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German Pages 160 Year 2016
Dennis Göttel, Florian Krautkrämer (Hg.) Scheiben
Edition Medienwissenschaft
Dennis Göttel, Florian Krautkrämer (Hg.)
Scheiben Medien der Durchsicht und Reflexion
Gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur und die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.
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Inhalt
Einführung
Dennis Göttel & Florian Krautkrämer | 7 Fenster, Spiegel, Spur. Susan Sontags fotografische Metaphern der »selektiven Transparenz«
Katja Müller-Helle | 15 Knacks/Bürgerkrieg: Das Glasnegativ als politische Oberfläche
Ulrich Meurer | 27 »Als blickten wir durch eine Glasscheibe in den realen Raum«. Objektive und die Analyse audiovisueller Medien
Florian Krautkrämer | 41 Through the Looking Glass – die Glasscheibe als kinematografisches Ding. Bild(produktions)ästhetische und dingtheoretische Bemerkungen und Ansichten
Matthias Thiele | 55 Schichten und der Zwischenraum. Über Ästhetik und Funktion von Scheiben im 3D-Film am Beispiel von Martin Scorseses HUGO
Eva Kuhn | 89 Gitter | Scheibe. Medien der Tierschaustellung zwischen Transparenz und Opazität
Sabine Nessel | 105
Unterscheiden über Leichen unter Scheiben und Gleichen. Zum Wahrnehmen politischer Gewalt durch spielfilmische Undurch - und Einsicht in Abscheibungen
Drehli Robnik | 115 Im Schaufenster: Arbeit hinter Glas
Klara Löffler | 127 Die neue Materialität der Kommunikation
André Wendler | 141 Autoren | 153
Einführung D ENNIS G ÖTTEL & F LORIAN K RAUTKRÄMER
Glasscheiben sind ein Relais zwischen Raum und Bild. Als architektonisches Element geben Scheiben Sicht auf etwas frei, das durch die Rahmung quasibildlich wird. Aufgespannt zwischen räumlicher Tiefe und bildlicher Fläche konstelliert sich an der Scheibe ein Spannungsverhältnis. Eine nicht unähnliche Spannung finden wir auch in einer bildmedialen Anordnung wieder: beim projizierten Bild auf der Kinoleinwand. Ist in der Filmtheorie die Metapher des Fensters prominent, fand Hugo Münsterberg für das Kino eine etwas andere Analogie: Münsterberg assoziierte die Filmschau nicht mit dem Blick durch ein geöffnetes Fenster, sondern begriff die Leinwand als schier unwahrnehmbare, dennoch vorhandene Grenze – »als blickten wir durch eine Glasscheibe in den realen Raum.«1 Die Betonung dieses vermittelnden Elements ist gerade für diese Zeit (1916) ungewöhnlich, und sie schlägt außerdem eine Brücke zur Art und Weise, wie wir heute überwiegend bewegte Bilder rezipieren: nämlich mit digitalen Endgeräten tatsächlich auf Scheiben, die, wenn sie denn gerade keine Bilder zeigen, opak werden. Doch Münsterberg ist zunächst einmal anschlussfähig zu Strömungen seiner Zeit. Die Glasarchitektur, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der Veränderung und Verbesserung von Baumaterialien immer mehr Einsatzmöglichkeiten erhielt und bei vielen Architekten auf großes Interesse stieß, wollte nicht nur transparente und helle Räume schaffen, sondern auch eine Verbindung: Wände aus Glas ermöglichten die Simultaneität von Innen und Außen. Für den Architekten Frederick Kiesler etwa stellte das Glas den Vorzug dar, als einziges
1
Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel – eine psychologische Studie und andere Schriften zum Kino, Wien: Synema 1996, S. 43. Siehe zu dem Zitat auch den Aufsatz von Florian Krautkrämer in diesem Band.
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Baumaterial gleichzeitig Oberfläche und Raum auszudrücken. 2 Glas ist seitdem aus Architektur und Städtebild nicht mehr wegzudenken.3 Vorzeigebauten wie beispielsweise die gläsernen Pyramiden vor dem Louvre, die vom selben Architekten, Ieoh Ming Pei, besorgte Erweiterung des Zeughaus in Berlin mit gläserner Treppe und Glasfront, die Glasfront der Holländischen Botschaft in Berlin von Rem Kohlhaas oder die 2012 eröffnete Dependance des Louvre in Lens mit einer weitläufigen gläsernen Eingangshalle der japanischen Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa – sie alle künden von der Idee der Transparenz bei diesen symbolbeladenen Gebäuden ebenso wie von der anhaltenden Faszination vom Bauen mit Glas. Doch Glasarchitektur allein reicht nicht, um uns heute noch ein Gefühl davon zu geben, als lebten wir in der Zukunft. Dafür muss die Glasscheibe selbst zum Medium werden und zwar nicht nur als Bildträger wie bei der Fotografie im 19. Jahrhundert,4 sondern als interaktive, flexible und ubiquitäre Schnittstelle. In IRON MAN (USA 2008, R: Jon Favreau) geht Tony Stark (Robert Downey jr.) nicht mehr nur zu einem Computerbildschirm, um Informationen abzurufen, er bedient hierfür gleich eine der Scheiben seines High-Tech-Appartements, die somit Aus- und Einblick zugleich bieten. 5 Werbeclips des amerikanischen Glasherstellers Corning, in denen sich an jeder Stelle eines Appartements solche interaktive Scheiben befinden, zeigen, dass uns diese Zukunft unmittelbar bevorsteht.6 Der Konnex von Scheiben und technischen Bildmedien zeichnet sich indes schon weit früher ab – vor dem digital turn und vor der audiovisuellen Diversifizierung. Ob es bloß Zufall ist, dass zwei Projekte, in denen die Glasscheibe in kinematografischen Dispositiven eine gewichtige Funktion zukommen sollte, nicht verwirklicht wurden, sei dahingestellt; es lässt sich indes vermuten, dass technische Umsetzbarkeit wie Finanzierung eine gewisse Rolle in ihrem Nichtzustandekommen spielten. So nimmt sich Francis Ford Coppolas Projekt
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Siehe Friedberg, Anne: The Virtual Window: From Alberti to Microsoft, Cambridge, Mass: MIT 2006, S. 119.
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Klara Löffler schreibt in diesem Band vor allem über die Einsichten in Ladengeschäfte im heutigen Wien.
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Zu einigen Aspekten des Glasnegativs im 19. Jahrhundert in den USA siehe den Aufsatz von Ulrich Meurer in diesem Band.
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Zur Verbindung von Fenster und Mediendispositiv siehe Friedberg: The Virtual Window. Zur Scheibe als Motiv im Film siehe auch den Beitrag von Matthias Thiele in diesem Band.
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Siehe hierzu den Aufsatz von André Wendler in diesem Band.
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ELECTIVE AFFINITIES, eine Verfilmung von Goethes Wahlverwandtschaften, Ende der 1970er Jahre nicht nur deswegen als megaloman aus, weil es sechzehn Stunden lang sein, nicht nur, weil seine Vorführung Hologramm- und 3DProjektionen7 integrieren sollte – geplant war überdies der Bau eines riesigen Kinos in den Rocky Mountains, in dem ELECTIVE AFFINITIES exklusiv gezeigt worden wäre. Dieses Kino sollte rundum verglast sein, damit sich den Zuschauer/-innen zuallererst die Landschaft dargeboten hätte. Mit der Verdunklung der Scheiben (über die technische Umsetzung finden sich keine Details) sollte dann unmittelbar das multimediale Spektakel beginnen. Dass diesem qua Glasscheiben der Blick in die Naturlandschaft vorausgehen sollte, macht das Kino mit dem Kant’schen Erhabenen verwandt. Der geschmeidige Übergang von landschaftlichen hin zu technischen Gigantismen, diese Blickordnung auf die Rocky Mountains (aus den Kinosesseln heraus) steht darüber hinaus in der Tradition der amerikanischen Kulturgeschichte und ihrer mythischen Aufladung jener Gebirgskette. Dass bei Coppola aber keine Landschaftsmaler mehr über die Berge kraxeln, um wie im 19. Jahrhundert am amerikanischen nation building mitzuarbeiten, sondern dass das Publikum nun einen »new kind of mental theme park« (Coppola) hätte besuchen dürfen, vollendet das Regime des touristischen Blicks auf die schroffe Landschaft. Die Glasscheibe, die das Kino mit der Umwelt hätte verschmelzen lassen, ist hier noch die Karikatur einer letzten frontier. Abbildung 1: Dan Graham, Cinema (1981)
© Dan Graham
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Zum 3D-Kino und seinem ästhetischen Verhältnis zu einem Beispiel urbaner Glasarchitektur des 19. Jahrhunderts, nämlich dem Bahnhof, vgl. den Beitrag von Eva Kuhn in diesem Band.
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Zu gleicher Zeit, aber ganz anders ist das Verhältnis zur Umwelt in Dan Grahams Projekt Cinema gestaltet, wo das Kino in seinem angestammten, nämlich urbanen Raum verortet bleibt. Zwar ebenfalls nicht realisiert, ist Grahams Projekt gleichwohl detailreich skizziert und als mock-up modelliert. Der Kinoraum sollte im Erdgeschoss eines Gebäudes untergebracht sein. Diese Lage ist deswegen bedeutsam, weil Graham mit speziellen Glasscheiben ein Wechselspiel von Straßenleben und Kino, von Passantinnen und Passanten und Filmzuschauer/-innen im Sinn hatte. Die Fassaden und die Kinoleinwand selbst (an einer Ecke des Raums) sollten aus einem verspiegelten ZweiwegeGlas sein und durch die wechselnden Lichtverhältnisse von Innen- und Außenraum von der einen Seite Sicht ermöglichen, von der anderen verhindern. Während der Projektion wäre es Spaziergänger/-innen so möglich, bei lichtintensiven Szenen den Film spiegelverkehrt zu betrachten, bei dunkleren Szenen hingegen durch die Glas-Leinwand das Kinopublikum zu erspähen. Umgekehrt ist die Situation für das Publikum: es kann, qua Dunkelheit des Saals, Straßenimpressionen erhaschen, während die Fassade eine Spiegelfläche bildet. Vor und nach einer Filmprojektion ist das Verhältnis umgekehrt: Von draußen lässt sich das Publikum sehen. Gregor Stemmrich8 bezieht Grahams Kinobau auf die in der Filmtheorie oppositionellen Metaphern der Leinwand als Fenster 9 zum einen, als Spiegel zum anderen, die nun hier in ein dynamisches Verhältnis gebracht werden, welches erst durch die technische Innovation des Glasmaterials ermöglicht wird. Von heute her perspektiviert, öffnet sich mit Cinema außerdem eine Fährte zu den multiplizierten und heterogenen Orten und Techniken audiovisueller Medien. Wo bei Graham Kino und Stadt noch zwei getrennte Entitäten sind, haben sich die Kinos dieser Tage längst als verschachtelte Multiplexe verbarrikadiert, während das Glas selbst nun auf den Straßen ist: als Oberfläche von Smartphones und Tablets. Auch dort hat es nun die Eigenschaft von Fenstern und Spiegeln gleichermaßen: einmal ist das Glas dort berührbare Bildfläche, einmal – bei Selfies oder Videochats – reflektiert es die User zwar nicht unmittelbar, aber via Minikamera ruft es sie doch auf den Schirm. In den letzten Jahren reflektiert die Glasarchitektur jenen Einfluss der ubiquitären Screens. 2007 wurde der Grand Canyon Skywalk eröffnet, der ebenfalls
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Vgl. Stemmrich, Gregor: »Heterotopien des Kinematographischen – Die ›institutional critique‹ und das Kino in der Kunst Michael Ashers und Dan Grahams«, in: Ders. (Hg.), Kunst / Kino [Jahresring 48, Jahrbuch für moderne Kunst], Köln: Oktagon 2001, S. 194-216.
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Zur Fenster-Metapher wiederum in der Geschichte der Fototheorie vgl. den Beitrag von Katja Müller-Helle in diesem Band.
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zugleich als Träger virtueller Bilder und (begehbarer) Schutz fungiert. Wie ein liegendes U aus Glas ragt der Skywalk über 20 Meter lang in den mehrere hundert Meter tiefen Abgrund. Da auch der Boden aus Glas ist, soll so das Gefühl vermittelt werden, als schwebe man wie ein Adler über dem Canyon. Das Versprechen des Skywalks ist aber weniger eines, das sich auf der »realen Erfahrung« des Fluggefühls gründet: der Colorado River befindet sich nicht direkt unterhalb des Skywalks, durch Felsvorsprünge beträgt die Sicht durch den Glasboden »nur« ungefähr 200 Meter, der 1000 Meter tiefer liegende Fluss ist nicht direkt zu sehen. Zwar herrscht auf dem Skywalk aus Sicherheitsgründen ein Fotografierverbot, im Internet lassen sich jedoch trotzdem Aufnahmen finden – allerdings wird die begehbare Scheibe dabei nicht nur zur Durchsicht, sondern ihr Reflexionsvermögen auch als Möglichkeit zum Knipsen von Spiegelselfies genutzt. Aber das Versprechen des Skywalks ist nicht der begehbare Spiegel, sondern das Fluggefühl: »Like an eagle in the sky«, heißt es auf der Homepage und dieses Fluggefühl kennen wir aus 3D-Animationen oder spektakulären Kameraflügen, die auch auf zahlreichen Websites zum Grand Canyon gezeigt werden. Nicht der bessere Ausblick ist das Ziel der Promenade in luftiger Höhe, sondern ein Flug ohne Hubschrauber. Dass man das Glas dabei auch in seiner materiellen Eigenschaft als transparent ansieht, zeigen die zahlreichen touristischen Aufnahmen, bei denen sich die Portraitierten mit dem Bauch auf den Glasboden legen und die Arme wie zum Flug seitwärts ausstrecken: like an eagle in the sky. Die Scheibe im Skywalk ist kein Fenster mehr, auf ihr zeichnet sich auch kein Bild mehr ab, es ist selbst ein »image-space«,10 ein Ort, der als Bild konstruiert wurde: die Architektur zieht die Besucher in die Realität eines Bildes. Dieses Bild soll sich für die Besucher im Verschwinden der Scheibe realisieren. Das versprochene Fluggefühl rekurriert auf einen Medienverbund, bei dem dieses Gefühl eben nicht durch die »reale« Erfahrung des Fliegens gemacht wurde, sondern durch die Rezeption eines Fluges durch den Canyon, wie man ihn in zahlreichen Werbevideos sehen kann. Und auch das Werbevideo des Skywalks ist durchsetzt von Flügen über und um den Glasbau herum. Die Verschmelzung von Scheibe und Screen bzw. Leinwand findet sich in verschiedenen Museums- und Science-Center-Architekturen auch ganz
10 Siehe zum Grand Canyon Skywalk und dem »image-space« Bieger, Laura: »Travelling in Image-Space. The ›New‹ Las Vegas and the Grand Canyon«, in: Renate Brosch (Hg.), Moving images – mobile viewers: 20th century visuality, Berlin: Lit 2011, S. 43-64.
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konkret.11 Das Haus der Berge im Nationalpark Berchtesgaden ist solch ein Beispiel. Das 2013 eröffnete Science-Center informiert die Besucher über die Natur- und Lebensräume der Umgebung; im geschützten Raum kann man den Verlauf der Jahreszeiten verfolgen und sich über die Tiere des Parks auf Touchscreens informieren lassen. Verschiedene Lichtstimmungen imitieren auf- und untergehende Sonne innerhalb der künstlichen Berglandschaft. Diese »Vertikale Wildnis«, so der Name der Ausstellung, befindet sich in einem großen Kubus, der an zwei gegenüberliegenden Seiten von ganzflächigen Panoramaglasscheiben eingefasst wird. Anders als man vermuten könnte, hat die Glasscheibe hier nicht die Aufgabe, wie bspw. im gläsernen Wintergarten Ludwigs II., immersiv zu wirken und den Besuchern eine künstliche Landschaft unter realem Himmel zu suggerieren.12 Damit die Ausstellung funktioniert, muss die Scheibe verdunkelt werden. Für die Außenansicht wird sie dadurch zum Spiegel: die verhinderte Einsicht führt zur Spiegelung der Umgebung, der »realen Berge« in der Fassade des Hauses. Abbildung 2: Haus der Berge
© Nationalparkzentrum
11 Zur Nähe von Film/Kino, Glasscheibe und spezieller architektonischer Ausformung siehe den Aufsatz von Drehli Robnik in diesem Band. 12 Siehe hierzu: Werber, Niels: »Das Glashaus. Medien der Nähe im 19. Jahrhundert«, in: Pablo Abend/Tobias Haupts/Claudia Müller (Hg.), Medialität der Nähe. Situationen – Praktiken – Diskurse, Bielefeld: Transcript 2012, S. 367-382.
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Für den Blick von innen wird die Scheibe nur an wenigen Momenten, dafür aber ganz gezielt inszeniert: Für die Besucher, die am Ende der Ausstellung angelangt sind, wird ein Infofilm von innen auf die verdunkelte Scheibe projiziert. Auf der 150 Quadratmeter großen Leinwand kann man die vier Jahreszeiten an unterschiedlichen Orten des Nationalparks mitverfolgen. Das größte Ereignis befindet sich zwar im Film, wird aber nicht projiziert. Er endet mit einer Öffnung der Leinwand und gibt somit unter gleißendem Lichteinfall den Blick auf die Alpenlandschaft frei. Die Scheibe wird zur Leinwand, auf der sich die Alpen abbilden.13 In diesem Beispiel ist es weniger die medientechnische Anreicherung der Glasscheibe, die diese in ein mediales Dispositiv einspeist, als vielmehr die Inszenierung derselben sowie das Wissen, dass Scheiben auch Screens sein können. Die Scheibe ist hier weniger eine Durchsicht ermöglichende Trennung, als vielmehr multifunktionales Display, der Berg somit kein »realer« Berg, sondern sein Abbild, das sich auf der Scheibe abzeichnet. 14 Alle diese hier angeführten Beispiele skizzieren Verhältnisse von Glasscheiben, Architekturen und (post-)kinematografischen Dispositiven. Im Kontext der neueren Screen Studies kann der Gegenstand der Glasscheibe als spezifischer Bildträger theoretisch konturiert werden. Denn ähnlich wie es der klassischen Leinwand oft in der Kinogeschichtsschreibung passiert ist, könnte auch die Glasscheibe nur allzu leicht als passives, ja irrelevantes Ding übersehen werden. Gegenüber einer ahistorischen Medien- und Kinogeschichtsschreibung insistieren Forschungen der Screen Studies nicht allein auf der Mannigfaltigkeit audiovisueller Dispositive der Unterhaltungskultur ebenso wie in anderen (z. B. wissenschaftlichen oder schulischen) Kontexten. Außerdem verfolgt der Begriff eines »networked screen«15 die Idee, dass Leinwände, Interfaces oder Bildschirme Wahrnehmung kokonstituieren – und keinesfalls bloße Flächen der Reproduktion sind. Die historische Vielfalt der Formate und Materialien von Bildflächen in diversen institutionellen und ästhetischen Regimen aufzuzeigen, ist eines der Hauptanliegen jener Forschungen.
13 Zum Zusammenfallen von Leinwand und (in diesem Fall diegetischer) Glasscheibe siehe auch den Aufsatz von Sabine Nessel in diesem Band. 14 Siehe hierzu auch Baudrillard: »Glass works exactly like atmosphere in that it allows nothing but the sign of its content to emerge, in that it interposes itself in its transparency« (Baudrillard, Jean: The System of objects, London 1996, S. 42). 15 Wasson, Haidee: »The Networked Screen: Moving Images, Materiality, and the Aesthetics of Size«, in: Janine Marchessault/Susan Lord (Hg.), Fluid Screens, Expanded Cinema, Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press 2007, S. 74-95.
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Die Beiträge dieses Bands16 nehmen eine solche Fährte auf und stellen Glasscheiben als ein Ding diverser medialer Operationen und Anordnungen vor. Mit der Scheibe als Kristallisationspunkt werden die thematisierten technischen Bildmedien – Fotografie, Film, Kino, digitale Medien – als materielle Kulturen begriffen, in denen das Produzieren, Generieren und Zeigen von Bildern eingelassen ist. Durch die Geschichte technischer Bildmedien hindurch, vom 19. bis ins 21. Jahrhundert, werden in den Beiträgen Scheiben aufgespürt und als Medien verhandelt. Deutlich wird dabei, dass eine Mediengeschichte der Glasscheibe nicht nur Fragen der Ästhetik berührt, vielmehr soziale, politische und ökonomische Aspekte mit einbezieht. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Glasscheiben nicht nur materielle Dinge, sondern symbolisch aufgeladene Figuren der Transparenz sind. Was sich als politischer Topos schon durch die Architekturtheorie zieht, wird gerade im Kontext technischer Bildmedien problematisierbar: Denn hier steht die Funktion der Scheibe als Medium der Durchsicht ebenso infrage, wie immer auch wieder das damit verbundene Phantasma der Durchlässigkeit.
16 Der vorliegende Band versammelt die Beiträge der Tagung »Scheiben. Medien der Durchsicht und Speicherung«, die am 23. und 24. Januar 2015 an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig stattfand.
Fenster, Spiegel, Spur Susan Sontags fotografische Metaphern der »selektiven Transparenz« K ATJA M ÜLLER -H ELLE
»[A] photograph can be treated as a narowly selective transparency.« SUSAN SONTAG (1977)
Zehn Jahre nach ihren philosophischen Essays zur Fotografie und unter dem Druck von Geldsorgen schrieb Susan Sontag 1987 im Vorwort eines Katalogs des italienischen Fotoarchivs Alinari: »Photographs are not windows which supply a transparent view of the world as it is, or more exactly, as it was. Photography gives evidence – often spurious, always incomplete – in support of dominant ideologies and existing social arrangements. They fabricate and confirm these myths and arrangements.«1 Anders als die italienischen Herausgeber es sich gewünscht hatten, las Sontag die Fotografien ihrer Sammlung nicht 1
Sontag, Susan: »Foreword«, in: Cesare Colombo, Italy: One Hundred Years of Photography. Fratelli Alinari, Florence 1988, S. 13. Wie der bisher unveröffentlichten Korrespondenz Susan Sontags im Susan Sontag-Archiv in Los Angeles zu entnehmen ist, drängt sie noch im August 1987 auf eine Bezahlung: »And I hope you won’t oblige me to remind you again about the payment. [...] My need for this payment is urgent.« In einem handgeschriebenen Entwurf zum abgeschickten Brief findet sie noch stärkere Worte für ihre Enttäuschung, die sie jedoch mehrfach wieder durchstreicht: »[...] I wish you wouldn’t put me in this position.« Box 71, F. 10, Susan Sontag Papers (Collection 612). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA.
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einfach als Belegstücke einer Sozialgeschichte Italiens oder einer Entwicklungsgeschichte des fotografischen Mediums.2 Ihr Anliegen richtete sich auf die wesenhafte Bestimmung der Fotografie, welche nicht durch eine Nacherzählung der Geschichte des Mediums zu haben war, sondern in einem Zusammenschluss verschiedener Metaphern als Problemlage in ihrem Schreiben aufblitzt. In einer ersten Version zum Vorwort bemerkte Sontag: »Photographs are traces, but not windows which give us a transparent view of the world as it is --- more exactly, as it was. They are a particular kind of sign system producing the illusion of reality (what Barthes called: ›the effect of the real‹.)«.3 Sontag tilgte in der publizierzierten Fassung die Idee der Spur, auch ihren direkten theoriegeschichtlichen Verweis zum Wirklichkeitseffekt Roland Barthes’, dem sie einen ganzen Reader gewidmet hatte.4 Sie entwickelte ein schwieriges sprachliches Bild zur Beschreischreibung eines transparenten Mediums, welches gleichzeitig nur partiell Evidenz auf das Vergangene freigebe – »often spurious, always incomplete«.5 In Sontags Schreibvorgang scheint die Idee der Spur, der direkten physischen Einschreibung fotografischer Artefakte erst einmal zugunsten der Konstruktion sozialer Realität verdrängt. Gleichzeitig wird die Idee einer Transparenz des Mediums nicht einfach abgeschafft. In ihrem bekanntesten Beitrag zur Theorie der Fotografie hatte Susan Sontag diese Doppelbegabung der Fotografie – einerseits einen Blick auf die Realität freizugeben, eine Spur der Realität zu sein, und gleichzeitig in Verstellungen und Partialitäten zu verharren – schon einmal beschrieben. »While painting or a prose description can never be other than a narrowly selective interpretation, a photograph can be treated as a narrowly selective transparency.« Und weiter: »But despite the presumption of veracity that
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»We hope you will simply read the photographs as they are presented, as a social hiscial history of the last 100 years in Italy, and as a record of the development of the photographic medium in this country.« George Tatge in einem Brief an Susan Sontag. Box 71, F. 10, Susan Sontag Papers (Collection 612). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA.
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Mit »draft I« gekennzeichnetes Manuskript. Box 71, F. 10, Susan Sontag Papers (Collection 612). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA.
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Sontag, Susan (Hg.): A Barthes Reader. Edited, and with an introduction by Susan san Sontag, New York: The Noonday Press 1982.
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In »draft I« dieser Textstelle ringt Sontag mit der Beschreibung der fotografischen Eischen Eigenschaften, was durch ihre geradezu gegenteilige Formulierung zum Ausdruck kommt, Fotografien seien »always complete« und nicht, wie in der publizierten Fassung, »always incomplete«.
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gives all photographers authority, interest, seductiveness, the work that photographers do is no generic exception to the usually shady commerce between art and truth. Even when photographers are most concerned with mirroring reality, they are still haunted by tacit imperatives of taste and conscience.«6 Auch wenn die Fotografie sich als Handlangerin der Wahrhaftigkeit darstelle, entkomme sie dem Handel zwischen Kunst und Wahrheit nicht. Sie unterscheide sich jedoch von den anderen Künsten der Malerei und der literarischen Prosa durch ihre »selektive Transparenz«. Nach Sontag ist die Fotografie demnach keine Interpretation der Realität, wie es in ihrer Konzeption ein Bild von Rembrandt oder ein literarisches Werk wie Tonio Kröger wäre. Die Fotografie gibt einen Blick auf die Realität frei und unterscheidet sich darin von anderen Medien; gleichzeitig kann dieser Blick immer nur selektiv und transformiert sein. Die spezifische Art und Weise, wie diese Realität gespiegelt werde (»mirroring reality«), kommt in Sontags getilgter Version der ersten Textstelle zum Tragen: »Photographs are traces, but not windows«. Fotografien sind Spuren, die nicht direkt mit dem tradierten Topos des Fensters als Ausblick und Durchblick verbunden werden können; dennoch ist ihnen eine selektive Transparenz auf die Realität zu eigen – einer vergangenen Realität. Im Folgenden soll die Rede von Fenster, Spiegel und Spur zur sprachlichen Beschreibung der Fotografie in ihrer historisch-materiellen Genese in Susan Sontags Schreiben aufgezeigt werden. Zum anderen soll der Beobachtung Rechnung getragen werden, dass Metaphern zur Beschreibung von Transparenz häufig nicht in Reinform, sondern in Mischformen und im Zusammenschluss verschiedener Metaphernfelder auftreten – gemäß der Doppelnatur der Fotografie, einerseits Durchsicht auf das Reale zu sein und andererseits Transformation des Realen zu ermöglichen.
I. Susan Sontag bezog ihr Bildarchiv, aus dem sie die Thesen zur Fotografie in On Photography entwickelte, vorwiegend aus der Tagespresse.7 Zeitungsausschnitte schnitte des bebilderten Tagesgeschehens der 1970er aus »The New York Times«, »The Herald Tribune« und »The Village Voice«, die erste der alternati-
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Sontag, Susan: On Photography. New York: Farrar, Straus and Giroux 1977, S. 6. 6. Susan Sontag veröffentlichte von Oktober 1973 bis Juni 1977 Essays zur Fotografie in »The New York Review of Books«, die in veränderter Form in ihrem ersten Buch über Fotografie »On Photography« erschienen.
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ve weeklies, in der so namhafte Autoren wie Henry Miller, Katherine Ann Porter oder Ezra Pound schrieben, zeigen ihr Interesse an der medialen Konstruktion des tagespolitischen Geschehens. Die ikonischen Schreckensbilder des VietnamKriegs, Berichte über Apartheit-Opfer gemischt mit Satellitenbildern der Erde aus 36.000 Kilometern Entfernung und Nightclub-Dokumentationen. Abbildung 1: Zeitungsausschnitt mit schriftlicher Datierung Feb. 16, 1974
Quelle: Archival Images from the Susan Sontag Papers (Collection 612). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA, Los Angeles. Copyright © Susan Sontag, used by kind permission of David Rieff and The Wylie Agency (UK) Limited.
Die Bestimmung des Fotografischen zerstückelt sich hier in den vielen ausgerissenen Zeitungsausschnitten, deren versprengte Logik nur von dem sie umfassenden Folder des Archivs zusammengehalten wird. Am überraschendsten aber: unzählige Werbeanzeigen des neuen Polaroid-Sofortbild-Verfahrens SX-70, der neuen Leica oder Minox. Umso verwunderlicher, dass sie ihren gesammelten Essays zur Fotografie, die während ihrer Sammlungstätigkeit entstanden, kein zeitpolitisches Statement in Bildform voranstellte, sondern den ansonsten bilderlosen Band mit eine
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Vgl. die im Susan Sontag Archiv aufbewahrten Zeitungsausschnitte, Box 98, Folder 5, Folder 5, Susan Sontag Papers (Collection 612). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA.
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Daguerreotypie eines anonymen Fotografen aus den Tiefen der Geschichte des Mediums eröffnete.8 Abbildung 2: Anonym, Ohne Titel, Daguerreotypie, ca. 1850, 6.5 x 8.9 cm
Quelle: Collection of the Museum of Modern Art New York, Gift of Virginia Cuthbert Elliott, in: Michel Frizot, Histoire de voir, Bd. 1, Paris 1989, S. 23.
Die Reproduktion der Daguerreotypie von ca. 1850 auf dem Cover der englischen Erstausgabe von On Photography führt materialiter die Grundkonstellation von Sontags Schwanken zwischen der Spur des Referenten und der Gemachtheit der Darstellung auf der Oberfläche der Silberschicht vor.9 Ein Mann und eine junge Frau flankieren zu beiden Seiten eine Daguerreotypie, die ihrerseits mit einem Rahmen umfangen ist – das Bild im Bild zeigt eine Frau umringt von Kindern, vermutlich die verstorbene Frau und Mutter der in schwarz gekleideten Trauernden.
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Unknown Photographer, Untitled, Daguerreotype, ca. 1850, 6.5 x 8.9 cm, Collection lection of the Museum of Modern Art New York, Gift of Virginia Cuthbert Elliott.
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Jens Ruchatz stellt heraus, dass diese Daguerreotypie das einzige den Essays beigegebene Bild ist. Vgl. Ruchatz, Jens: »Bleiwüsten zur Austrocknung der Bilderflut. Susan Sontag und die Kritik an der fotografischen Reproduktion«, in: Jörn Glasenapp/Claudia Lillge (Hg.), Susan Sontags Fototheorie, Sonderheft der Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Heft 126, 2012, Jg. 32, S. 1122, hier S. 14.
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Die Komposition ist auf Durchblick und Verdopplung der im Foto festgehaltenen Verstorbenen gerichtet, deren Existenz durch das mahnende Herzeigen der Fotografie noch einmal bestätigt wird. Und doch zeichnen sich nicht nur Fehler der Emulsion auf der Oberfläche der Daguerreotypie im oberen Bereich des Bildes ab; auch wirft ein durch das Kunstlicht des Ateliers erzeugter Schatten drei schwarze Finger auf die obere linke Ecke der abgelichteten Daguerreotypie, wodurch ihre Oberfläche nicht als Trägerschicht der fotografischen Spur, sondern als verdunkelte Oberfläche des Materials, des Spiegels der Daguerreotypie hervortritt. Der Spiegel der Daguerreotypie ist ein materielles Kippbild: er ist gleichzeitig Träger von Repräsentation und ist Oberfläche des spiegelnden Materials. In der Frühzeit des Mediums hatte diese materielle Eigenschaft der Daguerreotypie einerseits zu einer spezifischen Handhabung geführt und setzte eine Beschreibungs- und Erklärungsfülle des neuen Bildmediums in Gang.10 Man hielt die Daguerreotypien in der Hand, drehte und wendete sie, um überhaupt das Bild und nicht sich selbst im Spiegel der Oberfläche betrachten zu können.11 Es wurde bei der Herstellung, wie in Handbüchern des 19. Jahrhunderts vielfach nachzulesen ist, besonders darauf geachtet, dass die Glasscheibe der Daguerreotypie vor der Belichtung so lange geputzt wurde, bis sie blitzblank war. Das war notwendige Voraussetzung dafür, dass das Bild die Bilder der Welt abspiegelnd auf seiner Oberfläche aufnahm und nicht von den Verschmutzungen der Oberfläche getrübt wurde. In diesen frühen Beschreibungen der Daguerreotypie ging es vorrangig um die Bestimmung der Fotografie im Register von Ähnlichkeit und Spur. Einer der wichtigsten Kommentatoren des frühen Verfahrens, Oliver Wendell Holmes, ging sogar so weit, die Zerstörung der abgelichteten Objekte nach ihrer fotografischen Aufnahme vorzuschlagen. »Man gebe uns ein paar Negative von Dingen, die es wert sind, betrachtet zu werden, aus verschiedenen Gesichtswinkeln aufgenommen, mehr wollen wir gar nicht. Reißen sie es ab, oder brennen Sie es nieder, falls sie mögen.«12 Dieser Vorschlag beruht auf der Vorstellung, dass durch das neue Aufzeichnungsverfahren der Fotografie
10 Vgl. Stiegler, Bernd: »Spieglein, Spieglein in der Hand. Zur Spiegelmetapher in der der frühen Fotografie«, in: Michael Hagner/Bernd Stiegler/Felix Thürlemann (Hg.), Charles Nègre. Selbstporträt im Hexenspiegel. München: Fink 2014, S. 45-51. Stiegler beschreibt die gesamte Frühzeit der Fotografie mit der Lacan’schen Terminologie des Spiegelstadiums. 11 Vgl. ebd., S. 45. 12 Holmes, Oliver Wendell: »Stereoskop und Stereographie« (1859), in: Michael C. C. Frank/Bernd Stiegler (Hg.), Oliver Wendell Holmes: Spiegel mit einem Gedächtnis. Essays zur Photographie, München: Fink 2011, S. 12-32, hier S. 30.
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Doubles von Straßen, Häusern, Denkmälern entstehen könnten, die ihre Vorgänger aus Stein überflüssig machen. Die Garantie für die direkte Übertragung der Objekte in ihre fotografischen Konterfeis wurde durch die physische Spur der Lichtstrahlen, die von dem Objekt auf die lichtempfindliche Schicht der Glasplatte traf, geleistet.13 Diese chemisch-technischen Produktionsbedingungen der Fotografie waren schon bei William Henry Fox Talbot, dem Erfinder des Positiv-Negativ-Verfahrens, oder dem Kommentatoren der frühen Fotografie François Arago zum Tragen gekommen. Wenn Susan Sontag nun in ihrem Textentwurf schreibt, »Photographs are traces, but not windows which give us a transparent view of the world as it is«, geht sie auf die wichtige Unterscheidung zwischen Spur und einem direkten, unverstellten Blick auf die Realität ›wie durch eine transparente Fensterscheibe‹ ein. Eine Fotografie kann eine physische Spur sein, ohne jedoch in einem direkten mimetischen Verhältnis zum abgelichteten Gegenstand zu stehen. Darin liegt der Zauber, der viele Kommentatoren der Fotografie nicht losgelassen hat: sie gibt ein Bild, welches gleichzeitig im Stande ist, die Realität als Stück der Realität zu transformieren. Und präziser noch: die Realität als Vergangenes (»as it [the world] was«). In der getilgten Version der Textstelle (»draft I«) wird der Realitätseffekt der Fotografie in die Vergangenheit gesetzt. Diese Gedächtnisfunktion der Fotografie, die Oliver Wendell Holmes als den »Spiegel mit einem Gedächtnis« bezeichnet hatte, entwickelte Susan Sontag anhand der Lektüre Roland Barthes’, der dies zum prominenten Paradigma seiner Hellen Kammer machte (»es ist so gewesen«). Mit der Betonung der Fotografie als Vergangenes bei Susan Sontag und bei Roland Barthes wird die wiederholte Rede von der unmittelbaren Verkettung der Fotografie mit ihrem Referenten in Form einer einfachen Ontologie des fotografischen Bildes brüchig. Barthes bemüht zur Erklärung des »geschichteten Objekts« der Fotografie zwar die Metapher der Fensterscheibe, mit der ein einfaches und reibungsloses Verhältnis der Fotografie und ihres Gegenstandes angezeigt wäre: die Fensterscheibe gewährt transparente Durchsicht auf das Reale. »Man könnte meinen, die Photographie habe ihren Referenten immer im Gefolge [...]: sie sind aneinander gebunden, Glied an Glied [...]. Die Photographie gehört zu jener Klasse von geschichteten Objekten, von denen man auch nicht zwei Blätter abtrennen kann, ohne sie zu zerstören: die Fensterscheibe und die Landschaft [...].«14 Und auch Susan Sontag betont in ihren frühen Schriften zur Fotografie, dass Fotografien nicht nur verzerrende Abbilder, sondern
13 Ebd., S. 14. 14 Barthes, Roland: Die helle Kammer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 13-14.
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»Bruchstücke«15 der Welt seien. Die Metapher der Fensterscheibe, durch die man ungetrübten Blickes hindurchsehen kann, verflüchtigt sich jedoch, wenn man Sontags und Barthes’ Gedanken zur abgelichteten Realität als Vergangenes ernst nimmt. Die Zeugenschaft der Fotografie bezieht sich, laut Barthes, nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit: »[W]as ich sehe, ist keine Erinnerung, keine Phantasie, keine Wiederherstellung, [...] sondern das Wirkliche im vergangenen Zustand: das Vergangene und das Wirkliche zugleich.«16 Auch bei Sontag wird der Realitätseffekt der Fotografie, die Transparenz des Mediums, mit einem Zeitpfeil in die Vergangenheit versehen: »A photograph passes for incontrovertible proof that a given thing happened. The picture may distort; but there is always a presumption that something exists, or did exist [...].«17
II. Abbildung 3: Cover von On Photography
Susan Sontag: On Photography, London 1978
15 S. Sontag: On Photography, S. 107. 16 R. Barthes: Die helle Kammer, S. 93. 17 S. Sontag: On Photography, S. 5.
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Betrachtet man das Cover der fototheoretischen Essays Susan Sontags und die Covers, die in weiteren Ausgaben die Daguerreotypie aus den 1850er Jahren in der Vielzahl der Reproduktionen untrennbar mit Sontags Kommentaren zur Fotografie verketten, vor dem Hintergrund der ihr zugesprochenen Qualitäten noch einmal, transformiert sich die spiegelglatte Oberfläche des Artefaktes aus dem 19. Jahrhundert in einer Vielzahl von reproduzierten Varianten in Grau-Schwarz und Sepia. Diese Fähigkeit zur Vervielfältigung und Kontextverschiebung der Spur eines einmal Dagewesenen wurde zum Einfallstor für die berühmte Kritik Susan Sontags an der fotografischen Technik. Während etwa Siegfried Kracauer in seiner Theorie des Films18, in der er den den Film als Medium der Welterschließung aus den Anfängen der Fotografie heraus entwickelte, die transformatorische Kraft der Fotografie herausstellte,19 ist die Spur der Fotografie bei Sontag umstellt von der Gefahr des Weltverlustes. In den vielen Reproduktionen werde die Welt nicht einfach verdoppelt; in ihnen werde eine Verfügbarkeit der Welt suggeriert, die vielfältigen Manipulationen unterworfen sei: »[...] but with still photographs the image is also an object, lightweight, cheap to produce, easy to carry about, accumulate, store.«20 Die leichte Handhabung der Fotografie wirkt dabei nicht nur innerhalb der Bilderwelt manipulativ, sondern greift ebenso in die Wirklichkeit der Dinge ein; darin liege ihre potenzielle Macht. »But a photograph is not only like its subject, a homage to the subject. It is part of, an extension of that subject; and a potent means of acquiring it, of gaining control over it.«21 Sontag betont hier die Eigengenschaft der Fotografie als Spur, die durch ihre mediale Verbreitung, Verschiebung, Formatierung und Akkumulation in eine Zirkulation übergehe, die nicht nur innerhalb der Bilderwelt wirksam wird, sondern in das Wesen der repräsentierten Dinge selbst eingreift. »Die Wirklichkeit wird in eine fotografische ›Bilderwelt‹ überführt, die aber stets auf die zurückwirkt und Einfluss darauf nimmt, was überhaupt als ›wirklich‹ zu gelten hat.«22
18 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Zuerst erschienen auf Englisch unter dem Titel Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, London: Oxford University Press 1960. 19 Vgl. Koch, Gertrud: Siegfried Kracauer zur Einführung. 2. überarb. Aufl. Hamburg: burg: Junius 2012 [1996], S. 129. 20 S. Sontag: On Photography, S. 3. 21 Ebd., S. 155. 22 Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg: Junius 2009, S. 157.
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In dem reziproken Prozess dieses »mysteriösesten aller Objekte der Moderne«23 kommen die zuvor beschriebenen sprachlichen Bilder einer selektiven Transparenz zum Tragen, die das Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit verkomplizieren. Erst durch die spezifische Fähigkeit der Fotografie, auf die Realität hin durchlässig zu sein und in jeder Fotografie ein Stück von ihr zu bergen oder eben – durch die gleichzeitige Konstruktion der Bilder – zu verbergen, kommt der Prozess ihrer Bedeutung in Gang. Fotografien bleiben in der Zirkulation Spuren, die keine Fenster sind und doch eine selektive Transparenz auf die Realität ermöglichen – einer vergangenen Realität. Sie sind Scheiben, »auf de[nen] sich wie Dunst der Sinn niederschlägt«24, der im Bilderstrom zirkuliert, zugeschrieben und auch wieder abgesprochen werden kann. Darin liegen nach Sontag gleichzeitig das Potenzial und die Gefahr der gesellschaftlichen Funktion des fotografischen Bildes.
III. E PILOG – AUS DEM ARCHIV Abbildung 4: Leica-Werbung, Zeitungsausschnitt Box 98, F. 5
Quelle: Archival Images from the Susan Sontag Papers (Collection 612). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA, Los Angeles.
23 »Photographs are perhaps the most mysterious of all the objects that make up, and and thicken, the environment we recognize as modern.« S. Sontag: On Photography, S. 3. 24 Robnik, Drehli: »Unterscheiden über Leichen unter Scheiben und Gleichen: zum zum Wahrnehmen politischer Gewalt durch spielfilmische Undurch- und Einsicht in Abscheibungen. Tagungsabstract Scheiben – Medien der Durchsicht und Speicherung«; http://scheiben-tagung.de/abstracts#robnik vom 16.10.2015.
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Copyright © Susan Sontag, used by kind permission of David Rieff and The Wylie Agency (UK) Limited.
In der Werbeanzeige für die neue Leica, die Susan Sontag in ihrer Sammlung von Zeitungsausschnitten aufbewahrte, drängen sich, wie die durch den Bildraum zusammengestauchten erschreckten, skeptischen, interessierten Gesichter (einer, nur einer fotografiert zurück, mit der Leica), zwei Qualitäten der Fotografie zusammen: Voyeurismus und die gleichmacherische, neutralisierende Wirkung des lichtempfindlichen Zelluloids, auf dem sich alles einzuebnen scheint, Städte, Gesichter, ... Die Anzeige, in deren Städteauswahl eine ganze Zeitsignatur zu entziffern ist, diente Sontag in On Photography als Schrift-Bild, das die Träume der Fotografie in ein Telegramm verpackt und mit dem Fernschreiber versendet: »The ad copy, white letters across the dark lower third of the photograph like news coming over a teletype machine, consists of just six words: ›... Prague ... Woodstock ... Vietnam ... Sapporo ... Londonderry ... LEICA‹ Crushed hopes, youth antics, colonial wars, and winter sports are alike – are equalized by the camera. Taking photographs has set up a chronic voyeuristic relation to the world which levels the meaning of all events.«25 Das Bild der Anzeige stellt sie ihrem Text nicht bei. Ein zweites Archiv-Foto aus der privatesten Zeit Susan Sontags.26 Auf der Rückseite steht wiederholt – wie zur Mahnung an eine neue Zeitrechnung – »2 weeks«. Zwei Wochen nach der Geburt des Sohnes. Die Aufnahme ist quadratisch und unscharf. Über die Fotografie von 1952 gebeugt, bemessen die Pendelbewegungen von Kamera und Körper den Abstand zum historischen Moment. Durch den Sucher schauend bleibt es ununterscheidbar, ob die Kamera nicht scharf stellt oder die Fotografie von Susan Sontag mit ihrem Sohn im Arm als unscharfes Dokument nicht einzufangen ist. Die funzelige Lampe auf dem Archivtisch im Reading Room der UCLA lässt sich nicht justieren. Auf dem Ergebnis spiegelt sich der Betrachter selbst in der reflektierenden Oberfläche: Die Wiederkehr des Spiegelstadiums der Fotografie. Auf einer dritten Fotografie der Raum ihrer Arbeit. Vor dem Hintergrund unzähliger publicity shots mit Zigarette am Schreibtisch (später auch im Bärenkos25 S. Sontag: On Photography, S. 8. 26 Die Genehmigung zum Abdruck der hier beschriebenen Privatfotografien Susan Sontags wurde von der Susan Sontag Foundation nicht erteilt. Das Archiv bleibt opak, die Bilder in der Schrift aufgehoben.
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tüm), die Susan Sontag auf Anraten von Annie Leibovitz machte, fällt die Abwesenheit der Person ins Auge. Die Protagonisten sind die Stühle, die nicht zum Sitzen, sondern zum Ablegen der Bücher neben den Tisch platziert sind, die Papiere – geordnet auf der rechten, chaotisch auf der linken Seite des Zimmers –, die Schreibmaschine, verschattet im Gegenlicht, das geöffnete Fenster, das den Raum mit Licht flutet. Das Archiv behauptet die Unsicherheit über die Datierung des Moments und den Gegenstand (»no date. Susan Sontag’s writing desk [?]«), doch die Schriftstücke, Blöcke, die als Originale im Archiv in der Box neben der Fotografie vom Schreibtisch aufbewahrt werden, zertifizieren den Moment ihrer Schreibszene – als gewesene.
Knacks/Bürgerkrieg: Das Glasnegativ als politische Oberfläche U LRICH M EURER
1. Q UECKSILBER Eine Silberplatte mit Öl und Bimsstein spiegelblank polieren, dann mit Iod bedampfen, so dass sich auf ihr ein goldener Schimmer aus Silberiodid niederschlägt, in einer Kamera bis zu dreißig Minuten belichten, heißem Quecksilberdampf aussetzen, bis das Bild erscheint, dann in einem Bad aus heißer Salzlösung fixieren und die Platte spülen. So beschreibt François Arago, Ständiger Sekretär der französischen Akademie der Wissenschaften, 1839 das Verfahren zur Herstellung einer Daguerreotypie. 1 Es resultiert in einer Schicht feiner Quecksilberpartikel, die durch ihre spezifische Anzahl, Größe und Verteilung ein Bild ergeben: »The image is encoded on the array of particles on the plate’s surface. […] Understanding the interaction of the particle-studded surface with reflected light allows us to account for image appearance, quality, and the loss of image when daguerreotypes become tarnished or corroded.«2 Zwar spielt die Chemie ihre Rolle; grundsätzlich aber ist die Daguerreotypie nicht durch ihre chemischen Eigenschaften, sondern durch ihre Mikrostruktur definiert. Die erweist sich allerdings als höchst angreifbar. Da das Bild aus nichts als einem hauchdünnen Niederschlag von Quecksilber besteht, ist es derart fragil, dass die zarteste Berührung es von der Trägerplatte wischt. Es genügt ein
1
Vgl. Barger, M. Susan/White, William B.: The Daguerreotype: Nineteenth-Century Technology and Modern Science, Washington, London: Smithsonian Institution Press 1991, S. 1f.
2
Ebd., S. 118.
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sachtes Anwehen, um die Ordnung der Partikel in Chaos und Nichts zu verwandeln. Daher (und nicht nur, um das geliebte Portrait in ein Schmuckkästchen einzuschließen) die aufwendige Versiegelung hinter Glas, das das Bild vor jedem Außenkontakt schützt, selbst aber scheinbar abwesend bleibt und dem Schauen nichts weiter beizusteuern hat – eine transparente Scheibe vor der Mikrolandschaft aus Quecksilber. Im Idealfall, solange also das Glas nicht wolkig ausblüht oder springt, bilden in dieser Anordnung die Substanz des Metalls und die Körperlosigkeit des Glases zwei klar unterschiedene Strata, deren Trennung und Abstand zudem ein Passepartout gewährleistet. Unten, in der Tiefe der Schatulle, ruht das Bild im Perfekt (»Esist-so-gewesen«3); oben das Glas, das selbst nicht erscheint, das keinen Unterschied macht, jedoch allein die andauernde Gegenwart des Bildes ermöglicht.
2. G LASKÖRPER Mit dem Kollodiumverfahren ändert sich 1851 alles, die Schichten und die Physik, die Geschichte und (wie man sehen wird) die Politik des Bildes: Nachdem man Schießbaumwolle, Ether, Alkohol mischt und den Sirup auf eine dünne Glasscheibe gießt, wird sie in einem Bad von Silbernitrat lichtempfindlich und kann jetzt selbst die Spur der Wirklichkeit tragen. Zum einen hat Glas den Vorzug, weit scharfsichtiger und konturierter wahrzunehmen als etwa Fox Talbots diffuse Papiernegative. 4 Zum anderen entsteht auf ihm ein Negativbild, das erstmals die Vervielfältigung erlaubt. Die Frage nach der technischen Reproduzierbarkeit ist aber zugleich eine politische Frage. Das legt etwa John Szarkowski nahe, wenn er die amerikanische Fotopraxis im 19. Jahrhundert nicht nur aufgrund mangelnder Institutionalisierung, sondern wegen ihrer Vorliebe für nicht-reproduzierbare Bildprozesse als »anarchisch« bezeichnet:
3
Barthes, Roland: Die helle Kammer, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 87.
4
Rancière erinnert daran, dass besonders der amerikanischen Fotografie nicht an kunstsinnigen Impressionismen gelegen ist, sondern an der asketischen Klarheit singulärer Erscheinungen. Vgl. das Kapitel »The Majesty of the Moment. New York, 1921«, in: Rancière, Jacques: Aisthesis. Scenes from the Aesthetic Regime of Art, übersetzt von Zakir Paul, London, New York: Verso 2013, S. 207-224.
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»It is suggestive that the standard early technique for photographic portraiture in the United States was the daguerreotype, while in Europe it was the calotype [...]. With the calotype system, an almost infinite number of prints could be made from a single negative, whereas the daguerreotype produced one unique picture. The distinction corresponded perfectly to the social perspectives of the United States on the one hand and, for example, England on the other. In England almost everyone wanted a picture of Lord Tennyson, Dr. Livingstone, or the queen [...]. In the United States, by contrast, almost everybody wanted a picture of himself and his family.«5
Mithin würde das reproduzierbare Negativ ›europäische‹, das heißt, hierarchisch-zentrierte Baumstrukturen ins Werk setzen; dagegen zerstreuten sich die Unikate der Daguerreotypie heterarchisch im Sinne ›amerikanischer‹ Einzelfälle – am Ende wird deshalb darauf zurückzukommen sein, was die Adoption europäischer Negativverfahren für eine amerikanische Politik bedeutet haben wird ... Was derweil als ›Realismus‹ und ›Reproduktion‹ den gesamten Diskurs des Fotografischen dominiert, das findet erstmals im Glasnegativ zusammen. Und genauso verbinden sich in ihm schließlich Glas und Bild. Wenn die Daguerreotypie noch zwei differente Schichten besessen hat – das Bild des vergangenen Moments und die Hülle, die das Bild gegenwärtig macht –, versammelt sich beides im Glasnegativ zu einer einzigen Lage. Und wenn außerdem die Schichten der Daguerreotypie zwei unterschiedliche Dichtegrade aufweisen – den kompakten, reflektierenden Körper des Silberbildes und die Transparenz des Glases –, dann vereinigen sich auch diese im neuen Bildtyp: opake und klare Zonen, dazwischen Halbdurchlässiges, Trübungen, durch die nur ein Anteil des Lichts geht. Die Glasscheibe erhält damit einen Körper – nicht nur denjenigen des Bildes, das sich auf ihr ablagert, sondern erstmals den Körper ihrer selbst, der zuvor vollends durchsichtig sein musste und darum immer infrage stand.
3. S KULPTUR Im Frühsommer 2000 fotografiert Sally Mann das erste einer Reihe von Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs, Antietam in Maryland, wo im September 1862 innerhalb von zwölf Stunden 23.000 Soldaten getötet oder
5
Szarkowski, John: »Photography and America«, in: Art Institute of Chicago Museum Studies 10 (1983), S. 236-251, hier S. 238.
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verwundet wurden. Manns über zwei Jahre entstehende Fotoserie Battlefields umfasst zahlreiche weitere Kriegsstätten: Manassas, Fredericksburg, Chancellorsville, Wilderness ... Dass sie die ausladenden und dunkel verschatteten Bilder im Nass-Kollodium-Verfahren herstellt, ist dabei mehr als Referenz an das 19. Jahrhundert und dessen Protagonisten der Kriegsdokumentation. Obendrein gibt sich das Glasnegativ als Rüstzeug zu erkennen, um dem reinen Ablichten des Vergangenheitsortes, der doppelten Ungreifbarkeit von Licht und Geschichte, eine Physis zu verleihen (bereits Sally Manns Losung, »What does a dead body do to the earth?«,6 fragt weniger nach der Anwesenheit von Geschichte als vielmehr nach Körper und Erde). Diese Physis ist zuerst die Platte selbst, deren Ränder mit dem Schleifstein geglättet werden müssen, die poliert und von Staub befreit wird, die zudem altert und sich zu zersetzen beginnt. Dann das Kollodium, das vielleicht, ungleichmäßig aufgetragen, in der Fließrichtung Rinnen oder Wellen bildet und dem Negativ ein Linienmuster einschreibt. Zum einen gibt da die Fotografie als materielles Objekt über ihren Körper Auskunft. Zum anderen will sich dieses Objekt auf eine Weise der abgelichteten Wirklichkeit anverwandeln, die das bloß Indexikalische übersteigt. Denn es geht nicht länger nur, wie jedes Foto, ursächlich auf jene Wirklichkeit zurück; es ist zugleich bewohnt von einem sonst kaum wahrnehmbaren Effekt, den man eher Vergänglichkeit als Vergangenheit nennen mag und der das Bildobjekt ebenso wie die Oberfläche der Welt in Falten wirft. Das will in diesem Fall keine Metapher sein – fotografische Verformungen und Schatten, die Kampf und Leid ›symbolisieren‹ würden.7 Das ist vielmehr eine Modellierung der Fotografie als Schlachtfeld, unter dem die Toten sich verschieben und Verwerfungen verursachen, fühlbar als Relief in der Natur wie im Bild.
6
Vgl. Jones, Malcolm: »Love, Death, Light«, in: Newsweek vom 08.09.2003,
7
Vgl. Ravenal, John B.: »Sally Mann: The Flesh and the Spirit«, in: Ders. (Hg.), Sally
S. 56. Mann: The Flesh and the Spirit. New York: Aperture Foundation, Richmond: Virginia Museum of Fine Arts 2010. S. 1-8, hier S. 6: »Mann uses the vagaries of the collodion process to draw out the ineffable feelings stirred by sites of great turmoil. Warped perspectives, shadowy darkness, and mysterious forms evoke the nature of vision under extreme duress and create metaphors for struggle and suffering, extinguished hope, and final breaths.«
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Abbildung 1: Sally Mann, Untitled #28 (Manassas), 2000. Silbergelatineabzug, 96,5 x 121,9 cm, Auflage von 5.
© Sally Mann. Courtesy Gagosian Gallery
Hierin wohl offenbart sich am deutlichsten der skulpturale Aspekt, den sich Sally Manns Fotografien und die Orte des Bürgerkriegs teilen: Ihre Texturen bergen im selben Maß die Knochen von Körpern, »death is the sculptor of the ravishing landscape.«8 Und als reiche das nicht hin, entwickelt die Fotografin – wie es heißt – einen Firnis für die Bilder, der neben Kieselgur, einem Mattierungsmittel aus den Skeletten einzelliger Algen, auch Erde von den Schlachtfeldern enthält. 9 Das wäre am Ende weit mehr als nur Abbildung und zeugte von einem ›magischen‹ Denken, das die Ordnung der Dinge in ihren Ähnlichkeiten und alchimistischen Analogien imaginierte.
8
Mann, Sally: What Remains, New York: Bulfinch Press 2003, S. 6.
9
Vgl. Stephan, Erik: »›… ein Hauch, ein feuchter Glanz inmitten der länger werdenden Schatten‹: Die Landschaftsfotografien von Sally Mann«, in: Ders. (Hg.), Sally Mann: Deep South/Battlefields. Jena: Kunstsammlung im Stadtmuseum 2007, S. 5-9, hier S. 9; ebenso: »›Ich fotografiere das, was ich liebe, aber nicht unbedingt das, was ich verstehe‹: Sally Mann im Gesprach mit Erik Stephan«, in: ebd., S. 37-39, hier S. 39.
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4. D ER E NGEL DER G EWISSHEIT Die Glasscheibe, das Kollodium, das ihr anhaftet und Wellen schlägt wie der Boden, die Erde des Kriegsschauplatzes im Firnis bilden zusammen einen Materialleib mit Tiefe und Gewicht. Dabei aber entziehen sich Anteile dieser Bildskulptur der Kalkulation. Allenthalben, in Sally Manns eigenen Auslassungen wie in jedem der (Para-)Texte, die sich um ihre Fotografien sammeln, ist deshalb vom Zufall die Rede. Wenn bei der Präparierung der Platte die improvisierte Dunkelkammer auf freiem Feld zusammenbricht, wenn sich die Staubwolke eines vorüberfahrenden Schwerlasters auf dem nassen Negativ niederlässt, dann führt das in die Repräsentation den idiosynkratrischen und unwägbar bedeutungsvollen Fehler ein.10 Solcher Un- oder Zufall ist derweil nicht Kontingenz oder blindes Ereignis, sondern wird Sally Mann zum Eingriff eines höheren Willens, der sich dem auktorialen überwirft: »I have taken some pictures in the past that were miraculously transformed by some hand other than my own and made a better image. I really welcome those interventions ... Proust once wrote that what he prayed for in his work was the ›angel of certainty.‹ But I am, sort of, praying for the ›angel of uncertainty‹ to visit my plate.«11
Mit Blick aber auf das Verhältnis von Physis und Lichtbild ist Marcel Prousts »Engel der Gewissheit« in noch anderem Sinne von Belang. Denn wenn der Engel im ersten Kapitel der Recherche auftritt, dann weniger als der Ausschluss des Zufalls, der dem Autor alle Gestaltungsmacht und Kontrolle über das Werk zurückerstatten würde, sondern als Instanz, die der Körperlosigkeit von Projektion und flüchtigem Traumbild den erlösenden Leib und Raum entgegenstellt. Zuerst ist da der Protagonist in Kinderjahren der abendlichen Dunkelheit voll imaginierter Bilder ausgeliefert, die Proust sämtlich mit optischen Anordnungen assoziiert, mit dem »Kaleidoskop«,12 mit kreisenden Erinnerungsbildern, ebenso wenig unterschieden, »wie wir die einander ablösenden Stellungen eines laufenden
10 Vgl. WHAT REMAINS: THE LIFE AND WORK OF SALLY MANN (USA 2005, R: Steven Cantor), 38:45-39:27. 11 Ebd., 39:42-40:08. 12 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1: Unterwegs zu Swann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 8.
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Pferdes isolieren, die das Kinetoskop uns zeigt«,13 mit einem »schrägen und grausamen Spiegel«,14 mit der Laterna Magica, die »auf meiner Lampe befestigt wurde; und wie die ersten Baumeister und Glasmaler der Gotik ersetzte sie nun die massive Mauerfläche durch ungreifbare, irisierende Lichtspiele, übernatürliche und buntfarbige Erscheinungen, die Legenden darstellten wie auf einem schwankenden und nur für einen Augenblick sichtbaren Kirchenfenster.«15
In diese unheimliche Orientierungslosigkeit von Schlafvisionen und Medienbildern, vom nächtlichen Kino im Kopf, tritt dann der »gute Engel der Gewissheit«, und was er mitbringt, ist ein Lageplan der Welt und die Welt selbst. Der Engel ruft dem halb Schlafenden den eigenen Leib ins Bewusstsein, dessen Ausdehnung, dessen Stellung zur Kommode, zum Kamin, die Anordnung und Beschaffenheit der Objekte im Zimmer. Im Gegensatz zum flackernden Bild ist er mit dem Ding und seinen raum- und zeitdimensionalen Qualitäten verschwistert. Insofern aber scheint er sich auch auf Sally Manns Fotoplatten niederzulassen: Der Staub, die Schlieren der Beschichtung, die Fehler im Glas wirken als Markierungen, die in die substanzlose Lichterscheinung einen bestimmten Ort und Zeitpunkt einlassen (dieses Feld, dieser Nachmittag, dieser Windstoß). Worum Sally Mann daher betet, das mag der Engel einer technischen Ungewissheit sein, der sich zugleich herausstellt als Engel einer physischen Gewissheit. Um freilich nicht vollends vom Glauben an die ›Substanz‹ oder ›Authentizität‹ des Ortes eingeholt zu werden, sei auch das hier immer Mitgedachte ausgesprochen – dass nämlich der Körper des Glases, das zähflüssige Kollodium, der erdige Firnis nicht nur eine unmittelbare Bindung des Bildes an die historische und physische Welt bewirken, sondern im selben Maße das Mittelbare, das Medium in der Störung seiner Transparenz sichtbar und zum Teil der Form werden lassen. Wie ein kritischer Kommentar zu Sybille Krämers Sentenz, »Medien wirken wie Fensterscheiben«, da Durchsichtigkeit Voraussetzung sei für ihren »reibungslosen Dienst«,16 bringt sich die Scheibe hier als Objektträger und Rauchglas in Erinnerung – eine paradoxe Ästhetik einerseits der Motiviertheit und Nähe zum Referenten und andererseits der Verweisdistanz und Verzerrung
13 Ebd., S. 13. 14 Ebd., S. 14. 15 Ebd., S. 15. 16 Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 73-94, hier S. 74.
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durch ein opakes Medialisierungsverfahren: Sally Manns »physical photography […] draws attention to itself as an object and to its own process and materials and artifice«.17
5. L ANGSAM / S CHNELL Schließlich zeigt sich die An/Greifbarkeit des Glases in seinen distinkten Geschwindigkeiten, in seiner medialen Behäbigkeit genauso wie im Schockmoment der Erstarrung, im Bruch oder Sprung (neuerlich – neben Absenz und Präsenz, Durchsicht und Opazität, Zufall und Gewissheit, Referenzialität und Autoreflex – eine charakteristische Verklammerung des Zwiespältigen): Zum einen macht der Körper das Glas gewichtig und die Bildherstellung träge: Mathew Brady zieht in den Bürgerkrieg mit zwei Pferdewagen, beladen mit Chemikalien und Ausrüstung, deren Schwerfälligkeit dem Raptus des Schlachtengeschehens niemals gewachsen ist. Dem ausladenden Apparat, der mühsamen Behandlung der Platten mit Kollodium entgehen die Anfälle des Kriegs; von ihnen bleibt in Bradys Bildern lediglich das Danach, das Feld, bestreut mit Toten, die sich geduldig der langwierigen Ablichtung aussetzen.18 Der langsame Körper der Fotografie hat darum nur ein einziges Schlachtenbild des amerikanischen Bürgerkriegs hervorgebracht (wieder Antietam in Maryland), und alle Bewegung ist dort Nebel und Unschärfe, die Infanterie nur eine rauchige Trübung des Glasnegativs19 – als deutlicher Beleg für die Londoner Times, die im Dezember 1862 eine ›Bestürzung‹ der Fotoplatte diagnostiziert, sodass ihr die Kriegshandlung zum bloßen Rauschen gerate: »When the [photographer] essays to represent motion, he bewilders the plate and makes chaos.«20 Hingegen ist dem Glas auch eine besondere Schnelligkeit eigen. Sie rührt her aus seiner Struktur, die mit einem Schlag entsteht und dann ebenso mit einem Schlag entzweigeht. Wenn es etwa der Kritik der Urteilskraft um die Kristallisation geht – um die Gestaltung von Körpern nicht durch den allmählichen Übergang einer »Gestehung oder Gerinnung«, sondern »gleichsam durch einen Sprung« vom Flüssigen zum Festen –, dann spart Kant nicht mit Wendungen des
17 J. Ravenal: Sally Mann, S. 8. 18 Vgl. Trachtenberg, Alan: Reading American Photographs. Images As History: Mathew Brady to Walker Adams, New York: Hill & Wang 1989, S. 72f. 19 Vgl. Gazak, Zach: »Mathew Brady and the Civil War«, Website der MIT History Faculty: http://web.mit.edu/history/Zach Gazak Prize Essay.pdf vom 03.10.2008, S. 7. 20 Zitiert nach: A. Trachtenberg: Reading American Photographs, S. 73.
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Heftigen und Plötzlichen.21 Die Bildung sei, so auch das Opus postumum, »eine Veränderung in einem Augenblicke«, weshalb der »vom Schuss entlehnte« Begriff des »Anschießens (cristallisatio)« durchaus treffend sei.22 Auch wenn Kant nicht recht zwischen Kristall, Glas und anderen Festkörpern differenzieren will,23 sind seine Verweise auf das Schießen und Springen doch zu anschaulich, um hier auf sie verzichten zu können: Das ist das Glas: es bildet im Sprung von einem Aggregat zum anderen seine Organisation, die wiederum nicht anders als im Sprung oder im Knacks auf Spannung und Schlag reagiert.
6. I NNEN / AUSSEN In Wirklichkeit aber ist der Knacks nichts, was dem Material, dem Körper, dem Individuum von außen zufiele. Das erklärt Deleuze in seinem Essay »Porzellan und Vulkan«, zugleich das 22. Kapitel der Logik des Sinns, anhand einer Novelle von Scott Fitzgerald. Dort freilich steht die Beschädigung, der Sprung oder »Crack-up«, mit dem Trinken in Verbindung (nicht weil der Alkoholismus den Knacks hervorriefe, sondern weil er zwischen dessen unmerklicher und lautloser Störungslinie und den Katastrophen der äußeren Welt wie des Innenlebens einen gewissen akausalen Einklang herstellt).24 Allerdings unterhält der Knacks keine exklusive Beziehung mit dem Alkohol; mit Deleuze ist er vielmehr und allgemein – zumal es hier ja um Fotografie und gesprungenes Glas geht – die Markierung des Ereignisses (ohne ›Gründe‹ oder unvermeidliche ›Auswirkungen‹), die Figur dessen, »was wirklich geschieht«25 und nicht einfach zurückzuführen ist auf die ökonomischen, politischen, privaten Desaster ›da draußen‹ oder eine persönliche Untauglichkeit ›hier drinnen‹. Das heißt, »im Grunde« ist der
21 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (Werke in 12 Bänden, Bd. 10), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 290-291. 22 Vgl. Fritscher, Bernhard: »An der Grenze von Physik und Metaphysik. Zum Begriff des ›Kristalls‹ in Kants opus postumum«, in: Ernst-Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, Berlin: de Gruyter 2009, S. 241-263, hier bes. S. 244 u. 254. 23 ›Kristall‹ bezeichnet bei Kant vielfach, im üblichen Sinne der Zeit, feste bzw. durchsichtige Körper, wie seine Gleichsetzung von Glas und »Bergcrystall« oder Glas und Marmor zeigt. Vgl. Fußnote 22 in: B. Fritscher: An der Grenze von Physik und Metaphysik, S. 253. 24 Vgl. Deleuze, Gilles, Fitzgerald, Francis Scott: Der Knacks / Porzellan und Vulkan, Berlin: Merve 1984, S. 48. 25 Ebd., S. 58, Hervh. i.O.
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körperlose Knacks schon da gewesen, und dann erst mag er sich verkörpern oder erweitern – von der tiefsten Verinnerlichung bis zur Verlagerung ins weiteste Außen, von der unheilbaren Verletzung des Menschen bis zur plötzlichen geologischen Verwerfung.26 Insofern auch stellt der Knacks eine Art Interface dar: Er selbst gehört nicht dem Inneren an, der Psyche oder dem Sinn, wo er sich insgeheim bildete, um irgendwann aufzuspringen und bewusst zu werden. Und ebenso wenig gehört er zum Außen, der Wirtschaftskrise, der Naturgewalt oder dem Krieg, dem InStücke-Gehen der Welt, das den Menschen daraufhin in Mitleidenschaft zöge. Stattdessen betrifft er den Ort, an dem sich die beiden Sphären berühren: »Ein lautloser Knacks ist geschehen, unwahrnehmbar, an der Oberfläche, als reines Oberflächen-Ereignis [...]. Der Knacks ist weder äußerlich noch innerlich, er ereignet sich an der Grenze, unmerklich, unkörperlich, ideell. Deshalb unterhält er mit dem, was drinnen oder draußen geschieht, vielfältige Beziehungen, die sich überlagern und überschneiden, und die er sprunghaft miteinander verbindet.«27
Wenn er aber bereits lautlos existiert, bevor sich die lärmenden Vorfälle auf ihn auswirken oder ihn zum Ausdruck bringen, und wenn er deren Grenze bezeichnet, dann bliebe zu erörtern, was denn den Knacks als Oberflächenereignis des fotografischen Negativs ausmacht, worein er sich verlängert und welches Innen und Außen diese gesprungene Glasoberfläche denn begrenzt. Dass dort, in Sally Manns Bildern, ein Innen überhaupt ist, darauf weist ihr skulpturaler Charakter hin – hinter der Ebene eine Tiefe, die sich in den Körper der Fotografie erstreckt. Das Glas ist hier keine Fläche, die Licht empfängt oder konvertiert; es ist ein Materialkomplex, der die zerbrechliche Scheibe, auch das zähe Kollodium der Lazarette28 oder die dichte Erde einbegreift. Und das unmessbare Ereignis des Sprungs bringt diesen Bildkörper, so Deleuze, mit der physischen und historischen Welt in Berührung. Diese Welt, in der sich »viel getan« hat – Revolution, Nation, Sezession, Rekonstruktion –, gibt sich als das Außen zu erkennen. Indem sich nun die Schläge auf den Knacks in der Glasfläche auswirken, ohne ihn bewirkt zu haben, indem das Bild an der Stelle des Sprungs jenes Außen wahrnimmt und fortsetzt, ergibt sich eine ›Politik des Bildes‹. Sie besteht im Falle der Battlefields in einem spezifischen akausalen und gegenseitigen Austausch
26 Vgl. ebd., S. 47. 27 Ebd., S. 46. 28 Mann erinnert daran, dass Kollodium im Bürgerkrieg als Verschlussmittel für Wunden verwendet wurde. Vgl. WHAT REMAINS, 37:06-37:12.
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zwischen dem Bürgerkrieg als einer historischen, äußeren Spaltung einerseits und dem ihm vorgängigen, lautlosen Knacks andererseits.
7. I M G RUNDE Deshalb ist in Sally Manns Glasnegativen der Knacks (die Trübung, die Schliere, der Staub) nicht der des Krieges, der darin repräsentiert würde. Vielmehr realisiert der Bruch im Bild das, »was wirklich geschieht«, ein anderes, älteres oder vorsinnliches Ereignis, einen unbestimmbaren Bruch im politischen Körper, der sich im Bürgerkrieg lediglich zeigt. Abbildung 2: Sally Mann, Untitled #8 (Antietam), 2002. Silbergelatineabzug, 96.5 x 121.9 cm, Auflage von 5.
© Sally Mann. Courtesy Gagosian Gallery
Das Ereignis aber besteht in der Beschädigung eines fragilen Modells von Gemeinschaft, das Amerika in die Tat hat setzen wollen: Sein revolutionärer Traum, so Deleuze an anderer Stelle, ist der einer lockeren Assemblage von Menschen und Dingen, einer Körnung oder eines Granulats – Elemente der Gesellschaft und Natur, die in Relationen existieren, ohne dabei zu verschmelzen
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oder zu zerfallen.29 Während deshalb die amerikanischen Fragmente oder politischen Partikel nie ein Ganzes ergeben, aber ebenso wenig zu weit auseinandertreiben dürfen, erweist sich im Krieg das Zerbröseln dieses Konglomerats, das allgemeine Hospital, Verwundete und Haufen von Körperteilen ohne Beziehungen.30 Der unhörbare Bruch aber der politischen Idee und des Bildkörpers ist schon geschehen; dann hat er sich nach außen fortgesetzt und wird zugleich letztgültig erweitert im Brüderkrieg. Gewiss erklärt Sally Mann, dass ihre Fotografien vor allem Erinnerungsarbeit leisten (und beruft sich dabei nochmals – und anders – auf Proust),31 dass sie der memoria dienen und dem Tod, dem historischen wie dem persönlichen, Nachhall verleihen. Tatsächlich mag das – im doppelten Sinn – auf das ›Motiv‹ ihrer Bilder zutreffen. Dabei aber zeigt sich an deren Körper der Knacks weniger als Vergangenes denn als Vergegenwärtigung: Kein Rückblick, sondern der »Augenblick, wo sich die […] Stille [des Bruchs] und der Lärm [des Kriegs] aufs Engste und auf Dauer aneinander binden im Zusammenbrechen und Hervorbrechen des Endes«.32 Durch die Gegenwart des Sprungs oder der Störung im Bild springt nicht Geschichte, sondern ein Ereignis ins Auge, jener Crack-up amerikanischer Utopie, die von der Vollversammlung des Unterschiedlichen träumt. Das führt zurück zur eingangs mit John Szarkowski aufgeworfenen Frage, was die Adoption fotografischer Negativverfahren von ›europäischen‹ Techniken der Reproduktion für die zerstreute amerikanische Politik bedeutet. Zum einen vertritt das (Glas-)Negativ, wenn man Szarkowski folgen will, eine Politik der Vaterfiguren und der Einheit; es kittet den Bruch, indem es nach dem Sezessionskrieg nicht zurückkehren lässt zum Granulat, sondern die Union ins Werk setzt, in der nun, nach Manier der Alten Welt, jeder ein Bild von Lincoln haben will. Der Niedergang der Daguerreotypie geht einher mit der tragischen Episode des Bürgerkriegs, mit dem Ende jener Vision heroischer Alltäglichkeit, die jeden einzelnen Amerikaner – den Verlobten, die Schwester, den Nachbarn – zum
29 Vgl. Deleuze, Gilles: »Whitman«, in: Ders. (Hg.), Kritik und Klinik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 78-84, hier S. 80. 30 Vgl. ebd., S. 82. 31 Sally Mann auf der Global Investigative Journalism Conference, Kopenhagen, 2003: »What I’m looking for is an image that is Proustian in its ability to evoke feelings.« (Vgl. die Auszüge aus Manns Vortrag in der DVD-Edition von WHAT REMAINS, 01:40-01:48.) 32 G. Deleuze/F. S. Fitzgerald: Knacks, S. 46.
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Portrait und Unikat erhoben hatte. 33 An seine Stelle tritt die technische Vervielfältigung, die ein Bild im Volk zu verteilen versteht: Abraham Lincoln selbst bestätigt diesen neuen Platz der Fotografie in der politischen Kultur, wenn er erklärt, »that a Brady portrait taken on the occasion of his speech at the Cooper Union in New York City, and distributed nationally, had played a major role in helping him win the presidency«.34 Zum anderen aber ist es gerade die Grundlage der vielen Abzüge, das Glasnegativ, das springen kann und damit eben den Sprung aufweist, der Amerika »im Grunde« heimgesucht hat – der Ort des wirklichen Ereignisses, dessen Namen Deleuze bei Fitzgerald entlehnt.35 Dieser so unkörperliche wie unwiderrufliche Crack-up manifestiert sich jetzt am Körper von Sally Manns Fotografien.
33 Vgl. Wood, John: »The American Portrait«, in: Ders. (Hg.), America and the Daguerreotype, Iowa City: University of Iowa Press 1991, S. 1-26, hier S. 25 f. 34 Kroes, Rob: Photographic Memories: Private Pictures, Public Images, and American History, Hanover, NH: Dartmouth College Press 2007, S. 83. 35 Vgl. G. Deleuze/F. S. Fitzgerald: Knacks, S. 45, 50, 57.
»Als blickten wir durch eine Glasscheibe in den realen Raum« Objektive und die Analyse audiovisueller Medien F LORIAN K RAUTKRÄMER
»[M]it der Fotografie ist es uns nicht mehr möglich, das Bild außerhalb des Aktes zu denken, der es generiert«,1 stellte Philippe Dubois fest. Der Satz gilt natürlich auch für das Kino. Aussagen, die man über das Bild auf der Leinwand trifft, beziehen die Gegebenheiten des realen Aufnahmeortes meist mit ein, zu dem auch die Kamera gehört. Kamerabewegungen und die Kadrierung lassen trotz des klassischen transparent-objektiven Stils der meisten Filme die Kamera selbst immer wieder in der Rezeption präsent werden. 2 Rezeption und Produktion sind wechselseitig miteinander verflochten, denn auch bei der Filmproduktion werden die aufzunehmenden Bilder auf ihre Wirkung auf der Leinwand oder dem Fernseher hin konzipiert und beurteilt. Dem Set wird nicht einfach nur eine Kamera hinzugefügt, sondern der Blick durch den Sucher der Kamera, den Viewfinder oder das Kontrastglas konfrontiert das vorfilmische Setting mit seiner bildlichen 1
Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1998, S. 19.
2
In ihrer Analyse der subjektiven Kamera weist Noll Brinckmann darauf hin, dass nur eine ausreichend in die Narration eingebettete subjektive Einstellung, die nicht zu lange andauert, als Substitution des Blick des Protagonisten, der Protagonistin angesehen werden kann. Dauert die Subjektive zu lange, wie bspw. in dem Film LADY IN THE LAKE (USA 1947, Robert Montgomery), dann funktioniert die Ersetzung nicht mehr, und als Zuschauer/-in rezipiert man das Bild nicht länger als menschlichen, sondern als technischen Blick (vgl. Brinckmann, Christine N.: »Ichfilm und Ichroman«, in: Dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zurich: Chronos 1997, S. 82-113, hier: S. 94).
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Wirkung, nachdem die es reflektierenden Lichtstrahlen bereits durch Glas gebrochen wurden, wodurch ein schon aufgenommenes und wiedergegebenes Bild simuliert wird. Mit der Ausspiegelung des Bildes auf einem Kontrollmonitor ist zudem eine der Rezeption adäquate Situation direkt am Ort der Bildaufzeichnung vorhanden. Das bedeutet aber auch, dass epistemologische oder ontologische Aussagen, die über das Bild der Rezeptionssituation getroffen werden, auch vor dem Hintergrund der Produktion geprüft werden müssten und andersherum.3 Vor dem Hintergrund der »Zusammenhänge zwischen Signifikations- und Herstellungspraktiken«4 wäre die Fenstermetapher, die unter anderem Bazin für das Filmbild in Anschlag bringt, 5 ungeeignet, da sie den aufnehmenden Apparat überspringt. Die Parallele von betrachtetem und produziertem Bild liegt bei der Fenstermetapher in der Rahmung, »die nur einen Teil der Realität freilegen kann«6 und somit Aspekte wie den Apparat oder die Flüchtigkeit des Bildes ignoriert und damit implizit die Parallele von fotografischem Bild und (künstlichem) Auge fortschreibt.7 Über dreißig Jahre zuvor hatte der Psychoanalytiker Hugo Münsterberg für die Situation im Kino eine andere Umschreibung gewählt, die interessanterweise ein Element betont, das in der Fenstermetapher fehlt, da das Fenster – wie bei Bazin auch – meist sperrangelweit offen ist: die Scheibe.
3
Dies ist kein Argument für die Hermeneutik, »die die Möglichkeit der Interpretation eines vermeintlich in den Werken zum Ausdruck gelangenden objektiven Sinns an die Autorität der ihnen zugrunde gelegten metaphysischen Ursprungsmacht gebunden hatte« (Köln, Eckhardt: Erfahrung des Magens. Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe, Bielefeld: transcript 2005, S. 11). Zum Verhältnis der Poetik der ästhetischen Produktion und Rezeption siehe auch den dort zitierten Hans Blumenberg: »Sokrates oder das ›objet ambigue‹. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes«, in: Franz Weidemann (Hg.), Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um dem Menschen, München: Pustet 1964.
4
Vonderau, Patrick: »Theorien zur Produktion: ein Überblick«, in: montage/av 22/1/2013, S. 9-32, hier S. 14.
5
Siehe Bazin, André: »Theater und Film«, in: Ders: Was ist Film? Berlin: Alexander 2004, S. 162-216, hier S. 198. (vgl. Bazin 2004, S. 198). Siehe dazu auch bei Drehli Robnik im selben Band, S. 115ff.
6
Bazin, André: »Malerei und Film«, in: Ders: Was ist Film?, S. 224-230, hier S. 225.
7
Zum Diskurs der Kamera als technische Entsprechung oder Verbesserung des menschlichen Auges siehe unter anderem Geimer, Peter: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg: Philo Fine Arts 2010.
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»Nur zu gern möchten wir glauben, daß unser Auge die verschiedenen Entfernungen in unserer Umgebung direkt erfassen kann. Doch brauchen wir uns nur vorzustellen, eine große, die ganze Bühne bedeckende Glasscheibe sei anstelle des Vorhanges angebracht worden. Wir sehen die Bühne nun durch das Glas; und wenn wir nur mit einem Auge auf sie blicken, so ist es offensichtlich, daß jeder einzelne Fleck der Bühne sein Licht mittels Lichtstrahlen, die die Glasplatte an einem speziellen Punkt kreuzen, auf unser Auge werfen muß. Für unser Sehen bedeutete es keinen Unterschied, ob hinter der Glasscheibe tatsächlich die Bühne ist oder ob all die Lichtstrahlen, die durch die Scheibe dringen, von der Scheibe selbst kommen. Gingen jene Strahlen mit ihren verschiedenen Schattierungen von Hell und Dunkel von der Oberfläche der Glasscheibe aus, so wäre die Wirkung auf das Auge notwendigerweise dieselbe, als rührten sie aus unterschiedlichen Entfernungen hinter dem Glas her. Genau das ist auf der Leinwand der Fall. Wenn die Bilder gut aufgenommen worden sind und die Projektion scharf ist, und wenn wir in der richtigen Entfernung vom Bild sitzen, dann müssen wir den gleichen Eindruck haben, als blickten wir durch eine Glasscheibe in den realen Raum.«8
Münsterbergs Zitat ist unter verschiedenen Aspekten interessant. So ist die Schauanordnung, die er beschreibt, keine, die auf einen Realitätseffekt abzielt, der den Apparat überspringen würde. Die Realität, die er als hinter der Glasscheibe befindlich bezeichnet, ist bei Münsterberg zunächst die Bühne, also ein künstlicher, profilmischer Aufbau.9 In seiner Erklärung, wie man das räumliche Bild auf einer zweidimensionalen Fläche wahrnimmt, zieht er eine zusätzliche Fläche ein; Bazins Fenster ist hier noch verschlossen – und es ist so groß, dass der Rahmen keine Rolle spielt. Münsterbergs Scheibe betont geradezu das künstliche Sehen, das das fotografische Bild wiedergibt. Das Einziehen einer Scheibe findet sich in etwa zur gleichen Zeit auch produktionsseitig wieder. Musste bei den ersten Filmkameras das Bild noch durch das Objektiv der Kamera bei aufgeklappter Rückseite und vor dem Einlegen des Filmmaterials eingerichtet
8
Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel – eine psychologische Studie und andere Schriften
9
Im filmischen Universum Etienne Souriaus wird als die profilmische Wirklichkeit das
zum Kino [1916], Wien: Synema 1996, S. 43. bezeichnet, »was man gezielt und zweckgerichtet vor die Kamera stellt«, in Abgrenzung zur afilmischen Wirklichkeit, die die alltägliche Welt bezeichnet (Souriau, Etienne: »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie«. Marburg: Schüren 1997, S. 140-157, hier S. 147).
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werden, wurden ab 1908 Kameras häufiger, die über eine seitlich ausklappbare Sucherlinse verfügten.10 In der Folge setzte sich die Fenstermetapher jedoch durch, es wird aber noch zu zeigen sein, warum es sich lohnen könnte, die Scheibe wieder einzuziehen. Doch auch Filmanalysen und -theorien, die sich mit dem Filmbild unter einer stärker produktionsseitigen Fokussierung beschäftigen, ignorieren mitunter gezielt ein Glas, das sich bei der Aufnahme zwischen aufzunehmendes Bild und Bildaufzeichnung schiebt: die Linsen. Elemente, die bei Filmanalysen bezüglich der Kameraarbeit in Anschlag gebracht werden, betreffen meist Kamerabewegungen11 und die Kadrierung12, weitaus seltener jedoch Faktoren wie Brennweiten, Filter oder historische Entwicklungen von Objektiven sowie die damit einhergehenden Gegebenheiten auf der Seite der Produktion. 13 Was dagegen fast nie in den Fokus gerät, sind Unterschiede bezüglich der verschiedenen Hersteller von Objektiven sowie Fertigungs- und Vergütungsunterschiede. 14 Der Grund
10 Vgl. Rodenberg, Hans-Peter: »Malteserkreuz und Gummilinse – Der Einfluß der Kamera- und Tontechnik auf die Ästhetik des amerikanischen Dokumentarfilms«, https://www2.uni-hamburg.de/iaa//malteserkreuz.pdf vom 10.2.2016. 11 Beispielsweise zur Handkamera, vgl. hierzu Tröhler, Margrit: »Eine Kamera mit Händen und Füssen. Die Faszination der Authentizität, die (Un-)Lust des Affiziertseins und der pragmatische Status der (Unterhaltungs-)Bilder von Wirklichkeit«, in: Brigitte Frizzoni/Ingrid Tomkowiak (Hg.), Unterhaltung. Konzepte – Formen – Wirkungen, Zürich: Chronos 2006, S. 155-174; zur Kamerabewegung vgl. Branigan, Edward: Projecting a Camera. Language-Games in Film Theory, New York: Routledge 2006. 12 Vgl. zur Kadrierung: Prümm, Karl: »Stilbildende Aspekte der Kameraarbeit. Umrisse einer fotografischen Filmanalyse«, in: Ders./Silke Bierhoff/Matthias Körnich (Hg.), Kamerastile im aktuellen Film, Marburg: Schüren 2000, S. 15-50. 13 Eine der wenigen Ausnahmen ist David Bordwells Analyse von Gregg Tolands Arbeit an der Schärfentiefe (Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin: The Classical Hollywood Cinema: Film Style & Mode of Production to 1960, London: Routledge 2006, S. 345ff.). Neben der technischen Entwicklung, die die Schärfentiefe ermöglichte und die bereits von Patrick Ogle (»Technological and aesthetic influences upon the development of deep focus cinematography in the United States«, in: John Ellis (Hg.), Screen Reader 1, London: SEFT 1977, S. 81-108) herausgearbeitet worden war, konzentriert sich Bordwell zudem auch auf den Einfluss der Kameragewerkschaft, die maßgeblich zu Tolands Ruhm und damit auch zur Durchsetzung seines Stils beigetragen hat. 14 Hierzu lassen sich am ehesten in Handbüchern Hinweise finden, vgl. bspw. Michael Goi (Hg.), American Cinematographer Manual, Volume I, Hollywood: ASC Press
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dafür mag sein, dass man als Zuschauer/in und selbst auch als technisch interessierte/-r Filmwissenschaftler/-in selten über Vergleichsmöglichkeiten verfügt. Hinzu kommt, dass die normalen Analysewerkzeuge wie DVDs und Computerbildschirme kaum ausreichend sind, um Unterschiede im Bild jenseits von Rahmung und Färbung zu beurteilen, da die zu vergleichenden Bilder dann in vergleichbaren Files auf kalibrierten Monitoren angeschaut werden müssten. 15 Dennoch ist es wichtig, auch diese Faktoren stärker in die Analyse mit einzubringen, da die Entscheidung für das richtige Objektiv keine ist, die von Kameramännern und -frauen sowie von Regisseurinnen und Regisseuren leichtfertig getroffen wird, und es mit Panavision, Zeiss, Cooke und Angenieux immerhin auch vier große Hersteller gibt, die sich größtenteils im professionellen Bereich die Produktionen aufteilen. 16 Im Folgenden soll auf einige Aspekte der historischen Entwicklung bei Objektiven als auch auf Unterschiede bei den Herstellern eingegangen werden, um unter anderem zu zeigen, wie Mode und Filmstil auch mit der Wahl der Objektive zusammenhängen und sogar das digitale, rein synthetisch ohne Kameras hergestellte Bild beeinflussen. Demonstriert werden soll das an einem herausgehobenen Element, das es einfacher macht, über die Glas-Unterschiede zu sprechen: dem Lens Flare. Lens Flares sind Artefakte, die sich auf den einzelnen Linsenelementen in einem Objektiv abbilden und auf dem aufgenommenen Bild meist als hintereinander angeordnete Hexa- oder Oktagone oder horizontale Streifen
2013 oder Malkiewicz, Kris/Mullen, M. David: Cinematography. A Guide for Filmmakers and Teachers, New York: Fireside 2005. 15 Zudem ist die Informationslage häufig schlecht. Zwar ist es inzwischen recht einfach, herauszufinden, welche Objektive für den Dreh eines Filmes verwendet wurden, aber da die meisten Kameramänner und -frauen häufig ein Set von mindestens vier verschiedenen Objektiven unterschiedlicher Hersteller nutzen, ist es wiederum schwierig, beurteilen zu können, welches Bild mit welchem Objektiv gefilmt wurde. So führen die Hersteller Zeiss und Cooke jeweils auf ihrer Website an, dass ihre Optiken für den Film 127 HOURS (USA/UK 2010, R: Danny Boyle) verwendet wurden, da sowohl Cooke Panchro lenses und Zeiss Ultra Prime lenses zum Einsatz kamen. Da weitere Angaben aber fehlen, kann somit keine Aussage über die spezielle Charakteristik der verschiedenen Optiken getroffen werden, wenn man diesen Film zugrunde legt. 16 Teilweise ist die Entscheidung für ein bestimmtes Objektiv pragmatischen Gründen geschuldet: so konnten lange Zeit an Kameras von Panavision, einer der führenden Filmkamerahersteller, nur Panavision-Optiken montiert werden. Angenieux war spezialisiert auf Zoom-Optiken. Produktionen mit geringem Budget greifen zudem auf ältere Optiken oder alternative Hersteller zurück, da diese deutlich günstiger sind.
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sichtbar sind.17 Diese Blendenflecke sind Störungen, da sich direkt in das Objektiv fallende Lichtstrahlen, die u.a. durch Kompendien verhindert werden könnten, innerhalb der Optik mehrfach brechen und spiegeln. Dadurch wird die Optik wahrnehmbar, ihr sonst transparentes Glas wird sichtbar. Für Objektivspezialisten sind Lens Flares wie Fingerabdrücke der Optiken, da anhand ihrer Anzahl und Form präzise Aussagen über die verwendeten Objektive und sogar die Blendenöffnungen getroffen werden können. Lens Flares sind nicht einfach nur Fehler, anders als beispielsweise das Filmkorn stellen sie ein konkretes zweites Bild dar, das sich in die Aufnahme mit einschreibt. Auf dem aufgenommenen Bild evozieren die Lens Flares zudem eine Scheibe, die vor der aufgenommenen Szene zu stehen scheint, da sie sich auf dem flachen Bild immer räumlich vor der Szenerie befinden; sie verdecken das Bild, wie es eine verschmierte Scheibe tun würde – auf Deutsch nennt man Lens Flares daher auch Blendenflecke. Auch wenn das Objektiv selbst in seinen Einzelteilen streng genommen nicht aus Scheiben, sondern Linsen besteht, die zudem einem anderen Herstellungsverfahren unterliegen als eine Glasscheibe, impliziert der Lens Flare in seiner deutlichen Thematisierung der Flächigkeit des Filmbildes genau jene Münsterberg’sche Scheibe, die in der Fenstermetapher noch fehlt. Münsterbergs Metapher wird hier verstanden als das Einziehen eines meist nicht wahrzunehmenden und daher als transparent angesehenen ›Dazwischen‹. Diese Schicht taucht nicht nur bei der Rezeption auf, sondern kann auch innerhalb der Filmproduktion tatsächlich die Ausformung einer Scheibe annehmen, beispielsweise bei Trickaufnahmen wie dem Glass-Matte-Painting-Shot18 oder bei der Herstellung von Titelvorspannen, bei denen die Schriftzüge auf Glasscheiben geschrieben wurden, die man dann zusammen mit dem Filmbild wiederum abfilmte. 19
17 Siehe ausführlich zu den verschiedenen Arten und Entwicklungen von Lens Flares: Krautkrämer, Florian: »Linsenschmutz. Lens Flares in Film und Game«, in: Cargo Film/Medien/Kultur 19 (2013), S. 32-39. 18 Glass Matte Paintings wurden für Trickaufnahmen genutzt, um real gedrehte Szenen mit gemalten Hintergründen zu kombinieren. Beim speziellen glass-shot setup wurde die bemalte Glasscheibe zwischen Kamera und gespielter Szene positioniert und fügte so die beiden Bilder gleich direkt bei der Aufnahme und nicht erst anschließend in der Postproduktion zusammen. Siehe insbesondere hierzu: Vaz, Mark Cotta/Barron, Craig: The Invisible Art. The Legends of Movie Matte Painting, San Francisco: Chronicle Books 2002, S. 29ff. 19 Vgl. hierzu Harris, Adam Duncan: »Das goldene Zeitalter des Filmvorspanns: Die Geschichte des ›Pacific Title and Art Studios‹«, in: Alexander Böhnke/
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Das Trägermaterial in diesen verschiedenen Zusammenhängen soll transparent bleiben und Durchsicht gewähren, es kann nur durch eine Beschreibung der Vorgänge wiederum sichtbar gemacht werden. Im projizierten Filmbild jedoch ist es nur zu erkennen, wenn man um das jeweilige Produktionsdispositiv weiß und anhand unterschiedlicher Merkmale Rückschlüsse auf die verwendeten Materialien getroffen werden. Auch wenn das Objektiv im Sinne der Medienspezifik20 keine Glasscheibe ist,21 so ist es im hier beschriebenen Zusammenhang doch als ein gläsernes Trägermaterial22 zu beschreiben. Um den Einfluss der Objektive stärker in die Filmgeschichte und -analyse einzubringen, müssen diese nicht zwingend als Scheiben konzipiert werden. Da aber dieser Einfluss hier nicht allein als ein medienindustrieller, sondern vor allem auch als ästhetischer verhandelt werden soll, ist die von Münsterberg eingeführte Denkfigur der Scheibe durchaus brauchbar. Die Eigenschaften der Objektive können am Bild nur aufgrund von Ableitungen sichtbar gemacht werden. Das Lens Flare ist solch eine Ableitung, die es dabei ermöglicht, recht anschaulich Aussagen am Bild über Veränderungen aufgrund technischer Entwicklungen der Objektive zu treffen. Sich diese Objektive konkret als dem Bild zugrunde liegendes Material anzuschauen, ist vor allem auch vor dem Hintergrund des häufig als immateriell bezeichneten digitalen Bildes entscheidend:23 immerhin ist das Objektiv eines
Rembert Hüser/Georg Stanitzek (Hg.), Das Buch zum Vorspann: »The Title is a Shot«, Berlin: Vorwerk 8 2006, S. 123-136, hier S. 125ff. 20 Vgl. auch Rosalind Krauss: »[D]ie Spezifik der Medien, selbst der Medien der Moderne, muß als differenziell, als von sich selbst differierend verstanden werden, weshalb eine Schichtung bestimmter Konventionen niemals einfach in die reine Körperlichkeit ihres Trägers kollabiert« (Krauss, Rosalind: »A Voyage on the North Sea« Broodthaers, das Postmediale, Zürich: Diaphanes 2008, S. 69). Speziell bezogen auf das Medium Video und die mit dem Paradigma der Techno-Ästhetik einhergehenden Probleme zu deterministisch verfolgter Medienspezifika und -ontologien siehe auch Moran, James M: There is no Place like Home Video, Minneapolis: University of Minnesota 2002, S. 2ff. 21 Zum Herstellungsprozess von Linsen siehe u.a. Schaeffer, Helmut A./Langfeld, Roland: Werkstoff Glas. Alter Werkstoff mit großer Zukunft, Heidelberg: Springer 2014, S. 67ff. 22 »Glass works exactly like atmosphere in that it allows nothing but the sign of its content to emerge, in that it interposes itself in its transparency« (Baudrillard, Jean: The System of objects, London: Verso Bodes 1996, S. 42). 23 Zu diesem Diskurs siehe u.a. Doane, Mary Ann: »Hat das Medium Gewicht?«, in: zfm, 2 (2010), S. 15-26.
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der konstantesten Elemente innerhalb der Filmproduktion, das teilweise unterschiedslos sowohl bei der analogen als auch der digitalen Bildaufzeichnung 24 Verwendung findet.25
O BJEKTIVGESCHICHTE Bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts waren Lens Flares in Spielfilmen selten. Lens Flares wurden als unbeabsichtigte Fehler angesehen. Da die Optiken sehr anfällig dafür waren, wurde durch Abschirmungen und kontrollierten Lichtaufbau penibel darauf geachtet, dass kein Lichtstrahl direkt in das Objektiv fiel, was zu den Blendenflecken geführt hätte. Sind doch welche zu sehen, dann meist in Außenaufnahmen, bei denen der Kameramann keine Kontrolle über die Lichtquellen vor der Kamera hatte.26 Der Grund für diese Anfälligkeit liegt darin, dass die Ende der 30er Jahre von Zeiss entwickelte anti-reflektierende Beschichtung für die einzelnen Linsenelemente noch nicht ausgereift genug war. Das führte auch dazu, dass die für den Film verwendeten Optiken höchstens über fünf einzelne Linsenelemente verfügten, da jede Glasoberfläche ungefähr fünf Prozent des ein- bzw. austretenden Lichts absorbierte. 27 Diese im Vergleich zu heutigen
24 In diesem Zusammenhang wäre auch zu fragen, was überhaupt eine Kamera ausmacht: Wird ein Smartphone durch das Hinzufügen eines sehr kleinen Objektivs zu einer Kamera, oder ist es das auch unabhängig davon aufgrund der technischen Voraussetzungen? Sony hat mit dem DSC-QX ein Objektiv hergestellt, das autonom ohne Kamerabody funktioniert und über WLAN mit einem Smartphone verbunden werden kann. Ist dieses Objektiv gleichzeitig auch eine Kamera, da es den Platz für eine SD-Speicherkarte bietet, obwohl es nur mit Hilfe des Smartphones bedient werden kann? Nicht in Bezug auf die technische Konstitution, sondern auf Apparat und Blick stellt Kaja Silverman diese Frage bereits 1993: »What is a camera?«, in: Discourse: journal for theoretical studies in media and culture, 15/3 (1993), S. 3-56. 25 Zeitgenössische Profikameras wie die RED zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie es ermöglichen, ältere Objektive zu verwenden, um so spezifische Filmlooks, beispielsweise aus den 70er Jahren aufzugreifen. 26 In THE WILD ONE (USA 1953, R: László Benedek) sind Lens Flares zu sehen, die durchaus als gewollt eingestuft werden können: als die Motorradgang nachts ein Haus umstellt, leuchten die Scheinwerfer direkt in die Kamera. Die dabei entstehenden Lens Flares verstärken den subjektiven Effekt, vom Licht geblendet zu werden. 27 Vgl. Neil, Iain A.: »Lenses«, in: Goi, Michael (Hg.), American Cinematographer, S. 111-142, hier S. 115.
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Objektiven28 sehr geringe Linsenanzahl führte auch dazu, dass die sich im Ausnahmefall abbildenden Lens Flares schwach wahrnehmbar waren, da sie sich auf nur wenigen Oberflächen innerhalb der Optik abzeichnen konnten. Bei einem der frühesten Beispiele für Lens Flares in einem Spielfilm, bei einer Außenaufnahme in AIR FORCE (USA 1943, R: Howard Hawks),29 sind sie auch Elemente, die für einen gesteigerten filmischen Realismus stehen. Die offizielle Kriegsfilmproduktion der USA hat während des Zweiten Weltkriegs Stilmerkmale aus der Amateurfilmproduktion aufgenommen, um das Material realistischer wirken zu lassen. 30 Kameramann James Wong Howe, der AIR FORCE fotografierte, hatte seine Assistenten daher explizit dazu angewiesen, bei Gefechtsszenen die Kamera zu schütteln oder anzustoßen und das Bild unscharf werden zu lassen.31 Abbildung 1: Lens Flare in AIR FORCE
Quelle: AIR FORCE (USA 1943, R: Howard Hawks)
28 Heute verwendete Optiken können über 20 verschiedene Glaselemente enthalten. 29 Für den Hinweis auf diesen Lens Flare danke ich Lukas Foerster. 30 Vgl. Patricia R. Zimmermann: Reel Families. A Social History of Amateur Film, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1995, S. 90 ff. 31 Ebd., S. 111.
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Mit der verbesserten Oberflächenbeschichtung war es ab den 50er Jahren möglich, Objektive mit mehreren Linsenelementen für den Film zu konstruieren, was in der Folge sowohl zu verbesserten Anamorphoten als auch zu ZoomObjektiven32 führte, die auf viele kleine, teilweise bewegliche Linsenelemente angewiesen sind. Durch die Beschichtung konnten die Objektive nun zum einen besser gegen Lens Flares geschützt werden, gleichzeitig machte die zunehmende Anzahl der Glaselemente diese aber auch deutlicher sichtbar als zuvor. Zwar konnten ab den 60er Jahren schnellere Optiken für den Film konstruiert werden, aber erst in der Kombination mit verschiedenen Gläsern mit hohem Brechungsindex wurde es auch möglich, verzeichnungsfrei mit Blendenöffnungen unter 2,0 zu filmen.33 Doch obwohl die Objektive nun gegen Lens Flares vergleichsweise besser geschützt waren, führten die Entwicklung der beweglicheren Kamera und die erleichterten Bedingungen für Außendrehs auch zu vermehrt auftauchenden Flares. EASY RIDER (USA 1969, R: Dennis Hopper) war einer der ersten Filme, der deswegen die Lens Flares zu einem Stilmittel erkor. Aufgrund des geringen Budgets konnte Kameramann László Kovács keinen speziellen Kamerawagen einsetzen und musste seine Arriflex direkt außen auf den Chevrolet Impala montieren, um die Aufnahmen während der Motorradfahrten zu filmen. Damit war es nahezu unmöglich, Lens Flares zu vermeiden, die aufgrund der verwendeten Zoomoptik in langen Diagonalen über dem Bild zu sehen sind. Bei der Sichtung des Rohmaterials entschied sich Hopper daher dafür, diese nicht als fehlerhaftes Material auszusortieren, sondern sie sogar noch zu forcieren, um sie als stilistische Entscheidung im fertigen Film zu belassen, der damit dokumentarischer wirken sollte.34 Diese Entwicklung, dass trotz zunehmender Verbesserungen der Optiken das Erscheinen der Lens Flares ebenfalls signifikant anstieg, setzte sich in den 70er und 80er Jahren fort. Da vor allem Science-Fiction- und Actionfilme vermehrt mit Anamorphoten gedreht wurden, ließen sich die sogenannten Streaks nicht vermeiden, blaue horizontal verlaufende Lichtstreifen, die charakteristisch sind für Lens Flares bei dieser Art von Objektiven. Aufgrund der speziellen Beschaffenheit der Anamorphoten blieben diese Objektive bis Mitte der 80er Jahre
32 Einer der frühesten Zooms im Film ist am Anfang von IT (USA 1927, R: Clarence G. Badger, Josef von Sternberg) zu sehen, aber erst mit der deutlichen Verbesserung der Linsen wurden Zooms ab den 50ern häufiger eingesetzt. 33 Vgl. I. A. Neil: »Lenses«, S. 116. 34 Vgl. Pope, Norris: Chronicle of a Camera. The Arriflex 35 in North America, 1945-1972, Jackson: University Press of Mississippi 2013, S. 96f.
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weiterhin anfällig für Lens Flares, was dazu führte, dass man das Streaking als charakteristisches Stilmittel dieser Genres akzeptierte und sie mitunter gezielt verstärkte.35 Erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre war die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass auch Anamorphoten weit weniger anfällig waren für diese Art der Artefakte, wodurch der Lens Flare erst vollständig zu einer Option, zu einem Stilelement werden konnte. In den 90er Jahren sieht man ihn überwiegend als ›Signatur‹ verschiedener Regisseure, wie beispielsweise bei John Carpenter. Doch während sich für die Filmindustrie nun die Möglichkeit bot, auch unter den verschiedensten Gegebenheiten auf den Lens Flare verzichten zu können, taucht er plötzlich an anderer Stelle wieder auf, wo es zunächst gar keine zwingende Notwendigkeit für ihn gab: im synthetisch erzeugten Bild der Computerspiele.
K ÜNSTLICHE O BJEKTIVE Sowohl digital aufgenommene als auch synthetisch erzeugte Bilder werden nachträglich häufig mit Filtern versehen, die analoge Störungen hinzurechnen36 wie Kratzer oder Filmkorn. Schon früh wurden bei Computerspielen auch digital erzeugte Lens Flares integriert, um dem Bild Elemente von Fotorealismus hinzuzufügen.37 Mit rechenstärkeren Konsolen wie dem Nintendo Game Cube und der Playstation 1 wurde es Mitte der 90er möglich, die Lens Flares auf die Perspektive der Kamera reagieren zu lassen und nicht nur als Designelement in den Hintergrund der Szene zu zeichnen; so sollte es aussehen, als wäre die Szene tatsächlich mit einer Kamera gefilmt worden.
35 Steven Spielberg, der in vielen seiner Filme und auch bereits in seinem Debüt DUEL (USA 1971) häufig Lens Flares einsetzte, hat für CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND (USA 1977) teilweise 65-mm-Optiken verwenden lassen, um das Streaking zu verstärken, vgl. I. A. Neil: »Lenses«, S. 128. 36 Vgl. Flückiger, Barbara: »Zur Konjunktur der analogen Störung im digitalen Bild«, in: Jens Schröter/Alexander Böhnke (Hg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 407-428. 37 Die Firma Industrial Light and Magic hatte bereits Ende der 90er Jahre eine Datenbank mit Lens Flares, die auf die synthetischen Bilder gelegt werden konnten, um den Fotorealismus zu steigern (siehe Solman, Gregory: »Fancy Math«, in: Film Comment 38 (2002), Nr. 4, S. 22-26, hier S. 25f.).
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Viele Computerspiele verfügen inzwischen über eine ganze Reihe interaktiv beweglicher Lens Flares; da das fotorealistische Aussehen der Flares eine gewisse Rechenleistung erfordert, legen Spielproduzenten viel Wert auf die Flares, um zu demonstrieren, dass man über eine sehr leistungsstarke Spiele-Engine verfügt.38 Inzwischen kann man Sets an digital kreierten Lens Flares kaufen oder rechnen lassen, die bestimmten Optiken exakt nachempfunden sind und sogar unterschiedliches Aussehen je nach eingestellter Blendenöffnung aufweisen. 39 Damit ergibt sich das Paradox, dass die Industrie, die die Objektive herstellt, hohen Aufwand betreibt, um extrem teure, sogenannte Master Primes zu fertigen, die aufgrund ihrer hohen Vergütung sehr unempfindlich gegenüber dem Flaring sind. Gleichzeitig wird jedoch viel Energie darauf verwendet, digital eingefügte Lens Flares kameralos erzeugten Bildern hinzuzufügen. 40 Dass diese technischen Artefakte zudem den Kamerarealismus betonen, obwohl sie in einer Subjektiven eines First-Person-Shooters eingefügt werden, der eigentlich die menschliche Sicht simulieren soll, ist zudem widersprüchlich; letztendlich rekurrieren diese Flares aber eher auf ein ›Kinogefühl‹ denn auf die akkurate Wiedergabe menschlichen Sehens – weitaus seltener sind daher auch Elemente wie die Spiegelung des (sonst unsichtbaren) Avatars in der Scheibe seines Visiers. Die Entwicklung der digitalen Lens Flares hat wiederum Auswirkungen auf das analog erzeugte Bild. So hat J.J. Abrams die stilistischen Elemente der Lens Flares in seinen Filmen seit 2006 wieder aufgegriffen und diese vehement forciert, indem er mit kleinen Punktscheinwerfern während der Aufnahme immer wieder direkt ins Objektiv geleuchtet hat. Ungefähr seit diesem Zeitpunkt kann in der Bewegtbildproduktion generell eine starke Zunahme der Lens Flares sowohl in Werbung als auch allen anderen Segmenten bis hin zum Spielfilm
38 »You might notice that we have some pretty badass lens flares in the game. I think we probably invented the most insane lens flare system ever conceived in any game engine.« (Senior Creative Director von Crytek Rasmus Højengaard im Interview: Evan Lahti,
Crytek:
Lens
flares
»very
important«
to
Crysis
3,
PCGamer,
http://www.pcgamer.com/crytek-lens-flares-e2809cvery-importante2809c-to-crysis-3/ vom 26.4.2012.) 39 Siehe Hullin, Matthias/Eisemann, Elmar/Seidel, Hans-Peter/Lee, Sungkil: PhysicallyBased
Real-Time
Lens
Flare
Rendering,
http://resources.mpi-inf.mpg.de/
lensflareRendering/pdf/flare.pdf vom 7.3.2016. 40 … oder die absichtlich erzeugten Artefakte aufwendig wieder herauszurechnen, vgl. Olivarez-Giles, Nathan: »J.J. Abrams apologizes for overusing lens flare: ›I know it’s too
much‹«,
in:
The
Verge,
http://www.theverge.com/2013/9/30/4788758/
j-j-abrams-apologizes-for-his-overusing-lens-flares vom 30.9.2013.
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beobachtet werden. Objektivhersteller reagieren darauf, indem sie neben ihren Master Prime-Serien auch spezielle, ebenso teure Optiken anbieten, die gezielt dafür hergestellt wurden, Lens Flares besonders zu forcieren – beim Hersteller Cooke heißen diese »uncoated Cooke Panchros«. Da diese Lens Flares teilweise aber zu modisch und künstlich aussehen, greifen Filmemacher und Kameramänner mitunter auch auf ältere, weniger gut vergütete Optiken zurück, um gezielt ›prädigital‹ wirkende Flares zu erzeugen.41 Diese Verbindung in der Zu- und Abnahme der Lens Flares beim analogen, digitalen und synthetischen Bild zeigt, wie eng nicht nur Stilentwicklungen und technische Entwicklungen miteinander verzahnt sind, sondern dass über das optische System auch alle drei Arten der Bilderzeugung zusammen analysiert werden müssen. Die Operationen am synthetischen Bild, die zum Ziel haben, es an aus den analogen Verfahren bekannte Elemente anzugleichen, müssten daher ebenso zum optischen System gezählt werden wie auch die Optiken der Kameras.
D IE UNSICHTBARE S CHEIBE SEHEN Der Lens Flare bietet den Vorteil, dass er die Scheibe im ›Fenster‹ des Films sichtbar macht. Und: wie ein Fingerabdruck werden herstellertypische Komponenten auf dieser Scheibe sichtbar. Die eingangs gestellte Forderung, die Eigenschaften des Objektivs stärker bei der Analyse des Abbildes zu berücksichtigen, steht aber jenseits des Lens Flares noch aus. Wie kann man über die hier am Beispiel des Fehlers der Blendenflecken vorgestellten Aspekte sprechen, wenn sie weit weniger gut zu sehen sind? Da die Beantwortung dieser Frage vor allem die Zusammenarbeit mit Praktikern und Entwicklern aus der Filmbranche erfordert, kann an dieser Stelle zunächst vielleicht die Frage beantwortet werden, warum man überhaupt über das Glas im Fenster stärker nachdenken sollte. Zwei Antworten bieten sich hierzu an: Erstens: Die Ausführungen haben gezeigt, dass das Kamerabild aus viel mehr besteht als nur Kamerabewegungen und Kadrierung. Objektiventwicklungen sowie -unzulänglichkeiten sind ebenso verantwortlich für Stile und Moden. Ein genauerer Blick auf die Unterschiede würde nicht nur das Vokabular der Filmanalyse bereichern; nachhaltiger verfolgt, könnte man somit auch zu leichter 41 Christoph Hochhäusler berichtete dem Autor auf Nachfrage, dass er und sein Kameramann Reinhold Vorschneider für den Film D IE LÜGEN DER SIEGER (D 2014) unter anderem einen russischen Lomo Anamorphoten aus den 60er Jahren verwendet und die Lens Flares teilweise durch spezielle Blue Streak-Filter verstärkt haben.
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zu treffenden Beschreibungen beispielsweise eines Cooke-Looks kommen oder nachvollziehen, warum bestimmte Bilder schärfer oder weicher aussehen als andere. Zweitens: Das zweidimensionale Filmbild ist verantwortlich für das, was man als Realitätseindruck bezeichnet. Münsterbergs Scheibenmodell betont das Vermittelnde dieses vom Zuschauer, von der Zuschauerin beurteilten Realitätseindrucks. Wenn inzwischen Filme nicht mehr nur exklusiv im Kino oder im Fernsehen angeschaut werden, sondern auch auf Handys, Computern, im Zug oder zuhause,42 dann ändert sich diese ›Scheibe‹ massiv und muss ebenfalls Gegenstand von Untersuchungen sein. Denn auch die Filme ändern sich dadurch. Was inzwischen aber bereits Eingang in die Filmwissenschaft gefunden hat, stärker herauszustellen, unter welchen Bedingungen man was für eine Fassung von welchem Film gesehen hat, 43 muss auch auf der Seite der Produktion eingefordert werden. Die Scheibe dort ist die Linse, das Objektiv. Im Gegensatz zur Metapher bei Münsterberg handelt es sich hier um einen tatsächlichen Gegenstand, zudem um einen, der aufgrund der physikalischen Grundlagen als einer der wenigen Gegenstände im Film den Wechsel vom Analogen zum Digitalen relativ unbeschadet überstanden hat.
42 Zur Veränderung der Rezeptionssituation siehe unter anderem Casetti, Francesco: »Die Explosion des Kinos. Filmische Erfahrung in der post-kinematographischen Epoche«, in: montage/av 19 (2010), Nr. 1, S. 11-36. 43 Siehe dazu unter anderem Perren, Alisa/Petruska, Karen: »Big Hollywood, Small Screens«, in: Pelle Snickars/Patrick Vonderau (Hg.), Moving data: the iPhone and the future of media, New York: Columbia University Press 2012, S. 104-123.
Through the Looking Glass – die Glasscheibe als kinematografisches Ding Bild(produktions)ästhetische und dingtheoretische Bemerkungen und Ansichten M ATTHIAS T HIELE
»Glas ist nicht umsonst ein so hartes und glattes Material, an dem sich nichts festsetzt. Auch ein kaltes und nüchternes. Die Dinge aus Glas haben keine ›Aura‹. Das Glas ist überhaupt der Feind des Geheimnisses. Es ist auch der Feind des Besitzes. [...] ›Nach dem Gesagten‹, erklärt Scheerbart vor nun zwanzig Jahren, ›können wir wohl von einer ›Glaskultur‹ sprechen. Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln. Und es ist nun nur zu wünschen, daß die neue Glaskultur nicht allzu viele Gegner findet.‹«1 »[D]as Montagewerk für Farbfernsehgeräte, eine Fata Morgana aus Glas und blankem Stahl, wie eine kristallene Luftblase, als arbeitete man umgeben von Reinheit und Glanz, beinahe in einer Traumwelt, so sauber und modern war die Fabrik, der Industriepark, wie die Manager sagten, diese Montagewerke, die es den Gringos ermöglichten, Textilien nähen zu lassen und Spielsachen, Motoren, Möbel, Computer und Fernsehapparate zusammenzubauen, mit Einzelteilen, die in den Vereinigten Staaten hergestellt und in Mexiko
1
Benjamin, Walter: »Erfahrung und Armut« (1933), in: Ders., Gesammelte Schriften, Band II.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 213-219, hier S. 217-218.
56 | THIELE zehnmal billiger montiert wurden, dann auf den nordamerikanischen Markt jenseits der Grenze zurückgelangten, wofür man lediglich die Mehrwertsteuer bezahlen mußte [...].«2 »Gleichgültig ob es sich um Dinge, Wesen, Bilder, Begriffe oder um Ereignisse irgendwelcher Art handelt: sie alle bilden sich auf der Stufe der Interferenz mit einer Vielzahl von Praktiken.«3
Die Kinofilme und die im kinematografischen Modus produzierten und damit an einer Spielfilmästhetik orientierten Fernsehserien, die hier auf ihren Einsatz von Glasscheiben hin betrachtet und analysiert werden, bezeugen durch ihr exzessives In-Szene-Setzen von Glas und von Glas und Stahl, dass die Glaskultur nicht allzu viele Gegner gefunden hat und wir modern sind. Die Glashäuser der literarisch-fantastischen Szenarien von Paul Scheerbart und der neuen Architektur von Adolf Loos und Le Corbusier konnten Walter Benjamin seinerzeit durch einen Vergleich mit dem bürgerlichen Interieur der 1880er Jahre noch zur Veranschaulichung seines »positiven Begriffs des Barbarentums«4 dienen. Gegenüber der markierten ›Gemütlichkeit‹ der konformen bürgerlichen Behausung mit üppigem, von Schnitzereien überquellendem Mobiliar, Perserteppichen, Plüsch, Deckchen auf Polstermöbeln, Nippes auf den Gesimsen, Transparenten auf Fenstern und Ofenschirm vor dem Kamin sah Benjamin in den unkonventionellen Glasbauten Erfahrungsarmut als kulturrevolutionäre Haltung der Einsicht und des Verzichts am Werk.5 »Erfahrungsarmut: das muß man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, daß etwas Anständiges dabei herauskommt.
2
Fuentes, Carlos: Die gläserne Grenze. Roman in neun Erzählungen, aus dem mexikanischen Spanisch übersetzt von Ulrich Kunzmann, Hamburg: Hoffmann und Campe 1998, S. 153.
3
Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, aus dem Französischen übersetzt von Klaus Englert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 358.
4
W. Benjamin: »Erfahrung und Armut«, S. 215.
5
Vgl. zum bürgerlichen Zimmer Benjamin: »Erfahrung und Armut«, S. 217 und hierzu passend und ergänzend auch das Denkbild Hochherrschaftlich möblierte Zehnzimmerwohnung in Benjamin, Walter: »Einbahnstraße«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band IV.1, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 83-148, hier S. 88-89.
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Sie sind auch nicht immer unwissend oder unerfahren. Oft kann man das Umgekehrte sagen: Sie haben das alles ›gefressen‹, ›die Kultur‹ und den ›Menschen‹ und sie sind übersatt daran geworden und müde.«6
Die puristischen, funktionalen Glaskonstruktionen repräsentierten für Benjamin »eine Art von neuem Barbarentum«7, das auf Armut an Menschenerfahrungen baute und sowohl eine notwendige Erneuerung der Kultur als auch neue Subjektivitäten verhieß. Angesichts der Krisen, Erschütterungen und Umwälzungen – Erster Weltkrieg, Agonie des Kaiserreichs, Krise der Weimarer Republik, Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Vorkriegszeit und technische Medien – sei es erforderlich, das Menschenähnliche, den Humanismus und den ›Menschen‹ abzulehnen, ›der Kultur‹ und dem kulturgeschichtlichen Reichtum zu misstrauen, die Überlieferung, die Welt und das, woran – vor allem von Seiten der Mächtigen – festgehalten werde, auf ihre und seine »Zerstörungswürdigkeit«8 zu prüfen, reinen Tisch zu machen, von Neuem anzufangen und mit Wenigem auszukommen. 9 Hierbei sei entscheidend, dass das positive Barbarentum, das die Kultur einer Inspektion unterziehe, um auf tradierte Bestände und Gewohntes zu verzichten und »aus Wenigem heraus zu konstruieren«10, mit der Parole »Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch rückhaltloses Bekenntnis zu ihm« 11 operiere. Das zeitgenössische dominante Glas-Milieu, das zu den Insignien des gegenwärtigen Kapitalismus gehört, kann dem positiven Barbarentum keineswegs mehr zugerechnet werden. Gänzlich illusionslos muss konstatiert werden, dass die Glasarchitektur von Unternehmen, Regierungsgebäuden, Verwaltungen, Geschäfts- und Wohnhäusern mit ihren sowohl weitläufigen Fassaden aus Glas und
6
W. Benjamin: »Erfahrung und Armut«, S. 218.
7
Ebd., S. 215.
8
Benjamin, Walter: »Der destruktive Charakter«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band IV.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 396-398, hier 297.
9
Vgl. zur Forderung und Praxis des positiven Barbarentums bei Benjamin auch Lindner, Burkhardt: »Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie, Benjamins ›Positives Barbarentum‹ im Kontext«, in: Ders. (Hg.), Frankfurt a. M., Königstein/Ts: Athenäum 1978, S. 180-223 und Ders., »Von Menschen, Mondwesen und Wahrnehmungen. Benjamin und die ›Medienwissenschaft‹«, in: Christian Scholte (Hg.), Walter Benjamins Medientheorie, Konstanz: UVK 2005, S. 9-38.
10 W. Benjamin: »Erfahrung und Armut«, S. 215. 11 Ebd., S. 216.
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Stahl als auch attraktiv verglasten und von Glaswänden unterteilten Büro- und Wohnräumen eben nicht nur von Licht, sondern zugleich von der zivilisierten Barbarei der Kontrollgesellschaften und ihren Denormalisierungskrisen durchströmt wird. Auch die hier zu betrachtenden bild- und filmästhetischen Präsentationen der architektonischen Glaskultur und ihrer großflächigen Glasscheiben stehen dem Diktum des von Grund auf Neuen und auf Einsicht und Verzicht Begründeten fern. Die zur Diskussion stehenden Fernsehserien und Spielfilme gehören in der Mehrzahl zu jenem Sektor der Kulturproduktion, der nicht müde wird, mit seinen identifikatorischen Figuren und interpersonal-interaktionistischen Geschichten am Gewohnten wie Menschenähnlichen unhinterfragt festzuhalten und auf den profitbewehrten Erfahrungsreichtum zu setzen. Merkwürdig ist alleine, dass sich ihre hegemonialen medialen Stories zwischen Glasscheiben entfalten.
G LASSCHEIBEN ,
NICHT
F ENSTER
Das Fenster ist eine bestimmte Struktur: eine gerahmte, meist verglaste Öffnung in einer Mauer beziehungsweise Wand, die auf oder zu sein kann und sowohl einen inneren Blick nach außen als auch einen äußeren Blick nach innen ermöglicht.12 Insofern ist es beschreibbar als ein räumliches »Verhältnis zwischen vier Elementen: ein Innen und ein Außen, eine Verkettung und eine Unterbrechung.«13 Diese Aufteilung hat das Fenster dazu prädestiniert, als Metapher für das Kino und das Fernsehen sowie als voyeuristische und selbstreflexive Szenerie des Films zu fungieren. 14 Bei filmischen Fensterszenen tritt in der Regel die
12 Vgl. Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft 2000, S. 66. Flusser vernachlässigt die zweite Blickposition, um das Fenster als nicht verlässliches Instrument der Erkenntnis zu konzipieren, was ihm durch die Gleichsetzung des inneren Blicks nach außen mit dem griechischen theoria, dem gefahr- und erfahrungslosen Erkennen, gelingt. 13 Rancière, Jacques: »Die Wahrheit durchs Fenster. Literarische Wahrheit, freudianische Wahrheit«, in: Ders., Politik der Literatur, aus dem Französischen übersetzt von Richard Steurer, Wien: Passagen 2008, S. 181. 14 Vgl. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 23-48 und Thiele, Matthias: »Szenen der Gastlichkeit: Zur Figur und Funktion des Gastes im Mediendispositiv Fernsehen«, in: Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation, hg. von Peter Friedrich und Rolf Parr, Heidelberg: Synchron 2009, S. 353-375, hier S. 359-360.
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Materialität des Glases nicht in den Vordergrund. Die Verglasung soll unsichtbar bleiben und Transparenz garantieren. Als Beispiel kann die Blockhausszene aus CITIZEN K ANE (USA 1941, R: Orson Welles) angeführt werden, in der die Mutter von Charles Kane zum Wohl des Sohnes und gegen den Einspruch des gewalttätigen Vaters mit dem kultivierten Bankier Mr. Thatcher einen Vormundschaftsvertrag abschließt. Die Szene ist für ihren Einsatz von Tiefenschärfe und ihr räumlich-bildliches Arrangement der Figuren berühmt. Hier soll jedoch allein die nicht minder komplexe Inszenierung des Fensters interessieren. Zu Anfang der Einstellung ist der im Schnee spielende Junge zu sehen und zu hören. Es schneit und der atmosphärische Ton imitiert Wind. Die einsetzende Kamerabewegung, eine Kombination aus Neigung nach oben und Wegfahrt, verwandelt die Aufnahme zu einer Sicht durch ein großes Schiebefenster, dessen untere Hälfte geöffnet ist und zu der sich die Mutter des Jungen leicht hinunterbeugt, um dem Kind besorgt Anweisungen zuzurufen. Durch das Fenster wird ein Außen und ein Innen etabliert, wobei die weiterwegfahrende Kamera den Innenraum durchquert und bildfüllend präsentiert, bis sie hinter einem Tisch zum Stand kommt und ihre Bewegung durch Absenkung nach unten auf Sitzhöhe abschließt. Die so verharrende Einstellung bietet den filmischen Raum klar gestaffelt dar: Den Vordergrund bilden das angeschnittene Esszimmer und der angeschnittene Tisch, an dem die Mutter mit Mr. Thatcher rechts im Bild zur Vertragsunterzeichnung sitzt. Im Mittelgrund steht links im Bild am Seitenrahmen des breiten Zimmerdurchgangs der protestierende und Einwände vorbringende Vater, während im Hintergrund das Wohnzimmer mit dem Fenster in der Wand zu sehen ist, das weiter eine Durchsicht auf die winterliche Szene des draußen im Schnee herumtollenden Jungen gewährt. Obwohl das Fenster halboffen ist, lässt sich visuell keine Differenz zwischen der unteren glaslosen und der oberen doppelglasigen Fläche ausmachen. Im Fortgang der Filmszene wird gegen Ende hin das Fenster vom Vater geschlossen, um von der Mutter sogleich wieder geöffnet zu werden, wobei im Vorgang des Hochschiebens des unteren Fensterteils ein Positionswechsel der Kamera erfolgt, um durch den wieder offenen Teil des Fensters nun einen äußeren Blick nach innen und auf das verschlossene Gesicht der am Fenster stehenden und nach draußen auf den Jungen schauenden Mutter zu zeigen. Die Kadrierung der Nahaufnahme ist so gewählt, dass vom oberen Bildrand ein Stück des Fensterahmens ins Bildfeld hineinragt, um die Blicke in beide Richtungen – von außen nach innen wie von innen nach außen – zu akzentuieren. Auf der Tonebene ist kontinuierlich die Stimme des Kindes zu hören, sofern das Fenster offen steht, während bei geschlossenem Fenster kein Geräusch von draußen in die Räumlichkeit dringt. In der gesamten Szene wird also die spezifische Struktur des Fensters in Gänze ausgespielt: Mit ihm ist visuell
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nicht nur ein Gegensatz von Innen und Außen gegeben. Vielmehr wird mittels Verknüpfung und Entkopplung des Optischen und Akustischen gezeigt, dass das Innen und Außen durch das Fenster zugleich verbunden und getrennt ist – so findet sich in CITIZEN KANE das in der Szene Erzählte auch im Fenster wieder. Eine Glasscheibenszene funktioniert anders. Aus ihr verschwindet der Rahmen des Fensters, oder er tritt zumindest in den Hintergrund, während die Präsenz und Materialität, die materialen Eigenschaften des Glases in den Vordergrund rücken und sichtbar gemacht werden. Den Unterschied zum Fenster kann eine Szene aus dem Film WATCHMEN (USA/CA/GB 2009, R: Zack Snyder) veranschaulichen, in der die Figuren Laurie Jupiter und Daniel Dreiberg – alias Silk Spectre II und Nite Owl II – sich vor der Beerdigung des Superhelden The Comedian in einem New Yorker Restaurant treffen. Eine Außenaufnahme zeigt die Fassade der Lokalität, die aus drei gleich großen, breiten und wandhohen Glasscheiben besteht, vor der Fußgänger mit aufgespannten Regenschirmen vorbeilaufen und hinter deren mittleren sich das Paar an einem Tisch zugeneigt gegenübersitzt. Es ist ein regnerischer Abend, so dass die Glasscheiben über die gesamte Fläche mit Regentropfen und Regenschleiern übersät sind. Dem establishing shot folgt das Tischgespräch, das von Nah- zu Großaufnahmen wechselnd im Schuss-Gegenschuss-Verfahren präsentiert wird. Hierfür wird die Kamera aber nicht in den Innenraum des Restaurants verlegt. Stattdessen verweilt sie draußen und filmt den Dialog durch die Scheibe mit engem Schärfefeld, so dass sowohl die besetzten Tische im Hintergrund als auch die Tropfen und herunterlaufenden Wasserschlieren auf der Glasfläche im Vordergrund unscharf erscheinen. Die verschwommenen dispersiven Regenschleier auf der Glasscheibe vermischen sich zudem mit den schemenhaften Spiegelungen von Passanten und Autolichtern des vorbeifahrenden Straßenverkehrs. Statt auf reflexionsfreie Transparenz zielt die Szene also vielmehr auf visuelle Diffusion. Die Glasscheibe dient dazu, Einstellungen zu präsentieren, in denen sich erstens die klare Durchsicht wie gegenständliche Bestimmtheit mit der Abstraktion sowohl konturloser als auch fließender Licht- und Farbflecken sowie gebrochener Lichtund Farbwerte mischen und sich zweitens durch Reflexion zwei Bewegtbilder überlagern, wobei die Überlagerung in zwei Großaufnahmen von Dreiberg durch sein reflektierendes Brillenglas, in dem sich das Lichtbild des Tisches spiegelt, noch zusätzlich potenziert wird. Während die Fensterszene vorwiegend der Transparenz und einer geometrischen Optik unterworfen wird, geht es in der filmischen Glasscheibenszene vorzugsweise um eine abgestufte Störung der Durchsichtigkeit und eine physikalisch-dynamische Gestaltung des Bildfeldes zur Konstruktion einer Melange aus
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verschiedenen Zonen, Schichten und Intensitäten des Visuellen. 15 Dies ist zugleich mit einer Verschiebung im Konzept des Fensters, des Verhältnisses der vier Elemente verbunden. Auch die Glasscheibenszene kennt ein Innen und ein Außen, eine Verkettung und eine Unterbrechung. Dies verdeutlicht bereits der establishing shot des WATCHMEN-Beispiels. Mit Einsatz des Dialogs und dem damit einhergehenden Wegfall der Fensterrahmung findet aber eine für die Glasscheibe wichtige Akzentverschiebung statt: Das Innen und das Außen verwandeln sich in ein Davor und ein Dahinter. Auch wenn in der Restaurantszene dadurch die Verkettung gesteigert wird, muss dies nicht immer der Fall sein, wie die Eröffnungsszene von LE PASSÉ (FR/IT 2013, R: Asghar Farhadi) verdeutlichen kann, in der Marie ihren Mann Ahmad, der seit vier Jahren von ihr getrennt in Teheran lebt, vom Flughafen abholt, um mit ihm zusammen am nächsten Tag den Scheidungstermin wahrzunehmen. Die Folge von Einstellungen zeigt die Wartende und den Ankommenden – zunächst einzeln und dann in der üblichen Schuss-Gegenschuss-Technik zusammen – stets durch und damit hinter großflächigen Glasscheiben, auf denen die architektonisch-funktionalen Gegebenheiten sich unscharf spiegeln und reflektierende Lichtflecken die Durchsicht stellenweise verunklaren. Auch hier dominieren vor dem Innen und dem Außen das Davor und das Dahinter und entfalten sich gleichermaßen Verbindendes und Unterbrechendes: zum einen wechselseitig sich erkennende Blicke, nonverbales Grüßen und Willkommen-Heißen, zum anderen schalldichte Glasscheiben, die keinen Ton und kein Wort durchdringen lassen, sodass im Zusammenspiel mit den leicht zögerlichen, von Unsicherheit bestimmten Gesten der fern voneinander lebenden und zu ihrer Scheidung zusammenkommenden Figuren ihr Getrenntsein unterstrichen wird.
D IE G LASSCHEIBE ALS KINEM ATOGRAFISCHES O BJEKT Vor der Analyse der filmischen Glas-Milieus soll die Glasscheibe zunächst im Kontext des Produktionsdispositivs der Filmaufzeichnung als Objekt des Setund Produktionsdesigns betrachtet werden. An einem Filmset gibt es im Bezug auf die Aufnahme und das zu produzierende Filmbild grundsätzlich zwei Typen von Glasscheiben, die für die Inszenierung operativ eingesetzt werden: die
15 Vgl. zur geometrischen oder physikalisch-dynamischen Konstruktion des Bildfeldes Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I, aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 28-30.
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sichtbaren Scheiben im vorfilmischen Raum, die sich an einem Drehort befinden oder in einem Studioset aufgestellt werden, und die nicht-sichtbaren Scheiben als Elemente der Technik im apparativen Feld, die aufgrund der Durchsichtigkeit des Glases aber nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Sichtfeldes der Kamera direkt vor dem Aufnahmeapparat positioniert sein können. Zum Spektrum der Ersten gehören unter anderem die Verglasung von Fenstern und Schaufenstern, Glas- und Spiegelfassaden, teilverglaste oder Ganzglastüren, Glastrennwände oder Glasparavents, Glastische, Vitrinen, Glasdeckplatten von Bilderrahmen, Spiegelglasplatten, Glasscheiben von Bildschirmen, Deckgläser von Displays, Uhrenglas, Brillengläser, Lupen und Autoglasscheiben, während die Zweiten beispielsweise Glasfilter und Schutzglas als Vorsatz für Kameras und Scheinwerfer, in Teilen bemalte Glasscheiben bei Glasaufnahmen, 16 halbdurchsichtige Spiegel für Auf- beziehungsweise Frontprojektionen, 17 in Teilen verspiegelte Scheiben zur Einspiegelung von Modellen in die optische Achse der Kamera,18 Deck- beziehungsweise Substratgläser von tragbaren oder StandKontrollmonitoren und die in Kameraobjektiven zu optischen Systemen kombinierten Linsen umfassen. Letztere wären aufgrund dessen, dass sie auf einer Seite oder auf beiden eine konkave oder konvexe Oberfläche aufweisen, eher zu den Glaskörpern zu zählen. Da bei Dreharbeiten das Gebot des komplett sauberen, vollständig transparenten Objektivs inzwischen aber keineswegs mehr durchgängig eingehalten wird und stattdessen in einigen Filmen Staub, Dreck, Beschlag oder Blut auf der Frontlinse als kalkulierte Attraktion in die ästhetische Bildgestaltung einzelner Einstellungen Eingang findet, können die Objektivlinsen durchaus den in der Regel nicht sichtbaren Glasscheiben mit zugerechnet werden. Betrachtet man eine solche Einstellung, wie sie beispielsweise in CHILDREN OF MEN (USA/GB 2006, R: Alfonso Cuarón) in einer Plansequenz mit Blutspritzern innerhalb einer Bürgerkriegsszene gegen Ende des Films dargeboten wird, zeigt sich, dass die teils opaken, teils transluzenten Flecken auf dem hochtransparenten Glas nicht nur autoreflexiv die Präsenz der bildgebenden Kameratechnik indexieren,
16 Bei Glasaufnahmen werden bei der Aufnahme reale Landschaften in Kombination mit Malerei auf einer Glasscheibe gefilmt, um störende Elemente der Landschaft zu verdecken. Vgl. Brandlmeier, Thomas: Kameraautoren. Technik und Ästhetik, Marburg: Schüren 2008, S. 481; Dummler, Juliane: Das montierte Bild. Digitales Compositing für Film und Fernsehen, Konstanz: UVK 2010, S. 55. 17 Vgl. T. Brandlmeier: Kameraautoren, S. 480; J. Dummler: Das montierte Bild (Anm. 16), S. 58-59. 18 Vgl. T. Brandlmeier: Kameraautoren, S. 493.
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sondern zugleich den visuellen Eindruck erzeugen oder erhöhen, dass das Geschehen, auf das die Zuschauer schauen, sich hinter einer planen Glasscheibe abspiele.19 Die gezielte Verschmutzung der Frontlinse rechtfertigt es auch, das Bildschirmglas der Kontrollmonitore, wie oben geschehen, aufzuführen, da die Spritzer und Flecken ohne Videoausspiegelung und simultane Kontrolle des Filmbildes beim Drehen nicht derart effizient ausgeführt werden könnten. 20 Sowohl beim Finden von Drehorten als auch beim Aufstellen und Ausstatten von Szenenbildern wird materialkundig und fantasiebezogen, stofflich und bildnerisch-kinematografisch auf die Anforderungen und Eignung der sichtbaren Glasscheiben geachtet. Bezüglich ihrer inszenatorischen Tauglichkeit und Leistungsfähigkeit steht dem Produktionsdesign eine Palette verschiedenartiger Gläser als Bau- und Gestaltungselemente zur Verfügung. Die Wahl kann auf industriell oder handwerklich produziertes Flachglas fallen. Letzteres ist im Unterschied zu industriell gefertigtem durch den Einschluss von Blasen und durch deutlich sichtbare örtliche und wellenartige Verwerfungen gekennzeichnet. Aus der geringeren Planität und der Inhomogenität der Glasoberfläche resultiert eine optische Beeinträchtigung der klaren Durchsicht, die im Handel schlicht als Mangel, im Film dagegen als Möglichkeit gilt, entweder ein Indiz für das zeitliche Setting zu setzen oder die visuelle Bildgestaltung temporär verfremdend zu variieren. Für die Nachbildung des Oval Office, die für den Film DAVE (USA 1993, R: Ivan Reitman) gebaut und dann im Weiteren sowohl für den Film THE AMERICAN PRESIDENT (USA 1995, R: Rob Reiner) als auch die Fernsehserie THE WEST WING (USA 1999-2006, R: Aaron Sorkin) verwendet wurde,21 setzten die Szenenbildner in die Sprossenfenster und verglaste Sprossentür, die das Büro des Präsidenten mit der West-Kolonnade und dem Rosengarten verbinden,
19 Vgl. Krautkrämer, Florian: »Linsenschmutz: Lens Flares in Film und Game«, in: CARGO Film/Medien/Kultur 19 (2013), S. 32-39, hier S. 34. 20 Vielleicht mündet hier die rekonstruktiv angelegte Beschreibung der Filmaufnahme in eine allzu spekulative Erzählung, die aber gewiss nicht auf die Beherrschung des Zufalls zielt, da sich die Effizienz lediglich auf den Abbruch und die Wiederholung des Filmtakes bei unerwünschtem Resultat reduzieren würde. Der Film selbst enthält Hinweise auf die mögliche postproduktionelle VFX-Erzeugung der Blutflecken, da diese im weiteren Verlauf der Plansequenz an einer Stelle verschwinden, in der die Sichtbarkeit des Bildes durch Rauchschwaden stark eingetrübt ist. Die Stelle verschweißt zumindest zwei getrennt voneinander aufgenommene Plansequenzen und markiert dies durch das Da und Fort der opaken und transluzenten roten Flecken. 21 Bei den Filmen werden die Regisseurinnen und Regisseure angegeben, bei den Fernsehserien die creator bzw. showrunner.
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manuell hergestellte Glasscheiben mit wellenartiger Unebenheit und entsprechender optischer Störung der klaren Durchsicht ein, die das hinter dem Glas Befindliche etwas verschwommen und stellenweise leicht verzerrt erscheinen lässt. In der Serie THE WEST WING erfüllen die Präsenz der speziellen Verglasung im Hintergrund einer Szene und der Kamerablick durch die Glasscheiben in das Innere des präsidialen Amtszimmers mehrere Funktionen. Erstens wird der Authentizitätseffekt der Oval Office-Replik erhöht. Zweitens wird in Korrelation zur wiederkehrenden pathetischen diskursiven Tonart der Serie ihr zentraler diegetischer Schauplatz der Beratung und Entscheidungen als ein geschichtsträchtiger Ort signifiziert. Drittens bietet die spezielle Verglasung den für die Serie stilbestimmenden talk-and-walk steadicam shots visuell eine zusätzliche Abwechslung und für die dynamischen, Raum durchgleitenden Kamerabewegungen einen prägnanten Endpunkt, der dazu geeignet ist, zu klassischen SchussGegenschuss-Einstellungen oder zu einer anderen Szene zu wechseln. 22 Viertens gibt es schließlich kurze Szenen und einzelne Einstellungen, in denen der äußere Blick nach innen durch eines der Sprossenfenster oder die verglaste Tür bestimmend ist und dazu dient, das Gezeigte durch die speziellen Glasscheiben semantisch und affektiv aufzuladen: Die 21. Folge der zweiten Staffel, mit dem Titel »18th and Potomac«, endet damit, dass der Stabschef des Weißen Hauses, Leo McGarry, dem Präsidenten die gerade erhaltene Nachricht vom Unfalltod seiner langjährigen Sekretärin, Mrs. Landingham, überbringt. Im Schuss-GegenschussVerfahren sieht man durch die Glasscheiben hindurch zunächst den in Arbeit vertieften Präsidenten, Jed Bartlet, im Oval Office und dann McGarry, wie er draußen vor der Tür kurz innehält, um dann langsam seinen Gang in das Amtszimmer des Präsidenten fortzusetzen. Die Schlusseinstellung zeigt von außen und hinter den Glasscheiben, wie die beiden Männer im Oval Office beisammenstehen, wobei sich die Kamera sachte den Scheiben nähert, ohne dass ein Wort des Mitgeteilten nach außen dringt. Die leichte, wellenartige Verschwommenheit und punktuelle Verzerrung der Durchsicht bringt sowohl die soziale Situation als auch innere Befindlichkeit visuell auf den Punkt: Zwei Staatsmänner, die Fasson wahren müssen, sind mit einer fassungslos machenden Nachricht konfrontiert. Zudem wird die Tragik unterstrichen, da die durch die
22 Vgl. hierzu beispielsweise die 20. Episode »Mandatory Minimus« der ersten Staffel von THE WEST WING. Zur Steadicam in THE WEST WING vgl. Smith, Greg M.: »The Left Takes Back the Flag. The Steadicam, the Snippet, and the Song in The West Wing’s ›In Excelsis Deo‹«, in: The West Wing. The American Presidency as Television Drama, Peter C. Rollins und John E. O’Connor (Hg.), Syracuse, New York: Syracuse University Press 2003, S. 125-135.
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Glasscheiben bedingte visuelle Destabilisierung des Figürlichen durch den narrativ-situativen Kontext mit einem von Tränen getränkten Blick assoziiert werden kann. Die Vielzahl an Gläsern erlaubt zudem Optionen für farbloses oder gefärbtes Glas, für Klarsicht- oder Schutzsichtglas, für lichtdurchlässiges oder lichtabsorbierendes sowie für beschichtetes oder unbeschichtetes Scheibenglas. Wie facettenreich das Sortiment an Farbgläsern ist, bezeugt zum Beispiel der Film HER (USA 2013, R: Spike Jonze) durch den pastellfarbenen Buntglaseinsatz in der Ausstattung seines »Beautiful Handwritten Letters«-Großraumbüros. Unter den Schutzsicht- und Schmuckgläsern besteht ebenfalls eine breite Auswahl, die unter anderem Ornamentglas mit verschiedensten Mustern, Milch- oder Trübglas, geriffeltes oder gerilltes, ganz oder teilweise mattiertes oder satiniertes Glas umfasst. Der Film NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG (IR 2011) des Regisseurs Asghar Farhadi, der gelernter Szenenbildner ist und die Kulissen für seine Filme selbst mit entwirft, 23 hat als einen Hauptschauplatz eine fensterreiche, lichtdurchflutete Wohnung, die teils um einen Lichtschacht herumgebaut ist. Dies ermöglicht den Figuren und der Kamera Blicke durch zwei Fenster oder Glasscheiben hindurch von einem Zimmer in ein anderes. Die Wohnung ist vom Treppenhaus durch eine breite, hohe, holzgerahmte und vollverglaste Wand mit Eingangstür abgetrennt. In einer Szene, in der die Pflegerin des kranken Vaters in Begleitung ihrer kleinen Tochter die Wohnungstür aufschließt, wird mit der reduzierten Blickdurchlässigkeit des gerillten Sichtschutzglases gespielt. Die entsprechende Einstellung zeigt von innen einen Teil der verglasten Tür und ein Stück der Glaswand. Hinter der Glastürscheibe sind die mit dem Schlüssel hantierenden Hände der in einen Tschador gekleideten Pflegerin äußerst verschwommen zu sehen, während sich hinter der Glaswand das Gesicht der Tochter deutlich abzeichnet, da sie ihre Nase an dem Glas platt drückt. Ebenfalls ist die Mehrzahl der Zimmertüren entweder mit Klarglas- oder verschieden Ornamentglasscheiben versehen, sodass die Figuren in einem filmischen Handlungsraum verschiedener Sichtbarkeiten agieren. Deren Extrempole bilden zum einen die bildfüllende satinierte Glasscheibe mit schemenhaften Bewegungen dahinter, zum anderen die mehr als ein oder zwei Zimmer erfassende Durchsicht, wobei der Inszenierung insbesondere diese beiden Pole zur Verschleierung von Handlungsdetails dienen. Die Frage der Beschichtung von Glasscheiben ist für die filmische Inszenierung vor allem in zweierlei Hinsicht von Relevanz. Erstens wird durch diese der
23 Vgl. das LE PASSÉ-DVD-Bonusmaterial MAKING OF LE PASSÉ (FR/IT 2013).
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Grad der Lichtreflexion manipulierbar.24 Entspiegeltes Glas kann die filmtechnische Umsetzung einer Aufnahme erleichtern, da in der Regel bei jeder Einstellung oder geplanten Kamerabewegung geprüft werden muss, ob sich die zu verbergende Technik, der Kameraoperateur und die Filmcrew im Bild gespiegelt finden und zur Vermeidung ihrer bildinternen Präsenz die Beleuchtung verstellt, die Position oder Bewegung der Kamera geändert oder ein Polarisationsfilter verwendet werden muss.25 Zur Realisierung eines Spiegelungen hervorhebenden Filmlooks oder zur Konstruktion einer bestimmten Szene, deren Blickhandlung auf ein Spiegelbild im Glas zielt, kann statt der Minderung wiederum umgekehrt gerade die Erhöhung der Reflexionseigenschaft erwünscht sein. So erzählt Victor Hammer, der director of photography der Serie NCIS: LOS ANGELES (USA 2009-2016, R: Donald P. Bellisario), zur Instruktion der location scouts: »Before we started shooting the show (three years ago), I talked to the location team about my needs in terms of the visual: windows, natural light sources, a little bit of space to work in and reflective surfaces. So when Tony sees a mirror or a lot of windows at a location, he’s going to say, ›That’s the kind of location Victor would like.‹«26
Zweitens erlauben hydrophobe und hydrophile Beschichtungen eine Beeinflussung des Oberflächenverhaltens bezüglich Wasser,27 sodass für Fenster- und Glasscheibenszenen mit Regen unterschiedliche visuelle Effekte der Transparenzbeeinträchtigung erzeugt werden können, da in Kopplung mit der durch Regensprinkler gewählten Wassermenge und regulierten Regenstärke optional auf Tröpfchen bildendes und abperlendes Wasser, auf einen dünnen, breitflächig abfließenden Wasserfilm oder vereinzelt und nebeneinander hinunterrinnende Wasserschlieren gesetzt werden kann. Ein weiteres Auswahlkriterium stellt die Festigkeit dar. Bei spektakulären Actionszenarien, wie den Explosionen, Materialschlachten und Destruktionsschauspielen von Blockbuster-Filmen, wird für den visuellen Schauwert
24 Vgl. Schaeffer, Helmut A./Langfeld, Roland: Werkstoff Glas. Alter Werkstoff mit großer Zukunft, Berlin, Heidelberg: Springer 2014, S. 81-82. 25 Vgl. Biebeler, Ralf: Arbeiten mit Bild und Ton. Ein Leitfaden für Auszubildende Mediengestalter Bild/Ton, Berlin: Fachverlag Schiele und Schön 2011, S. 65. 26 Tiffen, Ira: »Tips On Location Scouting. Location professionals and cinematographers illuminate the importance of choosing good locations«, in: American Cinematographer. The International Journal of Motion Imaging, 9 (September 2011), S. 68-77, hier S. 71. 27 Vgl. H. A. Schaeffner/R. Langfeld: Werkstoff Glas, S. 85-86.
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zerberstender und zersplitternder Glasscheiben wirksam auf geminderte Gebrauchsfestigkeit geachtet, während bei Stuntszenen, in denen durch großflächige Glasscheiben gesprungen, gestürzt und geflogen wird, festigkeitsgesteigertes Sicherheitsglas zum Einsatz kommt. Letzteres erweist sich hierfür als besonders tauglich, weil zum einen beim Bruch keine Splitter, sondern Glaskrümel mit stumpfen Kanten entstehen, die das Risiko der Schnittverletzung erheblich minimieren.28 Zum anderen garantiert die gesteigerte Druckspannung, aus der die erhöhte Festigkeit resultiert, dass die Glasscheibe vor dem Aufprall des Körpers ferngesteuert leicht zum Zerspringen gebracht werden kann, wobei die visuelle Asynchronität von explosionsartiger Zerstörung des Glases und Aufprall durch den Ton und entsprechenden Geräuscheinsatz aufgehoben wird. Die Palette an Möglichkeiten wird schließlich auch durch Glasersatz erweitert. Einerseits kann die Wahl auf Acrylglas fallen, das preiswerter, leichter, lichtdurchlässiger und einfacher zu bearbeiten ist als herkömmliches Glas. Die an den Decken des lichthellen »Beautiful Handwritten Letters«-Großraumbüros des Films HER hängenden farbigen Glasflächen sowie die pastellfarbenen, transparenten Schreibtischtrennwände sind gewiss aufgrund des geringeren Gewichts und der höheren Transmission aus Plexiglas. Andererseits steht der Film- und Fernsehproduktion speziell gefertigtes Effektglas zur Verfügung. Das sogenannte Zucker-, Film-, Bruch- oder Crashglas ist äußerst spröde, sehr dünn, leicht zerbrechlich und weist beim Zersplittern keine scharfen Schnittkanten auf, obwohl es keine Glaskrümel, sondern Splitter bildet. Durch die faktische Minimierung der Verletzungsgefahr ermöglicht das Bruchglas die Inszenierung physisch drastischer Filmaufnahmen, die auf die Zurschaustellung der Verletzlichkeit und Verwundbarkeit des Körpers und die somatische Affizierung der Zuschauer zielen. In der zehnten Episode »Noël« der zweiten Staffel von THE WEST WING bildet ein Handlungsstrang die in einer langen Sitzung stattfindende Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung von Josh Lyman, dem stellvertretenden Stabschef, der bei einem Attentat auf den Präsidenten zu Anfang der Staffel lebensgefährlich verletzt wurde. Der Höhe- und Wendepunkt der Therapiesitzung und Episode ist die in Rückblende dargestellte Eskalation der posttraumatischen Stressreaktion, in der Lyman autoaggressiv mit der flachen Innenhand eine Fensterglasscheibe durchschlägt und sich dabei eine Schnittverletzung zufügt. Ein besonders eindrückliches Filmbeispiel stellt auch das Ende der Verfolgungsjagd zwischen Rick Deckard und dem Replikanten Zhora in BLADE RUNNER (USA/HK/GB 1982, R: Ridley Scott) dar. Diese endet in einer Schaufensterpassage, deren Beleuchtung von farbigen Neonröhren dominiert wird, die sich in
28 Vgl. ebd., S. 90.
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den vielen, fast bodentiefen und deckenhohen Durchsichtfenstern mehrfach spiegeln. Das durch die Glasscheibenstaffelung und die Reflexionen erzeugte Diffuse der Bilder wird noch dadurch gesteigert, dass in zwei der Glasschaukästen, die in verschiedenen Einstellungen den Vordergrund ausfüllen, zur thematischen Auslagengestaltung zum einen unzählige schillernde Seifenblasen, zum anderen dichtes Schneegestöber gehören. Die in Zeitlupe gefilmte Fluchtbewegung des weiblichen Replikanten, der nur mit Stiefeln, schwarzer Unterwäsche und einem transparenten Plastikregenmantel bekleidet ist, folgt nicht dem Durchgang, sondern geht in der Passage geradewegs durch die großflächigen, zu Stücken zerspringenden und zerklirrenden Glasscheiben hindurch. Während Zhora die ersten drei Scheiben energisch durchspringt, stürzt und fällt sie schließlich, zweifach von Deckards Kugeln getroffen, mit innenseitig blutüberströmtem Regencape durch zwei weitere Schaufensterscheiben und in einem Scherbenhagel zu Boden, auf dem sie reg- und leblos liegen bleibt. Unabhängig davon, welche Eigenschaften die Glasscheibe aufweist, ist sie als Bauelement der Architektur und des filmischen Produktionsdesigns kein bloß materiales Objekt. Ihrer grundsätzlichen Transparenz wegen ist sie zuallererst ein operatives Element, das den architektonischen und den filmischen Raum als solches modelliert.29 Die Glasscheiben sind, ob als Teil des Fensters oder Material der Tür und damit als Teil oder Material der Öffnung der Wand oder eben als Wandersatz in Form von bodentiefen und deckenhohen Fensterfronten und großzügigen Glasfassaden, stets in das Beleuchtungssystem implementiert. Sie organisieren die basalen Sichtverhältnisse des vorfilmischen Raums, bestimmen für den Bildraum die Optionen der Lichtsetzung und beeinflussen durch ihre Lichtfelder und Schattenzonen die zusätzliche Ausleuchtung. Ihre lichtgebende beziehungsweise lichtversorgende und bildsetzende Funktion tritt deutlich im Bild hervor, sobald die Glasscheiben mit Außen- oder Innenjalousien verhängt sind, wodurch ihre Innenraumlichtfelder »in ein Nebeneinander von Licht- und Schattenstreifen umgeformt«30 werden und sich die handelnden Figuren im
29 Vgl. Schäffner, Wolfgang: »Elemente architektonischer Medien«, in: ZMK – Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, H. 1 (2010), Schwerpunkt Kulturtechnik, S. 137-149, hier S. 139. 30 Engell, Lorenz: »Die Jalousie. Ein Muster der Lichtführung und Aufklärung«, in: Ders., Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2000, S. 325-340, hier S. 326.
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Hell-Dunkel-Muster des Jalousienlichts bewegen, »in das sie gesetzt werden und das zur Bedingung ihres Erscheinens und ihrer Sichtbarkeit wird.«31
D IE G LASSCHEIBE ALS KINEM ATOGRAFISCHES D ING Die Glasscheibe wurde in den obigen Ausführungen bisher vorzugsweise als Objekt und Element des Produktionsdispositivs der Filmaufzeichnung betrachtet. Entsprechend wurde sie als ein materialer, sinnlich-konkreter, funktionaler, instrumenteller, sinnhafter und operativer Gegenstand thematisiert, der sowohl dem Produktionsdesign zur Gestaltung des Sets als auch der Produktionstechnik zur Inszenierung des diegetischen Handlungsraums zahlreiche Optionen eröffnet und bestimmte Operationen nahelegt und erlaubt. Der Fokus lag bisher also vornehmlich auf den Leistungen und der Mitarbeit von Glasscheiben im Produktionsgefüge der Filmaufnahme. Die Glasscheibe ist jedoch kein rein transparentes Objekt, durch das man einfach hindurchsieht und über das man gleichsam hinwegsieht, weil es aufgrund seiner Glasigkeit unauffällig bleibt. 32 Gewiss werden Drehorte mit Fenstern und Glasfassaden gesucht und im Studio verglaste Fenster, Türen und Wände aufgestellt, weil die Glasscheiben wirksam werden und generativ sind, da sie aufgrund ihrer Transmissivität Durchlässigkeit für Licht und Durchsichten für Blicke ermöglichen, sodass durch sie im kadrierten und komponierten Bild eine spezifische Sichtbarkeit entsteht. Jede sichtbare Glasscheibe ist innerhalb des filmischen Produktionsdispositivs aber darüber hinaus immer auch ein Ding, ein Objekt, das sich in seiner Dinglichkeit der Dienstbarkeit entgegenstellt, sich also in filmproduktioneller Hinsicht als widerständig, aufsässig und tückisch erweist. Die Unterscheidung von Objekt und Ding verdeutlicht Bill Brown anhand von Glasscheiben. Ausgangspunkt ist eine literarische Fensterszene, die auf den ersten beiden Seiten den Auftakt des Romans The Biographer’s Tale von Antonia Susan Byatt bildet. In der Szene entscheidet ein Doktorand der Literaturwissenschaft, während er in einem Seminarraum sitzt und sein Blick auf einem verschmutzten Fenster oberhalb des Kopfs des Dozenten weilt, der Lacans These
31 Wendler, André und Engell, Lorenz: »Medienwissenschaft der Motive«, in: zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaft, 1 (2009), S. 38-49, hier S. 39. 32 Vgl. Alloa, Emmanuel: »Metaxy oder: warum es keine immateriellen Medien gibt«, in: Koch, Gertrud/Maar, Kirsten/McGovern, Fiona (Hg.), Imaginäre Medialität / Immaterielle Medien, München: Wilhelm Fink 2012, S. 13-34, hier S. 17.
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vom reellen, zerstückelten Körper diskutiert, abrupt, sich von der Theorie abund den Dingen zuzuwenden: »We were discussing, not for the first time, Lacan’s theory of morcellement, the dismemberment of the imagined body. [...] It was a sunny day and the windows were very dirty. I was looking at the windows, and I thought, I’m not going to go on with this anymore. [...] I went on looking at the filthy window above his head, and I thought, I must have things. I know a dirty window is an ancient, well-worn trope for intellectual dissatisfaction and scholarly blindness. The thing is, that the thing was also there. A real, very dirty window, shutting out the sun. A thing.«33
Brown problematisiert die Entgegensetzung von Ding versus Theorie und unterläuft die damit verbundene Vorannahme und Sehnsucht, dass die konkreten, real greifbaren Dinge im Unterschied zur Theorie Stabilität böten und von der Unbeständigkeit, Ungewissheit, Ambiguität, Beunruhigung und Abstraktion der Theorie befreiten,34 – »taking the side of things hardly put a stop to that thing called theory«35. An den Auftakt anschließend erläutert er vergleichend, dass Objekte wie Fenster seien, durch die man hindurchsehe, während Dinge sehr schmutzigen Fenstern entsprächen, auf die man schaue, weil ihre schmutzigen Glasscheiben das Licht nicht hindurch ließen, sondern aussperrten. Objekte sind demgemäß Gegenstände, die funktional in Praxiszusammenhänge eingebunden sind, während Dinge Gegenstände sind, die in der Praxis die Instrumentalität versagen und die Aufmerksamkeit deshalb auf ihre Materialität beziehungsweise Dinglichkeit lenken: »In Byatt’s novel, the interruption of the habit of looking through windows as transparencies enables the protagonist to look at a window itself in its opacity. As they circulate through our lives, we look through objects (to see what they disclose about history, society, nature, or culture – above all, what they disclose about us), but we only catch a glimpse of things. We look through objects because there are codes by which our interpretive attention makes them meaningful, because there is a discourse of objectivity that allows us to use them as facts. A thing, in contrast, can hardly function as a window. We begin to confront the thingness of objects when they stop working for us: when the drill breaks, when the car stalls, when the window get filthy, when their flow within the circuits of
33 Vgl. Byatt, A.S.: The Biographer’s Tale, New York: Alfred A. Knopf 2000, S. 3-4. 34 Brown, Bill: »Thing Theory«, in: Bill Brown (Hg.), Things, Chicago, London: The University of Chicago Press 2004, S. 1-22, hier S. 1. 35 Ebd., S. 3.
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production and distribution, consumption and exhibition, has been arrested, however momentarily.«36
Im Kontext des filmischen Produktionsdispositivs ist es allerdings kaum der Schmutz, der die Glasscheibe zu einem widerständigen Ding macht. Die Sperrigkeit und Eigensinnigkeit ergibt sich vielmehr aus ihrer stofflichen Eigenschaft und dem damit verbundenen Effekt, dass die Lichtstrahlen beim Übergang vom Medium Luft ins optisch dichtere Medium Glas nicht nur brechen, sondern zu einem bestimmten Anteil stets auch reflektieren, 37 sodass bei Filmaufnahmen tunlichst darauf geachtet werden muss, dass der Aufnahmeapparat, der Kameramann und die Filmcrew in den Glasscheiben, die im Bild sichtbar sind, nicht als »schäbige[...] Gestalten«38 visuell präsentifiziert werden. Soweit ihre Spiegelbilder trotzdem aufscheinen, gilt es abzuwägen und zu entscheiden, ob ihre minderwertige Präsenz innerhalb der hochwertigen optischen Informationsdichte des Bildfeldes die Merkzeit zu unterlaufen vermag oder die Einstellung dem Schnitt und dem Abfall zugeführt werden muss. Film ist, mit Jean-François Lyotard gesprochen, zuallererst Kinematografie, das heißt »Einschreibung, Aufzeichnung von Bewegung«39. Dabei verhält sich die bildgebende Aufnahmetechnik gleichgültig gegenüber der Bewegung: Sie zeichnet alle möglichen Bewegungen, die letztlich immer Bewegungen des Lichts sind, schlicht und einfach auf. Entsprechend sind der Spielfilm und das Serienfernsehen als Instanzen des Imaginären und als optische Illusion eine Kunst der Bewegungseliminierung: »Das Erlernen des kinematographischen Handwerks läuft darauf hinaus, bei der Produktion des Films eine beträchtliche Anzahl solcher möglichen Bewegungen eliminieren zu können. Der Aufbau des Bildes, der Sequenz und des Films muß anscheinend mit jenen Ausschließungen bezahlt werden [...] Wenn man überhaupt keine Bewegung auswählt oder aussondert, akzeptiert man das Zufällige, das Unsaubere, das Unscharfe, das Falsch-
36 Ebd., S. 4. 37 Vgl. H. A. Schaeffer/R. Langfeld: Werkstoff Glas, S. 62. 38 Kittler, Friedrich: »Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte«, in: Ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 81-104, hier S. 90. 39 Lyotard, Jean-François: »L’acinéma«, in: Ders., Essays zu einer affirmativen Ästhetik, aus dem Französischen übersetzt von Eberhard Kienle und Jutta Kranz, Berlin: Merve 1982, S. 25-43, hier S. 25.
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Zum filmischen Register des Realen, des Zufalls und der Unordnung zählen selbstverständlich auch alle unerwünschten »Spiegelreflexe«41, die es in der Inszenierung auszuschließen und auszulöschen gilt. Insofern sich mit jeder Glasscheibe der filmtechnische Aufwand an Ausschließungsprozeduren erhöht, würde sich eine Genealogie der Fenster- und Glasscheibenszenen in Film und Fernsehen durchaus lohnen. Zu den produktionstechnischen Taktiken, Listen, Tarnungen und Tricks, die gegen den Widerstand des Glases aufgewendet werden, wären dann unter anderem die glaslosen und die offenstehenden Fenster,42 die Ein- und Ausfallswinkel berücksichtigende Lichtsetzung, die Reflexionen vermeidende Lichtverteilung, die mit lichtabsorbierendem Molton bespannten Aufsteller, hinter denen die Kamera versteckt wird, die in schwarz gekleideten Filmcrews,43 die Polarisationsfilter und die digitale Bildbearbeitung in der Postproduktion zu rechnen.
G LAS -M ILIEU I: B OSTON L EGAL Der Hauptschauplatz der fünf Staffeln umfassenden Serie BOSTON LEGAL (USA 2004-2008, R: David E. Kelly) ist die renommierte Anwaltskanzlei »Crane, Poole & Schmidt«. Der Bostoner Bürokomplex, der in den Raleigh Manhattan Beach Filmstudios in Kalifornien errichtet wurde, besteht aus einem breiten Hauptkorridor mit mittig gelegenem Empfangsbereich sowie Fahrstuhltüren auf der einen und einem Treppenaufgang auf der anderen Seite. Parallel zum Hauptkorridor befinden sich links und rechts zwei etwas schmalere Gänge. Alle drei werden durch zwei quer verlaufende Flure miteinander verbunden. Der durch die Lauf- und Verbindungsgänge parzellierte Raum enthält vor allem die großräumigen Büros der verschiedenen Anwälte, zwei Konferenzräume und eine
40 Ebd. 41 Ebd., S. 32. 42 Vgl. Böttcher, Marius/Göttel, Dennis/Horstmann, Friederike/Müller, Jan Philip/ Pantenburg, Volker/Waack, Linda/Wuzella, Regina: »Vorwort«, in: Böttcher, Marius et al. (Hg.), Wörterbuch kinematografischer Dinge, Berlin: August Verlag 2014, S. 9-11, hier S. 9. 43 Vgl.
https://www.slashcam.de/info/Wie-kann-man-mit-der-Kamera-in-Umgebungen-
mit-Glas-filmen-ohne-si-733563.html vom 05.05.2016.
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Teeküche, die zugleich als Pausenbereich dient. Die repräsentativen Räumlichkeiten werden von Glasscheiben dominiert, um den Eindruck von Modernität zu vermitteln. Durch die zahlreichen Glaswände und -türen ergibt sich eine Bildlichkeit der mehrschichtigen Durchsicht: Den Vordergrund bildet ein Büro oder ein Konferenzraum; durch die verglaste Wand sieht man im Mittelgrund entweder ein kurzes Flurstück oder den lang gestreckten Korridor, an deren Enden sich wiederum eine verglaste Wand oder eine breite Glastür befindet, durch die man Einblick in einen weiteren Arbeitsraum mit großen Außenfenstern erhält, durch die man, als abschließenden Hintergrund, auf die Fassaden der umliegenden Hochhäuser sieht. Der mehrfach geschichteten, geometrischen Optik trägt zugleich das Grundkonzept der Ausleuchtung Rechnung, indem insbesondere die Gänge eine gerasterte Hell-Dunkel-Lichtführung aufweisen. Dieses Lichtmuster des Bildes ist von der Vorstellung motiviert, dass die Glasarchitektur dem Außenlicht eine uneingeschränkte Durchlässigkeit durch mehrere Räume gewährt. Laut dem director of photography, James Bagdonas, betont die weitmaschige Hell-Dunkel-Rasterung der Lichtsetzung zudem das Großstädtische des geografischen Settings, das in den einzelnen Episoden der Serie regelmäßig durch die Brückensegmente bildlich präsent gehalten wird, in denen markante Stadtansichten Bostons aneinander montiert werden: »I do, however, light it very much in mind that this is a city. Lots of times you’ll see somebody walk through and you’ll see this hot light streaming through the bottom for no reason. But the reason that is, is that’s like reflections off buildings. Peter designed these so that the outside windows would reflect through this window and come into the hallway. So you’ll know that that’s an outside light. So, what we’ll do is we’ll change the angle of the light as the day progresses.«44
Durch die Glasscheibenstaffelung am Set ergibt sich im Bild eine »Schachtelung der Bildfelder«45, die von der Inszenierung erfordert, dass die Bildfeldausschnitte des Mittel- und Hintergrunds bevölkert werden müssen, da die raumübergreifenden klaren Durchsichten ohne Statisten nun einmal öd, wüst und leer, oder noch schlimmer, wie Studiobauten oder gar wie die Bilder einer deutschen Filmund Fernsehproduktion wirken würden. Die Bevölkerung des hinter Glasscheiben liegenden Mittel- und Hintergrunds folgt dabei offenkundig derselben
44 THE LOOK OF BOSTON LEGAL (USA 2006). Die Marketing- und Promotion-Kurzdoku ist Teil der DVD-Edition der zweiten Staffel von BOSTON LEGAL und bietet produktionsorientierte Einblicke in die Bereiche Filmset, Bildgestaltung und Kostüm. 45 G. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 30.
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generativen Regel, die auch für die Performanz der Schauspieler zur komödiantischen Gestaltung ihrer Figuren bestimmend ist: Übertreibung und Exzessivität. Entsprechend entfaltet sich kontinuierlich – sowohl bei großer Schärfentiefe als auch bei engem Schärfenfeld – zwischen den Glasscheiben auf den Fluren wie dahinter in den Büros eine rege Betriebsamkeit, ein hektisches Kommen und Gehen, eine visuelle Beweglichkeit und Dynamik im Übermaß. Diesem Exzess an geordneter und vereinheitlichter räumlicher Bewegung steht gleichzeitig die Eliminierung störender perzeptiver Bewegungen gegenüber – und beide Mechanismen der Produktion, die Intensivierung und die Auslöschung von Bewegung, resultieren hier aus der Präsenz von Glasscheiben. Einen Einblick in das Produktionsdispositiv der Filmaufnahme und des Studios als Dispositiv der Elimination bietet das Featurette THE LOOK OF BOSTON LEGAL (USA 2006), das der DVD-Edition der zweiten BOSTON LEGAL-Staffel beigefügt ist.46 Im ersten Teil führt der Produktionsdesigner, Peter Politanoff, durch das Filmset, dessen Beleuchtung für den dokumentarischen Blick hinter die Kulissen bewusst noch nicht für anstehende Filmarbeiten eingerichtet ist, sodass augenfällig die Schwierigkeit vermittelt wird, in einem Glas-Milieu das Licht so zu setzen, dass die Beleuchtungstechnik dabei nicht sichtbar wird. Eindrücklich wird dies in einer Einstellung vor Augen geführt, in der in einer Ecke ein Scheinwerfer auf Stativ zu sehen ist und hinter einer Glaswand eine weitere Stativleuchte grell in die Kamera scheint. Während die beiden Konferenzräume mit großflächigen, raumhohen Glasscheiben ausgestattet sind, besteht die Verglasung der Büroräume in der Mehrzahl aus wandfüllenden Sprossenfenstern. Um beim Filmen Einschränkungen für die Optionen der Kamerapositionierung und -bewegung zu vermeiden, sind die Sprossenfensterwände höchst mobil und in sich beweglich. Zum einen können sie mittels Hebetechnik jederzeit in den Deckenbereich des Studios hochgehievt und aus dem Weg geräumt werden, zum anderen ist jede Glasscheibe in den Aluminiumsprossen als Wendefenster aufgehängt, sodass durch minimale Regulation des Ein- und Ausfallwinkels die Reflexion der Kamera oder der Beleuchtung im Glas verhindert werden kann. Letzteres führt Politanoff anschaulich an einer der Glastrennwände mit folgenden Worten vor: »I extensively used brushed aluminum and glass to reinforce the modernity of the show and the contemporary quality of it. With this much glass in this structure it does present a huge problem for the camera because it might end up picking up reflections of lights. One
46 Vgl. Fußnote 44.
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way of resolving that issue was that all of our glass is gimballed. In so doing, we basically eliminate any reflections that might present a problem.«47
Was ist nun die Pointe dieses Produktionssets im Hinblick auf den konstant gehaltenen diegetischen Handlungsraum der von David E. Kelly kreierten Serie BOSTON LEGAL? Der verglaste Bürokomplex dient offensichtlich nicht vorrangig dazu, ein offenes Milieu zu modellieren, in dem die Figuren permanent kontrollgesellschaftlichen Mechanismen unterstellt sind, denen sie gewitzt zu entgehen versuchen. Die Komik wird insofern nur selten aus Szenarien der Konkurrenz, Rivalität, Titelkämpfe und Ausleseverfahren gewonnen, ebenfalls speist sie sich nicht aus außen- und innengelenkten Motivierungsversuchen.48 Insbesondere anhand der beiden Hauptfiguren Alan Shore und Denny Crane wird eine unerwartete und immer wieder überraschende Subjektivierungsform vor Augen geführt. Da das Glas-Milieu keine Geheimnisse kennt und zulässt, verweigern sich die beiden Anwälte jeder Fassadensubjektivität. Ihre Abweichungen von der Normalität tragen sie mit der größten Selbstverständlichkeit zur Schau. BOSTON LEGAL ist nicht nur ein Fest der Rhetorik – vor allem in den Gerichtsszenen –, sondern auch ein karnevaleskes und zum Grotesken neigendes Fest des flexiblen Normalismus,49 da die beiden exzentrischen Hauptfiguren mit ihren Spleens, Macken, Obsessionen und Perversionen zwar die Normalitätsgrenzen permanent übertreten, dabei aber so agieren, als würden sie sich, im Unterschied zu den anderen Figuren, im Feld der Normalität bewegen. Das Glas-Milieu des Unternehmens dient als Beobachtungs-, Kontroll- und Vergleichsfeld durchaus dazu, eine an Durchschnitten ausgerichtete Verhaltensnormierung hervorzubringen – und die vielen Statistinnen und Statisten, die den Mittel- und Hintergrund bevölkern, können durchaus als die daraus resultierenden normalistischen Massenteilchen betrachtet werden. In der Glasarchitektur der Anwaltskanzlei wird aber vor allem eine am »expressiven Individualismus«50 orientierte Form des Widerstands ge-
47 THE LOOK OF BOSTON LEGAL (USA 2006). 48 Vgl. Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaft«, in: Ders., Unterhandlungen 1972-1990, aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262, hier S. 256-257. 49 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, hier S. 51-59. 50 Dörner, Andreas: Politische Kultur und Medienunterhaltung. Zur Inszenierung politischer Identitäten in der amerikanischen Film- und Fernsehwelt, Konstanz: UVK 2000, S. 120.
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gen solche Normalisierungsprozesse zelebriert. Die Traumwelt von BOSTON LEGAL ermöglicht es dabei, kalt und nüchtern festzustellen, dass diese Form der Subjektivierung ein Privileg der Reichen und Mächtigen ist – eine Einsicht, an der die von Glas und Stahl bestimmte Ausstattung einen nicht bescheidenen Anteil hat.
G LAS -M ILIEU II: T HE T ERMINAL Für das monumentale Set von THE TERMINAL (USA 2004, R: Steven Spielberg) erwiesen sich die kalifornischen Filmateliers allesamt als zu klein, weshalb die Produktion in einen ausgedienten Hangar in Palmdale nahe Los Angeles auswich, der unter anderem zum Bau von B2-Bombern sowie später zum Umbau von Jumbo-Jets diente.51 In der riesigen Halle, die bis zu sechs Großraumflugzeugen des Typs Boeing 747 Platz bot, ließ der Produktionsdesigner Alex McDowell einen kompletten Flughafenterminal errichten. Zum Konzept des Filmsets, dem eigentlichen Star des Films, führt Steven Spielberg – mit dem Marschbefehl ›Charakterrolle‹ am ›Menschen‹ festhaltend – im Making-of WAITING FOR THE FLIGHT: BUILDING THE TERMINAL (USA 2004) aus: »The only real marching order I gave to Alex was, ›The star of the movie is Viktor Navorski, it’s a character piece, but the stage that these characters are going to be acting out on has to be one of the most fantastic stages we’ve ever seen.‹ So the terminal, which is the name of the movie, can’t disappoint anybody. It has to look like a modern international terminal. So I gave Alex a lot of leeway. We did a lot of research. We looked at the terminal at Denver, at the terminal at Narita, in Japan, we looked at the terminal in Osaka, we looked at the terminal in Frankfurt. And they all bore a kind of slight resemblance to each other, and that is, a lot of natural light coming in, a lot of interesting architecture. The whole space looked almost retro. Like an old-fashioned airplane hangar from the 1920s, and yet it was done in a very modernist idiom.«52
›Modern‹ und ›modernistisch‹ bedeutet auch hier zuallererst, dass das Filmset und zwei seiner Hauptschauplätze, die Büros des United States Department of Homeland Security sowie der Einkaufs- und Dienstleistungsbereich der internationalen Transitzone, von Glas und Stahl maßgeblich bestimmt werden. Dass
51 Vgl. http://www.awn.com/vfxworld/terminal-diary vom 13.05.2016. 52 WAITING FOR THE FLIGHT: BULIDING THE TERMINAL (USA 2004). Das Bonusmaterial findet sich in der 2-Disc-Special-Edition des Films THE TERMINAL (USA 2004).
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zum Transitbereich moderner Flughäfen, wie zum Beispiel in Frankfurt am Main, auch knastartige Unterkünfte gehören, um Flüchtlinge ohne Ausweis oder mit ungültigen Papieren unterzubringen, kam den Machern des Films offenbar nicht in den Sinn und in den Blick. Weder zur Handlung noch zum sentimentalen Ton des Films hätte eine unmenschliche Internierungseinrichtung gepasst, die darauf zielt, das Asylverfahren einerseits für den bürokratischen Apparat kurz zu halten und für die Flüchtlinge andererseits zu erschweren. Schließlich handelt THE TERMINAL von einem Staatenlosen, der sich weigert, Asyl zu beantragen, und sich deshalb gezwungen sieht, für unabsehbare Zeit in der internationalen Transitzone des New Yorker JFK-Flughafens unter dem wachsamen Auge des Heimatschutzes auszuharren, wobei sowohl von den Schwierigkeiten, sich mit den »Realitäten des Transits«53 zu arrangieren, als auch den Taktiken, sich den Nicht-Ort als Heimstatt anzueignen, erzählt wird. So hätte das Motto des Films, insbesondere seiner pikaresken Episoden wegen, auch lauten können: »Der Schwache muß unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind.«54 Der Film überzeugt in erster Linie aufgrund seines kinematografischen und narrativen Umgangs mit der am Filmset errichteten Glasarchitektur. Die Inszenierung achtet durchweg darauf, dass das Glas der vielen sichtbaren Glasscheiben, egal ob klar, trüb, plan, geriffelt, gerillt, schmucklos, mattiert oder satiniert, stets völlig sauber, fleckenlos und von Spuren bereinigt ist, um visuell zu betonen, dass es sich um eine Örtlichkeit handelt, die unbewohnbar und als Behausung nicht aneigbar ist. »Das Eigene«, so gibt Michel Serres zu bedenken, »wird erlangt und bewahrt durch das Schmutzige. Besser: das Eigene ist das Schmutzige«55. Mit der Sauberkeit und Glattheit der Glasscheiben korrespondieren komische Szenen, in denen im glasreichen und lichten Warte-, Einkaufs- und Servicebereich des Flughafens der Boden frisch gereinigt und gewischt ist. Die nassen Flächen teilen zwei Eigenschaften des Glases, sie spiegeln das Licht sowie
53 Augé, Marc: Nicht-Orte, aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff, München 2010, S. 107. 54 Certeau, Michel de: Kunst des Handels, aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 23. 55 Serres, Michel: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen?, aus dem Französischen übersetzt von Alexandre Plank und Elisa Barth, Berlin: Merve 2009, S. 9. Mit dem sauberen, unbewohnbaren Glas-Milieu des Transits korreliert der Ort, der Navorski als Schlafstätte dient, handelt es sich doch um einen stillgelegten Terminaltrakt, der saniert wird und entsprechend schmutzig ist.
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die Bewegungen, und sie sind glatt, sodass eilige Reisende umgeben von Reinheit und Glanz unfreiwillig ausrutschen oder steif und ungelenk hinfallen. Abbildung 1: THE TERMINAL
Quelle: THE TERMINAL (USA 2004, R: Steven Spielberg)
Die Unbewohnbarkeit des Transit-Glas-Milieus bedeutet für die Hauptfigur, den staatenlosen Viktor Navorski, auch, dass es keine Privatheit und keine Geheimnisse geben kann. Er befindet sich unter Dauerbeobachtung durch die Abteilung des Heimatschutzministeriums, die ihn sowohl durch Glasscheiben hindurch als auch über die Videoüberwachungsanlage observiert. Im Kontrollraum befinden sich Monitore unter anderem links und rechts vor einer großflächigen Sprossenfensterwand, sodass in den Einstellungen eine Komposition vorherrscht, die sich durch eine mehrfach gerahmte Bild-im-Bild-Struktur auszeichnet, mittels derer die Differenz verdeutlicht wird zwischen dem tatsächlichen Fenster, das den Blick in die dahinterliegende Halle der Einwanderungsbehörde freigibt, und den virtuellen Fenstern der Überwachungsbildschirme, die verschiedene fernliegende Bereiche des Terminals und Teile des Flughafengeländes sowie Ausschnitte der Einreisehalle in Realzeit präsentieren. Der Unterschied wird weiter sowohl auf der Ebene der Figurenhandlung als auch auf der Ebene der visuellen Gestaltung betont. In der ersten Kontrollraumsequenz verschafft sich der Leiter der Zollund Grenzschutzabteilung, Frank Dixon, zunächst durch die großen Glasscheiben der Sprossenfensterwand einen Überblick über die vonstattengehende Einreisekontrolle und den Auflauf von Passagieren, die auf ihre Abfertigung warten. Dann geht er zu einem Kontrollmonitor, auf dem ein Abschnitt der Halle
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präsent ist, und zoomt über die Überwachungskamera eine ihm verdächtige Reisegruppe heran, um diese prüfend in Augenschein zu nehmen. Das panoptische Szenario führt vor Augen, dass der Monitor der optisch-elektronischen Überwachungsanlage nicht einfach ein weiteres Fenster, sondern ein anderer Modus der Transparenz beziehungsweise unverstellten Sichtbarkeit ist. Visuell wird darüber hinaus akzentuiert zwischen den verschiedenen sichtbaren Glasscheiben differenziert. In der zweiten Kontrollraum-Szene heben sich die Glasscheiben der Bildschirme und die Brille von Dixon durch starke Lichtreflexstreifen vom vollständig transparenten und reflexionsfreien Glas der Fensterwand markant ab. Augenfällig wird der differente Umgang mit den verschiedenen Glasflächen ebenfalls in den beiden ersten Büroszenen, in denen Navorski dem Führungspersonal der Heimatschutzabteilung gegenübersitzt. Dies gilt insbesondere für die Szene, die im Büro des Zoll- und Grenzschutzeinsatzleiters spielt, da hier nicht nur der Computerbildschirm und die Brille, sondern auch die Glasplatten der an den Wänden hängenden Bilderrahmen das durch die großflächigen Fenster einfallende Licht stark reflektieren. In den besprochenen Büro- und Kontrollraum-Szenen sitzen, stehen und agieren die Figuren vor großflächigen, klaren, reflexionsfreien und vollständig transparenten Glasscheiben. Dem stehen drei Szenen gegenüber, in denen Dixon entweder allein, in Begleitung seines Stellvertreters oder umringt von einer Gruppe uniformierter Mitarbeiter hinter Glasscheiben steht, um skeptisch die Aktivitäten des Staatenlosen zu beobachten. In allen drei Fällen bietet das Glas nun gerade keine klare Durchsicht, da es in den Einstellungen so in Szene gesetzt ist, dass es viele ausgeprägte Lichtreflexionen aufweist, wobei in zwei Fällen das Flachglas teilweise sogar mattiert ist. Während die Glasarchitektur des Terminals im Ganzen auf Durchsicht und Offenheit zielt, betont die Inszenierung durch das semitransparente Glas hier das Trennende der Scheiben, um die Figuren als Instanz des Grenzschutzes und den Transit nicht als Durchgang, sondern als Grenze zu markieren. In der Einstellung, die in Untersicht Dixon umringt von seinen uniformierten Mitarbeitern zeigt, stehen diese im zweiten Stock des Buchladens hinter der stark spiegelnden Glasfassade, auf der in großen Lettern überdies »Borders« prangt, sodass der Name des einstigen Buchhandlungsunternehmens als Subscriptio des kinematografischen Sinnbilds dient.56 Das Gegenbild wird in einer Szene aufgeboten, in der Navorski und die Stewardess Amelia Warren im Buchladen genau an der Stelle aufeinandertref-
56 Der Name Dixon evoziert die Mason-Dixon-Linie als unbestreitbare Grenze, die heute kartografisch die Trennlinie zwischen den US-Bundesstaaten Pennsylvania und Maryland darstellt.
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fen, wo zuvor Dixon mit seinen Mitarbeitern stand. Das zufällige erneute Zusammenkommen der beiden wird nicht in Untersicht gefilmt. Stattdessen gleitet die Kamera die Glasfassade entlang in die Höhe des zweiten Stocks. Die Glasscheiben sind diesmal völlig klar und transparent. Indem die Kamera auf das Paar zufährt, verschwinden selbst die Fugen zwischen den wandhohen Flachgläsern aus dem Bildfeld, sodass die Offenheit der Glasarchitektur sogar in den Eindruck der Glasscheibenlosigkeit mündet – all you need is love, die selbstverständlich grenzüberschreitend ist und das Trennende überwindet. Der Film zeichnet sich weiter durch eine ganze Reihe von Glasscheibenszenen aus. In einem der Transitläden mit bodentiefer und deckenhoher Frontverglasung verfehlt Navorski zum Beispiel beim Hinauseilen den Durchgang und prallt stattdessen gegen eine der transparenten Glasscheiben. Für eine Abendverabredung mit der Flugbegleiterin sucht der Protagonist nach einem passenden Anzug, dessen Auswahl durch eine virtuell-imaginäre Anprobe erfolgt, indem das auf der Oberfläche der Glasscheibe gespiegelte Bild Navorskis mit den hinter dem Schaufenster gezeigten Ausstellungsstücken dreimal akkurat zu einer stattlichen Gestalt verschmilzt. In einer anderen Szene versucht Navorski im Eingangsbereich einer Business- und First-Class-Lounge, in dem auf einem der Fernseher ein Breaking-News-Programm läuft, sich über die Bürgerkriegssituation in seinem Heimatland Krakozhia kundig zu machen. Da er keine Zugangsberechtigung hat, wird er der Lounge verwiesen. Während er vor dem Eingang verharrt und in Großaufnahme verzweifelt auf den Fernseher starrt, dessen Nachrichtensprecherin weiter aus dem Off mit Meldungen zum Militärputsch in Krakozhia und zur Destabilisierung des Landes zu hören ist, schließt sich vor ihm zweimal die automatische Schiebetür, die aus milchig-trübem Schutzsichtglas besteht, sodass er hinter der Glastür nur noch als Schemen sichtbar ist. Durch das sich vor ihm verschließende Trübglas wird angezeigt, dass ihn die Ereignisse zu einem ausgeschlossenen, gesichts- und identitätslosen Individuum machen, zu einem Individuum ohne Nationalität, Zugehörigkeit und Papiere. Die Auswirkungen der »Tyrannei des Nationalen«57 lassen sich also ganz einfach, mittels einer Glasscheibe, vor Augen führen. Eine letzte zu betrachtende Glasscheibenszene des Films entspricht dem weiter oben angeführten Beispiel aus WATCHMEN. Navorski erhält von Dixon die Gelegenheit, den Flughafenterminal zu verlassen und sein Glück als undokumentierter Einwanderer im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu suchen.
57 Noiriel, Gérard: Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa, aus dem Französischen übersetzt von Jutta Lossos und Rolf Johannes, Lüneburg: Dietrich zu Klampen 1994, S. 12.
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Hin und her gerissen von der Option bleibt der Staatenlose in der Haupthalle vor dem mehrfach verglasten Ausgangsbereich stehen, um zögerlich die vor dem Flughafengebäude ankommenden Reisenden und wegfahrenden Taxis und Autos durch die drei Glasscheibenfronten zu betrachten. In einer Einstellung, die durch eine Zufahrt als Halbnahe beginnt und als Nahe endet, wird Navorski hinter den Scheiben stehend gezeigt, auf denen das rege Treiben vor dem Flughafenausgang, auf das er schaut, sich spiegelt. Durch die Eigenschaft der Reflexion wird die Glasscheibe dazu genutzt, das Außen des Bildes in das kadrierte und komponierte Bildfeld zu integrieren beziehungsweise hineinzuspiegeln. Durch die Kombination von Transparenz und Spiegelung wirkt das Bild wie eine Doppelbelichtung mit dem Effekt der Entrealisierung, die den Schwebezustand Navorskis unterstreicht, der sich zwischen zwei unmöglichen Möglichkeiten, dem Verbleib in der Transitzone oder dem Leben als irregulärer Einwanderer, entscheiden muss. Für seinen kinematografischen und narrativen Umgang mit der Glasarchitektur wie mit den Eigenschaften beziehungsweise Eigenheiten von Glasscheiben hat sich THE TERMINAL gewiss an Jacques Tatis PLAYTIME (F/I 1967) orientiert,58 der sowohl die Transparenz als auch die Reflexion von Glasscheiben, Glaswänden und Glastüren variationsreich für die Entfaltung seiner Komik nutzt. In Tatis Film tendieren die transparenten Glasscheiben ebenfalls dazu, so sauber und durchsichtig zu sein, dass sie in manchen Szenen entweder für die Figur oder den Zuschauer gar nicht mehr sichtbar sind und ihre materielle Existenz fraglich wird. Zudem wird die Reflexion von Licht und Bewegung auf der Oberfläche von Scheiben zu einem Verwirrspiel mit der klaren Unterscheidung von innen und außen beziehungsweise von davor und dahinter genutzt: »In wieder anderen Szenen kombiniert Tati die Durchsicht durch die Scheibe mit der Reflexion des Lichts auf der Oberfläche der Scheibe. Die semitransparente Glasscheibe kann etwas spiegeln und das Gespiegelte zugleich an eine Stelle im realen Raum hinter der Scheibe projizieren. Eine Person etwa, die innen ist, kann dadurch in einem Gebäude auf der anderen Seite der Straße, das ebenfalls komplett verglast ist, sichtbar werden. Es wird etwas sichtbar an einer Stelle, an der es sich gar nicht befindet. So in der Szene, in der Hulot den Sacharbeiter, den er vergeblich zu treffen versucht, in einer die komplette cadrage ausfüllenden semitransparenten Glaswand als Spiegelbild in das Haus gegenüber
58 Vgl. Steven Spielberg Chroniken, https://stevenspielbergchroniken.wordpress.com/ tag/the-terminal vom 08.05.2016.
82 | THIELE projiziert sieht, hinausstürmt, und das gegenüberliegende Haus betritt, während der reale Sachbearbeiter hinter ihm zum Vorschein kommt.«59
G LAS -M ILIEU III: CONSPIRACY T HEORY UND P ERSON OF I NTEREST Klarheit, Durchsicht und die Kombination von Transparenz und Reflexion sind bestimmend für den kinematografisch-bildästhetischen Umgang mit Glasscheiben. Es gibt aber noch einen zweiten, möglicherweise immer bedeutender werdenden Modus, der umgekehrt gerade darauf zielt, die Klarheit und Durchsicht des Glases auf unterschiedliche Weise zu mindern, um die Semitransparenz von Scheiben über die Lichtreflexion hinaus zu steigern. Hierzu lassen sich zunächst einmal alle vereinzelten Einstellungen in Filmen und Serien zählen, die als visuelle und sinnlich konkrete Materialstudien zum Fensterglas angesehen werden können. Man denke etwa an die halb vereisten Glasscheiben des Sprossenfensters, das in CITIZEN KANE im Anschluss an die oben beschriebene Fensterszene präsentiert wird, oder an das ganzflächig mit Kondensat beschlagene und grünlich schimmernde Fensterglas in der letzten Einstellung des wiederkehrenden Vorspanns der Serie LES REVENANTS (F 2012, R: Fabrice Gobert/Frédéric Mermoud), hinter dem schemenhaft die Zwillingsschwestern zu erkennen sind. Während die geisterhafte Gestalt der Wiedergängerin aus dem Bild verschwindet, ohne sich zu rühren, presst die lebende Schwester zunächst ihre Hand gegen die beschlagene Scheibe, um dann mit den Fingern über das Glas zu streichen, so dass sich fünf transparente Linien als materielle Spuren im Beschlag abzeichnen. Die handwerklich-technische und materialkundige Gestaltung der Glasscheiben zielt auf eine weitere Komplexitätssteigerung des Visuellen, wie sie sich bereits durch die Kombination von Transparenz und Reflexion abzeichnet, die das Außen des Bildes in das Bildfeld partiell integriert. Nicht mehr die klare Durchsicht auf ein hinter der Glasscheibe befindliches Objekt oder eine dahinter stattfindende Handlung wird angestrebt, sondern eine diffuse Sicht auf den Gegenstand oder die Aktion, in der sich über die Oberflächenbearbeitung der Scheibe verschiedene Grade der Durchlässigkeit und Durchsichtigkeit vermischen. Diese Kombination von Transparenz und Opazität kehrt das bestehende Vorzeichen des filmischen Produktionsdispositivs um. Statt die Scheibe möglichst unsichtbar
59 Siegert, Bernhard: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, in: ZMK – Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, H. 1 (2010), Schwerpunkt Kulturtechnik, S. 151-170, hier S. 166.
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zu machen und als optische Störquelle verschwinden zu lassen, wird nun konträr dazu die materiale Präsenz der Glasscheibe zwischen Kamera und zu filmendem Objekt hervorgehoben und sichtbar gemacht. Entsprechend ist das Produktionsdispositiv der Filmaufnahme strategisch nicht mehr alleine auf die Eliminierung und Ausschließung von ungeordneten Bewegungen ausgerichtet. Es operiert nun vielmehr unter dem Vorzeichen der Addition, wenn nicht gar des Exzesses, in dem es den Glasscheibenszenen und Glas-Milieu-Settings das Unsaubere, Unscharfe und Unklare kalkuliert hinzufügt, um die Intensitäten des Visuellen zu potenzieren. Ein besonders eindrückliches Beispiel für den zweiten Modus des filmischen Glasscheibeneinsatzes stellen die ersten neun Minuten von CONSPIRACY THEORY (USA 1997, R: Richard Donner) dar. Im Vorspann und den beiden sich anschließenden Sequenzen begleitet der Film den Taxifahrer Jerry Fletcher bei seinen Fahrten durch das nächtliche New York. Die Außenaufnahmen, die das Taxi auf den befahrenen Straßen Manhattans zeigen, präsentieren die gelbe Karosserie und die Autoglasscheiben als glänzende und stark reflektierende Oberflächen, auf denen sich die zahllosen Lichter der Großstadt und die verschiedensten Neonlichtreklamen spiegeln. Letztere werden als Motiv für die Vorspanntitelei aufgegriffen, so dass manche der Titel ebenfalls als Leuchtschriftzüge über die Autoscheiben hinweggleiten. Zudem sind die Scheiben des Autos mit leicht reflektierenden Regentropfen übersät, die mit Einstellungen korrespondieren, die großflächige Pfützen zeigen, die entweder das vorbeifahrende Taxi spiegeln oder von dem Taxi durchfahren werden, sodass das sich am Straßenrand sammelnde und auf die nasse Fahrbahn ausbreitende Regenwasser hoch aufspritzt. Hinzu kommt in einigen Einstellungen der für den Filmschauplatz New York typische, aus den Kanälen aufsteigende Dampf, der die Sicht beeinträchtigt. Kinematografisch wird die Trübung der Sicht dadurch weitergetrieben, dass mit viel oder grellem Gegenlicht operiert wird und immer wieder Lens Flares erzeugt werden. Beides wird nicht nur durch die Autolichter des dichten Verkehrs, sondern auch durch Baustellen mit unangenehm hell blinkenden Warnleuchten, die fast blenden, motiviert. Die Außenaufnahmen sind darüber hinaus fast durchweg mit kurzen Überblendungen verbunden, was die Konfusion der Bildlichkeit weiter steigert. Die Innenraumaufnahmen, die den wechselnden Kundenfahrten gewidmet sind, präsentieren das Glas-Milieu, das fast durchweg durch die Außenscheiben, vor allem die Windschutzscheibe hindurch, gefilmt ist. Da die beiden Vordersitze und die Rücksitzbank durch eine Plexiglaswand voneinander getrennt sind, werden die verschiedenen Fahrgäste gleich durch zwei Scheiben hindurch betrachtet. Die Frontscheibe, die dem Fahrer die Sicht nach vorne ermöglicht, ist relativ sauber, so dass die klare Durchsicht nach innen in den Passagierbereich
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lediglich entweder durch die Reflexionen der vorbeiziehenden Großstadtlichter und beleuchteten Hochhausfassaden oder durch Regen und Regentropfen gemindert wird. Die Plexiglastrennwand weist dagegen Verschleißspuren wie Kratzer, Trübungen durch Oberflächenaufrauung und Verunreinigungen auf, die zu ungeordneten Lichtreflexionen beitragen. Die Heckscheibe schließlich ist beidseitig völlig verschmutzt, von Schlieren, Streifen, Verschmierungen und Regentropfen übersät. Die Beleuchtung arbeitet noch stärker als bei den Außenaufnahmen mit Gegenlicht und Lens Flares, wobei die Gegenlichter die Verschmutzungen der Heckscheibe und die Verschleißspuren des Plexiglases stark hervorheben und deutlich aufscheinen lassen. Zudem wird für die Innenraumaufnahmen vorwiegend mit einem engen Schärfenfeld operiert, sodass sich das szenische Umfeld des Straßenverkehrs oftmals nur verschwommen abzeichnet. Das Zusammenspiel all dieser Faktoren erzeugt eine höchst diffuse Bildlichkeit, in der die exzessive Sichtbarmachung der Glasscheiben die Sichtbarkeit der Passagiere überwiegt. Dies gilt insbesondere für die Fahrgäste auf der Rückbank, die durch die bewegte Melange aus graduell verschiedenen Transparenzen und Opazitäten immer wieder an Kontur verlieren und zu undeutlich erkennbaren, verschwommenen Gestalten werden. Das visuell Diffuse korreliert mit den zahllosen Verschwörungstheorien, die der Taxifahrer geradezu zwanghaft in einem pausenlosen, monologisierenden Redeschwall seinen Kunden unterbreitet. Das Szenario schreit auf der kinematografischen wie auf der Handlungsebene also förmlich nach Klarheit und Aufklärung, die allerdings in einer populärkulturellen, hegemonial-medialen Version erfolgt, nämlich in der Aufdeckung einer Verschwörung, in deren Zentrum geheime brainwashing-Experimente für die CIA stehen, zu deren Opfern Fletcher zählt. Es gibt also gute Gründe, sich statt mit der Story und den Figuren lieber mit den Glasscheiben im Film und der Verschränkung von Szenenbildkunst und Kinematografie zu beschäftigen. Dass der zweite Modus gegenwärtig an Präsenz gewinnt, belegt die aktuelle, fünf Staffeln umfassende Fernsehserie PERSON OF INTEREST (USA 2011-2016, R: Jonathan Nolan). Auch diese erzählt und entfaltet nichts anderes als ein Verschwörungsszenario, in dem zwei konkurrierende Überwachungssysteme mit autonomer künstlicher Intelligenz im Zentrum stehen, um die sich eine Gruppe von Protagonisten und ein Netzwerk von Antagonisten scharrt, die im Verborgenen um die Vorherrschaft einer guten oder bösen Form der Totalüberwachung kämpfen. Die Handlung entfaltet sich vorrangig in Glasmilieus, in klaren und in trüben, vor allem aber in Glas-Milieus, die sich durch eine variationsreiche Kombination von Transparenz, Reflexion und Opazität auszeichnen. Der Zeitschrift American Cinematographer zufolge, habe sich Teodoro Maniaci, der
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director of photography, für den Look der Serie vor dem Dreh des Piloten ein paar lose Notizen gemacht: »The compositions Maniaci strives for are often graphic and dynamic, with strong geometry and multiple layers. He notes, ›These are some things I wrote down before shooting the pilot: strong, off balance compositions; voyeuristic; reflections in glass; occluded frames; capturing the passing illusions of everyday life with an almost scientific precision; visually layered; camera often feels like POV when no one else is around.«60
Abbildung 2: Sicht durch die gläserne Pinnwand in PERSON OF INTEREST
Quelle: PERSON OF INTEREST (USA 2011-2016, R: Jonathan Nolan)
In den ersten drei Staffeln gibt es neben den zahlreichen Außendrehorten, die sich über New York City verteilen, vor allem zwei in Studios errichtete Hauptschauplätze: die ehemalige Bibliothek, die dem Softwareentwickler und Milliardär Harold Finch und seiner rechten Hand John Reese als geheime Operationsbasis dient, und die New Yorker Polizeistation, in der die beiden mit Finch und Reese verbündeten Kriminalbeamten Joss Carter und Lionel Fusco arbeiten. Die lichthelle Polizeistation ist durch verglaste Büros und verglaste Arbeitsplatzkabinen gekennzeichnet, deren Glasscheiben entweder aus Klarsicht- oder Schutzsichtglas bestehen, wobei die transparenten Scheiben allesamt verschmutzt und durch die entsprechende Lichtsetzung 60 Stasukevich, Iain: »Building a Layered Person of Interest«, in: American Cinematographer. The International Journal of Motion Imaging, 5 (May 2012), S. 18-22, hier S. 22.
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im Bild stets deutlich sichtbar sind. Die geschlossene Bibliothek ist trotz großer Sprossenfenster relativ dunkel ausgeleuchtet. Die Baufälligkeit des Gebäudes wird mittels großer, aufgespannter, semitransparenter Abdeckfolien vor Augen geführt, durch die für einzelne Einstellungen immer wieder hindurchgefilmt wird. Zur Ausstattung des geheimen Operationsraums gehört unter anderem eine transparente Glasstellwand, deren Glasscheibe starke Verschleißspuren aufweist. An den abgegriffenen Rändern haben sich trübe Flächen gebildet, sie ist von mehreren, diagonal verlaufenden Rissen und Sprüngen durchzogen, und sie wird an zwei Stellen durch Klebeband zusammengehalten. Ihre Semitransparenz wird durch den Gebrauch gesteigert, da sie in jeder Episode dazu dient, Fotos von potenziellen Tätern oder Opfern und andere Dokumente aufzukleben. Für die Außenaufnahmen werden bevorzugt glasscheibenreiche Drehorte ausgewählt. Für die Außen- wie für die Studiodreharbeiten gilt die generative Regel, möglichst viele Einstellungen zu produzieren, die die Figuren und Handlungen durch mindestens eine Glasscheibe hindurch aufnehmen. Die zahlreichen Durchsichten durch eine, zwei oder drei Scheiben hindurch korrelieren mit den vielen Aufnahmen von Videoüberwachungsanlagen, die von den Überwachungscomputern kontrolliert werden, die realiter, aber zumeist mit GoProKameras gefilmt wurden, die extrem weitwinklige Bilder produzieren. Da die gefilmten Durchsichten häufig semitransparent und eben nicht klar sind, wird in Kopplung mit den Videoüberwachungsaufnahmen der Eindruck der panoptischen Kontrolle erzeugt, um das narrative Szenario der interpersonalinteraktionistischen Verschwörungsnetzwerke und der digital-vernetzten Totalüberwachung permanent im Bild präsent zu halten. Das Filmen durch sichtbare Glasscheiben hindurch scheint gegenwärtig zumindest in Fernsehserien im Trend zu liegen. Durchaus exzessiv geschieht dies unter anderem in den beiden Krimiserien WHITE COLLAR (USA 2009-2014, R: Jeff Eastin) und MOTIVE (CN 2013-2016, R: Daniel Cerone), wobei letztere ebenfalls zur Intensitätssteigerung des Visuellen auf eine transparente Glasstellwand setzt, durch die Störungen der Durchsicht dadurch erzeugt werden, dass diese regelmäßig mit Notizen beschrieben ist. Indem sich in den Studio-Glas-Milieus zwischen Kamera und Objekt häufig mindestens eine Glasscheibe befindet, agieren die Figuren im Gesamteindruck nicht mehr alleine vor oder hinter Glas, sondern zwischen Glasscheiben und tendieren dort nicht selten, hinter der Sichtbarkeit des Glases zurückzutreten. Daraus sollten aber keine voreiligen Schlüsse gezogen werden, da die Figuren ihre Souveränität in diesen Sendungen durch das Wort, die Rede, den Dialog und ihre Stimme behaupten. Was anhand weiterer Glasscheibenszenen und filmischer Glas-Milieus genauer zu untersuchen wäre, wobei zweierlei
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nicht vergessen werden sollte: Dass die Scheiben das Davor und Dahinter strukturell zugleich verbinden und trennen und dass eine Scheibe völlig transparent und unberücksichtigt geblieben ist, nämlich die des Fernsehbildschirms, auf dem die Filme und Serien zur Analyse betrachtet wurden.
Schichten und der Zwischenraum Über Ästhetik und Funktion von Scheiben im 3D-Film am Beispiel von Martin Scorseses HUGO E VA K UHN
Sich den 3D-Film HUGO (USA/UK 2011, R: Martin Scorsese) bloß in 2D anzusehen, ist in hohem Grade behelfsmäßig. Denn die Attraktion von HUGO besteht in der Art und Weise, wie hier hinter, auf und vor der Leinwand Räume eröffnet, konstruiert und ausgelotet werden, wie filmisch modelliert, geschichtet und verschachtelt wird, wie Skulpturen ein- und aus- und abgebildet werden − und: wie Hugo und die Kamera uns hinter Wänden und vor Scheiben auf schwindelerregenden Schleichwegen, durch Hintertürchen und über Wendeltreppen in ungeahnte Nischen verführen und uns immer wieder spektakuläre Ausblicke in den Raum eröffnen.1 Die Scheibe als architektonisches Element, das zwischen Transparenz und Opazität oszilliert, nimmt in diesem raumbildenden Schauspiel eine doppelte Rolle ein. Zum einen ist sie vielfach auftretendes Bauteil des dargestellten, illusionistischen Raumes und erfüllt innerhalb der Diegese unterschiedliche ästhetische und dramaturgische Funktionen. Zum andern reflektieren die Scheibe und deren Staffelung und Schichtung das Konstruktionsprinzip des darstellenden Raumes oder aber jenes Dispositivs, welches die Illusion des Raumes, das dreidimensionale, das stereoskopische beziehungsweise transplane Bild erst zu erzeugen weiß.2 In dieser doppelten Funktion strukturiert die Scheibe »den Übergang zwischen vorfilmischem Raum, Filmbild und apparativem 1
Zur Definition der Begriffe Attraktion und Narration vgl. Gunning, Tom: »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde«, in: Meteor, Nr. 4, 1996. S. 25-34.
2
Zum Begriff des transplanen Bildes vgl. Schröter, Jens: 3D. Zur Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes, München: Wilhelm Fink 2009.
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Feld.«3 In ihrer eigenen Flächigkeit reflektiert sie die Flächigkeit der Leinwand und bindet als konkrete Ausformung einer ästhetischen Grenze den sich scheinbar dreidimensional entfaltenden Raum an sich zurück. Der zentrale Schauplatz von HUGO ist La Gare de Montparnasse in Paris − erbaut Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Konstruktion aus Eisenträgern erlaubte den Verzicht auf tragendes Mauerwerk, sodass an dessen Stelle großflächige Glasscheiben verwendet werden konnten. Eine der frühsten und stets bekanntesten Ausprägungen dieser durch die Industrialisierung ermöglichten Glas- und Eisenkonstruktionen war der Crystal Palace in London, der für die erste Weltausstellung 1851 von einem ehemaligen Gartenarchitekten errichtet worden ist. In diesem Glashaus wurden während der Weltausstellung erstmals Aquarien und Vivarien einer breiten Öffentlichkeit gezeigt − sowie auch frühste Stereoskope.4 Wie der Kristallpalast hat auch der in HUGO rekonstruierte Bahnhof Montparnasse den Anschein einer Glasvitrine, welcher durch die 3D-Technik zusätzlich verstärkt wird. Hugo Münsterberg vergleicht 1916 − im Anschluss an eine ähnliche Beobachtung von Oliver Wendell Holmes − den Blick in ein Stereoskop mit dem »Blick auf ein kleines plastisches Modell.«5 Und ebenso modellhaft erscheinen die Dinge in Martin Scorseses Film − gelegentlich wie hochpräzis gearbeitete, geschliffene Miniaturen in einem bis ins letzte Detail kontrollierten und liebevoll ausgestatteten Puppenhaus. Durch die extrem hohe Auflösung der digitalen Bilder und deren gestochene Schärfe erhalten die Miniaturen gleichsam ihren »letzten Schliff« oder aber wirken nicht wie in Bernstein eingegossen, wohl aber wie in eine Vitrine aus kristallklarem Glas versetzt. Gerade durch die suggestive Wirkung von D3D und dem damit verbundenen Realitätseindruck wird die Artifizialität dieser szenografisch und medial hergerichteten Welt herausgestellt.
3
Klappentext in Böttcher, Marius et al. (Hg.), Wörterbuch kinematografischer Dinge, Berlin: August-Verlag 2014.
4
Vgl. z.B. Hobhouse, Hermione: The Crystal Palace and the Great Exhibition, London: Athlone Press 2002.
5
Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie, Wien: Synema 1996, S. 42. Dazu siehe auch: Krautkrämer, Florian/Klippel, Heike: »Wenn die Leinwand zurückschießt«, in: Jan Distelmeyer/Lisa Andergassen/Nora Johanna Werdich (Hg.): Raumdeutung. Zur Wiederkehr des 3D-Films, Bielefeld: transcript 2012, S. 45-66, hier S. 47. Vom Miniatureffekt der Stereoskopie schrieb bereits Oliver Wendell Holmes 1859; vgl. Holmes, Oliver Wendell: »Das Stereoskop und der Stereograph«, in: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I, München: Schimer/Mosel 1999, S. 114-121, hier: S. 117.
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Gesteigert wird der Eindruck der Künstlichkeit durch leicht karikierte Figuren, durch slapstickartige Szenen und durch die erzählerischen Miniaturen, CloseUps und Trompe-l’œils, welche den Haupterzählstrang umgarnen und als Dekorum mindestens ebenso wichtig sind wie der Rest. Ein anderer zentraler Schauplatz von HUGO ist eine Rekonstruktion des ersten Filmstudios in Frankreich, das Georges Méliès 1896 in Montreuil bei Paris in seinem Garten errichtet hat. Dieses Haus bestand gänzlich aus Glas und hatte aufklappbare Dachfenster zur Regulierung von Lichteinfall und Temperatur. In diesem gläsernen Studio steht ein Aquarium, gefüllt mit Wasser und Fischen, durch welches hindurch Scorseses Kamera Méliès’ Dreharbeiten verfolgt. Durch Méliès’ Crew inszeniert wird eine Meeresszene und es bildet sich eine Mise en abyme im doppelten Sinne. In einem gläsernen Kubus − dem Studio, das sich angesichts der inszenierten Szene in ein Aquarium verwandelt – steht ein gläserner Kubus, ein Aquarium, durch das hindurch Scorseses Kamera filmt, wie Méliès filmt. Und diese Szenen erscheinen in einem 3D-Kino, dessen Leinwand sich zu einem gänzlich transparenten, einem gläsernen Kubus auszustülpen scheint. Martin Scorseses erster 3D-Film ist eine mit den neusten filmtechnischen Möglichkeiten erstellte Hommage an die Frühgeschichte des Kinos, namentlich an George Méliès, dessen Biografie und Filme durch die beiden jungen Protagonisten nach und nach entdeckt und in digitalem 3D aufgerollt werden.6 In HUGO erstrahlen Méliès’ Filme in restaurierter Version und brillanter Qualität. Die gläserne Vitrine, welche Scorsese mit den Mitteln der neusten 3D-Technik konstruiert, dient nicht nur als Behälter für die beschriebenen Miniaturen, für all die raumgreifenden Objekte, Figuren, Bewegungen und Requisiten, sondern auch als Form der Zeitkonserve. In dieser »überlebt« in glänzender Farbe und in gestochener Schärfe, was in Wirklichkeit verblasst, verkratzt, verknittert oder gar längst verbrannt ist.7
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Vgl. dazu: Wittmann, Matthias/Kuhn, Eva: »Die Stereoskopisierung der Psyche. Das Raumwissen von (D)3D«, in: Rania Gaafar (Hg.), Phänomenotechniken in den visuellen Künsten, München: Wilhelm Fink 2015 (im Druck), insbes. das Kapitel: »Re-Visionen von Traumfabriken. Die Experimentalisierung des Raums bei Scorsese und Herzog«.
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Es scheint, als hätte sich Oliver Wendell Holmes’ visionäres Statement aus dem Jahre 1858 − zumindest bezogen auf das Schicksal des Films als materielles Objekt − in jüngster Gegenwart bestätigt: »Unsere Vermutungen darüber, was aus dem Stereoskop und aus der Fotografie werden wird, wagen wir kaum zu äußern, um nicht für überspannt gehalten zu werden. Aber indem wir versprechen, ein stereoskopisches
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HUGO ist geprägt durch eine Mythologisierung der Frühzeit des Kinos und einen großen Enthusiasmus, der sich auf die aktuelle mediale Gegenwart überträgt. Die Vorstellung der Wirkkraft, die das frühe Kino auf die Menschen ausgeübt haben muss, wird diegetisch mit viel Pathos konstruiert, von den Jungen bestaunt, bewundert und auch etwas belächelt. Beschworen wird das Kino als lustvolles Spektakel, als Wunder und als Überwältigungs-Manöver. Der Film L’ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA GARE DE CIOTAT von den Gebrüdern Lumière und die sich als Mythos hartnäckiger haltende Zuschauerreaktion von damals, werden in diesem 3D-Dispositiv mindestens zweifach und mehrmals verschachtelt aufgeführt. Zunächst erscheint die Urszene des Kinos auf und in den Seiten eines Buches aus »dieser kleinen Bibliothek aus Glas«8, in welcher Hugo und Isabel die Ursprünge des Films entdecken und ihre Spurensuche beginnt. Ein zweites Mal erscheint die Szene im Rahmen einer Rückblende in ein Lichttheater auf dem Jahrmarkt, an welchem die Gebrüder ihren Kinematografen präsentierten und Georges Méliès erstmals auf das Kino aufmerksam wird. Immer wieder schrecken die historischen Zuschauer angesichts der monoskopischen Projektion des einfahrenden Zuges zurück. Und wir im Lichttheater von heute erschrecken angesichts der stereoskopischen Projektion vor ihnen − aufgrund ihrer verblüffend ausgeformten Plastizität und der Plötzlichkeit ihres Zurückweichens in den realen Kinosaal hinein. Die ästhetische Grenze, welche die definitive Trennung zwischen dem künstlichen Raum des Bildes und dem realen Raum des Betrachters markiert und wie eine gut geputzte Scheibe selber unsichtbar ist, hat sich in Scorseses Film lediglich um ein Stück nach vorne von der realen Leinwand weg und scheinbar auf uns zu verschoben. Zurück zum Anfang. Der Film HUGO beginnt mit einem spektakulären Kameraflug − einer Einfahrt oder Landung am zentralen Schauplatz. Es ist dies noch nicht die Ankunft des Zuges, wohl aber die der Kamera am Kopfbahnhof von Montparnasse. Dieser Establishing-Shot ist eine Art initiale Grob-Vermessung
geistiges Bild ihrer Ansichten in Farbe zu entwerfen, wollen wir es wagen, einige Blicke auf eine denkbare, wenn nicht mögliche Zukunft zu werfen: Die Form ist in der Zukunft von der Materie getrennt. In der Tat ist die Materie in sichtbaren Gegenständen nicht mehr von großem Nutzen, ausgenommen sie dient als Vorlage, nach dem die Form gebildet wird. Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen − mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man so will.« O. W. Holmes: Das Stereoskop und der Stereograph, S. 119. 8
Ebd.
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des geografischen Raumes, in welchem die Geschichte angesiedelt ist, und zugleich eine Vermessung der Ausdehnung des stereoskopischen Filmbildes. Ausgetestet werden die Grenzen jenes Raumes, der sich vor und auf und hinter der Leinwand eröffnen kann, das Volumen oder Fassungsvermögen jenes Kubus aus unsichtbarem Glas. Der Flug beginnt im potenziell unendlichen Außenraum − Schneeflocken im freien Raum des nächtlichen Paris und zugleich im Kinosaal. Anvisiert wird der Bahnhof, dann taucht man unter der Scheibenfront hindurch, fährt entlang der Gleise − eine Flucht in die Tiefe und gegenläufig jener imposante Drall des Raums nach vorne auf uns zu. Dampfwolken säumen den Weg und verstellen den Blick, Passanten passieren, weichen zur Seite und werden − in der für Scorsese bekannten Manier − im Vorbeiflug vorgestellt. Die Kamera fährt in hohem Tempo auf die vordere Scheibenfront zu, kriegt nochmals die Kurve, fährt an der Scheibenfront hoch und landet bei Hugo, dem heimlichen Bahnhofsbewohner, der diesen Raum wie seine Hosentasche kennt. Durch eine Scheibe im Zifferblatt der zentralen Uhr schaut er von seiner Kammer in die gläserne Halle hinein. Abbildung 1: Duden. Bildwörterbuch der deutschen Sprache: »Scheibe« → Bahnhofshalle
Quelle: Duden. Bildwörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim u. a.: Duden 1992, S. 350-351.
Sucht man im Bildwörterbuch des Duden nach einer Erklärung des Begriffs der Scheibe, so stößt man − in unserem Zusammenhang passend − auf den Sachbereich der Eisenbahn und findet den Begriff geschildert als Detail einer zentralperspektivisch angelegten Zeichnung einer Bahnhofshalle.9 Der Begriff wird exemplifiziert durch die Glasscheibe eines Fahrkartenschalters und markiert
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Vgl. Duden. Bildwörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim u. a.: Duden 1992, S. 350-351.
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durch die Nummer 40, welche dort zu liegen kommt, wo sich das bezeichnete Objekt der Logik dieser Darstellung nach befindet (vgl. Abb. 1). Eine feine Schraffur stört die Durchsicht in die Öffnung und macht deutlich, dass hier nicht nichts ist, vielmehr etwas: materieller Widerstand, ein transparentes Hindernis, an dem man sich ordentlich den Kopf anschlagen kann − gerade weil hier dem Schein nach gar nichts ist. Als materielle Fläche unternimmt die Scheibe einen Schnitt durch einen Raum und übt dadurch ähnlich einer Wand eine trennende und ähnlich einem geöffneten Fenster eine verbindende Funktion aus. Dasjenige, vor dem sich die Scheibe befindet, versetzt sie hinter Glas. Darin liegt eine doppelte Geste des Schützens und des Ausstellens. Durch die Scheibe abgeschirmt werden Wind und Regen, Schnee und Hitze, Kälte, Staub und Spucke sowie Geruch und andere physikalische Übergriffe und Aufdringlichkeiten. Selbst der Sprechakt wird durch die im Bildwörterbuch dargestellte Scheibe so stark gedämpft, dass eine sogenannte Sprechmembran − markiert durch die Nummer 38 − in die Scheibe eingelassen wurde, um einen sprachlichen Austausch zwischen den durch die Scheibe separierten Räume und den ihnen zugeteilten Figuren zu gewährleisten. Das Objekt der Scheibe ist charakterisiert durch den Widerspruch zwischen einer Durchlässigkeit für Licht und Blicke einerseits und einer Undurchlässigkeit für raumgreifende, physische Aktionen andererseits. Durch ihre Transparenz wird der Blick in die Tiefen des Raumes eröffnet und durch ihren materiellen Widerstand stellt sie sich seiner physischen und haptischen Erschließung zugleich entgegen. Im Kontext eines 3D-Filmes, welcher auf pointierte Weise seine Möglichkeiten der räumlichen und plastischen Illusion auszustellen und den Schein von schier begehbaren und taktil erfahrbaren Räumen zu erwecken sucht, wird dieser Widerspruch besonders wirksam. Für die Figuren im diegetischen Raum agiert die Scheibe als Ebene der Diskretion, als materialisierte ästhetische Grenze, welche einen Lebens- oder Handlungsraum von einem reinen SichtRaum trennt und das Dahinterliegende in eine ästhetische Distanz versetzt. Diese Situation reflektiert die gesicherte Situation des Zuschauers im Kinosaal, welcher gegenüber der räumlichen Illusion stets auf den Distanzsinn, auf die visuelle Wahrnehmung beschränkt bleibt. Wie suggestiv die Plastizität der Dinge auch sein mag, wie nahe sie uns auch rücken und wie überzeugend die Tiefengestaltung der Räume auch ist − die Flure des 3D-Films sind nicht betretbar und seine Oberflächen bleiben dem Nahsinn der taktilen Wahrnehmung unzugänglich. Trotz ihrer Festigkeit aber sind Scheiben auch fragil, zerbrechlich, anfällig auf grobe physische Einwirkungen, die sie zum Springen bringen und die durch sie definierte Grenze zwischen Sicht- und Handlungsraum, Bild- und Betrachterraum aufheben können. So ist der Crystal Palace in London 1934 einer Explosi-
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on zum Opfer gefallen und gänzlich ausgebrannt. Georges Méliès’ Glasstudio ist nach seiner Blütezeit ab 1913 der Zeit komplett verfallen. In seinem bis auf wenige Aufnahmen verschollenen Film CYCLONE aus dem Jahre 1905 findet sich die Einstellung eines zerbrochenen Treibhauses. Es ist dies eine Art Flashforward, als hätte Méliès das Schicksal seines Studios erahnt. Der vielleicht spektakulärste Scheibenbruch der Geschichte aber ist der Eisenbahnunfall am Bahnhof Montparnasse von 1895. Ein zu schnell einfahrender Zug hat die Kontrolle über die Bremsen verloren und ist komplett aus der Fassung geraten. Nach dem Prellbock überfuhr er den Bahnsteig und durchbrach ein Stück der Mauer und die zentrale Scheibenfront des Bahnhofsgebäudes (vgl. Abb. 2a). Abbildung 2 a/b: Zugunglück am Gare Montparnasse, Paris
Quelle: Fotografie 1895 / HUGO CABRET (USA 2011, R: Martin Scorsese)
Martin Scorsese hat diesen historischen Eisenbahnunfall in seinem Film nachinszeniert und bemerkenswerter Weise nicht als diegetische, sondern als diegetisch-subjektive Realität ausgegeben − als Albtraum des Protagonisten. 10 Martin Scorsese zeigt den einfahrenden Zug diesmal nicht als Film im Film, als schwarz-weißen »Flachfilm« in farbigem 3D, sondern er versetzt die Szene direkt in 3D und verleiht diesem Urbild des bewegten Bildes eine enorme Physis und Präsenz. Dazu lässt er die Eisenbahn nicht wie die Gebrüder Lumières
10 Mit dem Begriff »diegetisch-subjektiv« bezeichnet Christine Noll Brinckmann jene Realitätsebenen, welche nur einer einzelnen fiktionalen Figur zugänglich sind: subjektive Eindrücke oder Träume; vgl. Noll Brinckmann, Christine: »Diegetisches und nondiegetisches Licht«, in: Dies.: Farbe, Licht, Emphatie. Schriften zum Film 2, Marburg: Schüren 2014, S. 118f. Innerhalb der Filmgeschichte scheint sich diese Sequenz nicht nur auf den Film der Gebrüder Lumière zu beziehen, sondern auch auf die Eingangssequenz von Dziga Vertovs TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM (SU 1929), in welcher eine dramatische Eisenbahnszene mit dem Traum einer Frau verschaltet wird.
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alltäglich einfahren, vielmehr inszeniert er eine mächtige Grenzüberschreitung, in welcher der Zug auf die bildparallel erscheinende Scheibenfront zurast − direkt auf uns zu (vgl. Abb. 2b) − und diese, nun wieder von der Seite betrachtet, vor unseren Augen zerbersten lässt.11 Das Zersplittern der Scheibe fungiert − so ist die These − als eine Metapher für die Potenz und Wucht des 3D-Kinos, für die scheinbare Überwindung der zweidimensionalen Leinwand und das Eindringen von Körperlichkeit in den realen Raum des Kinosaals. Aktiviert wird dabei jenes Off, das sich vor der Leinwand befindet. Es geht hier nicht mehr um die Per-spektive im Sinne des Hindurch-Blickens durch ein transparentes Fenster, als vielmehr um einen scheinbar physischen Durchbruch, um die Suggestion eines Kollabierens der ansonsten diskret getrennten Räume. Eine Illusion ist bekanntlich zerbrechlich wie Glas − kaum zieht man die Brille ab, fällt der Palast zusammen und übrig bleibt ein unscharfes, mattes und flaches Bild, das mit der eigentlichen Flächigkeit und Materialität der Leinwand zusammenfällt. Auf der Galerie der Bahnhofshalle aus dem Bildwörterbuch steht ein Passant, welcher nicht wie derjenige am Fahrkartenschalter in eine Handlung verstrickt, vielmehr versunken ist in einen Akt der Betrachtung (vgl. Abb. 1, rechts von der Nummer 13). Dieselbe Schraffur wie in der Nummer 40 macht die ausgesparte Fläche als mehr oder minder reflektierende Glasscheibe erkennbar. Indem sich auf dieser Fläche jedoch kein Dahinter abzeichnet und keine Aussicht eröffnet wird, könnten wir hier mit Roberto Benigni die Frage stellen: »Would you say he looks through the window or would you say he looks at the window« und mit Tom Waits antworten: »In this case you can say he looks at the window.« Die Pointe dieses Dialoges aus DOWN BY LAW (USA/BRD 1986, R: Jim Jarmusch) geht aus dem Handlungszusammenhang hervor, in welchem Roberto in einer Gefängniszelle eingesperrt in gebrochenem Englisch ankündigt: »I make a window« und dafür ein Rechteck mit Fensterkreuz auf die Wand zeichnet. Mit Robertos Zeichnung wird nicht mal eine auch nur scheinbare Durch-sicht im Sinne einer Per-spektive in die Tiefe des Raumes eröffnet, eher wird die unhintergehbare Flächigkeit und Opazität der Gefängnismauer bekräftigt. Die Konzeption des Bildes als finestra aperta stammt bekanntlich von Leon Battista Alberti, der 1435 mit seinem Traktat über die Malerei das für die abendländische Kunstgeschichte dominant gewordene perspektivische Bildverständnis
11 Eine etymologische Konstellation: der Begriff der Schiene wie auch jener der Scheibe gehen auf den Wortstamm »skei-« zurück, was so viel heißt wie schneiden, trennen. (Zur selben Wortgruppe gehört das Adjektiv schütter, wozu als Grundbedeutung die Adjektive gespalten und zersplittert angegeben werden.)
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aufgegriffen und im Austausch mit den zeitgenössischen Künstlern und Architekten systematisiert hat. 12 Albertis Absicht war es, den Malern ein standardisiertes Mittel an die Hand zu geben, mit welchem unter Bedingungen der Zweidimensionalität der plausible Eindruck einer Raumtiefe und einer kontinuierlichen und homogenen Räumlichkeit erzeugt werden konnte. Dazu wurde die Malerei auf das wissenschaftliche Fundament der Euklid’schen Geometrie und Optik gestellt. Alberti geht von der Vorstellung eines Sehkegels aus, welcher − im Umkehrschluss − eine linearperspektivische Projektion der dreidimensionalen Welt auf eine zweidimensionale Fläche ermöglicht. Dieser Kegel entsteht dadurch, dass das Sehzentrum als ein einziger und unbeweglicher Punkt behandelt wird, in dem alle Lichtstrahlen gebündelt werden, die an den erblickten Oberflächen reflektieren. Das perspektivische Bild wird als planer Schnitt durch diesen sich im Raum ausbreitenden Sehkegel gedacht oder aber als transparente Scheibe, die diesen Kegel flächig durchschneidet. Die materielle Bildfläche − die Mauer, die Holztafel oder die Leinwand − soll dem Schein nach ihre faktische Opazität überwinden und einen Durchblick auf die hinter ihr erscheinende Welt eröffnen. Diese Bildkonstruktion bringt mit sich, dass zueinander parallele Linien wie etwa Fliesen oder Gleise im Gegenpol des Sehzentrums − im Fluchtpunkt − konvergieren. Dieser Fluchtpunkt wiederum begründet den Horizont, der zum blickenden Subjekt in einem stabilen Verhältnis steht. Die transparente Scheibe ist in der Konzeption des neuzeitlichen Bildes sowohl Metapher für das Gemälde selbst wie auch ein praktisches Instrument zur Erzeugung der räumlichen Illusion. Beim Studium der einzelnen Gemälde zeigt sich sofort, dass nicht einmal die Maler der florentinischen Renaissance dem strengen Projektionsparadigma zur Gänze Folge geleistet haben und gerade auch der Bruch mit perspektivischen Gesetzmäßigkeiten für künstlerische Interessen und dramaturgische Zwecke eingesetzt wurde. Im Rahmen der religiösen Malerei beispielsweise wurde oftmals die Bildfläche als ein besonderer Ort behandelt, ausgezeichnet als ein Ebene, die nicht nur durchblickt werden soll, sondern der gerade in ihrer Opazität eine spezielle Bedeutung zugewiesen wurde. Sie wurde etwa zum Ort eines heiligen Immerdars − Jesus am Kreuz zum Beispiel −, das sich den perspektivischen Gesetzmäßigkeiten widersetzt, sich raum-zeitlich gerade nicht verorten will und sich von der sich im illusionistischen Bildraum entfaltenden Historie abhebt. 13
12 Vgl. Alberti, Leon Battista: Della Pittura. Über die Malkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 61-171. 13 Vgl. dazu z.B. Perrig, Alexander: »Masaccios ›Trinität‹ und der Sinn der Zentralperspektive«, in: Marburger Hefte für Kunstwissenschaft, 21. Bd, 1986, S. 11-43.
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Folgt man der kanonisierten Kunstgeschichte, so ist es die Malerei der Moderne, welche das Transparenzideal der neuzeitlichen Malerei radikal infrage gestellt und sich der perspektivischen Repräsentation und der mit dieser einhergehenden Vorstellung eines kohärenten und homogenen Bildraums auf mannigfaltige Weise widersetzt hat. Erklären wir den Passanten auf der Galerie im Bildwörterbuch zum Besucher einer Ausstellung und geben ihm zum Anblick oder Ausblick William Turners Rain, Steam and Speed − The Great Western Railway, gemalt im Jahre 1844 (Abb. 3a).14 Abbildung 3 a/b: Turner und Manet
Quelle: William Turner: Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844/ Edouard Manet: Gare Saint-Lazare, 1873.
Die Bildfläche, die in ihrer traditionellen Funktion als gleichsam transparente Scheibe den Durchblick in eine fiktive Tiefe eröffnet hat, wird in der Moderne − exemplarisch an diesem Bild − reflexiv, unscharf, trübe und opak und besinnt sich zunehmend auf die Widerständigkeit ihrer Materialität und auf ihre eigentliche Flächigkeit. Die Anerkennung der eigenen Materialität zeigt sich Clement Greenberg zufolge hauptsächlich darin, »dass die plane Bildfläche den Versuchen widersteht, sie zu einem realistischen perspektivischen Raum hin zu durchstoßen« und dass die »Undurchdringlichkeit der Bildoberfläche« betont wird. 15 Farben lösen sich von ihren Objektzugehörigkeiten los und zeigen sich als die Materie, die sie sind − Farbe auf Leinwand −, aufgetragen in diesem oder jenem Duktus. Als solche erkunden sie ihre eigenen Wirkungen und dramaturgischen
14 Fünf Jahre später: 1849 wurden vom Schotten David Brewster erste fotografisch angefertigte stereoskopische Bilder veröffentlicht; vgl. Newhall, Beaumont: Geschichte der Photographie, München: Schirmer/Mosel 1989, S. 106. 15 Greenberg, Clement: »Zu einem neueren Laokoon (1940)«, in: Ders. (Hg.), Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg: Philo Fine Arts 2009, S. 56-81, hier: S. 75 und S. 76.
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sowie affektiven Möglichkeiten. Bei Turner steht die Entkoppelung von Farbe und Gegenstand im Zeichen der zentralen Erfahrung der Moderne − im Zeichen der Geschwindigkeit, bei der die Repräsentation des Raumes nicht mehr unabhängig von der Zeit seiner Erschließung zu denken ist. 16 Die Schnelligkeit der Eisenbahn, Dampfwolken, Staub und Lärm, die sie verursacht, bringen die Abstraktion vom Gegenständlichen gleichsam automatisch mit sich − das Auflösen der Konturen und das Verstellen, Verschwimmen bis Verschwinden des Horizonts mit der Konsequenz einer scheinbaren Abflachung des Raumes. Von einem Zusammenrücken der fiktiven Tiefenebenen spricht Greenberg in Bezug auf die Malerei der Moderne − bis dass sie schließlich »auf der einen realen materiellen Ebene der wirklichen Leinwandfläche zusammentreffen; dort liegen sie dann nebeneinander oder ineinandergreifend oder transparent übereinandergeschichtet.«17 Das allmähliche Vorrücken der fiktiven Tiefenebenen, der Schichtung von bildparallelen Ebenen mit dem Effekt der Verflachung des illusionistischen Bildraumes kommt in Greenbergs Beschreibung auf der materiellen Ebene der Leinwandfläche nicht zum Stillstand. Vielmehr findet dieses Vorrücken eine Fortsetzung in der Neigung zur reliefartigen Ausstülpung der Bildfläche und zu einem Vordringen in den Raum des Betrachters hinein. Eine vibrierende Spannung entstehe, »wenn die Gegenstände versuchen, ihr Volumen gegen die Tendenz der realen Bildfläche zu behaupten, ihre eigene materielle Flächigkeit durchzusetzen und die Gegenstände zu Silhouetten zusammenzupressen.«18 In der Malerei von Edouard Manet (1832-1883) scheinen mir diese Tendenzen bereits besonders deutlich zum Ausdruck zu kommen. Erinnert sei an die Olympia (1863), an Le Balcon (1868) oder − um dem Motiv des Bahnhofes treu zu bleiben − an La Gare Saint-Lazare aus dem Jahre 1873 (Abb. 3b). Auszumachen ist zum einen eine deutliche Verflachung des Bildraumes durch ein Verstellen des perspektivischen Durchblicks in einen Tiefenraum. Dies geschieht durch eine Form der Schichtung von auf ihrer Opazität insistierenden bildparallelen Ebenen, wodurch eine Untiefe erzeugt und die Flächigkeit des Bildträgers herausgestrichen wird. Zum andern rücken die Gegenstände auf die vorderste Bildebene und damit auf uns zu. Die oftmals direkten und herausfordernden Blicke der Figuren aus dem Bild heraus unterstützen diese eher konfrontative Begegnung von Bild und Betrachter/in und aktivieren das vordere Off oder
16 Bereits die Maßeinheit und der Begriff des Stundenkilometers weist auf diese Verschränkung von Raum und Zeit hin. 17 C. Greenberg: Zu einem neueren Laokoon, S. 76. 18 Ebd.
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Außerhalb des Bildes − jenen Ort, der dem Raum des Betrachters angehört. 19 Ein linearperspektivisch konstruiertes Bild lässt uns aus einer gesicherten Distanz in einen sich gleichsam hinter der Scheibe entfaltenden Tiefenraum hineinblicken. Durch die konfrontative Begegnung von Bild und Betrachter, welche mit der Auflösung des illusionistischen Raumes einhergeht, wird mit diesem voyeuristischen Verhältnis gebrochen. Diese Richtung auf die Betrachter/-innen zu wird in Manets Malerei aber nicht nur durch die bildparallele Schichtung von Ebenen, durch das Platzieren der Figuren an vorderster Front und durch deren herausfordernden Blicke erreicht, sondern auch durch den Trompe-l’œil-Effekt, den vereinzelte Bildelemente erzeugen. Es sind dies jene ausgearbeiteten Details − die seidene Schleife beispielsweise −, welche die Materie und den Ort aus dem sie entstehen, die Farbe und die Leinwand für kurze Zeit zu überwinden und aufgrund ihrer haptischen Qualität aus dem Bild zu springen scheinen. Die sichtbaren Pinselstriche aber lassen die Farbe nie gänzlich im bezeichneten Gegenstand aufgehen, sodass der intendierte Sprung aus dem Bild niemals gelingt. Die Illusion von ausgreifender Plastizität und Räumlichkeit bleibt bei Manet lediglich partiell und flüchtig, wodurch − wenn man so will − im Sinne Greenbergs keine Illusion erzeugt, vielmehr das »Illusorische der Illusionen« betont wird. 20 Mit diesem Exkurs in die Malerei sollten grob drei zur Leinwand parallele Bildbereiche fokussiert worden sein. Erstens: Ein sich in die Bildtiefe staffelnder, ferner Raum, der sich insbesondere in der linearperspektivischen Bildkonzeption eröffnet und explizit als Sicht-Raum deklariert ist. Es ist dies ein Raum, der sich hinter der ästhetischen Grenze befindet oder aber hinter der imaginierten Scheibe und somit aus einer gesicherten Distanz betrachtet werden kann. Zweitens: die materielle und opake Bildfläche selbst, die Leinwand, welche die Grundlage oder Bedingung ist von jeder räumlichen Repräsentation. Sie ist die ästhetische Grenze beziehungsweise deren Materialisierung und hängt als Leinwand an der Wand oder fällt mit der Wand zusammen. Und drittens: Ein naher Raum, der sich modellierend aus der materiellen Bildfläche hinauszustülpen, in Richtung des Betrachters auszugreifen scheint und dadurch die gesicherte ästhetische Distanz spielerisch infrage stellt. Zwischen diesen drei Bereichen, die innerhalb der Malerei ausgemacht werden können, bewegt sich auch das stereoskopische Bild mit seinen medialen Möglichkeiten.
19 Eine Systematisierung der verschiedenen Off-Screen-Bereiche hat Philippe Dubois in Bezug auf die Fotografie unternommen; vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam 1998. 20 C. Greenberg: Zu einem neueren Laokoon, S. 76.
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Als »verstörendes Phänomen auf der Grenze zwischen Flächenbild und Raum« fasst Jens Schröter das 3D-Bild und beschreibt seine Wirkung mit dem »Paradox einer flachen Tiefe«. 21 Dieses Paradox wird hervorgerufen durch den Effekt der Schichtung von Raumscheiben oder bildparallelen Ebenen, die sich in den Tiefenraum hineinzustaffeln oder in den näheren Raum heraus aufzubauen scheinen und trotz ihres räumlichen Charakters der Fläche entspringen, letztlich an sie zurückgebunden bleiben. Es entstünde der Eindruck, »mehrere materielle Bildebenen hintereinander zu sehen« − so Stephan Günzel, der in der Schichtung von Flächenebenen den Schlüssel für das Verständnis des 3D-Bildes sieht.22 Diese Seherfahrung sei zunächst als alles andere als natürlich empfunden worden. Sie gemahnte allenfalls − nach Jonathan Crary − an die Staffelung von flächigen Kulissen oder aber Bildgründen auf Theaterbühnen. 23 In Martin Scorseses Filmgeschichte nun findet der 3D-Film einen Ursprung in Georges Méliès’ Filmproduktion, in der dieses Stereoskopie-historisch prominente und oft als zu künstlich kritisierte Phänomen des Pappkarton- oder Cardboard-Effekts bereits aufzufinden ist. Der raffinierten Ausgestaltung und Weiterentwicklung dieses Staffelungs- und Schachtelungsprinzips widmet Martin Scorsese mit seinem Team die höchste Aufmerksamkeit. Während die hintereinander gestaffelten Bildgründe durch die filmische Aufzeichnung von Georges Méliès verflacht und gleichsam zur bewegten Malerei wurden, so vermögen es die transplanen Bilder in Scorseses Film, diese Kulissen auseinanderzuzerren und den Leerraum beziehungsweise die Ausdehnung zwischen den Flächen wahrnehmbar zu machen. Der Transfer der zweidimensionalen Kulissen ins transplane Bild wird auf der Ebene der Mise en Scène besonders explizit vollzogen, wenn Scorseses 3DKamera die Dreharbeiten von Georges Méliès durch ein Aquarium hindurch beobachtet − durch jenes voluminöse, gläserne Gefäß in Form eines Kubus, das als Metapher des transplanen oder aber 3D-Bildes verstanden werden kann. Von einer »verstörenden Greifbarkeit« des Raumes um die Dinge herum schreibt Jonathan Crary angesichts von frühen stereoskopischen Aufnahmen. 24 Und in der Art und Weise, wie der Raum zwischen den Oberflächen der Dinge oder aber
21 J. Schröter: 3D. Zur Geschichte, Theorie und Medienästhetik des TechnischTransplanen Bildes, S. 49 und 53. 22 Günzel, Stephan: »Das Verlangen nach Tiefe«, in: Raumdeutung. Zur Wiederkehr des 3D-Films, S. 67-98, hier S. 77. 23 Vgl. ebd. und Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters, Dresden: Verlag der Kunst 1996, S. 129. 24 J. Crary: Techniken des Betrachters, S. 129.
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den Schichten, wie der leere Zwischenraum wahrnehmbar gemacht werden kann, liegt wohl noch immer eine Hauptattraktivität des 3D-Films. In HUGO ist eine ganze Reihe von Leitmotiven auszumachen, welche diesen Raum zwischen den Dingen artikulieren oder aber der Leere eine Plastizität verleihen. Und diese Motive sind vom Bezauberndsten: Der durch den freien Raum flöckelnde Schnee, der feine Staub, der aufwirbelt, wenn der Spielzeughändler seine Auslage neu arrangiert, der Hauch des Atems in der Kälte, das verführerische Dämpfchen eines Kaffees oder von noch warmen Croissants, Zigarettenrauch und Aschenstaub und − immer wieder − Wolken in unterschiedlichsten Farben und Dichten, die aus allen möglichen Löchern dampfen. Diese Phänomene zeichnen sich nicht nur durch ihre Kontingenz und Flüchtigkeit aus, sondern auch durch Semitransparenz. Nehmen wir die Phänomene wahr, so schauen wir sie an und nehmen ihre Materialität zur Kenntnis, zugleich schauen wir durch sie hindurch. Die freie Durchsicht ist zwar gestört, doch nicht verhindert, wie angesichts opaker Dinge, an deren Oberflächen das Licht und der Blick zur Gänze abprallen. Im Gegensatz zu diesen aufgezählten Elementen ist die Scheibe als physischer Gegenstand zwar fest und undurchdringlich, 25 als visuelles Phänomen jedoch in vergleichbarer Weise semitransparent und ebenfalls dazu geeignet, Zwischenräume zu markieren. Außerhalb des theoretisch Idealen ist eine Scheibe selten zur Gänze transparent. Je nach Lichtdifferenzen in den Räumen, die sie trennt, entstehen Reflexionen, die den Durchblick stören. Scheiben sind oft schmutzig, fettverschmiert, verkratzt, beschlagen und gesprungen. Sie tragen Spuren der Handlungen, die an ihnen verübt worden sind. Wie alle anderen semitransparenten Phänomene lenkt auch sie den Blick durch sie hindurch und macht dabei gleichzeitig auch auf sich selber aufmerksam − das heißt: auf ihre eigene Erscheinung, ihre Form und Materialität; das wäre dann der Blick an sie heran. Ziehen wir die Schichtendefinition des transplanen Bildes wieder heran, so besteht die Funktion der semitransparenten Scheibe darin, den Blick auf die dahinterliegenden Schichten und Bildgründe oder aber wieder Scheiben freizugeben. So können sich Räume hinter Räumen eröffnen und das Schichtenprinzip des transplanen Bildes kann selbstreflexiv bis ins Unendliche auf die Spitze getrieben werden.
25 Wechselt die Kamera in zwei durch eine Scheibe getrennten Räumen die Seite, so wird in HUGO meist ein Schnitt gesetzt und die Scheibe als Grenze respektiert. Die einzige Ausnahme, die mir aufgefallen ist, erscheint im Auftakt zur Schlusssequenz des Films, wo die Fensterscheibe zum Haus der Familie Méliès ihre Festigkeit kurz auflöst, um der fliegenden Kamera bei ihrer Flucht in die Tiefe einen Durchgang zu gewähren.
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Das Auftreten von Scheiben im 3D-Film ist immer wieder besonders verblüffend − ganz im Sinne eines naiven Staunens über Zauberei beziehungsweise über die Fähigkeit einer Kunst und eines technischen Mediums, diese andere Materialität so brillant und täuschend echt zu formen. Noch besser als ein Seidenkleid, ein Blechspielzeug oder aber anderes eignet sich in D3D − so scheint mir − die Scheibe als bestechendes Trompe-l’œil. An der Grenze der Sichtbarkeit verunsichert uns ihre Erscheinung darüber, ob hier etwas ist oder nur Zwischenraum, und lenkt auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf unsere eigene Sehaktivität, auf unser tastendes Blicken, das angesichts der in 3D fortgesetzten Großaufnahme feinste Reflexionen und Unregelmäßigkeiten auszumachen vermag. Gerade dadurch, dass hier fast gar nichts ist, wird eine gesteigerte visuelle Intensität und Augenlust geschaffen. Die »verstörende Greifbarkeit« der repräsentierten Scheibe bekräftigt nur mehr ihre Unantastbarkeit und damit auch die bis in verblüffende Nähe verschiebbare, jedoch physisch undurchdringbare Grenze, die sich fortlaufend zwischen illusionistischer und tatsächlicher Räumlichkeit aufbaut.
Gitter | Scheibe Medien der Tierschaustellung zwischen Transparenz und Opazität S ABINE N ESSEL
Ein Löwe ist vor ein Mikrofon und eine Kamera geführt worden. Die Vorderbeine leicht erhöht, nimmt er eine stattliche Haltung ein. Tonmann und Kameramann haben ihre Geräte frontal vor dem Löwen aufgebaut. Der Tonmann trägt einen Kopfhörer und sitzt mit den Geräten an einem Tisch. Dahinter steht der Kameramann, die Kamera auf den Löwen gerichtet. Am rechten Bildrand sind Gitterstäbe zu erkennen, die nahelegen, dass sich die Filmleute zu dem Löwen in den Käfig begeben haben. In der Bildmitte, in der Höhe des Löwenmauls, ist das Mikrofon auf einem Stativ platziert. Die Stativstange wirkt wie eine Linie, die das Bild in zwei Hälften teilt und die Mensch und Tier voneinander trennt. Das Foto verweist auf eines der bekanntesten medialen Tiere des 20. Jahrhunderts: den MGM-Löwen. Die Anordnung stellt eine Idealsituation dar und steht für eine Filmindustrie, die sich auf die Natur beruft. »This ist Nature, this is real« – so scheint es aus dem Bild zu sprechen. 1 Die Aufnahmen des Logos wurden in der ersten Zeit mit dem Löwen Leo hergestellt, der bis heute als Maskottchen von MGM fungiert. Später wurden auch andere Löwen eingesetzt. Ab 1924 wurde mit dem Gebrüll des Löwen eine akustische Aufnahme zur Produktwerbung herangezogen, wobei das Brüllen zunächst mittels einer Schallplatte eingespielt wurde. Die spektakuläre Inszenierung des brüllenden Löwen inmitten der feierlichen Banderole aus Celluloidstreifen nimmt Elemente des frühen
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Die Schaustellung von Tieren als Logo von Filmproduktionsfirmen ist bis heute verbreitet: Tobis-Gockel, Pathé-Hahn, Bison Company-Büffel, MGM-Löwe und viele mehr bevölkern die Filmgeschichte.
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Attraktionskinos wieder auf und verweist außerdem auf die zeitgleich anbrechende Entertainment-Kultur der amerikanischen Zoos, deren Massenpublikum exotische Tiere zunehmend in spektakulären Darbietungen und mittels showmanship zu sehen bekam. Das MGM-Logo besteht als legendäres Markenzeichen bis heute. Und auch die Verbindung zum Zoo setzt sich fort. Man kann dies im MGM Grand sehen, dem MGM eigenen Hotel in Las Vegas, wo im Durchgang zum Hotelcasino 1999 ein Löwengehege eingerichtet wurde. Ein spektakuläres Habitat aus Glas, in dem die Artgenossen des einstigen MGM-Löwen wie in einem Zoo für die Hotelgäste und das Publikum zur Schau gestellt werden. Die Scheibe als physische Grenze trennt die Besucher von den Löwen. Sie bietet Schutz vor den Wildtieren und verspricht eine barrierefreie Sicht. Ausgehend von den MGM-Löwen im Glashaus möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, welche Rolle die Scheibe bei der Schaustellung von Tieren spielt. Im ersten Teil soll ausgehend von Miriam Hansens Idee des Mediums Film eine Verbindung zum Zoo hergestellt werden. Zweitens geht es um die Geschichte der Tierschaustellung in Zoo und Kino anhand der Grenzmedien Glas und Gitter; und drittens soll mit Bezug auf NÉNETTE (F 2010, R: Nicolas Philibert), einem Film des aktuellen Kinos, der die Scheibe des Tierhabitats aktiv in Szene setzt, eine These zur Scheibe als Medium der anthropologischen Differenz formuliert werden. Die Scheibe im Medium Film, so wird im Folgenden gezeigt, ist nicht in einem strengen Sinne auf der Seite der Transparenz zu verorten, sondern verweist vielmehr auf das Schnittfeld von Transparenz und Opazität.2 Die opaken Anteile kommen in den Störungen zum Tragen.
1. H ANSENS I DEE DER S CHAUANORDNUNG DES KINOS UND IHRE Ü BERTRAGUNG AUF DEN Z OO In ihrem Aufsatz »Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden«3 beschreibt Miriam Hansen die Schauanordnung des Kinos. Dem Zuschauer, so wird argumentiert, werde im Kino etwas zum sinnlichen Genuss angeboten, das ihn in realen Situationen verletzen oder verschlingen würde. Die Leinwand markiere die Grenze zum Bereich der Illusion und biete gleichzeitig Schutz gegen das als real
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Rautzenberg, Markus/Wolfsteiner, Andreas: Hide and Seek. Das Spiel von Transpa-
3
Bratze-Hansen, Miriam: »Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden: Kino als Ort
renz und Opazität, Paderborn: Fink 2010. der Gewalt-Wahrnehmung«, in: Gertrud Koch (Hg.), Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 249-271.
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empfundene Geschehen. Die Dinosaurier in Spielbergs Film JURASSIC PARK (USA 1993, R: Steven Spielberg) rücken nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Zuschauern auf den Pelz. Scheinbar zum Greifen nah sind sie dennoch nicht greifbar. Denn die Schauanordnung des Kinos basiert auf einer Trennung, welche den raumzeitlichen Bereich des Dargestellten und den raumzeitlichen Bereich des Zuschauers voneinander trennt. Auch in einem Safaripark oder im Zoo kann man – zumindest wenn alles nach Plan läuft – Tiere sehen, ohne gefressen zu werden. Anders als im Kino entfällt hier allerdings die Trennung der raumzeitlichen Bereiche. Tier und Betrachter befinden sich zur selben Zeit am selben Ort. Die Konstellation ist vergleichbar mit der des Theaterbesuchers und des Schauspielers auf der Theaterbühne. Sorgen dort die Rampe und die Konventionen des Theaters dafür, dass die Zuschauer nicht auf die Bühne überwechseln, wird im Zoo die Ordnung durch physische Grenzen aufrechterhalten. Die Idee, dass uns Filme etwas zeigen können, das wir real nicht überleben würden, ist ein Topos, der bereits in Siegfried Kracauers Theorie des Films aufgegriffen und ausgeführt wird. Die Leinwand wird von Miriam Hansen als Grenze zwischen voneinander getrennt existierenden Raumzeiten konzipiert. Im Unterscheid zur Leinwand des Kinos, welche die Bilder des Dinosauriers zwar auffängt, einen realen Dinosaurier jedoch nicht am Betreten des Kinosaals hindern würde, handelt es sich bei der Glasscheibe des Zoohabitats um eine physische Grenze. Die Glasscheibe des Zoohabitats dient dem Zoobesucher als Schutz vor dem Tier oder – in der Rhetorik von Bratze-Hansen – als Schutz davor, gefressen zu werden. Die Gemeinsamkeit von Leinwand und Glasscheibe besteht darin, dass sie erstens etwas sichtbar machen können, zweitens, dass sie dabei selbst unsichtbar bleiben und drittens, dass sie dementsprechend nur in spezifischen Situationen als solche in Erscheinung treten. Die Scheibe wird in JURASSIC PARK hauptsächlich in Form der Autoscheibe in Szene gesetzt. Die Besucher bewegen sich mittels rundumverglaster PKWs durch den Freizeitpark. Die Trennung zwischen Innen und Außen wird zunächst im Sinne der Transparenz inszeniert. Etwa wird die Windschutzscheibe in Relation zum Computerdisplay gesetzt. Sie wird als Medium der Durchsicht von Innen nach Außen und umgekehrt, von Außen in das Innere des PKWs inszeniert. Die »Normalsituation« (Scheibe als Medium der Durchsicht) wird beim Angriff der Dinosaurier gestört. Dieser Angriff erfolgt keineswegs plötzlich. Er wird vielmehr durch eine veränderte Inszenierung der Scheibe angekündigt. Die Ankündigung der Katastrophe wird in diesem Bild deutlich über eine Bildstörung sichtbar. Der Blick auf die glücklichen Kindergesichter ist gestört durch die Spiegelung der Scheibe. In der Spiegelung überlagern sich der heitere Ausdruck der Kindergesichter einerseits, und die Umrisse des
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Hochsicherheitszauns andererseits, die Todesgefahr kündigt sich an. Beim Angriff der Dinosaurier wird die Grenze durchbrochen. Die Glasscheibe des Autodachs wird von dem Angreifer mit der riesigen Schnauze aus dem Rahmen gedrückt. Wie das Durchbrechen der vierten Wand im naturalistischen Theater, dessen Signifikanz in dem Versprechen liegt, etwas »noch viel Realeres« zu zeigen, mag der Witz der Inszenierung der eingedrückten Scheibe in Spielbergs Film in dem Versprechen liegen, etwas »noch viel Realistischeres« mit digitalen Mitteln zu zeigen. Der Verlust der Grenze wird von den Kindern zu verhindern versucht. Mit ganzer Kraft und mit ausgestreckten Armen versuchen sie, die Scheibe auf Abstand zu halten. Das Medium der Sichtbarkeit und des Schutzes hat seinen Platz in der traditionellen Ordnung verlassen und ist zur Bedrohung geworden. Was in Spielbergs Film zeichentheoretisch im Sinne der Leugnung oder gar der Dekonstruktion der Scheibe als Medium der Transparenz lesbar ist, wird noch zusätzlich dadurch unterstützt, dass es in der Szene regnet und dass die Situation der Kinder aus der übersichtlichen Ordnung des reinen, genussvollen Sehens in eine Unordnung übergeht, in der Dunkelheit, Regen und schlammiger Untergrund eine Rolle spielen.
2. G ESCHICHTE DER T IERSCHAUSTELLUNG IN Z OO UND K INO Zoos sind im Film zu unterschiedlichen historischen Zeiten und über Genre- und Kulturgrenzen hinaus zur Darstellung gebracht worden. Sie finden sich in Lehrund Kulturfilmen, Dokumentationen, im Spielfilm oder im frühen Stummfilm. Zoofilme lassen sich weder historisch auf eine bestimmte Dekade festlegen noch haben sie ein eigenes Genre ausgebildet. Der Zoo wird nur in den wenigsten Filmen abendfüllend zum Thema gemacht. Stattdessen taucht er als Momentaufnahme auf, als Episode oder als attraktive Kulisse. Insbesondere die Zoo-Szenen und die kurzen Episoden erweisen sich bei genauerer Betrachtung aber häufig als Schlüsselmomente, die im Spiel von Sehen und Gesehenwerden die Schauanordnungen von Zoo und Kino reflektieren. In den Zoofilmen um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert bis in die 1910er Jahre geht es vor allem darum, den Zoo und die Tiere zu zeigen. Die Darstellung des Zoos ist dabei in die Ästhetik des frühen Kinos eingebunden. Darüber hinaus verweisen die Zoofilme des frühen Kinos auf die komplexe Gemengelage sehr unterschiedlicher Schauanordnungen und Schauvergnügen sowie auf historische und politische Kontexte, wie die Herausbildung des Bürgertums einerseits und die kolonialen Verhältnisse andererseits.
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Der erste Zoofilm der Filmgeschichte stammt von den Brüdern Lumière und zeigt einen Löwen im Käfig im Londoner Zoo. Der Löwenkäfig füllt das gesamte Bild aus. Ein Tierpfleger in Uniform animiert den Löwen von außerhalb des Käfigs mittels Futter. Der kurze Streifen bringt den Löwen im Käfig »zur Ansicht«. Der Löwe als wildes, exotisches Tier gilt als etwas Besonderes. Nicht zuletzt ist er ein Prestigeobjekt des Londoner Zoos. Solche »Ansichten des frühen Kinos« sind bis in die 1910er Jahre Teil von Unterhaltungsprogrammen, in denen Aktualitäten und Attraktionen als Teil eines Varietéprogramms öffentlich vorgeführt wurden. Die Grenze zwischen Tier und Betrachter ist sichtbar. Die Gitterstäbe rastern das Bild. Im Unterschied zur Scheibe des Zoohabitats, die als Medium der Transparenz fungiert, stehen die Gitterstäbe des Käfigs auf der Seite der Opazität – mit Louis Marin – auf der Seite der Gegenwart der Materie oder des Fleisches. Abbildung 1: IN DEN DIERENTUIN VAN ANTWERPEN
Quelle: IN DEN DIERENTUIN VAN ANTWERPEN (B 1910, R: Herman Burton)
Ansichten aus dem Antwerpener Zoo um 1910 werden in IN DEN DIERENTUIN VAN ANTWERPEN (B 1910, R: Herman Burton) präsentiert. Es beginnt mit einem Panorama des Gartens, den Tierhäusern und Wegen. Danach folgt die Vorstellung des Tierbestands. Die Tiere werden eines nach dem anderen ins Bild gesetzt, wobei jedes Tier zunächst im Zwischentitel als Vertreter seiner Art vorgestellt wird. Die aus der Zeit vor 1910 stammenden Aufnahmen aus dem Antwerpener Zoo, einem der ältesten Zoos in Europa, zeigen konventionelle Stallungen und Tierhäuser, Vogelvolièren und Freigehege. Die Zoobesucher sind Damen
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und Herren mit Hüten oder Kinder beim Elefantenritt. Weitere Themen der frühen Zoofilme vor 1920 sind die Tierpflege, die Tierdressur, das heimische Wohnzimmer als Zoo oder die Jagd auf Wildtiere. Wie beispielsweise die Filme von Alfred Machin zeigen, wird der Zoo neben den dokumentarischen Filmen auch innerhalb von kleinen Spielhandlungen gezeigt. Das Sammeln lebender Tiere zum Zweck des Ausstellens im Zoo ist um die Jahrhundertwende nur eine von zahlreichen Formen der Verwertung exotischer Tiere. Die Schaustellung lebender Tiere ist kaum zu trennen von der Präsentation von Fellen, Zähnen und Federn des toten Tiers, die in der Mode, im Bereich der Innenarchitektur, als Jagdtrophäe oder Sammlerstück hoch geschätzt sind. Besonders in den Filmen des frühen Kinos der 1910er Jahre zieren Tierfelle mit Löwen- oder Tigerkopf häufig die Fußböden der bürgerlichen Salons. Auf spektakuläre Weise werden Zoo und Kino in Hitchcocks Film SABOTAGE (UK 1936) ins Verhältnis gesetzt.4 Die Zooszene spielt im Aquarium und ist vor allem dramaturgisch und im Hinblick auf die innerfilmische Selbstreflexion des Kinodispositivs von zentraler Bedeutung. Hauptfigur des Films ist der Kinobesitzers Verloc (gespielt von Oscar Homolka). Verloc steht unter dem Verdacht, einer geheimen Terror-Organisation anzugehören. Um ihn zu beschatten, quartiert sich ein Agent von Scotland Yard (John Loder) neben Verlocs Kino als Gemüsehändler ein. Der Ort, an dem Verloc seinen Auftraggeber trifft, ist das Aquarium des Londoner Zoos. Verloc soll ein Paket mit Sprengstoff an einem vorgegebenen Termin am Piccadilly Circus deponieren. Im Rahmen der Zoo-Sequenz kommt es zu einer spektakulären Imagination Verlocs. Im beleuchteten Fenster des Aquariums ist anstatt der Fische plötzlich Piccadilly Circus zu sehen. Gleich darauf wird das Wahrzeichen Londons von einer Explosion erfasst, stürzt in die Tiefe, und das beleuchtete Aquariumfenster mit den Fischen kehrt in den Rahmen zurück. Innerfilmisch ist dieser Effekt mit der subjektiven Sicht des Kinobesitzers Verloc verbunden, der in der Schauanordnung des Aquariums die Schauanordnung des Kinos wiedererkennt. Jedoch ist nicht nur Verloc, sondern auch der Zuschauer in das Kinodispositiv eingespannt. Zum einen, weil Filmesehen in den 1930er Jahren gleichbedeutend war mit ins Kino gehen. Vor allem aber dadurch, dass wir das innerfilmische Kino den gesamten Film über immer wieder durchqueren, um in Verlocs Wohnung zu gelangen – mit dem Kinobetreiber, seiner Frau, deren kleinem Bruder, der Kassenfrau oder mit dem Detektiv von Scotland Yard. Um den Anschlag auf
4
Vorlage zu Hitchcocks Film SABOTAGE war Joseph Conrads Roman The secret Agent.
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Piccadilly Circus vorzubereiten, wird Verloc kurze Zeit später angetragen, einen bestimmten Laden aufzusuchen, um dort den Sprengstoff zu beziehen. Dieser erweist sich, ähnlich wie Jahre später der Laden aus THE BIRDS (USA 1963), als Zoo-Handlung. Bis unter die Decke gefüllt mit Käfigen, ist das Geschäft der Inbegriff der Domestizierung des Tiers als Haustier. In einem Hinterzimmer des Ladens wird die Planung des Anschlags fortgesetzt, und der Sprengstoff wird zum verabredeten Zeitpunkt, versteckt im Boden eines Kanarienvogel-Käfigs, in die Wohnung des Kinobetreibers geliefert. Die Scheibe wird in der Zooszene des Films SABOTAGE zu einer Leinwand für die Imagination des Kinobetreibers. Das Spiel von Transparenz und Opazität wird auf einer imaginären Ebene durchgespielt. Im Unterschied zu JURASSIC PARK wird die Scheibe nicht als physische Grenze, sondern als Projektionsfläche inszeniert. Abbildung 2: NÉNETTE
Quelle: NÉNETTE (F 2010, R: Nicolas Philibert)
In aktuellen Zoofilmen wird das Dispositiv des Zoos in Überlagerung mit der Anordnung des Kinos vorgeführt. NÉNETTE ist das filmische Portrait eines Orang-Utans aus der Menagerie du Jardin des Plantes in Paris. Dass der Filmtitel den Namen des Orang-Utans trägt, ist kein Zufall. Denn das Tier hat bei den Besuchern eine gewisse Berühmtheit erlangt. Nénette gehört zu den letzten Menschenaffen, die nicht in Gefangenschaft geboren sind – »ein Orang-Utan-Weibchen aus Borneo, 40 Jahre alt, 37 Jahre davon in Gefangenschaft.«5 Der Film beschränkt sich auch nicht auf das Portrait, sondern
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Nicolas Philibert, in: Katalog des 41. Forum des Jungen Films der Berlinale, Berlin 2010, S. 81.
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bietet gleichzeitig eine präzise Studie über die Schau- und Höranordnungen von Zoo und Kino. Die Anordnung in NÉNETTE ist denkbar einfach: Die Bildebene gehört den Tieren, die Tonebene dagegen ist den Menschen vorbehalten. Im Unterschied zu den Zoofilmen des frühen Kinos, in denen Tiere als Teil einer Enzyklopädie mit hohem Schau- und Repräsentationswert ausgestellt wurden, stehen in NÉNETTE die Betrachtung des Dispositivs und damit die Bild- und Tonebene im Vordergrund. Anders als Wildtiere in einem Käfig wird Nénette als Zootier gezeigt, und es wird dieser Kontext akustisch hörbar gemacht. In langen Einstellungen und mit überwiegend starrer Kamera wird der Orang-Utan aus einer außerhalb des Geheges liegenden Position aufgenommen. An die Stelle von Schwenk, Zoom oder schnellen Schnitten tritt eine Perspektive, die sich an jener orientiert, die der Besucher im Affenhaus real einnehmen kann. In einer Szene des Films wird die Glasscheibe des Affengeheges gereinigt. Der Schaum des Putzmittels hinterlässt Spuren und macht die Grenze sichtbar. Auf der Tonebene ist das Geräusch von fließendem Wasser zu hören. In der Störung (Schaum des Putzmittels) wird die Trennung zwischen Mensch und Tier im Film gegenwärtig. 6 Daneben wird die Scheibe als Spiegelung in Szene gesetzt. In dieser Spiegelung treten Mensch und Tier in eine momentane, imaginäre Beziehung. Das Bild von den OrangUtans wird gebrochen durch das Bild von den Menschen vor der Scheibe. Die Verbindung zwischen Mensch und Tier, die der Film auf der ästhetischen Ebene erzeugt, besteht in der Zusammenkunft von Tierbild und Menschenstimme sowie in diesen Spiegelungen. Wie Schatten auf der Scheibe, die zugleich aber auch den Blick auf die Orang-Utans hinter dem Glas freigibt, werden die Menschen für Momente gespensterhaft im Bild sichtbar. Wie der Film die technischen Mittel wie Kadrage, Schnitt oder Tiefenschärfe zur Präsentation der Tiere einsetzt, ist auch das ›präfilmische‹ Tier im Zoo, so legt es der Film nahe, in eine Darstellungslogik eingebunden. Indem die Spiegelung der Scheibe aktiv inszeniert wird, erscheint Nénette nicht als ein reales Tier, sondern als ein Zootier samt seiner medialen Hervorbringung. Die Schauanordnung des Zoos und des Kinos sind ununterscheidbar geworden. Wie die Leinwand des Kinos ist die Glasscheibe im Zoo im Idealfall unsichtbar. Zoo und Kino zeigen eine mediale Illusion ›realer‹ Tiere. In der Vergegenwärtigung der Glasscheibe bzw. der Kinoleinwand erweist sich Nénette als ein mediales Tier, als ein CineOrang-Utan – nicht nur im Kino, sondern auch im Zoo. Neben den Bildern des Orang-Utans im Gehege, dessen Fell stets mit ein paar Spänen Holzwolle als das Fell eines Zootiers markiert ist, tragen Ton und Sound
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Die Scheibe wird im Film teilweise auch von innen, von den Orang-Utans, geputzt.
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wesentlich zur Illusion des Zoobesuchs bei. Zu hören sind die Hintergrundgeräusche des Affenhauses, spontane Äußerungen von Besuchern, Kommentare zu Nénette und in einer Szene Musik. In der Postproduktion werden Bild und Ton nach dem Prinzip »wir sehen die Tiere im Käfig, ohne sie zu hören, und hören die Menschen vor dem Käfig, ohne sie zu sehen«7 montiert. Auf jegliche Verbindung der getrennten Sphären von Mensch und Tier durch Gegenschuss oder Umschnitt wird verzichtet. In der Rezeption des Films verbinden sich diese beiden Sphären zu einer komplexen Illusion.
3. D IE S CHEIBE
ALS M EDIUM DER ANTHROPOLOGISCHEN D IFFERENZ
Die Glasscheibe trennt die Bereiche zwischen Mensch und Tier. Im Unterschied zu den Gitterstäben eines Käfigs ist die Glasscheibe durchsichtig und auf Unsichtbarkeit angelegt. Im Akt der Reinigung sowie in den Spiegelungen der Besucher wird die Scheibe sichtbar. Die anthropologische Trennung des Zoos wird durch die Scheibe als physische Grenze organisiert. Die Transparenz der Scheibe wird in Philiberts Film überlagert mit der Grenze zwischen Bild und Ton. Die einzige Verbindung zwischen Mensch und Tier, die der Film auf der ästhetischen Ebene schafft, besteht in der Spiegelung. Die Besucher der Menagerie sind teilweise wie Schatten in der Scheibe sichtbar, die zugleich aber auch den Blick freigibt auf die Orang-Utans hinter dem Glas. Philibert spricht von NÉNETTE als einem Spiegel unserer selbst, als »Leinwand für unsere Projektionen«. 8 Im Unterschied zum Löwen im MGM-Logo dessen Stimme aufgenommen und damit hörbar gemacht wird, inszeniert Philibert die Abwesenheit der Tierstimmen. Sobald sich Menschen hinter Glas befinden (z.B. in öffentlichen Gebäuden), sind sie mit Mikrofonen ausgestattet. Die Tiere im Zoo besitzen dagegen keine Mikrofone. Das Habitat des Zootiers ist nicht auf Kommunikation durch Sprache angelegt. Diese Markierung der Differenz zwischen Mensch und Tier kennzeichnet den modernen Zoo. Im Zuge der französischen Revolution wurden die Tore der Menagerie für die Menschen geöffnet. Die Emanzipation der Tiere findet ein Jahrhundert verzögert im Film statt. Dass Mensch und Tier im Film einander ebenbürtig seien, ist in der klassischen Filmtheorie eine
7
N. Philibert: Katalog, 2010, S. 81.
8
Ebd.
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verbreitete Position.9 Die Mittel und Möglichkeiten des Films, dem Tier eine Stimme zu verleihen (die im Logo von MGM genutzt werden), gelangen in Philiberts Film NÉNETTE nicht zum Einsatz. Wie die Beispiele aus den Filmen JURASSIC PARK, SABOTAGE und NÉNETTE nahelegen, ist die Scheibe im Medium Film nicht in einem strengen Sinne auf der Seite der Transparenz zu verorten. Die opaken Anteile der Scheibe kommen insbesondere in den Störungen zum Tragen sowie in der Abwesenheit der Tierstimmen. Oder im körperbetonten Spiel der Bewohner des Tierhabitats mit der glatten Oberfläche, in welcher Scheibe, Leinwand und Screen ununterscheidbar geworden sind.
9
Nach André Bazin genießt »der Mensch [im Film] keinerlei Vorrecht vor dem Tier oder dem Wald«. Bazin, André: »Theater und Film« (1951), in: Ders.: Was ist Film?, hg. v. Robert Fischer, Berlin: Alexander 2004, S. 162-216, hier: S. 193.
Unterscheiden über Leichen unter Scheiben und Gleichen Zum Wahrnehmen politischer Gewalt durch spielfilmische Undurch- und Einsicht in Abscheibungen D REHLI R OBNIK
Es geht mir ums spielfilmische Wahrnehmen in Scheiben. Ich versammle eine Revue aus neun Jahrzehnten Kinogeschichte, scheibchenweise und recht kanonisch von den 1930er Jahren bis heute: eine Scheiben-Szene (bzw. im Ausnahmefall-Szenenfolge) pro Jahrzehnt. Dazu drei Ausgangspunkte: Punkt 2 gilt der Wahrnehmbarkeit dessen, wie Politik alles durchdringt; Punkt 3 gilt der Einbildung von Film in die Glasscheibe und den Dunst darauf. Punkt 1 ist eine Kontroverse im Architekturdiskurs in Österreich: über das Anhaltezentrum Vordernberg, ein Zentrum in peripherer Lage zwecks Anhaltung zur Ausreise. Geplant vom Wiener Büro SUE Architects, steht dieser Schubhaft-Häfn bzw. -Knast für »Ausreisepflichtige« seit 2014 in einem Bergbau- und Tourismusruinendorf am steirischen Alpenrand. Das Architekturbüro wurde kritisiert: Eine Migrationsbekämpfungsanlage zu planen, sei nicht okay. Das Büro wiederum verweist auf sein anspruchsvolles Design und humanitäres Bauanliegen: nicht Gefängnis, sondern »Herberge« Vordernberg, mit Aufwand bei Material und Infrastruktur samt Fitnessraum und Kiosk. Diese »Wertigkeit« schulde der abschiebende Staat den Häftlingen, sagt das Büro und betont, man habe Glasscheiben anstelle von Mauern gesetzt. Das impliziert ein Versprechen von Demokratie qua Transparenz.
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Abbildung 1: Aufenthaltsbereich im Anhaltezentrum Vordernberg
Quelle: Magazin Andererseits, TV-Sender OKTO, 23.01.2014
Konkret formuliert Architekt Michael Anhammer in einer längeren Passage des Gesprächs im Kulturmagazin Andererseits des Wiener Stadtfernsehsenders OKTO am 23.1.2014 den Anspruch von SUE Architects wie folgt: »Wenn man sich Gefängnisse anschaut, ist da halt immer dieses Innen-Außen-Thema: Innen ist eine eigene Welt, und außen ist eine andere Welt. Das wird ganz stark definiert über diese Mauer – Mauer als undurchsichtige Sache: Das macht es natürlich sehr leicht, diese Welten zu trennen. Wenn man mit Schubhaft und mit Abschiebung und mit Situationen zu tun hat, die eigentlich in Europa so still und heimlich, aber sehr präzis und perfekt funktionieren – dann wollen wir das so behandeln, dass das etwas ist, das der Staat nicht versteckt, sondern wo sich der Staat, also unsere Demokratie, herzeigt und bekennt. Und deswegen war dieser Zaun auf der einen Seite, wo man sagt: Da ist ein Innen-AußenBezug, und dann funktioniert das nicht mehr so, denn wo man reinschauen kann, passieren Dinge anders als in einem Besenkammerl.«
Ich will mit meinen Ausführungen auf kein Tribunal gegen die Architekten hinaus. Vielleicht ließe sich – in ästhetizistischer Sicht (mit etwas abgeflachtem Rancière) – ihr Bau und Argument wirklich in einem demokratischen Sinn verstehen: als Bruch mit jener Zuordnung, die besagt, Wohlfühlen und Sinn für gediegenes Design seien für Bio-Ösis da und nicht für Schubhäftlinge. Jedoch: Solch ein Demokratiebegriff wäre kulturalistisch und sensualistisch verkürzt: Hochwertigkeit und Wellness träten an die Stelle von Subjektivierung, Streit und
POLITISCHE GEWALT DURCH SCHEIBEN
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Rechten, zumal Aufenthaltsrecht. 1 Der Kerkermeister als Fitnesscoach und Herbergsvater; ein Demokratieanspruch versinkt da im Behaglichen und GutGebauten. Pure Ideologie ist die Rede seitens des Büros von Glasscheiben, die Heimlichkeit verhindern sollen – bei einem Bau, der in der Alpen-Pampa steht. Vordernbergs Scheiben bewirken nicht Sichtbarkeit, sondern: Wie das helle Holz helfen die Scheiben und der Hinweis auf sie, etwas im öffentlichen Diskurs unsichtbar zu machen – nämlich das Fremdenpolizei-Dispositiv rassistischklassistischer Gewalt und den Beitrag ambitionierter Baukunst dazu, dass deren Mittel weniger leicht zu kritisieren sind. Mensch könnte einwenden, den EUBevölkerungen sei Polizeigewalt im Abschiebeknast mehrheitlich egal; dann ginge das Argument »Demokratie durch Scheiben statt Mauern« in Ermangelung eines besorgten Allgemeinbewusstseins zumindest ins Leere. Und schließlich: Sollte das quasi transparenzdemokratisch gut gemeinte Kalkül von SUE Architects aufgehen und sollte eine kritische (Vordernberger oder weitergefasste) Öffentlichkeit sinnlich Anteil am Alltagsleben von Schubhäftlingen hinter Scheiben nehmen, dann wäre dies, gelinde gesagt, ein Verstoß gegen deren Menschenrecht auf Privatsphäre; und etwas weniger wohlwollend betrachtet – und ohne dass für diese Einschätzung eine polemisch hohe Dosis postkolonialer Ideologiekritik erforderlich wäre – liefe es auf eine Anlage hinaus, die Häftlinge wie in einem Zoo oder einer Menschenmenagerie zur Schau stellt. Die Vordernberger Trennscheibe scheidet legal und illegal aufhältige Leute, und sie trennt das EU-Abscheibungsregime von manchen seiner hässlichen Erscheinungsformen; so hilft sie, dass es besser funktioniert. Daran scheiben sich die Geister – auch Gespenster, wie Derrida sie beschworen hat: als Chiffre der Internationale von »ontopologisch« displaced persons im Ausschluss zumal aus Schengenreich.2 In dieser Sicht sind Spuk, Heimsuchung, haunting als Gefordert-Sein einer Ordnung durch ihre Ausgeschlossenen bzw. durch die Insistenz der Wahrnehmbarkeit ihrer Ausschließungsgewalt zu verstehen.
1
Allein dieser Einwand müsste wiederum eine fast zynische Einsicht mit bedenken: Ein Aspekt von Egalität hieße, dass Migrantinnen und Migranten dasselbe Recht darauf haben sollten wie Schengen-Menschen, ihrer Wellness zu frönen, ohne mit Politik, mit Rechten und Kämpfen behelligt zu werden; das Recht, sich nicht um Rechte scheren zu müssen, macht Vollwert-EU-Subjekte aus. Möglicherweise.
2
Vgl. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M.: Fischer 1995.
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Punkt 2 ist der Versuch einer These. Es gibt eine Obsession von Spielfilm an Glasscheiben. Gäbe es sie nicht, hätte mein obsessives Rumrutschen auf ihnen kein Gegenüber. Was haben wir von dieser Obsession? Die Scheibe als FilmBild von Machtverhältnissen. Die Macht ist gegendert, kapitalisiert, ethnisiert. Sie erscheint nicht direkt: Die Scheibe ist Ort, Medium, zeitlich gespieltes Bild einer Verdeckung, die nicht aufgeht; mehr noch, im Sich-doch-Abzeichnen der Macht auf der Scheibe tritt oft noch das Gewalttätige der Macht zutage. Eben indirekt, im huschenden Wischen, lesbaren Beschlag, in Wahrnehmungs- und Benennungsverwirrung, Verdichtung und Verscheibung. Das ist ein recht konventioneller poststrukturalistischer Gedanke. Ich verbinde ihn mit politischer Theorie. Eine Kurzfassung wäre die pauschale Rancière’sche Rede (vielleicht auch raunzerte Rede3), wonach polizeiliche Zuteilungen von Funktionsorten im inegalitären Sozialen die Politik routinemäßig zum Verschwinden bringen; nur in Momenten von Störung und Erscheinen zeigt sich im aufgeteilten Sinnlichen der Gesellschaft Politik. Das aber geschieht, so Rancière, selten.4 Dieses Seltenheitstheorem wirkt mit an Rancières problematischer Analogsetzung von Politik und Kunst als Formen und Praktiken von Egalisierung. Ich will aber auf anhaltenden Spuk hinaus, nicht auf rare Kunst. Weniger kunstsinnig lässt sich Politik als Alldurchdringung von Gesellschaft mit Oliver Marchart angehen. Marcharts Antagonismustheorie hat den Vorteil, dass sie eine Spuklehre vom politisierten Sozialen andeutet; eine Ontologie als »Hantologie«, mit Anschlusspunkten in Richtung einer »politischen Affektologie«. 5 Der Reihe nach, mit Marchart: Politische Theorie ist Ontologie. Denn: Alles, was ist, ist in seinem Wesen sozial; alles Soziale ist politisch eingerichtet in der Gründung auf Abgründe von Spaltung und Konflikt, im Antagonismus. Der zeigt sich uns aber, so wie das Sein des Politisch-Sozialen, nie direkt, sondern tritt zutage im ontischen Register von Gesellschaft und Politik. Es ist nicht oft Massenaufstand, aber ständig Politik. 6 Das entscheidend Abgründige an Marcharts Polit-Ontologie ist, dass sie uns nicht ins dionysische Chaos kippt, sondern auf Formationen unsres Alltags
3 4
»Raunzert« heißt im Wienerischen so viel wie »ständig mieselsüchtig jammernd«. Vgl. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 149.
5
Vgl. Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 437-445.
6
Vgl. Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp 2010, Kap. 9.
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verweist, wo sich nicht-loszuwerdende Konflikte und Vermachtungen auch für bildungsprivilegierte Schengenbürger/-innen manifestieren. Konflikt-Politisches ist radikal überall; erfahren wird es oft, aber nur als Wahrnehmungsstörung, Sinnesirritation, unvollständige Transparenz von Gesellschaft zu sich selbst. Vielmehr: Erfahrung ist genau diese Trübung und Störung im Wahrnehmen von Sozietät. Gesellschaft wird nicht objektiv erfahren, sondern paranoid als omnipräsentes unmögliches Ding; das ist ein Problem-Anblick. Und: Gesellschaft wird nicht ganz gesehen; den Blick auf sie verstellt die »Mauer des Antagonismus«. Soweit Marchart. 7 Aber: Wäre die Wahrnehmungsblockade, die uns das Soziale erfahren lässt, wirklich eine Mauer, würden wir gar nichts sehen. Die Stimmigkeit seines Arguments und die Realität sprechen dafür, dass da vielmehr – eine Scheibe ist. Wahrnehmen von Gesellschaft ist Erfahrung einer Scheibe – nicht Durchsicht durch sie, sondern ihr Wahrnehmen als Gespensterplattform. Was aber, wenn die Scheibe ganz clean ist, unbeschlagen, ohne Sprung? Selbst dann dämpft sie den Ton, sorgt auf diese Weise für Blockade als Sozialerfahrung, für Erfahrung des, so Marchart, »Rumorens des Antagonismus«.8 Und außerdem: Wer macht denn, dass Scheiben so oft clean sind? Migrantische Arbeitskräfte und meist weibliche Haus-Putzkräfte. Politik auf der Scheibe: als Spur, als Spuk, als Spucke oder anderer Flüssigkeitsrückstand. Ein paar Worte Theorie noch zum Proto-Theoretischen am Film. Ich versuche mich am Wort Einsicht, insight, als Name für das, was an Filmwahrnehmung wahrheitsfähig und kritisch ist. Sicherlich kommt diese Art von Einsicht der Art von Film, die mich anzieht, entgegen – Thriller, Horror, Formen von Mindgame, auch Komödie und Melodram: Einsicht nehmen, Hineinschauen, mitunter auch vor dem Filmbild »Einschau’n« (so ein ostösterreichischer Name für ein Kinderspiel des Nicht-Hinschauens). Einsicht hängt am Sinnlichen, ohne in es verliebt zu sein. Einsicht ist nicht Erkennen als Durchblick; der ist eher Sache von Rationalisierung, von Erkennungsdienst oder von Ideologiebehauptungen wie im Anhaltezentrum. Einsicht ähnelt Heide Schlüpmanns am Kino geformter »Theoria«, dem Abbruch eines Zuges zu den Ideen9 (wiewohl es sie zur Philosophie, als Frage nach den
7
Vgl. O. Marchart: Das unmögliche Objekt, S. 329; S. 318.
8
Ebd., S. 435f.
9
Vgl. Schlüpmann, Heide: Öffentliche Intimität. Die Theorie im Kino, Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld 2002, S. 92.
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Lebensformen von beschädigtem und untätigem Leben, hinzieht 10). Einsicht hat was von Bescheidung: Einsichtigsein als Selbstreflexion, aber nicht in Demut vor der Evidenz der Welt; es geht da sehr wohl um Sicht, Perspektive, Deutung, aber im Anerkennen dessen, dass Film-Wahrnehmen steht und fällt mit einem Moment von Nicht-Handeln. Die Welt sehen und dabei die Erfahrung machen, nicht eingreifen zu können, wie hinter Glasscheiben; was aber dem EingreifenWollen, dem Wunsch nach Einmischung in die Welt und ihre Machtverhältnisse nicht abträglich ist. Anders gesagt: Einsicht ist affin zu Kracauers »aktiver Passivität«11, aber wieder – nicht als Quietismus, sondern als Beziehung zu Welt und Bild als Sicht: diese eine Sicht, nicht irgendeine. Sie versteht sich nicht nach dem Modell der Macher, des Filme machenden Kreativwillens, sondern sieht ein in sich selbst als Wahrnehmen, als Film-Schauen. Mit Schlüpmann gesagt: Das mit der Einsicht ist eine Frage der Einbildung und wie sie im Kino geformt wird. Worin bilden wir uns ein? In welchem Weichbild formen sich Leute und Sozietäten? Per Einbildung in Fürsten? In ein Unternehmer-Subjekt, einen gesunden weißen Normalkörper? Bei Schlüpmann ist Film Einbildung, die die Machenden ein Stück weit enteignet, weil sich ihr Bildmachen einbilden muss ins zerstreute Wahrnehmen anonymer Vieler. Die können sich dann, so wie ich, was einbilden bzw. sich einbilden. Im Kino. Kino ist, so Schlüpmann, Ort des »Vermögens, sich in der vergesellschafteten Existenz im Verhältnis zum Außergesellschaftlichen einzubilden.« 12 Ich kann nicht wie Heide quasi im Kino sprechen. Ich spreche in Filmen. Und ich meine, dass Filmbilder Scheiben nicht nur zeigen, sondern sich in dieser Obsession auch ein Stück weit in die Scheibe einbilden. Das ist weder abstrus noch originell; so viel an Theorie sieht Film als ins Fenster eingebildet, prominent Bazins »Fenster zur Welt«, längst ein Stück Theoriefolklore. 13 Am Fenster sollten wir aber die Scheibe wahrnehmen, etwa indem wir den Dunst auf ihr fokussieren. Dunst als Begriffsbild kommt aus Deleuzes’ Logik des Sinns: Wie Dunst steigt der Sinn auf. Sinn als Ereignismoment an dem, was eintritt: Phantomhaftes, das insistiert, nicht existiert; Rest einer Realisierung, reine
10 Ein Generalmotiv von: Schlüpmann, Heide: Ungeheure Einbildungskraft. Die dunkle Moralität des Kinos, Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld 2007. 11 Kracauer, Siegfried: Geschichte. Vor den letzten Dingen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 83. 12 H. Schlüpmann: Ungeheure Einbildungskraft, S. 282. 13 Bazin, André: »Theater und Film«, in: Ders.: Was ist Film?, Berlin: Alexander 2004, S. 162-216, hier S. 198.
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Wirkung, die ein Ursachenfeld aufmischt. 14 Mit Deleuzes Logik des Sinns (die dann in seinen Theoremen zum filmischen Affektbild widerhallt 15) und in Absetzung von Bazin gedacht: Dunst ist, was an Sinn bleibt, als Naht zwischen Dingen und Sätzen bzw. Bildern, wenn wir Folgendes abziehen: intendierte Bedeutung respektive Fenster; Allgemeinbegriffe respektive Rahmen; das Ich, das sich im Bild wiederfindet, respektive Spiegel. Um auf Scheiben zu kommen, sollten wir sie nicht als Spiegel sehen. Und das Fenster? In Bazins Fenster ist entweder die Welt intendiert oder aber Intention gehemmt, und das ist mitunter sexistisch und gegen den Dunst formuliert wie in diesem Zitat: »[D]ie Leidenschaftslosigkeit des Objektivs, das den Gegenstand von Gewohnheiten, Vorurteilen, dem ganzen spirituellen Dunst befreit, in den ihn meine Wahrnehmung hüllte, ließ ihn wieder jungfräulich werden, so daß ich ihm meine [...] Liebe schenkte.«16
Das heißt quasi: Durch Demut der Kunst weg mit dem Dunst, dann kann ich mit der jungfräulichen Welt fensterln. Lieber nicht. Lieber wäre mir zum einen dies: Die Beziehung von Kino und Fenster, und zwar nicht als ein Weltverhältnis mannhafter Intention und christlicher Demut, sondern als untätige Haltung des Rausschauens, auch wenn derzeit die Erschöpfung zum Verlassen einer Einsperrung noch zu groß ist (der Wunsch aber bleibt am Leben), diese Beziehung wäre besser aufgehoben in einem Zitat von Adorno (und Horkheimer), in dem der Verzweiflungsdenker sich in die Hausfrau (paradigmatisches Gendersubjekt etwa der Scheiben-Reinigung) einbildet: »Der Hausfrau gewährte das Dunkel des Kinos trotz der Filme, die sie weiter integrieren sollen, ein Asyl, wo sie ein paar Stunden unkontrolliert dabeisitzen kann, wie sie einmal, als es noch Wohnungen und Feierabend gab, zum Fenster hinausblickte.«17 Zum anderen: Bilden wir uns lieber mit neun Filmen bzw. Szenen(folgen) aus ihnen in die Scheibe ein, zumal in die Schreibe in den Dunst seitens der Frau namens Froy.
14 Vgl. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993; Dunst erwähnt z. B. auf S. 26. 15 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, z. B. S. 143f. 16 Bazin, André: »Ontologie des photographischen Bildes«, in: Ders.: Was ist Film?, S. 33-42, hier S. 39. 17 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug«, in: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 128-176, hier: S. 147.
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T HE L ADY VANISHES (GB 1938, R: Alfred Hitchcock) THE LADY VANISHES kam Anfang Oktober 1938 ins Kino, als Großbritannien Deutschland per Abkommen die Annexion des Sudetenlandes gewährte. Hitchcocks britischer Agentenkrimi voller Geheimzeichen ist Kommentar zur Geopolitik und Antizipation sich abzeichnender Gewalt. Eine Dame, die von den Geheimklauseln im Pakt zwischen zwei Großmächten weiß (ein Jahr vor Stalins Pakt mit Hitler), verschwindet im Zug durch Osteuropa. Zug und Kino, Anlagen der traumatischen Moderne, Deportation und Projektion: Ein Verschwinden wird geleugnet oder im Appeasement ignoriert. Von der Auslöschung bleibt ein Rest: Schrift im Dunst, Abfall auf der Scheibe (der Namensschriftzug bzw. das Teesäckchen der Verschwundenen auf der Scheibe). Der Aufruf der jungen Heldin, den Zug zu stoppen, wird als Wahn abgetan. Die Dame heißt Froy (nicht Freud): »It rhymes with Joy!« So sagt sie selbst, als sie sich vorstellt. Später wird Froy durch eine Doppelgängerin ersetzt, die justament Miss Kummer heißt. T HE BEST Y EARS OF O UR LIVES (USA 1946, R: William Wyler) 1946: Der Krieg ist vorbei, auch Hollywood macht nun ein wenig Trümmerfilm, mit einer Prise Neorealismus – mit Deleuze gesagt: »Hellsicht«, 18 die gerade nicht Durchsicht heißt. Ein Air Force-Bombenschütze, der eben noch machtvolles Überflieger-Subjekt war, ist nun out of work und out of time im Verhältnis zur sich formierenden Konsumkultur, erfährt sich selbst als Geschichtsrest. Und zwar im Angesicht der Scheibe, die so blind ist wie Männerkörper versehrt sind. The bomb-sight as site of insight: Sein Gesicht in der trüben Scheibe wirkt wie ein Fossil im Eis. T HE I NNCOCENTS (Schloß des Schreckens; GB 1959, R: Jack Clayton) Noch ein britischer Film mit Dunst, in dem sich ein Ereignis abzeichnet. Viktorianische Vergangenheit im Henry James-Adaptions-Spukhorror, das Phantom der eingebildeten Sexualisiertheit der Kinder: Diese Bezugnahmen auf Frühe(re)s haben ihren Sinn in der Projektion naher Zukunft. Imaginiertes, auch das Begehren der Gouvernante, ist Antizipiertes – nämlich soziale und sexuelle Umstürze der Sixties, auch und zumal in England. In der popkulturellen Nähe dieser Prozesse werden hochgradig einprägsame Bilder aus THE INNOCENTS
18 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Kap. 1.
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nachklingen – das Gouvernantengespenst des Films (die Erscheinung der Miss Jessel im Schilf am Seeufer) als unverkennbares Zitat auf dem Cover des Debütalbums von Black Sabbath oder Swinging London-Dandy-Ikone Peter Wyngarde (Darsteller des Fernsehserienagenten Jason King), der sein Filmdebüt als DunstGeist Peter Quint hatte, sich abzeichnend auf beschlagenen Scheiben im Schloß des Schreckens. P LAYTIME (Tatis herrliche Zeiten; F/I 1967, R: Jacques Tati) Tatis Stahl- und Glas-Monument des Anbruchs einer Formungsmacht der Modulation19, der Ununterscheidbarkeit: Menschen murmeln, Dinge machen signalhafte Geräusche; etwa die Scheiben der Glastüren oder die Wechsel vom Innen zum Außen der Aquarien. Die verfügte Transparenz kann auch eine Wand sein, an der wir anrennen. Und ein Platztausch bzw. Chiasmus: Freizeit wird Pflichthandeln, Arbeitszeit gerät zum Spiel: zum Tanz mit Glasscheiben, zum Kippen dessen, was die Scheibe erfasst. I L UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe; I/BRD 1970, R: Dario Argento) Abbildung 2: IL UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO
Quelle: Il Uccello dalle piume di cristallo (I/BRD 1970, R: Dario Argento)
Noch ein tätiger Mann als Archivalie in Scheiben, musealisiert im Glas eines Galerie-Foyers als Vitrine. Über Dario Argento, der mit diesem Film debütierte, schreibt Johannes Binotto, bei diesem Filmemacher verkehre sich »die Aus-Sicht
19 Ich verwende diesen Begriff im formungsmachttheoretischen Sinn der PostfordismusAnalyse in: Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262.
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unversehens in Ein-Sicht.«20 Einsicht entsteht im Erfahren einer Filmsituation. Wie meist in Argentos Filmen, die paradigmatisch Durcharbeitungen von schmerzhaft und verwirrend nachlastenden Wahrnehmungen durch traumatisierte Zeuginnen und Zeugen sind, geht es um dies: Alles sehen, auch wenn Hinschauen schmerzt; nichts tun können, aber so vieles endlos interpretieren müssen. DIE H ARD (Stirb langsam; USA 1988, R: John McTiernan) Weiße Männlichkeit re-adjustiert ihre Bild-Macht unter dem Druck von Technisierung, Globalisierung und Genderhierarchie-Krisen am Arbeitsplatz. Thomas Elsaesser hat diesbezügliche Analysen (auch seine eigene) unter einer Deutungschiffre zu DIE HARD verdichtet, zu dem postpatriarchalen SelbstführungsMantra: Mach aus deinen Fäusten sensible Zehen – und balle dann deine Zehen zu Fäusten.21 An Scherben der Scheiben postfordistischer Büros finden Zehen ihre Empfindsamkeit und erfahren Worte ihr Global-Babel; wie der von Alan Rickman gespielte, im Filmplot deutschstämmige Ex-Terrorist und Bandenführer in der Originalfassung von D IE HARD so unnachahmlich zu einem anderen blond-deutschen Geiselnehmer sagt (bevor es knallt und klirrt): »Schieß den Fenster! Shoot the glass!« T ITANIC (USA 1997, R: James Cameron) Was natürlich ist, ist Sache von Evidenz unter Beweisdruck. James Cameron will mit TITANIC den Beweis erbringen, dass Körper ostentativ lebendig sind und moderne Geschichte ganz dem sich regenerierenden Leben gehört. Unter Beweisdruck wird Teenie-Sex auf dem Autorücksitz unter Deck zum nachgerade Bazin’schen Scheiben-Hand-Abdruck, vera iconica orgasmisch hingegebener Jungfräulichkeit: Future parents transpirieren in Semi-Transparenz. Der Wagen ist beschlagen; den Dampf drinnen kontrastiert der kalte Hauch von klamm aneinander geriebenen Händen draußen auf Deck. Vitalität gerät in dieser implizit völkischen Motivkonstellierung zur Vollblut-Wärme im Kontrast zur Kälte der ›Plutokratisch‹-Unechten und Geschminkten; denken wir an die leicht ›effemi-
20 Binotto, Johannes: »Perverse Schauplätze: Dario Argento« in: Ders. (Hg.), Tat/Ort. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur, Zürich: diaphanes 2013, S. 247-280, hier S. 252. 21 Vgl. das Kapitel zu DIE HARD in: Elsaesser, Thomas: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin: Bertz+Fischer 2009.
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nierte‹ Erscheinung des lieblosen finanzmagnatischen Ehemanns. 22 Um Natur zu behaupten, tritt hier auch Homophobie an: die Verknüpfung der Kollision, die alle Regeneration bedroht, mit zwei Matrosen als Todesboten, die im Ausguck warme Witze reißen (von wegen einander küssen, so wie Rose und Jack unter ihnen, um sich warm zu halten – oder doch nicht). Einer von ihnen sieht – zu spät – den Eisberg und ruft zu dem anderen im Krähennest neben ihm: »Fuck me!« W AR OF THE WORLDS (USA 2005, R: Steven Spielberg) Wie so oft bei Spielberg: Schmiere, dick aufgetragen. Das gilt vor allem – und im Doppelsinn – für die Szene, in der sich Tom Cruise als überforderter Vater seinen Kindern als verlässlicher Versorger präsentieren will, indem er nervös dauerredend Positiv-Denken-Floskeln aufsagt und ihnen mit fahrigen Fingern ein üppig belegtes Erdnussbuttersandwich streicht. Als die Kinder sich seinem Zwangsbeglückungsgestus verweigern, wirft er das Sandwich entnervt und wütend auf das Küchenfenster, an dessen Scheibe es mit der Butterseite kleben bleibt, um dann ominös und langsam herunterzurutschen. Wie gesagt: Das ist schmierig, aber toll ist War of the Worlds als Sammlung von Einbildungen ins Bildverbot: in ein Schauen, das sich kein Bild macht von dem, was Leben in der Hand hält. Das Bild ist indirekt als Spielbergmarkenzeichenhafter Rückspiegel, gestreut als Ablagerung von Staub, der Form wird. Körper und Bilder tauschen Platz. Der Vater muss die Funktion der Reproduktion mit wirklichkeitsmächtigen Bildern teilen und die der Generation mit Genre-Gedächtnissen. Dem Zittersturm im Wasserglas, bewirkt vom Stampfen des T-Rex, folgt, hervorgerufen – nicht bewirkt – vom Stampfen der AlienKriegsmaschinen, der Index anhaltender Krisenhaftigkeit im mittelständischen Kleinfamiliengefüge: Sandwich, eine Scheibe herabrutschend – an der Naht zwischen dem, was sehen lässt, und bloßem Objekt. (Die Scheibe ist beides, bildlich und dinglich.)
22 Vgl. zu diesen Motiven folgendes Text-Wrack: Palm, Michael/Robnik, Drehli: »Leben auf der Titanic. Version 1.0 eines Kompendiums«, in: Nach dem Film, Nr. 1: Das Kino bebt, Upload Dezember 1999: http://www.nachdemfilm.de/content/ leben-auf-der-titanic vom 01.04.2016.
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LOW DEFINITION C ONTROL (A 2011, R: Michael Palm) Michael Palms Sozialhorror-Essay, Governmentality Study trifft UntotenMystery. Ein äußerst beschlagener Film, Einbildung von Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosophie ins Massenornament als Aquarium und vice versa. 23 In und unter LOW DEFINITION CONTROL zeichnet sich noch einmal das hier bisher Gezeigte, Ge- und Beschriebene ab: die Fremdenpolizei (in Vordernberg wie auch als moderne Universalmachtform), Hitchcocks Deportation in Geheimcodes verbildlicht, Wylers Fossil-Archäologie, Spuk lebender Toter wie in THE INNOCENTS, Nachträglichkeits-Bildrätsel nach Argento-Art, Bürotürme wie in DIE HARD, Massenkatastrophen samt Reproduktions-Beargwöhnung wie in TITANIC und bei Spielberg, auch schließlich Tatis Fensterputzer an Kippscheiben zwischen Allzumenschlichem und Nicht-Humanem. Ein paranoider Kontrollblick sieht überall Schläfer; im Schläfer sieht die Kontrolle durch die Fremdenpolizei einen Terroristen und die Kontrolle durch den Chef einen Tachinierer (wie die Wiener/-innen die in der Arbeitszeit Untätigen nennen). Der Kontrollblick kann allerdings auch, dem Nicht-Arbeiten gegenüber weniger übel gesinnt, in jedem geschäftigen Tun dessen Umkippen in schiere PLAYTIME sehen: in Zeit des Nichtstuns, des Jahrmarkts und Karussells, des verhatschten Tanzes und verstolperten Witzes. Manchmal reißt der Arbeitsalltag Witze. Ösi-deutsch gesagt: Er scheibt Wuchteln.24
23 Zu diesem Film vgl. Robnik, Drehli: Kontrollhorrorkino: Gegenwartsfilme zum prekären Regieren, Wien, Berlin: turia+kant 2015, Kap. 3. 24 Vgl. etwa http://www.echtwien.at/home/literatur/lexikon/W/827 vom 09.10.2015. Das »Wuchteln-Schieben« (»Schmäh-Reißen«) wäre mit nur geringer Dialektforcierung – entlang des im Wienerischen bedeutungsreichen Scheibens für Schieben (Scheibtruhe für Schubkarre, bzw. »Da scheibt sich nix« für »Hier herrscht Tote Hose«) – ins »Wuchteln-Scheiben« zu überführen. Die Wuchtel steht im Wienerischen für eine Mehlspeise, den Ball beim Fußball, den Gag bzw. Witz und wohl noch einiges mehr.
Im Schaufenster: Arbeit hinter Glas K LARA L ÖFFLER
Wenn wir heute in kritischen Diagnosen zur Gegenwart von einer »Diktatur der Transparenz« in einem »Kapitalismus der Emotionen«1 lesen, dann ist uns ein solcher Befund nicht neu und höchst plausibel. Beispiele in sozialen Medien, in Formen der direkten Kommunikation in Konsumsituationen, aber auch in den räumlichen Ordnungen unserer Alltage drängen sich auf. Auch großflächige Schaufenster im Bereich freiberuflicher Arbeit und im Dienstleistungssektor, die den Blick auf Geschäfts- und vor allem auch auf Arbeitsräume freigeben, passen zu diesem Befund. Derartige Fassadenlösungen lassen sich nicht mehr nur in Großstädten und in zentralen Stadtvierteln, sondern auch in Mittel- und Kleinstädten finden. Doch ist das Phänomen und sind die Praktiken, die mit, vor und hinter diesen Scheiben zu beobachten sind, keineswegs so eindeutig zuzuordnen, wie pointierte Diagnosen dies suggerieren. Eine ethnografisch orientierte Stadtforschung fokussiert deshalb auf konkrete Situationen, in denen sich »Sinnesorgane, Akte des Wahrnehmens und Aktivitäten des Handelns […] innerhalb einer Praktik« 2 verschränken und in spezifischen räumlichen, atmosphärisch gestimmten Arrangements vollziehen. Dabei sind es gerade die Mehrdeutigkeiten solcher Glaskonstruktionen vor Geschäftsräumen – sie lassen sich als Fenster wie als Schaufenster definieren, als Bild wie als Raum, als Artefakt, das trennt und verbindet –,
1
Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken,
2
Reckwitz, Andreas: »Sinne und Praktiken. Die sinnliche Organisation des Sozialen«,
Frankfurt a. M.: Fischer 2015, S. 18. in: Hanna Katharina Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript 2015, S. 441-455.
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die diese in einer praxeologischen Perspektive besonders interessant erscheinen lassen. Gemessen an den Idealen ethnografischer Forschung sind es im Folgenden allerdings lediglich einzelne Blickpunkte und Momentaufnahmen, entlang derer das Potenzial einer so aufschlussreichen Konfiguration wie dem Schaufenster aufgezeigt werden soll. Dazu werde ich nach einer einführenden Gegenüberstellung der Qualitäten von Fenster und Schaufenster am Beispiel der Stadt Wien, insbesondere von Stadtvierteln im Gentrifizierungsprozess, auf den gegenwärtigen Umbau von Geschäftsarchitekturen eingehen und mich schließlich auf eine für die Subjektivierung und Emotionalisierung von Arbeitswelten so symptomatische Branche wie das Friseurgewerbe und auf die hier zu beobachtenden Raumstrategien rund um die Schaufensterscheibe konzentrieren.
F ENSTER
UND / ODER
S CHAUFENSTER
In einem Band, in dem er die Raumordnungen unseres Wohnens diskutiert, unterstreicht der Kunstwissenschaftler Gert Selle in den Ausführungen zum Fenster das Moment der Abstraktion: »Das Fenster abstrahiert die Außenwelt zum geometrisierten Bild und teilt sie in Sektoren des Sichtbaren und des Nichtsichtbaren ein ...«3 Das Fenster ist durchsichtig, verspricht Durchlässigkeit und Nähe, ist aber gleichzeitig unüberwindlich. Es lässt nur Blicke zu, fast zur Gänze verschließt es sich anderen sinnlichen Dimensionen wie dem Taktilen, dem Akustischen oder dem Olfaktorischen. Die Materialität der Scheibe tritt zurück; nur in der Störung oder Zerstörung wird diese bewusst. Sehen wir durch ein Fenster aus einem Innenraum hinaus, so rahmt und diszipliniert das Fenster den Blick. Deutlich wird da die »Nachbarschaft oder Symbiose von Fenster und Bild« 4. Sehen wir in das Fenster von außen hinein, so wird dieser Blick oftmals durch technische oder textile Lösungen reguliert, aber auch grundsätzlich durch die Konventionalisierung dieses Blicks eingeengt oder auch verwehrt. Das Schaufenster dagegen lässt sich mit der Anglistin Laura Bieger als Bestandteil von Räumen klassifizieren, »in denen Welt und Bild sich überblenden und wir buchstäblich dazu eingeladen sind, uns in die Welt des Bildes
3
Selle, Gert: Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wohnens,
4
G. Selle: eigenen vier Wände, S. 51.
Frankfurt a. M./New York: Campus 1993, S. 49.
IM SCHAUFENSTER
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hineinzubegeben und uns in ihr zu bewegen.«5 Basierend auf ihren Forschungen zu urbanen Bildräumen und einer Ästhetik der Immersion betont Bieger die »affektive Mobilisierung«6 durch räumliche Installationen wie Schaufenster. »Die Scheibe«, so der Philosoph Rüdiger Zill, »trennt den Ort der Dinge von dem des Betrachters und gleichzeitig ist sie der Ort ihrer Vermittlung.« 7 Diese Form der Mobilisierung von Aufmerksamkeit und von Gefühlen sowie die daraus resultierenden Praktiken sind ebenso konventionalisiert wie die Praktiken im Umgang mit Fenstern. Der Schaufensterbummel und das ausgiebige Betrachten der ausgestellten Waren wurden in einer langen Geschichte der Schaufensterdekoration 8 habitualisiert. Schon im 19. Jahrhundert, mit dem »Übergang vom geschäfts- zum warenzentrierten Schaufenster«9 entwickelten sich neue Formen des flanierenden und zerstreuten Blicks auf Waren, des Zusammenspiels von Schauen und Kaufen, der Schaulust und des Schaufensterbummels im Straßenraum. Dank der stetigen Verbesserung der Glasgusstechnik und der gestalterischen Möglichkeiten durch eiserne Skelettkonstruktionen10 gehörten Schaufenster bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zum selbstverständlichen und viel diskutierten Bestandteil des Straßenbildes ebenso wie der Selbstbeschreibungen als moderne Stadt. Doch während ein Autor wie Adalbert Stifter 1844 die Verdichtung prächtiger Auslagen in den
5
Bieger, Laura: »Ästhetik der Immersion: Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben«, in: Gertrud Lehnert (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: transcript 2011, S. 75-95, hier S. 75.
6
L. Bieger: Ästhetik, S. 75.
7
Zill,
Rüdiger:
»Im
Schaufenster«,
in:
Image
September
2008,
http://
www.gib.unituebingen.de/image/ausgaben?function=fnArticle&showArticle=144 vom 13.09.2015, S. 10. 8
Einen Überblick insbesondere zur Geschichte des Schaufensters gibt Lindemann, Uwe: »Schaufenster, Warenhäuser und die Ordnung der ›Dinge‹ um 1900: Überlegungen zum Zusammenhang von Ausstellungsprinzip, Konsumkritik und Geschlechterpolitik in der Moderne«, in: Gertrud Lehnert (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: transcript 2011, S. 189-215. Hervorzuheben sind für die Entwicklung in Wien der Ausstellungskatalog von Breuss, Susanne: Window Shopping. Eine Fotogeschichte des Schaufensters, Wien: Wien Museum u. Metroverlag 2010; und für Berlin: König, Gudrun M.: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2009.
9
U. Lindemann: Schaufenster, S. 191.
10 Rinke, Stefanie: »Schaufenster«, in: Arch+ 191/192 (2009), S. 90.
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Straßen und auf den Plätzen Wiens bewunderte,11 wurde von anderen, etwa von Theologen, vor allem das Verhalten der Passantinnen und Passanten und Betrachter/-innen vor den Schaufenstern harscher Kritik unterzogen. 12 Die permanenten Fortschritte in der Glasherstellung führten zur ständigen Erweiterung von Glasflächen und zu deutlichen Veränderungen nicht nur der Gebäudefassaden, der stärkeren Durchlässigkeit dieser Fassaden, sondern insgesamt des Straßenbildes, insbesondere bei Nacht. Namhafte Architekten wie Otto Wagner, Adolf Loos, Oswald Haertl widmeten sich der Bauaufgabe Ladenarchitektur und Schaufenster sowohl theoretisch als auch praktisch. Früh professionalisiert war die Arbeit des Dekorateurs nicht nur zeitweise der bestbezahlte Arbeitsplatz im Bereich des Einzelhandels,13 sondern wurde auch als künstlerische Tätigkeit bewertet.14 Dabei wurden Waren in diesem zwischen Straße und Geschäftslokal positionierten Zwischenraum in sehr unterschiedlichen Formen und Variationen inszeniert. Zur Hochzeit des warenzentrierten Schaufensters im Wien der 1920er/1930er Jahre gehörten auch mechanisch bewegte Szenen und lebendige Schaufensterfiguren, also Personen, die im Schaufenster Waren vorführten, zum Gestaltungsrepertoire. 15 Mit der elektrischen Beleuchtung (in Wien ab den 1880er Jahren) wurde Licht zu einem zentralen Medium der Gestaltung und das Schaufenster noch deutlicher zu einem Raum der Imagination. Doch war und ist das Schaufenster nicht nur »Experimentierfeld des Zeigens«, sondern ist und bleibt auch das Neue des Zeigens und des Gezeigten auf Akzeptanz bei Publikum und Konsumentinnen und Konsumenten angewiesen. 16 In seinen semiologischen Analysen von Schaufenstern spricht der Kulturwissenschaftler Guido Szymanska von »Wunschwirklichkeiten«17. Insofern variieren auch heute je nach visueller Kultur im Kontext räumlicher und sozialer Strukturen einer Straße oder eines Viertels die Formen der Inszenierung von Schaufenstern, auch wenn der Guckkasten mit Seiten- und Rückwand weitaus seltener zu
11 Zitiert nach S. Breuss: Window Shopping, S. 11. 12 S. Breuss: Window Shopping, S. 12. 13 S. Breuss: Window Shopping, S. 26-28. 14 Vgl. S. Breuss: Window Shopping, S. 28-31 und G. König: Konsumkultur, S. 126-141. 15 S. Breuss: Window Shopping, S. 32. 16 G. König: Konsumkultur, S. 141. 17 Szymanska, Guido: Welten hinter Glas. Zur kulturellen Logik von Schaufenstern, Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde Verlag 2004, S. 31.
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finden ist als die zu den rückwärtigen Innenräumen offenen, großzügigen Schaufensteranlangen.
ARBEIT IM S CHAUFENSTER : AUSLAUFMODELLE UND Z WISCHENLÖSUNGEN Die Gentrifizierung der Wiener Stadtbezirke nicht nur, besonders aber zwischen sogenanntem Ring (der den 1. Bezirk umschließt) und Gürtel lässt sich an vielen Details, Straßenzug für Straßenzug beobachten. Besonders anschaulich wird dies an den Erdgeschoss- und Souterrainzonen und deren schrittweisem Wandel. In der Raumstruktur Wiens spiegeln sich die Urbanisierungsschübe und entsprechenden Raumordnungen des 19. Jahrhunderts. Die Straßenräume sind dadurch geprägt, dass sie verhältnismäßig – in der Relation zu den Gebäudehöhen – eng sind und die Lichtversorgung der unteren Geschosszonen dadurch sehr schwach ist. Diese Raumsituation aber kollidiert mit der heutigen Gesetzeslage, sodass Räume in Erdgeschossen und Souterrains zunehmend häufig aufgelassen werden.18 Nach wie vor aber gibt es kleine Handwerksbetriebe im Souterrain, deren Betriebsräume durch Kellerfenster nur notdürftig beleuchtet sind. Auch im Erdgeschoss finden sich nicht wenige kleine und mittlere Geschäfte unterschiedlichster Art: Bäcker, Metzger, Friseure bis hin zu Knopf- und »Zuckerlgeschäften«. Deren Fassaden variieren sehr stark; in der Gestaltung von Eingangszonen und Schaufenstern, Schriftzügen und Logos überlagern sich Muster und Moden des Ladenbaus nicht nur des 20. und 21., sondern auch des 19. Jahrhunderts. Dank einer Mietgesetzgebung, die in ihren Grundzügen auf das Rote Wien der 1920er/1930er Jahre zurückgeht, gibt es noch relativ viele dieser vor allem kleinen Ladenlokale und alten Mietverträge. Die Schaufenster solcher Räume sind sehr individuell und eigensinnig, am wenigsten professionell gestaltet. In den seltensten Fällen ist der Blick in den Ladenraum und auf diejenigen, die im Raum bedienen oder auch an Kunden oder Werkstücken arbeiten, zur Gänze frei. Am ehesten zeichnen sich im Fall von Friseursalons älteren Datums einheitliche Formen ab, denn hier findet man immer wieder das mit großformatigen Fotos von Frisurenmodels dekorierte Schaufenster, dessen Hintergrund und Abschluss gegenüber dem Innenraum ein
18 Vgl. dazu Psenner, Angelika: »Architektur und Soziologie«, in: Andrea Riegler-Jandl/ Mariella Dittrich, Architektur transdisziplinär, Wien: Institut für vergleichende Architekturforschung Verlag 2008, S. 137-157.
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Vorhang bildet. Das Schaufenster ist hier am ehesten Guckkasten; ähnlich den textilen Architekturen in privaten Innenräumen schirmt der Vorhang das Geschehen im Innenraum ab. Mit dem Generationenwechsel und trotz aller Bemühungen der Stadt Wien, diese Erdgeschosszonen aufzuwerten und über künstlerische Interventionen neu zu beleben19, werden solche Ladenlokale etwa in Garagen umgebaut oder aber – dies meistens nur als Zwischenlösung – als Büro- und Arbeitsräume insbesondere an kleine Startup-Unternehmen vermietet. In diesen zumeist schwer auszuleuchtenden und schlecht beheizbaren Räumen siedeln sich kaum größere Firmen an. Zumeist sind es kleinere und junge Bürogemeinschaften, die hier kurzfristige Mietverträge eingehen. Der große Teil dieser Arbeitsgemeinschaften lässt sich dem Umfeld der Kulturwirtschaft und der von Richard Florida so nobilitierten »kreativen Klasse« zuordnen. 20 Mit dem Wechsel der Mieter ist in der Regel eine Umgestaltung der Fassaden verbunden; mit von der Fassadenindustrie vorgegebenen Profilsystemen und Glasrasterfassaden ist dieser Umbau relativ schnell und vor allem billig zu bewerkstelligen. Gestaltet werden diese – im Vergleich zu vorher – größeren Fensterflächen als Schaufenster und gleichzeitig als Fenster genutzt: die Schreibtische werden relativ nahe an die Scheiben herangerückt. Dieses Heranrücken an die Raumgrenze wirkt zunächst sehr selbstbewusst, als offensives Sichtbarmachen von Arbeiten und Aufgaben, die anderen, die nicht in der jeweiligen Branche beschäftigt sind, oft abstrakt bleiben und unverständlich sind. Die zumeist eher improvisierten Schreibtische sind im Verhältnis zur Raumgröße oftmals überdimensional groß und dicht mit Papieren, dem sichtbaren Arbeitsmaterial, bestückt. Doch lässt sich, sofern eine Bürogemeinschaft überhaupt länger in diesen Räumen residiert, beobachten – und das bestätigt sich in Gesprächen mit Bürogemeinschaften –, dass von dieser Darstellung im mehrfachen Wortsinne abgerückt wird: die Schreibtische werden nach nicht allzu langer Frist umgestellt, von der Fensterfront hinein deutlicher in der Tiefe des Raumes positioniert. Man wolle nicht wie in einem Schaukasten sitzen, in Ruhe arbeiten. Es sind, auch das wird in Gesprächen deutlich, keine konkreten Anlässe (Passanten, die stehen
19 Vgl. dazu Texte und Interviews in Stadt Wien, MA 18 Stadtentwicklung und Stadtplanung (Hg.), Perspektive Erdgeschoss (= Schriftenreihe Werkstattbericht Nr. 121), Wien 2011, https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/b008355.html vom 19.09.2015. 20 Vgl. dazu Merkel, Janet: Kreative Milieus, in: Frank Eckardt (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 689-710.
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bleiben und hereinschauen), die zu solchen Umgestaltungen führen, sondern es ist vielmehr ein diffuses und lange nicht eingestandenes Unbehagen, das dazu führt. »Praktisch« ist dann das Wort und das Argument, das gebraucht wird und mittels dessen diffuse Gefühle rationalisiert werden, wenn es um die Frage der Umgestaltung geht. Von außen betrachtet lässt sich kaum ein Hinein- oder auch ein Hinunterschauen (wenn es sich um Räume im Souterrain handelt) beobachten. Es sind eher zufällige, wie verwischte und verrutschte Blicke auf Augenhöhe auf die Arbeit, zumeist Schreib- und Zeichenarbeit anderer, Blicke im Vorbeigehen, in dieser gezielten, zielgerechten Gangart, die den Alltag und die routinierte Bewegung durch den Raum (nicht nur einer Stadt) ausmacht.21 Dieser Gangart entspricht das Sehen als Sinn der Distanzierung und Abstraktion, das Sehen in spezifischen »Blickkorridoren«22, die mit der jeweiligen Organisation von Räumen korrespondieren. Ein Hineinschauen, mehr aber noch ein Hinunterschauen als »gerichtete Form sehender, aktiver Aufmerksamkeit«23 widerspricht diesen Blickordnungen, wie sie in komplexen Interaktionszusammenhängen und auf den alltäglichen Wegen nicht nur in städtischen Räumen eingeübt und funktional sind. Das eigene Hinein- und das Hinunterschauen in Erdgeschoss- und Souterrainräume kann dann schnell als Zudringlichkeit empfunden werden und sich im Gefühl der Indiskretion, zumindest der mangelhaften Diskretion verdichten – gerade dann, wenn man sich selbst in der Schreibe gespiegelt sieht.
ARBEIT IM S CHAUFENSTER : NEUE S ELBSTVERSTÄNDLICHKEITEN ? Diese Beobachtungen stützen Georg Simmels viel zitierte Einlassungen über den Großstadtmenschen, über dessen Grundstimmung der »Reserviertheit«. Gleichzeitig aber relativiert Simmel diesen Befund:
21 Vgl. dazu Löffler, Klara: »Streckenänderung. Aus gegebenem Anlass«, in: Dies./Brigitta Schmidt-Lauber/Ana Rogojanu/Jens Wietschorke (Hg.), Wiener Urbanitäten. Kulturwissenschaftliche Ansichten einer Stadt, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2013, S. 284-298. 22 Hirschauer, Stefan: »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns«, in: Karl M. Hörning/Julia Reuter, Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: Transcript 2004, S. 73-91, hier S. 80. 23 Hasse, Jürgen: Fundsachen der Sinne. Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens, Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2005, S. 51.
134 | LÖFFLER »In dem Maß, in dem die Gruppe wächst – numerisch, räumlich, an Bedeutung und Lebensinhalten – in eben dem lockert sich ihre unmittelbare innere Einheit, die Schärfe der ursprünglichen Abgrenzung gegen andere wird durch Wechselbeziehungen und Konnexe gemildert; und zugleich gewinnt das Individuum Bewegungsfreiheit.«24
Neue Freiheiten, womöglich neue Selbstverständlichkeiten lassen sich in den besonders rasch verändernden Räumen Wiens beobachten. In bestimmten Vierteln herrscht Stagnation, sind die Leerstände besonders groß, doch in gentrifizierten Stadträumen mit hohem Anteil an Akademikern und Freiberuflern, wie etwa dem Neubauviertel oder dem Freihausviertel, werden in dichter Folge Räume in Zonen mit erhöhtem Erdgeschoss, aber auch im Mezzanin (einem Zwischengeschoss zwischen Erdgeschoss und 1. Stockwerk) als Geschäftsräume adaptiert. »Die Stadt Wien«, so das Urteil der Architektin und Stadtplanerin Angelika Psenner, »vollzieht eine Bewegung ›nach oben‹.«25 Hier siedeln sich Planungsbüros ebenso an wie Friseurgeschäfte, Fitness- und Tanzstudios, auch Fahrradläden mit angeschlossenen Werkstätten vor allem eines hochpreisigen Segments. Ausgestattet sind derartige Geschäftsräume mit großzügigen Glasfassaden und lichtdurchfluteten, zumeist in kühlem Weiß26 puristisch ausgestalteten und sparsam möblierten Räumen. Es werden alle Register der Eindruckstechniken der Innenarchitektur27 gezogen, es wird mit den Möglichkeiten der Baukonstruktion und der Raumordnung, der Lichtführung 28 und der Akustik, mit unterschiedlichsten Formen und Materialien gearbeitet, um eine besondere Atmosphäre zu schaffen, um Stimmungen der Kunden zu beeinflussen. Diese Räume sollen ihre Wirkung auch gegenüber Passantinnen und Passanten und denjenigen entfalten, die nicht Kundinnen und Kunden sind und sein können. Und diese Räume und
24 Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band 1 (= Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 7), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 132-183, zitiert nach Junge, Matthias: »Georg Simmel«, in: Frank Eckardt (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 83-93, hier S. 89-90. 25 A. Psenner: Architektur, S. 146. 26 Vgl. dazu Ullrich, Wolfgang: »Vom Klassizismus zum Fertighaus. Ein Lehrstück aus der Geschichte der Farbe Weiß«, in: Ders./Juliane Vogel (Hg.), Weiß, Frankfurt a. M.: Fischer 2003, S. 214-230. 27 Zur Planung hier von Verkaufsräumen siehe J. Hasse: Fundsachen, S. 362-372. 28 Vgl. dazu Hasse, Jürgen: »Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume«, Berlin: jovis 2012, S. 121-136 und Böhme, Gernot: Architektur und Moderne, München: Wilhelm Fink 2006, S. 91-104.
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deren Ästhetik wirken hinein in den Außenraum: »Ursprünglich reine Innenraumansprüche wie Glätte und Sauberkeit, die wiederum gerade das Weiß erfüllt, werden auf einmal ebenso auf den Außenraum übertragen, sodass für Fassaden und Plätze kaum noch eigene ästhetische Normen gelten; vielmehr haben sie sich den Innenraumidealen angepasst.«29 Die großzügigen Glasfassaden schaffen hier gleichermaßen Distanz und Nähe. Ein Effekt ist, so argumentiert Uwe Lindemann mit Tony Bennett, eine »Umkehrung des Panoptismus«: » … das panoptische Moment der Überwachung [wird] in die Öffentlichkeit selbst verlagert, in dem die neuen visuellen Ordnungen [wie sie durch solche Schaufenster repräsentiert, aber auch forciert werden; KL] suggerieren, dass jeder alles beobachten und überwachen kann.«30 Das Exponieren unterschiedlichster Formen von Arbeit, der Handwerks-, der Körper-, der Wissensarbeit, hat seine historischen Voraussetzungen in dem, was Tony Bennett als »exhibitionary complex« und als Merkmal schon der Gesellschaften des 19. Jahrhunderts definiert: das Prinzip des Ausstellens nicht nur von Dingen, sondern auch von dem, was die Persönlichkeit des Einzelnen sein soll und damit der permanenten Beobachtung unterliegt. Doch ist der Begriff des »Ausstellens« hier zu schwach – es geht vielmehr um ein »Aufführen«31 und um den Körper als inszenatorisches Moment; in der Praxis dieser Performanzen von Arbeit kommen gerade auch die performativen Qualitäten der Glasfassade bzw. der Schaufenster zum Tragen. Dies ist umso wichtiger angesichts der Anforderung einer, so die Kulturwissenschaftlerin Irene Götz, »doppelten Authentizität«: »Da sind zum einen die situativ authentischen und zum anderen die von der professionellen Interaktionssituation abverlangten Gefühle, die ebenfalls authentisch sein müssen.«32 Zumal in Bereichen des Pflege-, Beratungs- oder Bildungsmarktes geht es nicht um die gemeine »Dienstleistung«, sondern um die erweiterte Performanz der (Emotions-)Arbeit, die alle Dimensionen einer Person instrumentalisiert, auch deren Gefühle und deren Körper.
29 W. Ullrich: Klassizismus, S. 222. 30 U. Lindemann: Schaufenster, S. 199. 31 Zur Unterscheidung zwischen »Zeigen«, »Ausstellen« und »Aufführen« vgl. Schwarte, Ludger: »Politik des Ausstellens«, in: Karen van den Berg/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Politik des Zeigens, München: Wilhelm Fink 2010, S. 129-141. 32 Götz, Irene: »Körper-Wissen als Arbeitspraxis in der postfordistischen Dienstleistung«, in: Gertraud Koch/Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Wissensarbeit und Arbeitswissen. Zur Ethnographie des kognitiven Kapitalismus, Frankfurt a. M./New York: Campus 2012, S. 121-126, hier S. 123/124.
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Zur Vervielfachung der ästhetischen und emotionalen Anstrengung kommt es in einem traditionellen Feld der Dienstleistung: im Friseurgewerbe. In neueren oder auch neu eröffneten Geschäftsräumen in Vierteln wie Neubau oder Freihaus spiegeln sich einerseits die gegenwärtigen Leitmotive der gesteigerten, auch nach außen hin dargestellten Körper- und Gefühlsarbeit. In Wien wie anderswo zeigen sich zwar Mischverhältnisse zwischen den einzelnen Gewerbeformen, zwischen – in der Unterscheidung der Forscher/-innengruppe um die Soziologin Martina Löw – »Quartiersfriseuren und professionalisierten Stadtfriseuren« 33 und auch Discountern, doch wächst der Anteil jener Friseurgeschäfte, die sich in Berufsverständnis und Raumkonzept der Kreativwirtschaft zuordnen. Sarah Braun, die sich mit der Arbeitspraxis in Friseurgeschäften befasst hat, spricht von einer »Berührungsindustrie«34, die sich hier entwickelt habe. Andererseits zeigt sich zumal am Beispiel der Dienstleistung Friseur, dass und wie Routinen und weniger Performanzen diese Arbeit mit Kundinnen und Kunden prägen. In durchgestylten, hell erleuchteten Räumen von Friseurgeschäften unter einschlägigen Firmenlogos (wie »Haarmonie«, »Typgerecht Hairstyling«, »kopfart«) arbeiten nicht nur, vor allem aber Frauen an Frauen. Die Kleidung der Mitarbeiterinnen (T-Shirts, Jeans) ist weitgehend informalisiert, aber nicht formlos; da diese Informalisierung durchgängig ist, ist durchaus von einer Konvention zu sprechen. Die Arbeits- und Sitzplätze sind im rechten Winkel zur großzügigen Fensterfront angeordnet, staffeln sich also in die Tiefe des Raumes. Auch die Sitzplätze nahe an der Fensterfront sind in solchen Geschäftsräumen besetzt. Doch findet am wenigsten ein Blickkontakt mit denen, die draußen vorbeigehen oder auch stehen bleiben, statt; auch zufällige Blicke nach draußen sind selten. Man könnte annehmen, dass sowohl aus der Perspektive der Arbeitenden als auch der Kundinnen dieses Exponiertsein – wie in einem hell ausgeleuchteten Bühnenraum – zumindest unangenehm ist. Gespräche und Beobachtungen ergeben ein anderes Bild. Denn im Vordergrund des Geschehens
33 Baur, Nina/Löw, Martina/Hering, Linda/Raschke, Anna Laura/Stoll, Florian: »Die Rationalität lokaler Wirtschaftspraktiken im Friseurwesen. Der Beitrag der ›Ökonomie der Konventionen‹ zur Erklärung räumlicher Unterschiede wirtschaftlichen Handelns«, in: Dieter Bögenhold (Hg.), Soziologie des Wirtschaftlichen, Wiesbaden: Springer 2014, S. 299-327. 34 Braun, Sarah: »Wohlfühlmanager der Berührungsindustrie – Ethnografisches über den Einsatz von Gefühl und inkorporiertem Wissen im Friseursalon«, in: Gertraud Koch/ Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Wissensarbeit und Arbeitswissen. Zur Ethnographie des kognitiven Kapitalismus, Frankfurt a. M./New York: Campus 2012, S. 127-142, hier S. 127.
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steht eine zwischen Kundin und Friseurin routinierte Form der aufeinander konzentrierten, körpernahen Interaktion, deren Medium der Spiegel ist, vor dem die eine sitzt und die andere steht. Die Aufmerksamkeit der beiden ist in hohem Maß fokussiert. Diese Form der »emphatischen Arbeitshandlungen«35 freilich ist nicht nur zwischen diesen beiden Personen eingespielt und nicht erst Ergebnis einer in den letzten Jahrzehnten forcierten Kundenorientierung, sondern dahinter steht die weitaus längere Geschichte des Friseurhandwerks als personenbezogene, vom persönlichen Stil abhängige Dienstleistung, die in spezifische Raum- und Zeitordnungen eingebunden ist.36 Es lässt sich, wenn auch nur vorläufig, bei denjenigen, die sich in diesen Geschäftsräumen aufhalten, von Routinen sprechen, die zeitweiliges Unbehagen und kleinere Irritationen nicht ausschließen, aber eben auch Routinen in der Bewältigung solcher Empfindungen sind. Solche Routinen im Umgang mit dem Beobachtetwerden korrespondieren mit Routinen des Beobachtens als einer Kulturtechnik, in der sich konkrete Praktiken, mediale Codes und symbolische Operationen37 verbinden. Die eine Selbstverständlichkeit, das rasche Vorbeigehen und Wegsehen, wie es im Fall der Ladenlokale in Erdgeschoss- und SouterrainZonen zu beobachten ist, schließt die andere Selbstverständlichkeit des Bummelns und Abschweifens im Gehen und im Schauen, nicht aus, sondern ein. So wenig wie das Flanieren schon um 1900 nur eine avantgardistische Bewegungsform war und über die touristische Erfahrung demokratisiert und auch in alltäglichen, heimischen Räumen allgemeine Praxis ist,38 so wenig ist das aufmerksame Betrachten, auch das Stehenbleiben, Hingehen und Hineinschauen noch als Voyeurismus verpönt. Lag der »eigentliche Skandal des Voyeurismus […] im Verstoß gegen das für alle soziale Beziehungen geforderte Reziprozitätsprinzip«39,
35 S. Braun: Wohlfühlmanager, S. 131. 36 Vgl. Dunkel, Wolfgang: »Interaktionsarbeit im Friseurhandwerk«, in: Fritz Böhle (Hg.), Arbeit in der Interaktion, Wiesbaden: VS Verlag 2006, S. 219-234. 37 Zur Definition Kulturtechnik siehe Maye, Harun: »Was ist eine Kulturtechnik?« In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), S. 121-135. 38 Löffler, Klara: »Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird. Beobachtungen zu einer Form zeitgenössischer Schaulust«, in: Christoph Köck (Hg.), Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung aus volkskundlicher Sicht, Münster: Waxmann 2001, S. 229-239. 39 Schroer, Markus: »Der Voyeur«, in: Ders./Stephan Moebius (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 451462, hier S. 455.
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so lässt sich heute vom Vorgang des Beobachtens und Beobachtetwerdens als einem »Vergesellschaftungsmodus« sprechen, »Partizipation durch gegenseitiges Beobachten und Beobachtetwerden«40. Auch die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, wie sie sich in dieser Art von Schaufenster als Schaubühne manifestiert, ist für viele Menschen heute von großer Selbstverständlichkeit, entspricht sie doch vielfachen medialen, aber auch persönlichen Erfahrungen. Geschäftsräume, wie die oben skizzierten, die im Mezzanin oder auch einem erhöhten Erdgeschoss eingerichtet sind, wirken wie offene Bühnen in den Straßenraum hinein, stimmen die jeweiligen Straßenräume, zumal wenn es abends oder dunkel ist, in besonderer Art und Weise – sie ziehen Blicke an. Ein Verweilen und Hineinschauen, das immer wieder auch ein Hinaufschauen ist und damit sowohl der Praxis des Kino- und Theaterbesuchs als auch dem touristischen Betrachten von Sehenswürdigkeiten nahekommt, lässt sich gerade in Abendstunden immer wieder und bei sehr unterschiedlichen Personen beobachten, die sich auch dann nicht irritiert zeigen, wenn sie in diesem Schauen und Betrachten bemerkt, sprich beobachtet werden. Zumindest am Rande sei notiert, dass auch mein Beobachten als wissenschaftlich-systematisches Verfahren auf diesen Selbstverständlichkeiten einer veränderten visuellen Kultur und deren Blickordnungen aufbaut und von diesen profitiert.
V ORLÄUFIGES F AZIT Dennoch: Wenn ich auch von Selbstverständlichkeiten spreche, so soll damit nur angedeutet sein, dass sich Routinen und Routinisierungen beobachten lassen, die sich vor und hinter Schaufenstern, den Scheiben abspielen. Von Regelmäßigkeiten oder gar allgemeinen Regeln kann damit keineswegs die Rede sein. Ob und wie intensiv dieses Beobachten praktiziert wird und dass und wie weit dieses Beobachtetwerden akzeptiert oder ignoriert wird, welche Empfindungen und Gefühle damit verbunden sind, dies ist abhängig von den jeweiligen räumlichen und sozialen Konstellationen, vor allem auch subjektiver, situativ variierender Nutzung des Raumes und Orientierung im Raum. Ob Glasfronten wie die beschriebenen als Schaufenster mit Aufmerksamkeit, mit Neugier, mit Interesse betrachtet werden oder ob der Blick abgewendet wird, wie bei einem nicht durch Vorhänge verhüllten Fenster, dies variiert in Wien zwischen den einzelnen Vierteln und steht in engem Zusammenhang mit der Bebauung und Bespielung durch
40 Ebd., S. 461.
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Geschäfts- und Wohnräume. Eine Frage, die sich hier zentral stellt, ist, welche Wechselwirkungen zwischen den Prozessen einer Gentrifizierung eines Stadtraumes und den diese Prozesse tragenden Milieus bestehen. Individuelle, aber auch kollektive räumliche Praktiken und emotionale Stile41 treffen in den jeweiligen Vierteln auf lokale Raumordnungen und Traditionen, aber auf national oder transnational bedingte Transformationen städtischer Räume. Je deutlicher der Umbau eines Viertels im Sinne einer Gentrifizierung voranschreitet und je systematischer dieses als Bildraum inszeniert wird, desto mehr, so die bisherige Erfahrung, kommt es in deren Straßen zu »räumlicher Inversion«. Der Literaturwissenschaftler Norbert Miller entlehnt diesen Begriff bei Robert Musil, der damit »nicht das Fallen der Grenze zwischen Außenwelt und Innenwelt, sondern das genau beobachtete Ausgreifen über diese Grenzen, das Hinaus- und Hereinlehnen«42 fasst. Das Bild vom Hinaus- und Hereinlehnen trifft auf einen Raum wie das Wiener Neubauviertel sowohl räumlich und sozial als auch affektiv und emotional sehr genau zu. Dabei stellt sich die Frage, welche ästhetischen (das ist die Perspektive, die Rüdiger Zill vorschlägt), aber auch performativen Qualitäten der großformatigen Schaufensterscheibe es sind, die solche Bewegungen vermitteln, ermöglichen oder behindern, welche medialen Bilder sich in unseren Praktiken vor und hinter den Scheiben spiegeln, aber auch, welche Praktiken der Gegenwehr diejenigen entwickeln, die als Angestellte durch solche dekretierte Transparenz und Informalisierung zunehmender Kontrolle ausgesetzt sind. Eine Annäherung an solche Fragen aber ist nur über die Erforschung konkreter Figurationen möglich, in denen sich Ensembles von Räumen und Artefakten, deren Ordnungen und Gestimmtheiten und insbesondere die Praktiken und Stile der unterschiedlichen Gruppen, die sich in diesen Räumen aufhalten, wohnen und arbeiten oder diese nur durchlaufen, wechselseitig bedingen. Konsequent mikrologisches und kontextualisierendes Forschen ist hier gefragt.
41 Gammerl, Benno: »Emotional styles – concepts an challenges«, in: Rethinking History 16 (2012), S. 161-175. 42 Miller, Norbert: »Räumliche Inversion«, in: Ders. (Hg.), Paradox und Wunderschachtel. Essays, Göttingen: Wallstein 2012, S. 250-260, hier S. 251.
Die neue Materialität der Kommunikation A NDRÉ W ENDLER
A D AY M ADE OF G LASS Abbildung 1: »A Day Made of Glass« von Corning
Quelle: Youtube
Ein Werbefilm. Der US-amerikanische Glashersteller Corning imaginiert 2010 »A Day Made of Glass«.1 Der Tag beginnt in präziser Unbestimmtheit »7:00am In The Near Future«. Der gläserne Tag einer glücklichen, vierköpfigen Familie wird über eine Vielzahl Glasscheiben jeder Größe getaktet, die, mobil und stationär, maßgebliche Bestandteile von Architektur, Inneneinrichtung, Haushaltsgeräten und Fahrzeugen geworden sind. Gegenüber dem Bett begrüßt ein Display die erwachenden Eltern mit Informationen zu Wetter, Verkehr und Aktienkursen. Die Fensterscheiben waren über Nacht elektronisch verdunkelt und geben nun langsam die Sicht auf die Welt vor dem Haus frei. Im Badezimmer listet der Spiegel die Termine des Tages und fordert dazu auf, erste eintreffende Mitteilungen zu beantworten, noch bevor man die Zähne putzen konnte. Während der Vater auf einer gläsernen Kücheninsel, die Herd, Arbeitsfläche und Multifunkti-
1
»A Day Made of Glass. Corning Incorporated« (2010); https://www.youtube.com/ watch?v=6Cf7IL_eZ38 vom 13.01.2016.
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onsdisplay zugleich ist, das Frühstück zubereitet, videotelefonieren die Kinder mit der Großmutter. Im Auto begrüßt das gläserne Armaturenbrett die Fahrerin namentlich und bietet ihr die Navigation zu wahrscheinlichen Zielen an. Auf ihrem Weg fährt sie unter großen Wegweisern hindurch, die sich der Verkehrssituation anpassen und die Autos um den nächsten Stau herumleiten. Am Straßenrand erhalten Fußgänger/-innen Informationen an einer gläsernen Bushaltestelle, deren Seitenwände individualisierte Busfahrpläne anzeigen und auf die gläsernen Mobiltelefone der Passanten übertragen. Computerdesktop und Schreibtischoberfläche im Büro sind eins geworden, sämtliche Glasoberflächen kommunizieren miteinander und dienen gleichzeitig als Displays und Kameras für Videokonferenzen und Ähnliches. Am Abend isst die Familie Popcorn aus einer Glasschale, während sie auf einer vollflächigen Glaswand des Wohnzimmers 3D-Unterhaltungsprogramme sieht. Eine Glasscheibe als E-Book-Reader dient dem letzten Entertainment im Bett, bevor die Gattin das Schlafzimmerfenster mit einer sanften Berührung verdunkelt und alle in die opake Welt ihrer Träume entschweben. So wie der Clip einen Blick in eine beinahe schon verfügbare Zukunft wirft, lebt auch diese Zukunft selbst von permanenter Verfügbarkeit und Vorhersage. Noch ehe ihre Bewohner/-innen die Augen aufschlagen, erscheinen auf den Displays die Informationen, die gleich gewünscht sein werden. Das Auto sagt freudig »Hello Jennifer«, noch bevor diese eingestiegen ist, und auf dem Kühlschrank sind immer die Fotos zu sehen, an denen sich die gleich vorübergehende Person erfreuen wird. Diese hell leuchtende und glatte Zukunft wird ermöglicht durch das Glas, aus dem sie gebaut ist. Glasscheiben, so will es der Glashersteller Corning, sind das universelle Medium dieser nahen Zukunft. Ohne hochtechnisiertes Glas keine vernetzte digitale Zukunft, sollen die Zuschauer/-innen hier wohl lernen. Dabei muss der Clip erzählerisch und ästhetisch ein grundlegendes medientheoretisches Problem bearbeiten: wo nämlich das Medium die Botschaft sein soll, muss seine Unsichtbarkeit gleichzeitig aufgehoben und aufrechterhalten werden. Und deswegen sehen wir im Clip viel weniger ein reichhaltiges Angebot industrieller Gläser, die sich zur Herstellung von Displays und zur Verwendung in modernistischer Glasarchitektur eignen, sondern eine breit angelegte Simulation digitaler Kommunikationstechniken. Chatapplikationen, Zeichenprogramme, elektronische Kalender, digitales Fernsehen, Navigationsapps, Programme für Videotelefonie und E-Learning interagieren mit den Menschen der Glaswelt und nicht eigentlich die Glasscheiben, um die es doch gehen soll. Damit diese Welt reibungslos und wie von selbst funktionieren kann, dürfen die Scheiben als Scheiben nicht auffallen, sondern müssen zurücktreten hinter das, was auf ihnen erscheint. Höchstens einmal, wenn sie als Sicht- oder Sonnen-
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schutz fungieren, werden sie selbst sichtbar, um Durchsicht unmöglich zu machen. Damit für uns als Zuschauer/-innen die Gläser doch thematisch werden, wird die mediale Konstellation verdoppelt. Auch wenn wir die Personen ihre Münder bewegen sehen und ihre Verrichtungen Geräusche produzieren müssen, hören wir davon nichts. Als spielte das alles hinter einer Glasscheibe, sehen wir das Geschehen nur, hören es aber nicht. Vor dieser imaginären Scheibe spult für uns ein nichtssagender, halboptimistischer Soundtrack seine repetitive Melodie ab. Wann immer eine neue Anwendung von Cornings Gläsern vorgestellt wird, erscheinen auf dieser virtuellen Scheibe der Handelsname des Glases und einige seiner Eigenschaften als halbtransparente Beschriftung. Sehen wir den Clip auf einem Smartphone, Tablet oder Laptop, können wir uns dessen Scheibe als diese virtuelle Scheibe vorstellen. Das Problem, an dem die Designer/-innen dieses Clips laborierten, könnte man als meta-macluhanianisch bezeichnen. Einerseits soll die Message ganz klar das Medium, also die Glasscheibe sein. Andererseits gelingt das nur, indem diegetisch die Unsichtbarkeit des Mediums gezeigt wird. Die Verdopplung der Scheibe als diegetisch und extra-diegetisch sagt: Die Message ist, dass das Medium die Message ist. Corning präsentiert sich hier auch als Hersteller eines neuen Typs von Gläsern. Während die Firma in den USA vor allem für ihr hitzebeständiges Küchenglas Pyrex bekannt war, wandelte sie sich bereits in den 1970er Jahren zu einem führenden Hersteller von Lichtwellenleitern. Seit den 1990er Jahren fand eine erneute Umstrukturierung der Produktpalette hin zu Display- und dann später zu Touchscreengläsern statt. Der Legende nach soll Corning eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Smartphones gespielt haben. Wie Walter Isaacson in seiner Biografie des Apple-Mitgründers Steve Jobs erzählt hat, 2 gelang es Apple bei der Entwicklung des ersten iPhones zunächst nicht, eine passende Displayabdeckung zu finden. Glas war zu schwer und bruchanfällig, Plastik zu kratzempfindlich und nicht wertig genug. Irgendwann erfuhr Jobs, dass Corning schon in den 60er Jahren ein hochfestes Glas entwickelt hatte, dessen Eigenschaften für ein Telefondisplay geeignet sein sollten. Es stellte sich jedoch heraus, dass Corning dieses Glas mit dem martialischen Namen Gorilla Glass zwar entwickelt hatte, es jedoch mangels Nachfrage nicht produzierte. Allein für Apple baute Corning innerhalb von sechs Monaten eine ganze Fabrik um und produzierte das Glas in Stückzahlen, die groß genug waren, um dem einsetzenden Smartphone-Boom gerecht zu werden. Gorilla Glass befindet sich heute auf den Telefonen aller großen Hersteller und wird deswegen von Corning auch eigens beworben. Die Festigkeit dieses Glases wird durch einen Ionenaustauschprozess
2
Vgl. Isaacson, Walter: Steve Jobs, New York u. a.: Simon & Schuster 2011. S. 470ff.
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erzielt. Dabei wird die Glasscheibe in ein Bad aus geschmolzenem Kalium-Salz getaucht. Natrium-Ionen verlassen in diesem Salzbad die Glasoberfläche und werden durch Kalium-Ionen des Salzes ersetzt. Da diese Austauschionen größer sind, entsteht an der Oberfläche eine verhältnismäßig höhere Spannung als im Inneren des Glases. Diese Spannungsdifferenz ist für die erhöhte Festigkeit des Glases verantwortlich. Es ist nun möglich, diese chemisch ertüchtigten Scheiben an Orten zu nutzen, an denen sie früher nicht anzutreffen gewesen wären, und sie dank erheblich reduzierten Gewichts vor allem für tragbare Geräte zu verwenden. Diese Gläser spielen eine entscheidende Rolle für die Entwicklung zeitgenössischer vernetzter Technologien, wie sie in »A Day Made of Glass« ausgestellt werden. Sie tun das aber in einem viel umfassenderen Sinn denn als bloßes Trägermedium berührungsempfindlicher Interfaces. Auch sind sie nur unzureichend über ihre ästhetischen Eigenschaften zwischen Durchsichtigkeit und Opazität zu begreifen. Ich möchte im Folgenden den Vorschlag machen, sie im Sinne Gilbert Simondons als technische Objekte zu verstehen. Drei Fragen sind in diesem Zusammenhang zu klären. Erstens: Inwiefern lassen sich moderne Touchscreens als technische Objekte beschreiben, und was wird mit der Übernahme dieses Konzeptes von Simondon gewonnen? Zweitens: Induzieren digitale, elektronische technische Objekte, wie die hier beschriebenen, Erweiterungen oder Veränderungen für Simondons Konzept? Drittens: Welche politischen Implikationen hat eine Simondon folgende Beschreibung der zeitgenössischen technischen Welt?
S CHEIBEN
ALS TECHNISCHE
O BJEKTE
Mit Simondon muss man das Sein eines technischen Objektes nicht von seinen gegenwärtigen Funktionen und Fähigkeiten her verstehen, sondern ausgehend von seiner historischen Genese in ihrer Gesamtheit. »Das technische Objekt ist nicht diese oder jene, hic et nunc gegebene Sache, sondern, das, was eine Genese durchläuft.«3 Diese Genese verläuft immer von abstrakten zu konkreten technischen Objekten. Abstrakt bedeutet dabei, dass ein Objekt lediglich eine einzige Funktion erfüllt, während die strukturellen Elemente konkreter technischer Objekte mehrere Funktionen erfüllen. Handy-Displays sind in den letzten Jahren immer dünner und leichter und dabei aber bruchsicherer geworden, weil man die
3
Simondon, Gilbert: Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich: Diaphanes 2012, S. 19.
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Rezeptur und damit atomare Struktur des Glases so weiterentwickeln konnte, dass beispielsweise seine gewünschten optischen Eigenschaften nicht mehr über vorgelagerte Folien und Filter realisiert werden müssen, sondern sich schon aus der Struktur des Glases selber ergeben. Das Glas vereint damit zunächst statische und optische Funktionen. Es wäre damit nur eine Scheibe, aber noch längst kein Touchscreen. Unter der Scheibe muss sich also noch ein Display befinden, auf dem jene grafischen Objekte dargestellt werden, die sich dann durch Berührung manipulieren lassen. Außerdem werden verschiedene miteinander kommunizierende Microcontroller benötigt. Diese lesen das in die Scheibe integrierte kapazitive Sensorium aus, um festzustellen, wie viele Finger die Scheibe an welchen Stellen berühren. Diese Informationen werden dann an die Grafiksoftware weitergeleitet, um die entsprechend veränderte Darstellung auf dem Display zu bewirken. Bereits eines der ersten Paper, das eine (noch ohne direkt integriertes Display) funktionierende Multitouch-Oberfläche als Eingabegerät für Computer beschreibt, entwickelt diesen Zusammenhang von Hard- und SoftwareOperationen.4 Mit der Spannungsveränderung in der unsichtbaren Elektrik der Scheibe allein sind keine komplexen Eingabevorgänge zu realisieren, sondern erst das hochfrequente Auslesen durch ›kluge‹ Algorithmen erlaubt, einfache Kapazitätsänderungen als Berührungen und unterscheidbare Gesten zu interpretieren. Seitdem diese Kombination aus Display und berührungsempfindlicher Scheibe vor allem in tragbaren Geräten wie Mobiltelefonen und Tablets verbaut wird, sind ein möglichst geringes Gewicht und eine geringe Bauhöhe entscheidende Faktoren geworden. Die notwendigen Komponenten sind deshalb mittlerweile so hoch integriert, dass sie einzeln gar nicht mehr getauscht werden können und bei Beschädigung der Scheibe das Display auch dann mit gewechselt werden muss, wenn es gar nicht defekt ist. Diese hochintegrierten Touchscreendisplays sind konkrete technische Objekte geworden, bei denen sich Zeigen und Berühren, Darstellen und Messen nicht mehr voneinander trennen lassen. Diese technische Anordnung provoziert weitreichende Konsequenzen. Spätestens wenn der Touchscreen das primäre oder sogar einzige Eingabegerät wird, bestimmt er nicht nur das Aussehen des Betriebssystems, sondern auch den gesamten Interaktionsprozess mit dem Gerät. Der Erfolg von Apples iPhone dürfte darauf beruhen, dass bei diesem Gerät dieser Zusammenhang zuerst realisiert wurde: Apples iOS war das erste Betriebssystem, dessen Interface ausschließlich für die Bedienung mit mehreren Fingern konzipiert war, während zeitgenössische Konkurrenzsysteme wie Windows Mobile oder Symbian mit Stiften bedient
4
Vgl. Lee, SK./Buxton, W./Smith, K.C.: »A Multi-Touch Three Dimensional TouchSensitive Tablet«, in: CHI ’85 Proceedings, April 1985, S. 21-25.
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werden mussten, die als Hardwareäquivalente von Mauszeigern fungierten. Darin liegt die Konkretheit des zeitgenössischen Touchscreens als technisches Objekt: in ihm konvergieren zahlreiche Hard- und Softwarefunktionen, es schützt vor Staub und um seine Möglichkeiten herum wird der gesamte Human Computer Interaction Prozess gebaut. Auch wenn dieser Komplex für eine breite Öffentlichkeit wohl erst mit der Einführung des iPhones 2007 verfügbar wurde, gehen Forschungen zu Multitouch-Oberflächen und Screens bis in die 80er Jahre zurück. An keiner Stelle dieser Entwicklungsgeschichte existiert jedoch eine Idee von Touchscreens, wie sie heute allgemein in Gebrauch sind. Oft stehen isolierte Funktionen im Fokus der Forschung, und über mögliche praktische Anwendungen gibt es nur Spekulationen. Lee, Buxton und Smith stellten sich 1985 etwa vor: »Templates can be placed over the tablet to define special regions and, since the hand is being used directly, these regions can be manually sensed, thereby allowing the trained user to effectively ›touch type‹ on the tablet.«5 Offensichtlich gibt es hier keine Vorstellung davon, wie eng die grafischen Interfaces der Touchscreens einmal mit den Berührungseingaben verbunden wären, sodass man sich vorstellt, man würde ihre Funktionsbereiche durch aufgelegte Vorlagen voneinander abgrenzen müssen, statt diese dynamisch über das Graphical User Interface zu bestimmen. Mit anderen Worten: was eine konkrete Funktion eines Touchscreens ist, weiß man, wenn sie gefunden ist, und nicht, während man sie entwickelt, denn sie konkretisiert sich in einem weitverzweigten Netzwerk aus digitalen Infrastrukturen, Hard- und Software, Serviceprovidern und Nutzer/-innen. Es gibt auch die umgekehrte Perspektive. Nicht lang nach der Einführung von Tablets wie dem iPad machten im Internet Videos die Runde, auf denen man Kleinkindern dabei zusehen konnte, wie sie versuchten, das Coverbild gedruckter Zeitschriften durch ein Wischen zur Seite zu ändern oder die Zeitschrift durch Taps mit den Fingern zum Funktionieren zu bringen. 6 Ikea stellte seinen Papierkatalog 2015 ironisch als »bookbook« vor. 7 In dem Video, das visuell und rhetorisch wie ein Werbeclip für eines der tragbaren Produkte Apples funktioniert, wird ein farbiger Papierkatalog vorgestellt, als handelte es sich um ein
5
Lee/Buxton/Smith: »A Multi-Touch Three Dimensional Touch-Sensitive Tablet«,
6
Vgl. z. B. »UserExperiencesWorks. A Magazine Is an iPad That Does Not
S. 21. Work.m4v«
(2011);
https://www.youtube.com/watch?v=aXV-yaFmQNk
vom
13.01.2016. 7
»IKEA Singapore. Experience the Power of a BookbookTM.« (2014); https:// www.youtube.com/watch?v=MOXQo7nURs0 vom 13.01.2016.
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tragbares Gadget. Seine »Batterielaufzeit« oder Auflösung werden plötzlich zu unglaublichen Features, seine Robustheit grenzt an das Fantastische. An diesen Beispielen zeigt sich, wie wenig die Funktionen technischer Objekte in sich selbst ruhen oder gegeben sind. Sie lassen sich immer nur als reflexive Funktionen komplexer Medienumwelten verstehen und treten besonders dann hervor, wenn sich diese Umwelt einigermaßen tief greifend ändert.8 Was eine Druckauflösung im Offsetdruck ist, kann man am besten verstehen, wenn man ein niedrig aufgelöstes digitales Display betrachtet. Simondon hat die verschlungenen genetischen Prozesse technischer Objekte unter einem doppelten Aspekt betrachtet: zunächst beschreibt er die »Konkretisations-Anpassung« als einen Prozess, »der die Entstehung eines Milieus bedingt, anstatt von einem bereits gegebenen Milieu bedingt zu werden; sie wird von einem Milieu bedingt, das vor der Erfindung nur virtuell existiert; es gibt Erfindung, weil es einen Sprung gibt, der sich vollzieht und sich durch die Relation als begründet erweist, die er innerhalb des Milieus einrichtet, das er schafft.«9
Das Milieu der Touchscreens ist ein solches. Es besteht aus Glasfabriken, Mobilfunknetzen und Infrastrukturen zum Vertrieb mobiler Anwendungen (AppStores), die zugleich Bedingung und Ergebnis ihrer Existenz sind. Diese prekäre Lage, und das ist Simondons zweiter Punkt, weist den technischen Objekten eine mittlere Position zwischen technischen und natürlichen Milieus zu. Damit technischer Fortschritt möglich ist, »muss die Evolution der technischen Objekte konstruktiv sein, das heißt, sie muss zur Schaffung dieses dritten, technischgeografischen Milieus führen, bei dem jede Veränderung selbstkonditioniert ist.«10 Für die Smartphone-Scheiben ist die Seite des technischen Milieus klar: sie sind mit miniaturisierter Rechentechnik, dem Internet, dem Stromnetz usw. verbunden und müssen zu diesem entsprechend funktionierende Schnittstellen unterhalten. Die Verbindung zum natürlichen Milieu hat vor allem im Herstellungsprozess des Glases ihren Platz: da die Glasherstellung einerseits sehr energieaufwendig ist und andererseits unmittelbar mit der Qualität der zu schmelzenden Rohstoffe zusammenhängt, waren Glashütten historisch nur an bestimmten Orten zu finden, an denen Brennmaterial und Rohmaterial für das Glas gleichermaßen vorkamen. Bis in das 18. Jh. beispielsweise waren Glashütten in
8
Vgl. Press, Andrea L./Williams, Bruce A.: The New Media Environment, Malden u. a.: Wiley-Blackwell 2010, S. 8ff.
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G. Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, S. 51.
10 Ebd., S. 52.
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Europa zumeist nur temporäre Einrichtungen, die den Ort wechseln mussten, wenn der Wald um sie herum verfeuert war.11 Man hat sogar gezeigt, dass die landwirtschaftliche Kultivierung ganzer Gegenden nur deshalb erfolgen konnte, weil die Glasherstellung jene Wälder verbrannte, die sich sonst zu nichts gebrauchen ließen. Nach der Metallindustrie ist die Glasproduktion bis heute die energieaufwendigste Branche, und folglich befinden sich Glashütten dort, wo genügend Primärenergie in Form fossiler Brennstoffe zur Verfügung steht. Man könnte hier noch über die Ofentechnik sprechen, die vor allem mit dem Namen Siemens verbunden ist und in der sich die chemischen Eigenschaften der Rohstoffe mit der in einem Ofen erzielbaren Temperatur und letztlich der Qualität und den Eigenschaften der erschmolzenen Gläser verbinden. Philosophisch tat man sich mit dem Glas schwer: einmal reihte man es unter die Metalle ein, einmal unter die Kristalle. Zugleich war man sich der Schwierigkeit bewusst, dass es natürliches Glas gab (Obsidian) und dass es ebenso technisch hergestellt wurde, ohne damit weniger echtes Glas zu sein. Bis heute hat die Chemie keine anerkannte Theorie darüber, was genau auf atomarer Ebene bei der Glasschmelze geschieht. Es gibt Mischformen, wie Glaskeramik, die halb Glas, halb Kristall sind, und man kann über entsprechende Herstellungsprozesse Metalle in einen glasförmigen Aggregatzustand versetzen. Kurz: versteht man Glas und damit Glasscheiben als technische Objekte, dann zerrinnt ihre Einheit unter der Vielfalt der Herstellungsverfahren und Genealogien. Aus technologischer Sicht haben die Glasperlen aus ägyptischen Gräbern nichts mit den elektrisch leitfähigen Glasscheiben unserer Telefone zu tun. Es sind andere technische Objekte, weil ihre Individuation im Milieu digitaler Rechenmaschinen erfolgte und nicht im Milieu von Tempelritualen, aus denen sich etwa die Farben bestimmter antiker Glasobjekte ergeben usw. Die historisch wie sachlich weitverzweigte Existenz von Touchscreens, die als technische Objekte verstanden werden, kann hier nur angedeutet und nicht abschließend dargestellt werden. Vielleicht kann man aber wenigstens Folgendes festhalten: von den Glasscheiben zeitgenössischer mobiler Rechengeräte und Gadgets aus lässt sich die digitale Kultur unserer Tage nicht als abstrakte Informations- oder Datengesellschaft beschreiben, nicht als eine Welt der virtuellen Entitäten oder Simulationen, sondern als eine spezifische materielle Kultur, in der an der Human Computer Interaction Schmelzöfen so prägend wie Signalprozessoren beteiligt sind.
11 Vgl. Glocker, Winfrid: Glas, München: Beck 1992, S. 29.
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P OLITIK
DIGITALER TECHNISCHER
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O BJEKTE
Es ist die Notwendigkeit geltend gemacht worden, Simondons Konzept der technischen Objekte zu digitalen Objekten zu erweitern und zu aktualisieren. 12 Digitale Objekte seien »simply objects on the Web, such as YouTube videos, Facebook profiles, Flickr images, and so forth, that are composed of data and formalized by schemes or ontologies that one can generalize as metadata.«13 Die Abgrenzung digitaler gegenüber natürlichen und technischen Objekten läuft über ihre programmiertechnische Definiertheit durch formale Beschreibungssprachen wie HTML, XML usw. Die Bezeichnung dieser rechentechnischen Klassifikationssysteme mit dem terminus technicus Ontologien hat auf Philosophen große Anziehung ausgeübt.14 Ich möchte jedoch dafür plädieren, Simondons Schritt zunächst einmal zu halten, bevor man zum Überholmanöver ansetzt. Mir leuchtet nicht ein, warum spezifische theoretische Errungenschaften Simondons nicht erst einmal für die Beschreibung ›digitaler‹ Zusammenhänge erprobt werden sollten, statt sie direkt wieder preiszugeben und durch neue Konzepte zu ersetzen. Konkret: während es beim Entwurf der digitalen Objekte darum gehen soll, was diese sind, bemüht sich Simondon um die Darstellung der Existenzweise technischer Objekte, mithin also um die Frage, wie und wann diese sind. Das Was technischer Objekte hat seinen Ort höchstens in den Präliminarien der Simondon’schen Überlegungen. Es geht ihm eben gerade nicht darum, einen bestimmten Objekttyp zu isolieren, sondern ganz im Gegenteil, ihn zu integrieren und historisch und sachlich in einem möglichst breiten und konkreten Netz kulturellen Geschehens zu verorten. Seine induktiven Darstellungen, die komplexe und zunächst scheinbar ganz unphilosophische technische Detailzusammenhänge erschließen, sind etwas ganz anderes als Beispiele. Es geht hier nicht nur um die Arbeit an Begriffen, sondern es geht um Darstellungsarbeit. »Das 19. Jahrhundert [...] bringt die Trennung der Bedingungen für das intellektuelle Verständnis des Fortschritts und für die Erfahrung der internen Rhythmen der Arbeit mit sich, die eben diesem Fortschritt geschuldet sind.«15 An Simondons technischem Kenntnisreichtum, seinem Willen und seinen Fähigkeiten, diesen auch
12 Vgl. Hui, Yuk: »What Is a Digital Object?«, in: Metaphilosophy 43/4 (2012), S. 380-395. 13 Ebd., S. 380. 14 Vgl. z. B. Livet, Pierre: »Web Ontologies as Renewal of Classical Philosophical Ontology«, in: Harry Halpin/Alexandre Monnin (Hg.), Philosophical Engineering. Toward a Philosophy of the Web, Malden u. a.: Wiley Blackwell 2014, S. 68-76. 15 G. Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, S. 108.
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darzustellen, führt kein Weg vorbei, weil gerade hier die »Bedingungen für das intellektuelle Verständnis des Fortschritts« wiedergewonnen werden sollen. Seine späten Überlegungen zur Techno-Ästhetik16 weisen noch einmal darauf hin, dass es bei ihm weniger um ein begriffsphilosophisches als um ein ästhetisches Programm geht, das erst Sichtbarkeits- und dann Verständnisprobleme adressiert. Die Zuspitzung auf die Frage nach dem digitalen Objekt und die damit einhergehende Verengung auf Software-Fragen scheint mir eben gerade nicht das selbst gesetzte Programm einzulösen, die Funktionsweise digitaler Medien in einem breiten Sinn beschreiben zu können. 17 Es ging bei Simondon immer um die Beschreibung von Existenzweisen, die sich quer zu tradierten philosophischen Begriffsbestimmungen eingestellt haben: »Eine Kopplung liegt vor, wenn eine einzige und vollständige Funktion von beiden Wesen gemeinsam erfüllt wird.«18 Die Kraft seiner Argumentation liegt darin, gerade nicht die Wesen zu isolieren, sondern das Augenmerk auf Verbindungen zu legen, die nicht entlang ontologischer Begriffsgrenzen gezogen werden. Einmal ganz davon abgesehen, dass das Digitale in keiner Weise auf Computer beschränkt ist – Telegrafen arbeiteten im 19. Jahrhundert mit digitalen und teilweise sogar binären Signalen –, liegt die Neuigkeit von Objekten wie Touchscreens, wie ich versucht habe darzustellen, darin, Dinge wie lebendige Finger und animierte grafische Interfaces zu vollständigen gemeinsamen Funktionen zusammenzusetzen. Simondons Beschreibungen haben weitreichende politische Konsequenzen, die nicht voreilig über Bord geworfen werden dürfen. Wenn Touchscreens nämlich nicht die neutralen Zwischenglieder zeitgenössischer Kommunikationskulturen sind, sondern elementaren Anteil an ihren Funktionen haben, dann wird ihre politische Ökonomie auch Teil der allgemeinen Netzpolitik. Diese muss dann mehr werden als Lob und Kritik der Sharing Economy, und auch die wohlgemeinte Kritik an den niedrigen Löhnen in den Gadget-Fabriken Asiens griffe zu kurz. Simondon selbst streift dieses Thema, wenn er feststellt, dass die Reduktion des Verhältnisses der Menschen zur Technik auf die Beziehung von Kapital und Arbeit an der Sache vorbeigeht. »Der Dialog zwischen Kapital und Arbeit ist falsch, weil er in der Vergangenheitsform stattfindet. Die Kollektivierung der Produktionsmittel kann selbst keine Reduktion der
16 Vgl. Simondon, Gilbert: »Réflexions sur la techno-esthétique«, in: Ders. (Hg.), Sur la technique, Paris: Presses Universitaires des France 2014, S. 379-396. 17 Vgl. Y. Hui: »What Is a Digital Object?«, S. 380. 18 G. Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, S. 115.
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Entfremdung bewirken; sie kann sie nur bewirken, wenn sie die Vorbedingung dafür ist, dass das menschliche Individuum ein Verständnis des individuierten technischen Objekts erwirbt. Diese Relation des menschlichen Individuums mit dem technischen Individuum ist am schwierigsten auszubilden. Sie setzt eine technische Bildung und Kultur voraus, welche die Fähigkeit zu Haltungen einführt, die sich von jenen der Arbeit und des Handelns unterscheiden«.19
Vielleicht wäre das keine schlechte Ausgangslage zur Ausformulierung einer technischen Ökonomie, die weder von naivem Fortschrittsglauben noch von romantisch verklärter Klassenkampfpropaganda getragen wird; einer Ökonomie, die Fortschritt denken kann, ohne sich auf primitive lineare Modelle zu beschränken.20 Eine Ökonomie schließlich, in der eine berührungsempfindliche Scheibe nicht weniger zentral wäre als die Person, die sie berührt.
19 G. Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, S. 110. 20 Vgl. dazu auch Simondon, Gilbert: »Les limites du progrès humain«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 64/3 (1959), S. 370-376.
Autoren
Dennis Göttel ist seit 2015 Postdoktorand Kulturgeschichte des Wissens, Leuphana Universität Lüneburg; davor: wissen. Mitarbeiter HBK Braunschweig; Junior Fellow IKKM Bauhaus-Universität Weimar; Doktorand Universität Wien. Jüngste Veröffentlichungen: Die Leinwand. Eine Epistemologie des Kinos (Dissertation), Paderborn 2016 (im Erscheinen); »Heimkino und Wissenschaft. Das private Leben als Projektion«, in: Adina Lauenburger et al. (Hg.): Waking Life. Kino zwischen Technik und Leben, Berlin 2016; »Spielautomatensprache«, in: Maske und Kothurn, Bd. 61, Nr. 3-4 (2015); »Skizze. Hörsaal als Pornokino«, in: ZfM, Nr. 13 (2015). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte des Flipperautomaten, Production Studies, Kritische Theorie. Florian Krautkrämer arbeitet als Filmwissenschaftler am Studiengang Medienwissenschaften der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Er promovierte zur Schrift im Film und veröffentlichte Bücher, Sammelbände und Aufsätze u.a. zum Paratext und zum Experimentalfilm. Sein gegenwärtiges Forschungsinteresse richtet sich auf neuere (Amateur-)Kamerasysteme wie Handvideos und Actioncams, Letzte Veröffentlichungen dazu sind u.a. »GoPro-Vision und involvierter Blick: Neue Bilder der Kriegsberichterstattung«, in: M.-H. Adam/Sz. Gellai, J. Knifka (Hg.): Veränderte Lebenswelten. Figurationen von Mensch und Technik, Bielefeld: transcript 2016 und »Linsenschmutz. Lens Flares in Film und Game«, in: Cargo Film/Medien/Kultur 19 (2013), S. 32-39. Zusammen mit Dennis Göttel hat er 2015 die Tagung veranstaltet, die Grundlage für diesen Sammelband war. (www.floriankrautkraemer.de) Eva Kuhn, wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut der Universität Basel und assoziiertes Mitglied des NFS Bildkritik »eikones«. Studium der Filmwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Zürich, Basel und Berlin. 2011/12 Forschungsaufenthalt in Paris mit einem Stipendium des
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Schweizerischen Nationalfonds. Promotion mit der Arbeit: »leben – filmen. Jonas Mekas’ filmisches Lebens-Werk« (Publikation in Vorbereitung für 2017). Letzte Veröffentlichungen: »Elie Faures Cineplastik oder Vom Kino und Bilden der Künste / La Cinéplastique d’Elie Faure ou Du cinéma et de la plasticité des arts«, in: Regards Croisés. Revue Franco-allemande de recensions d’histoire de l’art et esthétique, No 5/2016, S. 50-61 / p. 62-73; »Fahrten und Fährten: Zur Handhabe der Kamera in Eric Hattans Videoräumen«, in: Anthony Spira, Lutz Eitel (Hg.): Eric Hattan Works 1979-2015, Berlin: Holzwarth Publications 2016, S. 165-194; »Jonas Mekas’ Mnemotaktik oder: LOST LOST LOST, ein filmisches Gedächtnis«, in: Susanne Schmidt/Ursula von Keitz (Hg.), augenblick – Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft (Themenheft: Kino und Erinnerung), Marburg: Schüren 2015, S. 47-62. Klara Löffler studierte Volkskunde, Soziologie und Kunstgeschichte in Würzburg und Regensburg, promovierte 1996 in Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft und habilitierte sich 2001 in Wien in Europäischer Ethnologie. Seitdem lehrt sie als a.o. Univ.-Prof. am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Freizeit- und Tourismusforschung, Biographieforschung und Erinnerungskulturen, Erforschung materieller und visueller Kulturen, Fragen der Medienwirkung und des Mediengebrauchs, Fragen des ethnographischen Forschens und Schreibens. Ulrich Meurer (www.ulrichmeurer.com) unterrichtet Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Seine Forschungsinteressen richten sich vor allem auf die Schnittstellen von Filmästhetik und politischer Philosophie und auf die diskursiven wie ideologischen Implikationen von Film-, Technik- und Mediengeschichte. Vor diesem Hintergrund untersucht sein derzeitiges Buchprojekt die Reflexion und Produktion von Konzepten politischer Freundschaft in der US-amerikanischen (Bewegt-)Bildkultur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu seinen Publikationen zählen unter anderem: »Topographien. Raumkonstruktionen in Literatur und Film der Postmoderne« (München: Fink 2007), »Übersetzung und Film. Das Kino als Translationsmedium« (als Herausgeber, Bielefeld: transcript 2012) und zahlreiche Aufsätze zur Filmästhetik sowie Medienphilosophie und -archäologie. Katja Müller-Helle ist Postdoc-Mitarbeiterin in der Kollegforschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik an der Freien Universität Berlin. Sie forscht zur Theorie und Geschichte der Fotografie, zur Historiografie der Avantgarde und zu Verfahren der bildlichen Evidenzerzeugung. Aktuelle
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Veröffentlichungen: Zeitspeicher der Fotografie. Zukunftsbilder 1860-1913, Paderborn: Fink (im Erscheinen); »Zeitliche Unschärfe. Die Fotografie als Lebensmetapher im Fotodynamismus Anton Giulio und Arturo Bragaglias«, in: Adina Lauenburger et al. (Hg.), Waking Life. Kino zwischen Technik und Leben, Berlin: b_books-Verlag 2016, S. 99-117; »The Past Future of Futurist Movement Photography«, in: The Getty Research Journal, no 7 (2015), S. 10923; »Stumme Zeugen. Fotografische Bildevidenz am Rand der Wahrscheinlichkeit«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, no 11 (2/2014), S. 37-48; Blitzlicht. Berlin/Zürich: diaphanes 2012 (zusammen mit Florian Sprenger). Sabine Nessel ist seit 01.04.2016 Professorin für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitherausgeberin von Nach dem Film (www.nachdemfilm.de). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Filmtheorie/Filmgeschichte, Zoo und Kino, Media Cultural Animal Studies, Feministische Theorie/Gender Studies. Sie ist Autorin von Kino und Ereignis. Das Kinematografische zwischen Text und Körper (2008) sowie Mitherausgeberin von Der Film und das Tier. Klassifizierungen, Cinephilien, Philosophien / Animals and the Cinema. Classifications, Cinephilias, Philosophies (hg. mit Winfried Pauleit et al. 2012) und dem Sammelband Zoo und Kino. Mit Beiträgen zu Bernhard und Michael Grzimeks Film- und Fernseharbeiten (hg. mit Heide Schlüpmann, 2012). Ihre zweite Monografie Zoo und Kino als Schauanordnungen der Moderne ist aktuell in Vorbereitung. Drehli Robnik ist Theoretiker in Sachen Film und Politik, Essayist, Gelegenheitskritiker und Edutainer. PhD an der Universiteit van Amsterdam 2007. Er ist Autor bzw. Mit-Herausgeber von Bänden zu Kracauer und Rancière, Kriegsund Historienfilm, Stauffenberg und Cronenberg. Jüngste Bücher: Monografie Kontrollhorrorkino: Gegenwartsfilme zum prekären Regieren (2015), Monografie Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière (2010); Herausgeber von: Siegfried Mattl: Die Strahlkraft der Stadt. Schriften zu Film und Geschichte (2016). Im Erscheinen: DemoKRACy: Film/Wahrnehmung/Politik bei Siegfried Kracauer (Monografie, bei stroemfeld). Er lebt in Wien-Erdberg und ist lesbar unter https://independent.academia. edu/DrehliRobnik. Matthias Thiele, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Fakultät Kulturwissenschaften an der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte portabler Medien und des ambulanten Aufzeichnens; Genealogie des notierenden Schreibens und
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literarischer Aufzeichnungen; Fernsehtheorie, insbesondere medienkulturwissenschaftliche Dispositivanalysen des Fernsehens; Normalismusforschung; Medienbildung; Rassismus und Medien; Politiken des Dokumentarischen. Aktuelle Publikationen: »Vom Medien-Dispositiv- zum Dispositiv-Netze-Ansatz. Zur Interferenz von Medien- und Bildungsdiskurs im Klima-Dispositiv«, in: Julius Othmer/Andreas Weich (Hg.), Verflechtungen: Medien – Bildung – Dispositive, Heidelberg: Springer VS 2015, 139-160; »Portabilität als Programm – Zur Implementierung der videojournalistischen Aufzeichnungspraxis in die Programmproduktion des Fernsehens«, in: Programm(e) der Medien. Akten des 1. Medienwissenschaftlichen Symposiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), hrsg. von Dieter Mersch und Joachim Paech, Berlin: Akademie Verlag 2014, 201-236; »Notizen. Zur Poetik, Politik und Genealogie der kleinen Prosaform ›Aufzeichnung‹«, in: Sabiene Autsch/Claudia Öhlschläger/Leonie Süwolto (Hg.), Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, München: Fink 2014, 165-192; »Die Couch der Gesellschaft«, in: Andrea Seier/Thomas Waitz (Hg.), Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen, Münster: Lit-Verl. 2014, 131-150. André Wendler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie IKKM der Bauhaus-Universität Weimar. Seine Dissertation zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und bewegtem Bild erschien 2014 unter dem Titel Anachronismen: Historiografie und Kino im Fink-Verlag, Paderborn. Er arbeitet derzeit an Projekten zu selbstreferentiellen Bildpraktiken in sozialen Netzwerken und zur Geschichte der Süßigkeiten.
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