Schamgebeugt und schuldbeladen: Leidfaden 2022, Heft 3 [1 ed.] 9783666806216, 9783525408599, 9783525806210


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Schamgebeugt und schuldbeladen: Leidfaden 2022, Heft 3 [1 ed.]
 9783666806216, 9783525408599, 9783525806210

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11. Jahrgang  3 | 2022 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

SCHAMGEBEUGT UND SCHULDBELADEN

Annette Riedel Zwei starke

E­ motionen – Scham und Schuld in der Pflege  Reinhard Lindner /  Barbara Schneider Schuld und Scham nach Suizid  Lukas Radbruch Fehlerkommunikation bei Ärzten und Ärztinnen  Sarah Krüsi Leber Scham in der Palliative Care – Die stille ­Begleiterin in der Betreuung von ­Menschen am Lebensende

Coronamüde? Die Pandemie-Erschöpfung verstehen und überwinden

Dagmar Kumbier / Constanze Bossemeyer

Zuversicht trotz Corona-Blues Psychologisches Handwerkszeug für Pandemiegeschüttelte

Mit einem Vorwort von Friedemann Schulz von Thun. 2021. 150 Seiten mit zahlreichen farb. Abb., kartoniert € 20,00 D ISBN 978-3-525-40859-9 Auch als E-Book erhältlich.

Die Pandemie hat uns aus unserem Alltag gerissen und in eine andere Welt geworfen. Trotz erheblicher Einschränkungen und Bemühungen erweist sich der Weg zurück in eine Normalität als quälent langsam. Was löst all das in uns aus? Was genau macht die Situation so unerträglich, warum gewöhnen wir uns nur begrenzt an die äußere und innere Situation? Warum werden so viele mehr oder weniger depressiv? Was kann uns helfen, diese Situation psychisch möglichst gut zu überstehen und anderen in Therapie, Beratung, Schule und Klinik dabei zu helfen? Und was können wir aus diesen Erfahrungen für die Bewältigung anderer Krisen lernen? Wer nach passender Ausrüstung für die Reise in die Nach-Corona-Zeit sucht, wird hier fündig.

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EDITORIAL

Schuldbeladen und schamgebeugt Wer beschäftigt sich schon freiwillig und gern mit den belastenden Emotionen Scham und Schuld? Wir gehen ihnen am liebsten aus dem Weg. Deshalb sprechen Menschen nur sehr selten, und wenn doch einmal, am ehesten in einer Situation, in der sie sich Erleichterung und Frieden bei einer bitteren, sie immer noch quälenden Erfahrung aus ihrem Leben erhoffen. Selbst in der einschlägigen Fachliteratur, etwa in Lehrbüchern der Psychologie und Psychotherapie, der Palliativmedizin und -pflege, gab es lange Zeit nur wenig über den konkreten Umgang mit diesen Gefühlen zu lesen. Auch bei der Planung dieses Heftes hörten wir gelegentlich, diese Themen seien bedrückend und ohne Leichtigkeit. Ja, das stimmt. Sie sind nicht »auf die leichte Schulter zu nehmen«, dazu ist die Last bei den von Beschämung und Schuld Betroffenen oft zu schwer. Sie kann nicht »einfach so« abgeworfen werden. Scham und Schuld werden fast immer als negative Gefühle empfunden. Sie können aber durchaus auch positive Seiten haben. George Bernard Shaw hat es so beschrieben: »Wir schämen uns all dessen, was wirklich an uns ist; wir schämen uns unseretwegen, unserer Verwandten, unserer Einkommen, unserer Akzente, unserer Meinungen, unserer Erfahrungen, gerade so wie wir uns unserer nackten Haut schämen.«1 Und wir wagen hinzuzufügen: und besonders unserer Schwächen und Hilflosigkeit in den vulnerabelsten Situationen im Leben – in Krankheit, im Alter und am Lebensende. Im Fokus der Erfahrung der Beschämung steht das Gefühl, durch Äußerungen, Handlungen oder körperliche Gegebenheiten wehrlos Erniedrigungen, Demütigungen oder Spott ausgesetzt zu sein, ohne diesen entkommen zu können. Deshalb hat Scham eine so große Macht.

Scham- und Schuldgefühle sind miteinander verwandt. So beschreibt die ungarische Philosophin Ágnes Heller2 Schuldgefühle als verinnerlichte Scham. Schuld ist untrennbar mit dem Menschsein verbunden, denn jeder Mensch macht in seinem Leben Fehler. Wir alle sind auf das Verzeihen der anderen (und von uns selbst) angewiesen. In diesem Heft zeigen die Autor:innen zahlreiche Aspekte beim Umgang mit Scham- und Schuldgefühlen. Auch diese »schweren« Themen brauchen in unserer Arbeit einen Resonanzraum, den wir als Therapeut:innen und Begleitende eröffnen können, wenn wir sie nicht abwehren und uns ihnen nicht negierend verschließen. Dann besteht die Chance, in der Bearbeitung sogar eine gewisse Erleichterung und Leichtigkeit zu schaffen sowie die Auseinandersetzung zu einem möglichen Abschluss zu bringen.

Margit Schröer

Lukas Radbruch

Anmerkungen 1 The power of shame. London, 1985. 2 Zitiert nach S. Marks (2018). Scham – die tabuisierte Emo­ tion. Düsseldorf, S. 13.

Inhalt Editorial 1

4 Chris Paul, Jan S. Möllers, Tanja M. Brinkmann

»Kann ich mir das jemals verzeihen?« – Voraus­ setzungen und Möglichkeiten der Selbstvergebung

22 H. Christof Müller-Busch | Scham und Schuld am Lebensende

8 Annette Riedel

Zwei starke Emotionen – Scham und Schuld in der Pflege

12 Christian Schulz-Quach

»Wie viel Schuld trage ich an deiner Scham?« – Scham und Schuld in der Existenziellen Psycho­ therapie

16

Wir warten auf Wunder (Rose Ausländer)

17 Margit Schröer und Susanne Hirsmüller

»Machen Sie sich frei« – Scham bei Menschen mit einer Tumorerkrankung

22 H. Christof Müller-Busch

Scham und Schuld am Lebensende

26 45 Bartholomäus Grill | Verdrängt, vergessen, verklärt

verwundet (Theresia Hauser)

27 Maria Wasner

Scham und Sexualität in der letzten Lebensphase: Lassen Sie uns darüber reden!

32 Wolfgang Reuter

Ent-Schuldigung – eine Illusion?!

52 Reinhard Lindner, Barbara Schneider | Schuld und Scham nach Suizid

60  Matthias Claudius | Kriegslied

61  Katja Patzel-Mattern | Leicht und bequem

35 Samson Munn

Dan Bar-On: Das Streben nach Hoffnung hängt damit zusammen, der Wahrheit ins Auge zu sehen

41 Eleonore Fischer

Ein Weg aus der Last des Schweigens

44

FRAGE (Robert Gernhardt)

45 Bartholomäus Grill

Verdrängt, vergessen, verklärt – Warum wir uns so schwertun, die Verbrechen während der deutschen Kolonialzeit zu bekennen

49 Lukas Radbruch

Fehlerkommunikation bei Ärzten und Ärztinnen

52 Reinhard Lindner, Barbara Schneider Schuld und Scham nach Suizid

55 Susanne Leutner

Schuldgefühl und Scham beim Trauma einer Naturkatastrophe – Erfahrungen nach der Flut im Sommer 2021

60



bar machen – Zum Umgang mit Scham bei

Kriegslied (Matthias Claudius)

61 Katja Patzel-Mattern

Leicht und bequem: Die Geschichte vom idealen Gewicht und dem Narrativ scheinbarer

65

72 Fortbildung: Ein tabuisiertes Gefühl besprech­ der Pflege und Betreuung alter und kranker Menschen

76

Rezensionen

Mühelosigkeit

83 Verbandsnachrichten

Sarah Krüsi Leber

87 Cartoon | Vorschau

Scham in der Palliative Care – Die stille Begleiterin in der Betreuung von Menschen am Lebensende

88 Impressum

4

»Kann ich mir das jemals verzeihen?« Voraussetzungen und Möglichkeiten der Selbstvergebung

Chris Paul, Jan S. Möllers, Tanja M. Brinkmann Prozesse des Verzeihens oder Vergebens (wir benutzen die Begriffe in diesem Artikel als Synonyme) können eine große befreiende Kraft entfalten, gleichzeitig ist der Prozess für viele Trauernde nicht zugänglich. Das gilt besonders für ein Verzeihen sich selbst gegenüber. Wir untersuchen aus Sicht der »Konstruktiven Schuldbearbeitung«, wie ein Selbstverzeihen in der Beratung angeregt werden kann. Verzeihen wird dabei als voraussetzungsvoller Prozess wahrgenommen, der die innere Arbeit an verschiedenen Themen gleichzeitig erfordert. Tatsachen und Be-Deutungen »Das verzeihe ich mir nie!«, sagt Frau A. Ihre gesunde 19-jährige Tochter Mira hatte über Unwohlsein geklagt. »Soll ich zum Arzt gehen?«, hatte sie die Mutter gefragt und die hatte geantwortet: »Jetzt warte doch erst mal ab.« Am nächsten Vormittag war die junge Frau innerhalb weniger Minuten gestorben. Diese kurze Szene und der Tod von Mira sind Tatsachen, und diese Tatsachen werden am Ende eines Verzeihensprozesses nicht verschwunden sein. Verzeihen heißt nicht Vergessen (Boshammer 2020, S. 35 f.). Verzeihen hat nichts damit zu tun, Tatsachen auszulöschen oder Dinge ungeschehen zu machen. Verzeihensprozesse bedeuten einen veränderten Blick auf Geschehnisse, dieser Blick verändert nicht die Tatsachen, sondern deren zugeschriebene Be-Deutungen. Das entspricht der Grundhaltung der Konstruktiven Schuldbearbeitung (Paul 2010), die einen Schuldvorwurf als wertende Interpretation von

einzelnen oder mehreren verknüpften Ereignissen begreift. Verfestigte Schuldvorwürfe kommen einem Urteilsspruch gleich und führen zu Bestrafung oder Buße. Schuldinterpretationen betreffen dabei nicht nur einzelne Ereignisse, sondern setzen diese in einer zusammenhängenden Geschichte zueinander in Beziehung. Wesentlich ist, wie die Betroffenen selbst eine Tatsache oder eine Handlung bewerten. Die Vorwürfe, die Trauernde gegen sich selbst und gegen andere erheben, entbehren vor allem aus der Sicht von Außenstehenden oft einer logischen Nachvollziehbarkeit. Ganz besonders gilt dies für Vorwürfe gegen sich selbst. Daher wird oft zwischen »echter Schuld« und »eingebildeten Schuldgefühlen« unterschieden. So betrachtet wären die Selbstbezichtigungen von Frau A. kaum »echte Schuld«, Beratende würden sich mit dieser Einstellung ein eigenes Werturteil über die Lebensgeschichte der Trauernden anmaßen. Wir nutzen stattdessen konsequent den nicht bewertenden Blick der Konstruktiven Schuldbearbeitung, der sich auf beobachtbare Aktivitäten, Denken und Fühlen eines Menschen konzentriert. Strafe und Entmenschlichung Frau A. hat nach eigenen Aussagen wenig Lebensqualität, wie viele Menschen mit Schuldvorwürfen gegen sich selbst. Freude empfindet sie selten und wenn, dann erschrickt sie: »Das steht mir nicht zu!« Diese »Bußfertigkeit« entspricht einem juristischen, aber auch moralischen Ausgleichsprinzip, bei dem Schlechtes mit Schlechtem vergolten wird – mit dem Ziel, eine »Untat« irgendwann abgebüßt zu haben. Dieses ausglei-

chende »Schlechte«, das Menschen als ausgleichende Strafe über sich selbst oder andere verhängen, erfolgt in zwei großen Bereichen: Gewalt (physisch, emotional, verbal) und Lebensqualität (Entzug oder Verweigerung von zum Beispiel Kontakt, Raum, Licht, Bewegung, Genuss) (Paul 2010; Boshammer 2020). Beide Bestrafungsarten können leichter durchgeführt werden, wenn die Bestraften nicht mehr als vollwertige Menschen angesehen werden. Diese Entmenschlichung findet auch auf Seiten der Bestraften statt, ihr Selbstwert sinkt. Eine einzelne Tatsache oder eine aus verschiedenen Tatsachen komponierte Geschichte, die jemand selbst als schuldhaft interpretiert, führt so zu einer Generalisierung des Selbst als »dumm/schlecht/wertlos«. Wenn diese (Selbst-) Zuschreibung über Jahre hinweg bestehen bleibt, verlieren die Beschuldigten den Zugang zu ihrer eigenen Menschenwürde, ihrem Liebenswertund Wertvollsein. Mitgefühl mit wem? Vergeben und Verzeihen wird in Verzeihenskonzepten beschrieben als ein Prozess, bei dem Mitgefühl entwickelt wird für jemanden, der etwas Verletzendes, Schädigendes getan hat und bisher durch Bestrafung und Entwertung von Mitgefühl und Respekt ausgeschlossen wird (Klocke 2016, S. 189 f.; Stauss 2010). Was bedeutet es für den Prozess des Verzeihens, wenn er intrapersonal in einem Menschen stattfindet? Wer verzeiht dabei wem? Ein Schlüssel zu diesem Prozess ist die Erkenntnis, dass es zwei verschiedene Ich-Variationen gibt, die an diesem Prozess beteiligt sind: das heutige Ich und

Odilon Redon, La Cellule d’or, dit aussi: Le Profil Bleu, 1892 / akg-images

Im Prozess der Selbstvergebung ist die Einfühlung in das ­vergangene Ich der wichtigste Bestandteil. Sie kann auf eine Vielzahl von selbst bezeugten Tatsachen und Erinnerungen zurückgreifen.

das vergangene Ich (Paul 2021). Denn das Ich der Gegenwart unterscheidet sich von der Person, die in der Vergangenheit etwas getan hat, was die heutige Person als Fehler oder Verletzung einschätzt. Was »sich selbst vergeben« oder »sich mit sich selbst aussöhnen« genannt wird, ist abhängig von einer respektvollen und empathischen Kontaktaufnahme zwischen den beiden Ich-Stadien, also der Person der Gegenwart mit der Person in der Vergangenheit. Entscheidend ist dabei die Bereitschaft des heutigen Ichs, sich ohne Abwertung mit dem Ich der Vergangenheit zu beschäftigen. Das fällt unserer Erfahrung nach den Betreffenden sehr schwer. »Ich kann diese Person, die ich war, nicht leiden, sie ist fürchterlich!«, sind häufige Reaktionen auf das eigene Ich zu einem früheren Zeitpunkt. Das ganze Bild Eine direkte Einfühlung in das, was die Person sich vorwirft, verstärkt in der Regel die vorhandenen Selbstabwertungen. Hilfreicher ist es, die Empathie weg von dem kritischen Moment hin zur gesamten Person zu lenken. Das kann beispielsweise geschehen, indem Fotos zusammen angesehen werden aus der Lebensphase, in die

Schamgebeugt und schuldbeladen

Pierre Auguste Renoir, Roses / Bridgeman Images

6   C h r i s Pa u l , J a n S . M ö l l e r s , Ta n j a M . B r i n k m a n n

ein als schuldhaft bewertetes Handeln eingebettet war (Paul 2021). Das vergangene Ich bekommt so buchstäblich ein Gesicht, auf das nicht wie bisher mit pauschaler Verachtung und Abwertung reagiert werden kann. Bisher isoliert betrachtete Entscheidungen oder Handlungen, die Anlass für die Selbstbeschuldigungen sind, werden so eingeordnet in größere Zusammenhänge. Ein ganzheitlicher Blick auf sich selbst entsteht. Leitfragen bei dieser Einfühlung in ein vergangenes Ich konzentrieren sich ganz konkret auf die damalige Lebensrealität und die damalige Identität. Sie werden mit großem Interesse gestellt und wertschätzend angehört und gespiegelt. • • • • •

Wie war der Alltag damals? Wie haben Sie sich gefühlt? Was haben Sie gehofft? Wovor hatten Sie Angst? Wovon haben Sie geträumt?

Im Prozess der Selbstvergebung ist die Einfühlung in das vergangene Ich der wichtigste Bestandteil. Sie kann auf eine Vielzahl von selbst bezeugten Tatsachen und Erinnerungen zurückgreifen. Genau das löst potenziell die Befürchtung aus, dass in der Rekonstruktion einer ganzheitlichen Erinnerung noch mehr als Fehler bewertetes Verhalten oder abgewertete Eigenschaften und Ge-

fühle auftauchen könnten. Die wertschätzenden Gesprächsangebote von Beratenden sind dann notwendig, um sich auf eine weitere Selbsterforschung einzulassen. Auf der Grundlage einer ganzheitlicheren Erinnerung an sich selbst ist es im nächsten Schritt oft notwendig, die kritischen Momente, also die als schuldhaft betrachteten Taten oder Unterlassungen, möglichst genau zu rekonstruieren und dann wieder in den zuvor erarbeiteten Gesamtzusammenhang zu setzen (Paul 2018, S. 160 f.). Das als »unverzeihlich« bewertete eigene Handeln oder Unterlassen wird so Teil einer wertschätzenden Selbsterzählung. Bedauern tritt an die Stelle von Aburteilung. Selbstverachtung und Bitterkeit können sich wandeln in eine respekt- und vielleicht sogar liebevolle Akzeptanz der eigenen Begrenzungen. Sinnstiftende Schuldvorwürfe verzeihen Ein angeleitetes Verzeihen braucht Zeit und Geduld mit prozesshaftem Vor und Zurück der Gefühle und Gedanken. Ein Grund für die »Rückkehr« von Selbstbeschuldigungen kann mit der Grundidee der Konstruktiven Schuldbearbeitung (Brinkmann et al. 2021; Paul 2010) verstanden werden: Beschuldigungen und Vorwürfe dienen unter bestimmten Umständen der Erfüllung von Grundbedürfnissen.

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Sich selbst verzeihen heißt, sich selbst in Gegenwart und Vergangenheit mit mehr Respekt und Selbstempathie wahrzunehmen als bisher.

Ein Verzeihensprozess löst diese bisherige Bedürfnisbefriedigung eventuell unerträglich auf. Ein wirksamer und langfristig gültiger Verzeihensprozess braucht dann die alternative Befriedigung der zugrunde liegenden Bedürfnisse. Diese können unabhängig vom Verzeihensprozess einzeln bearbeitet werden (Paul 2010), oder sie finden im Rahmen des Verzeihensprozesses neue Antworten: • Im Prozess der Einfühlung in das vergangene Ich entstehen neue Narrative. • Handlungsfähigkeit (Eigen-Macht) wird im Prozess erlebt und in der Vergangenheit erinnert. • Schließlich führt eine Einfühlung in sich selbst auch zur Einfühlung in gelebte Beziehungen mit anderen, die ersehnte innere Verbundenheit kann dadurch außerhalb von Schuldverkettungen wahrgenommen werden. Resümee Sich selbst verzeihen heißt, sich selbst in Gegenwart und Vergangenheit mit mehr Respekt und Selbstempathie wahrzunehmen als bisher. Diese veränderte Perspektive erfordert Mut zur Erinnerung und zur Auseinandersetzung mit festgefügten Deutungsmustern. Respekt für und Einfühlung in sich selbst sind die wesentlichen Elemente und gleichzeitig die beglückende Folge eines Selbstverzeihens. Beratung kann hier wichtige Anregungen geben und im empathischen Kontakt ein Beispiel sein für die heilsame Kraft der Einfühlung in sich selbst.

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Chris Paul ist Soziale Verhaltenswissenschaftlerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Trauerberatung. Als Trainerin und Fachbuchautorin setzt sie sich seit über 20 Jahren für die angemessene Begleitung von trauernden Menschen ein. Sie ist eine der renommiertesten Trauerbegleiterinnen Deutschlands. Sie ist Leiterin des TrauerInstituts Deutschland und der Online-Akademie FacettenReich. Kontakt: [email protected] Website: https://chrispaul.de Jan S. Möllers ist ­Kulturanthropologe und Bestatter. Er ist Mitgründer des Be­statter*innenprojekts memento in Berlin: prozessorientierte Begleitung von Trauernden zwischen Sterbestunde und Grablegung ihrer Verstorbenen. Er arbeitet außerdem in der Ausbildung von Trauerredner*innen, Bestatter*innen, Trauerbegleiter*innen und verwandten Berufsgruppen mit den Schwerpunkten Rituale im Trauerprozess und gewaltsame Todesumstände. Kontakt: [email protected] Websites: w  ww.memento-entwicklungen.de, www.memento-bestattungen.de Dr. Tanja M. Brinkmann ist promovier­te Soziologin und Diplom-­Sozialpädagogin. Sie ist als selbst­ständige Trauerberaterin in Bremen und im deutschsprachigen Raum als Trainerin zu Palliative Care, Trauer und Selbstsorge tätig. Kontakt: [email protected] Website: www.tanja-m-brinkmann.de Weiterbildungen zum Thema mit den drei Autor:nnen: https://chrispaul.de/schuld/ Literatur Boshammer, S. (2020). Die zweite Chance. Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten. Hamburg. Brinkmann, T.; Möllers, J., Paul, C. (2021). Schuldvorwürfe in der Palliativversorgung neu verstehen. In: Zeitschrift für Palliativmedizin, 22, 3, S. 139–145. Klocke, G. (2016): Vergebung und Restorative Justice. In: Ochmann, N.; Schmidt-Semisch, H.; Temme, G. (Hrsg.): Healthy Justice. Überlegungen zu einem gesundheitsförderlichen Rechtswesen (S. 189–206). Wiesbaden. Paul, C. (2010). Schuld – Macht – Sinn. Arbeitsbuch für die Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess. Gütersloh. Paul, C. (2018). Warum hast du uns das angetan? Ein Begleitbuch für Trauernde nach einem Suizid. Güterlsoh. Paul, C. (2021). Vergeben muss nicht sein – Aber wenn es gelingt, ist es ein großes Geschenk. Online-Vortrag. https:// www.youtube.com/watch?v=oUOyE5XiSOk. Stauss, K. (2010). Die heilende Kraft der Vergebung. Die sieben Phasen spirituell-therapeutischer Vergebungs- und Versöhnungsarbeit. München.

Schamgebeugt und schuldbeladen

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Zwei starke Emotionen Scham und Schuld in der Pflege

Annette Riedel Scham ist ein komplexes Phänomen und nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Pflege ein tief verborgenes Gefühl, eine existenzielle Erfahrung. Pflegende sind aufgrund ihrer beruflichen leibnahen Tätigkeiten vielfältigen und wiederkehrenden Schamgefühlen ausgesetzt. Pflegeberufliches Wirken und Tun erfolgt an und im Rahmen der je individuellen Schamgrenzen (Baranzke und Güther 2021; Immenschuh 2020; Immenschuh und Marks 2014; Göring 2013a, 2013b). Hier sind sowohl die situationsbezogenen persönlichen Schamgefühle und -grenzen der Pflegenden wie auch die individuellen Schamgefühle und -grenzen der Gepflegten angesprochen, denn: Situative und individuelle Emotionen der Scham im Kontext pflegerischen Handelns und Interagierens betreffen die Pflegenden und die Gepflegten. Unter Scham wird nachfolgend sowohl das Gefühl der Scham als auch die Beschämung verstanden. Aufgrund der Wortgenese ist das »Sichverbergen« untrennbar mit dem Konzept der Scham verbunden und als Schameffekt bedeutsam (Wurmser 2016, S. 42). Scham in der Pflege Scham in der Pflege hat vielfältige Facetten: das ist die Scham der pflegebedürftigen Menschen angesichts intimer und berührungsintensiver Pflegesituationen und -maßnahmen (Körper- und Intimitätsscham), die Scham(-angst) angesichts der Verletzung des Selbstwertgefühls und der Privatheit im Rahmen pflegerischer Interaktionen/Interventionen (Scham als »Wächterin der Privatheit«; Wurmser 2016, S. 74), aber auch die

Scham(-angst) der Pflegenden, Ideale und Prinzipien professionellen Pflegehandelns nicht verwirklichen zu können. Pflegebedürftige Menschen empfinden sodann Scham gegenüber den Pflegenden, wenn die persönliche Schamgrenze verletzt ist. Die Pflegenden ihrerseits mögen Schuld empfinden, dass sie die Schamgefühle und/oder die -grenzen verletzt haben, und sie mögen zugleich Scham darüber empfinden, das Gegenüber durch das eigene Handeln oder auch Nichthandeln verletzt und beschämt zu haben. »Aufgrund der Schmerzhaftigkeit der Schamgefühle lässt sich Beschämbarkeit auch als Vulnerabilität im Hinblick auf den Menschen als Sozialwesen begreifen« (Baranzke und Güther 2021, S. 7). Das heißt: In Situationen jedweder Angewiesenheit und Vulnerabilität (von Pflegenden und von zu Pflegenden) sind die Scham sowie die Gefahr des Beschämtwerdens allgegenwärtig. Dies auch angesichts der gesellschaftlichen Vorstellungen eines normativen Köperideals, den Ansprüchen an Autonomie, Selbstständigkeit und Stärke. Pflegebedürftige Menschen können diesen Idealen vorübergehend oder langfristig nicht (mehr) entsprechen, etwa aufgrund eines physischen Kontrollverlustes, einer Inkontinenz oder Amputation. Neben der körperbezogenen Scham (Körperscham) kann auch die Identitätsscham im Kontext pflegerischer Abhängigkeiten eine Rolle spielen, wenn zum Beispiel die Person nicht in der Lage ist, die pflegerische Versorgung selbst zu finanzieren. Die auf Pflege angewiesenen Menschen werden verletzlich, sowohl in Bezug auf ihre Person wie auch in Bezug auf ihre Würde, in Bezug auf ihre körperliche, seelische und soziale Integrität

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fe abgelehnt oder abgewehrt wird (Schamabwehr). Scham kann folglich zu Versorgungsdefiziten führen. Versorgungsdefizite und deren Konsequenzen können wiederum Scham- und Schuldgefühle bei den Pflegenden auslösen. Es besteht eine Korrelation zwischen der Scham der pflegebedürf­ tigen Menschen und der Scham der Pflegenden und es gibt vielfach eine Verbindung zwischen Scham und Schuld.

© Norbert Spang

und in Bezug auf den persönlichen Selbstrespekt. Bei den pflegebedürftigen Menschen kann angesichts des eigenen (nicht mehr verlässlich agierenden) Körpers, der situativen Abhängigkeit und der höchst persönlichen Angewiesenheit eine tiefe Scham entstehen. Der Wunsch des »Sichverbergens« (Wurmser 2016, S. 42) kann dazu führen, dass relevante pflegerische Hilfe nicht oder nicht vollumfänglich angenommen wird, dass Hil-

Scham und Schuld der Pflegenden Im Kontext der Covid-19-Pandemie erlangt die Scham einen neuartigen, für Pflegende einschneidenden Konnex, der über die Scham hinaus geht, die im Rahmen der Pflegepraxis durch köpernahe Pflegesituationen ausgelöst wird. Diese Folgerung basiert darauf, dass laut Wurmser (2016) die Scham eine wichtige, Würde wahrende Funktion innehat. Auch vor dem Hintergrund dessen, dass sich Scham auch dann einstellt, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die eine Verletzung der Würde (und anderer Werte) nach sich ziehen, erlangen weitere pflegebezogene Maßnahmen, Interventionen und Situationen

Aufmerksamkeit. Hierunter sind im Rahmen der Pandemie die Situationen in den Blick zu nehmen, in denen Pflegende aufgrund externer Vorgaben und Restriktionen gezwungen sind, Maßnahmen zu realisieren und zu kontrollieren, die die Würde der pflegebedürftigen Menschen verletzen. In der Pandemie waren und sind das beispielsweise Maßnahmen der Isolation oder das Begrenzen von Besuchen in der letzten Lebensphase wie auch die Beschränkung von Teilhabe und Gemeinschaft. Kann die Würde der zu pflegenden Menschen in diesen Situationen nicht gewahrt werden, löst das bei den Pflegenden ein tiefes Ge-

Schamgebeugt und schuldbeladen

1 0   A n n e t t e R i e d e l

Foto: m.schröer

fühl der Scham und in der Folge vielfach auch der Schuld aus. Wurmser (2016, S. 55) spricht hier von einer »Scham-Schuld-Dialektik«. Scham und Schuld als begleitende Emotion können das hohe Maß an emotionaler Belastung der Pflegenden im Rahmen der Pandemie mit erklären. Angesichts der Vulnerabilität der zu pflegenden und von Pflege abhängigen Menschen, aber auch angesichts der berufsbedingten Vulnerabilität der Pflegenden, gebührt den Würde- und Integritätsverletzungen durch Grenzüberschreitungen (eigenen oder fremden Wirkens), durch Beschämung und/oder Verletzung von Schamgrenzen im Pflegealltag eine explizite Aufmerksamkeit. Denn: Zwischen Würde und Scham besteht ein beachtlicher Zusammenhang (Wurmser 2016; Immenschuh 2020). Angesichts dessen erlangen die persönliche, leiblich empfundene Scham, das Beschämen und Beschämtwerden sowie die Beschämbarkeit im Kontext der Pflege zugleich eine genuin ethische Bedeutsamkeit. Neben der Komplexität von Scham und der Bedeutung von Schamgrenzen, neben der Verbindung zur Würde(-verletzung) geht es auch um die

ethische Komponente der Emotion. Scham verweist in der Pflege nicht selten auch auf ein mögliches Konfliktfeld, das da heißt: Ich müsste aus der professionellen Perspektive heraus situativ anders handeln/entscheiden und kann aufgrund der Gegebenheiten jedoch nicht anders handeln/ entscheiden. In würdeverletzenden Situationen und in Situationen, in denen Pflegende gegen ihr professionelles Selbstbild agieren, wenn (professionelle) Grundbedürfnisse verletzt werden, die eigene Wertehaltung missachtet wird, dann wird Scham zu einem moralisch höchst belastenden Gefühl, das möglicherweise mit einem weiteren Gefühl einhergeht: der Schuld, hier insbesondere in einem normativen Verständnis. Schuld- und Schamgefühle können in der Kombination auch dann auftreten, wenn das Gefühl im Raum steht, der professionellen Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein. Bedeutsam ist das zum Beispiel im Zusammenhang von erlebten Suiziden und Suizidversuchen im beruflichen Kontext. Der Suizid oder der Suizidversuch einer Patientin/eines Patienten ist in seinen Auswirkungen eine Bedrohung für die persönliche und berufliche Identität und Integrität, wenn die Schuldgefühle im Raum stehen, den ­Suizid(-versuch) nicht verhindert zu haben, wenn die Angst im Raum steht, schuldig geworden zu sein, aber auch dann, wenn die Scham, darüber zu sprechen, einer Verarbeitung entgegensteht. Die von Wurmser (2016, S. 55) ­beschriebene Scham-Schuld-Dialektik verweist explizit auf die Bedeutsamkeit der ethischen und normativen Komponente von Scham und Schuld. Dieser Befund ist angesichts der notwendigen (moralisch) entlastenden Interventionen für die Pflegenden (wie zum Beispiel ethische Fallbesprechungen oder auch Supervision) von Belang. Scham und Schuld – belastende (moralische) Emotionen der Pflegenden Es wurde deutlich: Das Gefühl der Scham und/ oder Situationen der Scham, des Beschämens,

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der Beschämbarkeit sind eng mit dem Gefühl der Schuld assoziiert. Hier spielt neben der emotionalen auch die moralische Ebene eine Rolle. Wer eine Person in ihrer Scham verletzt, etwa dadurch, dass Schamgrenzen im Kontext professionellen Handelns und Interagierens berührt oder überschritten werden, empfindet vielfach Schuldgefühle dahingehend, Regeln, Normen und Grenzen missachtet zu haben. Schuldig fühlt sich die Person, die situativ beschämend gewirkt hat, aber auch die Person, die Schamgefühle durch ihr Handeln, Auftreten oder Interagieren ungewollt – zum Beispiel aus Unkenntnis bezüglich sensibler/intimer/persönlicher Sachverhalte – provoziert hat. Somit ist zu konstatieren: Beschämen und beschämt werden kann die persönlichen Schamgefühle der Pflegenden wie auch der zu pflegenden Menschen erhöhen. Beschämen und Beschämtwerden kann aber auch Schuldgefühle auslösen. Persönliches Schulderleben wiederum – zum Beispiel aufgrund eines unterlaufenen Fehlers als Pflegende oder aufgrund fehlender Adhärenz, einer ungesunden krankheitsförderlichen Lebensweise als Patient*in – kann zu Scham führen. Somit wird deutlich: Scham und Schuld sind zwei starke soziale und auch moralische Emotionen. Schuld kann gar als moralisches Urteil wirken. Zwei Emotionen, die in der Pflege beachtlich sind. Sie fordern im Miteinander der Pflegenden sowie im professionellen Pflegehandeln ein hohes Maß an Sensibilität dahingehend ein, Risiken der Scham und Beschämung zu antizipieren, Scham und Beschämbarkeit zu reduzieren und jeglichen (scham-)verletzenden Konstellationen vorzubeugen. Parallel bedarf es der institutionell verankerten Formate der ethischen Reflexion und der moralischen Entlastung, wie zum Beispiel durch strukturierte und regelmäßig realisierte Formate der ethischen Fallbesprechung. Die ethische Reflexion ist angesichts der wirkenden situativen und persönlichen Vulnerabilität bedeutsam sowie angesichts der Gefahr einer nachhaltig verletzten In-

tegrität der jeweils Betroffenen und Beteiligten im Kontext beschämender Situationen und Interaktionen wesentlich. Und: Ethische Reflexion ist zugleich im Kontext der Beschämung und der vielfach parallel beteiligten Würdeverletzung sowie der möglichen Verletzung des Selbstwertgefühls (durch Scham und Schuld) konstitutiv. Scham ist in der Pflege als Ausdruck eines Schutzbedürfnisses (der Pflegenden und der Gepflegten) anzuerkennen (Maio 2020). Die Tabuisierung dieses komplexen Phänomens ist angesichts der dargelegten Bedeutsamkeit inakzeptabel. Im Kern geht es darum, eine (Menschen-) Würde wahrende Pflege und -beziehung sicherzustellen, die Beschämung, Beschämungspraktiken, Demütigung und Grenzverletzungen vorbeugt und begegnet und demgegenüber Schutz, Anerkennung sowie Integrität und Selbstwertgefühle stärkt, aber auch die Vulnerabilität und die Fragilität des Selbst schützt. Prof. Dr. phil. habil. Annette Riedel ist Pflegefachkraft und seit 2008 Professorin an der Hochschule in Esslingen mit den Lehrschwerpunkten Ethik und Pflegewissenschaft. Kontakt: [email protected]

Literatur Baranzke, H.; Güther, H. (2021). Beschämbarkeit – Zur pflege­ethischen Relevanz einer brisanten Vulnerabilität. In: Riedel, A.; Lehmeyer, S. (Hrsg.): Ethik im Gesundheits­wesen, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. https:// doi.org/10.1007/978-3-662-58685-3_39-2. Göring, K. (2013a). Alter und Scham. In: Soziale Passagen, 5, S. 51–58. Göring, K. (2013b). Scham und Isolierung als Grund­ pro­ blem einer Brustkrebspatientin. In: Nittel, D.; Seltrecht, A. (Hrsg.): Krankheit: Lernen im Ausnahmezustand? (S. 259– 268). Heidelberg. Immenschuh, U. (2020). Unerhörte Scham in der Pflege. Über die Notwendigkeit einer unbeliebten Emotion. Frankfurt a. M. Immenschuh, U.; Marks, S. (2014). Scham und Würde in der Pflege. Frankfurt a. M. Maio, G. (2020). Die Scham – eine philosophische Annäherung. In: Der Onkologe, 26, S. 362–366. Wurmser, L. (1990/2016). Die Maske der Scham. Zur Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin.

Schamgebeugt und schuldbeladen

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»Wie viel Schuld trage ich an deiner Scham?« Scham und Schuld in der Existenziellen Psychotherapie

Lucas Cranach d. Ä., Adam und Eva, 1528 /  Public domain, via Wikimedia Commons

Christian Schulz-Quach

Die Grundsituation menschlicher Existenz kann verwirren: Niemand unterzeichnet einen Vertrag, bevor man in das Leben und seine Mit- und Umwelt buchstäblich hineingeworfen wird, ohne zu wissen, wie es denn geht, zu leben. Gleichwohl ist es mit dem ersten Atemzug bereits beschlossene Sache, dass wir enden werden und in der Zwischenzeit unendliche Mengen an Entscheidungen treffen werden. Auf welcher Basis? Wie rechtfertigen wir getroffene Entscheidungen oder welche, die durch die Vermeidung entschieden wurden? Wie gehen wir mit Lebensumständen und traumatischen Erlebnissen um, in denen wir keinerlei Entscheidung hatten, aber ob der Gegebenheit unseres Geworfenseins in die Welt nicht entkommen konnten, ganz ohne Wahl? In der Existenziellen Psychotherapie werden diese (ontologischen) Bedingungen des Seins reflektiert und als Ausgangspunkt für ein tiefergehendes und beziehungsorientiertes Verständnis von Scham- und Schulderleben genutzt. In diesem Artikel möchte ich versuchen, mein bisheriges Verständnis zu Scham- und Schulderleben zusammenzufassen, und es mit einer Einladung zur mutigen Selbstreflexion verbinden. Scham und zugehörige Emotionen In moderner beziehungsorientierter Interpretation ist Scham ein grundlegender Ausdruck von Selbstwahrnehmung. Sartre benannte den Moment des Schamerlebens als »ein(en) unmittel-

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bare(n) Schauer, der mich von Kopf bis Fuß durchläuft, ohne jede diskursive Vorbereitung« (Sartre 1943, S. 246); Scham ist daher also keine reflektierte Form von Selbstbewusstsein, sondern vielmehr eine primäre beziehungsorientierte Erfahrung, die auf die (innere) Präsenz des anderen angewiesen ist. Ich schäme mich für das, was oder wer ich bin (gegenüber einem anderen). Die Abgrenzung zu anderen Affektzuständen ist nicht immer einfach und unzweideutig. Verlegenheit oder Peinlichkeit enthalten Aspekte von Scham, jedoch ist das Erleben oft situativ und flüchtig und kann im Gegensatz zu Scham­erleben häufig durch Humor neutralisiert werden. Erniedrigung als Konsequenz von degradierendem Erleben durch das Verhalten anderer hat den Hauptfokus auf dem schädlichen und unfairen anderen, was Erniedrigung von primärem Schamerleben differenziert. Wenn ein erniedrigter Mensch das Erlebte auf sich bezieht und sich selbst Schuld zuweist für die erlebte Erniedrigung, dann wird als Konsequenz Schamerleben folgen. Scham tritt also nicht auf, weil ein anderer etwas tut oder ich dem anderen etwas tue, sondern weil eigenes Handeln im Selbsterleben eine unangenehme Wahrheit über das eigene Selbst zu offen­baren scheint. Karlsson und Sjöberg veröffentlichten 2009 eine phänomenologisch-psychologische Studie über das Erleben von Schuld und Scham mit dem Ziel, die Beziehung zwischen beiden Affekt­ zuständen genauer zu differenzieren. Sie arbeiten drei zentrale Unterschiede heraus: 1. Schuld bezieht sich auf (unterlassenes) Handeln, also auf das Tun. Scham hingegen bezieht sich auf das Selbst und damit auf den Modus des Seins. Selbst wenn sich Scham also auf Handeln bezieht, so ist das Erleben nicht auf die Handlung an sich bezogen, sondern auf die damit verbundene Selbstoffenbarung. 2. Im Schulderleben ist der Betroffene das Handlungssubjekt, der andere erscheint als das vulnerable Schuldobjekt unseres Tuns. Im Schamerleben andererseits wird das eigene Selbst als durch den anderen objektiviert erlebt. Schuld

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hat die Funktion, die Integrität des anderen zu bewahren, während Scham das Selbst und die eigene innere Identität beschützt. 3. Scham ist ein Hier-und-Jetzt-Erleben, es ist unmittelbar. Schuld hingegen hat eine prozesshafte Charakteristik: Eine Situation wird durchlebt und dann nachträglich durch Bewertung und Deutungszuweisung schuldhaft belegt. Welche Relevanz hat Scham in der therapeutischen Praxis? Scham gehört zu den fundamentalen menschlichen Emotionen, die die conditio humana ausmachen und somit in der Therapiepraxis regelmäßig auftauchen – bei Patienten und Therapeuten. Scham kann weder dauerhaft vermieden werden, noch ist es einfach, über sie zu sprechen. In ihrer protektiven Form erfüllt Scham die Aufgabe, die privatesten und intimsten Aspekte unserer Existenz gegenüber öffentlicher Bloßstellung und Bewertung zu bewahren und sensibel und respektvoll gegenüber Intimitätsgrenzen zu sein. In diesem Sinne ist Scham ein natürlicher Prozess, der die Privatsphäre von Freundschaft, Liebe, Spiritualität, Sexualität, Geburt und Tod reguliert. In ihrer chronischen und toxischen Form kann Scham jedoch zu schwerer Beeinträchtigung der Lebensqualität und zu tiefgehenden interpersonellen Konflikten führen. Scheel und Kollegen (2013) untersuchten den Zusammenhang zwischen spezifischen Formen von Schamerleben und der Assoziation mit bestimmten psychiatrischen Diagnosegruppen. Dabei differenzierten sie zwischen Körperscham (bezogen auf Körperideal, Intimität und Sexualität), Kognitiver Scham (bezogen auf moralische Standards, Kompetenz und soziale Exklusion) und Existentieller Scham (bezogen auf ein andauerndes Gefühl von Identitätsscham und auf die eigene Person als Ganzes). Die Arbeitsgruppe identifizierte eine hohe allgemeine Schamneigung mit besonders ausgeprägter existenzieller Scham in der Gruppe von Personen mit emotionaler Instabilität, chroni-

Scham gehört zu den fundamentalen menschlichen Emotionen, die die conditio humana ausmachen und somit in der Therapiepraxis regelmäßig auftauchen – bei Patienten und Therapeuten. Scham kann weder dauerhaft vermieden werden, noch ist es einfach, über sie zu sprechen.

schem Selbsthass und selbstverletzendem Verhalten. Es ist bekannt, dass die Neigung zu erhöhtem chronischem Schamerleben bei Personen mit belastenden Kindheitserlebnissen deutlich verstärkt ist (Weaver und Sullins 2022). Elterliche Scheidung/Trennung, Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch in der Familie, emotionale Vernachlässigung und verschiedene Formen von Misshandlung führen zu verstärktem Schamerleben und signifikant erhöhtem Risiko von Depressivität, Ängstlichkeit, körperlicher Aggressivität und eingeschränkter Lebenszufriedenheit (Witt et al. 2019).

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Darüber hinaus spielt Scham eine zentrale Rolle in der Psychotherapie von internalisierter Unterdrückung von Personen in einem weiten Feld von (intersektionalen) Minderheitserfahrungen wie zum Bespiel Personen mit Migrationserfahrung, Körperbehinderungen oder LGBTIQIdentität. Das negative Erleben von Anderssein, von sozialer Exklusion und die Konfrontation mit normativen Erwartungen, häufig geprägt von heteronormativen Prämissen, führt zu Minderheitenstress und kann krank machen. Insbesondere im Bereich der nicht sichtbaren Minderheitsmerkmale kann Scham eine toxische Rolle in der Identitätsbildung spielen. Wenn die psychosozialen Lebensbedingungen dauerhafte innere Vermeidung und Verdrängung erzwingen, gleichzeitig aber ein fortwährender Coming-outDruck besteht, so kann Scham in ihrer chronischen Form zu Selbstentwertung, Selbstverlust und damit seelischer Krankheit führen. In diesen Fällen haben Psychotherapeut:innen eine große Verantwortung, ihre eigene Erwartungshaltung, ihre eigene Schamgeschichte und unbewusste Voreingenommenheit zu reflektieren, damit sie im therapeutischen Prozess erkannt und besprechbar gemacht werden können. Schamerleben ist wie ausgeführt ein beziehungsorientiertes Erleben, das nur im Zusammenhang mit der Mit- und Umwelt einer Person verstanden werden kann und somit unvermeidlich seinen Weg in die psychotherapeutische Arbeit und die Therapiestunde findet. Gleichzeitig bleibt Schamerleben für Patienten häufig unbewusst, gerade weil primäre Scham solch eine starke und überflutende Qualität haben kann, dass starke und anhaltende Abwehrmechanismen Einfluss verhindern. Es ist die Aufgabe des Therapeuten, Unbesprochenes schrittweise besprechbar zu machen, damit die therapeutische Beziehung nicht zu einer unbewussten Wiederholung (Kollusion) und (Re-)Traumatisierung führt. Die Bearbeitung von Scham wird blockiert, wenn Scham und das Gefühl des Schämens in der therapeutischen Beziehung nicht explizit angesprochen werden kön-

nen. Im Fall von existenzieller Scham ist häufig eine lange Vorbereitungsphase notwendig, um Scham selbstwertschützend und therapeutisch integrierend ansprechen zu können (Shahar 2022). Wenn Patient:innen sich aufgrund des eigenen negativen Selbstbildes als Belastung empfinden oder überzeugt sind, dass sie von der Therapeutin abgelehnt oder abgestoßen werden, bedarf es einer beziehungsorientierten, langsamen Aufbauarbeit, um Brüche in der Beziehung gemeinsam überstehen zu können und die Beziehung zu vertiefen. Erst wenn die therapeutische Beziehung stabil genug ist, um als sicher angesehen zu werden, kann Scham in das therapeutische Erleben Eintritt finden (Becker 2019). Prof. Dr. Christian Schulz-Quach ist Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin, Psychotherapie mit Zusatzbezeichnung Palliativmedizin. Er lebt in Toronto und lehrt an der dortigen Universität und dem Global Institute of Psychosocial, Palliative and End-ofLife Care (GIPPEC) in Kanada. Kontakt: [email protected] Literatur Becker, S. (2019). Existentielle Scham im therapeutischen Kontext.  In: Zeitschrift für Psychodrama und Sozio­me­ trie, 18, 2, S. 347–355. Karlsson, G.; Sjöberg, L. G. (2009). The experiences of guilt and shame: A phenomenological–psychological study. In: Human Studies, 32, 3, S. 335–355. Sartre, J.-P. (1943). L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris. Scheel, C, N.; Bender, C.; Tuschen-Caffier, B.; Jacob, G. A. (2013). SHAME – Entwicklung eines Fragebogens zur Erfassung positiver und negativer Aspekte von Scham. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 42, 4, S. 280–290. Shahar, G. (2022). Yalom, Strenger, and the psychodynamics of inner freedom: A contribution to existential psychoanalysis. In: Psychoanalytic Psychology, 39, 1, S. 5. Weaver, M. G.; Sullins, J. (2022). The relationship between adverse childhood experience, guilt proneness, and shame-proneness: An exploratory investigation. In: Modern Psychological Studies, 27, 1, S. 10. Witt, A.; Sachser, C.; Plener, P. L.; Brähler, E.; Fegert, J. M. (2019). Prävalenz und Folgen belastender Kindheitserlebnisse in der deutschen Bevölkerung. In: Deutsches Ärzteblatt, 116, 38, S. 635–642. Zahavi, D. (2020). Shame. In:  Szanto, T.; Landweer, H. (Hrsg.): The Routledge handbook of phenomenology of emotion (S. 349–357). London, New York.

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Klaus Meinhardt

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Wir warten auf Wunder Sprechen uns frei von Schuld Sprechen die anderen Schuldig Wir lassen uns treiben vom Wind er läßt uns fallen Das Wunder wartet auf uns. Rose Ausländer (1901–1988) Aus: Gesammelte Werke/Die Erde war ein atlasweisses Feld. Hrsg. von Helmut Braun © 1985, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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»Machen Sie sich frei« Scham bei Menschen mit einer Tumorerkrankung

Margit Schröer und Susanne Hirsmüller Durch die Erkrankung und ihre Therapien sind Betroffene in vielfältiger Weise immer wieder beschämenden Situationen ausgesetzt. Eine 38-jährige Bankangestellte mit Brustkrebs berichtete: »Es war ganz furchtbar für mich, als mir klar wurde, dass alle meine Arbeitskollegen durch die Perücke von meinem Krebs erfuhren. Ich hatte ständig das Gefühl, dass sie hinter meinem Rücken über mich sprachen. Im Gegensatz zu meiner Familie und wenigen Freunden wussten sie schließlich bis dahin nichts davon. Ich fühlte mich wie zwangsgeoutet. Ich konnte die jetzt wissenden Blicke nicht ertragen und schämte mich so sehr, weil ich glaubte, alle sähen die Glatze unter der Perücke. Ich habe sogar nachts davon geträumt.« Im Fokus einer Schamerfahrung steht das Gefühl, durch Äußerungen, Handlungen oder körperliche Gegebenheiten wehrlos Beschämungen, Kränkungen, Erniedrigungen oder Demütigungen ausgesetzt zu sein, ohne ihnen entkommen zu können. Ein Detail aus der Privat- oder sogar Intimsphäre eines Menschen ist öffentlich geworden. Abgrenzung Scham – Beschämung Scham hat aber auch positive Seiten als Alarmund Schutzfunktion: Sie hält viele Menschen davon ab, bewusst gemein oder respektlos gegenüber Mitmenschen zu sein, und sie alarmiert uns, wenn wir Gefahr laufen, unsere Achtung zu verlieren (Hell 2021). Wichtig ist die Unterscheidung zwischen der Scham, sich schämen (refle-

xiv) als Gefühl, das mit einer Erschütterung der Selbstachtung und der Sorge um den Verlust der Gemeinschaftswürdigkeit einhergeht, und der Beschämung, einem Verhalten oder Handeln anderer, das unabsichtlich oder absichtlich Schamgefühle bei einer anderen Person hervorruft. Die negative Konnotation der Scham bezieht sich tatsächlich meist auf das Erleben von Kränkungen und Beschämungen – und diese machen auf Dauer krank, nicht die Scham. Hell sieht die Scham als eine wesentliche salutogenetische Ressource und damit als Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren. Und dennoch ist das Erleben von Scham und Beschämung sehr belastend, denn bei akuter heftiger Scham werden – wie mit Studien (Lammers 2016) gezeigt wurde – dieselben Hirnareale wie bei existenzieller Angst aktiviert. Scham kann ebenso zu einer existenziellen Erfahrung werden. Menschen mit einer Tumorerkrankung leiden besonders unter Körper- und Intimitätsscham. Sie entsteht, wenn der eigene Körper oder Teile davon nicht der vermeintlichen gesellschaftlichen Norm entsprechen, selbst wenn dies nur in der Vorstellung der betroffenen Person so ist; wenn jemand sich vor Fremden enthüllen muss (wie so oft im Gesundheitswesen) und der fremde Blick auf Stellen fällt, die der- oder diejenige lieber verborgen halten möchte, wie zum Beispiel einen Anus praeter (künstlicher Darmausgang), Narben nach (Krebs-)Operationen, Tumorwunden, besonders im Genitalbereich (der bei Frauen im Deutschen fatalerweise auch als »Schamgegend« bezeichnet wird). Die soziale Scham bezieht sich auf die Integration der Menschen in die Gesellschaft, in der sie leben. Diese Schamgefühle sind häufig ver-

Auguste Rodin, The Old Courtesan, 1885 / Photo © Boltin Picture Library / Bridgeman Images

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knüpft mit Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit, Alter und Armut. Die Betroffenen fühlen sich minderwertig gegenüber Gesunden, da sie zum Beispiel durch die Krankheit und ihre Folgen nicht die Leistung erbringen können, die die Gesellschaft erwartet oder die sie selbst erreichen möchten. Letztlich wird der kranke Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, erlebt sich isoliert von den anderen. Körperliche Schwäche, Gefühle des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und der Abhängigkeit von anderen – in den Augen von Betroffenen der drohende Verlust ihrer Autonomie – sind für viele Menschen »Horror«-Vorstellungen und lösen bei ihnen massive Schamgefühle aus, die ihre subjektive Lebensqualität stark beeinträchtigen. Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich, dass Schamgefühle bei den meisten somatischen und psychischen Erkrankungen eine große Rolle spielen können. Hilgers weist in seinem Buch »Scham – Gesichter eines Affekts« (2013) darauf hin, dass der Scham bei körperlichen Erkrankungen, den Behandlungen sowie deren Folgen bis heute viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Schon die Mitteilung der oft als stigmatisierend empfundenen Diagnose »Krebs« kann Schamgefühle auslösen, denn der Arzt oder die Ärztin sieht und benennt damit die Wirklichkeit, die die Patientin oder der Patient bis dahin nicht sehen konnte oder wollte. Jede schwerwiegende Erkrankung mit weitreichenden Folgen geht mit Scham einher. Diese kann eine tiefgreifende Infragestellung des

Selbstbewusstseins auslösen. Die Identität wird erschüttert – ausgehend vom Körperbild bis ins »Ich« hinein. Dies führt oftmals zu einem sozialen Rückzug. Krebs löst bei etlichen Menschen in unserer Gesellschaft immer noch eine gewisse Nicht-Akzeptanz aus, wie uns häufig von Tumorpatient:innen in der Beratung berichtet wurde. So wird bei Krebserkrankungen – obwohl Studien dies widerlegt haben – noch immer in Teilen der Bevölkerung von der »Krebspersönlichkeit« gesprochen und von einer Mitschuld der Erkrankten ausgegangen, was die Scham der Betroffenen erhöhen kann. Zudem erinnern schwere Krankheit, Behinderung und Alter die Gesunden letztlich an ihre eigene Vergänglichkeit und damit an die Illusion, dass die Gesundheit beherrschbar sei. Die Angst, irgendwann selbst auch von Krankheit und Sterben betroffen zu sein, führt zu Abwehr bis zur Ausgrenzung von Menschen mit einer Tumorerkrankung und damit wiederum zu Schamgefühlen bei den Betroffenen. Patient:innen erleben immer wieder in den verschiedensten Situationen Entblößung, Nacktheit, Schutzlosigkeit, Schwäche, unter Umständen auch den Verlust der Kontrolle ihrer Körperfunktionen, was bei ihnen tiefe Scham auslösen kann. In Untersuchungen oder Behandlungen wird die Intimitätsschwelle regelmäßig übertreten – dies muss von allen Beteiligten abgewehrt werden. Hilgers entlarvt die sich daraus ergebende »Schamfalle« folgendermaßen: Bei der oft rustikal-robusten Art von Ärzten und Pflegenden

Menschen mit einer Tumorerkrankung leiden besonders unter Körper- und Intimitätsscham. Sie entsteht, wenn der eigene Körper oder Teile davon nicht der vermeintlichen gesellschaftlichen Norm entsprechen, selbst wenn dies nur in der Vorstellung der betroffenen Person so ist. Schamgebeugt und schuldbeladen

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bei Untersuchungen und anderen Tätigkeiten handelt es sich seiner Meinung nach um kontraphobisches Agieren. »Die oft benutzte Aussage ›Sie brauchen sich doch nicht zu schämen!‹ hilft den Behandlern über ihre eigenen Peinlichkeits­ erlebnisse hinweg, dem Patienten vermittelt es ein weiteres Problem: nicht nur, dass sie sich ohnehin schon schämen, sie müssen sich jetzt auch noch schämen, weil sie sich weiterhin schämen« (Hilgers 2013, S. 130). Sorge tragen für die Be-Achtung der Scham Es ist daher notwendig, dass alle Mitarbeitenden im Gesundheitswesen, in Therapie, Beratung und Begleitung eine Schamkompetenz entwickeln – gemeint ist damit ein sensibles Gespür für schamvolle Situationen und den einfühlsamen Umgang damit–, Reflexionsprozesse anstoßen und ihr Verhalten neu ausrichten. Sie müssen alles tun, um die individuellen Schamgrenzen kranker Menschen wahrzunehmen und zu achten. Statt die Scham der Betroffenen zu ignorieren, steht der Schutz der Intimsphäre im Mittelpunkt. Voraussetzungen dafür sind, dass sie sich zuerst mit ihren eigenen Schamgefühlen auseinandersetzen sowie den Umgang mit »Macht«, ihren Wirkungen und Folgen überdenken, um dann ihr Handeln entsprechend zu gestalten. So

können sie Patient:innen in ihrer Vulnerabilität eher einen geschützten Raum bieten. Scham ist natürlich nicht in allen Situationen vermeidbar, sie sollten stets dafür sorgen, Menschen überflüssige Scham zu ersparen. Da stimmen wir mit Bieri (2013) darin überein, Würde sogar als das Recht, nicht beschämt zu werden, zu bezeichnen. Um kranken Menschen Peinlichkeiten und Schamgefühle im Gesundheitssystem weitestgehend zu ersparen, gibt es zahlreiche Möglichkeiten: beim Entkleiden sollte nur das tatsächlich zu untersuchende Körperteil mit der Ankündigung, was und wie untersucht wird, so kurz wie möglich entblößt werden. Untersuchungsresultate sollten erst nach dem Ankleiden – und nicht im Stehen – mitgeteilt werden. Für den »Erhalt der Persönlichkeit« sollten Betroffene stets mit ihrem Namen angesprochen werden. Wundsekret- oder Urinbeutel können in Stofftaschen »versteckt« werden. Besonders massiv ist die Verletzung der Scham bei allem, was mit Sexualität oder Erkrankungen des Uro-Genital-Trakts zu tun hat, auch bei Männern. Patient:innen können aufgrund der mangelnden Empathie oder ungenügenden bis fehlenden Kommunikationsfähigkeiten mancher Ärzte und Ärztinnen nicht mit diesen darüber sprechen. Das Ziel dieser Gespräche mit den Patient:innen und gegebenenfalls deren Partner:innen ist eine Stärkung der Identität und Selbstakzeptanz, um

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ihnen (wieder) ein »un-verschämteres« Leben und Lieben zu ermöglichen (siehe auch den Artikel von Maria Wasner, 27 ff.). Umgang mit Scham in Therapie und Beratung Bevor wir uns mit therapeutischen Möglichkeiten im Umgang mit der Scham befassen, möchten wir darauf aufmerksam machen, dass von einigen Patient:inen bereits das Angebot psychoonkologischer und psychotherapeutischer Beratung und Unterstützung als beschämend erlebt werden kann. Denn die Inanspruchnahme dieser Hilfe würde in ihren Augen bedeuten, dass sie nicht nur unter der stigmatisierenden Erkrankung Krebs leiden, sondern zudem die Behandler:innen ihnen nicht zutrauen, allein mit der Situation umgehen zu können, und sie daher auch noch eine Psychologin/Psychotherapeutin benötigen, die ihnen helfen soll. Wir müssen aufmerksam werden und lernen, die verbalen und nonverbalen Signale der Scham zu entschlüsseln, denn Scham kann in vielen Masken auftreten. Sie verbirgt sich häufig hinter einer Fassade aus Enttäuschung, Wut, Frustration, eigener Abwertung, Bagatellisierung oder einer Mischung verschiedener Emotionen und Verhaltensweisen. Kaufman (zitiert nach Tiedemann 2016) schlägt Klient:innen im Umgang mit Schamgefühlen Folgendes vor: Er weist sie darauf hin, dass sich die Aufmerksamkeit der Person beim Aufkommen von Scham immer nach innen richtet. Deshalb leitet er die Patient:innen an, ihren Aufmerksamkeitsfokus in beschämenden Situationen bewusst nach außen zu lenken, in dem sie sich auf die Umgebung und nicht auf ihr Inneres konzentrieren (refocusing attention). Beratung und selbstwertstärkende psychotherapeutische Interventionen, in denen das Beratungssetting als Schutzraum erlebt werden kann und mit größtmöglicher Achtung und therapeutischem Takt gearbeitet wird, können Menschen

mit einer Tumorerkrankung hilfreiche und nachhaltige Unterstützung bieten (siehe auch den Artikel von Christian Schulz-Quach, S. 12 ff.). Professionalität heißt in diesem Zusammenhang, die Scham der Patient:innen zu spüren, bewusst wahrzunehmen, sie einfühlend in Worte zu fassen und dabei auf Konfrontation zu verzichten. Denn Immenschuh und Marks (2014) weisen uns auf das Bedürfnis von Patientinnen und Patienten hin: »Sehen Sie nicht alles von mir und nicht immer!« Dipl.-Psych. Margit Schröer ist psychologische Psychotherapeutin, Psycho­ onkologin, Supervisorin und Ethikerin im Gesundheitswesen. Sie war leitende Psychologin in einem großen Krankenhaus in Düsseldorf und lehrt an zwei Universitäten. Dr. Susanne Hirsmüller ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, Psychoonkologin und Ethikerin im Gesundheitswesen. Sie ist Dozentin in den Studiengängen »Pflege« und »Hebamme« an der Hochschule Bremen und Lehrbeauftragte für Palliative Care an der Universität Freiburg. Literatur Bieri, P. (2013). Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. München. Bohn, C. (2015). Macht und Scham in der Pflege. Beschämende Situationen erkennen und sensibel damit umgehen. München/Basel. Cyrulnik, B. (2011). Scham. Im Bann des Schweigens – Wenn Scham die Seele vergiftet. Hünfelden. Hell, D. (2021). Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen. 2. Auflage. Gießen. Hilgers, M. (2013). Scham. Gesichter eines Affekts. 4.  Auflage. Göttingen. Immenschuh, U.; Marks, S. (2014). Scham und Würde in der Pflege. Ein Ratgeber. Frankfurt a. M. Lammers, M. (2016). Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. Ein Praxishandbuch mit Download-Material. Stuttgart. Larsson, L. (2012). Wut, Schuld, Scham. Drei Seiten der gleichen Medaille. Paderborn. Maio, G. (2020). Die Scham – eine philosophische Annäherung. In: Der Onkologe, 26, S. 362–366. Schenk, M.; Senf, W.; Rossi Neto, R.; Tschirdewahn,  S. (2014). Psychoonkologie  – ganzheitliche Betreuung von Tumorpatienten. In: Rübben, H. (Hrsg.): Uroonkologie. 6. Auflage (S. 50–61). Berlin/Heidelberg. Tiedemann, J. L. (2016). Scham. 2. Auflage. Gießen.

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Scham und Schuld am Lebensende H. Christof Müller-Busch »Muss ich denn wirklich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich sterbe?«, fragte die hochbetagte alte Dame im Seniorenheim, als der Arzt sie überzeugen wollte, sich baldmöglichst die nächste Spritze gegen Corona verabreichen zu lassen. »Niemand stirbt für sich allein«, antwortete der Arzt und spürte, wie ihn Verärgerung über die Starrsinnigkeit der alten Dame irritierte, aber auch verlegen machte. Eine rasche, durchaus auch richtige, vielleicht sogar stimmige Antwort – und doch unbefriedigend. Wie häufig, ja fast zwangsläufig verstärken wir die Scham- und Schuldgefühle unserer Patientinnen und Patienten, auch wenn wir nur das Beste wollen. Wie und wann können wir es zulassen, dass sich Sterbende in eine eigene Welt zurückziehen, nicht gestört werden wollen? Sterbende verstehen beginnt mit dem Respekt vor Scham. Wenn wir über Schuld- und Schamgefühle bei Sterbenden reden wollen, ist die Hilflosigkeit, darüber reden zu können, oft verbunden mit dem Gefühl, dass es nicht erlaubt ist, über diese Gefühle auch zu reden. Wer fühlt sich schon dazu berufen? Hinzu kommt, dass sich die subjektive Empfindung – ähnlich wie beim Schmerz – oft nicht genau fassen und mitteilen lässt. Bedeutung von Scham Unerkannte Schamgefühle können zu Depression, Burnout, Sucht oder Suizid führen – oder in Zynismus, Trotz oder Wut umschlagen. Daher ist es für alle, die mit Menschen arbeiten, wichtig, Scham zu erkennen und konstruktiv mit ihr umgehen zu können. Denn Scham ist zwar schmerzhaft, hat aber auch positive Aufgaben: Sie ist, so Léon Wurmser (1990), »die Wächterin der Men-

schenwürde« – allerdings auch das »Aschenputtel« unter den Gefühlen, das schamhaft verschwiegen wird. Die Scham gehört nach Fritz Hartmann (1984) neben der Niedergeschlagenheit, der Angst und der Sorge, dem Schmerz und der Sterblichkeit zu den fünf Grundformen des Leidens, die die Natur des Menschen als homo patiens bestimmen. Bei sterbenskranken Menschen sind sowohl die körperliche, die seelisch-moralische wie auch die soziale Scham von Bedeutung. Wie der Schmerz ist Scham zunächst ein universell anzutreffendes Gefühl, das aber auch eng mit der individuellen Schambiografie beziehungsweise -erfahrung verknüpft ist. Zweitens ist Scham aber auch eine Form des Verhaltens und bekommt damit eine soziale Dimension, die von Erstarrung, Rückzug bis zur Gewalt reichen kann. Das Bemühen um Klärung letzter Dinge in der Rückschau alter Menschen in der letzten Lebensphase gehört dazu, aber auch Suchtverhalten kann ein Ausdruck von Scham sein: »Ich trinke, weil ich mich schäme, und ich schäme mich, weil ich trinke« gesteht der Trinker dem kleinen Prinzen in Saint-Exupérys Erzählung. Drittens ist Scham eine Schutzreaktion beziehungsweise hat sie eine Schutzfunktion, wenn eines oder mehrere der menschlichen Grundbedürfnisse (Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität mit individuellen Werten) verletzt oder bedroht werden. Und nicht zuletzt ist Scham – wie schon gesagt – die Wächterin der Menschenwürde, sie stellt eine moralische Kategorie und Herausforderung dar, die immer wieder an die individuelle und kulturelle Würde des Menschen erinnert und appelliert.

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In der Begleitung sterbenskranker und sterbender Menschen hat der Umgang mit Schuld und Scham eine herausragende Bedeutung für ein würdiges Sterben. Die Achtsamkeit dafür wird in der Coronapandemie auf eine harte Probe gestellt. Mit Schamgefühlen umzugehen, bedeutet nicht nur den Selbstwert eines anderen zu respektieren, sondern auch seine Selbstidentität.

Die Gefühle Schuld und Scham begegnen uns in verschiedenen Bereichen der Palliativbetreuung: • in der praktischen Sozial- und Altenarbeit, wenn sich hilfebedürftige Menschen als Belastung anderer, der Familie, der Gesellschaft empfinden oder sich ihrer Armut schämen und Lebensmut und Lebenssinn verlieren: »am liebsten ohne mich, gebt mir die ­Kugel …«;

Edvard Munch, Vampir, 1917 / akg-images

Schuld und Scham im Kontext von Palliative Care

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• in der Therapie und Pflege, wenn Kranke sich ihrer Schwäche, ihrer Schmerzen und ihrer Hilfsbedürftigkeit schämen, sich vor dem Essen ekeln, den Geruch der Inkontinenz verleugnen, die Pflege intimer Körperregionen nicht ertragen und sich als Zumutung anderer empfinden oder sich selbst ablehnen; • in der psychologischen oder seelsorglichen Beratung, wenn Menschen sich ihrer Ängste, ihrer traumatischen Erfahrungen oder anderer Probleme schämen, beispielsweise dafür, dass sie missbraucht wurden; • im Team oder am Arbeitsplatz, wenn man an etwas gescheitert ist, wenn es darum geht, Fehler zu benennen, oder beispielsweise wenn Mitarbeitende gemobbt, bloßgestellt oder ausgegrenzt werden. Schuld und Scham liegen am Ende des Lebens oft nahe beieinander und sind miteinander verbunden – trotzdem ist es wichtig, diese Gefühle zu unterscheiden, sie aber auch mit Trauer in Beziehung zu setzen. Der Hamburger Soziologe Sighard Neckel (1991) weist darauf hin, dass Scham dann entsteht, wenn die eigene Integrität – die Hülle – beschädigt oder verletzt wird, während Schuld durch die Missachtung von Regeln und Normen, dem Übertreten von Verboten entsteht. Verdeutlicht wird dies in einem berühmten Satz der amerikanischen Psychoanalytikerin Helen B. Lewis (1971): »Shame is about the self; guilt is about things.« Unterscheidung von Körperscham, mora­ lischer und sozialer Scham (Neckel 2006) Körperscham ist eng mit dem Gefühl des Ekels verbunden, das ja in besonderer Weise vom Riechen, Sehen und von Tastempfindungen geprägt wird und als genetisch determinierte Form der Abwehr die Ungenießbarkeit ekelerregender Situationen mit unterschiedlicher Intensität zum Ausdruck bringt.

Moralische Scham wird am stärksten von Schuldgefühlen begleitet und setzt schuldhaftes Handeln voraus. Moralische Scham ist eine Kategorie der Sozialisation. Soziale Scham hat weniger unmittelbar eine Schutzfunktion, sondern ist ein Appell an das soziale Miteinander. Soziale Scham wird oft ausgelöst durch Kränkungen des Selbstwertes und bezieht sich mehr auf den Verlust von Fähigkeiten. Sowohl die eigene Einsicht darin, die oft mit Rückzug und Schweigen verbunden ist, als auch Defizite in der Anerkennung anderer, die bis zur Verachtung und sozialen Ausgrenzung führen können, fördern soziale Scham (Lietzmann 2003). An soziale Scham sollte man denken, wenn Menschen sich immer mehr zurückziehen, traurig, weinerlich, hoffnungslos, ängstlich, apathisch sind und sich manchmal auch in Depressionen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen flüchten. Die Manifestationen dieser ängstlichen sozialen Scham werden viel zu wenig beachtet oder auch nicht erkannt. Das Angewiesensein auf die Hilfe anderer, das Ausgeliefertsein an vorgegebene Abläufe, das Abhängigsein, etwa beim Ankleiden und Essen, die körperliche Bloßstellung und Nacktheit, aber auch der Verlust in der Kontrolle von Körperfunktionen, oft verbunden mit dem Preisgeben von Intimität etwa beim Duschen beziehungsweise Waschen, äußern sich dann häufig in Angst, Aggression, Verzweiflung und Wut. Der Umgang mit der sozialen Scham alter Menschen wird zusätzlich dadurch erschwert, dass sich die Manifestationen der Scham in vielen Fällen auch negativ auf das Selbstbild des Betroffenen auswirken, mit Schuld verbunden und nicht kommuniziert werden. So kommt es, dass die eigentliche Schutzfunktion des Schamgefühls bei hilfsbedürftigen Menschen für den Helfenden oft schwer zu verstehen ist und durch die Verknüpfung von Scham und Schuld ein Teufelskreis entsteht, der die Begegnung noch weiter erschwert. Dies gilt besonders für Situationen, in denen individuelle Normen und Werte mit professionellen Normen und Werten, zum Beispiel Vorstellungen

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von Hygiene, in Konflikt geraten – Grenzsituationen, die für alle Beteiligten als »beschämend« erlebt werden. Sowohl das Auslösen wie auch das Empfinden von Schuldgefühlen verweisen mit spitzem Finger auf ein moralisches Urteil: So einer bist du also, der das oder jenes tut, zugelassen oder unterlassen hat. Begegnung mit Scham Um Scham berücksichtigen zu können, ist es wichtig, nicht nur die Dimensionen dieses Affekts zu kennen, sondern auch durch Selbstreflexion zu einer Einstellung zu kommen, wie die eigene Scham, aber auch die Scham des anderen in ihrem Spannungsfeld zueinander stehen – und wie sich dieses Spannungsfeld in der therapeutischen Beziehung berücksichtigen lässt: Zum Beispiel können sensibles Ansprechen der Scham und Verdeutlichung der eigenen emotionalen Verlegenheit oder auch Humor gute Instrumente sein, der Scham zu begegnen. Scham- und Schuldgefühle bei sterbenskranken Menschen sind neben der Trauer wohl die Gefühle, die am wenigsten beachtet, am schwierigsten verstanden und letztlich auch nicht respektiert werden. Auch in der Trauer begegnen wir immer wieder verborgener Scham und Schuldgefühlen. Das betrifft beispielsweise Menschen, die vorgeben, das Sterben mache ihnen nichts aus, solange sie das Sterben selbst kontrollieren und keinen anderen belasten. Die »Schuld am Tod« möchten sie am liebsten selbst übernehmen. Die Berücksichtigung der tiefen Sehnsucht, die viele Scham- und Schuldgefühle bei alten, sterbenskranken und sterbenden Menschen begleitet, bedeutet auch, die Spur nach der verletzten Integrität aufzunehmen, diese zu finden oder gar wiederherzustellen. Man könnte sogar von einer Sehnsucht nach Heilung sprechen. Insofern kommt der Achtung der Scham und der Beachtung von Schuldgefühlen bei Sterbenden eine

besonders hohe Bedeutung zu. In der Sterbesituation sind sie oft eine Herausforderung an die Begleitung, die vielen Dimensionen des Abschieds zu verstehen beziehungsweise verstehen zu wollen (Müller-Busch 2012). Auch wenn es keine Regeln oder Normen für das Sterben gibt: Das SichZurückziehen des Sterbenden ist ein wichtiger Schritt, den Mantel oder die Hülle der Scham für sich zu bewahren. Dazu gehört in erster Linie, im Sterben die eigene Identität nicht zu verlieren – die Angst vor einem »würdelosen« Tod bringt dies zum Ausdruck. Die Anerkennung und Beachtung von Schamgrenzen bei schwerstkranken und sterbenden Menschen gehört zu den elementaren Grundsätzen von Palliative Care. Sie gelingt nur, wenn Erfahrungen persönlicher Betroffenheit und professioneller Kompetenz im Umgang mit Schamgrenzen berücksichtigt, nicht jedoch, wenn diese negiert oder verdrängt werden. Prof. Dr. med. H. Christof Müller-Busch war bis 2008 Leitender Arzt der Abteilung für Anästhesiologie, Palliativmedizin und Schmerztherapie am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Berlin. Von 2006 bis 2010 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Er ist Mitglied des Ausschusses für ethische und medizinisch-juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer. Kontakt: [email protected] Literatur Hartmann, F. (1984) Patient, Arzt und Medizin. Beiträge zur ärztlichen Anthropologie. Göttingen. Lewis, H. B. (1971). Shame and guilt in neurosis. In: Psychoanalytic Review, 58, 3, S. 419–438. Lietzmann, A. (2003). Theorie der Scham.  Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum. Tübingen. Müller-Busch, H. C. (2012). Abschied braucht Zeit. Palliativmedizin und Ethik des Sterbens. Berlin. Neckel, S. (1991). Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt a. M. Neckel, S. (2006). Scham und Schamsituationen aus soziologischer Sicht. In: Forum Supervision, 28, S. 37–50. Wurmser, L. (1990). Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin.

Schamgebeugt und schuldbeladen

verwundet Wir haben einander verwundet verletzt einander niedergeredet entmutigt traurig gemacht wir verschulden uns Wir schulden uns Mitgefühl Einander nicht angenommen zu wenig beachtet manchen verachtet zum Außenseiter gemacht. Wer gießt Öl in die Wunden? Einen gedemütigt  dem andern misstraut  diesem nicht geholfen aneinander vorbeigelebt Wir verschulden uns Wir schulden uns Respekt Wir sprechen mit falschem Ton werden zu laut Setzen uns unter Druck mit Gewalt in den Worten Wer gießt Öl in die Wunden? Wir schulden uns Achtung Einander nicht besucht  uns einsam gemacht  das Wort nicht gegönnt  uns Angst eingejagt  Wer gießt Öl in die Wunden? Einander nur an-gehört lassen uns leer Wir verschulden uns Wir schulden uns Aufmerksamkeit. Siebenmal am Tag verschuldet sich selbst der Gerechte lehrt uns die Bibel Wir sind hochverschuldet Auch ich Herr lehre mich lehre uns lieben

m.schröer

Theresia Hauser (1921–2016)

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Scham und Sexualität in der letzten Lebensphase: Lassen Sie uns darüber reden! Maria Wasner Hintergrund Sexualität ist die Gesamtheit der im Geschlechtstrieb begründeten Lebensäußerungen, Empfindungen und Verhaltensweisen. Sie zählt zu den menschlichen Grundbedürfnissen und ist zentraler Bestandteil der Identität eines jeden Menschen. Sexualität umfasst alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens und ist somit weit mehr als der reine Geschlechtsakt. In der Definition der Weltgesundheitsorganisation wird sexuelle Gesundheit folgendermaßen beschrieben: »Sexuelle Gesundheit ist ein Zustand physischen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität; es ist nicht lediglich die Abwesenheit von Krankheit, Funktionsverlust oder Schwäche. Sexuelle Gesundheit bedarf eines positiven und respektvollen Zugangs zu Sexualität und zu sexuellen Beziehungen sowie der Möglichkeit, befriedigende und sichere sexuelle Erfahrungen zu haben, frei von Nötigung, Diskriminierung und Gewalt« (WHO 2002; eigene Übersetzung). Der niederländische Medizinethiker Paul Spor­ ken hat das sogenannte »Drei-Kreise-Modell« entwickelt, um die verschiedenen Dimensionen von Sexualität darzustellen. Der äußerste Kreis versinnbildlicht den äußeren Bereich der Sexualität – damit sind allgemeine Verhaltensweisen in menschlichen Beziehungen gemeint wie Blicke, Gesten, Kommunikation und Beziehungsaspekte. Der mittlere Kreis repräsentiert Zärtlichkeit, Erotik und Sinnlichkeit. Der innere Kreis steht für den genitalen Bereich der Sexualität, also für das, was gemeinhin als »Sex« verstanden wird. Sexualität setzt sich aus allen drei Bereichen zu-

sammen, wobei je nach Lebenssituation mal mehr der eine oder andere Kreis im Vordergrund steht (Sporken 1974). Bedeutung von Sexualität am Lebensende Sexualität im Alter oder bei schwerer Krankheit ist ein zumeist tabuisiertes Thema, obwohl aus der Literatur bekannt ist, dass sexuelle Bedürfnisse bis ins hohe Alter und auch bei schwerer Krankheit vorhanden sind (Lemieux et al. 2004). Bei schwerer Krankheit verändert sich die gelebte Sexualität oftmals zwangsläufig, entweder aufgrund körperlicher Ursachen (zum Beispiel Verschlechterung des Allgemeinzustands) oder aufgrund psychosozialer Ursachen (zum Beispiel reduziertes Selbstwertgefühl) (Bond et al. 2019). Geschlechtsverkehr verliert zumeist an Bedeutung, dafür tritt anderes in den Vordergrund wie Zärtlichkeiten und Beziehungsaspekte (Vitrano, Catania und Mercadante 2011). »Sexualität ist für mich viel mehr als der reine Geschlechtsakt. Berührungen, Nähe und Intimität werde ich bis zu meinem letzten Atemzug genießen.« So formulierte es eine 63-jährige Patientin mit einem metastasierenden Eierstockkrebs kurz vor ihrem Tod. Scham Scham bezeichnet eine quälende Empfindung, die ausgelöst wird durch das Bewusstsein, (besonders in moralischer Hinsicht) versagt zu haben, durch das Gefühl, sich eine Blöße gegeben zu haben. Scham bezieht sich also auf das eigene

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Versagen gegenüber einem Idealbild, wenn man sich als schwach, fehler- oder mangelhaft erlebt. Scham ist universell, aber zugleich immer auch individuell ausgeprägt. Marks unterscheidet vier Grundformen der Scham. Scham entsteht seiner Auffassung nach immer dann, wenn Grundbedürfnisse des Menschen missachtet werden. Diese sind die Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Schutz und Intimität, Zugehörigkeit, Integrität (Marks 2021). Scham ist dabei wie ein Seismograf, der sensibel reagiert, wenn eines dieser Grundbedürfnisse verletzt wurde. Die eigene Sexualität und sexuelle Beziehungen sind in besonderer Weise mit Schamgefühlen verbunden. Scham von Palliativpatientinnen und ihren Partnern »Ich habe mich damals von meiner Freundin getrennt, nach meiner Prostata-OP, das konnte ich ihr nicht zumuten – ging ja nichts mehr. Jetzt genieße ich es unheimlich, einfach berührt zu werden, zum Beispiel wenn mich die Schwester eincremt« (59-jähriger Patient mit metastasiertem Prostatakarzinom).

Begleit- und Folgeerscheinungen von Erkrankungen, aber auch von Therapien führen zu körperlichen Veränderungen und so auch zu einem zunehmenden Pflege- und Unterstützungsbedarf. Gemeinsam mit psychischen Faktoren führt das in der Konsequenz zu Einschränkungen im sexuellen Verhalten oder Erleben, etwa aufgrund von chronischer Erschöpfung, Erektionsstörungen, aber auch veränderter Selbstwahrnehmung. Schamauslösend ist beispielsweise die Empfindung, nicht mehr attraktiv zu sein, wenn der eigene Körper sichtbare »Mängel« hat. Dies kann sich massiv auf die Psyche auswirken und beispielsweise zu depressiven Verstimmungen führen. Die eigene Attraktivität wird durch Emotionen wie Selbstekel oder Scham als nicht mehr vorhanden erlebt. Das kann dazu führen, dass eigentlich gewünschte Sexualität nicht mehr ausgelebt werden kann. Herr K., 41 Jahre, ist an Bauchspeicheldrüsen­ krebs erkrankt und fühlt sich nicht mehr attraktiv aufgrund seiner Operationsnarben. Er leidet unter seiner erektilen Dysfunktion und schämt sich, weil er bei der Körperpflege

Scham entsteht immer dann, wenn Grundbedürfnisse des Menschen missachtet werden. Diese sind die Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Schutz und Intimität, Zugehörigkeit, Integrität.

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Jeanne Hebuterne, Selbstbildnis, 1916 / akg-images

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Unterstützung von seiner Frau braucht. Er ist sich sicher, dass seine Partnerin sich deshalb vor ihm ekelt. Um seine Scham nicht fühlen zu müssen, geht Herr K. in den inneren Rückzug. Er redet nicht darüber und will nicht mehr im gemeinsamen Ehebett schlafen. Herr K. versteckt seine verletzliche Seite hinter einer abweisenden Maske und versucht, seine Scham mit entsprechendem Verhalten abzuwehren, indem er jeden Gesprächs- und Annäherungsversuch seiner Frau barsch abblockt. Dabei äußert er sich auch zynisch und verletzend, um möglichst abgeklärt zu wirken, er versucht dadurch aber nur seine schamhafte Unsicherheit zu überdecken. Frau K. fühlt sich aufgrund des Verhaltens ihres Ehemanns von ihm zurückgewiesen, sie ist beschämt und schämt sich für ihre sexuellen Bedürfnisse. Sie will ihren Mann nicht weiter bedrängen und zieht sich ebenfalls zurück.

me an Fortbildungen, die für das Thema sensibilisieren und gleichzeitig die nötige Gesprächskompetenz vermitteln, ist die Reflexion der eigenen Einstellung zu Sexualität und der eigenen Moralvorstellungen zwingend erforderlich. Kommunikation über Sexualität und konkrete Hilfestellungen Mittlerweile gibt es für derartige Gespräche hilfreiche Modelle, die zeigen, wie ein Gespräch über Sexualität initiiert werden kann und welche weiteren Schritte bei Bedarf erfolgen sollten; hier ist zum Beispiel das vierstufige Ex-PLISSIT-Modell zu nennen. Die Durchführung dieser Intervention hat sich in der Praxis als äußerst hilfreich erwiesen, sexuelle Probleme konnten signifikant reduziert und vor allem das partnerschaftliche Miteinander deutlich verbessert werden (Bennett 2019).

Unterstützungsmöglichkeiten Ein respektvoller Umgang mit den sexuellen Bedürfnissen und der Scham von Patient:innen ruht auf drei Säulen, nämlich der Haltung der Begleitenden, der Kommunikation und den praktischen Hilfestellungen (Bennot et al. 2018). Haltung Fachpersonen des Gesundheitssystems fällt es oft schwer, ein Gespräch über Sexualität zu beginnen. Ursachen sind die persönliche Unsicherheit und Scham, mit Patientinnen über dieses Thema zu sprechen (Wang et al. 2018). Neben der Teilnah-

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Falls es schon konkrete Probleme gibt, sollten Empfehlungen zu deren Bewältigung gegeben werden. Dies umfasst je nach Problemstellung viele unterschiedliche Aspekte wie zum Beispiel medikamentöse Therapieansätze, die Unterstützung beim Umgang mit dem veränderten Körperbild oder das Paar zu ermutigen, neue Sexualpraktiken oder Stellungen auszuprobieren.

Prof. Dr. Maria Wasner ist Kommunikationswissenschaftlerin und Psychoonkologin, seit 2008 Professorin für Soziale Arbeit in Palliative Care an der Katholischen Stiftungshochschule (KSH) München. Davor hat sie über viele Jahre Palliativpatient:innen und ihre Zugehörigen psychosozial begleitet. Von 2012 bis 2018 war sie Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP).

Fazit

Bennett, M. R. (2019). PLISSIT interventions and sexual functioning: Useful tools for social work in palliative care. In: Journal of Social Work in End-of-Life &  Palliative Care, 15, 4, S. 157–174. Bennot, C.; Enzlin, P.; Peremans, L; Bilsen, J. (2018). Addressing sexual issues in palliative care: A qualitative study on nurses’ attitudes, roles and experiences. In: Journal of Advanced Nursing, 74, S. 1583–1594. Bond, C. B.; Jensen, P. T.; Groenvold, M; Johnsen, A. T. (2019). Prevalence and possible predictors of sexual dysfunction and self-reported needs related to sexual life of anvanced cancer patients. In: Acta Oncologica, 58, 5, S. 769–775. Lemieux, L.; Kaiser, S.; Pereira, J.; Meadows, L. M. (2004). Sexuality in palliative care: Patient perspectives. In: Palliative Medicine, 18, S. 630–637. Marks, S. (2021). Die Grundformen der Scham In: Marks, S.: Scham – die tabuisierte Emotion. Neuausgabe der 8. Auflage (S. 15–47). Ostfildern. Sporken, P. (Hrsg.) (1974). Geistig Behinderte, Erotik und Sexualität. Düsseldorf. Vitrano, V.; Catania, V.; Mercadante, S. (2011). Sexuality in patients with advanced cancer: A prospective study in a population admitted to an acute pain relief and palliative care unit. In: American Journal of Hospice and Palliative Medicine, 28, S. 198–202. Wang, K.; Ariello, K.; Choi, M., Turner, A.; Wan, B. A.; Yee, C.; Rowbottom, L.; Macdonald, R.; Lam, H.; Drost, L.; Chow, E. (2018). Sexual healthcare for cancer patients receiving palliative care: A narrative review. In: Annals of Palliative Medicine, 7, 2, S. 256–264. World Health Organization (WHO) (2002). Sexual health. Definitions. https://www.who.int/health-topics/sexual-health #tab=tab_2 – (Zugriff am 05.05.2022).

Kontakt: [email protected] Literatur

Charlotte V. / photocase.de

Einschränkungen des sexuellen Erlebens und Verhaltens treten am Lebensende häufig auf und können zu ausgeprägten Schamgefühlen führen. Um dem entgegenzuwirken und die Betroffenen nicht zusätzlich zu beschämen, braucht es Begleiter:innen, die sich als Gesprächspartner anbieten, hilfreiche Informationen weitergeben und konkrete Hilfestellung leisten – und bei ihrem Tun immer die Grundbedürfnisse ihres Gegenübers achten.

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Ent-Schuldigung – eine Illusion?! Wolfgang Reuter Im Alltagsleben kann sich niemand der Erfahrung des Schuldigseins und Schuldigwerdens entziehen und ebenso nicht der daraus resultierenden Notwendigkeit, sich zu entschuldigen. »Entschuldigung« heißt es dann mit einem schnell dahingesagten Wort. Andere verwenden die semantisch etwas umfänglichere, vielleicht auch persönlichere Variante: »Ich entschuldige mich.« Doch so funktioniert das Entschuldigen nicht. Bei näherem Hinsehen erweist sich beides als Illusion.

heraus zu verantworten haben, öffentlich zu entschuldigen. Im Bereich der katholischen Kirche erleben wir dies gegenwärtig im Zusammenhang mit der Missbrauchsthematik. Nach zunächst langem Zögern bekunden Bischöfe immer häufiger ihre Scham, viele entschuldigen sich bei den Betroffenen oder vor der gesamten Öffentlichkeit. Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, die der Missbrauchsdynamik anhaftende Schuldproblematik wäre mittels der Bekundung von Scham und der Proklamation der Entschuldigung aus der Welt zu schaffen.

Entschuldigung – Ein Zauberwort Ereignisse, die Schuldgefühle nach sich ziehen, wie auch die Erfahrung oder die Zuweisung realer Schuld, gehören zum Leben des Menschen. Sie haben etwas Alltägliches, wie auch die Reaktion, zu der wir dann oft und leicht gesagt greifen: »Entschuldigung.« Damit kommt zum Ausdruck, dass wir das im alltäglichen Leben nicht vermeidbare Schuldigwerden, das immer wieder neue Schuldigsein, wie auch die damit einhergehende Scham und das Erschrecken darüber, möglichst schnell wieder ungeschehen machen wollen. »Ich entschuldige mich« wird hier zu einer Art Zauberformel. Sie soll das mit dem Schuldigwerden und Schuldigsein einhergehende persönliche Unbehagen zurückdrängen, es im besten Fall ganz aus der Welt schaffen. Derartige Versuche der Entschuldigung erleben wir im persönlichen Umfeld genauso wie in den Bereichen des beruflichen, politischen und – nicht zuletzt – des kirchlichen Lebens. Verantwortliche neigen hier immer wieder dazu, sich für missliche Umstände bis hin zur Schuld, die sie persönlich oder aus ihrer Leitungsfunktion

Ins Schulddilemma verstrickt Natürlich ist es erstrebenswert, dass Menschen wie auch Institutionen sich entschuldigen, wenn ein Anlass dazu gegeben ist. Aber eine persönliche Entschuldigung wie auch die Proklamation von Entschuldigung durch Repräsentanten von Systemen greifen in der Tat zu kurz, selbst wenn sie in guter Absicht erfolgen. Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als Ausdruck von Sprachlosigkeit und Manifestation eingeschränkter Beziehungsfähigkeit. Ihnen hängt oft eine gewisse Peinlichkeit an. Der Grund dafür, dass Schuld nicht einfach durch die vermeintlich Schuldigen aus der Welt geschafft werden kann, liegt in der relationalen Dynamik des menschlichen Lebens. Schuldigwerden und Schuldigsein wie auch das daraus resultierende Bemühen um Entschuldigung gehören als anthropologische Grundkonstanten zum Dasein des Menschen. Sie sind immer ein Ausdruck von Beziehung. Ich will dies gleich näher erläutern, zuvor jedoch kurz mit Theologie und Psychoanalyse auf zwei Wissenschaften hinweisen, die sich grundlegend mit dem Schuld-

dilemma (Funke 2000) als Beziehungsgeschehen befassen. Theologie und Psychoanalyse sind natürlich un­ter­schiedliche Wissenschaften. Doch von den Gegenständen ihres Interesses her betrachtet, haben sie auch eine Reihe gemeinsamer, zumindest konvergierender Optionen. So nehmen sie, wenn auch in unterschiedlicher Methodik, das menschliche Leben als ein Sein in Entwicklung und in Beziehung wie auch die Störungen von Entwicklung und Beziehung in den Blick. Beide folgen einem relationalen Menschenbild, die Theologie einem relationalen Menschen- und Gottesbild (Reuter 2012). Auf dieser Grundlage entwickeln sie ihre Theorien. In unserem Kontext entfalten sie Positionen zum Umgang mit Schuld, Schuldgefühlen und Scham, welche sie aus den mythologischen Traditionen der Menschheit – Ödipusmythos und Sündenfall – begründen und ableiten. So sehen sie den Menschen in Schulddilemmata verstrickt und zeigen unterschiedliche Auswege auf. Das bei aller Verschiedenheit Verbindende zwischen Theologie und Psychoanalyse ist die Deutung der aufgezeigten anthropologischen Grundkonstanten. Das Schuldigsein und Schuldigwerden wie auch die Scham und das sich Schämen verstehen sie als Ausdruck von Beziehung. Gleiches gilt für die Bemühungen des Menschen um die Befreiung von Schuld – die Ent-Schuldigung. Auf der Grundlage dieses relationalen Selbstverständnisses in Theologie und Psychoanalyse lässt sich nun erklären, weshalb der Mensch nicht in der Lage ist, sich für von ihm zu verantwortende Schuld mittels einigen wenigen Worten selbst zu entschuldigen.

In Beziehung treten – Der Ausweg aus der Illusion »Entschuldigung« oder »ich entschuldige mich« sind Redewendungen, fast möchte ich von kleinen Ritualen sprechen, die Menschen im Umgang mit der Bewältigung eigener wie auch systemisch und institutionell zu verantwortender Schuld zur Anwendung bringen. Diese Einwort- und Halbsätze sind Ausdruck von Sprachunfähigkeit. Die richtigen und angemessenen Worte werden nicht gefunden oder auch gar nicht gesucht. Zugleich sind sie Ausdruck eingeschränkter Beziehungsfähigkeit und narzisstischer Größenphantasien. Zur Bewältigung von Schuld greifen sie zu kurz, denn in beiden Redewendungen kommt die/der Andere nicht vor. Das Entschuldigen ist nun jedoch immer ein Ereignis zwischen mindestens zwei Menschen, die hierbei beide als handelndes Subjekt anzusehen sind. Da ist einer, der etwas Übles getan und zu verantworten hat, wofür er sich entschuldigen möchte. Andere sind da, denen das Übel widerfahren ist. Wir können hier durchaus auch von den Opfern sprechen. Über sie hinweg und ohne sie ist Entschuldigung als ein auf den Anderen angewiesenes Beziehungsgeschehen mit offenem Ausgang nicht möglich. Wird nun, wie in dem Satz: »Ich entschuldige mich«, der/die Andere ausgeblendet, kommt das relationale Ereignis der Entschuldigung nicht zustande. Diese Redewendung macht offenkundig, wie mit dieser illusionären Art der Entschuldigung die relationale oder intersubjektive Dimension des Lebens ignoriert wird. Dies zeigt schon allein die sprachliche und grammatische Kon­

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Das Entschuldigen ist immer ein Ereignis zwischen mindestens zwei Menschen, die hierbei beide als handelndes Subjekt anzusehen sind.

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struktion des Satzes an: Subjekt und Objekt sind hier identisch – ich entschuldige mich. Das Du des Anderen, der die Entschuldigung gewähren oder verwehren könnte, ist ausgelöscht. Mittels einer illusorischen Omnipotenzphantasie zieht der Schuldige/Verantwortliche genau den Teil des dynamischen Entschuldigungsereignisses, den nur der Andere als Opfer erbringen kann, von ihm ab und übernimmt, was aus relationaler Perspektive unmöglich ist, den Akt der Entschuldigung selbst. Das Selbst des Anderen als handelndes Subjekt ist damit ausgelöscht. Entschuldigung kommt so nicht zustande. Die Bitte um Entschuldigung – Ein notwendiges Zeichen Die einfache, wie ein Ritual ausgesprochene Aussage: »Ich entschuldige mich« hat etwas Missbräuchliches und Grenzverletzendes. Mit diesem Satz bemächtigen sich Täter/Verantwortliche der Opfer und nehmen ihnen ihren Subjektstatus. Der Satz »Ich entschuldige mich« ist ein Ausdruck der VerNicht-ung (Reuter 2021): Er vernichtet nicht nur den Anderen als Subjekt, sondern hier wird die grundlegend relationale Dimension des Lebens ignoriert, indem die Opfer, das ihnen zugefügte Leid wie auch die daraus resultierende Schuld der Täter ausgeblendet werden. Dies geht mit der Omnipotenzphantasie einher zu glauben, man könne das dem Anderen zugefügte Übel und Leid durch eine rituell immer wieder vorgetragene magische Formel einfach so aus der Welt schaffen. Die Größenphantasie des Täters liegt darin, dass er wohl wirklich glaubt, in seiner Person zugleich die Rolle von Subjekt und Objekt übernehmen zu können. Doch genau hierdurch wird die relationale Dimension des Lebens zwischen Menschen, konkret der Subjektstatus und die Personwürde des Anderen, zerstört. Und schlussendlich umgeht der Schuldiggewordene mit der rituell-formelhaften Proklamation seiner Entschuldigung die Ungewissheit, ob denn der Andere – das Opfer – seiner Bitte um Entschuldigung überhaupt nachkommen wird.

Aber genau hier liegt der Schlüssel: Wann immer es um Entschuldigung geht, steht das Wagnis von Beziehung im Raum. Es wäre das richtige Zeichen, wenn Schuldiggewordene es fertigbrächten, sich nicht bei ihren Opfern zu entschuldigen, sondern sie um Entschuldigung bitten: »Ich bitte dich um Entschuldigung.« Damit wäre die relationale Dimension des Lebens wiederhergestellt. Die Opfer könnten aus ihrem Subjektstatus heraus handeln. Die Entscheidung über die Entschuldigung liegt bei ihnen. Den Tätern würde hiermit allerdings die Ungewissheit zugemutet, die es auszuhalten gilt, wenn man für zugefügtes Übel und Leid die Verantwortung übernimmt und den Geschädigten um Entschuldigung bittet. Genau dies dürfen Geschädigte erwarten. In der biblischen Ur-Kunde (zum Beispiel Psalm 51) wie auch in der Tradition der Kirche (Beichte als Feier der Versöhnung, gemeinsames Schuldbekenntnis im Gottesdienst …) finden sich viele – oft verdrängte – Beispiele für die Bitte um Entschuldigung als relationales Ereignis. Sie entlarven die uns allen geläufige magische Formel »Ich entschuldige mich« als Illusion. Dr. theol. habil. Wolfgang Reuter ist Privatdozent für Pastoraltheologie/Pastoralpsychologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. In Düsseldorf/Rhein-Kreis Neuss leitet er die Seelsorge für Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung. Er ist Klinikpfarrer am LVR-Klinikum, Kliniken der Universität Düsseldorf, sowie Psychoanalytiker (GPP) in eigener Praxis. Kontakt: [email protected] Website: https://www.ktf.uni-bonn.de/faecher/pastoraltheologie/personen/pd-dr-wolfgang-reuter Literatur Funke, D. (2000). Das Schulddilemma. Wege zu einem versöhn­ten Leben. Göttingen. Reuter, W. (2012). Relationale Seelsorge. Psychoanalytische, kulturtheoretische und theologische Grundlegung. Stuttgart. Reuter, W. (2021). Machtmissbrauch und traumatisches Milieu. Pastoralpsychologische Überlegungen zur »VerNicht-ung des Anderen«. In: Sautermeister, J.; Odenthal, A. (Hrsg.): Ohnmacht. Macht. Missbrauch. Theologische Ana­ lysen eines systemischen Problems (S. 55–73). Freiburg.

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Dan Bar-On: Das Streben nach Hoffnung hängt damit zusammen, der Wahrheit ins Auge zu sehen Samson Munn

Dan Bar-On wurde 1938 in Israel geboren, als Sohn deutsch-jüdischer Flüchtlinge aus Hamburg, die 1933 in Palästina angekommen waren. Von Kindheit an wuchs er bilingual auf. Im Alter von 32 Jahren begann er mit dem Studium der Verhaltensforschung, das er 1975 mit einem Master abschloss. 1976 war er im Rang eines Majors verantwortlich für die Feldpsychologie-Abteilung einer Division der israelischen Verteidigungskräfte. 1981 erwarb er seinen Doktortitel an der Hebräischen Universität Jerusalem zum Thema des Umgangs von Herzinfarktpatienten mit Krisen. 1983 konnte er mit einem Fulbright-Stipendium einen Forschungsaufenthalt an dem Institut für Decision Research in Oregon und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) verbringen. Als das Dialogprojekt begann, auf das im folgenden Artikel von Eleonore Fischer näher eingegangen wird, war Dan Bar-On außerordentlicher Professor an der Ben-Gurion-Universität des Negev. Er erhielt 1995 eine Universitätsprofessur, gab sieben Bücher heraus, verfasste mehr als 30 Buchkapitel und mehr als 100 wissenschaftliche Artikel bis zu seinem Tod am 4. September 2008.

Mauern des Schweigens Dan Bar-Ons Arbeit zum Dialog im Zusammenhang mit dem Genozid begann mit Überlebenden des Holocaust und ihren Kindern in Israel. Ab 1986 veranstaltete er Workshops für Studierende zu den Auswirkungen des Holocaust auf die zweite und dritte Generation. Er fand heraus, dass die Überlebenden oft eine Mauer errichteten, um sich gegen bestimmte Teile ihrer Erfahrungen abzuschotten, und dass ihre Kinder oft ihre eigenen Mauern errichteten, um den Umgang mit bestimmten Erfahrungen ihrer Eltern zu vermeiden. So entstand eine doppelte Mauer, und wenn ein Elternteil oder ein Kind versuchte, in seiner Mauer ein Fenster zu öffnen, um mit dem anderen Kontakt aufzunehmen, traf er oder sie dann manchmal nur auf die Mauer des anderen (Bar-On 1995; 2006, S. 51).

Forschungen zu Erfahrungen von Nazinachkommen In den Jahren von 1985 bis 1988 interviewte BarOn als Erster systematisch eine große Zahl von erwachsenen Kindern der Nazitäter. Von den ursprünglich kontaktierten 58 Personen verweigerten nur 9 die Teilnahme. Insgesamt konnte er mit 90 Täterkindern Interviews führen. Seine erste Veröffentlichung zu diesem Thema erschien 1988 (gemeinsam mit Charney). Die Töchter und Söhne versuchten sich mit dem Verhältnis zu ihren Eltern auseinanderzusetzen, das zwar liebend, warmherzig und respektvoll war, aber doch zu der Erkenntnis führte, was ihre Eltern getan hatten. Der Versuch der Vereinbarkeit dieser offensichtlichen Unverträglichkeiten war schmerzhaft. Die Erfahrungen aus den Interviews wurden in dem in den USA und Europa weit verbreiteten

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D a n B a r - O n : D a s S t r e b e n n a c h H o f f n u n g    3 7

Buch »Legacy of Silence: Encounters with Chil� dren of the Third Reich« (Bar-On 1989; deutsch: Die Last des Schweigens, 1993a) veröffentlicht. Bar-On zeigte, dass diese gegensätzlichen Gefühle in vielen Fällen nicht überein gebracht werden konnten und in der Folge viele Täterkinder nicht nachverfolgten, was ihre Vorfahren und Vorfahrinnen getan hatten. Um die gleiche Zeit wurden zwei weitere Bücher veröffentlicht zu Töchtern und Söhnen von Nazis: »Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien« (Sichrovsky 1987; englisch: Born Guilty: Children of Nazi Families, 1988) und »Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach« (von Westernhagen 1987). Von Westernhagens Buch war das erste, das von einem Nazikind geschrieben wurde, in dem sehr persönlich der Vater sowohl als tapfer wie auch als Kriegsverbrecher dargestellt wurde. Sichrovskys Buch war die erste Veröffentlichung von Interviews mit Kindern und Enkelkindern von Nazis. Beide Bücher waren vor allem in Deutschland und Österreich verbreitet.

Er fand heraus, dass die Überlebenden oft eine Mauer errichteten, um sich gegen bestimmte Teile ihrer Erfahrungen abzuschotten, und dass ihre Kinder oft ihre eigenen Mauern errichteten, um den Umgang mit bestimmten Erfahrungen ihrer Eltern zu vermeiden. So entstand eine doppelte Mauer.

Gruppendialog von Holocaust­ nachkommen und Nazinachkommen Aus diesen Vorarbeiten entstand die mittlerweile berühmte Gruppe von Töchtern und Söhnen von Holocaustopfern und von Nazitätern, die sich zum ersten Mal 1992 in Wuppertal traf, organisiert durch Gonda Scheffel-Baars und Konrad Brendler (Munn 2016). Diese Gruppe wurde später unter dem Stichwort To Reflect and Trust (Reflektieren und Vertrauen) oder TRT bekannt und in zwei BBC-Sendungen, einem deutschen Dokumentarfilm, zahlreichen Vorträgen auf akademischen Kongressen und anderen Veranstaltungen und in vielen Radio- und Zeitungsbeiträgen in verschiedenen Ländern vorgestellt. Scheffel-Baars (2006) berichtete, dass Dan BarOn die gemischten Gruppen und Treffen in Holland 1989 noch kritisiert hatte. Er fand, dass zu viel von den jüdischen Teilnehmenden verlangt wurde: Warum sollten sie, bei dem Ausmaß ihrer eigenen Probleme, die zusätzliche Belastung tragen, andere Kriegskinder, vor allem Kinder der Kollaborateure, zu unterstützen? Seine Ansicht dazu veränderte sich aber bald. Brendler und Bar-On entwickelten zusammen die bahnbrechende TRT-Gruppe von Söhnen und Töchtern von Holocaustopfern und denen der Nazitäter. Bar-On berichtete in »Tell Your Life Story« (2006, S. 53): »Die Idee, dass diese Gruppe (eine deutsche Selbsthilfegruppe als Vorläufer von TRT) auch jüdischen Nachfahren von Holocaustopfern begegnen würde, kam erst 1992 auf. Es war ursprünglich nicht einmal meine Idee, vielleicht hätte ich mir so eine Begegnung nicht einmal vorstellen können.« Während des akademischen Jahres 1991–1992 war Dan Bar-on als Gastprofessor am MIT in Boston, wo ich damals wohnte. Im April 1991 schlug Mona Weissmark, die damals an der Harvard Medical School wissenschaftliche Forschungsmethodik unterrichtete, ihm vor, die Kinder von Tätern und Opfern zusammenzubringen, nachdem sie »Die Last des Schweigens« (Bar-On 1993a) ge-

Schamgebeugt und schuldbeladen

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lesen hatte (Bar-On 1996, S. 174). Bar-On diskutierte danach mit Weissmark über die Schaffung einer solchen gemischten Gruppe, obwohl er noch Bedenken hatte. Er war unsicher, wie eine solche Gruppe am besten geleitet werden könnte, ob er sich selbst für genügend vorbereitet hielt für eine zentrale Rolle, und wenn ja, welche. Letztendlich entschied er sich gegen die Zusammenarbeit mit Weissmark aufgrund einiger grundlegender Differenzen; sie gründete später eine eigene Gruppe. Bar-Ons Vision, wie eine solche Gruppe am besten zu organisieren sei, hatte sich in diesem akademischen Jahr entwickelt. Neben Bar-On und Weissmark war ich die einzige Person mit einer zeitgenössischen, persönlichen und direkten Sicht auf die fundamentalen Unterschiede in ihrem Vorgehen und ihren Ergebnissen (Samson 2016). Beide waren interessiert an Teilnehmenden, die gemeinsam etwas beitragen konnten. Mona Weissmark strebte eine experimentelle Struktur mit einem quantitativen Ansatz an. Dan Bar-On zielte mehr auf eine qualitative, psychodynamische Erfahrung. Schon sehr schnell kam es beim ersten Treffen von Weissmarks Gruppe zu einem Streit. Sie gründete nach einigen Monaten eine weitere Gruppe, die beiden Gruppen vereinigten sich dann aber, wuchsen weiter und trafen sich auf unterschiedlichen Wegen, ohne Mona Weissmark und ihre Moderatoren (Samson 2016). Schon vor dieser Entwicklung in der Gruppe von Weissmark hatte Bar-On einen anderen Ansatz verfolgt. Er fragte die deutsche Selbsthilfegruppe, ob sie Interesse hätte, ihre Gegenüber von der Opferseite zu treffen. Einige bejahten dies. Im Frühjahr 1992 hörte ich Dan Bar-On bei einem Vortrag in Boston zu. Am nächsten Morgen tranken wir Kaffee in einem jüdischen Delikatessenladen und ich entschied mich, am ersten Treffen der TRT-Gruppe teilzunehmen, die er sechs Wochen später in Wuppertal zusammenführen wollte. In Bar-Ons Bericht über den Workshop (1993b) schrieb er: »Der Workshop war nicht vorstrukturiert, so dass die Teilnehmenden

aus beiden Gruppen den Zeitplan gestalten konnten. Die Mitglieder verwendeten die meiste Zeit darauf, die persönlichen Geschichten der anderen kennenzulernen. Es entstand eine sehr offene und unterstützende Atmosphäre, was dabei half, dass die Teilnehmenden intime Details ihrer Lebensgeschichten teilen konnten.« Sein Ansatz bestand darin, den Dialog zu fördern, zu sehen, was passiert, und es dann zu analysieren. Theorien ließ er erst beiseite, um sie dann mit der Erfahrung des Dialogs neu zu überprüfen, im Gegensatz zu anderen, die ihre Theorien beweisen wollten oder prüfen wollten, wieweit sie richtig sind. Bar-On nannte zentrale Fragen des Projekts in dem BBC-Dokumentarfilm über TRT »Children of the Third Reich«1: »Als ich den Workshop geplant habe, waren meine drei grundlegenden Fragen: a) Werden sie es schaffen, sich authentisch gegenüberzutreten? b) Werden sie sich gegenseitig helfen können, mit den Themen weiterzukommen, mit denen jeder Einzelne sich bis jetzt nicht vollständig auseinandergesetzt hat? c) Wenn all dies geschehen wird, wird eine Art gemeinsamer Agenda entstehen, die mehr ist als ihre einzelnen Anstrengungen?« Schweigen, Erzählen, Zuhören, Dialog Er legte großen Wert auf den Prozess des Geschichtenerzählens als Fundament des Dialogs. In einer unserer TRT-Treffen wies ich unschuldig, vielleicht sogar naiv, auf die Macht des Zuhörens dieser Geschichten als ein verwandtes, aber deutlich unterschiedenes wichtiges Element hin, woraufhin er sofort von ganzem Herzen zustimmte und dies danach auch in seinen Schriften aufnahm. Viel ist geschrieben worden über Stille oder Schweigen, auch über solche Konzepte wie »Verschwörung des Schweigens« oder »Indiskutierbarkeit«. Dan Bar-On war der Meinung, dass die Teilnehmenden über das Schweigen hinweggekommen sein müssten, um für den Dialog mit

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D a n B a r - O n : D a s S t r e b e n n a c h H o f f n u n g    3 9

tisch, kostenfrei und unpolitisch. Es wurde keine Psychopathologie unterstellt. Tatsächlich sind ja Annahmen einer Psychopathologie bei den Kindern von Holocaustüberlebenden mittlerweile widerlegt worden und wurden ersetzt durch Beschreibungen von normalen Unterschieden in der Sozialisierung und des Charakters (zum Beispiel Major 1996; Kellerman 2001). Bar-Ons zentrale Motivation in dieser Arbeit findet sich in der Einführung von »Die Last des Schweigens« (1993a), wo er erzählt, dass er im Sommer 1984 mit der Suche nach Antworten begann und zu seiner Überraschung nur wenig Informationen finden konnte. Im August 1985 kam er zum ersten Mal in Deutschland an. Bei dieser ersten Reise nach Deutschland musste seine Frau nach zehn Tagen nach Hause zurückkehren, um die Kinder zu versorgen. Bar-On hatte einen Aufenthalt von zwei Monaten geplant, brach aber

Sophie Taeuber-Arp, Café, 1928 / akg-images

den anderen bereit zu sein; dass sie ein Narrativ konstruiert haben müssten als Vorbedingung eines sinnvollen Dialogs. Wie er in »Tell Your Life Story« schrieb: »Um Narrative und Geschichten in Konfliktsituationen zu nutzen, mussten sie zunächst einmal aus dem Schweigen rekonstruiert werden (…) Erst nachdem diese Narrative in ihren getrennten, relativ sicheren Umgebungen etabliert wurden, konnte versucht werden, sie in den Dialog einzubringen. In diesem zweiten Stadium wurden das Erzählen und Zuhören der Geschichten Teil eines Gruppenprozesses. Wenn dies in einer Atmosphäre von Vertrauen und relativer Sicherheit passierte, konnte die Rekonstruktion der Narrative weitergehen und dann damit auch eine Wirkung weit jenseits der kleinen Gruppe erzielen.« Die Einfachheit seines Ansatzes war erstaunlich: Er war nicht religiös, nicht gezielt therapeu-

Schamgebeugt und schuldbeladen

seinen Besuch ab, weil bei dem 15-jährigen Sohn seiner Frau, Yariv, ein Lymphom diagnostiziert worden war. Bei seiner dritten Reise war Yariv schon nicht mehr am Leben. Während einer der letzten Unterhaltungen wollte Yariv etwas hören über die Menschen, die Dan Bar-On in Deutschland getroffen hatte. Er erzählte ihm etwas und Yariv fragte: »Warum ist das so wichtig für dich?« Während Bar-On noch nach einer Antwort suchte, leuchtete das Gesicht Yarivs plötzlich mit einem breiten Lächeln auf. »Ich weiß, warum: Du sucht nach Hoffnung, für sie und für dich selbst.« »Was meinst du damit?«, fragte Bar-On, überrascht durch diese Direktheit. Yariv: »Weil du mir mal gesagt hast, dass für dich die Suche nach Hoffnung damit zu tun hat, dass man der Wahrheit ins Auge sieht.« Aus dem Englischen von Lukas Radbruch Prof. Samson Munn, M. D. ist Radiologe in Torrance/Kalifornien. Er hat sich intensiv mit Gruppenprozessen und speziell mit Gruppendialogen im Zusammenhang mit Völkermord beschäftigt. Kontakt: [email protected] Website: www.nach.ws/radiologycv.pdf Anmerkung 1 Teil der Timewatch-Serie des BBC, London, 1993; produziert von Catrine Clay. Mehrfach landesweit ausgestrahlt in UK und USA, auch in den Niederlanden, Australien, Kanada, Frankreich, Israel, Türkei und anderswo.

dioxin / photocase.de

Dan Bar-On war der Meinung, dass die Teilnehmenden über das Schweigen hinweggekommen sein müssten, um für den Dialog mit den anderen bereit zu sein.

Literatur Bar-On, D. (1989). Legacy of Silence: Encounters with child­ ren of the Third Reich. Cambridge, Mass. Bar-On, D. (1993a). Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern. Frankfurt a. M. Bar-On, D. (1993b). First encounter between children of survivors and children of perpetrators of the Holocaust. In: Journal of Humanistic Psychology, 33, 4, S. 6–14. Bar-On, D. (1995). Fear and hope: Three Generations in families of Holocaust survivors. Cambridge, Mass. Bar-On, D. (1996). Attempting to overcome the intergenerational transmission of trauma: Dialogue between descendants of victims and of perpetrators. In: Apfel, R. J.; Simon, B. (Hrsg.): Minefields in their hearts: The mental health of children in war and communal violence. New Haven, Conn. Bar-On, D. (2006). Tell your life story: Creating dialogue among Jews and Germans, Israelis and Palestinians. Budapest. Bar-On, D.; Charney, I. W. (1988). Children of the Holocaust perpetrators: How did they form a moral self. In: Psychologia, 1, S. 29–38. Kellerman, N. (2001). Psychopathology in children of Holocaust survivors: A review of the research literature. In: Israel Journal of Psychiatry and Related Sciences, 38, 1, S. 36–46. Major, F. (1996). The impact of the Holocaust on the second generation: Norwegian Jewish Holocaust survivors and their children. In: Journal of Traumatic Stress, 9, 3, S. 441– 454. Munn, S. (2016). Post-genocide and related dialogue: What Dan Bar-On began. In: Wrochem, O. von; Eckel, C. (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaftern. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Berlin. Scheffel-Baars, G. (2006). The dialogue as a helping hand. A report about the hands-on expertise of KOMBI. Sichrovsky, P. (1987). Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien. Köln. Sichrovsky, P. (1988). Born guilty: Children of Nazi families. New York. Westernhagen, D. (1987). Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach. München.

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Ein Weg aus der Last des Schweigens Eleonore Fischer Ich habe 1988 anlässlich einer Seminararbeit »Ein Weg aus der Last des Schweigens« an der Universität Wien herausgefunden, dass mein Vater seit 1942 einen Rüstungsbetrieb hatte und vier Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Ukraine beschäftigte. Er erhielt Aufträge aus Berlin für die Luftwaffe. Kurz vor Kriegsende hat er die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter von der Gestapo (Geheime Staatspolizei) abholen lassen. Er hat sie als »Rote« und als Verbündete der »Russen« – als seine Feinde – gesehen. Nach dem Krieg war er über ein halbes Jahr in Haft, weil ihn Arbeiterinnen und Arbeiter aus seinem Betrieb als »übereifrigen Nazi« angezeigt hatten, der seine Arbeiterschaft schikaniert habe, unter anderem mit der Anweisung zu übertriebener Pünktlichkeit. Sie mussten hohe Geldstrafen für das Zuspätkommen zahlen, die mein Vater der Partei (NSDAP) weitergab. Dazu las ich in den Akten über seine Haft: »Arbeitsbeginn war 6 Uhr früh und wenn noch keine Straßenbahn fuhr, hatten sie zu Fuß zu gehen.« Er brüllte sie der geringsten Fehler wegen an. Dieses unwürdige Verhalten anderen Menschen gegenüber hat er, meiner Erinnerung nach, bis zu seinem Tod beibehalten. Ich kann mich an viele Szenen erinnern, wo er andere angebrüllt und beschimpft hat. Ich hörte in meiner Kindheit viel an Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit. So durfte meine älteste Schwester nicht studieren, weil sie eben ein Mädchen war. Die Gastarbeiter, die er in seinem Betrieb beschäftigte, behandelte er respektlos und herablassend. Und auch bei uns zu Hause galt das Klischee, dass es nur reiche Juden gäbe. Im Rückblick betrachtet fällt mir auf, dass ich in meiner Familie schon früh eine Opposition

zur Täterrolle meines Vaters eingenommen hatte. Zum Beispiel hatte ich mich schon mit zwölf Jahren entschlossen: Sollte ich je eine Tochter haben, so möchte ich sie »Esther« nennen. Die biblische Esther war – so steht es im Buch Esther – die jüdische Frau des Perserkönigs Ahasweros, die ihr Volk vor dem Untergang bewahrte, indem sie sich selbst als Opfer darbot. Mit zwanzig beneidete ich einen Freund um seine jüdische Großmutter. Allein durch diese Großmutter hatte seine Familie – in meinen Augen – eine Abgrenzung zur Täterschaft. In meiner Familie gab es keine Person, die sich klar von der Täterrolle abgegrenzt hätte. Erst jetzt fange ich an, meine Sehnsucht zu »Opfern« zu verstehen: Beim ersten Treffen in der »The Austrian Encounter« (Österreichische Begegnungsgruppe; charakteristisch für diese Gruppen ist, dass sie ohne therapeutische Führung miteinander arbeitet), habe ich mich als Täterkind vorgestellt; beim fünften Treffen war ich über mich selbst überrascht, weil ich mich bei diesem Treffen als »Opfer meines Tätervaters« vorgestellt hatte. Eine Teilnehmerin der »The Austrian Encounter«, die aus einer Opfer­familie stammt, erzählte einmal, dass sie ihren Vater als Täter erlebt hat. Ich fragte sie, ob sie einen Unterschied zwischen unseren beiden Vätern fände, wo wir doch beide unsere Väter als Täter erlebt haben. Sie meinte, dass sie nicht einen Täter zum Vater, sondern einen Vater hatte, der auch Täter war. »Wie meinst du das?«, fragte ich sie. »Meiner beginnt für mich als Vater und nicht als Täter. Und deiner fängt als Täter an«, war ihre Antwort. All meine Beweggründe für mein Verhalten wurzeln meiner Meinung nach darin, dass ich das Gefühl hatte, dass Kinder von Opfern leichter mit der Vergangenheit leben können.

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Auszüge aus den Interviews

Frage: Was ist deiner Meinung nach »einfacher«: aus einer »Opfer­familie« oder einer »Täterfamilie« zu kommen? Und warum?

ANTWORTEN DER TÄTERKINDER:

»Einfach ist beides nicht. Als Täternachkomme ist man zugleich Opfer. Opfer­nachkommen haben meiner Meinung nach die größeren Traumata, auch Hassgefühle.«

»Beides ist hart und nur schwer zu verkraften. Es gibt ungleich viel mehr Literatur über die Opferseite als über die Täterseite. Das bedeutet vielleicht auch, dass Nachkommen von Tätern einen größeren Nachholbedarf an psychologischer Betreuung haben könnten und nur wenige da sind, die darüber schreiben. Meinem Erleben nach wirken sich die Taten der Vorfahren – ob auf der Opfer- oder Täterseite – höchst unterschiedlich aus.«

»Opfernachkommen müssen mit dem materiellen und psychischen Schaden sowie mit kollektiver Demütigung und Fassungslosigkeit leben. Täternachkommen leiden vielleicht auch psychisch unter der Scham für das, was ihre Väter verbrochen haben, unterstützten oder zumindest zuließen. Und doch ist das eine mit dem anderen nicht zu vergleichen, weil eine Scham, für die ich nichts kann und für etwas, das ich auch nicht gutheiße, geht nicht sehr tief unter die Haut.«

»Mit Schuld ist vielleicht schwieriger umzugehen. Mit Erbschaften und Geld, weil man gezwungen wird, seine eigene Position zu hinterfragen. Meiner Meinung nach kann man das nicht fragen: Was ist einfacher: aus einer Opferoder Täterfamilie zu kommen? Man kann das nicht miteinander vergleichen.«

»Ich erachte beides – aus einer Opferfamilie oder aus einer Täterfamilie zu kommen – als gleich schwierig.«

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E i n We g a u s d e r L a s t d e s S c h w e i g e n s    4 3

ANTWORTEN DER OPFERKINDER:

»In Österreich und Deutschland ist es vermutlich einfacher, aus einer Täterfamilie zu kommen, weil es die mehr gibt. Opferfamilien sind isoliert.«

»Wie sich bei mehreren Mitgliedern unserer Gruppe gezeigt hat: Die Kinder von Tätern wollen sich als Opfer ihrer Eltern darstellen. Das ist ein starker Druck, ein Zwang.«

»Es ist einfacher, aus einer Opferfamilie zu kommen. Man hat das Recht auf seiner Seite. Aber in einer Opferfamilie zu sein ist unglaublich schwer. Es ist noch immer schwer, es ist noch immer gegenwärtig. Wenn Kinder das ›erben‹, bringt das viele Schwierigkeiten mit sich. Zum Beispiel erzeugt es Misstrauen. Es ist sehr wichtig für ein Kind, das ja mit seiner Umwelt leben möchte. Opferkinder haben es nicht in der Gruppe schwer, aber damit, mit ›ihrer‹ Welt auszukommen. Nicht dazuzugehören, nicht dazu zu passen, immer ein Misstrauen zu haben. Man kommt nie davon los. Das ist keine ›Eltern-Kind-Sache‹. Das ist eine ›Welt-Kind-Sache‹. Die Eltern waren die ›Opfer‹ und die Kinder waren die ›Glücklichen‹. Und so mussten die Kinder auch leben. Sie ›mussten‹ das Glück immer auf ihrer Seite haben. Das aber kein Glück mehr war, weil es erzwungen war. Das Kind spürt, dass es viel verleugnen muss. Und muss aktiv zeigen, dass nichts passiert ist. Und an dieser Stelle weiß das Kind, dass viel passiert ist. Und man darf nichts ansprechen. Täterkinder gehören zu einem Land. Sie haben eine Identität. Mehr als nur die Eltern. Sie wissen, dass sie irgendwo dazu gehören. Ich glaube, das ist eine Basis, auf der man bauen kann. Ohne das hat man nie einen richtigen Boden unter den Füßen.«

»Es ist sicher leichter, an solch einer Dialoggruppe als Kind von Opfern teilzunehmen. Es ist immer leichter, Opfer zu sein und nicht die Beweggründe und Handlungen der Eltern in Frage stellen zu müssen. Es könnte emotional schwieriger sein, die Tatsache aufzuarbeiten, Kind von Tätern zu sein. Und es ist emotional eine Herausforderung, so viele Familienangehörige verloren zu haben und mit all dem, was die Eltern erleiden mussten, umzugehen.«

»Nach dem ersten Treffen habe ich die enormen Schwierigkeiten zu verstehen begonnen, in einer Täterfamilie gewesen zu sein. Trotz des Schweigens in einigen Opferfamilien waren Details aus dem Holocaust bekannt, wenn vielleicht auch nicht über die eigenen Eltern. In Täterfamilien waren Gespenster und Geheimnisse. Opfer konnten darüber sprechen, wenn sie es wollten; Täter konnten das für gewöhnlich nicht. Ich habe erfahren, wie diese Geschichte in einigen Täterfamilien die Dynamik ernsthaft gestört hat, sodass Liebe und Vertrauen in Frage standen. Wie kann ein Kind in solcher Ungewissheit aufwachsen? Wie soll es wissen, was es glauben kann und was nicht? Ich habe erfahren, dass viele Väter – entweder geografisch oder emotional – abwesend oder grausam zu ihren Kindern und Frauen waren. Nie werde ich die Worte von einem österreichischen Teilnehmer am ersten Treffen vergessen: ›Trotz meinem Entsetzen und meiner Traurigkeit darüber, was den Juden in unserem Land geschehen ist, einschließlich deiner Eltern: Ich fühle dir gegenüber auch etwas Neid. Denn du hattest zwei liebende Elternteile.‹ Ich wusste damals nicht, ob ich dem gegenüber Sympathie oder Ärger empfinden sollte.«

»Als Kind von Eltern, die das KZ mit schweren Traumata überlebt haben, würde meine Antwort auf diese Frage anders ausfallen. Nun, meine Eltern waren Flüchtlinge, die sich als Immigranten bezeichneten. Obwohl ihr Leben gänzlich verändert worden war und sie viele Verluste erlitten hatten, hatten sie weniger Schaden davongetragen als viele andere. Meine Kindheit war jedoch sicher von ihrer Erfahrung geprägt. Aber ich habe gelernt, dass auch die Kinder von Tätereltern, die nicht notwendigerweise ›große‹ Nazis waren, zutiefst davon betroffen und emotional verletzt wurden. Für mich wäre es außerordentlich schwierig, nicht die Wahrheit über die Gefühle und Handlungen meiner Eltern während der Nazizeit zu kennen. Das Leben mit Verdächtigungen würde das Vertrauen in anderen Bereichen auch untergraben. Andererseits: Vielleicht wäre es noch schlimmer, die Wahrheit zu kennen.« Eleonore Fischer ist Sozialwissenschaftlerin, war Lehrerin in Wien und lebt jetzt in Oberösterreich. Kontakt: [email protected]

Schamgebeugt und schuldbeladen

FRAGE Kann man nach zwei verlorenen Kriegen, Nach blutigen Schlachten, schrecklichen Siegen, Nach all dem Morden, all dem Vernichten, Kann man nach diesen Zeiten noch dichten? Die Antwort kann nur folgende sein: Dreimal NEIN!

Helgi / photocase.de

Robert Gernhardt (1937–2006), 1966 In: Gesammelte Gedichte. 1954–2004 , 4. Auflage, S. 19 © 2006, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Verdrängt, vergessen, verklärt Warum wir uns so schwertun, die Verbrechen während der deutschen Kolonialzeit zu bekennen

Bartholomäus Grill

Ein dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte Was wissen wir über die deutsche Kolonialära? Ziemlich wenig, muss ich immer wieder feststellen, wenn ich öffentlich aus meinem Buch »Wir Herrenmenschen« (2019) lese, das dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte ausleuchtet. Na ja, heißt es oft, das imperiale Abenteuer in Kaisers Zeiten ist verdammt lange her, und eigentlich war doch alles gar nicht so schlimm. Im Großen und Ganzen seien unsere Urgroßväter und Großväter doch recht anständige Kerle gewesen, jedenfalls im Vergleich zu den brutalen Franzosen oder Portugiesen, gar nicht zu reden von den Belgiern, die den armen Kongolesen die Hände abhackten, wenn sie nicht genug Kautschuk gezapft hatten. Landraub? Unterjochung und Ausbeutung? Mord und Terror? Institutionalisierter Rassismus? War da was? Bis heute liegt ein gespenstisches Schweigen über den Verbrechen, die damals verübt wurden. Überdauert haben nur ein paar historische Wunschbilder, die von Generation zu Generation vererbt wurden. Die rund dreißig Jahre deutscher Kolonialherrschaft erscheinen als kurze und vergleichsweise harmlose Episode, und dass sie so früh endete, wird als Glücksfall gesehen: Das Deutsche Reich hatte einfach zu wenig Zeit, um größeren Schaden anzurichten. Nach 1945 war die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung ohnehin damit beschäftigt, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verdrängen oder zu leugnen, und selbst die wenigen kritischen Geister nahmen die Kolonialära nur ober-

flächlich wahr, die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und der Nazibarbarei verstellte auch ihren Blick auf die dahinterliegende Zeit. Wenn ich von den Hinterlassenschaften der deutschen Kolonialzeit berichte, die auf meinen Reisen durch Togo, Kamerun, Namibia oder Tansania in Gestalt von Ortsnamen, Amtsgebäuden, Friedhöfen oder verwitterten Denkmälern auch noch nach einem Jahrhundert unübersehbar sind, wird selten genauer nachgefragt. In solchen Augenblicken kann ich die Niedergeschmettertheit nachempfinden, die W. G. Sebald, den meines Erachtens größten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit, mitunter befiel: »(…) spürte ich doch in zunehmendem Maß, daß die rings mich umgebende Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, das Geschick, mit dem man alles bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven anzugreifen begann« (1994, S. 337 f.). Historisches Verantwortungsbewusstsein entwickeln Gerade die historische Erinnerung aber, die genauere Kenntnis des Gewesenen, ist die Voraussetzung, um schuldhafte Verstrickungen zu erkennen. Erst dann fühlen wir uns als Nachgeborene verantwortlich für die Verbrechen unserer Großväter, erst dann können wir Scham und Reue empfinden. Zum Beispiel für den Vernichtungsfeldzug der deutschen Kolonialtruppe im heutigen Tansania, der nach Schätzungen afrikanischer Historiker 300.000 Menschen das Leben gekostet hat. Oder für die Sklavenarbeit auf

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Blick auf das reichsdeutsche Kolonialunternehmen und seine Nachwirkungen zu werfen. Ein Streit über die Rückgabe der kolonialen Raubgüter in unseren Museen ist entbrannt; Straßennamen, die Kolonialverbrecher ehren, werden umbenannt, heroische Denkmäler entfernt; ehemalige Protektorate fordern Entschädigung. Zerstörung anderer Kulturen Aber die verkrampften Debatten zeigen auch, dass hierzulande noch immer nicht verstanden wird, welche fundamentalen Erschütterungen der deutsche Kolonialismus im Zuge der europäischen Welteroberung ausgelöst hat. Man kann oder will nicht wahrhaben, dass diese als weltgeschichtliche Heilsmission gerechtfertigte Expansion für einen beträchtlichen Teil der Menschheit einem Höllensturz gleichkam. Hören wir dazu Aimé Césaire, den großen afro-­ karibischen Poeten: »Man erzählt mir vom Fortschritt und geheilten Krankheiten. Ich aber spreche von zertretenen Kulturen (…) von Tausenden hingeopferten Menschen (…) Ich spreche von Millionen Menschen, denen man geschickt das Zittern, den Kniefall, die Verzweiflung eingeprägt hat.« Die wichtigsten Instrumente zur Umerziehung des »faulen Negers« zum fleißigen Sklaven wa-

Der Aufstand der Herero gegen die deutsche Besatzung begann im­ Januar 1904. Dieses undatierte Foto zeigt einen (vermutlich deutschen) Soldaten mit namibischen Kriegsgefangenen.

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den Plantagen in Kamerun. Oder für die Vergewaltigungen von zahllosen Frauen und Mädchen durch deutsche Kolonialbeamte in Togo. Oder für die Schlächtereien eines Generals von Trotha, der in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, das Volk der Herero beinahe ausrotten ließ. All diese Schandtaten wurden in Fachpublikationen beschrieben. Doch über hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als das Deutsche Reich seine »Schutzgebiete« in Afrika, China und der Südsee an die Siegermächte abtreten musste, sind die verharmlosenden Stereotype immer noch stärker. Sie geistern durch Geschichtsbücher, Zeitungsberichte oder TV-Dokumentationen. Da tanzen barbusige schwarze Mädchen und kriegerische Eingeborene über den Bildschirm, natürlich wird dazu viel getrommelt, und die Menschenfresser und Kopfjäger dürfen nicht unerwähnt bleiben. Hartnäckig hält sich die Mär vom deutschen Kolonialidyll und von den Zivilisationsleistungen unserer Vorfahren – als hätten sie durch den Bau von Schulen, Krankenhäusern und Eisenbahnlinien schon damals eine frühe Form der Entwicklungshilfe praktiziert. In Wahrheit diente die Infrastruktur allein der Inwertsetzung und Ausbeutung der Kolonien. Erst in jüngster Zeit beginnen wir, die kollektive Amnesie zu überwinden und einen neuen

Ve r d r ä n g t , v e r g e s s e n , v e r k l ä r t    4 7

ren der Arbeitszwang und das Steuerdiktat. Die Afrikaner und Afrikanerinnen wurden genötigt, in die Frondienste der Fremdherrscher zu treten, ihre Waren zu kaufen, über die Hütten- oder Kopfsteuer ihre Militär- und Verwaltungsapparate zu finanzieren. Die Subsistenzgemeinschaft wurde in eine Arbeitsgesellschaft verwandelt, die Geldwirtschaft verdrängte den herkömmlichen Tauschhandel. Die gewaltsame Modernisierung hatte verheerende Folgen: Landflucht, Wanderarbeit, Entwurzelung, häusliche Gewalt, Trunksucht. Vielerorts befiel die Menschen ein regelrechter Stupor, eine soziale Lähmung. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, Männern und Frauen, Jungen und Alten, Stadt und Land veränderte sich. Zugleich dienten die Kolonien als Laboratorien der Moderne, in denen repressive Verwaltungsapparate, polizeistaatliche Methoden und militärische Strategien erprobt wurden; die Invasoren bauten Konzentrationslager, trennten Wohngebiete nach Rassen, entwickelten Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle, Sozialhygiene und Seuchenbekämpfung. Sie zwangen den annektierten Gebieten das europäische Staatskonzept auf, und am Ende war die Welt verwestlicht. Das vorgeschobene Ziel war, die Bewohner und Bewohnerinnen der Kolonien auf eine höhere Kulturstufe zu heben, und die christlichen Missionare übernahmen dabei eine führende Rolle. Sie trichterten den »Heidenkindern« westliche Werte ein: Arbeitsdisziplin, Fleiß, Gehorsamkeit, Ordnungssinn, Körperhygiene, Kleidungsvorschriften und Essregeln, Schriftkultur, Rationalität und Rechenhaftigkeit, das lineare Zeitmaß, den rechten Winkel und natürlich sittliche Gebote wie die Einehe. Kurzum: Die »Eingeborenen« sollten aus der Finsternis des Unwissens erlöst werden. Aber sie blieben das, was sie aus europäischer Sicht immer schon waren: Sklaven, Knechte und Mägde, Diener, Domestiken, minderwertige Subjekte.

Rassismus und Eurozentrismus Die Fundamente dieser rassistischen Geisteshaltung wurden schon lange vor der Kolonialzeit von Sozialdarwinisten und Philosophen gelegt; es sei »nichts an das Menschliche Anklingende« im Charakter des »Negers« zu finden, postulierte der Weltdenker Hegel (zitiert nach Grill 2019). Die Projektionen des Inferioren, Primitiven, Rückständigen waren Bausteine der Selbstkonstruktion Europas als überlegene Kultur. Europa sei auf dem »Schweiß und den Leichen von Negern, Arabern, Indern und der gelben Rassen« gebaut, es sei eine »Kreation der Dritten Welt«, schreibt Frantz Fanon (zitiert nach Grill 2019), einer der einflussreichsten Theoretiker der antikolonialen Befreiungsbewegung. Wir brauchen das Nicht-Wir, um unser Wir zu schaffen. Es ist wie der Blick in einen Spiegel, in dem wir die Abbilder sehen, die wir durch die Abgrenzung zum anderen von uns selbst produziert haben. Sie erzählen mehr von Europa als etwa von unserem Nachbarkontinent. Sie produzieren ein Afrique fantôme, in dem sich unsere rassistischen Vorurteile und unser eurozentrischer Überlegenheitsdünkel spiegeln. Sie schüren unsere Ängste vor Migranten und Migrantinnen, die angeblich millionenfach nach Europa aufbrechen. Und so kommt es, dass Fotos von Afrikanerinnen und Afrikanern, die zu Tode verängstigt auf überfüllten Schiffen im Mittelmeer dahintreiben, oft nur noch Furcht und Abscheu auslösen. Man nimmt sie nicht als Menschen war, sondern als bedrohliche schwarze Masse. Sie werden wie in der Epoche des Kolonialismus ihrer Individualität beraubt und dehumanisiert. Alte und neue Nazis verwenden wieder ganz selbstverständlich Begriffe wie Volk, völkisch, Lebensraum, Rasse, Rassenkampf. Sie halten sich als weiße Europäer und Europäerinnen für höherwertige Geschöpfe und glauben, dass das Leben schwarzer Menschen weniger wert sei – angeblich zähle es ja auch in deren Heimatländern nicht viel. Es wird sogar darüber diskutiert, ob man Flücht-

Schamgebeugt und schuldbeladen

1 Graffiti, Berlin, 2020. Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/ User:Levin_Holtkamp

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linge unbedingt vor dem Ertrinken retten müsse. In derart obszönen Gedankenspielen sind jene rassistischen Weltbilder zu erkennen, die in der Kolonialära geprägt wurden. Sie waren immer da. Jetzt brechen sie wieder hemmungslos auf. Postkolonialismus Eine wirkliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte würde also damit beginnen, unsere Wahrnehmung schwarzer Menschen selbstkritisch zu überprüfen und einzugestehen, dass wir sie nach wie vor mit dem kolonialen Blick sehen. Wir sollten uns fragen, woran es liegt, dass P ­ eople of Color in allen westlichen Gesellschaften auf der sozialen Rangleiter ganz unten stehen. Wir könnten dabei lernen von der globalen Protestbewegung #BlackLivesMatter, die den strukturellen Rassismus anklagt. Und von der sogenannten postkolonialen Theorie, die die eurozentrische Deutungshoheit der Weltgeschichte durchbricht. Es wäre schon viel gewonnen, wenn unsere Schulbücher die unrühmliche deutsche Kolonial­ ära thematisieren würden, denn dort kommt sie, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Auch Museen, Universitäten, Volkshochschulen, Fernsehkanäle und digitale Plattformen könnten viel mehr zu diesem historischen Aufklärungsprojekt beitragen. Vielleicht würde dann eine brei-

tere Öffentlichkeit die eigentlichen Ursachen der Armut in den ehemaligen europäischen Herrschaftsgebieten erkennen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter des Hochimperialismus, bildeten sich jene globalen Ungleichheiten heraus, die nach wie vor die Weltwirtschaft bestimmen: Die Ex-Kolonien, unterdessen Schwellen- oder Entwicklungsländer genannt, liefern Bodenschätze und unverarbeitete Agrarerzeugnisse, die Wertschöpfung aber findet jenseits ihrer Grenzen statt und vermehrt unseren Wohlstand. Erst wenn wir diese Spätfolgen erkennen, können wir uns unserer historischen Schuld bewusstwerden, die Nachfahren der Opfer kolonialer Ausbeutung und Erniedrigung um Vergebung bitten – und ihnen endlich auf Augenhöhe begegnen. Bartholomäus Grill ist seit 40 Jahren in Afrika unterwegs. Er arbeitete für die »Zeit« und den »Spiegel« als Afrika-Korrespondent. Kontakt: [email protected]

Literatur Grill, B. (2019). Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. München. Sebald, W. G. (1994). Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt a. M.

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Fehlerkommunikation bei Ärzten und Ärztinnen Lukas Radbruch Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein (Marie von Ebner-Eschenbach)

Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse (SUE) In der medizinischen Forschung herrschen strenge Regeln. In klinischen Studien werden Medikamente, Medizingeräte oder Interventionen unter vorgegebenen Bedingungen untersucht, und alle Ergebnisse nach einem festgelegten Schema und mit standardisierten Messinstrumenten dokumentiert. Erfasst und dokumentiert werden nicht nur die Wirksamkeit der Behandlung, sondern auch alle unerwünschten Ereignisse. Wenn schwerwiegende unerwünschte Ereignisse (SUE) auftreten, muss sofort die Kontrollinstanz (der Sponsor der Studie) informiert werden, der Verlauf besonders sorgfältig dokumentiert werden und gegebenenfalls die Studie bei diesem Teilnehmer abgebrochen werden. SUEs sind definiert als jedes unerwünschte Ereignis, das zu einem Krankenhausaufenthalt führt oder einen solchen Aufenthalt verlängert, eine bleibende oder schwerwiegende Behinderung oder Invalidität auslöst, unmittelbar lebensbedrohlich ist oder sogar zum Tod führt. Dabei spielt es zunächst gar keine Rolle, ob ein ursächlicher Zusammenhang mit der Studie besteht oder nicht. Der Prüfarzt schätzt den Schweregrad des unerwünschten Ereignisses ein (ist es schwerwiegend oder nicht) und den vermuteten kausalen Zusammenhang mit der in der Studie untersuchten Behandlung (sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich, nicht klar zuzuordnen, unwahr-

scheinlich, ausgeschlossen, nicht bewertbar). Da es auf die Kausalität zunächst einmal nicht ankommt, ist eben auch von unerwünschten Ereignissen die Rede, nicht von unerwünschten Wirkungen oder sogar Nebenwirkungen. Es soll alles gemeldet werden, nicht nur die Ereignisse, die vom Prüfarzt als Folge der Medikation oder Intervention eingestuft werden. Selbst bei klinischen Studien mit Palliativpatient:innen, bei denen rapide Verschlechterungen oder sogar der Tod während einer Studienteilnahme nicht überraschend wären und fast immer mit dem Verlauf der Grunderkrankung zusammenhängen und nicht mit der in der Studie untersuchten Behandlung, wird hier keine Ausnahme gemacht, und bei jedem unerwünschten Ereignis und vor allem bei jedem SUE werden die Regeln befolgt. Diese Regelungen sind seit 2014 im Arzneimittelgesetz vorgegeben und zusätzlich in den Good Clinical Practice Guide­lines (GCP; https://ichgcp.net/de), die jeder Prüfarzt, jede Prüf­ärztin in der klinischen Forschung lernen muss, ausführlich erörtert. Konstruktive versus kritischer Fehlerkultur In der klinischen Forschung ist also klar geregelt, wie mit möglichen Fehlern umgegangen wird. Im klinischen Alltag der Ärzt:innen fehlen diese klaren Regeln. Dabei wäre es genauso wichtig, dass dort Fehler erkannt und klar benannt werden, weil nur so aus den Fehlern gelernt werden kann. Im deutschen Gesundheitssystem herrscht größtenteils noch eine kritische Fehlerkultur, bei der vor allem die oder der für den Fehler Verantwortliche gesucht wird und Fehler sanktioniert werden. In einer solchen Kultur werden Fehler vor al-

lem vertuscht, und wenn ein Fehler bekannt wird, werden die Mitarbeitenden erst mal Erklärungen suchen, warum sie nicht schuld sind. Erst wenn eine konstruktive Fehlerkultur etabliert ist, kann aus Fehlern gelernt werden, damit der gleiche Fehler in Zukunft vermieden werden kann und so das Fehlermanagement zur Qualitätssicherung beitragen kann. Eine konstruktive Fehlerkultur setzt voraus, dass Fehler nicht als Fehlverhalten eines Einzelnen gedeutet werden, sondern dass Fehler aufgrund von vielen Faktoren entstehen können, von Struktur- oder Prozessproblemen oder von Kommunikationsproblemen. Dazu gehört auch eine ausreichend hohe Fehlertoleranz, mit der Annahme, dass jeder Fehler machen kann (nur wer nichts tut, macht keine Fehler). Vor allem ist eine offene Diskussionskultur notwendig, so dass Fehler mit den Kolleg:innen und im Team besprochen werden können, ohne Schuldzuweisung, sondern mit dem Ziel der Erkenntnis, was man beim nächsten Mal besser machen könnte. Die Notwendigkeit einer solchen konstruktiven Fehlerkultur wird mittlerweile vielerorts gesehen. Krankenhäuser versuchen mit verschiedenen Methoden, eine Fehlerkultur einzuführen. An einem der Krankenhäuser, an denen ich arbeite, sind regelmäßige Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen etabliert worden, bei denen jeweils eine Abteilung einen komplizierten Fall vorstellen soll, bei dem die Behandlung nicht so funktioniert hat wie erwartet. Zusätzlich finden Todesfallkonferenzen statt, bei denen jeder im Krankenhaus verstorbene Patient besprochen wird, mit dem Ziel, mögliche Fehler in der Behandlung zu erkennen und falls nötig auch

Ulrike Rastin

In vielen Krankenhäusern ist mittlerweile ein Critical Incidence ­Reporting System (CIRS) einge­richtet worden, in dem »Beinahunfälle« anonym gemeldet werden können. Diese S­ ysteme wurden etabliert mit der Idee einer offenen Fehler­ kommunikation, aus der man lernen kann.

Arbeitsprozesse zu ändern, um ein erneutes Auftreten dieses Fehlers zu vermeiden. Offene Fehlerkommunikation In vielen Krankenhäusern ist mittlerweile ein Critical Incidence Reporting System (CIRS) eingerichtet worden, in dem von jedem Mitarbeitenden »Beinahunfälle« anonym gemeldet werden können. Diese Systeme wurden etabliert mit der Idee einer offenen Fehlerkommunikation, aus der man lernen kann. Solche CIRS gibt es auch als Angebot der Ärztekammern, zum Beispiel der Landesärztekammer Nordrhein (https://www. aekno.de/aerzte/beratung/cirs-nrw), in der mitt�lerweile mehr als 2000 CIRS-Berichte aufgenommen worden sind. Bei all diesen Bemühungen bleibt aber eine kritische Fehlerkultur weiterhin eines typisches Problem von Ärzt:innen und anderen Mitarbeitenden: Über Fehler zu sprechen bedeutet Schuld einzugestehen und eventuell die negativen Konsequenzen zu tragen, statt dass es als Chance gesehen wird, bei zukünftigen Patient:innen den gleichen Fehler zu vermeiden. Nach einem Pflegezwischenfall im Nachtdienst wurde am nächsten Tag diskutiert, dass dieser Vorfall eigentlich unbedingt im CIRS erfasst werden müsste. Obwohl diese Meldung anonymisiert ist, bestand im Team aber doch große Sorge, dass die Vorgesetzten anhand des Datums schnell rückverfolgen könnten, wer an diesem Tag Nachtdienst hatte, und dass diese Person dann doch vielleicht bestraft

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werden würde. Die Meldung wurde deshalb unterlassen. In meiner Weiterbildung zum Anästhesisten erlebte ich selbst, wie schnell Schuldgefühl und Scham im Vordergrund stehen. Ein Kollege hatte in einer kleinen Studie Transfusionszwischenfälle im OP ausgewertet. Er berichtete über fünf Situationen, in denen ein Patient eine falsche Blutkonserve erhalten oder fast erhalten hatte. Eine dieser Situationen war bei mir passiert: Ich hatte eine von mehreren in den OP gelieferten Blutkonserven in Empfang genommen und wie vorgeschrieben einen letzten Test der Verträglichkeit direkt am OPTisch zwischen dem Blut in der Konserve und dem Blut des Patienten gemacht. Als dieser Test eine Unverträglichkeit zeigte, habe ich mit dem Oberarzt die Konserve überprüft. Wie wir feststellten, hatte die Blutbank eine Blutkonserve von einem anderen Patienten mit dem gleichen Nachnamen herausgegeben. Obwohl ich also eigentlich keine Schuld hatte, fühlte ich mich doch deutlich unwohl, als der Kollege die Auswertung in der Abteilungsbesprechung vorstellte und mich dabei auch beim Namen nannte. Mit dem Patienten wurde dieser Fast-Zwischenfall übrigens nicht besprochen nach der Narkose. Es war ja eigentlich nichts passiert. Allerdings wird auch dann, wenn ein Fehler Auswirkungen auf den Zustand oder die Behandlung des Patienten oder der Patientin hat, oft dieser Fehler weder mit dem Patienten noch mit den Angehörigen kommuniziert. Auch hier gilt die Regel: Fehler nicht zugeben. Dahinter steht die Angst, das Vertrauen des Patienten zu verlieren, öfter auch die Angst vor straf- oder zivilrechtlichen Konsequenzen. Sicherlich ist beides möglich, wenn Fehler offen kommuniziert werden. Andererseits sind viele Patient:innen durchaus bereit, ihrem behandelten Arzt auch zuzugestehen, dass er in seiner täglichen Arbeit Fehler machen kann, und entwickeln eher mehr Vertrauen, wenn sie die Aufrich-

tigkeit und Ehrlichkeit der Ärztin oder des Arztes in der Fehlerkommunikation erleben. Die Angst vor der offenen Kommunikation von Fehlern, die ja oft gar nicht durch das eigene Verhalten entstanden sind, sondern vielfach in den Unzulänglichkeiten des Systems begründet sind, führt dann dazu, dass Ärzt:innen es zu schnell als Anklage verstehen, wenn Patient:innen oder Angehörige von Fehlern oder Pro­ble­ men berichten. Fast reflexhaft wird sich entschuldigt: »Sie müssen das verstehen …«, »Aber wir haben doch gleich …«, »Das ging nicht anders …«. Dabei wäre oft einfach ein Anerkennen der schwierigen Situation, der erlebten Schwierigkeiten, der negativen Erfahrungen notwendig. Martina Kern empfiehlt in solchen Situationen als Standardfrage an mich selbst: »Ist es so schlecht oder sind wir so schlecht?« Dann kann die Rückmeldung an Patient:innen und Angehörige auch darin bestehen, dass es ja wirklich eine schlimme Situation sei, dass die bisherigen Erfahrungen ja wirklich sehr negativ waren, dass ja wirklich einiges schief gelaufen sei in der bisherigen Versorgung. Als Leiter von zwei Krankenhausabteilungen versuche ich seit einigen Jahren, eine offene Fehlerkommunikation in den Teams zu etablieren. Fehler sollen diskutiert werden und sollen zum Nachdenken anregen. Es geht nicht um die Frage der Schuld oder des Schuldigen, sondern um die Vermeidung zukünftiger Fehler, analog zu dem Zitat: Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt sie zu wiederholen. (George Santayana)

So kann aus der Schwäche der Fehlbarkeit eine Stärke des konstruktiven Lernens werden. Prof. Dr. med. Lukas Radbruch ist Direktor der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Helios Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. Kontakt: [email protected]

Schamgebeugt und schuldbeladen

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Schuld und Scham nach Suizid Reinhard Lindner, Barbara Schneider

Die Erfahrung des Suizids eines nahen Menschen »Anfangs wurde schon gesprochen, gefragt, zugehört. Leider hört das bald auf und die Sprachlosigkeit dominiert. Alle wollen, dass wir bald wieder so sind, wie wir mal waren. Und dabei täte es uns so gut, auch immer wieder mal über unsere Situation sprechen zu können. (…) Aber über aller Erinnerung lag der Schmerz, wie eine Rußschicht nach einem verheerenden Brand.« Diese Worte fand ein Mitglied der AGUS-Gruppe Kassel im Gespräch mit Jana Schmidt, einer Studierenden der Sozialen Arbeit der Universität Kassel.1 Die Erfahrung des Suizids eines nahen Menschen konfrontiert An- und Zugehörige mit einer Vielzahl unterschiedlicher, aber meist höchst unangenehmer und schwer belastender Gefühle und Gedanken. Der Verlust durch den Tod ist generell mit erheblichen psychischen Belastungen, mit einer Vielzahl von Gefühlen und Reaktionen verknüpft. Sie sind abhängig von der Art des Sterbens, von der Beziehung zwischen Verstorbenem und dem weiter Lebenden und von der Persönlichkeit sowohl des Verstorbenen als auch der seines An- und Zugehörigen. Menschen erleben sich nach Verlust eines nahen Menschen oft verzweifelt, niedergeschlagen, sehnsüchtig, ängstlich, energielos, wütend und orientierungslos. Es macht einen Unterschied, ob der Tod erwartet werden konnte und in der Beziehung verhandelt werden konnte, auch ob das Sterben als gewaltsames Geschehen oder als verständlicher Prozess erlebt wurde. Der Tod durch Suizid aber stürzt Menschen oftmals in eine spezifische Trauer: Es drängt sich beim Suizid der Gedan-

ke auf, der Verstorbene sei »durch eigene Hand« und selbst entschieden gestorben und habe die damit verbundene Trennung selbst durchgeführt. Eine andere Trauer »Am Anfang war alles schwarz in heftigster Trauer. Dann kam das Schwarzweiß von Warum-Fragen und bohrenden Schuldfragen. Dann ein grauer Schleier über alles Erinnern, über die Gegenwart und Gedanken zur Zukunft. Dann eine Ahnung, dass es viele Farben gibt. Dann ein Gefühl dafür, dass wir nur für einen Bruchteil der Farben dieser Welt einen Namen haben. Und dass diese Farben in weit mehr Schattierungen existieren, als wir es fassen können. Und dass ich durch den Tod meines Sohnes die Schattierungen im Dunklen kennenlerne.« Charakteristische Emotionen nach einem Suizid können Schock und Fassungslosigkeit sein. Hinzu gesellen sich bei sehr vielen Hinterbliebenen Schuld- und Schamgefühle. Viele Suizid­ hinterbliebene empfinden einen Verlust von Stabilität, Ordnung, Sicherheit, Vertrauen, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit. Gerade zu Beginn können die Eindrücke, die direkt mit dem Suizid verbunden sind, eine traumatische Qualität annehmen und entsprechend auch in unbeeinflussbaren Erinnerungen auftauchen. Bezüglich der Beziehung zum Verstorbenen können im weiteren Verlauf auch Empfindungen des Verrats, der Täuschung, der Zurückweisung und Ablehnung aufkommen, die die gesamte Beziehung in Frage stellen. Suizid­hinter­bliebene befinden sich oft in einem ambivalenten Zustand, der

Foto: m.schröer

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unter anderem in der Erfahrung sozialer Isolation, verbunden mit dem Wunsch nach Unterstützung, besteht. Schuldgefühle nach dem Suizid »(…) es bleibt so ein Versagergefühl wie: ›Wir haben es nicht geschafft, dass unser Kind glücklich wurde.‹« Schuldgefühle nach einem Suizid sind besonders häufig. Die individuelle Aktivität der Person, die durch Suizid starb, beinhaltet eine aktive Tat, mit der die Verbindung zu anderen Menschen im Leben beendet wird. Schuldgefühle können im Kern ein Versuch sein, mit dieser Erkenntnis einen Umgang zu finden und zugleich im Erleben mit dem Verstorbenen weiter verbunden zu bleiben. Martha Wahl, selbst Suizidhinterbliebene und Psychiaterin, sagt dazu: »Die meisten Hinterbliebenen zermürben sich in derlei Gedanken. ›Ich komme mir vor wie eine Mörderin‹, sagte mir eine (…) Suizidwitwe. Eltern trifft es oft ganz besonders: Was sie in der Erziehung falsch gemacht haben, warum sie es nicht gesehen haben; so hinterfragen die Eltern der an Suizid verstorbenen Jugendlichen wieder und wieder ihr Leben, bis zurück in die Tage, als sie mit ihnen schwanger waren. Ob es die schlechte Note war, die er vor kurzem nach Hause gebracht hat, bricht es aus dem elfjährigen Jungen heraus, dessen Mutter sich das Leben genommen hat. Das gesamte innere Wertesystem ist in Frage gestellt. Was früher gut und in Ordnung schien: es kann doch nicht gut gewesen sein – bei diesem Ausgang. Die Frage ›Warum?‹ hämmert in allen Poren. Lieber selbst schuld sein als gar keine Antwort. Als ließe mit einem Schuldspruch, mit Selbstbestrafung, Büßen und Sühnen oder mit einem

verzweifelten, kindlichen ›tut mir leid‹ das Rad sich zurückdrehen, und alles wäre wieder gut. Im Schmerz dieses Quälens bleibt die Bindung zum Toten über Jahre hin intensiv spürbar. Es ist gut, wenn es im Alltag noch Struktur gibt, Aufgaben, an denen man sich irgendwie durch die Tage hangelt.« Schuldgefühle können somit ein Teil der Trauerarbeit, das heißt des inneren Entwicklungsprozesses, der Abschied nehmenden Auseinandersetzung mit dem Verlust sein. Sie können in Sackgassen der Verarbeitung führen bis hin zu einer eigenen Verurteilung, ebenfalls den Tod zu suchen. Sie können aber auch in einem Trauerprozess zu einem Verständnis, zu einer Klärung und zu einer Annahme der unausweichlichen Erkenntnis führen, dass der nahe Mensch gestorben ist und man ohne ihn im Leben weiterlebt. Für manche Menschen sind Schuldgefühle dann der Weg zur Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen im wahrsten Sinn des Wortes: Aus-einanderSetzung. Dies kann manchmal auch dazu führen, die Schuldfrage intensiv zu verhandeln und andere zu verurteilen, anzuklagen, zu provozieren und zu verdächtigen, dem Toten besonders geschadet zu haben. Das Tabu des Suizids wirkt demnach direkt in die Möglichkeit hinein, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen: Schuldgefühle sind am ausgeprägtesten bei denen vorhanden, die professionelle Hilfe gesucht, aber nicht erhalten hatten. Scham – ein Aspekt des Tabus Wie die Schuld ist auch die Scham ein Gefühl, das Hinterbliebene mit dem Verstorbenen verbinden kann. Schuld- und Schamgefühle beschäftigen viele suizidale Menschen: im Leben versagt zu haben, andere und sich enttäuscht zu haben, aber auch, durch den Suizid anderen ein Leid anzutun. Dabei scheint die Scham gerade dann groß zu sein, wenn suizidgefährdete Menschen unter dem Eindruck stehen, sie dürften oder könnten mit niemandem über ihre Verzweiflung, ihre inneren Konflikte und Belastungen sprechen. Hinterbliebene können in ganz ähnlicher Weise erle-

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ben, dass sie mit niemandem gelingend über ihren Verlust und über ihre damit verbundenen Gefühle sprechen können, weil sie einen Makel an sich spüren und weil Außenstehende sich mit dem Geschehen nicht befassen wollen. Die Tabuisierung des Suizids ist ein gesellschaftliches Phänomen, mit dem ein menschliches Erleben und Verhalten mit seinen Auslösern und Hintergründen ausgegrenzt und mit einem Sprachverbot belegt werden. Scham kann diese Tabuisierung sowohl ausdrücken als auch unterhalten. In der Folge fürchtet der trauernde Mensch, wegen des Suizids eines Angehörigen verachtet und ausgeschlossen zu werden. Da die Tabuisierung des Suizids die gesamte Gesellschaft betrifft, finden solche Prozesse des Ausschlusses, des Verschweigens, des Sich-Abwendens und der Aufforderung zu Mittun im Ungeschehenmachen auch real statt. Somit kann der Weg aus der Scham auch nicht allein von den Hinterbliebenen nach Suizid gegangen werden, zum Beispiel durch eine Psychotherapie. Vielmehr bedarf es auch eines gesellschaftlichen Engagements, in dem ein Klima der Offenheit, der Anteilnahme und des Mitgefühls dazu beiträgt, Isolation und Beschämung zu überwinden. Was tun? Gespräch, Gemeinschaft, Trennung, Weiterleben »Das Ziel wäre für mich, einmal Trauer nach Suizid aus der Ecke der Sprach- und Bild­losig­ keit zu holen.« Die zentrale Aufgabe, die auf trauernde Angehörige nach Suizid ebenso zukommt wie auf die Gesellschaft insgesamt, ist die, die Realität des Suizids aus der Sprachlosigkeit zu holen. Dies bedarf in erster Linie des Mutes und sollte von denjenigen ausgehen, die weniger belastet sind. Scham und Schuldgefühle sind ja gerade Hemmnisse, um zu sprechen, sich auszutauschen. Das Gespräch über den Suizid muss auf vielen Ebenen stattfinden. Zentral ist dabei die Funktion des Gespräches als Möglichkeit, Gemeinschaft und An-

erkennung zu erfahren, neue Gedanken, Überlegungen und Erkenntnisse zu gewinnen und sich in Verbindung mit anderen Menschen als ans Leben gebunden zu erleben. Martha Wahl sieht gerade kurz nach einem Suizid den Bedarf an klärenden und strukturierenden Informationen, die weiterbringen und entlasten können: Informationen über die typischen Prozesse der Trauer wie auch über Dynamiken der Suizidalität. Vielen Menschen helfen zur Überwindung von Scham und Schuld die Gespräche mit Personen, die Ähnliches erlebt haben, in einer Selbsthilfegruppe. In Deutschland bietet der Verein AGUS e. V. – Angehörige um Suizid in vielen Orten entsprechende Selbsthilfegruppen an (https:// agus-selbsthilfe.de). Aber auch professionelle Beratung und Psychotherapie können hilfreich dabei sein, die Isolation zu überwinden, die Hintergründe der Schuldgefühle zu klären und in der Begleitung des Trauerprozesses Möglichkeiten des Weiterlebens mit dem Verlust zu finden. Prof. Dr. med. Reinhard Lindner, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin, war u. a. am Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf tätig und ist Professor für Soziale Therapie am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel sowie geschäftsführender Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro). Kontakt: [email protected]

LVR, Kaschirina

Prof. Dr. med. Barbara Schneider, M. Sc. (Epidemiologie), Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Chefärztin der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen, Psychiatrie und Psychotherapie der LVRKlinik Köln. Sie ist geschäftsführende Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro). Kontakt: [email protected]

Literatur Pörschmann, D.; Ahle, T.; Lindner, R. (Hrsg.) (2021). Suizid. Let’s talk about it. Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur. Bielefeld, Berlin. Anmerkung 1 Die Zitate stammen aus Pörschmann, Ahle und Lindner (2021).

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Schuldgefühl und Scham beim Trauma einer Naturkatastrophe Erfahrungen nach der Flut im Sommer 2022

Susanne Leutner

Trauma erkennen und einordnen Ein psychisches Trauma ist »ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (Fischer und Riedesser 1999). Ohne Zweifel hat die Flutkatastrophe bei vielen Menschen ein solches Erleben ausgelöst. Mit unserer Initiative der »Soforthilfe Psyche« haben wir drei Initiatorinnen (Lempertz, Leutner, Faust 2022) uns auf Hobfoll (Hobfoll et al. 2007) bezogen. Er macht deutlich, dass nach einer Ka­ta­ stro­phe fünf Prinzipien von Bedeutung sind: Sicherheit, Beruhigung, individuelle und kollektive Selbstwirksamkeit, Verbundenheit und Hoffnung. Hieran orientierte sich unsere Arbeit. Hieran sollte sich auch der Umgang mit Scham, Schuld und Schuldgefühlen orientieren. Dazu gehört ebenfalls, die Betroffenen ­darin ernst zu nehmen, welche Stärken sie haben, was sie selbst schaffen und welche Schutzfaktoren bereits vorhanden sind. Ebenso müssen Risiko­ faktoren einer Verschlimmerung erkannt werden. Es muss Wissen über die biologischen Reaktionen von Flucht, Kampf, Unterwerfung und Selbst­ heilung bei Trauma vorhanden sein. All dies haben wir vermittelt, in Einzelkontakten und in Informationsgruppen.

Scham, Schuld und Schuldgefühle bei der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) Zunächst verstehen wir nicht, warum ein Mensch, dem Leid widerfährt in Form einer schweren Belastung oder eines traumatischen Ereignisses, ein Mensch, der also ein Opfer oder eine Betroffene ist, sich schuldig fühlt oder sich schämt. Ist ihm nicht Böses angetan worden? Hat sie nicht Undenkbares aushalten müssen? Freut sie sich nicht, davongekommen zu sein? Dass hingegen ein Täter, der Leid verursacht hat, eine Täterin, die anderen möglicherweise gezielt Schmerz und Verletzung zugefügt hat, Schuld auf sich geladen hat, erscheint völlig klar und logisch. Dieser Mensch soll sich schämen! Diese Person muss sühnen. Sie wird bestraft, wenn alles mit rechten Dingen zugeht. Hier liegt die Schuld. In einer Naturkatastrophe wird es komplizierter, aber auch dort kann es Elemente von Versagen und Schuld einzelner Menschen oder bestimmter Gruppen von Menschen geben. Aber im Angesicht des Traumas sind solche Zuordnungen nicht mehr so leicht zu treffen. Allzu oft steht die Welt Kopf, klare Zuordnungen sind ausgehebelt. Warum ist das so? Denken wir an die Definition von Trauma (Fischer und Riedesser 1999) und an die fünf Prinzipien nach Hobfoll (Hobfoll et al. 2007). So lange keine oder wenig Sicherheit herrscht, so lange die Welt aus den Fugen ist, versucht die menschliche Psyche, dennoch eine Logik, ein Muster, eine Kontrollmöglichkeit zu erlangen (Terr 1997). Wenn all

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dies im Außen nicht zu finden ist, muss es im Inneren gesucht werden. Es ist immer noch besser, unschuldig schuldig zu werden, als sich als vollkommen ohnmächtig und einflusslos zu erleben. Ich hätte handeln können. Das ist die Funktion des Schuldgefühls, die innere Verbundenheit mit der Welt, der Einfluss auf die Welt bleibt bestehen. Die Funktion der Scham ist im Zusammenhang mit Trauma, die verloren gegangene äußere Verbundenheit mit den Menschen im Umfeld, mit der Familie, den Nachbarn, den anderen Betroffenen (wieder neu) zu empfinden. Wenn ich mich für eine (unterlassene) Handlung schäme, mache ich mich innerlich wieder gesellschaftsfähig. Der Mensch als biopsychosoziales Wesen muss nicht nur körperlich und seelisch möglichst intakt sein, er ist auch auf Verbundenheit mit seinem Umfeld angewiesen. Die Scham dient dazu, diese Verbundenheit nicht verloren gehen zu lassen oder sie gegebenenfalls wieder herzustellen (Solomon 2022). Ein Kind hat einem anderen Kind etwas weggenommen. Es weiß oder lernt, dass man das nicht darf, es empfindet einen Makel aufgrund seines Handelns. Seine Scham über diesen Makel ist das Zeichen für das andere Kind, dass es sich ihm wieder zuwenden kann, dass beide nach den gleichen Spielregeln spielen. Wenn Betroffene von Katastrophen spüren oder meinen, dass es ihnen besser geht als vielen anderen, haben sie nach ihrem eigenen Empfinden einen Makel. Wenn sie sich dafür schämen, können sie erwarten, dass ihnen dieser Makel abgenommen wird. Sie bereiten somit den Boden dafür, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Am Beispiel der Flutkatastrophe möchte ich erwähnen: Schuldgefühle Ӻ Überlebensschuld »Mein hochbetagter Vater hat in der Flutnacht sehr gelitten. Ich konnte ihm kaum helfen. Jetzt ist er al-

lein in seinem zerstörten Haus und lässt niemanden mehr an sich heran. Ich mache mir große Sorgen, nachdem ich gehört habe, dass andere ältere Menschen den Freitod gewählt haben.« Solche und ähnliche Aussagen haben wir in den ersten Tagen immer wieder gehört. Oder sie standen in den E-Mails, die uns die Hilfesuchenden geschickt haben. Und so grausam diese Erfahrungen sind, so typisch und häufig werden sie gemacht. Wir wissen das aus der Forschung und aus Berichten von Holocaust-Überlebenden (Wardi 1997). Auch hier geht es darum, innerpsychisch eine Verbindung aufrechtzuerhalten und eine Möglichkeit, sich nicht komplett ohnmächtig zu erleben. Ӻ Magisches Denken »Wenn ich noch mal bei meiner Kollegin angerufen hätte, wäre sie nicht gestorben.« »Lenore Terr (1997) berichtet, dass Kinder, die eine Schulbusentführung überstanden haben, dem Geschehen in Nachhinein Sinn gegeben haben, indem sie alltäglichen Handlungen am Morgen vor der Entführung eine subjektive Bedeutung verliehen. Beispielsweise sagten sie sich: ›Ich hatte die falsche Kleidung an oder ich habe mich nicht richtig verabschiedet.‹ Es half ihnen, in der durch die Traumatisierung veränderten Welt zurechtzukommen« (Leutner und Cronauer 2022, S. 204). Ӻ Das Gefühl, falsche Entscheidungen getroffen zu haben »Ich bin noch mal in die Feuerwehrwache gegangen und konnte dadurch nicht bei meiner Familie sein. Es ist zwar alles gut gegangen, aber sie hätten mich gebraucht. Meine Frau weint jetzt die ganze Zeit.« Es mag von außen betrachtet sinnlos erscheinen, sich an diesen Äußerlichkeiten festzuhalten. Sie stellen aber den Versuch dar, nachdem die Kata­ stro­phe an sich vorbei ist und die Menschen äu-

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ßerlich wieder in Sicherheit sind, das biologische Reaktionsschema von Flucht nun auch emotional zu verarbeiten und zu durchdenken. Dadurch wird das Erlebte hirnphysiologisch wieder als zusammenhängende Geschichte gespeichert. Vorher besteht es aus einzelnen Fragmenten, die sich wie zersplittert an verschiedenen Stellen des emotionalen Gehirns befinden und sich unerwartet immer wieder ins Erleben drängen. Ӻ »Dass es mich überhaupt getroffen hat« »Ich muss etwas falsch gemacht haben, nun habe ich die Strafe bekommen. Ich wusste schon immer, dass ich falsch bin, zu schwach, zu egoistisch.« Aussagen dieser Art deuten darauf hin, dass der oder die Betroffene schon vorher schwierige Dinge erlebt und schuldhaft verarbeitet hat. Meist geschieht das im Kontext familiärer Traumata.

dem ist ein starkes intuitives Wissen vorhanden: Nur zusammen werden wir da hinausfinden. Also hilft die Scham, wieder dazuzugehören. Ӻ Das Gefühl, nicht geholfen zu haben »Ich habe gesehen, wie Menschen nicht mehr aus ihrem Auto herauskamen. Warum habe ich sie nicht gerettet? Warum lebe ich noch und nicht sie?« Hier wiegt der Makel noch viel schwerer, die Scham zeigt diesen Menschen und ihrem Umfeld, dass sie etwas bereuen, dass sie trotz des scheinbaren Unterlassens wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft sind.

Scham

Ӻ Das Gefühl, nicht schnell genug, nicht gut genug gewesen zu sein »Mein Sohn schreckt bei jedem Regentropfen zusammen; Hubschraubergeräusche sind ganz schlimm. Warum konnte ich ihn nicht besser schützen? Warum kann ich jetzt nicht mehr für ihn tun?«

Ӻ »Bei anderen war es viel schlimmer« »Bei uns ist nur der Keller etwas feucht, oder überschwemmt, bei uns hat das Wasser nur die Scheune zerstört. Bei mir ist nur das Erdgeschoss bis zur Fensterbank überflutet gewesen, bei uns ist nur die eine Außenwand zusammengebrochen, bei uns ist das Erdgeschoss weg, aber das Haus steht noch.«

Gerade Eltern spürten eine unendliche Last der Verantwortung und schämen sich schnell, wenn sie nicht »genügen«. So bleiben sie zumindest in der Auseinandersetzung und in dem Vergleich mit anderen verbunden und die Gefühle des Mangels geben ihnen erst mal die Kraft weiterzumachen.

Fazit: Ich darf nicht klagen. Ich schäme mich, weil es mir besser geht. Hier ist der Makel das Gefühl, dass man selbst besser weggekommen ist. Trotz-

Ӻ Das Gefühl, Hilfe zu brauchen »Ich habe wochenlang gedacht: Ich muss es allein schaffen. Ich habe bei uns aufgeräumt, bei meinen

Schamgebeugt und schuldbeladen

Paul Klee, Senecio (Baldgreis), 1922 / INTERFOTO / fine art images

Wenn Betroffene von Katastrophen spüren oder meinen, dass es ihnen besser geht als vielen anderen, haben sie nach ihrem eigenen Empfinden einen Makel.

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Eltern, bei den Nachbarn. Die ganze Zeit habe ich im Beruf gearbeitet. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich schäme mich, dass ich Hilfe brauche. Aber ich weiß auch: Sonst geht es nicht mehr.« Diese Kapitulation war oft die Möglichkeit, etwas mehr zur Ruhe zu kommen und Heilsames für sich selbst zu tun, sich einzugestehen, dass fachliche Unterstützung jetzt nötig ist. Das können ein Klärungsgespräch sein, mehrere traumaspezifische Sitzungen oder eine ganze Therapie. Hier hilft es, die Scham der Betroffenen zu besprechen und mit der Therapeutin die passenden Ziele zu definieren. Damit sind wir bei dem Punkt angelangt, wie die Berücksichtigung von Scham und Schuld in der Überwindung der PTBS gelingen kann. Das Überwinden von Scham oder Schuld bei PTBS Eine gute fachliche Unterstützung sollte damit beginnen, eine Einordnung zu treffen, welche Notwendigkeit für die Betroffenen genau besteht. Dabei orientieren wir uns an den Prinzipien von Hobfoll et al. (2007). Allein das reduziert Scham und Schuld. Der Betroffene weiß: Er hat Schlimmes erlebt, er kann sich damit auseinandersetzen und es wird genau geschaut, was er für seine biopsychosoziale Gesundheit braucht. Das ist nicht immer eine Psychotherapie. Und sehr selten ist sie sofort nötig. Ausnahmen sind, falls sie oder er schon vorher Belastendes oder Traumatisches erlebt hat, dann war ein Akutereignis wie die Flut »nur« der letzte Anstoß dafür, »jetzt nicht mehr zu können«. Jeder Mensch hat Selbstheilungskräfte und Ressourcen. Wenn es die Erlaubnis gibt, sich mit dem Schrecken auseinanderzusetzen, Angst und andere unangenehme Gefühle zu haben, kann auch der Zugang zu den Stärken wieder gut gelingen. Diese Stärken werden benötigt, um sich immer wieder gut auszubalancieren. Mit diesem

Herangehen gelingt auch die Integration von Scham- und Schuldgefühlen. Die Auseinandersetzung mit den Belastungen kann allmählich immer mehr gesteigert werden, wenn es gleichzeitig einen festen Stand in den eigenen Stärken gibt. Ein unterstützendes Umfeld ist dabei von größter Bedeutung, darin sind sich alle Forscher:innen einig. Ein sehr wichtiges Hilfsmittel ist nach Reddemann (2011), in die Beobachterposition gehen zu können. Dadurch weiß und fühlt die Betroffene immer wieder, dass sie mehr ist als ihr Schrecken, mehr als ihr Schuldgefühl, mehr als ihre Scham. Gemeinsam können Berater:innen und Klient:innen von dieser Übung profitieren. Dipl.-Psych. Susanne Leutner, Psychologische Psychotherapeutin, arbeitet in eigener Praxis für Psychotherapie mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen, Supervision und Fort- und Weiterbildung für Psychologen und Pädagogen in Bonn. Gemeinsam mit Elfie Cronauer leitet sie das Ego-State-Therapie Institut Rheinland in Bonn. Sie ist als Dozentin an verschiedenen Instituten, als Super­ visorin für Tiefenpsychologie, EMDR und Psychotraumatologie und als Trainerin für Ego-State-Therapie tätig. Kontakt: [email protected] Literatur Fischer, G.; Riedesser, P. (1999). Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2. Auflage. München. Hobfoll, S.; et  al. (2007). Five essential elements of immediate and mid-term mass trauma intervention: Empirical evidence. In: Psychiatry, 70, 4, S. 283–315. Lempertz, D.; Leutner, S.; Faust, C. (2022). www.sofortaktiv. de (Zugriff am 15.03.2022). Leutner, S.; Cronauer, E. (2022). Traumatherapie-Kompass. Begegnung, Prozess und Selbstentwicklung in der Therapie mit Persönlichkeitsanteilen. Göttingen. Reddemann, L. (2011). Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT-Das Manual. 6., vollst. überarb. Auflage. Stuttgart. Solomon, J. (2022). Shame as a behavioral system. In: Ep­ stein, O. (Hrsg.), Shame matters. Attachment and relational perspectives for psychotherapists. New York. Terr, L. (1997). Schreckliches Vergessen, heilsames Erinnern. München. Wardi, D. (1997). Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust. Psychotherapie mit Kindern von Überlebenden. Stuttgart.

Schamgebeugt und schuldbeladen

FelixMitermeier / Pixabay

Kriegslied ’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre, Und rede Du darein! ’s ist leider Krieg – und ich begehre, Nicht schuld daran zu sein! Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen Und blutig, bleich und blaß, Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen, Und vor mir weinten, was? Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten, Verstümmelt und halb tot Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten In ihrer Todesnot? Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute, So glücklich vor dem Krieg, Nun alle elend, alle arme Leute, Wehklagten über mich? Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten Freund, Freund und Feind ins Grab Versammelten, und mir zu Ehren krähten Von einer Leich herab? Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre? Die könnten mich nicht freun! ’s ist leider Krieg – und ich begehre, Nicht schuld daran zu sein! Matthias Claudius (1740–1815), 1778

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Leicht und bequem: Die Geschichte vom idealen Gewicht und dem Narrativ scheinbarer Mühelosigkeit Katja Patzel-Mattern

Die Diskussion über die Gestalt des idealen Körpers hat eine Geschichte Das gilt für so unterschiedliche Aspekte des Ideals wie Form, Gewicht, Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Zahlencodes wie 18,5 bis 24 kg/m² als Grenzwerte des sogenannten Body-Mass-Index, hier der Frau, entstanden in einer Zeit und in einer Region, in der das Angebot an industriell produzierten Nahrungsmitteln stetig zu- und die Bedrohungen durch zyklisch wiederkehrende Hungersnöte abnahmen (Drouard und ­Willot 2007). Infolge der Industrialisierung in Westeuropa und Nordamerika stiegen die durchschnittliche Lebenserwartung und das Körpergewicht an – Zeichen einer kalorienreicheren Versorgung der Menschen und zugleich Voraussetzung für signifikante Veränderungen ihrer Wahrnehmung. Wohlbeleibtheit, lange Zeit Ausdruck gehobener gesellschaftlicher Stellung und damit einhergehend der Möglichkeit, sich körperlicher Arbeit zu enthalten, wird zunächst für das sich etablierende Bürgertum und schließlich auch für die Handwerker- oder Facharbeiterfamilie zum Ausdruck sozialen Aufstiegs. Zugleich etablierte sich eine Gesellschaft, die diesen Aufstieg an individuelle Leistung koppelt und den Einzelnen für sein Glück und seine Wohlfahrt verantwortlich sieht (Maurer 1996, S. 352–355; S. 378–399). Das beinhaltet die Bereitschaft und Fähigkeit zur Arbeit. Die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen soll fortan nicht mehr durch Geburt, sondern durch seine mess- und quantifizierbare Leistung

in einer auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaft bestimmt werden – so das Versprechen. Das setzt entsprechende Körper voraus. Sie werden vermessen und gewichtet, normiert und bewertet mit dem Ziel ihrer Gesunderhaltung und Leistungsoptimierung. Das Leben der Menschen gerät in den Blick des Staates – sei es in Form der »medicinischen Policey« des 18. Jahrhunderts, sei es in Form der Fürsorge und Versicherung ab dem 19. Jahrhundert (siehe zum Beispiel Rathmayr 2014, S. 120 ff.; Hering und Münchmeier 2014, S. 41–81). Ausdruck dieser rationalen Kontrolle sind Kennzahlen. Bereits 1832 entwickelte der belgische Soziologe Adolphe Quetelet (1833, S. 1–44) mit dem gleichnamigen Index einen Vorläufer des Body-Mass-­Index (Keys et al. 1972). Seitdem wird Übergewicht nicht mehr allein anhand des Körpergewichts bestimmt. Der ideale Körper sollte fortan so beleibt sein, dass er entsprechend seiner Größe, seines Geschlechts und Alters optimale Leistung zu erbringen vermag. Abweichungen davon werden zunehmend als krank klassifiziert. Dank der Indizes bekommen Ärzt:innen eine neue Definitionsmacht. Eine Zahl, berechnet auf der Grundlage einer Formel, bestimmt nun scheinbar objektiv über die Angemessenheit oder Unangemessenheit von persönlichem Gewicht. Die körperliche Selbstwahrnehmung des oder der Betroffenen, die Fähigkeit, Handlung frei von Beeinträchtigungen und Schmerzen zu vollziehen, wie es noch 1728 der englische Arzt Thomas Short als Kriterium einer zuträglichen Leibesfülle formuliert (Short 1728, S. 9 f.), rücken hingegen in

Der Körper kann für den Einzelnen, die Einzelne zum Ausdruck der eigenen Unvollkommenheit und des Scheiterns an den selbst und gesellschaftlich auferlegten Erwartungen werden. Der Blick auf ihn, sei es im Spiegel oder vermittelt durch Meinungen und Expertisen Dritter, offenbart die Grenzen der Selbstoptimierung.

den Hintergrund. »Übergewicht wird zu einem vollen Krankheitsbild und zu einem Modethema in bürgerlichen Gesellschaftskreisen« (Buchinger und Hofstadler 1999, S. 227). Es betrifft nun potenziell jeden. Hier jedoch ist eine Einschränkung angebracht. Ein Ideal des Frauenkörpers entsteht

© Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg; Fotograf: Tobias Schwerdt

Die bürgerliche Gesellschaft entwickelt ein Geschlechterbild, das Männer als rational-geistige, Frauen hingegen als emotional-körperliche Wesen klassifiziert. Begründet wird dies pauschal mit der Gebär- und Stillfähigkeit der Frau. Unabhängig davon, ob dies im Einzelfall zutrifft, bewirkt dieses Geschlechterbild eine Konzentration auf den weiblichen Körper. Er steht unter besonderer Beobachtung – sowohl durch Dritte als auch durch die Frauen selbst (McKinley 2002, S. 48 f.).

Ökonomisch nützlich, staatlich und medizinisch kontrolliert und gesellschaftlich wie individuell beobachtet, wird der Körper, und hier lange Zeit vor allem der weibliche Körper, zum Objekt ständiger Verhandlung. Dabei zeigt der historische vergleichende Blick auf seine Darstellung in den Medien, dass Körper im Laufe des 20. Jahrhunderts zwar immer mehr an Gewicht verlieren (Wilk 2022, S. 45–52), darüber hinaus aber unabhängig von den jeweils propa­ gierten Idealmaßen vor allem als willentlich form- und gestaltbar imaginiert werden (Bordo 1993, S. 191–194). Suggeriert wird, dass der ideale Körper, lebt und konsumiert man richtig, einfach zu erlangen ist. Diese beiden Werbeanzeigen, die unmittelbar nebeneinander in der Frauenzeitschrift »Die Dame« 1926 (Heft 14, S. 62) veröffentlicht wurden, verdeutlichen das zuvor Gesagte.

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Paul Klee, Bilderbogen, 1937 / INTERFOTO / Bildarchiv Hansmann

Während die Teekanne-Werbung Jugend und Schlankheit miteinander in Beziehung setzt und anhand des Rundungen betonenden Schattenrisses einer Frau mit flachem Bauch und kleinen Brüsten illustriert, nutzt die Anzeige der Firma ETA die gezeichnete, Konturen hervorhebende Abbildung einer physiognomisch durchaus vergleichbaren Frau (im Bild links), um »unschöne Magerkeit« darzustellen. Bezieht man die zweite Frau, die für die »Eta-Tragol-Bonbons« wirbt, und den Begleittext, der von »herrlich gemeißelten Schultern und Armen« spricht, mit in die Betrachtung ein, so wird deutlich, dass sich das Ideal hier weniger anhand des Gewichts, sondern vielmehr anhand der Proportionen bemisst. Entscheidend sind in der bildlichen Sprache erkennbare Rundungen, die den Frauenkörper vom Männerkörper unterscheiden und zugleich seine reproduktiven Fähigkeiten betonen – Brüste

und Becken. Die Frauenkörper können in diesem Sinne ohne jede Anstrengung modelliert werden, auch das verbindet beide Werbeanzeigen miteinander. Lediglich ein auf reflektiertem Konsum basierendes Verhalten sei dafür nötig. Dabei obliegt es den Frauen, aktiv zu werden und den richtigen Augenblick für eine gezielte Intervention zu erkennen. Sie müssen ihren Körper lesen und die Symptome vermeintlicher Fehl­gewichtigkeit, wie »den lästigen Fettansatz«, von dem die Teekanne-­ Werbung spricht, interpretieren lernen. Ihre Ratgeber sind, folgt man der Anzeige der Firma ETA, nicht Fachleute aus Medizin oder Fürsorge, sondern andere Frauen. Die Selbstbeobachtung wird durch die Fremdbeobachtung innerhalb der Geschlechtergruppe und den kontrollierenden Blick durch Männer, »die eine gut entwickelte Frau am meisten« lieben, ergänzt. Gelingen diese Selbstbeobachtung und die aus ihre resultierende Selbst-

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optimierung, ist Frau der Erfolg sicher: Sie kann, wie die Werbetexte suggerieren, beruflichen Belastungen trotzen und zugleich jung und attraktiv sein. Scheiternde Selbstoptimierung kann Scham hervorrufen Dabei ist, liest man beide in der Zeitschrift nebeneinanderstehenden Anzeigen zusammen, zugleich auch klar, dass die Arbeit am eigenen Körper niemals endet. Sie bewegt sich zwischen einem Zuviel und Zuwenig. Das Ideal bleibt dabei unerreichbar. Es entsteht durch Zuschreibungen, die seit dem 18. Jahrhundert wissenschaftlich objektiviert, politisch eingehegt und gesellschaftlich beobachtet werden. Die Individualität von Maßen, Formen und auch Wohlbefinden wird der Vergleichbarkeit und Kategorisierung nachgeordnet. Diese Fokussierung bringt es mit sich, dass der Körper für den Einzelnen, die Einzelne zum Ausdruck der eigenen Unvollkommenheit und des Scheiterns an den selbst und gesellschaftlich auferlegten Erwartungen werden kann. Der Blick auf ihn, sei es im Spiegel oder vermittelt durch Meinungen und Expertisen Dritter, offenbart die Grenzen der Selbstoptimierung. Die Folgen können Scham und Versagensängste sein: Scham, im Vergleich mit anderen weniger zu gefallen, Angst, im beruflichen Wettbewerb nicht bestehen zu können oder in der Sorge um das eigene Wohlergehen zu versagen. Die Folgen können aber auch gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung sein. Wer nicht jung und schlank und zugleich voll entwickelt, ausgeschlafen und frei von körperlichen Leiden, ruhig und intensiv arbeitend seinen Platz im Leben ausfüllen kann, wie es die Werbetexte formulieren, der oder die genügt Ansprüchen an kontrolliertes und rationales Verhalten nicht und wird, so der daraus abgeleitete Vorwurf, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht gerecht. Auch wenn die Werbetexte fast hundert Jahre alt sind, artikulieren sie Annahmen, die in der Leistungs­

gesellschaft des 21. Jahrhunderts weiterhin Geltung beanspruchen. Gegenüber solchen historisch gewachsenen Annahmen und ihren zum Teil pauschalisierenden Wirkungen gilt es, das eigene Befinden in sein Recht zu setzen. Normen und Ratschläge können einerseits Leben ordnen und Hilfe geben, andererseits sind Körper und körperliches Wohlbefinden auch und vor allem individuell. Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern ist Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Dekanin der Philoso­ phischen Fakultät der Universität Heidelberg. Sie forscht und lehrt unter anderem zur Geschichte der frühen Kindheit und Mutterschaft sowie zur Geschichte der Arbeit. Dabei widmet sie der Bedeutung von Differenz­ kategorien, wie Geschlecht eine ist, besondere Aufmerksamkeit. Kontakt: [email protected]

Literatur Bordo, S. (1993). The unbearable weight. Feminism, Western culture, and the body. Berkeley. Buchinger, B.; Hofstadler, B. (1999). KörperNormen  – KörperFormen. Über-Gewicht bei Frauen. In: Lutter, C.; Menasse-Wiesbauer, E. (Hrsg.): Frauenforschung, feministische Forschung, Gender Studies. Entwicklungen und Perspektiven (S. 225–274). Wien. Drouard, A.; Willot, J.-P. (Hrsg.) (2007). Histoire des innovations alimentaires:  XIXe et XXe siècles. Paris. Hering, S.; Münchmeier, R. (Hrsg.) (2014). Geschichte der sozialen Arbeit. Eine Einführung. 5., überarb. Auflage. Weinheim u. a. Keys, A.; Fidanza, F.; Karvonen, M. J.; Kimura, N.; Taylor, H. L. (1972). Indices of relative weight and obesity. In: Journal of Chronic Diseases, 25, S. 329–343. Maurer, M. (1996). Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen. McKinley, N. M. (2002). Feminist perspectives on body image. In: Cash, T. F.; Smolak, L. (Hrsg.): Body image. A handbook of science, practice and prevention. 2. Auflage (S. 48–55). New York u. a. Quetelet, A. (1833). Recherches sur le poids de l’homme aux différens âge. Brüssel. Rathmayr, B. (2014). Armut und Fürsorge. Einführung in die Geschichte der Sozialen Arbeit von der Antike bis zur Gegenwart. Opladen u. a. Short, T. (1728). A discourse concerning the causes and effects of corpulency: Together with the method for its prevention and cure. London. Wilk, N. M. (2022). Körpercodes. Die vielen Gesichter der Weiblichkeit in der Werbung. Frankfurt a. M. u. a.

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Scham in der Palliative Care Die stille Begleiterin in der Betreuung von Menschen am Lebensende

Sarah Krüsi Leber Scham ist ein Gefühl, das im Umgang mit schwerstkranken Menschen allgegenwärtig ist. Von Schamgefühlen sind aber keineswegs nur die Patient:innen betroffen. Professionelle erleben diese Gefühle, ebenso Angehörige. Wie gehen sie damit um? Warum kommt es überhaupt dazu, dass Menschen sich schämen?

re Inkontinenzhose angeboten und den Nachtstuhl direkt neben das Bett gestellt. Indem wir ihre Schamgefühle wahrgenommen haben, ist es uns gelungen, ihre Grenzen zu schützen und ihre Würde zu hüten.

Die Scham als Hüterin der Würde

Mitarbeitende des interprofessionellen Teams erleben oft auch Gewissensscham. Sie entspringt der Spannung zwischen dem, was wir sein wollen, und dem, was wir sind. Gewissensscham wird in besonders herausfordernden Situationen erlebt, wie zum Beispiel folgender:

Schamgefühle entstehen, wenn ein Mensch seine persönlichen Grenzen nicht beachtet oder diese von Mitmenschen überschritten werden. Scham ist ein Gefühl, das sich kaum verbergen oder unterdrücken lässt. Es weckt in uns den Wunsch, buchstäblich im Erdboden zu versinken. So hat sich eine unserer Bewohnerinnen in Grund und Boden geschämt. Sie hatte die ganze Nacht tief geschlafen und erwachte am Morgen durch starken Harndrang. Sie meldete sich für Begleitung zur Toilette, konnte dann den Urin aber nicht mehr halten. Sie sagte immer und immer wieder: »Ich schäme mich so, das ist so beschämend, so unwürdig …« Und dennoch ist es etwas Positives, dass wir uns schämen. Wir spüren so, wenn unsere Grenzen erreicht oder überschritten werden. Scham ist ein wichtiges Signal, das uns warnt, dass unsere Würde in Gefahr gerät. Scham hilft, körperliche und seelische Grenzen und die Identität des Menschen zu wahren. Unserer Bewohnerin haben wir in der nächsten Nacht eine saugfähige-

Gewissensscham

Das Gesicht eines Bewohners war durch aggressives Tumorwachstum bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Dazu kam ein massiv übelriechender Wundgeruch, verstärkt durch hochsommerliche Temperaturen. Bei der Pflege erlebte das Team starke Ekelgefühle und musste sich zu jeglichen Interventionen regelrecht überwinden. Dies löste in uns große Scham aus, weil wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurden. Hier wurden unsere persönlichen Werte verletzt. Die Gewissensscham kann also als eine Art Verbündete unserer Echtheit und tiefen Überzeugungen gesehen werden. Sie ist wichtig, um unsere eigene Integrität und Würde zu schützen. Werden Schamgefühle wahr- und ernst genommen, so wird die Scham zur Hüterin der Würde und gibt uns den Impuls, etwas zu verändern.

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Erleben von Scham Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte und seine persönliche Schambiografie. Das Erleben von Scham wird bei Patient:innen durch unterschiedliche Situationen ausgelöst. Schon bei der Diagnosestellung erleben sie oft Scham und Beschämung. Wenn zum Beispiel unbedachte Aussagen unterstellen, Betroffene seien zu wenig sorgsam mit sich umgegangen. Oder sie hätten Unbewusstes nicht ausreichend aufgearbeitet und seien deshalb krank geworden. Auch Haarausfall nach einer Chemotherapie oder das Gefühl der Verstümmelung nach einer Brustamputation können Schamgefühle hervorrufen. Ausgeprägte körperliche Müdigkeit (Fatigue) führt dazu, dass sich Betroffene schämen, weil sie das gesellschaftliche Leistungsideal nicht mehr erfüllen. Neurologische Krankheitsbilder mit ihren Symptomen wie Zittern, Gleichgewichtsstörungen, vermehrtem Speichelfluss oder auch verlangsamten Reaktionen werden von der Gesellschaft oft als Unzurechnungsfähigkeit gedeutet, was die Betroffenen tief beschämt. Auch Älterwerden kann Schamgefühle auslösen. Anders als etwa in indianischen Kulturen, in denen Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung wertgeschätzt werden, wird in unserer Gesellschaft das Alter oft negativ bewertet. Körperliche Schwäche, Hilflosigkeit und dadurch entstehende Abhängigkeit sind für viele älter werdende Menschen mit Schamgefühlen verbunden. Ein besonderes Augenmerk gilt auch Betroffenen aus anderen Kulturen. Sie erleben häufig in für uns alltäglichen Situationen schambehaftete Momente. Es ist deshalb von großer Bedeutung, Sensibilität für Scham und Grenzen des einzelnen Individuums zu entwickeln.

Berufsgruppe empfindet Scham auf eine andere Weise. Für uns Pflegende gehört nackte Haut zum Alltag. Unser Seelsorger hingegen fühlt sich dadurch peinlich berührt. Und wenn zum Beispiel unsere Ärztin einer Bewohnerin und ihren Angehörigen eine schwierige Nachricht überbringen muss, so erlebt sie womöglich ein Gefühl der Befangenheit. Ungewollt muss sie hier eine Grenze überschreiten. Schambehaftete Situationen können nicht verhindert werden, aber wir können unseren Umgang damit verändern. Es ist wichtig, die Bereitschaft mitzubringen, unser Verhalten und unsere Schamgefühle bewusst zu reflektieren. Denn Schamgefühle sind immer ein Alarmzeichen! Wie sich Schamgefühle zeigen Erleben Pflegende bei der Arbeit schambehaftete Situationen, erhöhen sie ihr Arbeitstempo, versuchen sich mit einem unbeholfenen Scherz aus der Situation zu retten oder überspielen die Situation mit vermeintlicher Professionalität. Scham ruft körperliche Reaktionen wie Erröten und Schweißausbrüche hervor. Wir senken den Blick und möchten der schamauslösenden Situation so schnell wie möglich entkommen. Etwas, was schwerkranken Menschen meist nicht möglich ist. So reagieren Patienten häufig mit Rückzug. Sie igeln sich ein, ziehen sich von uns zurück. Es besteht die Gefahr, dass die Beziehung zwischen Patient:innen und Betreuenden leidet. Oft wird Scham durch eine andere Reaktion, wie zum Beispiel lachen oder überspielen, ersetzt. Weil das Empfinden von Scham schmerzhaft ist, löst es negative Gefühle aus und Betroffene können ungehalten oder aggressiv werden.

Schamgefühle im interprofessionellen Team

Was hilft den Betroffenen?

Die Pflege und Begleitung der uns Anvertrauten erzeugen häufig Schamgefühle, weil wir gezwungen sind, Grenzen zu überschreiten: solche der Nacktheit, der Privatheit und der Intimität. Jede

In erster Linie ist es wichtig, das Auslösen von Schamgefühlen zu vermeiden und zu unseren Patienten eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Pflegen wir einen wertschätzenden und

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empathischen Umgang, so wird es den Betroffenen leichter fallen, schambehaftete Situationen zu bewältigen. Spüren wir, dass der Patient von Schamgefühlen übermannt wird, ist eine wertschätzende Kommunikation, die Raum für Gefühle gibt, sehr hilfreich. Indem wir die schambehaftete Situation nicht bagatellisieren, sondern wahrnehmen, was der Betroffene erlebt, fühlt er sich gesehen in seiner Not. Durch eine klare Kommunikation und gute Information während der Pflege kann sich der schwerstkranke Mensch auf schwierige Situationen besser vorbereiten. Die gleiche Strategie wendet auch unsere Ärztin an. Sie erklärt den Bewohnenden bei einer Untersuchung Schritt für Schritt, was sie macht. So gibt sie ihnen die Möglichkeit, ihr zu folgen und sich auf unangenehme Untersuchungen einzustellen. Eine große Erleichterung bedeutet es

für pflegebedürftige Menschen, wenn die Intimpflege durch eine gleichgeschlechtliche Pflegeperson erfolgt. Dass die Wahrung der Intimsphäre für den Pflegeempfänger einen wichtigen Schutz darstellt, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Leider wird dies in der Alltagshektik allzu oft vergessen, was den Betroffenen in sehr unangenehme Situationen bringen kann. Sorgfältiges Arbeiten mit Fingerspitzengefühl und Wissen um dieses sensible Thema helfen, beschämende Situationen zu vermeiden. Hilfreiche Strategien für Professionelle Es gibt eine Vielzahl von hilfreichen Strategien, die Fachpersonen helfen, mit ihren eigenen Schamgefühlen umzugehen. Nehmen Pflegende die Schamgefühle der Patient:innen wahr, so hat dies

Gerd Altmann / Pixabay

Auch Älterwerden kann Schamgefühle auslösen. Anders als etwa in indianischen ­Kulturen, in denen Menschen aufgrund ihrer ­Lebenserfahrung wertgeschätzt werden, wird in unserer Gesellschaft das Alter oft negativ ­bewertet.

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meist auch eine Reduktion ihrer eigenen Schamgefühle zur Folge. Sind sie einer länger andauernden Situation ausgesetzt, die Schamgefühle auslöst, so kann es hilfreich sein, wenn sie sich voll und ganz auf die Pflegetechnik konzentrieren und rundherum alles ausblenden. Häufig wird diese Technik unbewusst angewendet. Dann findet Verleugnen von Schamgefühlen statt, was längerfristig zu Schwierigkeiten führt. Unbewusst angewendet braucht diese Strategie viel Energie. Wird sie aber bewusst eingesetzt, so kann die Methode der Abwehr sehr entlastend sein. Unangenehme Gefühle werden abgewehrt, indem man die Perspektive ändert und sich auf eine bestimmte Tätigkeit konzentriert. Schamgefühle werden nicht verdrängt, sondern sind grundsätzlich erlaubt. Eine Strategie, die unserer Physiotherapeutin hilft, indem sie den Fokus auf das zu behandelnde Körperteil legt. Hilfreich sind auch Berufskleider oder Handschuhe, die für sie eine schützende Barriere sind, wenn sie einem Bewohner oder einer Bewohnerin sehr nahekommen muss. Zulassen von Schamgefühlen Verdrängen wir unsere Gefühle und gewöhnen wir uns an, uns »nichts anmerken zu lassen«, so ist dies auf die Dauer sehr schädlich. Auch für die Betroffenen ist dies wenig hilfreich, da auch sie einen Weg brauchen, ihre Schamgefühle zu verarbeiten. Es besteht die Gefahr, dass wir emotional standardisiert reagieren und die Beziehung leidet. Es ist wichtig, dass eigene Gefühle reflektiert und im Team ausgetauscht werden. Durch das Bewusstwerden der eigenen Scham kann der Teufelskreis, immer wieder in schambehaftete Situationen zu geraten, durchbrochen werden. Unsere Ärztin hat beschrieben, wie wichtig es für sie ist, ganz bei sich zu sein. Wenn sie weiß, dass sie ein schwieriges Gespräch vor sich hat, oder wenn sie jemanden mit einem deformierten, von Krankheit veränderten Körper untersuchen muss, versucht sie, sich vor dem Zimmer

zu sammeln und tief durchzuatmen. So gelingt es ihr, die nötige Feinfühligkeit und Achtsamkeit mitzubringen, die es braucht, um Scham zu vermeiden oder wenigstens zu vermindern. Neben dem Austausch mit Kollegen ist es für sie hilfreich, schambehaftete Situationen im Nachhinein mit den Patient:innen zu besprechen. Es auszusprechen, dass da eine Situation war, die unangenehm war, entlastet beide Seiten sehr. So wird dem Patienten die Würde zurückgegeben und eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut. Wie können Arbeitgeber unterstützend wirken? Persönliche Reflexion allein reicht nicht, um längerfristig gesund zu bleiben. Für die Gesundheit des interprofessionellen Teams ist es essenziell, dass es in Fallbesprechungen und Supervisionen die Möglichkeit hat, Erlebtes emotional zu bearbeiten und sich mit professioneller Unterstützung auszutauschen. Die gemeinsame Suche nach Handlungsalternativen hilft, zukünftigen belastenden Situationen gestärkt zu begegnen. Auch Selbstfürsorge spielt eine große Rolle, um belastende Situationen verarbeiten zu können. Damit Professionelle gesund bleiben, müssen sie wissen, was ihnen guttut und wie sie in ihrer Freizeit auftanken und neue Kräfte sammeln können. Nicht zuletzt dürfen auch Arbeitgeber in die Pflicht genommen werden. Würdige Arbeitsbedingungen, ausreichende personelle Ressourcen, Verteilung der Verantwortung auf mehrere Schultern, echte Anerkennung durch Vorgesetzte, Mitspracherecht und eigene Werte leben können, wohnlich eingerichtete Rückzugsräume und klare Pausenregelungen sind nur einige Aspekte, die Professionellen helfen, belastende Situationen besser auszuhalten. Die vergessenen Angehörigen Häufig werden Angehörige im Geschehen der Alltagshektik vergessen und ihren Sorgen wird

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Damit Professionelle gesund bleiben, müssen sie wissen, was ihnen guttut und wie sie in ihrer Freizeit auftanken und neue Kräfte sammeln können.

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zu wenig Rechnung getragen. Wird ein Mensch schwer krank, so sind Angehörige in einem emotionalen Ausnahmezustand und stehen vor unzähligen praktischen, organisatorischen und medizinischen Problemen. Schwierige Entscheidungen müssen gefällt werden, was große Unsicherheit und Angst auslösen kann. Sich in dieser Situation überfordert zu fühlen, dafür schämen sie sich. Keine Kraft oder Ressourcen zu haben, den Betroffenen selbst zu pflegen, löst große Scham- und Schuldgefühle aus. Bezugspersonen haben das Bedürfnis, das Beste für ihre Liebsten zu tun und ihnen die verbleibende Lebenszeit so schön wie möglich zu gestalten. Was Angehörige hier leisten, ist ein unvorstellbarer Kraftakt. Das Gefühl, zu versagen, niemandem gerecht zu werden, »es einfach nicht zu schaffen«, löst große Schamgefühle in den Angehörigen aus und nagt an ihnen. Unterstützung der mitbetroffenen Angehörigen Was Angehörige brauchen, ist in erster Linie Empathie: einfühlendes Verständnis für ihre Sorgen, Schwierigkeiten und für ihre Scham- und Schuldgefühle. Von Fachpersonen wünschen sich Angehörige eine transparente, offene und ehrliche Kommunikation. Es ist für sie beruhigend, wenn sie darauf vertrauen können, dass ihre Liebsten gute Pflege und Betreuung erhalten. Selbst entscheiden zu dürfen, wie viel sie mithelfen möchten oder können, überhaupt diese Wahlmöglichkeit zu haben, entlastet sie enorm. Dass sie bei der Entscheidungsfindung unterstützt und beraten werden, ist für sie ebenfalls hilfreich. Pflegen Professionelle eine gute und vertrauensvolle Beziehung zu den Angehörigen, nimmt man sie ernst mit all ihren Scham- und Schuldgefühlen, werden ihrerseits Ressourcen frei, die sie so dringend zur Bewältigung des Alltags benötigen.

Fazit Scham ist kein Gefühl, dem wir ohnmächtig ausgesetzt sein müssen. Indem wir uns persönlich damit auseinandersetzen und uns die stille Begleiterin am Lebensende bewusst machen, werden wir zu Hütern unserer Würde. Wir können viel für die Betroffenen, ihre Angehörigen und uns tun, damit schambehaftete Situationen während der Pflege und Betreuung weniger auftreten und gut verarbeitet werden können. Sarah Krüsi Leber arbeitet als Pflegefachfrau in einem Hospiz in der Schweiz und hat langjährige Erfahrung in der Pflege von schwerstkranken Menschen am Lebensende. Nach einer äußerst herausfordernden Ausnahmesituation im Hospiz hat sie sich vertieft mit den Themen Ekel und Scham auseinandergesetzt. Sie ist außerdem als freischaffende Dozentin für Palliative Care tätig. Kontakt: [email protected] Literatur Andershed, B.; Werkander Harstäde, C. W. (2007). Next of kin’s feelings of guilt and shame in end-of-life care. In: Contemporary Nurse, 27, 1, S. 61–72. Immenschuh, U. (2018). Scham und Würde in der Pflege. In: Fachzeitschrift für Geriatrische und Gerontologische Pflege 3, S. 115–119. Immenschuh, U. (2016). Würdevoll mit Schamgefühlen umgehen. In: Die Schwester – Der Pfleger, 05. Immenschuh, U.; Marks, S. (2014). Scham und Würde in der Pflege. Ein Ratgeber. Frankfurt a. M. Kazis, C. (2002). Erschreckende Nähe. NZZ Folio. Januar 2002. Marks, S. (2018) Scham  – die tabuisierte Emotion. Düsseldorf. Mit schwierigen Themen in der Pflege offen umgehen. https://inqa.de/SharedDocs/downloads/webshop/mitschwierigen-themen-in-der-pflege-offen-umgehen?__ blob=publicationFile (Zugriff am 27.06.2022). Reusser, B. (2006). Vertrauensvolle Beziehung als »Gegengift«. In: Krankenpflege, 12, S. 20–21. Sowinski, C. (2000). Mit gemischten Gefühlen. In: Pflegen Ambulant, 11, S. 16–20. Werkander Harstäde, C. W.; Andershed, B. (2015). It was as good as it could be – A family member’s non-experiences of guilt and shame in end of-life care. In: Journal of Palliative Care & Medicine, 5, 5, S. 1–6.

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FORTBILDUNG

Ein tabuisiertes Gefühl besprechbar machen Zum Umgang mit Scham bei der Pflege und Betreuung alter und kranker Menschen

Marianne Rabe

m und Schuld g zum Thema Scha un ild rtb Fo he lic . Als eine mög Spiels beschrieben en des szenischen en. hm ne für da werden hier Verfahr it Ze en ganzen Tag ein t hs lic ög m h Man sollte sic

Die Situation Zwei aneinandergeschobene Tische stellen ein Bett dar. Darauf sitzt wie am Bettrand eine Frau, die Beine leicht gespreizt, und schaut ruhig ihr Gegenüber an. Diese steht vor dem Bett mit einem Ausdruck von Abscheu und Empörung im Gesicht. Eine Hand stemmt sie in die Hüfte, die andere zeigt mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Boden vor dem Bett. Ein Standbild im szenischen Spiel. Eine Teilnehmerin hat es nach eigenem Erleben aufgestellt. Die anderen versuchen die Überschrift zu raten. »Was soll das?«, schlägt eine vor. »Iiiihhh!« ein anderer. Deutlich ist: Etwas Ekelhaftes ist im Raum. Die Person auf dem Bett scheint davon unbeeindruckt zu sein, die andere dagegen wirkt aufgebracht, sogar zornig. Erfahrungsorientiertes Lernen »Darüber spricht man nicht!« Über Scham und Ekel zu sprechen ist schwierig, weil es tabuisierte Gefühle sind, die spontan Abwehr auslösen. (»Ekel? Scham? Hab ich noch nicht erlebt.«) In der Aus- und Fortbildung kann man deshalb mit selbsterfahrungsbezogenen Methoden arbeiten, die nicht primär auf kognitive Auseinandersetzung gerichtet sind, sondern zunächst Zugänge über das leibliche Empfinden suchen. Das szenische Spiel (Scheller 1998) ist ein didaktischer Ansatz, den Uta Oelke und Gisela Ruwe gemeinsam mit Ingo Scheller für die Pflege­ pädagogik weiterentwickelt haben. »Wer profes-

sionell mit Krankheiten und Schmerzen, mit nackten jungen und alten Körpern, mit Angst, Scham, Ekel, Depressionen und Trauer umgehen muss, wird immer auch mit sich selbst konfrontiert«, schreiben die Autorinnen in ihrem Buch über szenisches Spiel (Oelke, Scheller und Ruwe 2000). Erfahrungsorientiertes Lernen ermöglicht die Auseinandersetzung mit eigenen Gefühlen und Haltungen und ist damit eine wichtige Ergänzung des eher kognitiv orientierten Lernens, das zwar für den Wissenserwerb wichtig ist, aber nicht selten die Person des Lernenden außen vorlässt. Es ermöglicht in besonderer Weise, die objektivierende Sicht auf kranke und alte Menschen zu verlassen und sich in ihre Lage hineinzuversetzen. Hier haben Gefühle, dunkle Seiten und Phantasien Raum, die sonst in Fortbildungen und im Unterricht ausgeklammert bleiben – deshalb ist dieser Ansatz besonders geeignet, um Tabuthemen besprechbar zu machen. Situationsbezogene Standbilder bauen und interpretieren Situationsbezogene Standbilder sind ein zentrales Verfahren im szenischen Spiel. Nach einer Einführung in diese Form des Arbeitens durch Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Sprechübungen (vgl. Oelke, Scheller und Ruwe 2000, S. 43 ff.) wird das Thema erarbeitet, indem sich die Teilnehmenden in Gruppen selbst erlebte Szenen berichten, in denen sie Scham oder Schuld empfunden haben. Aus diesen Szenen bauen die Teilnehmenden dann nach Anleitung durch die Spielleiterin Standbilder.

Egon Schiele, Erlösung, 1913 / Public domain, via Wikimedia Commons

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Die Zuweisung von Körperhaltung und Mimik wird durch die Spielleiterin demonstriert. • Das Standbild wird durch den jeweiligen Fallgeber aufgebaut. • Er wählt die Protagonisten für die jeweiligen Rollen aus und positioniert sie so im Raum, dass sie das Wesentliche der beschriebenen Situation wie bei einem Schnappschuss wiedergeben. • Er weist allen Spielern eine Körperhaltung und eine Mimik zu (Modellieren). • Beim Aufbauen wird nicht gesprochen. • Die Spieler verharren schweigend in ihrer Haltung und merken sich die Haltung, Mimik sowie ihre Position zu den Mitspielern. • Gemeinsam wird eine prägnante Überschrift für das Bild gesucht, wobei der Fallgeber über die Überschrift entscheidet. Pro Gruppe entstehen so mehrere Standbilder. Diese werden dann nacheinander gezeigt. Die Beobachtenden versuchen zu erraten, wie die Überschrift heißen könnte und was in dem Standbild dargestellt wird. Die Spielleiterin schreibt die Überschriften aller Standbilder auf ein Flipchart. Je nach zur Verfügung stehender Zeit wählen die Teilnehmenden zwei bis vier Standbilder aus, die vertiefend bearbeitet und interpretiert werden. Das gewählte Standbild (wir nehmen das oben beschriebene als Beispiel) wird erneut aufgebaut. Die Projektionen der Teilnehmenden können sichtbar gemacht werden, indem diese hinter einzelne Rollenspieler treten, ihnen eine Hand auf die Schulter legen und in Ich-Form sagen, was diese Person denken oder sagen könnte: »Ich will nur weg hier«, »Die hat heute aber schlechte Laune« für die Person, die auf dem Bett sitzt, und »Das ist doch eine Schweinerei!«, »Wie kann man nur??« für die Pflegende sind mögliche Interpretationen. Die Beobachtenden können in dieser Art zu mehreren Figuren im Bild gehen. Zuletzt werden auch die Spielerinnen aufgefordert, einen Satz aus ihrer Position heraus zu sagen.

Stimmenchor Hier bleiben die Beobachtenden hinter einer Figur stehen und merken sich ihren Satz oder ihr Wort. So stehen hinter den verschiedenen Figuren im Bild jeweils mehrere Beobachtende. Wenn alle sich zugeordnet und ihren Satz gesagt haben, tippt die Spielleiterin einzelne Beobachter und Beobachterinnen an, und diese wiederholen dabei ihren Satz, manchmal können besonders prägnante Sätze im Kontrast zueinander mehrmals hintereinander wiederholt werden. Dabei zeigt sich das Spektrum der Deutungen. Von »Ich will nur weg hier« bis »Der hab ich’s mal gezeigt« aufseiten der Patientin; von »Das ist doch eine Schweinerei!« bis »Die Arme! Jetzt ist sie inkontinent« bei der Pflegenden. Zuletzt werden auch hier die Spielerinnen selbst angetippt, um einen Satz aus ihrer Rolle heraus zu sagen. Wenn die Situationen nicht ganz eindeutig sind, wird die Fallgeberin gebeten, das Erlebte kurz zu berichten. »Eine 70-jährige Frau mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung wurde zu Hause pflegerisch versorgt. Sie benötigte zunehmend Hilfe bei der Körperpflege. Schon einige Male war den Pflegenden der ambulanten Pflegestation aufgefallen, dass die Frau nur mit einem T-Shirt bekleidet war und keine Unterhose trug, wenn die Pflege kam. Da sie geistig nicht beeinträchtigt war, löste das einige Irritationen bei den Pflegenden aus: Hat sie ihre Scham verloren? In der nachgestellten Situation saß die Patientin beim Eintreffen der Pflegekraft auf der Bettkante und begrüßte diese. Wieder trug sie keine Unterhose. Während sie die Pflegekraft ansah, ließ sie den Urin laufen, er tropfte auf den Boden. Sie wirkte davon unbeeindruckt. Die Pflegende war schockiert und empört.« Szenische Rekonstruktion Wenn diese Situation noch tiefer bearbeitet werden soll, kann man die Methode der Rekonstruktion wählen. Nach einer ausführlichen Schilderung der Situation nach Fragen der Spielleiterin

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wählt die Hauptspielerin für die Figuren der Szene jeweils einen Protagonisten. Sie übernimmt selbst zunächst die eigene Rolle. Angeleitet durch die Spielleiterin tritt sie hinter die gewählten Spieler und weist ihnen ihre Rollen zu. In unserem Fall könnte das so geschehen: »Du bist gerade aufgewacht. Jetzt willst du aufstehen. Gleich kommt die Pflegerin und hilft dir beim Aufstehen und Waschen. Mit den meisten Pflegerinnen verstehst du dich gut, aber du kannst es nicht leiden, wenn dir jemand Vorschriften macht. Wenn die Pflegerin hereinkommt, merkst du, dass bei dir gerade Urin abgeht. Nicht so schlimm. Jetzt ist ja die Pflegerin da.« Jetzt wird die Szene mit der Hauptspielerin in ihrer Rolle gespielt, den Text improvisieren die Spielenden nach Anleitung durch die Hauptspielerin. Danach haben die Beobachtenden die Möglichkeit, in der gleichen Situation andere Verhaltensweisen auszuprobieren. Sie übernehmen dazu die Rolle der Hauptspielerin, und die Szene wird erneut gespielt. Die Mitspielenden geben aus ihrer Rolle heraus Resonanz darüber, wie ein anderes Verhalten auf sie gewirkt hat. Die Hauptspielerin bekommt zum Schluss die Möglichkeit, die Szene noch einmal zu spielen und eine andere Verhaltensweise zu erproben. Nachbesprechung In der Nachbesprechung zeigt sich: Die geschilderte Situation enthält sowohl Elemente von Scham als auch von Schuld. Die Pflegende empfindet Scham durch die Entblößung der Patientin und dadurch, dass diese in dieser Form uriniert. Sie macht der Frau dieses Verhalten zum Vorwurf. Es besteht die Möglichkeit, dass sie sich selbst durch aggressives und entwertendes Verhalten schuldig macht. Die pflegebedürftige Frau verarbeitet durch ihr Verhalten möglicherweise die eigene Scham und reagiert auf die Entweihung ihrer Person durch ihre Hilfsbedürftigkeit. Unter »Entweihung« versteht Katharina Gröning die oft unbeabsichtigte Zerstörung von Ehre

und Würde der Pflegebeziehung durch die Pflegebedürftigen, zum Beispiel durch Schmieren mit Kot, Beißen oder Spucken. Wenn diese Verhaltensweisen öfter vorkommen und nicht verarbeitet werden (zum Beispiel im Team), können Gewalt und »strukturelle Verrohung« entstehen (Gröning 2014, S. 23). Zur Methode Die Spielleiterin sollte unbedingt eigene Spielerfahrung als Teilnehmerin haben sowie Erfahrung mit Rollenspiel oder ähnlichen Verfahren. Es ist empfehlenswert, mit zwei Spielleitern zu arbeiten, davon möglichst eine mit Erfahrung. Ziel des szenischen Lernens ist es nicht, Betroffenheit zu erzeugen, sondern aufmerksam für die eigenen Gefühle zu sein und Erfahrungen zu ermöglichen, die sonst nicht zugänglich werden. So kann man lernen, sich in schwierigen Situationen zu verhalten und sich nicht davon überwältigen zu lassen. In Nachbesprechungen zur szenischen Arbeit kann man sich darüber austauschen, was einem selbst konkret geholfen hat, mit Scham und Schuld angemessen umzugehen. Es geht um eine professionelle Haltung der »Distanz in der Ergriffenheit« (Wettreck 2020), also um Wege aus der Betroffenheit heraus zum respektvollen und adäquaten Handeln. Dr. Marianne Rabe ist Spielleiterin für szenisches Spiel und Trainerin für Ethikberatung (AEM). Sie arbeitet mit szenischem Spiel in der Fort- und Weiterbildung von Pflegenden, aber auch für Ethikberater*innen. Kontakt: [email protected] Literatur Gröning, K. (2014). Entweihung und Scham. Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen. Frankfurt a. M. Oelke, U.; Scheller, I.; Ruwe, G. (2000). Tabuthemen als Gegenstand szenischen Lernens in der Pflege. Theorie und Praxis eines neuen pflegedidaktischen Ansatzes. Bern. Scheller, I. (1998). Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin. Wettreck, R. (2020). »Am Bett ist alles anders«. Perspektiven professioneller Pflegeethik. 3. Auflage. Berlin, Münster.

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REZENSIONEN

Männer Mit demin Tod Todesnähe Leben

Blanche Monika Kommerell Müller

Miriam Haagen (2017). Mit dem Tod leben. Kinder achtsam in ihrer Trauer begleiten. Ein Ratgeber für verwitwete Eltern. Stuttgart: Kohlhammer, 100 Seiten

Als ich das Buch »Mit dem Tod leben« von Mi»Dieses Buch will kein Ratgeber im engeren riam Haagen 2017 geschenkt bekam, hatte ich Sinne sein«, steht auf der ersten Seite, und ein schon drei Familienmitglieder verloren, eine schönes Wort prägte sich mir sofort ein: beeltern. schwer verkraftete Fehlgeburt hinter mir und den Und Begriffe wie Selbstheilungskräfte und RefleVerlust meines Geliebten vor mir. Die Untertitel xion der eigenen Gefühle trieben mich immer weiließen mich aufmerken, Kinder achtsam in ihrer ter in den Text. Ich bin weder im medizinischen Trauer begleiten, davon hoffte ich verschont zu Bereich noch im redaktionellen tätig. Ich bin eine bleiben und Ratgeber für verwitwete Eltern – das Leserin, Mutter, Tochter und Frau. Immer weiging mich schon an. Aber ein Buch mit diesem Ti- ter drang ich vor in die Gedankenwelt von Mitel legt man gern erst einmal zur riam Haagen, fühlte mich anSeite. So viele Jahre hatte mich gesprochen, und nicht nur zu »Ich werde nie der Tod begleitet, eines Sohnes, dem Thema Tod, fühlte mich vergessen, wie es einer Tochter – dem Kind meiin vielen Reaktionen in meines Geliebten –, meiner noch sich anfühlt, nem Leben ertappt und musste nicht alten Mutter. Jetzt wollte ungerecht behandelt nachdenken. »Ich werde nie verich leben. Doch der Tod kommt gessen, wie es sich anfühlt, unzu werden« immer, wenn wir uns mitten im gerecht behandelt zu werden« – Leben meinen. Dann wagt er zu ein Satz aus einer Fallgeschichte. weinen mitten in uns. Schon der Dichter Rainer Eine Erfahrung, die viele Menschen erleben müsMaria Rilke fand Worte für dieses Gefühl. Das sen in allen Altersstufen. Wie schwer aber dieser Buch beginnt mit einem sehr berührenden Ge- Umstand auf einen Trauernden, ein trauerndes dicht von der jüdischen Dichtern Mascha Kaléko Kind fällt, auch das durfte ich lesen. »Wie sag ich’s meinem Kinde?«. Ich brauchte vor Und fand mich in eigenen Erinnerungen wieJahren die Fragen »Wie sag ich’s meiner Mutter? der, aber auch begriff ich meine trauernden LieWie sag ich’s meinen Eltern? Wie sag ich’s mei- ben besser. Warum Familien auseinandergleiten, nem Geliebten?« – dass der Tod Einlass in unse- wie jeder anders mit Trauer umgeht. Als mein re Familie fand. Aber ich fing an zu lesen und be- Schwiegervater starb, war ich Anfang zwanzig kam auf alle diese Fragen eine so gute Antwort, und diese ganzen schwarz gekleideten Menschen dass ich sehr bedauerte, dieses Buch nicht zwan- und die Sargträger mit weißen Hemden darunter zig Jahre früher gelesen zu haben. belustigten mich so, dass ich laut lachen muss-

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te. Sehr großes Missfallen erntete ich. Und eine Kranken liebevoll oft im Krankenhaus besucht Freundin kam zur Beerdigung meines Geliebten hatte, sie möchte mit. Gut, dachte ich. So stand im Hochzeitskleid: Er hätte sich darüber gefreut, sie mit am Grab, schaute auf mich, wie ich Blumeinte sie und hat vielleicht sogar recht. men hinlegte. Und still wurde, wie alle still wurAuch so wichtige Begriffe wie Resilienz und den. Dann sangen wir zusammen und gingen Achtsamkeitstraining, Selbstkontrolle und Selbst- zusammen in ein Restaurant. Ich gehöre zu den regulation werden so verständlich beschrieben, Menschen, die in ihrem Leben so viel Trauer und dass ich wieder dachte, Tod ist eine Lebensform Verlust erlebt haben und nicht weinen, und beund von uns nicht wie ein Tabu zu behandeln. sonders nicht vor Menschen. Also ging ich mit ihr Überhaupt hatte ich den Eindruck, je weiter ich um wie immer und sie auch mit mir. Ohne verlas, dass der Tod, die Erfahrung damit, das Um- heultes Gesicht. Warum-Fragen blieben aus, so gehen mit Trauernden natürlich im Vordergrund dass ich auch in dieser Situation keine Antworstehen, aber immer mehr fühlte ich mich, nun ten suchen musste. schon Großmutter und UrgroßErst später, nach über einem mutter, auf liebevolle Weise beJahr, sprachen wir über den »Weißt du, wenn lehrt, wie Menschen miteinanTod. Sie konnte sich nur dunich nicht mehr auf der umgehen sollten. kel an die Krankenhausbesuche der Welt bin, dann Das Thema Geschwister, Geerinnern. Aber wie es mir jetzt schwisterliebe – wie verschiegehe, so allein, wollte sie wiskannst du meine den habe ich das erlebt in meisen. Mit meiner Antwort schien Seele auch rufen und sie zufrieden: »Weißt du, erst nem Leben, im Leben meiner sie tröstet dich.« beiden Söhne, meiner Enkel war seine Seele immer um mich und auch bei vielen jugendliund ich fühlte ihn mich trösten. chen Freunden. Geschwister sind immer da und Als er starb, war da sein Körper, und ich machauch nervig, geliebt und gehasst. Was geschieht, te das Fenster auf, da flog seine Seele in die Freiwenn ein Geschwister plötzlich nicht mehr da ist, heit. Nur sein Körper lag da wie ein Mantel, den wenn man verlassen wird, allein gelassen mit den er nicht mehr braucht. Langsam wollte seine SeeEltern, mit nur einem Elternteil oder bei einem le Ruhe haben, aber wenn ich ganz traurig werUnfall alle Lieben verliert? Das Vertrauen in die de, dann kann ich sie rufen und werde getröstet. Welt und Gefühle der Sicherheit sind erschüttert, Weißt du, wenn ich nicht mehr auf der Welt bin, schreibt Miriam Haagen, wie es genauso gefühlt dann kannst du meine Seele auch rufen und sie wird, wenn Eltern verschwinden. Oder wenn im tröstet dich.« Leben nach einer Scheidung ein Elternteil wie Bestimmt ist es gut, wie auch Miriam Haagestorben ist, weil es einfach verschwunden ist. gen am Ende aufzeigt, dass es Trauergruppen gibt Viel gelernt habe ich, die nun schon lange auf oder man sich Rat oder Hilfe bei Psychotherapeuder Welt Seiende, was man alles falsch machen ten holen kann, aber am wichtigsten sind wohl kann, aber auch gelernt: Es ist nicht zu spät, mit doch die Selbstheilungskräfte, die Zeit brauchen kommenden Ereignissen bewusster vielleicht und Ruhe und sich nicht zwingen lassen. Man auch besser umzugehen. muss Geduld haben, schreibt Rilke in einem seiAls die Beerdigung meines Geliebten geplant ner schönsten Gedichte, auch und vor allem mit wurde, meinte meine vierjährige Enkelin, die den sich und seinen Umlebenden.

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NILS. Von Tod und Wut. Und von Mut

Eva Katharina Masel

Melanie Garanin (2020). NILS. Von Tod und Wut. Und von Mut. Hamburg: Carlsen Verlag, 175 Seiten

Das Buch beginnt mit einem Zitat der bekannten schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf: »Kein Mensch kann den anderen von seinem Leid befreien, aber er kann ihm Mut machen, das Leid zu tragen.« Die Autorin und Illustratorin Melanie Garanin zeichnete das Buch nach dem Tod ihres jüngsten Sohnes, der an einer Leukämie erkrankte im Jahr 2015 und im Alter von drei Jahren verstarb. Sie begann mit einem Blog und zeichnete schließlich eine Graphic Novel. Entstanden ist ein Buch, in dem die Verzweiflung und Wut ebenso ihren Platz haben wie die schönen Erinnerungen und der Humor, ein Buch, das nichts beschönigt

und den Weg zurück ins Leben zeigt. Für jene, die mit medizinischen Systemen vertraut sind, tritt Bekanntes auf. Die Ungewissheit auf dem Weg zur Diagnose, die Diagnose selbst, die Therapie, die Hoffnung darauf, dass alles gut wird, auf Remission. Die Aussage des Oberarztes: »Wir tun alles, was wir können.« Montage werden als »Scheiß­ tage« bezeichnet, da hier die Kontrolle der Blutwerte in einer Tagesklinik erfolgt. Nachmittags werden zum Ausgleich Wildschweine erschreckt. Es gibt Ferien an der Ostsee, Fußballspiel, Pferdereiten und ein Ritterfest. Die Intensität des Lebens wird in einer kräftigen Bildsprache dargestellt.

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Zögerliche Gespräche mit den Geschwistern über den Tod: »Mama, Nils kann auch sterben, oder?« »Nein!« Bemühungen: »Das Blaulicht, extra für dich!«. Man ist mitgenommen, während man das Buch liest. Man will, dass es nicht wahr wird, dass Nils stirbt. Das Buch beschönigt nichts. Man spürt die Unabwendbarkeit der medizinischen Mühlen, in die man unfreiwillig gerät,

lernt überfordertes Personal kennen, Stress, die medizinische Arroganz des Grobians Dr. Flachbart. Auch Hoffnung durch den Einschluss in eine medizinische Studie und das Ertragen von Therapien, denn wenn es um das Leben geht, ist man zu vielem bereit. Nils bekommt massive Bauchschmerzen. In der Mitte des Buches stirbt Nils relativ plötzlich. Die Autorin schreibt:

Melanie Garanin: NILS. Von Tod und Wut. Und Mut © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2020

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Melanie Garanin: NILS. Von Tod und Wut. Und Mut © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2020

»Wir w ­ erden nie wieder untraurig sein«. Ein großes Gewitter zieht auf. Der Bestatter kommt und sagt, »bei Kindern hört’s auf«. Das gerichtsmedizinische Gutachten ergibt eine Bauchspeicheldrüsenentzündung als Todesursache. Nils muss obduziert werden. Bilder von Friedhofsbesuchen, dem Staatsanwalt, dem Ermittlungsverfahren, der Einstellung des Verfahrens. Man spürt, wie eines vom anderen abgelöst

wird, wie die Reise nach dem Tod von Nils weitergeht in Form einer Achterbahn an Emotionen. Nils ist weg, aber Nils ist überall. Man möchte das Buch manchmal weglegen, da es keine Abgrenzung zulässt. Es ist so ehrlich, so mutig in seiner Verzweiflung, so wahrhaftig. Nils hat »Himmelsgeburtstag« statt Todestag. Wer nicht um Verzeihung bitten kann, möge in einen Kackhaufen verwandelt werden. Ein heftiges Buch.

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Melanie Garanin: NILS. Von Tod und Wut. Und Mut © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2020

NILS als Lehrmaterial Das Buch eignet sich auch zum Einsatz zur Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten, Studierenden sowie Pflegenden und anderen medizinischen und psychosozialen Berufsgruppen, da es verdeutlicht, dass man Beschwerden ernst nehmen sollte, dass man Menschen ernst nehmen sollte. Und wozu es schlimmstenfalls führen kann, wenn etwas übersehen oder falsch interpretiert wird. Dass Patientinnen und Patienten sowie deren An- und Zugehörige – insbesondere in angespannten Situationen – selbst Kleinigkeiten wahrnehmen und dass Kompetenz, Freund-

lichkeit und Zuwendung in Erinnerung bleiben. So wird, um ein Beispiel zu nennen, am Ende den »Pommes-Schwestern und Pflegern« und den »ZVK-Taschen-Näherinnen« gedankt. Das Buch entfaltet seine Lehre dadurch, dass es nicht moralisierend und anklagend ist, auch wenn es nicht mit Verzweiflung spart. NILS schafft auf eindrückliche Weise einen Perspektivenwechsel, der darauf aufmerksam macht, wie komplex jede einzelne Krankengeschichte ist und welche Verantwortung ein medizinischer Beruf mit sich bringt. Prädikat: äußerst wertvoll!

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Da zu sein, wo du bist

Monika Müller

Bent Falk (2022). Da zu sein, wo du bist. Gelingende Kommunikation mit Menschen in existenziellen Krisen. Stuttgart: W. Kohlhammer, 82 Seiten

Gespräche statt Be-Sprechungen: Die Kommunikation sei zielorientiert und direkt, der Sprachstil klar und deutlich. In Dänemark pflege man eine Low-Context-Kommunikation: Man müsse nicht sonderlich viel zwischen den Zeilen lesen, die Dinge würden ausgesprochen. Der Wahrheit und Aufrichtigkeit komme ein hoher Stellenwert zu. Die Beziehungen zwischen Menschen und damit eine gewisse »Gefühligkeit« spielten eine wichtige Rolle, so lese ich in »Tipps für eine gelingendes Business-Kommunikation mit dänischen Geschäftspartnern«. Das sehr ehrliche Buch von Bent Falk, in der behutsamen Übersetzung aus dem Dänischen von Maren Scholtyssek, Regina und Ingemar Nordlund, geben diesen Hinweisen Recht. Es zielt auf Haltung in der Be-gegnung statt auf kühle Technik, die zu Ver-gegnung (Martin Buber) führt. Die Wahrnehmung des Gegenübers, das »Da zu sein, wo er ist«, ohne vorgefasste Meinung, ist der Beginn jedes gelingenden Gesprächs. Es geht nicht um richtige Antworten auf existenzielle Fragen, die auswendig gelernt werden könnten, sondern um Beziehung und Verbindung. Es geht um Echtheit des Gesprächsführenden, der sich als »Geburtshelfer« für die Klarheit und die Wahl der Hilfesuchenden versteht und nicht etwa als Ratgeber, Tröster oder Lösungsfinder. Längere Gesprächsbeispiele und kurze, aufrichtige (manchmal provokante) neue Sätze ver-

deutlichen die Theorie und führen bei der oder dem Lesenden zur Nachdenklichkeit. »K: Ich fühle mich so machtlos. H: Du bist machtlos. Und wenn du machtlos bist und es nicht sein willst, bekommst du zwei Probleme an Stelle von einem. Wie ist es, von der Macht losgelöst zu sein?« Oder: »K: Ich möchte nach Möglichkeit nicht meinen Kindern zur Last liegen. H: Du liegst ihnen zur Last. Einmal lagen sie auch dir zur Last. Wie ging es dir damit?« Die Absicht ist es, mit den Beispielen aufzuzeigen, was manchmal richtig im Gespräch sein kann, selbst wenn es mit gewohnten Vorstellungen bricht, was man »sich zu sagen herausnehmen kann«, oder darüber, dass negative Erlebnisse weggetröstet werden können und müssen. Was das wirklich Richtige ist, das in einem gegebenen, konkreten Zusammenhang zu sagen ist, muss sich genau aus dem Zusammenhang und dem Gespür der fraglichen Helfer, was der Kontakt tragen kann, ergeben. Ein lohnenswertes Buch für alle, die wirkliche Gespräche führen wollen.

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VERBANDSNACHRICHTEN

Trauer und Trauma: Seminare für Mitglieder Anke Grimm Eine Idee, zwei Telefonate, ein paar Mails und viele Anmeldungen. Die Idee einer digitalen Fortbildung – wie schon während des ersten Pandemiejahres –, dieses Mal zum Thema »Trauma«, hatte unsere Vorsitzende Carmen Birkholz. Diese Anfrage habe ich gern aufgegriffen, da ich vor vier Jahren eine Weiterbildung zur Trauma­päda­ gogin/traumasensiblen Fachberaterin gemacht habe und dieses Thema – nicht nur aus aktuellem Anlass – in der Begleitung und Beratung von Trauernden sehr wichtig finde. So entstand eine zweimal zweistündige Fortbildung zu »Umgang mit Traumata oder Begegnungen mit traumatisierten Menschen – Möglichkeiten und Grenzen in der Trauerbegleitung«. Da wir erfreulicherweise sehr schnell und sehr viele Rückmeldungen bekamen, war die Fortbildung rasch ausgebucht. So haben wir kurzerhand zwei Fortbildungen daraus gemacht – der Vorteil des digitalen Formats. An zwei Vormittagen und Nachmittagen haben wir in zwei Gruppen mit insgesamt 27 Teilnehmerinnen – aus dem gesamten Bundesgebiet und den Niederlanden – zu verschiedenen Fragestellungen gearbeitet: Was ist eigentlich ein Trauma – wie unterscheiden sich Trauer und Trauma? Wie geschieht die Verarbeitung von belastenden Erfahrungen und wie funktioniert dabei unser Gehirn? Wie gehen wir mit Menschen um, die traumati-

    

sche Erfahrungen gemacht haben? Wie können wir sie begleiten und wo sind unsere Grenzen? Welche Bedeutung hat die Selbst­fürsorge? Positiv wurde aus beiden Gruppen rückgemeldet, dass trotz der Unterschiedlichkeiten und Schattierungen der Einzelnen bei allen Teilnehmenden ein übereinstimmendes Grundfundament vorhanden war, auf dem aufgebaut werden konnte. Einig waren sich die Teilnehmenden auch, dass solche kurzen, knackigen Fortbildungsformate zu verschiedenen Themen – auch zu Grenzthemen der Trauer – öfter angeboten werden sollten. Tipps und Informationen Wer sich mit dem Thema »Trauma« beschäftigen möchte, findet unter anderem hier einige interessante Informationen zu Stressbewältigung und Selbstfürsorge, Tipps und Beispiele zu Stabilisierung und Traumaverarbeitung:  https://www.­be-here-­now.eu. Es gibt eine Liste mit Absolvent:innen der Weiterbildungen Traumapädagogik/traumasensible Fachberatung (bundesweit), die angefragt werden können, wenn zum Beispiel gerade keine Traumatherapie möglich ist, aber eine fachkundige Hilfe und Unterstützung benötigt wird: https://institutberlin.de/traumakompetenzliste/.

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Weiteres Schulungsangebot im Herbst für BVT-Mitglieder Anke Grimm wird im Herbst eine dritte Schulung anbieten für die, die nach wie vor auf einer Warteliste sind. Aufgrund der großen Resonanz der Mitglieder überlegen wir, das Angebot von Kurzfortbildungen online weiter auszubauen und uns an den aktuellen Bedarfen der Mitglieder zu orientieren.

Anke Grimm war als Diplom-Pädagogin in der Evangelischen Erwachsenenbildung tätig und hat die Fachbereiche Mitarbeitendenfortbildung und Familienbildungen geleitet. Sie ist freiberufliche Trauerbegleiterin und Fort- und Weiterbildnerin. Kontakt: [email protected]

Schuldgefühle in der Trauerbegleitung Stefanie Garbade Manche Trauernde ertragen den Tod eines geliebten Menschen eher, wenn sie dafür jemanden oder etwas verantwortlich machen können. Schuldzuweisungen können genutzt werden, um akute Überforderung zu kompensieren (Ventilwirkung), um andere Gefühle und Gedanken zu überdecken (Platzhalter). Schuldzusammen­ hänge sind das Gegenteil von Zufall und machen dadurch undurchsichtige Geschehnisse überschaubar (vgl. Chris Paul: Schuld – Macht – Sinn. Arbeitsbuch für die Begleitung von Schuld­fragen im Trauerprozess. Gütersloh, 2010). Zum Teil wird die Schuld auch beim Verstorbenen gesucht – warum ist er oder sie nicht regelmäßig zur Vorsorge gegangen, warum …? Oft-

mals fühlen sich enge Angehörige selbst schuldig. Sie haben das Gefühl, ihren lieben Verstorbenen etwas schuldig geblieben zu sein. Hätten sie sich mehr kümmern müssen, haben sie genug Zeit investiert, hätten sie auf den Arztbesuch bestehen sollen …? Manche sehen den Tod auch als Strafe für eigene Unzulänglichkeiten. Der untenstehende Text »Zu spät« macht deutlich, dass offene Konflikte und Streitigkeiten nicht mehr gelöst, nicht mehr aus der Welt geschafft werden konnten. Die Endgültigkeit des Todes kann in diesen Fällen bei den Hinterbliebenen ebenfalls Schuldgefühle hervorrufen. Es ist zu unterscheiden zwischen echter Schuld und Schuldvorwürfen. Echte Schuld kann Verge-

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m.schröer

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Zu spät!

bung erfahren, Schuldvorwürfe kann nur vergeben, wer sie konstruiert. Dafür ist es notwendig, die empfundene Schuld als eigenen Schuldvorwurf zu erkennen. Dann kann entweder eine Änderung der Sichtweise oder das eigene Verzeihen die Last nehmen. Der Text »Was uns lebt« lädt zur Selbstreflexion an. Jede schmerzhafte Erfahrung kann uns fragen lassen und zu neuen Anfängen führen.

Geh niemals im Zorn aus dem Haus. Ein gesprochenes Wort kann man nicht zurücknehmen. Die eigentliche Bedeutung dieser Aus sagen erschließt sich uns mit dem Älterwerden, mit den Erfahrun gen, die wir im Laufe unseres Lebens machen. Wir alle haben uns ere individuellen Gefühle, Sichtweisen, Toleranzgrenzen. Nicht imm er ist es uns möglich, Worte der Versöhnung, Gesten der Entschu ldigung zu finden, Gräben zu überbrücken. Da muss erst noch etwa s Zeit verstreichen, müssen wir selbst zur Ruhe kommen, vielleich t auch kurz innehalten. Dann kommen das Verstehen, die Sehnsuc ht, das klärende Gespräch zu suchen, der Wunsch einer zärtlichen Geste. Zu spät! Warum konnte ich nicht um Verzeihu ng bitten? Warum konnte nicht ich den ersten Schritt tun? Zu spät! Hätte ich doch einfach meine Hand gereicht, wäre ich doch noch einmal zurückgegangen. Zu spät! Meine Schuld drückt mich nieder, aber Du vergibst mir. Gehören doch stets zwei dazu, einander zu vergeben. • Liebe war es, die uns zusammenfü hrte. • Liebe war es, die unser Leben lebe nswert machte. • Liebe ist es, die uns über den Tod hinaus bindet. • Liebe verzeiht, denn unsere Herzen sind barmherzig. • Liebe verzeiht, wo wir doch möchten , dass es dem anderen gut geht. • Liebe verzeiht, denn wir leben weit er in dem jeweils anderen. • Liebe verzeiht, sonst wäre es kein e Liebe.

Schamgebeugt und schuldbeladen

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Was uns lebt Es ist das Geben, das uns erfüllt. Geben, um Glück zu sehen. Geben, um gebraucht zu werden. Geben, um danke zu sagen. Geben, um die Welt zu einem schöneren Ort zu machen.

Es ist die Hoffnung, die uns stärkt. Hoffnung auf Gesundheit, Hoffnung auf Glück, Hoffnung auf Liebe, Hoffnung, dass es weitergeht.

Es ist die Angst, die uns hemmt. Angst vor dem Ungewissen, Angst, etwas falsch zu machen, Angst, jemandem weh zu tun, Angst, sich oder andere zu verletzen.

Es ist die Klage, die uns löst. Klage über das Schicksal, Klage über Verluste, Klage über unerfüllte Träume, Klage über nicht erwiderte Liebe.

Es ist die Liebe, die uns strahlen lässt. Liebe zum Leben, Liebe zum Ich, Liebe zu uns nahe­ stehenden Menschen, Liebe der Menschen und Tiere, Liebe zu dem, was uns umgibt.

Es ist die Lust, die uns lebt. Lust zu lachen, Lust auf ein gutes Mahl, Lust auf ein leckeres Getränk, Lust, das zu tun, was uns Spaß macht.

Es ist der Mut, der uns antreibt. Mut, das Leben zu leben. Mut, den nächsten Schritt zu tun. Mut, Unwiderrufliches anzunehmen, Mut, Veränderungen mitzutragen.

Es ist die Sensibilität, die uns sehen lässt. Sensibel sein für Empathie, sensibel Liebe empfangen, sensibel Geschenke erkennen, sensibel die Umarmung genießen, sensibel Freude empfinden.

Es ist die Trauer, die uns stillstehen lässt. Trauer, die unsere Welt auf den Kopf stellt. Trauer, die uns die Luft zum Atmen nimmt. Trauer, die unser Herz schwer werden lässt. Trauer, aus der wir mit Stärke hervorgehen.

Es ist die Zuversicht, die uns Hoffnung gibt, Liebe und Mut schenkt, Lust bereitet, uns sensibilisiert für die schönen Dinge im Leben, uns die Angst und die Trauer überwinden lässt.

Stefanie Garbade ist zertifizierte Trauerbegleiterin und Mitglied im BVT. Nach mehr als 30 Jahren Berufserfahrung auf Managementebene hat sie sich selbstständig gemacht mit TrauerLeben. Der Fokus liegt auf dem Thema »Trauer am Arbeitsplatz«. Kontakt: [email protected] Website: www.worpswede-tipps.de/ trauerleben

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  3  /  2 0 2 2

Vorschau Heft 4 | 2022 Thema: Vom Un-Glück – Gibt es Glück im Leid? Was ist Glück und wie kann man es ­erreichen? Diagnose: unheilbar krank – und glücklich Demenz – eine Reise in das (Un)Glück? Momente des Glücks im Sterben – ­eingebettet in sorgende Gemein­ schaften Jenseits des Glücks – Warum Glück weniger mit Umständen und mehr mit dem Innenleben zu tun hat Wie uns Resilienz dabei helfen kann, Glück im Leid zu erfahren Auf dem Rücken der Pferde liegt das Glück der Erde – Pferdegestützte Pallia­ tive Care in der Pädiatrie Angehörige zu hilfreichen Abschieds­ ritualen anleiten – ein Beitrag zum Glücksgefühl? u. a. m.

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Rainer Simader (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen), Peggy Steinhauser (Hamburg) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), BRILL Deutschland GmbH Vandenhoeck & Ruprecht Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen Tel.: 0551-5084-423 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist für Zeitschriften-Abonnements. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen, E-Mail: [email protected]. Unsere allgemeinen Geschäftsbedingungen, Preise sowie weitere Informationen finden Sie unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: BRILL Deutschland GmbH, Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-80621-0 ISBN 978-3-666-80621-6 (E-Book) Umschlagabbildung: Margit Schröer (Foto) Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, Kontakt: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2022 by Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

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Universitätslehrgang

PA L L I AT I V E C A R E 1. Fachkongress & Messe

Kinder und Jugendliche in der Sterbe- und Trauerbegleitung

Der berufsbegleitende Lehrgang mit Abschluss zum/zur „Akademischen Palliativexperten*in und/oder zum „Master of Science“ (MSc) wird seit 2006 angeboten und hat maßgeblich zur Weiterentwicklung in Hospiz und Palliative Care im deutschsprachigen Raum beigetragen.

AUFBAU Drei Levels (je 2 Semester) mit eigenem Schwerpunkt & Abschluss • Level I: Interprofessioneller Basislehrgang • Level II: Fachspezifischer Vertiefungslehrgang • Level III: Interprofessionelle Spezialisierung/ Masterlehrgang

ZULASSUNGSVORAUSSETZUNG Einschlägiger Berufs- oder Studienabschluss (Medizin, Pflege, Theologie, Psychologie, Sozialarbeit, Physio-, Ergotherapie, Diätologie) und Tätigkeit im Gesundheits- und Sozialbereich, sowie Erfahrung in der Begleitung von schwerkranken Menschen. WEITERE INFOS & ANMELDUNG: www.ulg-palliativecare.at

PREMIERE IN FREIBURG!

www.leben-und-tod.de

Veranstalter:

In Kooperation mit:

Studiengangsleitung: Doris Schlömmer, MMSc +43 (0)699 12420102

Eine philosophische Reise durch unsere notwendig unsichere Welt hin zu einem gelingenden Leben Rainer Zech Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt Ein ethischer Kompass

2022. 182 Seiten mit 1 Tab., kartoniert € 23,00 D ISBN 978-3-525-40795-0 Auch als e-Book erhältlich.

Klimawandel, Terrorismus, Finanzkrisen, Demokratiekrise, Viruspandemie prägen unsere Welt. Aus der grundlegenden Unsicherheit des Lebens und der Fluidität des menschlichen Selbst lassen sich Aufgaben für ethisch verantwortliches Handeln ableiten. Rainer Zech plädiert für den Übergang von einer Ethik der Arbeit zu einer Ethik des Lebens. Ethisch verantwortliches Handeln hat dabei nicht nur die eigene Würde, sondern die Würde alles Lebendigen im Blick. Zechs Reflexionen gipfeln im Ziel gelingenden Lebens, das zugleich Ziel der Ethik ist. Sogar ein gelingendes Sterben könnte möglich sein.

ISBN 978-3-525-80621-0

9 783525 806210