke Abmagerung, zu welcher in der Regel zwei Faktoren beitrugen: eine verminderte Esslust und eine Steigerung der Stoffausscheidung. Insbesondere nach der Entdeckung der Vitamine und der endgültigen Integration der Kalorienlehre in die Ernährungsforschung verdrängten die Reformdiäten die zuvor mit ihnen konkurrierenden medizinischen Fleischdiäten. Die einst verspotteten vegetarischen Diätformen und Rohkostrezepte wurden von Medizinern nun entdeckt, erweitert, präzisiert und perfektioniert. Von da an wurden je nach Krankheitsbild ganze Diätschemata erstellt. Dennoch stammten die ersten adäquaten und abwechslungsreichen Diätkuren aus den Reihen der Lebensreformer. Neue Erkenntnisse bestätigten, dass sowohl Über- als auch Untergewicht gesundheitsschädlich sei, weil die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten damit steige. Der Krankheitsbegriff der Adipositas wurde Mitte des 19. Jahrhunderts mit der sich verbreitenden Sorge des schlemmenden Bürgertums um seine Gesundheit in Beziehung gesetzt. Bis dahin hatte in der Bevölkerung der Irrglaube vorgeherrscht, dickere Menschen seien krankheitsresistenter. Eine gewisse leibliche Fülle wurde als dem gesunden Körper eigen interpretiert, bis diese Meinung aufgrund des neuen ernährungsphysiologischen Wissens unhaltbar wurde. Das Denken über den Körper

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wurde im 19. Jahrhundert wissenschaftlicher und spezialisierter, der Gesundheitsbegriff wurde umdefiniert. Gesundheit wurde seit der Jahrhundertwende mit Schlankheit assoziiert. Demnach war Schlankheit neben dem ästhetischen Aspekt zu einer Gesundheitsfrage geworden. Ein gesunder, schlanker Körper war das neue Leitbild des auf Rationalität und Leistung fixierten modernen Menschen. Gesundheitsbewahrung beinhaltete nun u. a. auch den Willen, sich die normale Gestalt zu bewahren. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zur Jahrhundertwende die Vorstellung von »Schlankheit« noch eine ganz andere war, sodass die ersten in Schönheitsratgebern gemachten diätetischen Kostvorschläge kaum auf eine starke Gewichtsreduktion ausgerichtet waren, sondern zum Teil noch Rezepte für die Gewichtszunahme zur Erhöhung der erotischen Reize enthielten. Unter der langen und den Körper noch stark bedeckenden Kleidung war es ein Leichtes, »figürliche« Makel zu kaschieren und zu überspielen. Erst in den 1920er Jahren, als der Rocksaum nach oben rutschte und locker fließende Stoffe für die Kleider verwendet wurden, unter denen sich die Körperformen abzeichneten und Arme und Beine sichtbar wurden, fand der große Umschwung des Frauenbildes statt. Es setzte sich ein neuer Schlankheitsbegriff als modisches Schönheitsideal durch: Der Körper sollte so knabenhaft wie nur möglich sein. Dieses modische und extrem sportliche »Schlankheitsideal«, das auch Männer betraf, erforderte effektive Mittel zur Gewichtsreduktion. Die Mode beschränkte sich nicht mehr auf das Gebiet der Kleidung, sondern erweiterte ihr Feld auch auf die Körperform; »Sport« war das neue Zauberwort. Er brachte den Typ des schlanken, geschmeidigen, sehnigen Sportmenschen hervor. Erste Schlankheitssportfibeln kamen auf den Markt. Darin wurden alle lebensreformerischen Ideen im Hinblick auf Ernährung, Körperpflege und Gymnastik zusammengefasst: Mäßigkeit, Sittlichkeit, reichliches Wassertrinken, Rohkost, Kaukult, Steinmetzbrot, Grahambrot, gelegentliches Fasten, frühes Aufstehen, Massage, Atem-, Körpergymnastik, Sport und Tanz, Lichtluftbad, Alkoholverbot und bewegungsfreundliche Kleidung. Das Streben nach Schlankheit wurde mit dem Appell »Zurück zur Natur« verknüpft und mit der übergeordneten Idee einer Gesellschaftsreform verbunden. Zahl-

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reiche, zum Teil auch recht unsinnige und direkt gesundheitsgefährdende Erfindungen wurden im Zuge dieses öffentlich propagierten Schlankheitsideals gemacht. Die erste große Schlankheitswelle rollte an und schwemmte Diätbücher, Diätkochbücher und Fastenliteratur in großen Mengen auf den Büchermarkt. Vor allem Ärzte warnten in dieser Zeit vor übertriebenen gesundheitsschädlichen Abmagerungs- und Hungerkuren und machten »Front gegen die Entfettungspillen«. Es wurde als geradezu verwerflich bezeichnet, dass die Frauen- und Modezeitschriften aller Länder ohne Rücksicht auf Gesundheit auf diese uniforme Schlankheit hinarbeiteten. Vor der Gefahr der vornehmlich bei Mädchen und jungen Frauen auftretenden Essstörung »Magersucht«, hier noch unfachmännisch »Dickenwahnsinn« genannt, wurde ebenfalls bereits in vielen zeitgenössischen Diätratgebern gewarnt. Als »Dickenwahnsinn« beschrieben die Zeitgenossen eine Krankheit, bei der sich die Schlankheitssucher stets zu dick fühlten, selbst wenn bereits nervöse Störungen, Schädigungen der Organe etc. aufgrund von Unterernährung diagnostiziert werden konnten. Davon betroffen waren Frauen, die lediglich einer augenblicklichen Mode zuliebe danach strebten, unter ihr Normalgewicht zu gelangen und ätherische Schlankheit auch dort zu suchen, wo ihrem Körperbau nach die Möglichkeit dazu gar nicht gegeben war. Ärzte erkannten bald, dass psychologisches und psychotherapeutisches Eingehen auf die seelischen Bedrängnisse der Betroffenen erforderlich wurde, sodass auf dem ersten Höhepunkt des modernen Schlankheitswahns die Magersuchtforschung intensiviert wurde. Die »Schlankheitstyrannei« wurde besonders scharf von Männern kritisiert. Diese heftigen Reaktionen der Männerwelt auf die Schlankheitsmode waren ein Indiz für die emanzipatorischen Züge dieses neuen, »sachlichen« Frauentyps, der in der zeitgenössischen Literatur mit dem Begriff »Vamp« umschrieben wurde. Der Mann war nicht mehr alleine der Verführer des unschuldigen Mädchens, nein, jetzt nahm auch die Frau die Position der Verführerin ein. Die »Garçonne« der 1920er Jahre als emanzipatorische Ausbruchsphantasie aus der gesellschaftlich vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rollenverteilung wurde von den Männern als Provokation empfunden. Sie brachte die Geschlechterhierarchie ins Wanken.

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Wundermittel wurden in den Werbeanzeigen der Zeitschriften angepriesen, die eine schnelle Gewichtsabnahme versprachen, wobei es sich aber meist um Abführmittel (häufig um Phenolphtalein) handelte, wie eine zeitgenössische dänische Ärztin feststellen konnte. Derartige »abführende« Schlankheitspräparate lassen sich selbst heute noch unter den angebotenen Diätartikeln finden, obwohl ihre gesundheitsgefährdende Wirkung seit langem bekannt ist. Der neue »Schlankheitswahn«, der den »Schnürwahn« vergangener Zeiten ablöste, wurde schnell für Geschäftemachereien entdeckt und ausgenutzt. Kuranstalten, die vorher rein dem Zweck der Erholung des stadtmüden Menschen und zur Wiederherstellung der Gesundheit gedient hatten, boten nun spezielle Abmagerungskuren zur Erzielung des modischen Körperideals an. Schlankheit wurde zum öffentlich diskutierten Thema. Diättherapie, Bewegungstherapie, Trink- und Badekuren, Gymnastik in frischer Luft und Massage erlebten in dieser Periode des neuen Gesundheits- und Körperbewusstseins eine wahre Renaissance. Mäßiges Essen und Fitness standen im Zentrum des modernen Schlankheitswahns, der einen innerund zwischenmenschlichen Konflikt auslöste. Der Schlankheitskult, der von außen durch Medien und Gesellschaft an das Individuum mit seinen körpereigenen Wünschen herangetragen wurde, konnte zu einer »Zwangsneurose« in Form von Essstörungen (Magersucht, Bulimie, Fettsucht) führen. Dem lebensreformerischen Ideal der Gesundheitsapostel (Mäßigkeit und Harmonie) standen der Genussaspekt des Körpers und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper kontradiktorisch gegenüber. Das Diktat des schlanken, schönen Körpers verbot die wahre Lust am Essen. Folglich konnten das Fette und das Magere, das Mäßige und Gefräßige als physisches Bedürfnis wie als soziopsychologisches Phänomen des essenden Menschen nie völlig unabhängig voneinander betrachtet werden, denn häufig siegte das Gefräßige über das Mäßige, trotz des hartnäckigen Bemühens, das Fette gegen das Magere eintauschen zu wollen. Schrothsche Kuren, Vegetarismus, Vollwertkost, Buchinger-Fasten, Obstkuren, Müsli usw. bildeten nun das Repertoire einer »neugeborenen«, aber eigentlich schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bekannten alternativen Gesundheitsdiät und Schlankheitskost. Die Rohkost im Zeitalter des beginnenden »Figurfetischismus«

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boomte geradezu. Die Begriffe »Rohkost«, »Rohköstler«, »Kalorien« und »Vitamine« zählten bald zu den Modewörtern der 1920er und 1930er Jahre. Die vom »Müsliapostel« Bircher-Benner gepredigte Rohkost wurde zum neuen »Evangelium der Entfettungskuren«. Es hatte sich der moderne Schlankheitskult herausgebildet, der bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben ist. Es wurde zur Ehrensache für jeden einzelnen, kein Gramm Fett mehr am Körper zu haben als unbedingt nötig. Das Körperfett wurde seit der Jahrhundertwende zu einem sozialen Stigma und die Körpergewichtswaage zur »Herrscherin über manche Körper«. Nicht körperliche Sünden, sondern »Eßsünden« wurden nun sozial geahndet, selbst wenn es immer wieder Versuche gab, dies als »unmodern« zu deklarieren. In der Diätliteratur wurde das ursprünglich gesundheitliche Motiv immer mehr vom ästhetischen Aspekt des »Schlankseinwollens« in den Hintergrund gedrängt, d. h. es ging in den modernen Schlankheitsdiätratgebern primär um eine schnelle und effektive Gewichtsabnahme; die Gesundheit spielte dabei nur noch eine sekundäre Rolle, was dazu berechtigt, vom »Schlankheitswahn« zu sprechen. Abschließend lassen sich noch einmal die vier historischen Entwicklungsphasen des modernen Schlankheitskults zusammenfassen: 1.) Bis ins 17. Jahrhundert galt Leibesfülle als Statussymbol für Macht und Reichtum und blieb bis dahin ein Privileg der Oberschicht in der Mangelgesellschaft. 2.) Seit der Aufklärung wurde Fettleibigkeit als Gesundheitsproblem problematisiert und thematisiert. Edle Schlankheit wurde zum Schönheitsideal der Oberschicht und allmählich auch der wohlhabenden Bürgerschicht. 3.) Seit dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wurde Schlankheit mit positiv bewerteten bürgerlichen Tugenden der christlichen Tradition und der Aufklärung in Zusammenhang gebracht, mit Mäßigkeit, Bescheidenheit und Einfachheit. 4.) Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Schlankheitskult mit dem Sonnen-, Jugend-, Körper- und Fitnesskult (Sport, Tanz,

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Gymnastik) verbunden. Es entstand das Ideal des athletischschlanken, sonnengebräunten Körpers als Vorbote der modernen Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft. »Der Krieg gegen den Speck« oder »Fettphobia« – Soziosymptome der modernen westlichen postindustriellen Welt? Die Wahrnehmung und Darstellung des Körpers ist kulturell vermittelt, und das Essen bietet eine Möglichkeit, die körperliche Erscheinung zu gestalten. Deshalb muss die Geschichte des menschlichen Körpers oder die »somatische Kultur«, wie es in der neueren Erfahrungs- und Diskursgeschichtsforschung heißt, aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet werden. Leider mangelt es an einer interdisziplinären Zusammenschau des so weit gefächerten Themas, die über das Diskutieren von Theorien hinausgeht und nach praktischen Beispielen der Körper-»Kultur« in der Geschichte sucht. Es ist in den modernen »Körpergeschichten« oft versucht worden, den aktuellen, vor allem in westlichen Ländern wahrnehmbaren Schlankheitskult mit Elias’ Zivilisierungstheorie, Foucaults Disziplinierungstheorie, Webers Rationalisierungstheorie, der Taylorisierung oder Veblens Theorie der feinen Leute zu erklären. Aber reichen diese Erklärungsansätze aus? Unterliegt das Schlankheitsideal nicht sowohl einem Zivilisierungs-, Disziplinierungs- als auch einem Rationalisierungsprozess? In der Gender History spricht man auch vom Normalisierungs- und Materialisierungsprozess. Selbstverständlich ist es ebenso ein schicht- und rollenspezifisches Phänomen, aber was fehlt da noch? Die Norm des schlanken Körpers lässt sich nicht einfach als Ersatzmachtinstrument der Männer zur erneuten Unterdrückung der kämpferisch errungenen Freiheit der emanzipierten Frau interpretieren, denn mittlerweile sind auch Männer vom Schönheitsideal eines athletisch-schlanken Körpers betroffen, quälen sich in Bodybuildingzentren und erkranken an lebensgefährlichen Essstörungen. Der Schlankheitsbegriff ist kein klar zu definierender Begriff. Er ist und bleibt ein Abstraktum, da er sich im Mentalitätsgefüge der Geschichte stetig wandelt und klare Definitionen nur semantische Momentaufnahmen darstellen. Er ist interkulturell konstruiert,

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verändert sich mit dem jeweiligen Gesellschaftsbild und unterliegt mentalitätsgeschichtlichen Wandlungsprozessen. So gilt die Fettleibigkeit, die von der Medizin als »Übergewicht« oder »Adipositas« zur Krankheit erklärt wird, in vielen afrikanischen, asiatischen und arabischen Gesellschaften als Schönheitsideal. Die Geschichte des Schlankheitsideals ist eine dichotome Paradoxiengeschichte, da es einerseits um die Lebenswirklichkeit des Überflusses und das daraus resultierende Schönheitsideal des schlanken Körpers als Statussymbol, andererseits um die Lebenswirklichkeit des Mangels und das daraus resultierende Schönheitsideal der Beleibtheit als Wohlstandsindiz geht. Dieses Paradox bestimmte die jeweilig vorherrschenden Schönheitsideale. Solange die Nahrungsversorgung für breite Bevölkerungsschichten nicht gesichert war, symbolisierte ein beleibter Körper Wohlstand. Erst ab dem 18. Jahrhundert, als durch ein verbessertes Transport- und damit auch Versorgungswesen eine relative Balance der Nahrungsversorgung eintrat, begann das Bürgertum dem bis dahin »adeligen« Schlankheitsideal nachzueifern, das sich im 19. Jahrhundert verfestigte und im 20. Jahrhundert erste historisch feststellbare Höhepunkte erzielte, denn die wachsende Kontinuität in der Nahrungsversorgung schuf Raum für die Definition alternativer Ziele der Ernährung. Essen und Trinken konnten einer vernunftsmäßigen Kontrolle unterworfen und bestimmten sozialen Intentionen verpflichtet werden. An die Stelle unreflektierter Verzehrstraditionen trat zugunsten der Gesundheit und Schönheit das bewusst gesteuerte Essverhalten, das doch jederzeit wiederum vom »Genussmenschen«, der seinen übermäßigen Esstrieb nicht bezwingen kann, gestört werden konnte. Der Mensch besteht nicht nur aus »ratio«, sondern auch aus Emotionen, weshalb die rationale Zügelung des Essverhaltens nicht immer gelingt. Es handelt sich hierbei streng genommen um eine Schlankheits-»Utopie«, ein Ziel, das von einem schwindend kleinen Prozentsatz der Bevölkerung laut genetischer und konstitutioneller Voraussetzungen erreichbar ist. Diese elitäre Minderheit weniger Schlankheitsidealkörper vermarktet ihre metrisch-kanonischen Vorzüge meist direkt auf den Laufstegen, Leinwänden oder sonstigen Tribünen der Öffentlichkeit. Da nur wenige Auserwählte von Natur aus über einen solchen

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perfekten jugendlichen Idealkörper verfügen, schrecken manche Menschen auch vor lebensgefährlichen Fett-weg-Präparaten und Schönheitsoperationen wie Fettabsaugeverfahren, Liftings etc. nicht zurück. Eine Folge dieses künstlichen Schlankheitsideals sind Manipulationen jeder Art. Selbst Starfotos werden am Computer »gemorpht«, d. h. nachträglich bearbeitet, ein dicker Bauch wegretouchiert oder die Hüften optisch schmaler gemacht. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Gentechnik noch eingreift! In der Geschichte von Körperschönheitsidealen springt nicht nur der Prozess der Rationalisierung, Disziplinierung, Normierung, Metrisierung, Taylorisierung des Körpers ins Auge, sondern insbesondere seine Perfektionierung – eine Tendenz, die sich im heutigen Alltagsleben in vielen Bereichen feststellen lässt. Nicht nur die Technik und die Kommunikationsmittel werden zunehmend perfektioniert, sondern auch der menschliche Körper und seine Lebensvorgänge (in Bezug auf das Essen denke man hierbei z. B. an »functional food«). Schlankheit allein genügt nicht mehr, nein, zusätzlich müssen die sekundären Geschlechtsmerkmale hervorstechend modelliert sein. Ausgezeichnete Beispiele hierfür geben die im Internet kursierenden Cyber-Space-Heldinnen und -helden ab, die in Bezug auf den Frauenkörper überdimensionale schlanke Beine, schmale Hüften und dennoch »sexy« wirkende große Brüste besitzen oder in Bezug auf den Männerkörper über einen Waschbrettbauch, breite Schultern und muskulöse Oberarme, Beine und einen straffen Po verfügen. Bodybuilding- und Fitnesszentren verzeichnen enorme Zuwachsraten bei ihrer Kundschaft, und Spezialpräparate erobern, wenn sie auch offiziell verboten sind, per Internet den Schwarzmarkt der persönlichen Eitelkeit. Und da die künstlich konstruierten und von den Medien transformierten Körperideale kaum noch auf natürlichem Weg zu erreichen sind, nehmen die Silikonimplantate in den Brüsten der Frauen und in den Gesäßen der Männer, insbesondere in Amerika, wo der Wahn des perfekten Körpers noch stärker ausgebildet zu sein scheint, rapide zu. Andere versuchen sich des Ursprungs der Schlankheitsidee zu besinnen und lediglich aus rein gesundheitlichen Gründen in Form zu bleiben. Dennoch: Das moderne Schlankheitsideal hat sich vom Gesundheitsideal entfernt

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und dem allgemeinen Perfektionierungsprozess untergeordnet. Im Zeitalter der modernen Genmanipulation wird wohl noch einiges mehr möglich sein, denn heute ist es z. B. in Amerika bereits möglich, von bildschönen, hochdotierten Fotomodellen Eizellen zwecks exkorporaler Befruchtung zu erwerben. Dort scheint der oberflächliche Perfektionierungs- und Manipulationsdrang noch deutlicher ausgeprägt zu sein, denn empirische psychologische Studien zeigen, dass das äußere Erscheinungsbild bei der Beurteilung einer Person nach ihren Charaktereigenschaften niemanden unberührt lässt. Die Geschichte der Diätkost und der alternativen Körperkultur standen hier im Zentrum der Schlankheitsthematik und wurden hier erstmals zusammen betrachtet; aber vielleicht wäre es ebenso interessant, zum Beispiel den Vormarsch des Schlankheitsmotivs in Kochbüchern oder allgemeiner Sportliteratur historisch zu untersuchen.

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