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German Pages 272 Year 2020
Anne Storch, Ingo H. Warnke Sansibarzone
Postcolonial Studies | Band 40
Anne Storch, geb. 1968, ist Professorin für Afrikanistik an der Universität zu Köln. Sie forscht und publiziert zu afrikanischen Sprachen und Sprachkonzepten, Sprache im Tourismus und in kolonialen Zusammenhängen. Ihr besonderes Interesse gilt der Magie und Manipulation von Sprache. Ingo H. Warnke, geb. 1963, ist Professor für Deutsche Sprachwissenschaft unter Einschluss der interdisziplinären Linguistik an der Universität Bremen. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Sprache im kolonialen Archiv und postkolonialen Raum.
Anne Storch, Ingo H. Warnke
Sansibarzone Eine Austreibung aus der neokolonialen Sprachlosigkeit
Gefördert aus Mitteln des Landes und der Universität Bremen sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © Anne Storch Innenlayout & Satz: Frederik Weck Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5115-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5115-1 https://doi.org/10.14361/9783839451151 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Sansibartasche | 9 Abreise | 15 Kult | 29 Brosche | 91 Luft | 125 Körper | 177 Austreibung | 245 Literatur | 253 Zanzibartasche | 263
Bilder einer Sansibartasche in Klein Afrika auf Sylt mit den Logosäbeln der Sansibar, die auf Sylt und weit darüber hinaus Kultstatus haben, sowie dem Logo einer Fluggesellschaft, die inzwischen nicht mehr existiert. Hier kommt einiges zusammen, was uns am Urlaubmachen, am Tourismus interessiert: Das temporäre Transportieren und Auf bewahren von gekauften Erinnerungen, die zwar wenig geländetauglich sind, aber für Andere im konsumistischen Umfeld kurzzeitig anzeigen, wo man ist, eventuell auch war, dass man konsumiert, was man liked, und dass man der zugedachten Rolle, zu kaufen, nachgekommen ist. Eine Tasche, mit der man sich verorten kann. Eine Tasche, die aber auch heimatlos und austauschbar ist, so wie ihr Aufdruck notwendig und zugleich beliebig scheint. Eine schwarze Tasche, die auf den Schwarzen Süden verweisen könnte, aber doch eher von Sylt nach Sylt zeigt. Eine Tasche, deren Ruinierung beim nächsten Ausf lug sicher ist, die jedoch auch immer wieder neu erworben sein will beim Kauf von Sansibaria. Eine Wegwerftasche auf kurz oder lang. Wir haben darin ein Sansibarbuch, allerhand Daten für die Sammlung und Hugo to go für das Rantumbecken transportiert. Die Sansibartasche ist keine ortsgebundene Tasche, sie ist eine Nichtorttasche, die ihre kolonialen Verknüpfungen schwärzt. Eine solche Tasche ist so normal, dass man sie auf Sylt wahrscheinlich kaum wahrnimmt. Wir errichten ihr ein Denkmal und exportieren sie mit Freude nach (Klein) Afrika.
Abreise Wir haben ein Gespräch begonnen und uns gefragt, von wem dieses Buch wohl wie gelesen werden wird. Es ist vielstimmig. Einige Stimmen darin wenden sich dem Leser zu, andere hingegen ab. Sein Gegenstand berührt schwieriges Terrain, das verwinkelt ist und uns oft keinen freien Blick ermöglicht. Wie soll man da eine unverstellte Perspektive für Leserinnen und Leser vermitteln? Beginnen wir mit drei Reisetagebuchaufzeichnungen, mit drei Vignetten, wenn Sie so wollen. Wieso wollen? Ich will das überhaupt nicht, erstens ist das verwirrend und zweitens müssen wir dazu ja wohl erst einmal etwas erlebt haben, und zwar etwas Saftiges. Und haben wir das? Ja, Sie vielleicht schon, aber ich nicht. Ich hab im Zimmer gesessen und gearbeitet, die ganze Zeit. Ich hab, wenn überhaupt, im Kopf erlebt, aber das ist meins und wird sowieso noch erst zu Ende gedacht werden müssen. Ist noch nicht reif. Da soll ich auch noch mein Innerstes offenbaren und einschubweise meine Erlebnisse aufschreiben, mal eben so. Also das mache ich jetzt nicht. Stellen Sie sich nicht so an, Sie schreiben doch sowieso ganz sonderlich. Sind die Aufsätze, die Sie so in letzter Zeit raushauen, nicht auch ziemliche Abbilder von Innerlichkeit? Ja, aber doch nicht meiner Selbst! Das handelt doch immer von anderen. Von Klassikern, von früher, schon ganz alt und über die wir im Grunde gar nichts mehr wissen mögen. Ich bin doch ein ganz ein privater Mensch. Mein Tagebuch hier zu diskutieren finde ich regelrecht übergriffig. Ja, übergriffig. Also, wenn Sie das jetzt so sagen. Aber Sie wissen schon, dass das altmodisch ist. Kann man doch keinem anbieten zum Lesen. Außerdem möchten diejenigen, die das hier schon lesen, gerne in einer Vorbemerkung erfahren, worum es in diesem Buch geht. Der Titel sagt fast gar nichts. Wenn man ein Buch mit akademischem Anspruch liest, möchte man gerne wissen, welche Positionen eingenommen werden, von mir aus auch, wie sich Leute
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positionieren. Eine Einleitung erwartet man, wenigstens eine Hinführung zum Thema. Stattdessen ist das hier eigentlich eher schon so eine gedankliche Abreise, finde ich. Ist ja auch kein Wunder, dass die Sprachwissenschaft in der Krise sein soll. Kein Quäntchen Persönlichkeit schimmert da durch. Dabei ist eine ›Abreise‹ ja doch eine Bewegung nach anderswo hin, die den Kauf einer Fahrkarte voraussetzt und deshalb auch ein Ziel hat. Ja, das ist aber wirklich wahr. Und alles in der gleichen Klugsprechsoße, korrekte Terminologie, international zertifiziertes Akademikerikebana. So ein paar persönliche Worte an den geneigten Leser wären schon angebracht. Und auch ein hübsches Gedicht zwischendrin, oder mal ein bisschen Gestaltung. Ach, da könnte man einiges machen, doch doch. Etwas mehr Makrameekurs wäre schon wünschenswert. Na also, fangen wir mal an. Ja. Sie? Machen Sie, bitte, Sie haben den Vortritt, wollen ihn ja auch gerne. Ich also. Ja, klar. Los. Sonst wird das hier nichts.
I Auf der Reise über unsere Erfahrungen geredet. Forschung zu afrikanischen Präsenzen im national durchdefinierten Raum: Mallorca, das temporäre Beheimatung für Touristen aus Deutschland wie auch für Migranten aus Westafrika bietet. Für andere auch. Wer hier beheimateter ist, wäre noch zu klären: die Deutschen kommen nur kurz, die Senegalesen bleiben lang und können außerdem Spanisch. Katalanisch auch, viele Sprachen. Einige der jungen Männer aus Senegal, die am Strand und vor den Partydingern Sonnenbrillen verkaufen, sprechen Deutsch. Erlernt nach der Ankunft in Europa. Einer von uns fragt, ob das schwierig sei. Nein, erwidert ein junger Mann aus Dakar, der einmal Krankenpf leger gewesen ist in der alten Heimat: die Gäste aus Deutschland seien offen, kontaktfreudig und redselig, und wo man eine Beziehung zu einem anderen Menschen auf bauen könne, da werde auch Sprache schnell geteilt. Das sei eigentlich das besonders Schöne hier, und an Sprache sowieso, dass es immer um Zwischenmenschlichkeit gehe, um Kontakt. Der andere von uns hat dann noch gesehen, wie diese Männer und Frauen aus Senegal und aus Nigeria in Presseberichten hierzu-
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lande und in den sozialen Medien der Touristen behandelt werden, nämlich richtig mies; rassistisch. Da fühlt man eine richtige körperliche Übelkeit.
II Ein anderes Mal war einer von uns im Zimmer, während der andere eine Bootsfahrt unternahm. Das Boot hieß Ngalawa und hatte Ausleger und glitt über das türkisblaue Wasser, bis es die Dünung vor dem Riff erreichte. Diese Boote halten lange (Mangoholz) und sind über die Jahre oft auch Wohnung von Geistern. Der Kapitän des Bootes kennt sich gut aus und weiß, wie man mit den Geistern umgeht, damit nichts passiert, das Boot nicht sinkt beispielsweise. Viele dieser Geister wohnen im Wasser, auch am Strand, wo sie fast wie die Menschen leben, nur unsichtbarer. Sie sprechen alle Sprachen, alle, denn die Sprachen sind alle von vornherein in uns und deshalb auch in den Geistern. Eine Frage der Bereitschaft, diesen Besitz zu aktivieren. Die Geister können zeitweise Besitz von Körpern ergreifen oder in Träumen erscheinen. Sie erinnern an Beziehungen und setzen Menschen und Erinnerung in Bezug zueinander. Sprache ist damit Teil eines komplexen Ausdrucks von Beziehungen. Im übrigen habe sich die Anzahl der Geister am Strand verringert, seit dort sehr viele Wazungu wohnten, die Erstere in Flaschen zu bannen verstünden.
III Verabredung mit Herrn G. in der Altstadt von Zanzibar. Wir besichtigen und erzählen. Er berichtet von seinem Leben in Europa und vielen Reisen und Bekanntschaften dort. Es erweist sich, dass er a) eine überraschend große Anzahl von Bekannten hat, die auch wir gut kennen, und b) ein fast unglaubliches Gespür für sprachliche Schönheit besitzt. Seine Reisen über viele Jahre seines Lebens haben ihn nicht nur mit vielen Menschen in Verbindung gebracht, sondern ihm erlaubt (oder ihn dazu gezwungen, wie man es nimmt), sich auf Schönheit einzulassen. Dass er sogar recht gut Bairisch kann, erfülle ihn mit ein bisschen Stolz, sagt er.
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So, das hätten wir. Sprache als etwas, das auf Offenheit und Zwischenmenschlichkeit verweist, wenn es mit beweglichem Sinn gefüllt sein soll, als etwas, das Verf lechtungen und Verortungen zulässt und ausdrückt, und als Reise und Begegnung mit Schönheit. Das ist ja alles, nur keine Auseinandersetzung mit Norm, Standard, Variation, Schule und Kontrolle – Dinge, mit denen sich Linguisten ja gerne befassen. Das Bairisch von Herrn G. ist doch viel besser als das Bairisch in Bayern, das ist ja Luxusbairisch, richtig fein nämlich. Das ist übrigens das Merkwürdige an der Philologie – man redet, um das Reden zu erklären, und landet in einem ganz beunruhigenden Raum. Swantje Lichtenstein hat neulich irgendwo gesagt, sie fände, das sei so, als würde man ein Bild malen, um einem ein Bild zu erklären. Dabei scheinen mir die Konzepte von dem, was Sprache zu sein vermag, hier viel interessanter, als die Art, wie man über Sprache spricht. Das ist ja eigentlich das Wesentliche: diese Konzepte, die sich mit Sprache als sehr fest verknüpft erweisen – die Beziehungshaftigkeit der Rede, die Verf lechtungen, in denen Vieldeutigkeiten wurzeln, Ideen von Schönheit, die überall auffindbar ist, wenn es nur gelingt, das Andere zu lieben oder zu respektieren. Das letztere Wort mag ich hier allerdings gar nicht so gerne, weil es mir wie eine sophistische Ausf lucht scheint. Oder eine Anbiederung. Liebe ist viel klarer und unmittelbarer und auch mutiger. Am Ende muss man nämlich doch noch etwas über sich selbst mitteilen, ob man affiziert ist oder nicht, bereit ist zu hören oder nicht oder ob man überhaupt in der Lage ist, seine Position zu verlassen, um die des Anderen kennenzulernen. Das gefällt mir nämlich bei der von Ihnen gerade ins Spiel gebrachten Swantje Lichtenstein auch sehr gut: sie sagt da neulich irgendwo, dass sie interessiert, wie etwas klingt und wie es vorgetragen wird. Nicht was, sondern wie. Die Erwartung des Verstandenwerdenmüssens habe man abzulegen, denn das Verfremdete, das heißt, das eigentlich Vertraute aber eben nicht mehr Verständliche sei doch wesentlich für die Auseinandersetzung mit kulturellen Konzepten von Sprache. So ähnlich sagt sie das wohl, und ich finde, sie hat Recht. Und hinter all dem vermute ich Eindeutigkeiten ganz anderer Art, eine lange Reihe von Erfahrungen mit Zuschreibungen und Festschreibungen, die nicht nur im Zusammenhang mit Kolonisierungen von Orten und Körpern, sondern auch vom Sprechen betrachtet werden können. Und was meinen Sie, ist die ironisch gebrochene Dislozierung ein denkbarer Weg, diese Verfremdung im Disziplinären aufzuwerfen, und damit
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zu hantieren, um Fragen, meinetwegen auch kritische Fragen, stellen zu können, die sonst nicht gern gestellt werden? Denn das haben wir gemacht, nicht wahr? Es war ja zumindest eine interessante Versuchsanordnung: Einer von uns ist Germanist und muss sich jenseits etablierter Tagungsorte in strandumsäumten Allinclusivehöllen in Afrika mit Kolonialität im eigenen Disziplinären wie Persönlichen auseinandersetzen, und wird von Afrika von innen heraus zersetzt. Der andere von uns ist Afrikanistin und wird einfach weggegendert und übelst touristifiziert, was für immer uncool und qualifikationslos rüberkommen wird. Bald wird ein Brief vom Forschungsdezernat fällig sein: Sie haben Ihre Mittel fachfremd eingesetzt. Wir bitten um Rücksprache. Der Brief ist übrigens schon unterwegs, habe ich gehört. Und jetzt reisen wir ab.
*** Die Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die endlose Verschiedenartigkeit einer jederzeit simultanen Welt mit ihren Unordnungen und den darin mehr oder weniger wirksamen Versuchen, Ordnung zu schaffen, Überblick zu erlangen und vielleicht zu behalten, ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Das lässt sich schon einmal festhalten. In all der simultanen Vielgestaltigkeit der Dinge und des in und mit diesen Dingen parallel stattfindenden Lebens interessiert uns dabei eine Sache besonders – ja, wir können beruhigen, wir haben ein solches Interesse: die andauernde Macht kolonialer Ordnungen, prägt diese doch das Gegeneinander und Zusammenleben in globalen Maßstäben bis heute wesentlich mit. Nicht zuletzt im weltweiten Tourismus wird diese Dauer des Kolonialen greif bar, und dies ist auch das Feld, auf das wir in diesem Buch unsere besondere Aufmerksamkeit richten. Wir sprechen von neokolonialen Formen des Tourismus, und dies nicht etwa, weil in diesen Ausprägungen des Urlaubmachens die Spuren ehemaliger kolonialer Herrschaft unmittelbar erkennbar sein müssen oder revisionistisch bewahrt würden, sondern weil in ihnen den Kolonialismus prägende Ideologien von Kultur und Sprache – etwa die machtvolle Vorstellungen einer notwendigerweise engen Beziehung beider zueinander – sowie kommunikative Praktiken des herrschaftsgeprägten und herrschaftsverinnerlichten Zusammenlebens von Menschen eine alltägliche Fortsetzung erfahren. Eine Fortsetzung, die im Übrigen wesentlich geformt ist durch konsumistisches Begehren und Ge-
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schehen sowie globale Mobilitäten, die Teil davon sind und nicht zuletzt in kolonialisiertem Reden ihre Wirkungen verstetigen. Der Traumreisekatalog ist dabei nur der erkennbarste Ausdruck dieser Verschiebungen kolonialer Exotisierung und Ausbeutung in die Welt des Konsums, der kauf baren Erfahrungen all-inclusive. Neokoloniale Ordnungen reichen aber viel weiter und sind wirkungsmächtiger, denn sie prägen vor allem den touristischen Alltag an vielen Orten dieser Welt, auch dort, wo man es vielleicht nicht vermutet, an der deutschen Nordseeküste etwa. Es geht uns in diesem Buch um neokoloniale Territorien, in denen Begegnungen stattfinden, in denen Sprachen und Sprachlosigkeiten verf lochten sind, in denen desinteressiertes linguistisches durchaus aktives Aneinandervorbeileben geschieht und die Konfrontationen in einer Welt der Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen unvermeidbar werden. Drei Orte und in diesen Orten wiederum liegende Orte suchen wir auf. Die Nordseeinsel Sylt, die Megastadt Kairo und die Tropeninsel Zanzibar. Wir waren zwischendurch und vorher und danach auch an anderen Orten, allein und gemeinsam, und das hat sicher auch Spuren hinterlassen. Wir konzentrieren uns dennoch auf Sylt, Kairo und Zanzibar. Unsere damit verbundene Bewegung von Nord nach Süd – etwas klischeebehaftet – ist durchaus programmatisch zu verstehen, nicht zuletzt als eine Entzauberung dessen, was uns im nahen Umfeld unserer akademischen Tätigkeit im Norden prägt. Vielleicht auch als eine Flucht, als hégire, als hidschra: »Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern«.1 In jedem Fall sind Gegenüberstellungen von Norden und Süden kaum hilfreich bei der Erklärung neokolonial organisierter Welten. Was heißt hier schon Nord und Süd und West und Ost. Es ist auch hier die Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen – die totale Simultaneität, der Süden im Norden und der Norden im Süden, die Aufhebung der Himmelsrichtungen als verlässliches Koordinatensystem, die das, was uns hier beschäftigt, kennzeichnet. Um diese Auf hebungen erfassen, um Bewegungen von Körpern und Worten beschreiben zu können, ist die Zurückhaltung gegenüber kategorialem Denken hilfreich. Und die Bereitschaft, sich beim Forschen zu bewegen, vor allem zu reisen. Denn das Reisen ist ja derjenige Modus des Neokolonialismus, der uns interessiert,
1 Goethe 1982 [1814]: 7.
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und daher notwendigerweise auch die Art und Weise, vermittels derer wir uns damit befassen müssen. Das, was hier als Abreise beginnt, führt uns am Ende zu einer Austreibung, zu einem Hinausgespültwerden, Gezogenwerden, Gebrachtwerden. Der Text, der das Eine mit dem Anderen verknüpft, ist wie eigentlich jeder Text, der sich ref lektierend und kritisch mit den Möglichkeiten des Wissens auseinandersetzt, in erster Linie ein Heilstext. Er bietet eine auf Empirie und Analyse begründete Diagnose, aber kann eine Lösung nur in Aussicht stellen, Heil sozusagen versprechen, jedoch nichts heilen, nichts lösen; dieser Text verspricht und verheißt. Wie es sich mit Heilstexten nun einmal verhält, handelt es sich um einen magischen Text, der etwas zeigt (verspricht, verheißt), das man eigentlich noch nicht sehen kann, das verborgen, vielleicht sogar geheim ist. Die Art der Rede, die im Heilstext Verwendung findet, deutet das zumeist schon an – magische Wörter, die als Sprüche gebraucht werden können, die Terminologien oder gerade Erschaffenes sein können. Das, was als nicht alltägliche Rede erscheint, birgt eine symbolische Kraft, die sich aus dem Seltenen und Verborgenen ergibt. Ambiguität und Opazität leisten das auch, und zwar nicht nur in kritischen Texten über Wissen oder so etwas, sondern auch in den ganz andere Dinge versprechenden Texten der kolonialen Kontexte, denen wir uns hier widmen. Die Rede von Development und von Strandvergnügen, von Gesundheit und Erfolg, sie ist auch eine magische Behandlung der Wirklichkeit, der dann, so ist das Versprechen, eine Tat folgt, durch irgendeine machtvolle Institution, eine Götterhand oder sonstwen. Die Tat selbst ist im Verborgenen angesiedelt, im Geheimen, dort, wohin sich das Gericht zur Urteilsfindung zurückzieht. Die Diskrepanz zwischen Diagnose und Heilung zu verschleiern, gehört dabei zu den besonderen Kunstfertigkeiten von Heilstextverfassern. Das haben das Versprechen des Kurbetriebs am Strand und die Angebotsliste eines Mgangas gemeinsam. Was diesen Texten außerdem gemeinsam ist, ist, dass sie Sprache und Heilung gleichermaßen nicht großzügig als eine Form von Gastlichkeit anzubieten vermögen, sondern dass es sich immer um den Teil eines Geschäfts handelt. Auch deshalb bleiben sie Versprechen: Der Kauf einer Kurkarte, die Online-Überweisung des Festbetrags an den Mganga, die Projektfinanzierung der linguistischen Arbeit, sie alle sind Transaktion von Geld gegen Rede. In ihren Ref lexionen über
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das Unverlorene geht es der Altphilologin und Dichterin Anne Carson genau darum: Take for example the mode of gift exchange that the ancient Greek call ξευια (xenia). Usually translated »hospitality« or »guest-friendship« or »ritualized friendship,« the institution of xenia pervades the socioeconomic interactions of the Homeric, archaic and classical periods. Gabriel Herman defines xenia as ‘a bond of solidarity manifesting itself in an exchange of goods and services between individuals originating from separate social units.2
Geld ändert all dies. Carson, mit Marx argumentierend, analysiert die Einbringung von Geld in diesen Austausch als den Moment, in dem die Beziehungen zwischen Menschen zu einem Verkaufsgut werden, das Menschliche zu etwas Äußerlichem gerinnt, und eine Form der Entfremdung stattfindet, die nach immer neuer Heilung verlangen lässt. Solidarität selbst wird zu einem Gut, und die Rede, in der sie versprochen wird, zum Heilstext. Und Heilung ist dabei etwas, das man gewichten und beziffern kann, das weiß im Grunde jeder. Das Ergebnis wird messbar, in Erfolgen, erneutem Gewinn, so etwas in der Richtung. Der Ethnologe Michael Taussig stellt dabei eine Beziehung zwischen poetischen Texten und Schamanismus her, die uns sehr einleuchtend erscheint: Poets must be shamans of a particular kind, playing with language, which means playing with interpretations, tricks of reference, and heart-rending ambiguity. It is a tremendous thing, the ultimate estranging Enlightenment thing, to reduce God to an entity that, like the brain, can be weighed and compared pound to pound.3
Wir bewegen uns also auf ziemlich kompliziertem Terrain. Wir können Gastfreundschaft imaginieren, aber nicht anbieten (das kostet), und wir können eine Lösung dessen, was wir kritisch problematisieren, verheißen, haben aber längst begonnen, Götter und Gehirne gleichermaßen abzuwiegen und passend zu archivieren. Wenn man uns also fragt: »Ja, und jetzt? Was machen wir jetzt daraus, aus der Sprache, aus der Wissenschaft, aus 2 Carson 1999: 13. 3 Taussig 2015: 172.
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Heilstexte. Nairobi 2017, Westerland 2017 dem Tourismus?«, dann gibt es keine Antwort, außer vielleicht einen Blick auf das, was hinter dem Versprechen liegt. Und dort hinzugelangen, könnte ja recht lohnend sein. Dieses Buch ist insoweit auch ein Reisebuch. Jedoch kein Reisebericht, sondern ein Buch, das Reisen als Methode versteht. Es geht um ein Reisen, das man akademisch auch als Feldstudie bezeichnet, die in diesem Buch jedoch erweitert ist zur performativen Feldstudie. Dabei werden Rollen, die für Touristen, und letzthin auch für Feldstudierer vorgesehen sind, eingenommen, und es wird aus diesen heraus agiert. Es geht insofern um eine Umkehrung. Die eigene Rolle des Forschenden wird nicht als unabhängig betrachtet, sondern als in hohem Maße vorgegeben durch Strukturen, die eigentlich erst erforscht werden sollen. Man könnte das vorliegende Buch auch mit der Romanistin Mary Louise Pratt4 als einen autoethnographischen Text verstehen, bei dem es um eine Art der Verinnerlichung und Selbstbeschreibung von vorgegebenen Repräsentationen geht. Allerdings nicht in dem von Pratt vorgesehenen Sinn als Praxis der Transkulturation von ethnographisch Beforschten, die durch eigenes Schreiben im Wissen der ihnen zugeschriebenen Positionen in einen Dialog mit denjenigen treten, die sie gemeinhin beforschen. Wir drehen die 4 Pratt 1991: 35–36.
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Idee um, denn es geht uns darum, diejenigen, die in der Rolle von Betrachtern sind – uns selbst also – als Akteure zu verstehen, deren Handlungen durch ihre Positionen in einer neokolonialen Welt bereits wesentlich vorbestimmt sind. Eine Art der reversen Autoethnographie, um das mal so auszudrücken. Wir könnten auch sagen, eine Art des Schreibens, in der wir die uns zugedachten Rollen akzeptieren und uns nicht in der Behauptung akademischer Unabhängigkeit gefallen. Denn da gibt es keine unabhängige Perspektive. Das könnte man eben auch als ein autoethnographisches Schreiben bezeichnen, allerdings mit einer Verschiebung des Selbst zu den neokolonial situierten Betrachtern in der eingeübten und auch abgesicherten Position einer vermeintlich disziplinär geordneten Welt der Akademia. Nutzt man Reisen als Methode, geht es auch darum, die eigenen Rollen zu beforschen, die man im Reisen vorfindet, eigene Praktiken also autoethnographisch zu verfremden. Gereist sind wir mit leichtem Gepäck, mit einem broschierten Bändchen über Sansibar in der Tasche und einer Abhandlung über Zeit. Wir haben geschrieben, wie wir wollten. Das war das geringste Problem. Diese ganze ewige Sprache ist ja auch sehr viel besser erträglich, wenn sie nicht als Ausdruck universal gedachter Wahrheitsansprüche genutzt werden muss, sondern in ihrer Lebendigkeit und Plastizität existieren darf. Wenn sie einfach vorangeht im Sprechen und Zuhören, Schreiben und Lesen.
*** Uns gefällt bei diesem Schreiben zunächst einmal die Idee des Konzeptwortes, die wir erläutern wollen. Die Idee des Konzeptwortes ist uns im Dialog, also im miteinander Sprechen und Hören, eingefallen und im Text haften geblieben. Solche Konzeptwörter kann man in Kapitälchen schreiben, denken wir: kult, brosche, luft, körper, lieben. Konzeptwörter sind Werkzeuge der Ortsanalyse. Das Konzeptwort umfasst mit Bezug auf das lateinische conceptus einerseits ein Nachdenken und stellt andererseits auch einen Grundriss für das Nachdenken dar. Ein Konzeptwort ist im Gegensatz zu einem wissenschaftlichen Terminus und mit Bezug auf die Wortherkunft also unabgeschlossen und hat die Funktion, etwas zu umreißen, zu skizzieren, eine erst auszuführende Konstruktion abzustecken. Nicht zuletzt verweist das Konzeptwort auch auf die Überzeugung, dass analytische Ausdrücke immer Einfälle sind. Das Konzeptwort ist also ein Arbeitsmittel, ein linguistischer Apparat, noch komplexer ausgedrückt ein epistemischer
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Operator, eine begriff liche Konstruktion, mit der Wissen erzeugt wird. Entsprechend strukturieren die von uns geprägten Konzeptwörter die Argumentation und bündeln das, was wir für mitteilenswert halten. Wörter, die uns ebenso gefallen als eine Idee, sind die von uns so genannten Ambientwords, markiert mit dem Surroundzirkel 8,5 eine Gruppe von Wörtern, die uns beim Feldstudieren begegnet sind, und die kommunikative Nähesituationen in sich binden. Ambientwords – ja, wir wissen, dass wir hier von Words, nicht vom Wort sprechen, und das tun wir, weil es um den vervielfachten Sound geht – besitzen ethnographische Realität, sie stammen nicht von uns, sie sind aufgegriffen, wir hören sie hier und dort. Man kann diese Wörter daher aus ihren Sprachspielen isolieren und als Abdrücke von Situationen nutzen. Ambientwords, wie das auf Sylt omnipräsente Verb 8goschen8 – Heute schon 8gegoscht8? –, das Marketingadjektiv 8sychtig8 – SYLT MACHT 8SYCHTIG8 – oder das dahingerufene 8HAKUNA MATATA8 oder 8POLE POLE8 am zanzibarischen Strand, all diese Ambientwords sind ortsgebundene Ausdrücke, die Stimmungen, Praktiken, Verhältnisse von Körpern und überhaupt Charakteristika eines Ortes anzeigen. Unter einem Ambientword verstehen wir Wörter und Wortgruppen, die ortsgebundene Kommunikationsverhältnisse zum Ausdruck bringen, das Umfeld ihrer Verwendung prägen und Verhältnisse verdichtet anzeigen. Wer sich für Ambientwords interessiert, wird aber um einen Blick auf die von uns so benannten Applikativwörter – auch diese kommen immer gleich in einer Vielzahl vor – nicht herumkommen. Wir markieren sie mit dem Stitchmarker `.6 Applikativwörter werden selten studiert, weil sie so unnötig sind wie bunte Phantasielogoapplikationen auf verwaschenen Baumwollshirts, aber dennoch ebenso zahlreich. Applikativwörter sind nicht zu übersehen und -hören. Ihre Funktion besteht darin, das Dasein der Dinge konsumistisch aufzuhübschen, eine Praktik, die im Tourismus und im Neokolonialen überhaupt wichtig ist: `Logo`, `Branding`, `allinclusive` usw., dies sind Applikativwörter.
5 Zufällig ist der Surroundzirkel auch das IPA-Symbol für den kiss click in sogenannten Schnalzsprachen, Khoisansprachen. Linguistisch informierte Leser sollten sich deswegen nicht verrückt machen. 6 Und das ist kein IPA-Symbol und in der Linguistik bisher als Zeichen unbekannt.
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Durchgewirkte Fäden. Zanzibar 2018
*** Wir arbeiten also unter anderem mit Wortkategorien, das wollen wir schon einmal festhalten. Jenseits von damit behandelten Fragen wird der Gegenstand dieses Buchs – der in letzter Konsequenz mit der Erfahrung einer Austreibung verbunden ist – von uns in vier Teilen separiert, ästhetischer aus-
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gedrückt durchschritten, weil wir unsere eigene Autorschaft als einen Lauf der Gedanken verstehen möchten. Im Abschnitt kult bewegen wir uns auf der Insel Sylt und gehen der dortigen Neokolonialität nach, wir stellen fest, dass Namen manchmal überhaupt nicht identifizieren und dass der Versuch, Sprache festzuschreiben, angesichts von Erfahrungen des Irgendwo im Nirgendwo scheitert. Im Abschnitt brosche geht es, verbunden mit Ortserfahrungen in Kairo, darum, eine Kritik an herrschenden Vorstellungen über Sprache zu formulieren, im Abschnitt luft mit Bezug auf Zanzibar vor allem um Kommunikationsformen und im ebenfalls zanzibarischen Kapitel körper um die Verleibung von Sprache. Neben Sprache nutzen wir Bilder als Mittel der Betrachtung. Es geht dabei nicht nur um Illustrationen von Gedanken oder in den seltensten Fällen um Belege der von uns beschriebenen Welten, sondern vor allem um gleichlaufende und doch unabhängige Darstellungen, Repräsentationen, Aufzeichnungen eines Reisens, dem wir angehören und das wir so sehen, wie es die Bilder zeigen. Die Bilder bilden also kein visuelles Belegkorpus, sondern einen ikonischen Faden, der den Text durchwirkt. Das Entstehen dieses Buchs wurde nicht nur durch ein mehrjährig geteiltes wissenschaftliches Interesse der Autoren vorbereitet, sondern ist vor allem auch der Hilfe, den Hinweisen, den Inspirationen, Gesprächen und dem Austausch mit Persönlichkeiten zu verdanken, denen wir uns besonders verbunden fühlen: Penelope Allsobrook, Silvia Bonacchi, Christiane Bongartz, Beatrix Busse, Philipp-C. Cloth, Fatou Cissé Kane, Jascha de Bloom, Nick Faraclas, Said al-Gheity, Carsten Junker, Rotraut Junker-von der Emden, Oum Kalthoum, Hiltrud Lauer, Stefania Maffeis, Angelika Mietzner, Nico Nassenstein, Bwana Pandu, Mganga Said, Daniel Schmidt-Brücken, Thomas Stolz, Sophie Greta Storch, Andrea Tapper, Marion Thiel, Janine Traber, Don Walicek, Leon Warnke, Milena Warnke, Frederik Weck, Elisabeth Westmore, Pascal Wilke, Ralph Winter, Leah Wirtz, Captain Zapy, Sara Zavaree. Wir danken der DFG für die großzügige Unterstützung unserer Arbeit an diesem Buch.
Kult Damals entschlossen wir uns zur Anmietung einer Ferienwohnung. Schließlich kommt einem so eine komplette Wohnung auch entgegen, sie ist viel besser als ein Hotelzimmer, denn man kann sich auf den Balkon stellen – der ja beim Hotelzimmer nicht immer inklusive dabei ist – und einen Tee brühen, die regennasse Kleidung über einen der zahlreich vorhandenen Heizkörper legen (im Hotelzimmer hätte man eine Klimaanlage gehabt). Da wir zu zweit reisten, war die Ferienwohnung auch billiger, als zwei Hotelzimmer zu mieten – obwohl die Ferienwohnung auch ihre versteckten Kosten hat. Nervenkosten nämlich, weil man bei der Abrechnung später ganz ausführlich erklären muss, warum man nicht doch im Hotel genächtigt hat. Unsere Ferienwohnung war zentral gelegen und hatte ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer. Im Wohnzimmer gab es eine schwarze Lederschlafcouch, auf der derjenige von uns, der ritterlich und höf lich die vermeintlich schlechtere Schlafplatzvariante für sich ausgewählt hatte, blieb. Der andere musste in ein ganz und gar weißes Schlafzimmer, in dem es eine spielwiesenartige Bettenlandschaf t und einen sehr großen, unbenutzt aussehenden neuwertigen Schleif lackkleiderschrank mit vollverspiegelter Front gab. Selbstverständlich war die Lederschlafcouchvariante die attraktivere, denn man konnte dort fernsehen, beliebig of t nachts rausgehen, oder sich auch noch einen Imbiss bereiten, wenn man wollte, da sich unmittelbar neben dem Coucharrangement eine of fene Küchenzeile befand. Also alles irgendwie da. Tagsüber, wenn wir uns unsere Funktionsjacken übergezogen hatten, wurde die ausgezogene Lederschlafcouch allerdings zu einem unpassenden Möbelstück, weil sie nunmehr die Intimität zerknüllter Bettwäsche mitten im Wohnzimmers unserer Ferienwohnung zur Schau stellte. Deshalb musste derjenige, der auf der Lederschlafcouch geschlafen hatte, immer sehr früh sein Bettzeug sehr ordentlich gefaltet und glattgestrichen arrangieren. Wenn dies getan war, begaben wir uns durch das teilweise mit ehemals
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weißem, abwaschbaren Rauhputz ausgekleidete Treppenhaus beschwingt hinab (der Aufzug war wohl schon lang defekt), um etwas in Augenschein zu nehmen, regelrecht zu erkunden und zu erforschen, das uns unerklärlicherweise in unseren bisherigen Leben nahezu völlig entgangen war. Dazu später mehr. Am Ausgang des Gebäudes, in dem sich die Ferienwohnung befand, war ein kleiner Laden eingerichtet. Er bestand im Grunde aus einer verglasten Nische, vielleicht einst als Pförtnerloge oder Hausmeisterunterschlupf gedacht, und versammelte auf wenigen Quadratmetern und in unpassend vollverglaster Form Historisches. Natürlich waren die großen Glasfronten, auch wenn sie unbehaglich und zugig wirkten, dennoch praktisch, denn sie boten auch uns unschätzbare Einblickmöglichkeiten. Morgens, wenn wir uns wettergeschützt und positiv eingestellt auf den Weg machten, war nämlich der Laden noch nicht geöf fnet, und abends, wenn wir erschöpf t von unseren Exkursionen an exotisch klingende Orte zurückkehrten, bereits wieder verschlossen. Daher verbrachten wir etliche Zeit damit, immer wenn wir den Tag begannen oder beendeten, sozusagen als Tageszeitenabschnittssritual mit Scharnierfunktion, durch die Fenster ins Innere des Geschäf ts zu spähen und uns darüber Gedanken zu machen, ob dort nicht ungehobene Schätze auf ihre Entdeckung durch uns warteten: Logbücher einst die Südsee kreuzender Schif fe, Postkarten aus Ozeanien und der Karibik mit zittrigen Grüßen an die Heimat, mit letzter Kraf t auf das kartonierte Papier gebannt von malariakranken Matrosen oder dem einen oder anderen jung an der Cholera verbleichenden Komiß. Auch schön illustrierte Bücher mit prächtig kolorierten Karten von Kiautschou und anderen kolonialtoponomastisch lohnenden Orten wollten wir erhof fen. Vielleicht alte Fotoalben früher Nacktkulturisten, oder auch ganze Nachlässe, in alten, nunmehr verwaisten Grandhotels zurückgelassene Kof fer, nicht mehr zustellbare Seemannskisten. Fernweh und vor allem analytische Archivierungswünsche und die Idee, das Ganze auch am liebsten zu einer kolonialkritischen Ausstellung zu kuratieren, ergrif fen uns ein wenig an diesem Ort. Eines Tages, als wir aufgrund eines am Abend zuvor mit deutlich übertriebener Forscherwanderlust absolvierten Feldstudienspaziergangs etwas später aufstanden, fanden wir unsere mittlerweile zur Obsession gewordene Ladenphantasie geöffnet und zugänglich. Nun hieß es, der Sache nachzugehen. Die Glastür mit ihrem zarten Muster aus metallenen Sicherheitsfäden
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Inselimpression. Westerland 2017 war angelehnt, und im hellen Inneren saß der Eigentümer (oder vielleicht Pächter) des Ladens, ein älterer Mann in braunen Wollhosen und dunkelgrünem Strickpullover, der mit einem exakt gegenteilig gekleideten, ebenfalls älteren Mann plauderte. Wir traten ein und wurden knapp begrüßt. Wir fanden, um es kurz zu machen, keine ungehobenen Schätze. Kein Wunderhaus, und auch wenig Vielfalt um uns herum. Hinter einer Vitrine voller belangloser Sportsegelabzeichen befand sich lediglich eine Sammlung von Nazidevotionalien, und vorne, nicht einsehbar von außen, indem ein Buchgestell an die Glasfront gelehnt worden war, wurden Druckerzeugnisse für die Hitlerjugend präsentiert, vielleicht war auch ein Anstecker mit Rutenbündel dabei. Eine gerahmte Sammlung nautischer Knoten und ein paar Fähnchen rundeten das Angebot ab. Ob es wohl auch etwas zur Kolonialzeit gäbe, fragten wir zaghaft. Ob wir wohl wüssten, dass diese schon seit sehr langer Zeit vorüber sei, wurden wir beschieden.
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Wir fanden nichts, was man hätte mitnehmen können. Noch nicht einmal ein altes Afrika Hand-Lexikon1, ein Nachschlagebuch für Jedermann oder sowas in der Art. Etwas zu lesen für die verregneten Abende. Dann hätten wir nicht auf dem Laptop gestreamte Independentfilme sehen müssen, und uns vielleicht stattdessen im dritten Band eines solchen Lexikons etwas über Pemba angelesen oder lieber gleich über Sansibar – »Sansibar ist eine Koralleninsel«2 –, wir hätten vielleicht den sansibarischen »Palast des Sultans, ein Gebäude von origineller Bauart, dessen ganze Vorderfront auf eisernen Säulen ruht«3 imaginiert, hätten vermutlich unsere Phantasie entzündet, und gegoogelt hätten wir dann die Bilder vom House of Wonders, wären vermutlich auch auf die Formulierung gestoßen, dass in der Stadt Sansibar »eine wahre Musterkarte der verschiedensten Völkerstämme«4 zu finden sei. Schon das Wort Musterkarte hätte dabei unser kritisch informiertes Denken genährt. Stattdessen nichts dergleichen. Aber wir haben uns natürlich dennoch an die Arbeit gemacht, denn Sylt ist ein ingressiver Raum, und an solchen Orten gibt es für Feldforscher einiges zu tun. Jetzt geht es aber irgendwie richtig kompliziert los. Ingression? Ja, Ingression ist ein Prozess, bei dem üblicherweise das Meer langsam auf Land übergreift. Man kann sprachlich auch an den italienischen Eintritt denken, Ingresso. Wir treten also ein in unsere Analyse, in dem wir etwas genauer betrachten, was wir Ingression nennen. Das Konzept ist für uns ein Schlüssel für das Verständnis von Sylt. Dabei meinen wir allerdings nicht die vielbesprochene Bedrohung der Insel durch die raue Nordsee. Ingression bedeutet für uns vielmehr das Hineinsickern, besser das unmerkliche und stets beiläufige Einschleichen einer machtvollen Ordnung durch die Zeit hindurch. Ein Einsickern, das geräuschlos vonstatten geht, was da eingesickert ist, muss man nicht bemerken, auch wenn es untrügliche Hinweise gibt. Aber selbst diese Hinweise sind indirekt, verstreut, man kann sie schnell übersehen. Eingetreten ist auf Sylt, wie an vielen Orten des globalen Nordens auch, all das, was Kolonialismus und Neokolonialismus ausmacht. Langsam und dafür recht dauerhaft ist das geschehen, schleichend über die Zeit. Am deutlichsten erkennbar wird diese Ingression in den territorialen 1 Heichen 1885: Bd. 3. 2 Heichen 1885: Bd. 3, 1127. 3 Heichen 1885: Bd. 3, 1130. 4 Heichen 1885: Bd. 3, 1130.
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Markierungen der Insel, in Ortsnamen, die im Alltag einerseits ganz präsent sind und deren Kolonialität doch auch unbemerkt bleibt. Ein subtiles Einströmen und Hineinsickern kolonialer Semantik bei gleichzeitiger Unbekümmertheit gegenüber den teilweise tief eingezogenen kolonialen Spuren. Koloniales ist auf Sylt sichtbar und zugleich abwesend. Sylt ist ein widersprüchlicher Ort. Das funktioniert im Alltag so gut, weil in den Ferien mögliche Irritationen vermieden werden. Auf Sylt allemal. Es geht um Urlaubmachen ohne Reue, die sich mit einer Form von Herrschaft verbindet, die (nicht nur) Tourismus vielerorts kennzeichnet: die Herrschaft des Konsums. Man kauft etwas, im Tourismus vor allem Erholung, Abwechslung, eine Erfahrung im Anderswo oder sonst einen Urlaubssinn, und kauft sich dabei zugleich dasjenige weg, was stören könnte, was Ausspannen, Ablenkung hemmt. Beschwernisse und Herausforderungen werden im Urlaubskonsum verdrängt oder in Gleichgültigkeiten genichtet. Wir wissen, dass es auch andere Urlaube gibt, etwa Urlaube, die betroffen machen wollen; auch dazu sagen wir noch etwas. Aber zunächst bewegen wir uns in einem Raum, bei dem Urlaubmachen, oder wieder auf der Insel weilen, als eine Form des Gleichgültigseindürfens funktioniert, wenn es glatt läuft. Urlaubmachen als Konsum ist eine Verengung von Leben und Kommunikation. Im Zeitungsartikel Non aver paura di avere un cuore aus dem Jahr 1975 zeigt der italienische Regisseur und Autor Pier Paolo Pasolini (1922–1975), wie eine permissive und auf Konsum gerichtete Gesellschaft das Leben verengt und eine Herrschaft der Geschichtsentledigung errichtet, die ihr höchstes Heiligtum des rituellen Konsums im Warenfetisch erreicht: »la sacralità del consumo come rito, e, naturalmente, della merce come feticcio«5. Auch wenn es Pasolini nicht um Sylt ging, die Insel führt in Teilen deutlich vor, wovon Pasolini spricht, tagtäglich, sie spricht von der Heiligkeit des Konsums, wie sie rituell hervorgebracht wird, und von den Gütern als Fetisch: Sylt. Das ist nicht nur hier so, das tun viele vom Tourismus überprägte Orte, auch diese sind formatiert von der Heiligsprechung des Konsums und verschmolzen mit dem Versprechen, ruinöse Bedingungen des anderen und eigenen Lebens hier und jetzt vergessen zu machen. Sylt ist insofern auch ein exemplarischer Ort. Ein Ort, der für Orte der Hoffnung auf Heilung steht, Heilung von den eintönigen Beschwernissen des Alltags, Heilung von all dem, was auf dem Festland 5 Pasolini 1975: 2.
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bleibt. Es geht um Hoffnungen, die die besten Konsumvoraussetzungen sind. Eben diese Hoffnungen verbinden sich weltweit mit Strukturen, die im Kolonialismus wurzeln und ihn fortsetzen, in dem, was wir neokolonialen Tourismus nennen, auch wenn letzthin jeder Tourismus mit neokolonialen Strukturen der globalen Ordnungen verschränkt ist, wie überhaupt unser gesamtes Leben an vielen, vielen Orten. So, wie sich auf Sylt einiges verdichtet, Kapitalismus, Immobilien, Verdrängung, Schönheit, Ruhe, Party und viel mehr, was für die, die dabei sind, recht fein sein kann, wenn man es mag, so verdichten sich hier auch neokoloniale Spuren. Allein diesen gehen wir nach. Wir schauen nicht entsetzt auf den globalen Süden, wir beginnen die Bewegung in der Sansibarzone in der Nähe unserer Alltagserfahrungen: Nordseeferientage. Die Reise nach Sylt war insofern eine zweischneidige Angelegenheit. Sie bot wenig Überraschung. Wir bemerkten schnell, dass Sylt nicht besonders ist, auch wenn das immer wieder und vielleicht ja auch gerade deshalb betont werden muss. Claudia Welkisch greift da ganz weit und hoch mit ihrem Buchtitel 111 Gründe Sylt zu lieben. Eine Liebeserklärung an die schönste Insel der Welt und sie liebt und geht von Liebe aus: »Ich liebe Sylt. Und Sie tun das auch.«6 Die Liebe zu dem, was man konsumiert, ist dabei ein Topos, dem wir uns noch ausführlich zuwenden werden. Wir sind zunächst aber nicht so emphatisch liebend, weil uns dafür auch das Wissen fehlt; Syltkenner sind wir sicher nicht. Aber eine Feldstudie ist Sylt in jedem Fall wert, auch wenn dies im Dienstreiseantrag gesondert begründet werden muss. Und deswegen sind wir auch dorthin gefahren. Denn neben der Gewöhnlichkeit dessen, was sich dort ereignet, ist eben das Einsickern von Kolonialität in Verbindung mit Konsum etwas, das unseren im Kramladen unbefriedigten Entdeckergeist entzündet hat. Einer von uns ist sogar nach Sylt gef logen. Allerdings wussten wir bei der Anreise noch gar nichts von der Ingression, das haben wir ethnographisch, vor Ort, vorgefunden. Es gibt auf Sylt die Spuren, die überdeutlich sind, für diejenigen, die etwas kritisieren, aufspüren, anprangern wollen. So etwa die Käpt’n-ChristiansenStraße in Westerland.7 Es heißt auf einem erläuternden Zusatzschild: »Carl Nicolai Christiansen 1864 - 1937 Kapitän d. Ost-Afrika-Linie und 1902-1927 d. Linie Hoyer-Munkmarsch, danach als ›Käpt’n Corl‹ 10 Jahre Gästeführer in 6 Welkisch 2017: 8. 7 S iehe Deppe 2006: 80.
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Westerland«. Carl Nicolai Christiansen, oder bleiben wir beim nähesprachlichen, vertraut klingenden Käpt’n-Christiansen, war also Akteur im Kontext der deutschen Kolonisierung in Ostafrika, wie viele andere seiner Zeit auch. Ob er wohl Zanzibar kannte, fragten wir uns. Doch in der touristischen Zone Westerlands verschwinden solche Beobachtungen und Fragen erwartungsgemäß hinter der behaglichen Erinnerung an das Sylter Kapitänsoriginal, Erinnerungen, die sich weitaus besser in Vermarktungsketten einbinden lassen als eine Ortsarchäologie des Unbequemen. Während in den diskursiv aufmerksamen und urbanen Zentren koloniale Spuren längst Anlass zu anti/post/ dekolonialer Kritik und Aktion geben und dabei Straßennamen als leicht zugängliche und gut erkennbare, sowie ohne größere Mühen recherchierbare Erinnerungsmarker des Kolonialen zum Objekt kritischer Intervention werden, scheint Sylt als kolonialingressive Arena wenig wahrgenommen zu werden. Vielleicht liegt es daran, dass sich die anti/post/dekolonial aufgeklärten Kreise hier eher nicht auf halten, wer weiß. Das alles heißt nicht, dass auf Sylt unkritisch und unref lektiert verweilt werden muss und wird. Im Gegenteil. Am Rathaus in Westerland befindet sich seit einiger Zeit eine Tafel, die daran erinnern will, dass der einstmalige Bürgermeister dieses Ortes (1951–1963) ein niemals belangter NS-Verbrecher war, laut Tafel »Kommandeur einer Kampfgruppe« bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 8. Die Rede ist von Heinz Reinefahrt (1903-1979). Schon das, was das Smartphone uns im Vorbeigehen über ihn erklärt, dreht uns den Magen um und kann die Urlaubsillusion massiv ruinieren. Zu recht. Es sind Beiläufigkeiten der Gewalt- und Vernichtungsgeschichte, die in die Ferienidylle und Normalität einbrechen, ins Abgrundtiefe, auch wenn das touristische Erleben des Ortes auf das konsumierende Betreten der Friedrichstraße, der Strandpromenade nach Kurkartenkontrolle, auf das Goschen von Garnelen und das Schlendern über eine veritable Kapitänsstraße und ähnliches fokussiert bleiben soll. Eine expertenmoderierte Graffitiwand vom Insel Sylt Tourismus-Service für Sylter Kinder und Jugendliche, entstanden unter der Anleitung eines Graf fitikünstlers, löwenwilde Plakate, die zu Soulfire HiFi Islandlove ins AMERICAN BISTRO einladen und überhaupt diese ganze, Urbanität und Alltäglichkeit behauptende Architektur (Spannbeton, mehrstöckig und sauber umgärtnert oder auch nicht) – das alles berichtet von einer den 8 Siehe Marti 2014.
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Tourismus und seine räumlichen Referenzen transzendierenden Erfahrung; hier ist man angekommen, hier wird gelebt. Was sollen da Irritationen?
Westerland. Sylt 2017 Darüber hinaus gilt: Die Benennung von Straßen mit kolonial assoziierten Namen ist nicht das, was uns interessiert. Es geht uns um das andauernde und schleichende Eindringen von Kolonialität in den Alltag der Insel, um kriechende Repräsentationen, Reproduktionen und Performanzen, nicht um fixierte Spuren von Geschichte auf Straßenschildern. Wir richten unseren Blick dabei auf Paradoxien, die wir als Zeichen fortgeschrittener Ingression verstehen. Denn einerseits sind koloniale Namen in die Topographie der Insel Sylt unübersehbar eingesunken und werden in alltäglichen und jahrzehntealten Praktiken zur Verortung, Navigation und eigenen Positionierung genutzt, andererseits sind diese Namen losgelöst von den mit ihnen verbundenen Kolonialorten und -geschichten, vor allem von mit diesen assoziierten Erfahrungen der Kolonisierung.
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Man fährt zwar in die Sansibar, aber es gilt: »[w]arum der Strand nach der ostafrikanischen Insel Sansibar benannt wurde, ist nicht bekannt«9 –, man macht einen Strandspaziergang nach Samoa, man badet nackt in Abessinien und radelt nach Klein Afrika, ohne dass einen dabei auch nur irgendetwas an das Anderswo und seinen eigenen Schrecken erinnern muss, den man dort zu verantworten hat; eine Strandoase gibt es übrigens auch noch. Woher das alles kommt, wohin es führt, wer weiß es schon, wer will es schon wissen. Hübsche Namen aus Irgendwo, die vermeintlich schon immer so hießen, und warum denn auch nicht. Da verwundert es nicht, dass auch über den Namen Samoa »nur gerätselt werden«10 kann. Es geht nicht um Afrika oder Ozeanien, die Südsee, nicht um vorgetäuschte Erfahrung als Eintauchen in afrikanische oder pazifische Simulationswelten. Sylt ist kein Simulacrum. Sylt ist Sylt. Warum sollte man sich durch Probleme und eine längst vergangene Historie den Urlaub ruinieren lassen, wo es doch um den Wunsch geht, mal an die Luft zu kommen, im Reizklima den Alltag vergessen zu können. Am besten gar nicht fragen und nicht drüber reden. Das heißt hier eben so, wie es heißt. Sind eben Namen. Es stört den generischen Sylturlauber ja ganz offensichtlich auch nicht, dass das Goschen – beim Imbiss Gosch etwas essen – unappetitliche Zubereitungspraktiken voraussetzt, über die schon Benjamin von Stuckrad-Barre ein poplitarisches Memo verfasst hat, das den sprechenden Titel Ganz unten im Norden trägt. Die Anspielung auf Günter Wallraff und damit auf das Anderswo ist hier allerdings unübersehbar, also wohl auch intendiert. Und auch der Hinweis auf das sogenannte Unten, das sozial und geographisch zugleich zu verstehen ist. Im ingressiven Raum geht es darum, Oben zu sein, um selbst trockene Füße behalten zu können. Da ist es schön, recht angenehm, da lässt es sich aushalten, und da vergisst man, und hat auch keine Veranlassung, das nicht zu tun. Vergessen wollen dürfen. Dafür braucht man allerdings das Unten. Sylt ist mithin nichts anderes als ein supernormaler Raum des Konsumismus, in dem nicht nach Ursachen gefragt wird, sondern in dem lediglich Wirkungen im Streben nach und Bewegen im Oben inszeniert werden. Es geht um etwas, was wir in einer rhetorisch etwas bemühten Figur die Paradoxie sichtbarer Abwesenheit bezeichnen, als visible absence. Für kolonial geprägte Namen auf Sylt bedeutet das, dass sie sichtbar und hörbar sind, 9 Kunz & Steensen 2007: 332. 10 Kunz & Steensen 2007: 324.
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Goschen. Westerland, Sylt 2017 dass sie aber zugleich von kolonialen Bezügen tagtäglich performativ entleert werden, sich längst entreferenzialisiert haben, und damit die von ihnen bezeichneten ehemaligen Kolonialorte sichtbar abwesend sind. So ist es auch wenig überraschend, dass dekoloniale Kritik diese Orte nicht längst aus der Ruhe ihrer touristischen Funktionen gebracht hat. Es geht auf Sylt weder um kolonial geprägte Straßennamen, die im öffentlichen Diskurs thematisiert werden und von dekolonialer Aktion ergriffen werden, noch um eine sichtbare Anwesenheit von neokolonialer Ideologie oder etwa um Praktiken der Sichtbarmachung von Kolonialgeschichte. Kolonialität funktioniert auf Sylt als unmarkierte Normalität, in der es sich sehr gut aushalten lässt, und als sichtbare Abwesenheit: »Sylt ist ein nicht enden wollendes, sich ständig erneuerndes stetes kleines Wunder«.11 Das alles ist bekannt, denn auch das Koloniale ist als Kolonialität in der Welt von Kolonisatoren normal und bleibt im neokolonialen Dispositiv unmarkiert, wir könnten auch sagen, es wird mühevoll unsichtbar gemacht und weggesperrt. So wie die für wahnsinnig befundene Bertha Antoinetta Mason in Charlotte Brontës Jane Eyre als The 11 Raddatz 2006: 5-8.
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Visible absence. Westerland, Sylt 2017 Madwoman in the Attic12. So wie die Goscher beim wunderbaren Goschen nichts von der Krebsf leischzubereitung Ganz unten im Norden (und Darwins Albtraum überhaupt) wissen wollen. Um die Schraube noch etwas weiter 12 Gilbert & Gubar 1979.
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zu drehen, sollte man hier allerdings bedenken, dass Brontës Madwoman in Wide Sargasso Sea von Jean Rhys13 selbst zur Erzählerin wird, dass also das Weggesperrte immer auch zur Stimme kommen kann und wird. Vielleicht umschwebt die Insel ein Fluch. Zunächst ist man aber auf der Lieblingsinsel der Deutschen weitgehend unter sich – auch wenn die soziale Schichtung enorm ausgeprägt ist und es selbstverständlich verschiedenste Sylte gibt. Das konstitutive Andere im Anderswo einer dabei stattfindenden Selbstsegregation14 ist zwar stets sichtbar, aber in seinen kommodifizierenden Funktionen zugleich abwesend. Und das gilt besonders für Kolonialität, für die wir uns interessieren. Ein Anderswo, das exkludiert und anwesend zugleich ist, eine Paradoxie, die zum Kult gehört und den ingressiven Raum ausmacht. Sylt ist ja von Wasser umgeben. Der Mob kommt hier nicht hin. Russen und Araber vertragen das raue Klima nicht. Man ist hier ohne Migrationshintergrund.15
Das raue Klima ist überhaupt der Grund für sichtbare Abwesenheiten. Eine ganz speziell für Sylt hervorgekramte weiße Funktionsjacke (ohne Markenbranding) verbirgt vieles, wie etwa kleine Rundlichkeiten und einen Damals hatten wir allerdings noch nicht die MAMI Flecken auf dem Pullover, der WATA Regenjacke entdeckt, die ja eher den Regen vom Frühstück stammt. In dieser preist und deren Label allein schon so unendlich Funktionsjacke spürt man den cool ist, dass man sich oder wohl doch viel eher dem rauen Wind nicht, und man muss mitreisenden Kollegen schlechtes Wetter regelrecht keine Angst haben, die Insel nicht wünscht. Regen soll fallen, auf den Kollegen! vertragen zu können. Es ist also diese weiße Funktionsjacke (ohne Markenbranding), in der man auch bei starkem Regenwetter unter einem Bistroschirm einen Kaffee trinken kann oder, nachdem der Regen wieder nachgelassen hat, ein wenig goscht. Es gibt also recht eigentlich gar keinen Grund, nicht am Inselleben 13 Rhys 1966. 14 Siehe Lees 2008: 2449. 15 Taxifahrer auf der Fahrt zur Sansibar, 29.07.2017. Allerdings weist Tapper (2015: 110) darauf hin, dass es zu den Grundprinzipien guter journalistischer Praxis gehöre, keine Taxifahrer zu zitieren. Wir sind allerdings keine Journalisten und daher völlig blauäugig, was das Taxifahren angeht.
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teilzunehmen, sofern man die notwendige Kleidung dabeihat. Dann kann man sich beispielsweise ein Nudelgericht mit einer schönen rahmigen Currysauce und Garnelen bestellen und an einem der bereitstehenden Tische goschend verzehren. Aber auch Nudeln mit Curry und Garnelen erinnern, nicht zuletzt in ihrer gelbwurzfarbigen Grundtönung, an fremde Orte, an denen nicht nur die Gelbwurz erst einmal wächst, sondern an denen auch ein kleines Gericht (in einem solchen Fall in der Regel ohne Zuhilfenahme einer Funktionsjacke) auf der Stelle (an der frischen Luft) verzehrt werden kann und auch soll. Solche Orte liegen meist im Anderswo, etwa in den Tropen, oder auch im Orient. Dort wird mit Currymischungen gekocht, auf Plastiktellern serviert, an Straßensäumen verzehrt. Dies ist aber eben, wenn auch in anderer Funktionsbekleidung, auch auf Sylt möglich, etwa auf der Strandpromenade, an der nicht nur gegessen (und gegoscht) wird, sondern auch auf nach einem Surfwettkampf am Strand liegende Surfanzüge und Bords und Fahnen und Reklameaufschriften geschaut werden kann. Die Strandpromenade bietet ferner Möglichkeiten des Erwerbs ausgewogener Kost in Form größerer Gebinde von Haferf lockenpackungen, elektrischer Massagestühle, oder auch marokkanischer Buntglaslampen. Man sitzt auf einer zuvor durch das geschickte Platzieren eines Rucksacks freigehaltenen Bank und blickt auf die zu heiß in der Plastiktellermulde dampfenden Nudeln mit Curryrahmsauce und Garnelen, während der andere von beiden eine Asiapfanne in Empfang nimmt. Ohne Gelbwurz kann ein Currynudelgericht gar nicht gekocht werden. Dieses Gericht bedarf einer schönen satten gelben Färbung, die den Eindruck hervorrufen kann oder auch soll, dass hier eine nahezu buttrige Üppigkeit besteht. Durch den zeitweise kalten Wind kühlt der Teller bald aus und kann bedenkenlos gegessen bzw. gegoscht werden. Da das Gericht über sehr viel weniger komplexe Aromen verfügt als eine derartige Speise an einer Straßenecke des Orients oder auch eine Asiapfanne, kann und will man es rasch hinweglöffeln und -gabeln (Messer wurden nicht gebracht). Das Rasche am Essen im Rauen führt zur Bef leckung der Funktionsjacke mit gelben, nicht mehr wegzureinigenden Klecksen, die von weitem wie bernsteinfarbene Südseebroschen leuchten. Das Curry und die Gelbwurz sind somit und dadurch keine visible absences, sondern aus kolonialen Verf lechtungen und Mobilitäten sich ergebende Präsenzen, deren Konsequenzen in höchstem Maße ärgerlich sind. Nicht nur sind die Orte, deren frühere Bewohner viel zur See gefahren sind, Orte, an denen viel Tee
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getrunken wird, der mit (ebenfalls) bernsteinfarbenen Zuckerbrocken gesüßt werden kann und dessen Zutaten (sofern keine Milch genommen wird) ganz und gar aus Viktualien besteht, die aus dem globalen Süden, d.h. dem Orient und daher auch dem kolonisierten Raum, bezogen werden müssen, sondern diese Orte sind auch mit Stätten des Gedenkens versehen, an denen man sich der von ihren Schiffen gefallenen oder sonstwie gesunkenen Matrosen erinnern kann. Diese Matrosen sind vorstellbar als Akteure im kolonialen Raum, indem sie zu Schiffen gehört haben mögen, die Gelbwurz, Tee, Currymischungen oder auch Zucker geladen hatten. Diese Güter haben sie unter tatkräftiger Beteiligung von Trägern und Kulis an Bord genommen und dann vor Sylt in einem Sturm verloren.
Visible ab/presence. Westerland, Sylt 2017 Der auf Sylt ausgeschenkte und genossene Tee ist übrigens eine Ostfriesenmischung. Das kräftige Aroma wird durch Blätter aus Assam, Ceylon, Afrika, Java, Sumatra und Darjeeling hervorgerufen. Während die onomastische Schere zwischen Teenamen (Teonyme) und Ortsbezeichnungen (Toponyme) immer weiter auseinanderklafft, wird die Gelbwurz zum Beispiel auf Sansibar angebaut. Dort heißt dieses Gewächs manjano. Tee bezeichnet man als chai, Matrosen mit baharia und Brosche mit bizimu. Broschen wurden auf Sansibar und an den ostafrikanischen Küstengewässern in der Kolonialzeit unter anderem aus Buprestiden gefertigt, Prachtkäferbroschen, so etwa auch aus Steraspis amplipennis, var. zanzibarica.16 Doch das Toponym Sansibar ist auf Sylt längst zum Objektnamen verschoben, der Artikel hat sich in alltägliche Praktiken eingenistet. Man lässt 16 Werth 1915: 218.
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sich natürlich nicht nach Sansibar (Zanzibar) fahren, sondern in die Sansibar, eigentlich zur Sansibar. Das war nicht immer so. Im Gründungsmythos, dem Plot von der Bretterbude zum Kult, heißt es noch artikelfrei, ein Steuerberater habe dem heutigen Besitzer der Sansibar, Herbert Seckler, 1977 gesagt »Mensch, dann kauf doch Sansibar«.17 Ist Sansibar oder sogar Zanzibar also in der Sansibar doch präsent? Durchaus. Doch der Name funktioniert auf Sylt ähnlich wie ein Teonym: Er ist als Kennerbegriff und Ambientword in üppigem Gebrauch, wird jedoch in seiner scherenhaften Auseinandergeklafftheit und onomastischen Gebrochenheit nicht ref lektiert und somit auch nicht gewürdigt. Die Strandabschnitte Sansibar und Samoa – die ohne ein Wimperzucken noch heute so heißen – haben konsequenterweise auch keinen Gründungsmythos, sie besitzen keine ortsgebundene Etymologie, sie werden geschichtslos gemacht: »Die exotischen Namen ›Sansibar‹ und ›Samoa‹ waren allerdings nicht Vorschrift. Woher sie kommen, weiß bis heute keiner genau.«18 Die Sansibar ist zunächst einmal ein Ort der Offenheit. Ein Ort, der von vielen gemocht wird, und ein Ort, der sehr gut funktioniert. Jeder kann dorthin kommen, sich auf die Stufen der Strandhütte setzen, man wird auch dort recht persönlich bedient, kann aber auch einfach nur schauen. Man kann einen Tisch drinnen oder draußen reservieren und am schönsten wird es, wenn man immer wiederkommt. Die Rückkehr, das Sichauskennen, nicht mehr in die Karte schauen müssen. Die Sansibar ist ein tiefenentspanntes Zusammensein, mit gutem Essen, wenn man mag, erheiternden Getränken und einer zauberhaften Umgebung. Und hier und da steht man neben Prominenten oder Menschen, die herausleuchten. Am Abend blickt man auf das milchige Meer, raucht eine Cohiba, und wir sind dann kurz davor, richtig ins Schwärmen zu geraten und uns ins Ortsvergleichen hineinträumen, ein Himmel wie in … Claudia Welkisch hat das alles treff lich zusammengefasst und es gehört sich, das nicht zu übergehen: In seiner [Herbert Secklers] Sansibar soll sich jeder wohl- und willkommen fühlen – egal, ob Promi oder Postbote. […] Wenn der Sonnenuntergang die Dünen hinter der Hütte rot leuchten lässt, erklingt das Lied der Capri-Fischer – und vom Promi bis zum Postboten singen alle mit. Spätestens jetzt 17 Seckler & Griese 2014: 22. 18 Seckler & Griese 2014: 22.
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ist jeder glücklich und froh, gerade nicht auf Capri, sondern hier, an diesem besonderen Ort, zu sein, an dem sich wirklich jeder wohl- und willkommen fühlt.19
Was soll eine so schöne Seite das kapitalistischen Traumzauberlands mit Ingression zu tun haben? Was um alles in der Welt mit Kolonialismus? Ist es nicht einfach nur das Funktionieren eines wohlklingenden Namens – Sansi-
Sticker in der Carscape. Parkplatz Sansibar, Sylt 2017 19 Welkisch 2018: 58.
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bar ist vielleicht einer der schönsten Namen überhaupt –, um die Inselmobilität zu feiern? Von ganz unten im Norden, von »der nördlichsten Fischbude Deutschlands, also bei Gosch in List auf Sylt«,20 schnell nach unten zur Sansibar. Halbe Stunde. Mit dem neuen Auto, oder der Strand[f]21lotte von Europcar | Mercedes Benz, man könnte auch Die schwarze Flotte von Sixt nehmen, da ist auch gleich der Pirat mit gekreuzten Säbeln dabei, das passt. Und warum denn auch nicht. Nur weil Zanzibar in Ostafrika liegt? Mein Gott. Ab auf den Großparkplatz unten – das ist die angesagteste Marina auf Sylt, von den Dünen sieht sie ganz schwarz aus, denn schwarz muss es sein das Auto – noch Sticker in der Carscape schauen und dann heißt es BITTE STEIGEN SIE EIN | SANSIBAR SHUTTLE SERVICE | TÜREN ÖFFNEN AUTOMATISCH. Auch dies nicht weniger als eine sehr freundliche Geste. Höf lich geht es ohnehin zu. So lässt man sich gern zur Sansibar fahren. Bis nach oben. Oben angekommen ist es angenehm. Man ist wieder da. Ein paar Bänke weniger dieses Jahr. Probleme, Servicekräfte zu finden. Doch auch ganz schön, mehr unter sich zu bleiben. Und vor allem wieder hier zu sein. Fast niemand schaut hier aufs Handy, hier unterhält man sich, blickt sich an, genießt das Leben und freut sich an Gemeinschaft. Natürlich hat solche Freude auch mit Darstellung zu tun. Die performt man sehr gut mit Kind und Rassehund – am Strand auch mit dem obligatorischen Lamzac, ohne den man sofort als Outsider erkennbar ist. Hier treffen sich Menschen, die mehr oder weniger erfolgreich sind, manche auch mit beschrifteter und gelabelter Kleidung (einer von uns, in der Funktionsjacke, aber nicht, was sich blöd anzufühlen beginnt). Dazwischen die, die elegant und sehr teuer im deutlich wahrgenommenen Hintergrund bleiben (sicher nicht die eben genannte, gelb beschlabberte Funktionsjackenperson). Der einzige Wifiname hier oben, FREE MEE, durchkreuzt die Szenerie digital und scheint mit Uriah Heep orthographisch eigenwillig zu rufen »Free me / Why don‘t you free me / Free me from your spell.« Von einem Zauber befreit werden, der hier vielleicht doch herrscht. Viele solcher Geister wohnen im Wasser, auch am Strand. Oder MEE bedeutet etwas ganz Anderes. Mal schnell googeln. Scheint tatsächlich irgendeine WLANsache zu sein. Handy wegstecken, macht hier keiner, aufs Smartphone zu stieren. Fällt sofort auf. 20 Stuckrad-Barre 2001: o.S. 21 Das Graphem spielerisch durch den ikonographisch werttragenden Inselumriss substituiert.
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Black Sansibar. Sylt 2017 Und doch kehrt sich hier auch etwas um. Die schönen Dünen treten in den Hintergrund, Sylt ist hier eine Kulisse. Denn zum Funktionieren der Sansibar gehört, dass der Shuttle nicht für die Besucher da ist, sondern die Besucher, um den Shuttle als Sansibarprodukt auszustellen. Auch das ist supernormal und mit Exotismus hat das eigentlich gar nichts zu tun. Man umgibt sich lieber mit Logos, begleitet von kulinarischen Ritualen. Trinkt Sachen, die von Lebensart erzählen, trinkt sich jedenfalls auf keinen Fall ins Tropenfeeling (oder ins Afrikafeeling, auch weil es ja immer noch Sansibar heißt).22 Es geht um einen spätkapitalistischen, neokolonialen Lebensstil oben, dort, wo man das Anderswo ohnehin nicht sieht und wo man es sich leistet, darauf zu verzichten, daran erinnert zu werden. Es gibt hier deswegen auch keine Curryrahmnudeln, sondern scharfe Nudeln mit Lachs in Pepperonikäsecreme oder Knoblauchbutterpfanne. Hier müssen wir nicht an die mühsam aus Ostafrika herbeiverschif f te Gelbwurz denken und an all die Ertrunkenen. Hier gibt es auch wenige Teetrinker, denn die Sansibar bietet Erdbeerbowle, und vor allem auch schön gestaltete Flaschen, die Hugo, Bellini oder auch Six Berry’s beinhalten. 22 »Sansibar ist anders, in der Zeit gefroren und doch im Heute angekommen, eine Art Ibiza Afrikas, eine Insel mit einem Lebensgefühl, als läge Marrakesch auf Sylt, plus einer Prise Kuba.« (Tapper 2015: 12).
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Da gibt es nicht die distanzierende Strenge der Assam- und Ceylonteemischungen und der für ihren Genuss vorgesehenen Bechertassen mit Moinmoingruß, sondern vertrauliche Dinge; bitte mit viel Parmigiano und Pinienkernen. Wir überlegen, ein kühles Getränk zu bestellen, scheitern aber beim ersten Mal an der Missachtung unserer in ungelabelten (wenn auch schick gelb gebroschten) Funktionsjacken und Feldforschungspullovern steckenden Personen. Dennoch gelingt uns schon hier ein nettes Gespräch mit einer Dame aus dem Hessischen. Wir sind uns für einige Minuten nah, weil wir gemeinsam inmitten des Familienhunde- und Kellnergetümmels Fremde bleiben. Unsere Gesprächspartnerin hat uns jedoch voraus, bereits mit Herbert Seckler geredet zu haben, als dieser sich in einem der letzten Sommer nach dem Geschmack ihres Edelfischtellers erkundigt hatte. Diese Erfahrung erweist sich als trennend und wir gehen weiter, in die Dünen, zum Strand, da, wo sich vielleicht einst, damals als die baharia ganz in der Nähe elendiglich ersof fen, Strandräuber hinter dem Heidekraut und Gras versteckt und gegebenenfalls sogar verschanzt hatten. Wir haben das Bedürfnis, uns abzugrenzen und werden doch auf kurz oder lang, nämlich schon beim nächsten Besuch der Sansibar, Teil des kleinen Inseluniversums. Und das macht enorm Spaß. Wir müssen uns richtig Mühe als Forscher geben, unsere Ingressionsanalyse fortzusetzen. Der beglückende Konsum all der Wohlfühlmomente überlagert, was wir hier eigentlich analysieren wollten: Koloniale Dauer. Sind die Konzepte der Ingression, der Kolonialität und der visible absence für die Wahrnehmung einer solchen konsumistischen Erholungswelt nicht doch zu große und auch irgendwie krampf haf te Kritikgeschütze, was dann ein ziemlich gewaltvolles, unentspanntes Vorgehen beim Feldstudieren bedeuten würde und letzthin auch Ausweis eines ziemlich prätentiösen akademischen Auftretens, mit dem man sich schnell lächerlich machen kann, bereits vor sich selbst und vor anderen sicher noch viel mehr? Sind Alkohol und Marken, Brands und Drinks nicht einfach Freizeit pur und ein harmloser Transgressionsraum, in dem man eben auch einmal eine dicke Zigarre am Strand raucht und als Paar mal auf dem Lamzac liegt? Muss man die Sansibar und die Lieblingsinsel der Deutschen hier nicht vor zu ambitioniertem akademischen Fallout bewahren? Das verdirbt doch wirklich die Laune. Nur weil zwei Leute ein Buch schreiben wollen. Hierherzufahren und nur wegen einem Namen eine Dekonstruktion von etwas zu versuchen, das Menschen lieben. Das ist doch auch unfreundlich.
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Neulich habe ich versucht, einen Tisch in der Sansibar zu reservieren. Zwei Wochen im Vorfeld? Ja. Das ist ja lächerlich. Wir buchen immer schon für‘s nächste Jahr. Hätte ich Ihnen sagen können, dass Sie da nichts mehr bekommen. Aber draußen können Sie’s immer versuchen. Ist wirklich nett. Fahren Sie mal hin.
Diese Selbsteinwände sind berechtigt und dennoch lassen wir uns so schnell nicht davon abbringen, auch das zu sehen, wofür wir mit unseren Funktionsjacken hierher gefahren sind. Ist bei dem ganzen Aufwand ja wohl auch verständlich. Wir bleiben also, obwohl wir uns in der Sansibar wirklich zunehmend wohlgefühlt haben, noch beim Namen Sansibar. Dieser steht auf Sylt bei aller Schönheit der Stunden, die man dort zubringen kann, emblematisch23 für das perfekte Funktionieren der sichtbaren Abwesenheit eines Anderswo. Inzwischen übrigens auch weit darüber hinaus in Sylter Sansibar Stores, dem Rantumer Outlet, in den zwei Hamburger Stores, dem Store in Baden-Baden und natürlich auf Mallorca sowie im Onlinestore. Gemeinsam ist allen das Angebot, das Anderswo zu kaufen, ohne dass dies gemeint ist: Für alle, die es aus irgendwelchen Gründen nicht auf die Insel schaffen, ist ein Stück Sansibar außerhalb unserer Hemisphäre geschaffen worden – die Sansibar Stores. Dort finden Sie all die Sansibarschen Kostbarkeiten, die Ihnen sonst verwehrt bleiben würden.24
Die possessive Hemisphäre, unsere nämlich, ist natürlich die Sansibar, der Ort des Sylter Kults, dem man angehört, den man temporär erwerben kann. In der Hemisphäre sein. Was außerhalb ist, bleibt anderswo. Doch auch dort seien die Sansibarischen Kostbarkeiten ja zu erwerben. Alles also kein Problem. Alles gut. Es ist das Versprechen, dass einem nichts verwehrt bleibt. Hier ist die Heilung omnipräsent. Dies ist die Funktion des Namens Sansibar, der das Anderswo konsumiert, in Wohlklang auf löst und als Label in den Dienst einer schönen Zeit stellt. Sansibar verweist auf Zanzibar, ohne es zu tun. Möchte es auch gar nicht, das würde geradezu stören. Hier wird etwas mit ziemlich viel schönem Aufwand und ziemlich gut funktionierenden Heilungsversprechen draußengehalten. Doch genau das ist es ja, was 23 Siehe Agha 2007. 24 Link: Sansibar Stores.
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Kolonialität ausmacht, ein Ausschluss und die Konsumption der Nichtung. Es ist fraglos ein zauberhafter Moment, wenn es plötzlich aus den Lautsprechern mit Rudi Schuricke beschwingt wie in den Nachkriegsjahren und eh und je erklingt, Claudia Welkisch hat es ja schon angekündigt: Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt, Ziehn die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus, Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.25
Jetzt ziehen wir in Gedanken ganz weit hinaus und fragen dennoch, warum werden hier die Nachkriegsjahre gefeiert, ein Lied, wenn wir es recht sehen, entstanden bereits im Kriegsjahr 1943, nach dem Krieg so beliebt, warum Capri, wo um alles in der Welt ist denn eigentlich Zanzibar bei all dem? Ein witziger Verweis auf die Historizität des Ortes? Rekontextualisiert und dadurch lustig, ein wenig campy auch? Selbstverständlich fallen diese Fragen heraus aus der Harmonie des Augenblicks, aber sie sind notwendig und auch gar kein Gegensatz zur Anerkennung der Gastfreundschaft des Betreibers der Sansibar, Menschen so zahlreich heiter zu stimmen. Denn es ist die Verknüpfung von gutem Leben und abwesend ferner Welt, die Kolonialität ausmacht. Das ist alles kein Widerspruch, und Heiterkeit schon gar nicht. Sylt ist ein ingressiver Raum und Kolonialität ist auf eine sehr beiläufige Weise präsent und dringt immer weiter ein in die territorialen Markierungen der Insel, so wie die Gelbwurz in das Weiß der Funktionsjackenvorderseite. Das ist ja gerade das Heilungsversprechen der kolonialen Ideologie, oben sein zu können und nicht daran denken zu müssen, was in anderen Welten unten geschieht, in Welten, die man fort und fort ruiniert und in die man sich selbst moralisch hineinruiniert. Das kennzeichnet auch Konsumismus, dass der Kauf und Besitz entscheidend sind, nicht ihre Voraussetzungen. Alles schon mal gehört. Dass manche, die es auf die Insel verschlagen hat, dennoch nicht in der Sansibar waren und das vielleicht auch nie vorhaben, wollen wir aber auch festgehalten: »ist lecker, da war ich aber noch nicht«.26 Die Sache ist also so unspektakulär, weil diese ganze Ingression auch banal ist. 25 Schuricke 1943. 26 Raumpflegerin Westerland, Sylt. 29.07.2017. Hier werden natürlich die Heterotopien des Strands aufgerufen, die nicht nur die Kulinarik-als-ob als Konstruktionen der Deviation
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Diejenigen, die es zur Sansibar und bis nach Gosch gebracht haben und die hier vertraut und fast zuhause sind, vielleicht ein Häuschen oder sogar eine Ferienwohnung besitzen und auch einen großen, üppig behaarten Hund und auch ein Auto, möglichst in schwarz und mit einem Sansibar- oder Syltsticker, und die den einen oder anderen hier gut kennen und die eine Erdbeerbowle im Strandkorb vor den Dünen trinken, die tragen ihre Legitimation zum Besiedeln des Nichtortes, der sich hier zwischen Dünenpfad und Verbundpf laster erstreckt, am Körper. Nur keinen Neid. Man kleidet sich in weicher hochwertiger Baumwolle, in ungebrochenen, höchstens etwas aufgehellten Primärfarben, manche mit reichlich Applikationen, die an den Rändern ausgefranst oder genietet oder maschinenbestickt sind. Die Aufschriften sind eindeutig: Zahlen, immer wieder Sansibar, SNB. Man kennt sich, ist ein Team, eine regelrechte Besatzung, lebt in einer Hemisphäre, ist manchmal auch Teil einer in Kindergartenkleidung gehüllten Piratenmannschaft, freundlich, amüsiert und schon wieder ein wenig hungrig. Ein Ritornell des Vergessens. Wir befinden uns in einer Heilung versprechenden, trivialen Welt. Unsere das Reizklima einst anderswo suchenden Großmütter hätten hier nicht hingepasst. Angebadet haben die noch. In unifarbenen Badeanzügen, bzw. zart türkis-blau kariert, polyestriges Glencheck. Ein schönes Seidentuch und ein f laschengrüner Pullover, geschmückt mit Brosche, und feste gute Lederschuhe in einem unaufdringlichen Braun. All das findet man in der Sansibar nur als Versehen (das wollte ich mir mal anschauen, ist ja auch interessant). Zur applikativen Kleidung passen Hundenäpfchen und Strandtücher mit gekreuzten Säbeln, die auch Genußmittelumverpackungen, Pillendöschen und vieles mehr zieren. Die Sansibaraufschrif t wird auf der Korbtasche mit zurückhaltenden Lederapplikationen (zur Verstärkung des Henkels) zur Besonderheit, einer Tasche, welche in Farbe, Form, Material beinhalten, sondern auch durch spezifische Operationen an unterschiedlichen Punkten der Geschichte, Juxtapositionen verschiedener unzusammenhängender spatialer Elemente in einem einzigen Raum, temporale Diskontinuität, Annahmen kontrollierter Eintritte und kontrollierten Verlassens, sowie Funktionsweisen, welche Räume als Illusionen fassen lassen, gekennzeichnet sind. Es ist heute nicht mehr ungewöhnlich, dass Raumpflegerinnen sich mit Foucault auseinandersetzen, im Gegenteil – einer von uns hat selbst während des Studiums geputzt; der andere übrigens in der Druckerei gearbeitet und das ist nun auch nicht soweit von Foucault entfernt, auch wenn es um Zeitungen und Prospekte ging.
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und Gestaltung der Zanzibartasche entspricht, die ein echtes Ding ist und kein genichtetes Objekt, und in der einer von uns mehrere Semester lang seine Sachen fürs Studium durch die Uni getragen hat. Vielleicht hätte man dieses Mal anstelle des innen schon ganz sandigen Rucksacks die Zanzibartasche zur Sansibar mit hinnehmen sollen. Kann man ja auch
Beach Rendezvous. Sylt 2017
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beim nächsten Mal machen. Die Beduinentasche aus Kairo wurde bei unserem zweiten Besuch auch vergessen. Dass man zur Sansibar, nicht nach Sansibar fährt, ist lediglich der sprachstrukturelle Ausweis einer fortgeschrittenen kommodifizierenden Produktivität neokolonialer Ordnungen. Auch die Speisekarte der Sansibar ist wie gesagt frei von kolonialen Bezügen. Die Sylter Sansibar ist schon außergewöhnlich, das ist keine Frage, ein anderer Ort als etwa ihre dänische Entsprechung, das vielleicht ironisch auf die Sansibar anspielende »Restaurant Zanzibar« in Rømø oder ihr italienisches Pendant in Marina di Pietrasanta – auch wenn das nahegelegene mondäne Forte dei Marmi eine Exklusivität besitzt, die man auch auf Sylt erahnt, hier und dort zumindest. Das Zanzibar an der Versilia wirbt als Exotic und Tropical Bar mit Bildern, die offensichtlich auf Zanzibar verweisen, würzt gewaltig mit allerhand Karibikanspielungen, Holzmasken, Seeräuberromantik (die es zugegebenermaßen auch in der Sansibar gibt) und grüßt allerorten fiktiv mit KOHAU; nach Auskunft des Besitzers ein Erfindungsgruß.27 Etwas Ähnliches gibt es auch im Sansibar auf Mallorca, unweit des Ballermann an der Playa. Auch hier bewirbt und bedeutet der Name des Etablissements tropische Cocktails und mit Südfrüchten reich garnierte Eisbecher. Der Bezug zu Sylt wird hier jedoch nicht über die Piratenikonographie hergestellt, sondern durch den Gebrauch des Apostrophs als graphematischem Du bzw. Du’s, welches das Ambientword 8Crepe’s8 ziert. Das Apostroph hat, mit anderen Worten, die Funktion, Nähe herzustellen und Unbekümmertheit zu suggerieren. Diese anderen Sansibars lenken hier also nur ab. Es ist die Sylter Sansibar, die uns die drängende Frage aufgibt, worin denn nun eigentlich Neokolonialität beim Urlaubmachen besteht und ob es eine solche heute und vor allem hier oder wo überhaupt gibt. Verstehen wir Kolonialität als eine Welt- und Wissensordnung, in der Heilung der eigenen Unsicherheiten und Ängste durch überlegene Verletzung eines Anderen versprochen wird, gekleidet in das Gewand einer räumlichen Expansion, Ausbeutung von Körpern und Gütern, gehüllt in rassistische Legitimationsdiskurse und den Anspruch, für eine so genannte Zivilisation eintreten zu müssen, dann folgt daraus schnell ein simples Weltbild, eine Vorstellung des Lebens in binärer Gegenüberstellung. Hier das Innen, da das Außen, hier das Oben, dort das Unten, hier Nord, dort Süd, 27 Silvia Bonacchi sei für diese Auskunft herzlich gedankt.
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Zanzibar Marina di Pietrasanta, Versilia 2017 – Sansibar El Arenal, Mallorca 2018 hier die überlegene Zivilisation, dort das illiterate Naturvolk, hier Weiß, dort Schwarz usw. Eine solch simple, aber im Kolonialismus höchst wirkungsvolle Matrix findet sich in neokolonialen Welt- und Wissensordnungen kaum mehr. Dazu haben dekoloniale Diskurse viel zu wirksam eingegriffen in die nördliche Sicherung in Binarismen. Neokolonialismus folgt nicht mehr hemisphärischen Modellen und Gegenüberstellungen, sondern löst diese auf in eine nicht minder wirkungsvolle konsumistische Verschiebung verschiedener Welten ineinander. Es geht dabei um etwas, was wir situatives Blending nennen können, also Übergänge und Mischungen in kleinsten Zeitabschnitten. Neokolonialismus ist damit viel unverbindlicher als eine institutionalisierte Zurüstung im Kolonialismus, die mit Gouverneuren, Ämtern, Gesetzen, Schiffahrtslinien, Truppen, so genannten Handelsverträgen und anderen Maßnahmen der Fixierung von Macht arbeitet. Aber auch im Neokolonialismus geht es um Heilungsbegehren, nicht zuletzt um die moralische Heilung von Schuld als ehemals deutlich wahrnehmbare koloniale Akteure – auch die Verbindung von Kolonialismus und Faschismus sollten wir nicht aus den Augen verlieren –, es geht auch hier um das Verlangen, schuldlos, legitimiert, aufgehoben und glücksberechtigt zu sein, dies aber nicht durch die Konstruktion einer riesigen Apparatur der binären Weltordnung, es geht im Neokolonialismus und den Sprachspielen darin nicht um Trennung von einem Anderen durch seine Unterwerfung,
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sondern vielmehr um temporäre Verschmelzungen, Überlagerungen, es geht um die Immersion ins Anderswo, ohne dieses nennen zu müssen, wahrnehmen zu müssen, zum Thema zu machen. Der Sextourismus in den globalen Süden zeigt vielleicht am krassesten die Ausbeutung des Anderswo. Die kolonisierenden und kolonisierten Teile der Welt verschieben sich unverbindlich ineinander, temporär, kaum wahrnehmbar, sehr privat und vereinzelt. Und so unbedeutend es dabei auch sein mag, dass es irgendwo an der Nordseeküste einen Ort namens Sansibar gibt, der Zanzibar nicht kennen will, so bedeutend ist gerade dies, weil es genau die Signatur der neokolonialen Welt- und Wissensordnung trägt. Zanzibar wird sprachstrukturell und morphologisch zu einer Bar – hier gleichbedeutend mit Dünenrestaurant –, also mit dem Nomen Bar überlagert und schon ist die Sansibar geboren. Hier ist nichts getrennt, sondern verschiebt sich ineinander. Der vielleicht einst noch exotisch und kolonial klingende Sylter Ingressionsname klingt dabei zunehmend autonom, und trägt nur noch sehr vermittelt eine kleine Spur von Exotik in sich, die Heilung verspricht, ohne dass an Exotik zu denken ist, eher eben noch an die Bar. Dass das auch eine sehr korrekt anmutende Form der neokolonialen Feier ist, bei der man nicht exotisierend, orientalisierend, kolonisierend auffällt, zeigt, wie geschickt solche Mikrozonen der neokolonialen Welt in den Apparat der globalen Komsumkette mit ihrem moralischen Heilungsversprechen eingebunden sind. Einer von uns hat ein Fussballshirt aus Zanzibar getragen, mit einer mehr als deutlich zu lesenden Zanzibaraufschrift. Das interessiert hier aber niemanden. Es wird noch nicht einmal als ein ironischer Kommentar wahrgenommen. Es fällt einfach aus dem Raster der Aufmerksamkeit. Zanzibar ist hier ein okkultes Toponym, eine verborgener Ortsname. Und all das ist vollkommen normal, gut auszuhalten. Weil die Nichtung des Anderswo in den kleinen Praktiken der Überlagerung gastfreundlich geschieht. Natürlich können wir uns nur schwer vorstellen, dass es auf Zanzibar eine Sylter Stube gibt, vielleicht in Jambiani, oder ein Restaurant Helgoland in Paje, und dass dort Heringssalat nach Hausfrauenart mit Bratkartoffeln angeboten wird. Aber so etwas gibt es ja auch nicht. Und schon gar nicht eine Sylter Stube am Kilimandscharo, in der kein Mensch an Sylt denken würde. Neokolonialismus hingegen funktioniert gerade durch dieses Nichts. Der Konsum fernklingender Namen – Sansibar, Samoa, Abessinien – mag im
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kolonialen Heilungsbegehren entstanden sein, inzwischen hat er sich aber seiner Herkunft entledigt. Auch wenn es dabei zu schiefen Verschränkungen kommt, wie dem Sylter Ort Samoa Seepferdchen, einem merkwürdigen Blending, das wohl ebenfalls gut funktioniert. Die Transgressionsnamen sind Wohlfühlembleme für Räume des Heilungsversprechens. Nicht aber eine Heilung durch Verletzung des Anderen, sondern durch Nichtung des Anderswo in der Überlagerung von kolonialer Bedeutung und Assoziation mit Konsum. Die Sansibar ist eben nicht Tadjem Deel oder eine beliebige Helgoländer Stube, sondern ein Ort, der auch deshalb funktioniert, weil in ihm ein auf hebender Bezug auf das Anderswo und damit Andere gelebt wird, in dem Heilung liegt, denn zu heilen – von was auch immer, vor allem wohl von Schuld –, ist eine Erfüllung des Wunschs nach Nichtung. Hierzu passt auch das perfekte Eintreiben der Caprifischer. Ein Lied der Nichtung des Hier und Jetzt und der Transgression in eine Welt der aufhebenden Sehnsucht nach Heilung. In den Sonnenuntergang hineinhören und geheilt werden in der Auf hebung aller Komplexität. Die Neokolonialität der Sylter Ingressionsnamen liegt in ihrer Entkleidung jeglichen kolonialen Bezugs. Neokolonialer Tourismus ist eine schöne Überblendung der Nichtung des Anderswo mit der eigenen Welt. Ja, noch einmal, die Sansibar ist für die, die hier sind, schön, auch uns geht es gut hier. Und das Ganze hat eben einfach nichts mit Ostafrika zu tun. Keine Malaria, kein Gelbfieber, keine Schlaf krankheit. Versprochen wird ein Ort, an dem es keine Verstrickung in die Machtordnungen der Gewalt und Ausbeutung gibt. Zugang zu dieser guten Welt findet man durch Konsum. Mit dem Namen fängt das an, eine Aneignung, eine Überschreibung. Ein Konsum, der nichtet und eine solche Nichtung der Nichtanerkennung des Anderswo in den Ferienalltag blendet. Dabei begegnet uns kein simpler Eskapismus – mal rasch am Sonnabend auf das Mittelalterspektakel gehen –, sondern eine ausgeklügelte Auf hebung. Die Sylter Ingressionsnamen und ihr täglicher Gebrauch in den angenehmen Urlaubswelten belegen das überdeutlich. Doch die neokoloniale Nichtung des Anderswo als Teil eines Heilungsversprechens ist nicht weit entfernt von der Vernichtung der Anderen im Kolonialismus. Sie ist nur deutlich vermittelter, legal, moralisch unverfänglicher, ethisch unauffälliger. Und sie ist vor allem viel kurzzeitiger, hier und jetzt verkauf bar und käuf lich. Genau mit diesem Gesicht ist die Sylter Sansibar ein angenehmer Ort, an dem eine perfekte Gastfreundschaft herrscht, ein
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Ort, an dem man ankommen kann, zu dem man vor allem zurückkehrt – und das alles ist nicht wenig. Aber die Sansibar ist gerade damit auch ein Ort der neokolonialen Welt- und Wissensordnungen, und damit Nichtung des Anderswo, ohne die neokoloniale Heilungsversprechen nicht verkäuf lich sind. Es ist nicht eine koloniale Amnesie, die dabei den Ton angibt, sondern die Auf hebung des Kolonialen im Konsum. Eine Auf hebung im doppelten Sinne des Wortes, auf den wir noch zu sprechen kommen. Neokolonialismus funktioniert also im Beiläufigen, an partikulären Orten, in kleinen Situationen. Nicht der große koloniale Ausbeutungsmechanismus, keine andauernden Sprachverhältnisse zwischen Kolonialsprachen und kolonisierten Sprachen, nichts, was bleibt und prägt und verfolgbar wäre. Statt dessen temporäres Blending, kurzzeitige Nichtungen, vorübergehende Auf hebungen, ein Mosaik vieler kleiner Gesten, Handlungen, Namen, Lieder, Speisen, Kleider, Getränke und Momente. Auch wenn Sylt im globalen Maßstab sicher eine Quantité négligeable ist, führt gerade dieser kleine Inself leck mit seiner noch viel kleineren Sansibarzone wegen seiner Nichtung Zanzibars vor, was neokolonialen Tourismus ausmacht. Und so wird ein hübscher Ort namens Sansibar zur Chiffre einer großen Verknüpfung, deren Gesicht die performative Auf hebung solcher Verknüpfungen ist. Wie wäre es, in der Sansibar eine Modenschau der zanzibarischen Designerin Doreen Mashika stattfinden zu lassen, einen Freddie Mercury Abend zu feiern, Andrea Tapper zu einer Lesung einzuladen, Said al-Gheity von Prinzessin Salme erzählen zu lassen, ein Forodhani Dinner Menu anzubieten, zum Sonnenuntergang jeden zweiten Tag Taarab zu spielen und einen sansibarischen Dialog zu beginnen? Einen Wunderort an der Nordseeküste aus seiner Nichtungspraxis zu erlösen und im Respekt gegenüber Zanzibar ganz neue Verf lechtungen zu ermöglichen, eine neue Sprache zu finden, die nicht beiläufig, partikulär, situativ, konsumistisch ist, sondern Begegnungen zwischen Zanzibar und Sansibar ermöglicht? Oder wäre auch das nur ein Heilungswunsch, der neue Ruinen hinterlassen müsste? Braucht die Sansibar einen zanzibarischen Kurator, der dem Hier und Dort mit Liebe begegnet? Festzustellen ist jedenfalls, für Sylt im Großen und Ganzen, dass die Insel ein Kultort des deutschen Urlaubsalltags ist. Im vermeintlich Besonderen, nämlich dem Reizklima und der Ferieninsel, befindet sich das, was man sonst so kennt, die Fußgängerzone mit Verbundpf lasterung und Backshops, der
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Bei Abessinien. Sylt 2017 Vertriebenengedenkstein und die Blumenkübel aus Gussbeton. Diese Alltäglichkeit ermöglicht ein Eintauchen in vermeintlich authentisches Leben. Dennoch: Wir sind nicht davon zu überzeugen, dass die Sylter Kolonialnamen ihre kolonialen Bezüge tatsächlich verloren haben – oder davon, dass sie vielleicht sogar nie welche hatten. Dass es nur um Hülsen früheren Sprachgebrauchs geht, um bedeutungslose Archaismen, die höchstens noch ein wenig exotisierend wirken mögen für die, die unbedingt darauf herumreiten wollen. Im Tourismus geht es um die paradoxe Iteration von Ideologie durch ihre vermeintliche Auf hebung. Es geht noch nicht einmal um eine Sehnsucht nach Zanzibar, um Sansibar als einen letzten, dritten Grund, um Rerik zu verlassen, wie bei Alfred Andersch: Aber, dachte er, man muß doch hinaus können, es ist doch unerträglich, daß man Jahre warten soll, um etwas zu sehen zu kriegen, und selbst dann ist es noch ungewiß. Er zog eine seiner Landkarten hervor und breitete sie aus, er hatte den Indischen Ozean erwischt und er las die Namen Bengalen und Chittagong und Kap Comorin und Sansibar und er dachte, wozu bin ich auf der Welt, wenn ich nicht Sansibar zu sehen bekomme und Kap Comorin und den Mississippi und Nantucket und den Südpol. […] Der Junge ging zum Fenster, von dem aus man die ganze Stadt überblicken konnte,
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und er sah auf die Türme im Flutlicht und auf die Ostsee, die eine dunkle Wand ohne Tür war. Auf einmal fiel ihm der dritte Grund ein. Während er auf Rerik blickte, dachte er Sansibar, Herrgott nochmal, dachte er, Sansibar und Bengalen und Mississippi und Südpol. Man mußte Rerik verlassen, erstens, weil in Rerik nichts los war, zweitens, weil Rerik seinen Vater getötet hatte, und drittens, weil es Sansibar gab, Sansibar in der Ferne, Sansibar hinter der offenen See, Sansibar oder den letzten Grund.28
Sansibar als der letzte Grund. Da geht es tatsächlich um etwas. Im nationalsozialistischen Deutschland sind wir hier, aus dem man rauskommen muss. Die Sylter Sansibar ist zwar auch ein Ort des Rauskommens, aber ein Ort in einer Welt mit hellen Wänden und vielen Türen; hier lebt man nicht im Nachkriegsroman, hier lebt man für eine Zeitlang gut und schön und gern und angenehm und entf lieht nur seinem Alltag. Im Vergleich damit bewegen wir uns bei Alfred Andersch schon in diesen wenigen Zeilen in einem ganzen Resonanzraum der Ortsbezüge und räumlichen Transitionen.
Karte 1 | Anderschorte 28 Andersch 1957: 109-110 [Kursivierung im Original].
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Schließen wir diese Analyse ab: Welche Funktion ist den Sylter Namen Sansibar, Samoa, Abessinien und Klein Afrika gemeinsam? Es handelt sich um linguistische Pfade. Die Namen funktionieren als Ingressionspfade. Durch ihre Verwendung und die mit ihnen verbundenen Alltagspraktiken wird Kolonialität sichtbar absent gemacht und bleibt damit persistent. Das hat Konsequenzen für das Verfahren unserer weiteren Raumwahrnehmung. Denn auch wir müssen paradox operieren, den vermeintlich gut greif baren linguistischen Gegenstand – das in der Toponomastik ehrenvoll gefeierte Toponym – hinter uns lassen, um die Funktion des Namens überhaupt fassen zu können. Von Teonymen wollen wir jetzt gar nicht mehr reden, obgleich das lohnend wäre. Ruhe! So wie das, was wir machen, keine Linguistik ist und gerade deshalb Linguistik. Die Sylter Ingressionsnamen werden als koloniale Konstrukte nämlich zunächst entreferenzialisiert, ihre entscheidende Namensfunktion verlieren sie, um in Praktiken ihrer emblematischen Nutzung im Kontext der visible absence zu Pfaden zu werden, und das heißt, eine neue Namensfunktion zu erhalten. Namen verweisen hier nicht auf koloniale Orte, sondern sie greifen in den Raum ein und machen Koloniales auf einladende Weise unsichtbar.
Sansibar in Westerland. Sylt 2017 Das Verschweigen ihrer einstigen – und auch noch heutigen – Referenten wird zum wirkungsvollen Instrument von Neokolonialität, sie ist Voraussetzung für die Inwertsetzung der neuen Namensfunktion. Im touristischen Raum wird das umso deutlicher, weil hier nichts bleibt, was nicht funktioniert. Sansibar, Samoa, Abessinien und Klein Afrika, sie sind geblieben, weil sie funktionieren. Die Tasche auch, Teonyme dito. Dass Abessinien übrigens dadurch auffällt, dass es im Gegensatz zu den anderen Transgressionsorten multilokal ist, bleibt festzuhalten. Abessinien auf Sylt zu finden, kann schon etwas dauern, wenn man es denn überhaupt
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findet. Die folgende Syltkarte ist daher für die Lokalisierung von Abessinien unter Vorbehalt zu lesen:
Karte 2 | Sylt ingressiv
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Auch wenn es sich bei Sansibar, Samoa, Abessinien und Klein Afrika also um Toponyme handelt, können wir die mit ihnen verbundenen Ingressionsmechanismen nicht mit in der linguistischen Forschung beglaubigten, sogenannten onomastischen Verfahren erklären. Es geht nicht um Fragen der Benennung, sondern um das magische Meta. Innerhalb von Deutschland verbinden viele Menschen mit dem Namen Sansibar inzwischen zuerst die Sansibar Sylt und erst an zweiter Stelle die afrikanische Insel.29
Von den Namen funktioniert Sansibar am besten und am lautesten. Denn »Sansibar ist Kult«.30 Die Sylter Sansibar hat heute nicht mehr zu tun mit der schwülen Eloge, die Gunter Sachs ihr widmet: »Sansibar« – jenes Eiland aus Tausend und seiner letzten Nacht, erzählt von prunkvollen Wüstenzelten, kristallenen Palästen und jenem geheimnisvollen Sesam, dessen Zauberwort – im Gegensatz zu liechtensteinischen Stiftungen und Schweizer Banken – nur Ali Baba kannte. 31
Zum leuchtenden Abendlicht und der gastfreundlichen Schönheit des Ortes gehört, dass die Sansibar als In-Tref fpunkt performt wird, als Store, als Depot, als Outlet, als Applikation, als Auf kleber, als Story, als Label für Kleidung made in Taiwan, als Webadresse, als Marketingcoup, als Grenzregime, als Feeling und vor allem als Medium für Werbung, Werbung, Werbung. Sansibar ist ein kommerzielles Universum, in dem sich Mercedes als Summer Experience Sansibar Sylt ebenso sansibargebrandet und -gewendet bewegt wie VELTINS, PHILIPS mit der Idee der LED ISLAND Sylt – Wir lassen Sylt leuchten –, das Ministerium für Energiewende, Landwirtschaf t, Umwelt und ländliche Räume Schleswig-Holstein, die Osmo 29 Link: Westwing Home and Living. 30 Taxifahrer auf der Fahrt zur Sansibar, 29.07.2017. Ein Taxifahrer kennt die Menschen und weiß auch kleine Zeichen zu deuten. Wenn ein Taxifahrer etwas so Knappes und iterativ Ruminiertes wie »Sansibar ist Kult« entäußert, kann man eigentlich sicher sein, dass eine Gesprächsvermeidung intendiert ist, oder dass gerade eine ironische Brechung stattfindet. Daher könnte man dieses Zitat auch weglassen. Aber warum sollte man. Gesagt ist gesagt. Und Wiederholungen sind auch ein interessanter wissenschaftlicher Gegenstand. 31 Sachs 2014: 35.
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Gartenholzkollektion, Trendsport Rummenigge, die MS-Europa, der Vorwerk Thermomix, Mövenpick und weitere Koalitionäre des Profits wie SAP. Sylt ist die Kulisse einer Produktausstellung und das zentrale Produkt heißt Sansibar. Merkwürdig vielleicht, was man auf den Toiletten findet. Auf der Herrentoilette war im letzten Jahr noch das goldgerahmte Bild einer lasziv halb be/entkleideten Frau, die aus Afrika stammen könnte, auf der Damentoilette ein Holzelephant als unübersehbar übergroßer Türstopper. Wenn man das sieht, fügt sich Gunter Sachs doch in irgendetwas ein, in eine orientalisierende Assoziationskette. So wie ein Sylt, von dem Ludwig Harig mit schon satirisch anmutendem neokolonialen Gestus in seinem Frühlingsbrief von der Insel Sylt schwärmt, ein Text, der den sprechenden Titel Zwischen Sansibar und Samoa hat. Was so abwesend ist auf Sylt und dennoch so sichtbar gemacht wird – das Anderswo – bei Harig ist es selbst in den unsichtbarsten Dingen präsent: »Die Dünen sind Saharadünen, die Strände Südseestrände«,32 »kein Wunder, wenn Peter Suhrkamp sich in der Sahara, Ernst von Salomon sich am Strand von Abessinien wähnte«.33 Dass die Kolonialimaginationen eingebunden sind in den kommodifizierten Raum von Inselmobilität und Konsumismus, entgeht dabei aber auch Harig nicht: »auf dem Parkplatz von Samoa begrüßte uns das gelbe Schild mit dem Dromedar von Camel«34. Die Sansibar selbst ist stets das Gegenteil des Unsichtbargemachten. Sansibar erscheint überall, weil es überall evoziert werden kann – als Objekt von Konsum, Bestandteil von Alltagsf lucht oder als imaginiert gemeinschaftliches Erinnerungsmoment, der sich auf alles Denkbare, von der gemeinsamen Mahlzeit bis zum in der Kindheit gesehenen Piratenfilm, beziehen mag. Diese semiotische Beliebigkeit, die sich im Übrigen auch in den arbiträr wirkenden Praktiken und Verortungen von branding bemerkbar macht, ist dabei ein wesentlicher Teil der Stilllegung und des Verschwindenlassens von schwierigem Erbe.35 Das sichtbare Sansibar jedoch scheint alles Weitere auszuradieren. Es ist nicht nur Teil einer großen und of fenbar profitablen Produktaus32 Harig 1997 [1992]: 17. 33 Harig 1997 [1992]: 19. 34 Harig 1997 [1992]: 19. Hervorhebung im Original. 35 Siehe Smith 2006, Macdonald 2013.
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stellung, die sich längst nicht nur in Sylt und in den Stores findet, sondern auch in Kauf häusern zahlreicher Großstädte, modisch dekorierten Wohnzimmern und all den Nichtorten, in denen die Folgen des Neokolonialismus zu bestaunen sind, wie Flughäfen und ihre Dutyfreebereiche. Aber auch dort, wo für die Sansibar gar nicht viel zu holen ist, in Zanzibar, hat sich Sansibar längst breit gemacht. Der Strand ist hier wie dort zum umkämpf ten Schauplatz des Selfing geworden, und die Fahne mit dem Schrif tzug scheint zu sagen – wenn auch möglicherweise in ironischer Weise – das ist meins.
Sansibar auf Zanzibar. Paje 2016 – Sansibar auf Sylt. Rantum 2017 Der Strand als Topos der Kolonialisierung ist dabei naheliegend. Strände sind semiotisch komplexe Stätten multipler Formen des Veranderns und der Inversion. Ursula Kluwick und Virginia Richter verstehen littorale Orte als Schauplätze vielschichtigen Erzählens, als Topoi der Ref lexion und Poesie: Sie sind Zonen der Landung, des Angespültwerdens, erster Begegnungen, des Todes, des Abfalls und des Abjekten, aber auch des Unwirklichen und des Unauffindbaren. Diese Konnotierungen des Sylter Strandes, der fragil und f lüchtig ist und daher des Naturschutzes bedarf, werden zunächst einmal für die Gestaltung des Brandings genutzt.
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Gebrandeter Strandkorb. Rantum, Sylt 2017 Die in der früheren Geschichte Sylts noch bedeutsamen Strandräuber, deren Andenken im populären Literaturbetrieb (Die Strandräuber, ein Ferienabenteuer auf Sylt) ebenso wie in den Klassikern des Unterhaltungsbetriebs (Jamaica Inn) fortlebt, bieten ganz offenbar eine passende Projektionsf läche. Ihre möglicherweise noch unter dem Sand ruhenden Schätze und die gleich-
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zeitige Erinnerung an die Möglichkeit des Ausgeplündertwerdens vor den Dünen bieten einen Spannungsbogen, der Vermarktungsstrategien in einem Widerspruchsraum ironisierbar sein läßt, die sonst eher verärgern würden. Auch ohne weitere Erklärungen erschließt sich so die Referenz des Sansibarlogos, das nicht nur auf Fahnen, sondern auf allen anderen Objekten auch angebracht ist. Herbert Seckler, der Betreiber der Sansibar, erklärt die Gestaltung des Logos seiner Marke mit Reaktionen auf die hohen Preise für die im Strandlokal angebotenen Getränke und Speisen, die ironisch gekontert wurden: Die Säbel haben mit Piraterie zu tun. Seckler sagt, früher einmal hätten Gäste gemeckert, das sei ja so teuer bei ihm, und da habe er ihnen gesagt, nun seien sie eben an die Piraten geraten. So war das Wappen geboren.36 Zwei kreuzende Säbel zeugen möglicherweise von der Zeit, als man sich mit Strandräuberei das Einkommen auf besserte. Als reine Strandräuberei könnte man auch die gegenwärtigen Gastronomiepreise betrachten.37 Das schwarze Shirt mit dem Aufdruck ist ja Kult. Das ist das erste, das wir hatten, also das die hatten. Das war für die Kellner. Jetzt will das jeder hier. Das ist schon ein gutes Souvenir.38
Das Hemd mit dem Markenaufdruck leistet noch etwas weiteres Entscheidendes: Es verknüpft das semiotische Feld des früheren, strandgeräuberten Sylt und dessen Wiedergänger mit dem Bedeutungsraum des Strands als Ort der Körperertüchtigung, der Wellness, des Narzissmus und des Selfing. Wer dieses Hemd trägt, hat Reizklima genossen, ist gebräunt und hat Getränke und Speisen von besonderer Qualität gekostet. Der Ort ist angeeignet. Wer dieses Hemd erwirbt, ist angekommen und ganz bei sich: Hier gönnt man sich was. Und dies erst recht, wenn die Säbel brutalistisch36 Lücke 2010: o.S. 37 Link: Gerd Wirz Motorradzubehör. 38 Verkäuferin im Sansibar Store Westerland, Sylt 07.2017. Hier bezieht sich die überraschend gut vorbereitete Informantin vermutlich auf Richard Cobb: »Auf diese Weise kommt es zu einer vollständigen, wenn auch bloß vorübergehenden Einheit von Kleidung [...] und Träger oder Trägerin. Doch diese Einheit ist nicht von Dauer, auch nicht bei einer normalen Lebensspanne.« (Cobb 2011 [1978]: 47)
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ornamental auf der Mercedes G-Klasse prangen oder den Mercedes Kinderrutscher Bobby AMG-GT, Sansibar – schwarz natürlich – zieren; »Nichts wie raus auf die Straße!«.39
Mercedes G-Klasse und Mercedes Bobby AMG-GT. Sylt 2017 Die gekreuzten Schwerter sind auch ohne den Schrif tzug eindeutig und sie gehören längst zum Logoinventar der Insel, die sich selbst als Logo erfunden hat.
**** Klein Afrika ist eine logofreie Zone. Kein Brand. Kein Branding. Hier ingrediert Kolonialität im Naturraum. Im Naturschutzgebiet Morsum Kliff trägt laut erläuternder Tafel eine vegetationslose Fläche (tertiäre Sande) den Namen Klein Afrika. Sand, keine Vegetation. Das sind schon Hinweise. 39 Link: Homepage Shop Mercedes-Benz.
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Wüstenimagination. Gunter Sachs hatte diese ja auch bereits. Und dann natürlich das Klima: »Aufgrund von speziellen Windverwirbelungen wird es hier an manchen Tagen bis zu 50 Grad warm«.40 Der heiße, wirbelwindgepeitschte, vegetationslose, geschichtslose, weil unbewohnt wilde, unwirtliche Kontinent en miniature. Das ist Klein Afrika.
Klein Afrika. Morsum Klif f, Sylt 2017 Auch hier ist es Ludwig Harig, der um Imaginationen der seltsam an- und abwesenden Referenzwelten nicht verlegen ist. Zwar schreibt er nicht über Klein Afrika – was interessant genug ist – aber über Sylt und Afrika und 40 Tom 2012: o.S.
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immerhin über das Rantumbecken. Er berichtet dabei allerdings auch nicht von den Plänen der Luftwaffe in den 1930er Jahren und vom Reichsarbeitsdienst,41 sondern davon, dass man das Rantumbecken am afrikanischsten empfand: »Jeden Augenblick könnten Antilopen ins hohe Gestrüpp, könnten Zebras zur Tränke an einen Tümpel treten« und es entfährt dem Erzähler
Karte 3 | Sylts afrikanischster Raum42 41 Deppe 2014. 42 Harig 1997 [1992]: 21.
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schließlich geographisch recht eigenwillig, »so südländisch ist das Nordmeer, so afrikanisch das friesische Dünenland!«43 Heute könnte man sich auf den Deich mit einer Sansibarhugodose setzen und in das Rantumbecken hinein afrikanistisieren. Es wurde dann auch wirklich auf dem Deich gesessen, und Hugo, der aber schon nach dem Verfallsdatum gewesen war, getrunken. Kam aus dem Sansibar Outlet in Rantum. Der Genuss vermeintlich frischer Getränke, deren Inhaltstoffe nur wenig Afrikabezug haben mögen (Gelbwurz etwa wird da völlig fehlen), ist ein wesentlicher Aspekt des Sansibarbesuchs und der Syltreise. Da die zur Luftkurstätte verklärte Alltagslandschaft nur begrenzt zu langen Touren einlädt – dazu ist die Insel zu klein und zu rauh und zu derb und deswegen muss gelegentlich schwarzgefahren werden – muss Zeit gestaltet und verbracht werden, und dazu wird, weil man auch nicht unentwegt essen kann (Curryrahmnudeln etwa) und schon langsam etwas dick geworden sein könnte, gern getrunken. Es wird Weißwein ausgeschenkt und auch Aperol Spritz oder Sansibarsekt. Die Insel Sylt ist dabei einer weiteren Urlaubsinsel konzeptuell und praxisbezogen nahe, nämlich Mallorca. In Mallorca stand der Ballermann metonymisch vielen für Mallorca, so wie auf Sylt für viele die Sansibar für Sylt. Aber während auf Sylt eine geographische und ideologische Distanz zwischen der Sansibar und Klein Afrika herrscht, ist das auf Mallorca bezogen anders gewesen. Am Ballermann kam all das zusammen, was auf Sylt getrennt ist. Während wir auf Sylt bestenfalls von Kolonisten reden, wenn wir Freikörperkulturkolonien meinen, wurde Mallorca und besonders der Ballermann als eine richtige Kolonie bezeichnet, Deutschlands siebzehntes Bundesland. Und dort wurde getrunken und Nacktheit spielte auch eine Rolle, und es wurde gebrandet und ein großes Team gebildet, denn an der Playa ist man nie allein. Das war und ist dann auch das Problem, denn die, die auch noch an der Playa wohnen, haben begonnen, sich gestört zu fühlen, sich beklagt und beschwert über den »deutschen Mülltourismus«44 und Zeitungsmeldungen über sich und ihren Ärger schreiben lassen. Nun sind es auf einmal nicht mehr die jungen Männer aus Westafrika, die stören, weil sie Sonnenbrillen verkaufen und Plüschäffchen und Armbanduhren, und auch nicht die ambulanten Masseusen und Haarf lechterinnen oder gar die Getränkeverkäufer und 43 Harig 1997 [1992]: 21. 44 Storch 2017.
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Burgenbauer am Strand, die alle noch kürzlich erst, im letzten oder vorletzten Sommer, als Ballermannplagen bezeichnet wurden, sondern die deutschen Siebzehntesbundeslandbesucher und Abifeierer. Die im Motto-TShirt steckenden und schwitzenden Ballermanngebrandeten, die in großer Zahl im Sommer an die Playa kommen und in Mallorca zuhause sind, sollen offenbar fortbleiben, werden entheimatet und verstoßen (geluftet). Die senegalesischen Straßenhändler stehen am Ende der Schinkenstraße und betrachten die Szenerie, wie jemand es tut, der sich etabliert hat und sich Gelassenheit erlauben kann. Es gibt hinter der Promenade Läden für den täglichen Bedarf, marokkanische Metzger und eine Bar mit senegalesischem Fernsehen und Café Touba. Ein deutscher Urlauber kommentiert, dass es schön sei in Mallorca, auch in den noch nicht so entdeckten Teilen der Insel, nur nicht in den Vierteln hinter dem Partybereich: »Du kannst hier überall schön Urlaub machen, nur ... in Arenal in der afrikanischen Kolonie würd ich mittlerweile wegbleiben.« Das neue Malle, so gewünscht von der Inselregierung, entsteht derweil überall, wo es Raum und Geld für Gentrifizierungen gibt. Der Strandpavillon, der einmal der Ballermann 6 gewesen ist, heißt nun Beach Club Six. Das gesamte Arrangement aus pastellfarben mattlackiertem Kunststof f wirkt ebenso wenig einladend, wie sein früher von lauten Gruppen Angetrunkener dominierter Vorgängerbau. Gesyltet, leer, kühl. Das Gleiche findet sich in den vielen neuen, von Loungemusik umwehten, weißgetönten Bars und Clubs entlang des Strands. Deren Gäste, die, belauscht man ihre Gespräche, immer wieder die Vorzüge der Inseln Sylt und Malle vergleichen zu müssen scheinen, tragen dezent designte Sonnenbrillen und blicken ins Ungeteilte. Die bunten Brillenmodelle, die von den senegalesischen Strandverkäufern angeboten werden, finden hier keine Abnehmer mehr. Und während der Beliebigkeitssound diese Orte auskleidet, haben die hier nicht Gesehenen, nicht Gemeinten in ihrer dritten oder vierten Reihe hinter dem Strand zu bleiben, wo die Migration nach Europa sich als das erweist, was sie auch andernorts ist, nämlich ein »grauenhaftes Abenteuer«. So bezeichnet ein nigerianischer Bekannter, der seit langem in Palma lebt, das, was die jungen Leute aus Westafrika auf ihren Wegen nach Norden erwartet. Die Etablierung beheimatender touristischer Orte führt, berichtet unser Bekannter, keineswegs zur Etablierung neuer, offener Gemeinschaften, weder in den modernisierten, teuren Straßenzügen am Meer, noch in den
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Karte 4 | Deutsches Bundesland mit afrikanischer Kolonie schäbig wirkenden Vierteln gleich dahinter. Das Netz ist reich gefüllt mit Ressentiments, und jeder Fischzug erbringt neue Arten, Ambientwords wie 8Klauhure8, 8Helmut8, 8afrikanische Kolonie8. Anstelle der Ingressionstoponyme aus Sylt treten hier Zyonyme zutage, die den Raum neu strukturieren. Aus der Perspektive der nun offiziell nicht mehr gewünschten Trinktouristen sind diese Begriffe der Ausdruck von Abwehr und Widerstand: Hier wird ein ganzes Bundesland offiziell rekolonisiert und den Zechenden, die für das Betreten und Befeiern dieses Nichtortes immerhin bezahlt haben (sich legitimiert haben), genommen und entrissen, und zwar von ausweislosen Sonnenbrillenhändlern. Die Sonnenbrille verweist dann auch bereits auf das, was kommt, die Südung eines ganzen Bundeslands, also Mallorcas. Die Neugründung einer anderen Kolonie mag die Folge sein, am bulgarischen Goldstrand oder anderswo. Aus Ballermann wird derweil Balamane, was sowieso eleganter aussieht. Und an diesem Ort wird nicht nur gesof fen, sondern auch Haltung gepf legt und ein Leben geführt, das durch Café Touba situativ schön wird und in dem man es sich vorbehält, of fen und freundlich zu bleiben, auch wenn man für ganz und gar blöd gehalten wird.
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Abwehr. Schinkenstraße, Ballermann 2018 Als wirkliches Objekt ist die Plastikbrille wertlos und unnötig (einer von uns hat seine Sonnenbrille nun schon eine Woche lang im Koffer vergessen, und das auf einer Reise im globalen Unten). Die Sonnenbrille bleibt außerdem aufgesetzt, wenn man sonst schon ganz nackt ist. Nacktheit und Sonnenbrillen haben sonst eher wenig miteinander zu tun, außer vielleicht, dass es in Äthiopien (Abessinien) manchmal sonnig sein kann und eine Sonnen-
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brille auch dort ein nützliches Ding sein dürfte, welches man leicht mit sich führen und dann doch im Koffer vergessen kann. Abessinien war im Sprachgebrauch der die Freikörperkulturkolonisten beobachtenden Bekleideten vergangener Zeiten gleichbedeutend mit Nacktheit, genauer mit öffentlicher Nacktheit; ebenso wie Samoa. Es gibt dazu einen Screenshot, den einer von uns gemacht hat, und der bei genauerem Hinsehen durchaus Anlass zur Kritik an lexikographischem Rassismus gibt und einen von uns ein wenig an seinem Fach zweifeln lässt:
Screenshot
**** Der Sylter Ortsname Abessinien zeigt besonders gut, wie beiläufig und zugleich komplex Namen im touristischen Alltag sind. Abessinien – im Inselleben historisch entkleidet und synonym mit Nacktheit – verweist dabei unmittelbar auf koloniale Gewalt. Nach der »Niederlage Italiens gegen äthiop[ische] Truppen in der Schlacht von Adua« kommt es 1897 zur »Anerkennung der Unabhängigkeit Äthiopiens unter dem Namen ›Abessinien‹ durch die Kolonialmächte«. 1935/36 wird das Land von Italien unter anderem durch »Giftgaseinsatz« erobert; »[i]talien[ische] Truppen, darunter afrikan[ische] Soldaten aus den italien[ischen] Kolonien Libyen, Eritrea und Somalia, erobern Addis Abeba; der Kaiser wird abgesetzt; Äthiopien, Eritrea und Somalia werden als Italienisch-Ostafrika zusammengefasst«; 1941 beendet Großbritannien die »italien[ische] Okkupation«; »Haile Selassie [wird] als Kaiser wiedereingesetzt«.45 Abessinien ist also bis in den Namen hinein ein Land, das für koloniale Gewaltgeschichte steht und sich dieser zugleich entzogen hat:
45 Link: Munzinger ›Äthiopien – Zeittafel‹.
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Als eines der wenigen Länder Afrikas blieb Äthiopien während der Kolonialzeit, in der fast alle anderen Gebiete Afrikas durch europäische Staaten kolonisiert wurden, ein unabhängiges Königtum und konnte sich erfolgreich gegen Eroberungsversuche durch Italien zur Wehr setzen. Die Provinz Eritrea wurde allerdings italienische Kolonie. 1897 erfolgte die Anerkennung der Unabhängigkeit Äthiopiens unter dem Namen ‚Abessinien‘ durch die Kolonialmächte. Ab 1930 wurde das Land über vier Jahrzehnte - mit einer fünfjährigen Unterbrechung von 1936 bis 1941, als es unter Besatzung des faschistischen Italien stand - von Kaiser Haile Selassie regiert.46
Genau in der Zeit der faschistischen Okkupation beginnt auf Sylt das Interesse an Abessinien. Surft man im Netz, so liest man, dass vor Sylt 1935 ein Frachter gestrandet war, der Waffen für Abessinien geladen hatte. Und tatsächlich gehört zu den Strandungen vor Sylt auch der mit »19.10.1935 Listland«47 ausgewiesene Frachter Adrar, er »war in einem schweren Oktobersturm gestrandet« und es »verdichteten sich die umlaufenden Geschichten dahin, dass das Schiff Gewehre für Italiens Überfall auf Abessinien, das heutige Äthiopien, geladen habe«.48 »Die Spekulationen erwiesen sich später als falsch«49, stellen Kunz & Steensen fest, allerdings nicht ohne eine weitere Möglichkeit der Namengebung für den »FKK-Strand bei Buhne 31 zwischen Wenningstedt und Kampen«50 parat zu haben: Eine andere Namensdeutung sucht den Ursprung im Zweiten Weltkrieg. Soldaten sollen den Namen geprägt haben, weil auch Abessinien Kriegsschauplatz war. Sie fühlten sich am Sylter Strand ebenso fremd und so weit weg von der Heimat wie ihre Kameraden in Afrika.51
Man muss keine hermeneutische Begabung besitzen, um zu registrieren, dass Sylter Afrikaräume mit Krieg und Militär assoziiert sind (in Mallorca eher mit Verkäufern und Friseusen), so das afrikanischste Rantumbecken bei Ludwig Harig oder hier der FKK-Strand Abessinien mit Gewehren und 46 Munzinger ›Äthiopien – gesamt‹. 47 Fey et al. 1979: 129. 48 Kunz & Steensen 2007: 7. 49 Kunz & Steensen 2007: 7. 50 Kunz & Steensen 2007: 7. 51 Kunz & Steensen 2007: 7.
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Soldaten, die an »Kameraden in Afrika« denken. Und vor allem, dass die Namen der Ingressionsorte bzw. ihre Herkunft immer und immer wieder vernebelt sind. Seckler & Grieses Bemerkung zu Sansibar und Samoa – »[w]oher sie kommen, weiß bis heute keiner genau«52 – trifft auch für Abessinien zu. Eine Vergessenheit bei gleichzeitiger Beharrlichkeit ihres Gebrauchs. Hinzu kommt, dass für die Ingressionsnamen gerade nicht gilt, was Damaris Nübling und ihre Kollegen mit Verweis auf Rudolf Šrámek als »[g]rundlegende allgemeine Merkmale von OrtsN[amen]« festhalten, nämlich »ihre kartographische Fixierbarkeit und ortsfeste Gebundenheit«53. Schon am Sylter Label Sansibar erkennt man, dass es überall bindet, wo es Konsum verspricht, die Valenz des Namens ist ausgeprägt. Sansibar bleibt dabei durchaus ein Toponym und zieht den Verlauf der Ingression in den Alltag. Bei Abessinien ist schon das erste der beiden genannten namenkundlichen Kriterien nicht erfüllt. Kunz & Steensen sehen den »FKK-Strand« Abessinien dort, wo sich »der Restaurant- und Saunabetrieb ›Wonnemeyer‹« befindet, »bei Buhne 31«.54 Fährt man dorthin, versucht einen schon der Taxifahrer davon abzuhalten, er antwortet auf die Frage nach Abessinien: »Das ist Buhne 16«55. Ist man nun aber an Buhne 31 und fragt den Strandwächter als Ortskundigen56, so hört man auch von ihm, dass das hier nichts mit Abessinien zu tun hat, allerdings mit anderer Alternative: »Nee, das ist nicht hier, das ist in Westerland, bei Lokal Oase«57. Passt ja irgendwie auch. Google Maps sieht den Abessinien FKK Strand List schließlich ganz oben im Norden und die amtliche sowie persönliche Auskunft beim Sylt Touris52 Seckler & Griese 2014: 22. 53 Nübling et al. 2012: 206 [Hervorhebung im Original nicht berücksichtigt]. 54 Kunz & Steensen 2007: 7. 55 Taxifahrer auf der Fahrt nach Abessinien, 31.07.2017. Insoweit hat der Taxifahrer eine korrekte namenkundliche Einordnung der »OrtsN[amen] oder Toponyme« (Nübling et al. 2012: 206; Hervorhebung im Original nicht berücksichtigt), unter Umständen auch laienlinguistisch, geleistet. Ob er damit bewusst einen irreführenden Beitrag zur Analyse der Dislokation von Toponymen leisten wollte, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir haben mit ihm nicht über Linguistik gesprochen, nicht zuletzt, um seinen Informantenstatus nicht in Frage zu stellen; wir sprachen ja mit ihm als Taxifahrer, nichts als (Laien?)Linguist. 56 Bei Fey et al. (1979: Bildtteil, Nr. 88) heißt es: »Die Adrar sitzt bei Buhne 31 fest.« 57 Strandwächter an Buhne 31, 31.7.1017. Auffallend ist hier die initiale Negation und die damit unmissverständlich verbundene Rückverweisung an Westerland. Es geht hier um Fragen der Zuständigkeit, und auch Zugehörigkeit, des belongings. Eine Abessinienidentität wollte der Informant für sich offensichtlich nicht gelten lassen.
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mus-Service im Westerländer Verwaltungsgebäude gibt in norddeutscher Präzision am 31.7.17 zu Protokoll: »Abessinien heißt eigentlich: die Nackten. […] Buhne 16, auf dem Weg nach List, kurz hinter Kampen.«58 Taxifahrer und Tourismusangestellte stimmen also überein. Abessinien auf Sylt, das ist ein multilokaler Ort der Nackten, der hier und da sein kann, dessen Ein Gespräch beim Friseur: Name man gut kennt, dessen Lage Namen, ja, finde ich wichtig. Weißt Du, wenn ich abends nicht einschlafen kann, dann auch geheimnisvoll bleibt und fallen mir Namen von früher ein. Für mich sind das so über dessen Herkunft es nur VerPflöcke. Wie bei einem Steg am See, weißt Du, die Pflöcke, mutungen gibt: Abessinien ist das Irgendwo im Nirgendwo. das sind die Namen und der Steg, das ist mein Leben. Alles auf Sylt ist irgendwie Abessinien. Und schon Ludwig Harig hat ja festgehalten, »wie morgenländisch Europa dort ist, wo man es am abendländischsten glaubt«59. Bemerkenswert bleibt im Zusammenhang einer solchen Expansion auch, dass »aus Rücksicht gegenüber dem nordostafrikanischen Kaiserreich Bedenken gegen den Namen Abessinien«60 auf kamen. Vielleicht ist dies auch der Grund für das verworrene Vielwissen um seine Lage. Hinzu kommen der Hinweis auf »die Nackten« durch den Sylter Tourismus-Service und ein Artikel im Spiegel vom 8. September 1954, in dem es um einen »Badebrauch« geht, »der weltanschaulich gefestigt ›Freikörperkultur‹, im Strandjargon dagegen ›Abessinien‹ heißt«61. Im Artikel erfährt man auch, dass dem westdeutschen Abessinienkult das Nacktbaden in der DDR entsprach, »hauptsächlich bei Bansin in der Strandexklave ›Kamerun‹ konzentriert«, sodass die dortigen Nackten auch »›Kameruner‹«62 genannt wurden, was ja auch der bereits dokumentierte Screenshot andeutet. Abessinien ist der multilokale Ingressionsort, der nicht nur referenzlos auf Ostafrika bleibt, sondern reich mit Geschichten umgarnt ist. Ein Name, 58 Verwaltungsangestellte Sylt Tourismus-Service, Westerland, 31.7.2017. Die zunächst selbst für einen von uns, der im Norden arbeitet, recht schroff anmutende Auskunft ist mit Bezug auf den vorangehend dokumentierten Screenshot lexikographisch einwandfrei zu untermauern, wenn die Informantin auch aus Nacktbadestrand die Nackten macht, was wortbildungsmorphologisch zumindest das linguistische Interesse wecken kann. 59 Harig 1997 [1992]: 19. 60 Wedemeyer 1994: 185. 61 Link: Der Spiegel. 62 Link: Der Spiegel.
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Abessinien Lage nach Google Maps
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Abessinien Lage nach Taxifahrer und Touris mus -Service Sylt
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Sylt
Abessinien
Lage nach Kunz & Steens en (2007)
Abessinien
Lage nach Strandwächter von Buhne 31
Karte 5 | Abessinien multilokal bekleidet mit zahlreichen Assoziationen, die hier und da eingefallen sind und die man angesichts der zu erwartenden Nacktheit von Feriengästen, für die Afrika nicht Ort der Nackten, sondern der Kleiderspende ist, auch immer wieder vergessen kann. Bei späteren Repräsentationen des Nackten, etwa dem Syltporno, kommt auch nichts Afrikabezogenes mehr vor, was das alles ja nur noch mehr stützt, denn subkutan ist der Exotismus weiter präsent. Hätten wir uns gleich zu Beginn unserer Reise im Afrika Hand-Lexikon von Paul Heichen festgelesen, wäre Abessinien zunächst durch das Gegenteil von Strand und Düne aufgefallen, nämlich als »gewaltiges Alpenland«, das
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»wild zerklüftet und durchschnittlich 2500–3000 m hoch«63 sei. Das passt nicht recht zu den FKK-Phantasien der deutschen Inselwelt, obwohl die Sansibar ja auch das »berghüttenähnliche Holzhaus«64 am Strand ist. Auch was Heichen weiter zu berichten hat, hätte bei uns keine FKK-Phantasien geweckt: »gegen das rote Meer hin ein f lacher dürrer Sandstreifen vorgelagert: die an manchen Stellen sich auf mehrere Tagesreisen verbreiternde, trocken heisse Samhara«.65 Vielleicht hätte dieses Lexikon doch seinen Weg auf die Insel finden sollen. Was also den umstrittenen Ernst von Salomon veranlasst haben soll, sich auf Sylt »am Strand von Abessinien«66 zu wähnen, wie wir bereits zitiert haben, und was Ludwig Harig dazu gebracht hat, davon zu berichten, all das bleibt in den Inselerzählungen eingesponnen ins Verschwindenlassen des kolonialen Einsickerns. Bestätigt werden diese Beobachtungen durch zwei umfangreiche Archivordner zum Nacktbaden im Sylter Archiv in Westerland.67 Abessinien ist in diesen Archivalien die zentrale Chiffre eines schlichten und zugleich komplexen Zusammenspiels von Geschichte, Geschichten, Verwertung und Konsum im kolonialen Ingressionsraum. Wir bleiben daran hängen und unsere Feldstudie verlagert sich vom Herumlaufen in ein Westerländer Dachgeschoss. Dort erkennen wir, Abessinien erscheint auf Sylt zeitweise wie ein Markenname (das kannten wir doch schon von der Sansibar), dessen provokante Semantik und partielle Umstrittenheit, von der durchaus auch die Rede ist, seinen Marktwert nur unterstreicht. Selbstverständlich muss man dabei für möglich halten, dass Abessinien nicht (mehr) mit einem (untergegangen) afrikanischen Kaiserreich in Verbindung gebracht wurde und wird, sondern als gut laufende Marke für das Prickeln des Nacktbadens stand und steht. Der damit verbundene Körperdiskurs exotisierender Befreiung mit Verweis auf Afrika, etwa auch Kamerun – »weil dort die Menschen noch in puris naturalibus umherlaufen«68 – verknüpft sich nicht zufällig mit kolonialen Reminiszenzen und kolonialrevisionistischen Phantasien der Herrschaft im Naturzustand. Der Ingressionsname ist Teil eines ganzen Wortfeldes, 63 Heichen 1885: Bd. 1, 7. 64 Kunz & Steensen 2007: 332. 65 Heichen 1885: Bd. 1, 7. 66 Harig 1997 [1992]: 19. 67 Unser besonderer Dank gilt Frau Elisabeth Westmore, der Leiterin des Sylter Archivs, für die Bereitstellung von Archivalien und die Zustimmung zur wissenschaftlichen Nutzung. 68 Sylter Rundschau, 16.2.1951 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer].
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einer um Heiterkeit bemühten Unbeschwertheit. Als die Städtische Kurverwaltung 1951 dazu aufruft, Namensalternativen für Abessinien vorzuschlagen, gehen mindestens 52 Vorschläge ein, die nicht etwa Ausdruck eines Geistes politisch korrekter Sprachreinigung sind, sondern eher wie das Ergebnis einer Namenspielerei mit verschämtem Fernweh anmuten:69 Lichtbad Nacki-Strand Nudesien Paradies Panoptikum Panorama Kamerun Liberia Quasimodogeniti Neu-Kamerun
Gerne wird auf die kreative Namensfreude der Sylter Gäste verwiesen: »Die Bezeichnung ›Abessinien‹ für den Strandabschnitt für Freikörperkultur hat sich aus unseren Gästen heraus selbst gebildet, während diese Bezeichnung offiziell nicht gebraucht wird.«70 Wir sehen vor dem inneren Auge eine champagnerfröhliche Nachkriegsrunde aus dem Rheinland. Im Weltbild solcher Gäste überlagern sich ganz unterschiedliche Diskurse, solche der Selbstverständlichkeiten, der Verdrängung, der phantastischen Fluchten und Phantasien, sodass die Sylter Ingressionsnamen vielschichtige Bedeutungen in sich tragen, Bedeutungen, die nicht zuletzt die Geschichte der Gewissheiten der frühen Bundesrepublik in ihren Verschränkungen mit Kaiserreich, Nationalsozialismus und zwei Kriegen erzählen. Das gerade macht die Ingressionsnamen auf Sylt interessant, es sind nicht einfach kolonial markierte Problemtoponyme, die es zu dekolonisieren gilt, sondern mannigfach und durch die Zeit angereicherte Bedeutungsträger, die Einblicke in die Vielschichtigkeit neokolonialer Assoziationswelten geben. Hier geht es um koloniale Semantiken. 69 Kurzeitung der Insel Sylt 23.1974, 368 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer] und Sylter Rundschau, 16.2.1951 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer]. 70 Sylter Rundschau, 9.1.1951 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer].
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Da gibt es zunächst einmal den Inselschnack, das Seemannsgarn, die erotische Anspielung, die den Namen Abessinien und den sagenumwobenen abessinischen Negus umspinnen, kleine Geschichten, Albernheiten: »›Meiner Seel, Kuddl, wo kummst du denn her, un denn so brun? –Du sühst ja ut as’n Negus!‹ – ›Tscha, ick kam ock vun Abessinien!!‹«71. Dialektal wird überhaupt gern gedichtet: »wer wehng See, Sant, Sonne nach Sült kommt, / der geht nach Appsienchen.«72 Oder es wird die Geschichte einer Ellen Mannis erzählt, die am Strand ein angetriebenes Butterfass hat mitgehen lassen wollen und es den Blicken des Strandvogts vor langer langer Zeit dadurch zu entziehen suchte, dass sie alle Kleider auszog und über das Fass legte; was liegt angesichts ihrer imaginierten Nacktheit da näher, als von der ersten Abessinierin zu sprechen, einer butterfassbedeckenden Strandräuberin.73 Solche quietschfidelen Abessinienscherze und -geschichtchen stehen im Kontrast zur durchaus ernsthaften, staatstragenden Sorge um den diplomatisch provozierenden Gebrauch des Namens Abessinien für Sylter Nacktbadestrände. Auch wenn aus den Archivalien nicht recht klar wird, ob das alles wirklich so bedeutsam war. Es seien »keine offiziellen Bezeichnungen«, wie das Kieler Wirtschaftsministerium mitteilt, man solle seitens der Kurverwaltung im Schriftverkehr und Sprachgebrauch davon abgehen und »nur noch von einem ›Freikörperkulturstrand‹«74 sprechen, auch wenn man gewusst haben wird, dass sich dieses Verwaltungsdeutsch im Sprachgebrauch nicht durchsetzen wird. Hier geht man auf Nummer sicher. Der Name Abessinien weckt unberührt davon weiterhin und weithin erotische Exotismusphantasien, die sich für Sylt durchaus rentiert haben, weil auch das Nacktbaden Sylt bekannt gemacht hat75: »In Abessinien steigt ein alter Scheich ’nem netten Käfer nach. / Die Düne macht ihn in den Knien weich; drum girrt er nur noch schwach […]«.76
71 Ohne Quelle [Archivalie im Sylter Archiv Zugang Nr. 453/65 – 26]. 72 Kurzeitung der Insel Sylt 1.1952, 22 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer]. 73 Sylter Rundschau 24.12.1973 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer]. 74 Ohne Quelle [Archivalie im Sylter Archiv Zugang Nr. 453/65 – 28]. 75 In einem persönlichen Brief vom 15.11.1975 an den Vorstand des Kurausschusses von Westerland heißt es, dass die Freikörperkultur Westerlands größter Touristen-Anreiz sei, schon 1970 seien 60% der Gäste gekommen, um FKK zu betreiben [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer]. 76 Ohne Quelle [Archivalie im Sylter Archiv Zugang Nr. 453/65 – 30].
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Es geht in einem solchen Assoziationsraum der peinlichen Erfindungsgaben nicht um die verbürgte Herkunft eines Namens. Abessinien funktioniert viel besser in einer f lirrenden Unentschiedenheit, in der dies und das und allerhand an den Namen gebunden wird; individuelle Erinnerungen, ein bisschen Inselgeschichte, vor allem auch anzügliche Unterhaltung, eben das, was sich gut verkauft und beim Urlaubmachen hilft. Dennoch ist auch das Bemühen um die Auf klärung des Namens Teil des Ingressionsvorgangs. Im Archiv der Insel finden wir einen Brief aus dem Jahr 1964, der an die Redaktion der Zeitschrift Quick adressiert ist.77 Der Brief – eine umfangreiche Leserzuschrift – bezieht sich auf einen Artikel der Quick über das Nacktbaden auf Sylt. Der Verfasser des Briefes möchte über die Herkunft des Namens Abessinien auf klären. Und wir sind plötzlich in einer Welt, die mit Urlaub überhaupt nichts mehr zu hat, viel eher mit den Abgründen, die sich mit dem Namen Heinz Reinefahrt verbinden. Der Briefschreiber berichtet als Zeitzeuge, dass im Dezember 1939 das Königsberger Flakregiment 111 von Lübeck-Schlutup nach Sylt verlegt wurde. Man musste Geschütze, Munition, Geräte und mehr auf das hohe Westufer der Insel transportieren. Es war Winter, eintönig sei es gewesen in der trostlosen Gegend. So genannte Kameraden hätten sich einen wärmeren Kriegsschauplatz gewünscht. Im Völkischen Beobachter sei ein Bildbericht abgedruckt gewesen zum Krieg in Abessinien. Aufgrund der ähnlichen Landschaft habe der Verfasser des Briefes seinen von ihm selbst so genannten Kameraden darauf hin die Ähnlichkeit zwischen Sylt und Abessinien gezeigt. Daraus sei vermutlich der Name entstanden. Eine Soldatengeschichte. Eine Geschichte über den Abessinienkrieg, über Kolonialismus, den Zweiten Weltkrieg und individuelle Männereinsamkeit. Eine Geschichte, die jemand erzählen möchte und muss – etwas vom Krieg erzählen, noch einmal, im Jahr 1964, und wenn die Quick der gewünschte Zuhörer ist, in einer Zeit, als man lieber von den »nackten feinen Leuten«78 auf Sylt hört. Eine ganz partikuläre und exemplarische Geschichte, ein Geschichtenerzähler, der sich zu Gehör bringt, heute ein Schlüssel zum Verständnis der absichtslosen Bedeutung der Sylter Ingressionsnamen. Es handelt sich um Namen, die in Gewaltgeschichte eingeschrieben sind, in verdrängte 77 Archivalie im Sylter Archiv, Zugang Nr. 361/64, Blatt 1 und 2. 78 Quick 33.1964 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer].
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Erzählungen, deren Herkunft vergessen werden muss, und die dabei erotische, transgressive, exotisierende oder auch einfach nur konsumistische Phantasien entzünden. Diese Namen stehen als Vignetten für die Dauer kolonialer Ideologie in unterschiedlichsten Gewändern des Alltags; nicht zuletzt im Tourismus und bis hin zur heutigen Sansibar. Während zu Beginn der 1960er die Soldatengeschichte noch einmal erzählt werden muss, ist in den 1950ern der Bezug auf den Krieg, auf einsame Soldaten noch ganz selbstverständlich, etwa in einem Sonderheft des Magazins Sylt: Das Nordseeparadies aus dem Jahr 1953.79 Der Kriegshinweis findet sich ja auch in der Annahme, der Name Abessinien resultiere aus dem gestrandeten Frachter Adrar, der vermeintlich Waf fen für Abessinien geladen hatte; auch Ernst von Salomon führt das im Text So kam »Abessinien« zu seinem Namen80 näher aus. Die Assoziation mit Kolonialismus und Krieg und Expansionsgewalt hat man dann in den 1960ern im Promigossip und der Regenbogenpresse gerne vergessen, sonst wäre der lange Brief, der vom Sylter Abessinienleben Eine Erinnerung. des Winters 1939/40 berichtet, Als ich in den 60ern meine Ausbildung als Fotografin in nicht notwendig gewesen. Frankfurt gemacht habe, da hatte ich einen Chef, der hat Es gibt noch einen weitein Abessinien, also Sylt, mit seiner Frau Urlaub gemacht. ren Text, den wir hervorheben Wir Lehrlinge mussten dann die Nacktfotos entwickeln. wollen, auch darin findet sich ein Schlüssel zum Verständnis der Ingressionsnamen, ein Artikel aus dem Sylter Tageblatt, in dem es um die kolportierten diplomatischen Verwicklungen mit dem Kaiserreich Abessinien wegen der gleichlautenden Sylter Strandnamen geht und um die Kritik an einem Artikel in einer nicht näher genannten Berliner Zeitung, aus dem zitiert wird; hier heißt es: »Das Land, dessen Namen man sich für Anhänger der Freikörperkultur entliehen, ist aber mit dieser Herabwürdigung seines Namens nicht einverstanden, obwohl es mitten im schwarzen Erdteil Afrika liegt.«81 Was bedeutet dieses obwohl? Obwohl ist ein konzessiver Konnektor, und als solcher aufschlussreich, nicht zuletzt in kolonialen Diskurszusammenhängen.82 Obwohl-Sätze 79 Archivalie im Sylter Archiv, Zugang Nr. 483/65. 80 Ohne Quelle, undatiert [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer]. 81 Sylter Tageblatt 30.4.1952(?) [Archivalie im Sylter Archiv Zugang Nr. 130/65 – 184]. 82 Wir verweisen hier auf die Bremer Dissertationsschrift von Wolfram Karg, der sich mit Normaliätserwartungen in Konstruktionen dieses Typs ausführlich befasst hat.
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transportieren nicht geäußerte Normalitätserwartungen. Der nicht geäußerte aber mitgemeinte Satz lautet hier, ein Land, das mitten im Erdteil Afrika liegt, sollte normalerweise mit der Herabwürdigung seines Namens zur Bezeichnung eines Ortes der Freikörperkultur einverstanden sein. Aber warum diese Annahme? Wohl weil mal davon ausgeht, dass man in Afrika mit Nacktsein keine Probleme hat. Solche rassistischen Annahmen, die, interessanterweise verdeckt in der Konzession, nur implizit geäußert werden und die in der Syntax versteckt sind, sie sind der Bodensatz der Ingressionsnamen, die wir auf Sylt finden. In einer Leseprobe aus dem Buch Schwarzes Abenteuer von Herbert Rittlinger aus dem Jahr 1955 in der Kurzeitung der Insel Sylt heißt es mit Bezug auf das Nacktbaden ebenfalls frank und frei: »Denn verständigerweise zwingt Sie kein Mensch, nackt herumzulaufen oder die Nacktheit der anderen zu ertragen. Dazu werden sie nur beim Militär und im KZ gezwungen.«83 Wir sind hier in den Jahren 1955/56. Die erschütternden und heute kaum mehr sichtbaren, verschwiegenen Bezüge sind in die Sylter Ingressionsnamen eingeschlossen, in ihnen aufgehoben. Dabei herrscht zugleich eine große koloniale Vergessenheit. Von Stählen, Rüsten und Kampf ist die Rede, die koloniale Unterwerfung Afrikas, die mit dem Namen Abessinien in jedem Fall verbunden ist – Africa Orientale Italiana –, sie wird nicht gewusst, eher begegnet uns eine bildungsbürgerlich träumende Welt im klassischen Versmaß, die harmlos scheint, in der man trotz seiner Ermüdung aber schon wieder aufs Neue zum Kampf rüstet und dies am 19. Juli 1950 in einem Artikel mit dem Titel Eine Lanze für Abessinien, auch wenn man sich heute fragen kann, ob das wirklich Götterkinder waren, die sich da auf Sylt in der Sonne bewegten: Abessinien. Wanderer, gehst Du hier weiter, so sehen erstaunt deine Augen bar aller Kleidung und bloß alle die Kinder des Zeus. Schau wie sie zwanglos und fröhlich, verlangend nach Luft nur und Sonne, stählen die Glieder, die müden, rüsten aufs neue zum Kampf. 83 Kurzeitung der Insel Sylt 20.7.1956, 117 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer].
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Zürne nicht jenen, wenn Glauben und andres Empfinden dich hindern, nackt wie diese zu gehen, frei dich zu machen von Scham. B. E. aus Hbg.84
Die Scham, von der man sich befreien soll, ist sie auch eine Scham, die mitten in die Vernichtungsgeschichte des 20. Jahrhunderts hineinreicht, oder geht es tatsächlich nur um eine Nacktheit, die freiwillig ist, weil man schließlich nicht beim Militär oder im KZ ist, sondern nur am Sylter Strand, »alles im Sinnes [sic!] eines echten Naturismus«85, wie es in einem Privatbrief aus dem Jahr 1968 heißt? Wir erinnern daran, von 1951 bis 1963 ist Heinz Reinefahrt Bürgermeister von Westerland. Neben der abzulegenden Scham ist noch ein anderer Begriff mit dem unbekleideten Körper verbunden, nämlich der der Befreiung. Die Auseinandersetzung mit den Zwängen, die gesellschaftliche Konventionen und bürgerliche Moralvorstellungen den Körpern der Badenden auferlegen, mündet, so suggerieren die im Archiv verwahrten Texte, in eine Befreiung, die das entscheidende Moment touristischer Sehnsüchte darstellt. Rittlingers Schwarzes Abenteuer birgt daher nicht nur einen Hinweis auf Orte körperlicher Vernichtung, sondern bietet auch eine Vision der Befreiung: Die Nacktheit einer echten Abessinierin, würdevolles Einhergehen der Äthiopier , Abenteuer. Die Tilgung kolonialer Gewalterfahrungen ebenso wie Erinnerungen an Faschismus und Krieg geschieht hier über das Entkleiden und Baden des Körpers: Nacktbaden als Befreiung, Nacktheit als eine Form des Neugeborenseins. Die imaginierten Anderen, deren angenommene Nacktheit in Ortsnamen wie Sansibar und Abessinien immer wieder als rassistischer Diskurs aufgerufen werden kann, dienen als Folie eskapistischer Befreiungssehnsüchte. In der exzessiven Spiegelung von Enge und Befreiung, Eigenem und Anderen wird der Blick auf Körper gelenkt, die scheinbar nichts mehr mit Kolonialismus und Erfahrungen von Gewaltgeschichte zu tun haben. Der befreite Körper wird als Erfüllung touristischer Heilsversprechen 84 Sylter Rundschau 19.7.1950 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer; Hervorhebung im Original]. 85 Brief vom 20.6.1968 [Archivalie im Sylter Archiv Zugang Nr. 587/68-2, verso].
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»Abessinien in Abessinien erlebt«: Eine »echte Abessinierin«.85 imaginiert und immer wieder vorgeführt. Doch die Abbildung der Frau in der Kurzeitung sollte stutzig machen, denn ebenso wie ihr Körper auf dem grobkörnig reproduzierten Bild zur Ware gerinnt, zum Objekt verkaufsfördernder Berichte weit weg erlebter Badefreuden, so werden kurze Zeit später auch diejenigen, die sich in einer Deutungshoheit solcher Bilder wähnten, zu Objekten gemacht. Die kapitalistischen86Sehnsuchtswelten erweisen sich als perfide Orte voyeuristischer Praktiken, in denen man in den Strudel der konsumistischen Ruinierung gerissen wird. Aus den vermeintlich befreiten Körpern junger Frauen werden inszenierte Fotostrecken, die unter Titeln wie »Brustparade« einschlägige Magazine füllen, so wie heute die Bilder vor der Webcam zur Schau gestellter Körper das Internet. Was 86 Kurzeitung der Insel Sylt 20.7.1956, 117 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer].
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dabei augenfällig wird, ist, dass der Kolonialismus Räume und Körper gleichermaßen betraf und betrifft, und dass in seiner Geschichte gewaltvoller Verf lechtungen Sprache und Sehnsüchte in sich selbst gespiegelt wurden wie niemals zuvor. »In ›Abessinien‹ badet man auf eigene Gefahr!« warnte ein Schild am Eingang eines Strandes auf Sylt. Angesichts der Perfidie spätkapitalistischer Kolonisierungsstrategien klingt diese Warnung fast unschuldig. Denn der Körper wird in seiner Präsenz an den touristischen Sehnsuchtsorten mit ihren kolonialen Benennungen nicht nur als Objekt fetischistischer Konsumsehnsüchte, sondern auch als konsumierbare Ware sichtbar gemacht, als Eigenes und Fremdes gleichermaßen, ohne Entrinnen. Die Nacktheit, die gekreuzten Piratensäbel, der beschallte Sonnenuntergang: Symbole eines Traums der Befreiung, die wieder und wieder zur bloßen Repräsentation gerinnt. In all den verschlungenen Archivalien, die trivial und komplex zugleich sind und eine recht einfache Welt der Vergessenheit und Verdrängungsbereitschaften zeigen, stoßen wir auch auf einen Zeitungsartikel über den Strandwächter von Sansibar, ein Artikel, der herausfällt aus der Ordnung der übrigen Texte. Hier weiß man dann doch plötzlich irgendwie, was Sansibar heißt: »Obwohl Theodor Sönnichsen […], kein Wort Suaheli spricht und auch nicht viel mit dem Export von Gewürznelken im Sinn hat«87. Dieser Text ist aus dem Jahr 1981, plötzlich scheint etwas durch, was heute schon wieder verblasst ist. Das Wissen um Sansibar, Samoa, Abessinien, Afrika und in gewisser Weise auch um Oasen. Was ist also ein Ingressionsname (Ingressonym)? Ein Anlass für Erzählungen des Vergessens und Verdrängens, ein kapitalistisches Versprechen und ein großes exotistisches Versteckspiel des prodesse et delectare, der konsumistischen Nützlichkeiten, Amnesiefreuden und Überseephantasien, die als romantisch empfunden werden. Sylt führt uns ganz nah heran an ein Anderswo und lenkt uns dabei tief in ein irritierendes Hier und Jetzt. Namen, die die Modi des Einsickerns von Herrschaftsgeschichte und europäischer Gewalttätigkeit von Expansionsselbstverständlichkeiten sind, die rassistisch eingefärbt sind und anzeigen, wie beiläufig im schönen Urlaubsalltag das Anderswo konsumiert wird, weil die verdeckte semantische Auf ladung mit Geschichte Teil des 87 Zeitungsartikel Seit zehn Jahren regiert »Klein Thedo« unangefochten die Nackten von »Sansibar«, 12.6.1981, ohne Quelle [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer].
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Karte 6 | Nacktbaden und Hunde auf Sylt87
Urlaubmachens ist. Uns begegnet die performative Produktion von selbstverständlichem Nichtwissenwollen, aufgeladen mit beiseitegeschobener Historie, multilokal ideologisch und voller historischer Gewissheiten, die Dauer besitzen. All das, es führt uns schließlich weg von Sylt. Weiter weg.
88 Ohne Quelle mit Paginierung 242 [Archivalie im Sylter Archiv ohne Zugangsnummer].
Brosche Einmal sind wir nach Kairo gefahren. Dort hat einer von uns in Kairo gewohnt, und der andere in Neukairo. In Kairo war das in einem sehr alten Hotel, in der fünften Etage eines sehr alten Hauses, mit dunklen Korridoren, in Rot und mit schönen Teppichen und vielen Büchern, Diwanen und schweren Portieren, welche die Zimmer vom Lärm der Straßen abschirmten. Ein kleiner Balkon, der über eine belebte Gasse hinausging, gegenüber Fenster, hinter denen sich Büros und Kanzleien befanden, der Balkon nebenan mit einer dicken Schicht Taubenkot bedeckt, auf der ein toter Vogel lag. Lächelnd servierter Qahwa, unten um die Ecke schöne alte Kinos – Metro, Miami; auch toponomastisch war es hier also interessant, zumindest beiläufig. In Neukairo wurde segregierter gewohnt, mit sprengstoffgespürten Hunden und Gepäckdurchleuchtung beim Betreten des Hotels. Und nicht nur die Grenzziehungen waren hier scharf markiert, sondern auch das Begonnene endete überall viel offensichtlicher, als das Beendete in der eigentlichen, alten Stadt. Überhaupt: Überall begann etwas, wie es weitergehen würde und weiterging, wusste man ohnehin nicht. Doch das sahen wir natürlich auch auf Sylt in den Betonversprechen der 1970er, die nichts Anderes als zukunftslose Zumutungen sind. Auch New Cairo erzählt von jener konsumistischen Welt; Kapitalversprechen, Marken, Malls, mehr oder weniger erfolgreiche Firmen, die investiert sind und selbstverständlich Autos. Auch hier ist die Welt gegatet, ins Riesige verschoben, die urbane Komplexität nahezu sprengend; und zugleich funktioniert alles irgendwie. Mit einer Allwetterjacke kann man sich hier nicht rüsten für den Tag. Die Funktionskleidung versagt ihre Bestimmung. Al-Qahira, die Siegreiche, macht die Wetterjacke zur Nebensächlichkeit, wohl, weil das Wetter hier nebensächlich ist. Die Syltutensilien sind erst recht in Old Cairo nutzlos (wir haben sie auch gar nicht dabeigehabt), beim Besuch der Ibn Tulun-Moschee etwa. Das ist schon
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alles ein anderes Format, als eine Lieblingsinsel der Deutschen. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass der generische Tourist sich hier anders als sonstwo formatieren muss, im Gegenteil, er ist eigentlich auch hier der Prozessor, allerdings aufgrund der massiv rückläufigen Zahlen an Touristen ein schwacher. Dennoch gibt es Unterschiede, selbstverständlich. Was auf Sylt eingeübt ist, das Goschen etwa, existiert hier einfach nicht, es wird zum virtuellen Anderswo. Es ist im Nu geothert. Wie man selbst vielleicht auch. Kairo hat also nichts mit dem, was wir da vorher mit uns umhergeschleppt haben, zu tun – so scheint es. Aber Kairo ist ein Ort, der ein Instrumentarium bereithält, das einem gestattet, sich mit den ins Sinnlose führenden toponomastischen Bemühungen um die zuvor besuchten Strandabschnitte neu auseinanderzusetzen. Die Megastadt funktioniert als Ausrichtung unserer Perspektiven auf den globalen Norden und Süden, an die wir als Gegensatzpaar aber eigentlich gar nicht so recht glauben, das sei nur nebenher klargestellt. Von hier blicken wir zurück nach Sansibar, aber auch nach vorn, nach Zanzibar. Kein Oben und Unten, kein vertikales Denken – wir werden auf Nietzsches Frage »Giebt es In Kairo auf den Khan el-Khalili, nicht noch ein Oben und ein Unten?«1 zu sprechen wegen des Marktes, sondern der kommen – sondern ein verzeitlichtes DurchTore, Koranschulen, Brunnenhäuser den-Raum-Gehen in der Horizontalen. Wir verdinglichen die Achse der horizonhalber. Ein Stand bietet Ringe, die wir für Männerhände kaufen. Der Ring talen Verbindung zweier Orte durch die Eram Finger in die Tasche der engen innerung an ein ziemlich vergessenes AlltagsHose geschoben: Gleich ist das eine schmuckstück: die Brosche. Wen wir auch Brosche. Nee, eine Brosche wollte ich fragen, Broschen trägt man eigentlich nicht mehr – Elisabeth II. gehört zu den wenigen – schon immer mal haben. aber manche können sich noch an Menschen erinnern, die sie getragen haben. Die Brosche ist eine hübsche Reminiszenz an eine nicht recht greif bare, gestrige Ferne. Was kann aber nun hier die Brosche leisten? Es ist ohne Frage üblicher, im wissenschaftlichen Schreiben abstrakte latinisierte Konzepte zu fixieren oder im Versprechen des Global English publikationsverbürgte Theorienamen anzuführen, als im Nachdenken über den Gegenstand einer Ortsanalyse die Bezeichnung eines großmütterlichen Schmuckstücks zum Instrument der Untersuchung zu machen. Genau dies tun wir aber. Und wir tun dies entschieden, weil wir im 1 Nietzsche 1887: 3. Buch, 125.
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Gegenstand bleiben wollen und nicht mit einem Zitatfundament Orte so zumauern, wie sie von anderen bereits abstrakt projektiert wurden. Wie kann man einen Ort sehen? Wie kann man in der horizontalen Bewegung einen Ort hinter sich lassen – Sylt – und im Durschreiten eines anderen Ortes – Altund Neukairo – ein Anderswo betreten – Zanzibar? Hier fällt uns die Brosche in die Hand, und sie bringt uns deutlich voran. Denn es geht um eine epistemologische Ethnographie, die es für möglich hält, dass Orte nicht das sind, was sie woanders schon längst waren. Dass Zanzibar nicht die Leerstelle ist, die vermisste Bedeutung der Sansibar also. Natürlich, wenn wir jetzt von der Brosche sprechen, kann das präskriptiv für Andere werden, die das damit verbundene Konzept nützlich finden mögen, nutzen wollen und vielleicht eine Broschenlinguistik etablieren mögen. Eine Ethnokategorie wird zum theoretischen Konzept; statt goschen also broschen. Die ganze Sache scheint auf den ersten Blick vielleicht recht verwirrend zu sein und ein unernst anmutender Einfall, der prüfen möchte, wie weit unsere Leserschaft und auch Community bereit ist, mitzugehen. Geht es zu weit, die Brosche als methodologische Figur etablieren zu wollen? Haben großmütterliche Broschen wirklich mit einer Bewegung zum Anderswo zu tun, mit visible absence und all dem, was uns in diesem Buch interessiert? Aber jetzt erst einmal ganz langsam. Wir sind wie gesagt in Kairo. Kairo ist als Ort der Zentrierung unserer Recherche auf jeden Fall eine enorme Gegenkraft zu Sansibarsylt, und gerade deshalb wird unser Unternehmen erst hier richtig erwachsen. So wie die Brosche im Gegensatz zum Logoapplikat kein Kindergartenattribut ist, sondern etwas für Erwachsene. Kairo hält für uns eine schmuckreiche Brosche bereit, die beide Seiten eines Stoffes zusammenhält, eines Stoffes, aus dem auch der sansibarische Traum gewebt ist. Hier wie dort. Ein Traum, der ganz unten im Norden mit dem wetterfesten Goschen beginnt und in Kairo, ganz oben im Süden, entschieden konkreter in die luftige Fülle des Äquators weht. Eine Brosche im Rahmen der Performative Field Studies – sehr gut! – eine Brosche im Rahmen der Performative Field Studies (nicht schlecht) – also diese Brosche ist ein epistemischer Konnektor und Modifikator (aha). Das muss einfach festgehalten werden, bei aller Öffnung ins Ungewisse. Wir wollen versuchen, das zu erklären. Die Brosche steht dafür, etwas zu verbinden. Wir übertragen diese verbindende Funktion auf die Verbindung von Wissensordnungen. – Und zwar locker und schick! – Diese Verbindung von Wissensbeständen könnte man klugsprachlich als epistemische Konnektion
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bezeichnen, sodass die Brosche als Methodenbegriff der epistemische Konnektor ist, mit der Brosche werden Wissensordnungen verbunden, f lexibel, temporär, jederzeit lösbar. Hinzu kommt, dass die Brosche etwas macht mit dem, der sie trägt, sie modifiziert also, einen Merinopulli (kratzt gern auf der Haut; lieber Seidenbluse) etwa. Die Brosche nimmt die Position der Verbindung ein – das hat auch etwas mit Triangulierung zu tun – und sie fügt auseinanderwehende Enden eines Untersuchungsobjektes verändernd zusammen, bei uns sind das das Ganz-unten-im-Norden und das Nochweiter-unten-im-Süden. Die Brosche selbst ist dabei die lokale Differenz; Kairo fügt Sansibar und Zanzibar zusammen. Mit dieser Konnektion modifiziert die Reisestation Kairo – als Brosche – Sylt im Nu. Sylt wird geothert, zum Anderswo modifiziert und Zanzibar wird zu einer konkreten Flugdestination, die Abessinien nicht als Irgendwo im Inselnirgendwo suchen lässt, sondern als Zwischenlandung in Addis Ababa, wo selbst der syltkonforme Distinktionsversuch als Loungebesucher mit Kundenkarte aus silbrig bedrucktem Plastik irgendwie nicht das ist, was auf der Sansibar so Kult ist: Oben zu sein. In Addis sind irgendwie andere Leute oben, was wir vor allem auf dem Rückf lug verstanden haben. Aber das ist hier ja kein Reisebericht, also lassen wir das mal. Bleiben wir terminologisch lieber bei der Brosche. Wenden wir uns ihr freundlich zu, nachdem wir sie hier zurechtformatiert haben. Sansibar wird durch die Brosche Kairo von einer visible absence entkleidet und zum konkreten Ort, den man über Addis Ababa und Kilimandscharo erreicht, graphematisch durch die Alternation /s/ und /z/ hübsch markiert: Zanzibar. Die mit Kairo gefundene analytische Brosche ist ein Scharnier im Nachdenken, das auch unserer Ref lektion eine neue Position zuweist. Im Anheften der Brosche blicken wir zurück nach Sansibar, und nach vorn, nach Zanzibar. Das ist für die Brosche im analytischen Verständnis auch notwendig, sie hebt die Betrachtung von Orten aus dem Fluss der Impressionen und ermöglicht das horizontale Nachdenken. Die Brosche ist also freundlich ausgedrückt eine Figur des Nachdenkens, eine Haltung zu den Dingen, ein Auftreten im Feld. In Kairo wird uns deutlich, dass eine S/Zans/zibarstudie durchzuführen, zwar Laufarbeit bedeutet, die man bei Reizklima beginnen muss, wo kein Bus je zwischen zwei Haltestellen halten würde, dass aber der sansibarische Traum eine spätkapitalistische Projektion ist, die nicht nur auf Sylt geträumt wird: Es geht bei Sansibar nicht nur um Ingressionen von Kolonialität, sondern immer
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auch um konsumistisches Begehren. Und da wären wir ja auch gleich in Neukairo. Sansibar und Zanzibar sind der Stoff ein und desselben Traums. Unsere Kairobrosche fügt diesen Stoff zusammen. Auf Sylt wären wir darauf übrigens nicht gekommen. Denn dort hat die Applikation die Brosche längst nachhaltig abgelöst. Und einen Eindollarring, der schnell an der eng geschnittenen Designerjeans unserer freundlichen Begleitung zur Brosche werden kann, gibt es dort sowieso nicht; wir haben in unsere Funktionsjacke und den Feldstudienpullover gekleidet jedenfalls auf Sylt keine Broschen gesehen. Und erst recht keine Prachtkäferbroschen, die einst tatsächlich auf Zanzibar verwiesen haben; wir sind sicher, in den nackten Abessinienzeiten der Insel Sylt sah man sie hier und dort auf f laschengrünen Pullovern. Heute ist es also die Applikation, die Sylt beherrscht, sie f laggt das Labelapplikat des Nichts hegemonial aus, während irgendwo noch eine Brosche etwas dezent zusammenhält und schmückt. *** In Kairo findet sich vor dem Oum Kalthoum-Museum auf der Nilinsel Roda eine abstrahierende Bronzeskulptur, die an die ägyptische Diva (1889 oder 1904-1975) erinnert. Die Gestalt erscheint als reine Haltung. Zu den wenigen Details der glatten, wie mit einer Folie überzogenen Bronzeoberf läche gehören mindestens zwei Broschen, Details, die hervorgehoben sind. Die Brosche ist hier nicht etwa eine sinnfreie Anheftung, sondern das Hoheitszeichen einer stolzen Frau, eine sehr erwachsene, schmückende Positionierung, ein Auftritt. Denn mit einer Brosche tritt eine Person auf. Die Phantasielogoapplikation hingegen verkindlicht nicht nur, sie weist einen Platz im bedeutungslosen Rauschen sinnfreier Botschaften zu. Die Brosche, ein (einst) funktionierendes Schmuckstück, hat ihren Trägerinnen und Trägern ein bewusstes Betragen vermittelt, denn sie wird ausgesucht, um angeheftet zu werden. Ein verwaschen angeklebtes Baumwolllogoapplikat – das den Trockner verschrumpelt überlebt – zeigt nichts von einer solchen Entschiedenheit. Auch das ist ein Grund dafür, warum wir den gehobenen Alltagsgegenstand der schmückenden Brosche als ein epistemisches Instrument unserer Analyse verstehen, als einen epistemischen Konnektor und Modifikator eben, um es doch noch einmal im Stil eines terminologieverliebten Brutalismus zu sagen. Die Brosche ist der Ausweis eines entschiedenen Gebarens im Nachdenken.
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Haltung. Kairo 2018 Da steht sie, eine noch immer junge Frau, und sie singt. Sie singt mit einer Stimme, die der Wind ist, der durch die Wüste weht. Diese Stimme ist so rau und tief, dass sie ein sehr alter Wind sein muss, ein Klang, der seit undenkbaren Zeiten in der Einsamkeit verhallt. Und sie ist einsam und steht da und singt und das klingt rau, aber wenn sie von Liebe singt und von Sehnsucht, dann gibt es zarte Seufzer und auch ganz hohe Töne und dann biegt
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Oum Kalthoum singt. Kairo 2018 sich dieser Hals nach hinten und die ganze Statur wird zu einem Ausdruck der Gastfreundschaft mit großem Ambitus, nämlich das Schicksal anzunehmen und zu betrauern, aber nicht zu verf luchen. Und dann sieht man die Brosche, die vorne am Kleid blinkt. Dreieckig ist sie, silbrig hell, ein wenig so, wie man das damals in diesen Zeiten wohl hatte, Art Deco.
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Das Lied könnte weitergehen, vielleicht eine Stunde, und uns hier festhalten. Aber das darf nicht geschehen, denn wir sitzen im Kino des Oum Kalthoum-Museums, und wir sehen die dort verantwortete Filmversion ihres Lebens, das nirgendwo zu beginnen scheint und auch nicht endet. Etwas despektierlich legen wir die Beine auf der Vorderreihe ab, immerhin laufen wir schon den ganzen Tag rum. Unser Benehmen war absolut nicht broschiert, dachte einer von uns, als er nach der Reise, ganz woanders, ein altes Ehepaar sah, das mit der unbeweglich aufrechten Haltung von international arbeitenden Choreographen einander beim Kuchenessen in einem neusachlichen Café in die Augen blickte. Aber Oum Kalthoum ist broschiert. Es gibt im Film einen Vater, den Qari, und keine Mutter. Ein Mädchen, das auf einmal so da ist. Dann rezitiert sie den Koran wie der Qari-Vater, wird gemocht und dann ist sie in Kairo, in einem schönen Hotel und studiert bei einem berühmten Lehrer. Der Qari-Vater besucht sie da, aber dann ist auch er weg. Sie singt, und sie ist im Film und wird berühmt, Eine Kollegin hat ihre Antrittsvorlesung in einer aber sie gibt sich nicht her. Keine sehr alten Aula einer sehr ehrwürdigen Universität Liebesszenen, sondern Gesten damit begonnen, zu singen. Das altväterliche großer Hingabe, die würdevoll und Kollegium war darüber wohl recht erstaunt. Man gesungen sind. weiß nicht, was sie sich gedacht haben. Aber in Gesang und dann Krieg, und der nächsten Fakultätssitzung gab es irgendwie sie hofft auf Loyalität für ihr armes noch eine kritische Bemerkung dazu, wenn die armes Land und weint, als Nasser Erinnerung nicht trügt. stirbt. Sie stirbt dann etwas später wohl auch, sieht man aber nicht, und Könige trauern um ihrer Willen, und ihre Beerdigung wird zu etwas so Großem, dass wir dafür keine Worte kennen, denn es ist keine Massenhysterie, sondern immer noch Würde (notabene: große lexikalische Lücke, die broschierte Menschen aufzeigen). Dann ist der Film vorbei, und wir gehen nochmals zu den Vitrinen, die etwas, das ihr einst gehörte, bewahren. Da stehen im Scheinwerferlicht ihre Kleider, das grüne aus Brokat mit Strassketten, die kaskadenartig über die Büste fallen, das schwarze mit bestickten Ärmeln, ein f liederfarbenes mit herrlicher Stickerei, ein fast goldenes mit glänzenden geometrischen Ornamenten, die der Stil der Zeit waren. Eine weiße Robe mit aufgestickten Perlen. Und dann die Brosche, ein Halbmond aus Weißgold wohl, besetzt mit Brillanten. In der Hand hielt sie ein feines Tuch, auf den Augen eine schützende Brille. Auch dazu ließe sich einiges sagen, zur Trias von Brosche,
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Robe, Detail. Kairo 2018 dem Tuch in der Hand und der dunklen Brille. Wie eine Steigerungsreihe der Brosche, eines ins andere übergehend. Diese weißgoldene Brosche ist schlicht und reicht an Pracht und Opulenz nicht an die Broschen anderer Frauen heran. Oum Kalthoum gibt es auch als Haushaltsware: KissenbeAber sie ist würdig und züge, Warmhaltekannen, Kaffeetassen, Tabletts, Deckchen. unendlich kostbar, wie Ein ganzes Oum Kalthoum-Wohnzimmer lässt sich vorstelsie da auf ihrem Samt- len, mit erhabenen Goldranken auf dem im Büffet verwahrkissen ruht: Ein zarter ten Porzellan mit dem Portrait der Sängerin. Schenkt man brillantener Halbmond, sich Kaffee ein, schmelzen diese Goldranken ein wenig; der Haltung und Wahr- ‘Ahwa sagt übrigens kaum wer in Kairo, man hört viel eher haftigkeit anzeigt, denn Qahwa, wie überall sonst. Das sind die Syrer, die den Klang die, welche dies getragen der Sprache verändert hätten, heißt es, Fremde eben. Wer hat, sich entschieden an- nicht fremd ist, in so einer schon immer Weltstadt gewesegesteckt hat, war eine, nen Stadt, möchte man allerdings auch gerne einmal wissen. die wusste, wovon sie da sang, und deren Stimme und Musik auch jetzt, so lange Zeit nach ihrem vielbetrauerten Tod, für Viele Wahrheit und Schönheit sind, und die diese Bedeutung nicht verlieren.
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Wie dem auch sei. Die schöne schwere Stimme klingt durch die nilfeuchte Luft und trägt uns hinaus: اﻷ ط ﻼ ل لالطألا ىوهف لايخ نم احرص ناك ىوهلا نيأ لست ال يداؤف اي ينقساى برشاوﺎل ﻓﮭﻮ ىلعﺎ ﻣﻦ ﺧﯿ هلالطأﺻﺮﺣ ينعوراوى ﻛﺎن املاطﻞ أﯾﻦ اﻟﮭﻮ عمدلاﻻ ﺗﺴ ىورﺆادي ﯾﺎ ﻓ فيكوى كاذﻣ ﻊر بحلاﺎ اﻟﺪ ﻲ ط ﺎﻟﻤ ﻨ ﻋ و ر ا و ﮫ ﻟ ﻼ ط أ ﻰ ﻠ ﻋ ب ﺮ ﺷ ا و ﻲ ﻨ اﺳ ﻘ ىوهلا ثيداحأ نم اثيدحو اربخ ىسمأ
ﻛ ﯿﻒ ذ اك ا ﻟ ﺤ ﺐ أ ﻣ ﺴ ﻰ ﺧ ﺒ ﺮ ا و ﺣ ﺪ ﯾ ﺜ ﺎ ﻣ ﻦ أﺣ ﺎ د ﯾ ﺚ ا ﻟ ﮭ ﻮ ى Die Ruinen Mein Herz, frag nicht, wohin die Liebe ging; sie war mein Traumgebilde, nun ist’s eingestürzt. Gib mir zu trinken, damit ich den Becher auf ihre Trümmer leere und über mich erzähl’ so lange die Träne f ließt:
Wie diese Lieb’ zum Gestern wurde, und zur Geschichte über Liebesleid.2
Es gibt in diesem Gedicht von Ibrahim Nagi (1898-1953) viel zu entdecken; als eines der komplexesten und esoterisch vielschichtigsten Werke der modernen arabischen Poesie erzählt es von Liebe und Verlust, aber auch von der Vergeblichkeit des Lebens, dessen Geheimnisse nicht ergründet werden können und an dessen Ende stets die Ruinen unserer gescheiterten Hof fnungen stehen. Und dennoch geht es nicht allein um Ruinierung, sondern auch um die Geste der Versöhnung in einem Lied, das von Geschichten erzählt. Die Stimme der großen Sängerin macht die verschiedenen Interpretationsebenen des Gedichts transparent und birgt gleichzeitig eine solche Tiefe, dass hier nichts preisgegeben wird, was dem Text seine Kraft und Wirkmächtigkeit verleiht. Darum geht es: Genau dort, wo Sprache ihre niemals endgültig zu entschlüsselnde Macht besitzt, jenseits von wohlfeilen Projektideen und affirmative action, da bedarf es der reinen Haltung einer Frau, welche eine Brosche zu tragen vermag. Auch das kennzeichnet die Brosche als 2 Nagi 1966, in Braune 1994: 129. Das ist nur der Anfang, das Gedicht geht weiter. Oum Kalthoum hat viele sehr lange Lieder gesungen, einige dauern gut eine Stunde. Geht aber rum wie nichts.
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epistemischen Konnektor und Modifikator. Zu sehen und zu denken, worum es geht. Es geht um eine Möglichkeit der Weitung dessen, was man üblicherweise als Sprache konzeptualisiert: ein normativ gedachtes Konstrukt aus regelhafter Struktur und nicht minder fixierender Materialisierung in Form von Schrift, Orthographie und graphischer Möblierung von Klassenräumen und öffentlichen Orten. Der linguistische Markt kolonialer Räume bestätigt zwar diese Sprachideologien und verstetigt eurozentrische Sprachkonzepte (wie etwa in der Bereitstellung von Bildung oder politischen Partizipationsmöglichkeiten auf der Grundlage des Gebrauchs der Kolonialsprachen Englisch, Französisch, Spanisch usw. oder kolonial situierter Sprachen wie Kiswahili Sanifu), ist aber gleichzeitig durch die Präsenz einer dynamischen Multiplizität diesbezüglicher Ideologien, Philosophien und Praktiken gekennzeichnet, die andere soziohistorische und geographische Kontexte haben. Die Stimme von Oum Kalthoum lässt uns dabei verstehen, dass das eine (Norden, Metropole, nationalistische Sprachkonzepte) ohne das andere (Süden, Kolonie, dekoloniale Sprachphilosophien) nicht denkbar und daher die Annahme einfacher binärer Ordnungen wenig hilfreich ist, um zu verstehen, in welcher Realität wir uns hier bewegen: in einer Realität der Ruinierung, in der das Leben weitergehen muss. Ohne ihre symbolisch höchst wirksame und in ihrer Inszenierung machtvolle Gestaltung von musikalischen Beiträgen zum arabischen Nationalismus und dem dekolonialen Projekt könnte Oum Kalthoum nicht als dauerhaft erinnerte Integrationsfigur der gesamten arabischen Welt präsentiert werden. Die schöne Stimme, die nach etwas klingt, das man imaginieren kann als Weite, mystische Erfahrung und einsame, durchaus leidvolle Erkenntnis von Liebe und Vergeblichkeit, als Idealisierung der Wüste als einem Ort der Manifestation von Wahrheit und Schönheit, diese Stimme ist uns so präsent geblieben und in der poetischen Größe so erhebend, eben weil sie auch für einen noch viel größeren Kampf, für noch viel mehr Leid steht als das der Liebe und Sehnsucht, nämlich der Erfahrung von Ruinierung, die immer weitere Geschichten des Leidens hervorbringt. In diesem Sinne ist die Stimme von Oum Kalthoum eine mystische und esoterische Erinnerung an das, was der indische Intellektuelle Pankaj Mishra als schmerzhaften Prozess der Kolonisierung und Reform der islamischen Welt beschreibt3.
3 Mishra 2012: 48-123.
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Die historischen Koordinaten, die Mishra hierbei benennt, sind der Ägyptenfeldzug Napoleons von 1798 bis 1801, die britische Kolonisierung Indiens und der Aufstand von 1857 sowie die Tanzimat, die Neuordnung und damit Orientierung nach Westen des Osmanischen Reichs ab 1839. Die tiefgreifenden ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen in diesen Teilen der Welt waren für praktisch alle Beteiligten spürbar. Islamische Institutionen, von der Verteilung von Almosen bis hin zu Bildungsinstitutionen wie der Madrasa, verloren ihre Bedeutung, wurden an den Rand des Geschehens gerückt oder einfach zum Verschwinden gebracht. Die Gilden der Handwerker, die bis dahin noch einen großen Teil des gemeinschaftlichen Lebens bestimmt hatten, brachen allmählich zusammen, als ihre wirtschaftliche Kraft nachließ und die alten Dinge von den neuen westlichen Importen ersetzt wurden. Die Eliten orientierten sich zunehmend nach Europa, und ihre zuweilen gigantischen Vermögen f lossen aus ihren lokalen Umfeldern ab. Intellektuelle, die sich um eine Reform ihrer Gesellschaften bemühten, wie etwa der Gelehrte und Journalist Jamal ad-Din al-Afghani (1838–1897), wiesen früh darauf hin, dass koloniale Projekte wie der Bau von Eisenbahntrassen und Hafenanlagen, ebenso wie die Implementierung westlicher Institutionen und Wissensvermittlung zunächst vor allem einem Zweck diente, nämlich die in der kolonisierten Welt produzierten und gewonnenen Güter profitabel, sicher und schnell in das koloniale Mutterland zu befördern. Der Preis für das, was al-Afghani und seine Zeitgenossen ›Modernisierung‹ nannten, war hoch: Armut, Verlust der geistigen und politischen Souveränität, Zersplitterung. Der Begriff der ›Zivilisation‹ erhält, so schreibt Pankaj Mishra, eine neue Konnotation: »›Civilized nations‹ was a term of nineteenth-century politics, used by Western European statesmen to exalt their countries above all others. The terms used to define ›civilization‹ were exclusively European and Christian«4. Infolge seiner Erlebnisse während und nach der anti-imperialistischen Revolte in Delhi schreibt der Dichter Akbar Ilāhābādī (1846-1921): The minstrel, and the music, and the melody have all changed. Our very sleep has changed; the tale we used to hear is no longer told. Spring comes with new adornments; the nightingales in the garden sing a dif ferent song.
4 Mishra 2012: 71.
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Nature’s every effect has undergone a revolution. Another kind of rain falls from the sky; another kind of grain grows in the fields.5
Dass es bei den Ruinen Nagis und damit in Oum Kalthoums berühmtestem Lied also nicht nur um Liebe geht, sondern auch um die Ruinen dessen, was kurz zuvor souveräne Gesellschaften gewesen waren, deren geteilte Ideen von Geschichte, Sprache und Schönheit nun bestenfalls zur exotisierenden Verzierung übermöblierter Wohnzimmer taugten, ist nicht zu übersehen und zu überhören. Und es sind nicht nur die Ruinen des Eigenen, welche die Tränen f ließen lassen, sondern auch der Verlust des Anderen, dessen man sich sicher gewesen sein mag und den man nun für immer verloren zu haben scheint. Hier bleibt nichts heil: Alles stürzt, und am Ende blicken wir auf die Geschichte als einen Haufen Trümmer, die immer weiter niederstürzen, uns vor die Füße. Wie in einem donnernden okzidentalischen Echo (man kann hier auch ruhig mal das Prelude Op. 87, no. 14, in es-moll, Adagio, von Dmitri Shostakovich in der Aufnahme mit Alexander Melnikov streamen6) auf diese Erfahrung beschreibt im gleichen neunzehnten Jahrhundert Friedrich Nietzsche in Fröhliche Wissenschaft das Dahinstürzen als endzeitliche Nichtung. In der berühmten Passage, in welcher »D e r t o l l e M e n s c h «7 die Tötung Gottes verkündet – und dies, nachdem auf die drängende Suche nach Gott mit einem unüberhörbaren Verweis auf Kolonisierung auch gefragt wird, ob Gott zu Schiff gegangen, ausgewandert sei –, hier heißt es, die ganze Nichtung der Ruinierung in eschatologische Bilder stürzend, in denen es selbst keine Schiffe mehr zur Kolonisierung geben kann, weil das Meer ausgetrunken ist: Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! W i r h a b e n i h n g e t ö d t e t , — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt 5 Ilāhābādī, in Mishra 2012: 57. 6 Shostakovich 2010. 7 Nietzsche 1887: 3. Buch, 125, Sperrung im Original.
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es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?8
Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt spricht in seinem Buch Ästhetik des Bösen mit Bezug auf Nietzsche von der »Tötung Gottes als rhetorisches Fest«9, wobei er darauf hinweist, dass der »besondere Skandal« der Philosophie Nietzsches »nicht in der vielzitierten Feststellung des ‹tollen Menschen› aus der Fröhlichen Wissenschaft« liege, »sondern in der Tatsache, daß dieser Tod möglich wird, weil der Schöpfer eine Kreation Satans«10 sei. Das Böse feiert sich im Bösen. Während die Ruinierung in der kolonisierten Welt voranschreitet und auch Deutschland seine koloniale Macht entfaltet, irrt man mit Nietzsche ins unendliche Nichts einer gewaltvollen Rhetorik. Auch aus dieser Ruinierung lässt sich ein schönes Lied machen, ein betörendes Bild und ein Museumsbesuch. Und weil das alles ein rhetorisches und esoterisches Erleben ist, und die Trümmer natürlich genauso gut unsichtbar bleiben können und dadurch metaphorische Trümmer sind, kann man die Tränen, die geweint werden, während die Geschichte erzählt wird, auch übersehen oder doch zumindest gar nicht weiter beachten. Und genau dies geschieht. Im neunzehnten Jahrhundert begannen Muslime sich mit einer Welt auseinanderzusetzen, welche nicht mehr mit Gott in Verbindung zu sein schien, schreibt Mishra11. Von einer großen Geschichte berichteten nunmehr Ruinen, und was sie zu erzählen hatten, waren Geschichten einstmaliger Leidenschaften. Die Versuche von Intellektuellen wie al-Afghani, dieser trostlosen Welt Sinn zu verleihen, indem neue Wege gesucht wurden, das Vergangene zu etwas Zukünftigem zu machen, sollten – so Mishra – am Ende in widersprüchlichen Bewegungen ihre Beheimatung finden: Der Pan-Islamismus al-Afghanis und gegenwärtige politische Prozesse in islamischen Gesellschaften sind beide Teil dessen, was als Konsequenz kolonialer Ruinierungserfahrungen begriffen werden kann: Antikoloniale Agitation und Formen des zeitgenössischen Islamismus sieht Mishra als zusammengehörig. Die von Ibrahim Nagi 8 N ietzsche 1887: 3. Buch, 125, Sperrung im Original. 9 A lt 2011 [2010]: 396. 10 Alt 2011 [2010]: 401. 11 Mishra 2012: 119.
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dichterisch beschworenen und in Oum Kalthoums Stimme widerhallenden Tränen, die bei der Erzählung all der Berichte dieser Erfahrungen f ließen mögen, lassen sich dabei am Ende großzügig überhören und übersehen. Melancholie und das Wissen um Vergänglichkeit lösen sich dann dort in Spaß ( `yolo`) auf, wo sie zu reinen Applikationen werden, also dort, wo nicht mehr gebroscht werden braucht, muss und kann: im Tourismus, der neokolonialsten Erfahrung überhaupt von Negation des eigentlich zu liebenden Anderen, die sich für relativ kleines Geld haben lässt.
Das Motto-T-Shirt, das alles wieder gut macht. Kairo 2018
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Auf dem Khan al-Khalili, dem mamlukischen Markt in Kairo, finden sich T-Shirts vor einem Geschäft mit touristischen Souvenirs, die nicht so sehr die Antike, sondern die Gegenwart Ägyptens in unwiederbringliche Erinnerungen verwandeln sollen. Eines der Hemden ist dabei besonders interessant: das braune oben rechts. Es gibt vor, vom libanesischen Mottomodehersteller Fajr Army produziert worden zu sein, was es aber nicht ist, denn innen verrät ein Etikett ›Cleopatra Cotton‹ seine tatsächliche Provenienz: Made in Egypt. Fajr Army ist dennoch interessant, denn da geht es um eine spaßige Form des Pan-Islamismus – Hemden für alle Muslime, die sich zum ersten Morgengebet gemeinsam überall auf der Welt aus ihren Betten erheben.12 Der türkische nationalistisch gesinnte Dichter Ziya Gökalp (1876-1924) hat diese Idee in den berühmten Zeilen »Minareler süngü, kubbeler miğfer, camiler kışlamız, müminler asker«13 formuliert. Religiöse Praxis und Verortungen als anti-imperialistische Geste – hier nur vage zu erkennen, aber für die Revolution, das lassen all die vielen Tweets vom Tahrir erahnen, von Bedeutung. Unter dem imitierten und subtexthaltigen Label steht nun der zweite Teil des Mottos, auf Englisch, damit wir wissen, was wir kaufen, und auf Arabisch, damit wir etwas Authentisches zum Anziehen haben: THIS TOO SHALL PASS. Was hier übersetzt, arrangiert und vermarktet wird, ist zunächst recht eigentlich ein philosophischer Kommentar, dessen Ursprung in der sufischen Dichtung im Persien des späten zwölften Jahrhunderts liegt. Mystiker und Poeten wie Sanai († zwischen 1131 und 1141) und Attar (ca. 1145-1221) haben sich in Form dieses Aphorismus geäußert: – ب زین نیاnichts bleibt, alles wird vergehen, Paläste und Hütten, auch der und auch alles ﺬردDespotismus, اﯾﻦ ﻧﯿﺰ ﺑﮕ Schöne. Das findet sich nicht nur wieder in westlichen Texten, etwa als melancholischer Kommentar aus dem melancholischen Orient, sondern auch als vielschichtige Auseinandersetzung mit dem, was wirklich geschieht. Der ägyptische Künstler Moataz Nasr (*1961) hat sich in seiner Arbeit für den Pavillon seines Landes auf der Biennale in Venedig 2017 mit dem Thema This too shall pass auseinandergesetzt. In seiner komplexen Installation, die von einem imaginierten ägyptischen Dorf erzählte, verbanden sich Vergangenheit und Gegenwart, Feuchtigkeit und Wärme verströmende Lehmwände, 12 Link: Fajr Army. 13 Gökalp 1977 [1912], nicht zu verwechseln mit der dies zitierenden Rede Recep Tayyip Erdoğans 2016.
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Klänge, Sprache und Geruch zu einem Kunstwerk, in dessen Zentrum – dem Film The Mountain – der Zusammenstoß zwischen der Jugend und der etablierten Macht stand. Als vieldeutiger sozialer Kommentar berichtete der ägyptische Pavillon plötzlich von der Vergänglichkeit des Festgefügten, aber auch von der Möglichkeit von Sprache und Kunst, die Welt neu In Fustat, dem spätantiken und frühmittelalterlichen zu erschaffen: Das verlangt eine Kairo, zwischen der ʿAmr ibn al-ʿĀs-Moschee und ziemlich broschierte Haltung dem koptischen Viertel der eine Karawanserei und lässt das hässliche Hemd auf imitierende Andenkenmarkt. Jemand hat in einmal doch ein wenig lohnend mit Jesussen bemalte `Ouds investiert, und das erscheinen; einer von uns hat es Geschäft muss so schlecht gelaufen sein, wie dieser dann auch gekauft, aber nicht in Satz sich lesen lässt. Der leerstehende Laden mit Braun, sondern in Indigo. den letzten Waren vor der rot gestrichenen Wand THIS TOO SHALL PASS auf gleicht einer Kunstinstallation von überwältigender dem braunen bzw. jetzt auch Eleganz und einigermaßen viel Witz. indigofarbenen T-Shirt lässt uns also an Vieles denken – eine Philosophie der mystischen Gelassenheit angesichts des Überwältigenden, die Endlichkeit auch dessen, was man bewahren will (ein höchst widersprüchliches Souvenir also), und auch der Ruinen, von denen Oum Kalthoum singt. Die Auf lehnung der Jugend, Al-Afghanis ruinöse Agitation gegen den Imperialismus, die Revolution, und die vergebliche Liebe natürlich sind weitere vom labbrigen Hemd elizitierte Narrative, die einem schnell einfallen dürften. Wie in Moataz Nasrs Installation verschränken sich im Hemd spirituelle und esoterische, revolutionäre und kontemplative Geschichten, Ideen und Handlungen. Das Hemd erinnert nun längst nicht mehr nur an den Urlaub, den Markt, seine Geräusche, und den Geruch des frischen Backwerks gleich nebenan, sondern es handelt – von etwas und mit jemandem. Es tut etwas, indem es in all seiner Braungetöntheit oder eben auch Indigoeleganz fragen lässt, an die Ausstellung und den Sufismus erinnert, kommentiert und platziert. Wer das anhat, sieht vielleicht nicht automatisch gut aus, nimmt aber auf eine reichlich komplexe Weise an einer Erzählung teil, die, bei erneut vollgeschenktem Glas fortdauert, so lange Tränen f ließen. Der ägyptischen Sängerin und dem Dichter ihres Lieds zum Beispiel eine ausschließlich esoterische Haltung zu unterstellen, die dann der vermeintlich rationalen Strategie europäischer Figuren gegenübergestellt werden könnte, ist also wenig hilfreich. Dennoch ist die Frage nach den
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sonderlichen Nachklängen, dem uneindeutigen Nachhall interessant. Eine vielschichtige und eben auch esoterische Auseinandersetzung mit dem Kolonialen ist, wenn wir beispielsweise an Gustave Flauberts Bericht seiner Ägyptenreise von 1849-1851 denken, ja nämlich auch der literarischen und poetischen Produktion koloniale Räume betretender Europäer und anderer Anderer eigen. Man sucht antike oder rezente Ruinen auf und nimmt Teil an ruinösen Praktiken, die sich dort bevorzugt ereignen – Grillfeuer, das aus Mumienresten gespeist wird, ein verkaufter, tanzender Kinderkörper, ein Besuch im Bordell: Sur la natte : chairs dures, ... de bronze, ... rasé, sec quoique gras; l’ensemble était un effet de pestiféré et de léproserie. Elle m’a aidé à me rhabiller. — Ses mots arabes que je ne comprenais pas. C’étaient des questions de trois ou quatre mots et elle attendait la réponse; les yeux entrent les uns dans les autres, l’intensité du regard est doublée. — Mine de Joseph au milieu de tout cela. — Faire l’amour par interprète.14
Das kolonialzeitliche Reisen erscheint in solchen Texten fixiert auf Ruinen und Ruiniertes, und gibt in den Berichten, die Reisende verfassen, Auskunft darüber, dass das koloniale Epistem des neunzehnten Jahrhunderts ein zutiefst esoterisches ist, indem es eben auch charakterisiert wird durch das Erkennen des eigenen Zerstörens. Flaubert ist hier keine Ausnahme, obgleich sein Reisetagebuch vielleicht eindrücklicher als viele andere Quellen davon berichtet, dass nahezu alles, was dieser sich am Beginn der Hochzeit der europäischen Kolonisierung befindende Orient zu bieten vermag, unendlich ruinös ist. Das phantastische Übermaß an Allem, welches das Koloniale überhaupt kennzeichnet (beziehungsweise die Imagination des Kolonialen) ist bei Flaubert auch insbesondere ein Übermaß des Verfalls: Sprache, die aus Gekreisch und kurzen Fragen besteht und jeder Poesie zu entbehren scheint, Flöhe, die über sein Schreibpapier springen, die sich langsam in stinkendes Fleisch auf lösenden syphilitischen Insassen eines Hospitals, Sklavenmärkte inmitten verfallender Architektur – alles ein Übermaß der Ruinierung und des Widerlichen. This too shall pass. Was nicht vergeht, so scheint es, ist das aus diesem und unzähligen weiteren Texten und Geschichten entstehende Bild des Anderen als einer Verkörperung des Schrecklichen, das in der Aus14 Flaubert 1925: 31.
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weglosigkeit des auf sich selbst Zurückgeworfenseins begründet zu liegen scheint. Die Anthropologin Ann Laura Stoler spricht im Buch Imperial Debris mit Verweis auf Derek Walcotts Gedicht Ruins of a Great House von einem fortdauernden Prozess des Verfalls: »the process of decay is ongoing, acts of the past that blacken the senses, their effects without clear termination«.15 Die Ruinierung ist dabei ein komplexer, nicht zuletzt politischer Prozess: To speak of colonial ruination is to trace the fragile and durable substance of signs, the visible and visceral senses in which the effects of empire are reactivated and remain. But ruination is more than a process that sloughs off debris as a by-product. It is also a political project that lays waste to certain peoples, relations, and things that accumulate in specific places. To think with ruins of empire is to emphasize less the artifacts of empire as dead matter or remnants of a defunct regime than to attend their reappropriations, neglect, and strategic and active positioning within the politics of the present. 16
Nicht nur der Blick zurück, auf Ereignisse und Handlungen, deren Effekte spürbar bleiben, sondern auch auf die Bilder, die sichtbar bleiben, ist das, wozu wir verdammt zu sein scheinen. Die Kulturwissenschaftlerin Esther Lezra schlägt in ihrer Arbeit über die Kunst der Dämonisierung des Anderen vor, dass dieser Blick in fortdauernden Imaginationen schwarzer Monströsität resultiert. In seinem Kommentar zu ihrem Werk bemerkt der Amerikanist George Lipsitz: Europeans fashioned images of monstrous Blackness as projections of their own guilt and as justifications for the brutality that conquest and colonization required. These images then became crucial to European and North American self-identity, portraying themselves as defenders of civilization rather than predatory conquerors and explorers.17
Diese offenbar unentrinnbare Verf lechtung, die sich ergibt aus der Erkenntnis des Selbst als zerstörerisch und des Anderen als zerstört, produziert, mit anderen Worten, Phantasien des Monströsen und Abjekten. Nicht nur die 15 Stoler 2013: 1. 16 Stoler 2013: 11. 17 Lipsitz 2014: ix.
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Vorstellung des Anderen, sondern auch das Selbst kann dabei entsetzlich sein, jedoch wird das Selbst, etwa über Entwicklungsdiskurse, scheinbar entschuldet. Man schaut in ein unendliches moralisches Nichts.18 Die Unentrinnbarkeit ist dabei das Entscheidende: Ein Fluch, der nicht gebannt werden kann und der immer wieder erinnert werden muss. Koloniale Orte, wie diejenigen, die Flaubert beschreibt, aber auch postkoloniale Orte, wie sie beispielsweise der Literatur- und Religionswissenschaftler Frederick Ruf in seiner Studie zur Sehnsucht nach Brüchigkeit benennt, sind also Topoi, die von Geistern der Vergangenheit bewohnt werden. Und bei Frantz Fanon sind es schließlich nicht nur diese Orte, sondern eben auch diejenigen, die in der kolonialen Welt leben müssen, die verf lucht sind: weil sie versklavt sind oder weil sie getötet haben. Fanon diagnostiziert diesen Zustand wie eine unheilbare Krankheit, Trauma, eine Psychose stellt man sich da vielleicht vor, oder eine grauenhafte Seuche, die Menschen (und Räume) immer weiter distanziert, entfremdet und zerstört. Angesichts dieser Ruinen kann man, wenn man über Haltung verfügt, einander einschenken und von dem berichten, was war, aber man kann nicht mehr geheilt werden. Aber einbilden kann man sich diese Heilung, wenn man sie kauft, wenn man Orte kauft und Aussichten kauft, wenn man die Ruinen des Kolonialismus, den neokolonialen Raum nichtet und darin seine eskapistische Betäubung von Schuld mehr oder weniger erkennbar sucht. Auch das ist Tourismus. THIS TOO SHALL PASS. Und erst recht, wenn man liebt, wo man ist, wenn man etwa Afrika liebt. Die Liebe erlöst hier nicht, im Gegenteil, sie ruiniert nur weiter, denn »[l] ove,« – wie Hannah Arendt (1906-1975) das in The Human Condition ausführt19 – »by its very nature, is unwordly, and it is for this reason rather than its rarity that it is not only apolitical but antipolitical, perhaps the most 18 Dass diejenigen, die andere in Gefahr bringen, unterdrücken, ruinieren, sich damit auch selbst verdammen und damit ihre Selbstruinierung betreiben, ist ein wichtiger Topos in moralischen Diskursen zur Gewaltgeschichte. Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin bringt dies etwa in seiner Beschreibung der Haltung von Reverend Shuttlesworth, einem schwarzen Bürgerrechtler aus Alabama, gegenüber weißen Rassisten auf den Punkt: »It was as though he were wrestling with the mighty fact that the danger in which he stood was as nothing compared to the spiritual horror which drove those who were trying to destroy him. They endangered him, but they doomed themselves.« (Baldwin 1972: 67) 19 Wir verweisen hier auch auf ein Radiointerview mit der Hannah-Arendt-Expertin Stefania Maffeis in Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/sein-undstreit-die-ganze-sendung-warum-halten-wir.2162.de.html?dram:article_id=415622.
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powerful of all antipolitical human forces.«20 Hannah Arendt führt weiter aus, dass in einem Bereich jenseits interpersonaler Beziehungen der Liebe etwas entspricht, Respekt: »Yet what love is in its own, narrowly circumscribed sphere, respect is in the larger domain of human affairs.«21 Doch wo im neokolonialen Tourismus wird emphatisch ausgerufen: ›Ich respektiere Afrika/ Tansania/Sansibar‹ und wo klingt es nicht bereits am Flughafen ›Ich liebe Afrika/Tansania/Sansibar‹? Diese Liebe, die überdies kein antwortendes Gegenüber kennt, auch sie ist antipolitisch und verweist auf einen machtvollen Konsum von Raum. Die Phantasien einer Flucht aus diesem schicksalhaften Raum bleiben also das Esoterische in den kolonialen Diskursen, das Elizitieren melancholischer Zustände des Einst, das sehnsüchtige Beschwören einer Welt, in welcher Ordnungen gut und hilfreich waren.22 Dabei werden eben nicht nur Ordnungen aufgerufen, bei denen es um eine nach innen gerichtete Perspektive geht (etwa im Sinne der kolonialen Melancholie), sondern eben auch diejenigen der kolonisierten Gesellschaften und Räume miteingeschlossen. Die Geister der Vergangenheit, die nun zu sprechen hatten und deren Präsenzen in den ruinierten Stätten nachspürbar werden sollten, waren also gerade auch die Geister der Anderen – untergegangene Karawanen in der Sahara und altägyptische Frauengestalten wurden zu wesentlichen Projektionsfiguren kolonialer Mysterien. Friedrich Wilhelm Maders Romane über eine mysteriöse Stadt inmitten der Sahara – Die Messingstadt – oder die Entdeckung der Mondberge mithilfe ägyptischer Mumientexte mögen heute zu den zahllosen apokryphen Texten der Jugendliteratur zählen, die niemand mehr liest.23 Vor einiger Zeit konnte man ihnen noch auf Dachböden nun längst verstorbener, einst schwer broschierter Großmütter begegnen und sich dann an einem regnerischen Sonntag, zu Besuch bei genannter Großmutter, festlesen. »Noch heute heißt die Gegend Meroë«, fuhr der Lord fort. »Die Stadt der Krokodile kann das heutige Chartoum sein. Nicht weit davon wird auch das 20 Arendt 1998 [1958]: 242. 21 Arendt 1998 [1958]: 243. 22 Harnischfeger 2006. 23 Umberto Ecos (2010) fulminantes Werk Il Cimitero di Praga zeugt von der großen Bedeutung apokrypher Texte für ein Verständnis dessen, was Antisemitismus, Kolonialismus und Faschismus speist. Die Lektüre rätselhafter Jugendbücher ist in diesem Umfeld anzusiedeln.
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Labyrinth im Sand vergraben liegen mit seinen dreitausend Zimmern, seinen Hallen und Höfen über und unter der Erde. Das soll noch mein Geheimnis bleiben.« [...] »Das sind in der Tat interessante Aufschlüsse«, bemerkte Schulze, »aber diese Aufzeichnungen können ja auch auf zweifelhaften Sagen beruhen.«24
Die Mondberge erschienen zu fern; sie kamen erst spät im Buch zu ihrem Recht. Aber ein einigermaßen irres Labyrinth in der Nähe von Khartoum war ein reizvoller Gedanke. Wenn man dann viele Jahre nach der Lektüre im Anf lug auf Khartoum gewesen ist, vor Jahren schon, da konnte man aus der Luft das Labyrinth sehen. Tausend Zimmer waren das mit Sicherheit, wohl eher mehr. Höfe auch. Unten, nach der Landung die Frage, was das wohl sei, da draußen in der Wüste, kurz bevor Khartoum und Omdurman ins Blickfeld gerieten. Das seien Lager, hieß es da, Orte für Leute aus Darfur oder von den Nubabergen. Das war vor dem Öl und vor der Teilung; heute mag das anders aussehen. Die Stadt war durchsucht. Es gab keinen Winkel, keinen geheimen Gang und kein Versteck mehr in ihr, das die Weißen nicht durchforscht hatten. Nirgendwo war eine Spur von dem Pascha zu entdecken. [...] »Wir haben den Verlust eines Gefährten zu beklagen.« [...] »Vielleicht lastet auf dieser herrlichen Stadt ein Fluch, der nun auch auf uns übergreift und uns verderben will.«25
Das Mysterium, dessen Erblickung hier das Ziel von Reisen und Pilgerfahrten wie auch Eroberungen zu sein scheint, ist nun nicht mehr dort zu finden, wo es erkannt werden kann als Wahrheit und Grundlage von Macht für Menschen, deren Religionen und Ritualisierungspraktiken dafür eine Verortung bieten, sondern in den Ruinen all dessen. Es wird zerstört, um zu finden, und in dem, was nach der Zerstörung noch übrig ist, gesucht nach dem Geheimnis, das die Reste geschliffener Stadtmauern, zerfallende Gräber, Festungen und Gärten so machtvoll erscheinen lässt. Durch Ruinen zu wandern, in den alten Stätten nach dem zu suchen, was noch vom Einst künden könnte, und das Geheime dort zu suchen, wo man es zuvor vernichtet hat, ist eine in ihrer Widersprüchlichkeit ganz und gar esoterische Praxis. In 24 Mader 1952a [1920]: 106-107. 25 Mader 1952b [1924]: 209.
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die große Rationalität gespiegelt im ganzen akademischen Projekt des Postkolonialismus, das einer Welt dort kritischen Sinn zu verleihen sucht, wo die Ruinierung des Kolonialismus ihren Ausgang genommen hat. Sinn suchen, wo man ihn genichtet hat. Die eigene Sehnsucht nach der Entdeckung des Geheimnisses des Anderen, das aber nach seiner und durch seine Entdeckung zerstört ist, kennzeichnet dabei nicht nur koloniale und postkoloniale Phantasmen und Mobilitäten, sondern ist eben auch ein Teil zutiefst kolonialer wissenschaftDie Gräber der heiligen Stiere im licher Paradigmen, wie etwa in der Archäologie, Serapeum in Saqqara sind zu einem die nicht nur geschichtliche Materialität und Ort zurechtkonserviert worden, der auch Erinnerungen einem Aneignungs- und wirklich nichts mehr über die verMusealisierungszwang unterwirft26, sondern streichende Zeit auszusagen scheint auch esoterische Diskurse produziert, welche – kein Leben und kein Tod lässt sich die Ausgrabung des Verborgenen und erst noch dort erahnen. Die umliegenden Temzu Deutenden in das Zentrum persönlicher Erpel und Gräber wirken ähnlich steril. 27 kenntnisinteressen stellt . Unser Kollege deutet auf ein Relief, Im Gayer-Anderson Museum in Kairo das von der Versorgung der Toten findet sich eine programmatische Inszenierung mit allem, was zum Leben gebraucht kolonialer Esoterik, die sich aus unterschiedwird, berichtet. Ein Kälbchen wird lichen disziplinären Interessen und Methoden fortgetragen und wendet den Kopf speist. Die Sammlung orientalischer Objekte zurück zur Mutterkuh. Das Rind hebt und Möbel des einstmaligen Arztes ist in seinem sein Haupt zum Kälbchen: nach früheren Haus untergebracht, das sich gleich Jahrtausenden verblasst, dennoch neben der Ibn Tulun-Moschee befindet. Was farbig, ein direkter Blickkontakt, man auf den ersten Blick als Kuriositäten abtun der erzählt von allerhand Schmerz, könnte, erweist sich bei genauerem Hinsehen wenn auch symbolisch. als eine Sammlung von Alltagsobjekten, Luxusgegenständen und Altertümern aus Ägypten und wesentlichen weiteren Teilen des britischen Imperiums. Robert Grenville Gayer-Anderson (18811945) übergab seine Sammlung gegen Ende seines Lebens dem ägyptischen Staat, der es nun als einen Ort des Kulturerbes der Öffentlichkeit zugänglich macht. Vieles, was hier zu sehen ist, war schon zu Lebzeiten des Sammlers im Begriff, aus dem Gebrauch zu geraten, anderes war Teil international gehandelter Antiquitäten. Das Projekt dieses Museums war und ist es auch, 26 Shepherd im Druck. 27 Voss & Conlin Casella 2012.
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den nunmehr damit beschenkten Ägyptern ihre Geschichte und damit ihre geheimnisvollen Dinge zurückzugeben. Was sich dem Besucher präsentiert, ist ein wunderschöner, zutiefst melancholischer Ort, der eine Konstruktion und Positionierung des Anderen bietet, um die Nichtung dessen, was man hätte schätzen können, zu verbergen.
Was übrig blieb. Kairo 2017
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Es ist also offenbar nicht so sehr eine Frage der Perspektive: Ruinierung und Ruinen lassen sich aus verschiedenen Positionen als ein historischer Prozess verstehen, welcher dem Kolonialen inhärent ist und sich dahingehend von Verfall, Vermodern und Abjektion zu unterscheiden scheint, dass er sich als unumkehrbares Kontinuum erweist, das auch das nicht Vermodernde mit einbezieht, also auch uns als f lüchtige Betrachter des Gayer-Anderson Museums und seiner in Trauer verstaubenden Möbel und Bilder zu trostlosen Teilnehmern an der Nichtung macht. Auch hier also das verzeitlichte Durch-den-Raum-Gehen in der Horizontalen auf ein nicht existierendes Ziel zu. Und Nichtung ist, folgen wir dem Deutschen Rechtswörterbuch, eine »Ungültigkeitserklärung, Tilgung«28. In den Ruinen gilt am Ende nichts mehr etwas, selbst die Erfahrungen werden getilgt. »We need not fear these silences, — we may love them «29, heißt es in John Cages Lecture on Nothing. Wir könnten das Nichts auch ertragen und auf hören, durch die Ruinen unseres eigenen Tuns zu laufen, um dort Schätze zu suchen. Man könnte, mit anderen Worten, auch eine andere Perspektive auf Disruption und Brüchigkeit suchen, die es zulässt, den Anblick der Nichtung auszuhalten und damit auch Haltung zu finden. Eine Brosche sitzt nicht gut auf dem staubigen Entdeckerhemd, sehr wohl aber am Gewand der still auf die Ruinen blickenden Sängerin. Im Grunde handelt es sich hier um den radikalen Gegenentwurf zu Nietzsches Nichtung im Sinne einer postkolonialen Philosophie30. Die Nichtung als Ausdruck von Lebensangst, als Krise der Identifikation mit dem Selbst, kann bei Nietzsche nicht negiert und beseitigt werden, weil es sich um eine Abstraktion handelt, die an nichts festgemacht werden kann. Die einzige Möglichkeit, einen Bezug herzustellen, ist die Umkehr der Negation und die Gestaltung dessen, was Nietzsche als eine Form des veräußerten Eigenen beschreibt: Die Geister der Anderen, die das Ruinierte bewohnen. Die Nichtung meint also eine echte Beziehungslosigkeit, die nach Auswegen suchen lässt, die Nietzsche als Perversionen deutet (in etwa Voyeurismus oder Sadismus), und die bei Freud im Todestrieb apostrophiert ist. Eine andere Haltung liegt in der Verschiebung der Perspektive und im Blick auf das Nichts als dem Eigenen (und nicht nur dem Anderen), und dem Annehmen des Schweigens: Stille, die auch geliebt werden kann. 28 Deutsches Rechtswörterbuch IX, Sp. 1474. 29 Cage 1959: 1. 30 Tongeren 2017.
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Dem selbstzerstörerischen kolonialen Epistem und dem Spätkapitalismus als todessuchendem System lässt sich, von diesen Überlegungen ausgehend, etwas entgegensetzen, das die Linguisten Nick Faraclas und Don Walicek als indigene Souveränität beschreiben, nämlich sprachliches, soziales und ökonomisches Handeln außerhalb kolonial begründeter Hegemonien. Damit ist keineswegs eine essentialisierende Rekonstruktion gemeint, oder die binäre Gegenüberstellung von Gesellschaften, sondern die radikale Infragestellung globalisierter Handlungsanweisungen. Hier greift der Broschenbegriff gleich auf mehreren Ebenen: zunächst einmal verdeutlicht er die Historizität der Ruinierung und der Dynamiken von Rekonstruktion, Resilienz und Subversion. Die Brosche hat in unseren Erinnerungen an ihr Auftreten in Romanen, Kostümen und Ruthleuwerikfilmen ihre große Zeit zwischen 1800 und 1959 gehabt, also genau in der Hochzeit des Kolonialismus, um den es uns hier geht, und auch in der Zeit, in der akademische Disziplinen – wie etwa die Linguistik – im universitären Kontext etabliert wurden. Die Brosche verleugnet offensichtlich nicht das neunzehnte Jahrhundert und hält damit ganz diverse und antagonistische Konzepte zusammen. Damit kann einerseits deutlich gemacht werden, dass es, beispielsweise im Sinne des Dichters und Philosophen Édouard Glissant (1928-2011), dauerhafte Verf lechtungen zwischen allen Akteuren kolonialer Orte gibt, welche sich in intellektuellen Prozessen wie auch in alltäglichem Handeln äußern, aber auch partikuläre und lokale Gestaltungsmöglichkeiten und Haltungsoptionen weiterexistieren. Die Brosche wird dadurch zu einem Epistem der Gastfreundschaft und Großzügigkeit: sie schmückt und verschönt, und sie bringt zusammen, was sich nur irgend zusammenbringen lässt, ohne dauerhaft zu fixieren, zu übersteppen und übernähen, zu nieten oder gar zu verkleben. Als Nadel am Gewand lässt sie eine Wandung tragbar erscheinen, die Beweglichkeit und Lüftung gestattet, und dies natürlich auch im metaphorischen Sinn31. Eine der Nichtung und Ruinierungsperspektive entgegensetzbare Sicht ist also die epistemische Großzügigkeit und Durchlüftetheit, die ein von Lebensängsten geleitetes Denken, Reden und Handeln durch ein kritisches, ref lektiertes und in die Kraft von Begegnungen und Geschichten ver31 Ihr maskulines Gegenstück, der Brokat – gebildet aus der gleichen Wortwurzel, nämlich brocca – leistet so etwas nicht. Der schwere, von Silberfäden durchzogene Stoff ist ein wenig einschränkend.
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Nach oben geschaut. Kairo 2018 trauendes Dasein und Wirken ersetzt. Und hier fühlen wir uns einmal mehr an Pasolinis bereits erwähnte Haltung erinnert, Non aver paura di avere un cuore.32 Die Brosche ist dabei multipel, es gibt sie in unterschiedlichen Stilen, Größen, Farben und Formen. Sie kann abgelegt und wieder angelegt werden. 32 Pasolini 1975.
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Dazu gehört Haltung, und zwar eine aufrechte. Dies ist im Kontext unserer Betrachtungen an dieser Stelle nicht nur von großer Wichtigkeit für die Ortswortsforschung – das haben wir bereits bei der Suche nach Abessinien und dem Besuch der Sansibar feststellen können –, sondern auch für alle möglichen Im Hotel gefragt worden, was wir so tun. kritikalitätstheoretischen Bewegungen Buch schreiben. Worüber. Erklärung in der Linguistik und für das Reden vom etablierter Forschungsinhalte mittels Sprechen und Schweigen überhaupt. etablierter Fachterminologie versucht. Verstehen wir die Brosche als eine Diejenigen, deren sprachliche Eloquenz linguistische Haltung, so gestattet sie in den üblichen Fachtexten beschrieben sprachliche Brokate, Lumpen, Tücher, und behandelt wird, dürften sich dort Linnen und Gewirke gleichermaßen wertkaum wiedererkennen. Genre gewechselt, zuschätzen (quasi zu verzieren) und eine dasselbe mittels broschenkundlicher BeVielfalt von Dekorationsformen in den grifflichkeiten zu verdeutlichen versucht, Vordergrund zu rücken (also Edelsteine was sich mindestens genauso bekloppt ja oder nein, Gold oder Talmi, eckig oder angehört hat. rokoko). Mit gutem Grund: Das, was wir an unglaublichen linguistischen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, unentwegt, beim Weben und Häkeln von Rede, Schweigen, Vortrag, Gemurmel und Text, aber auch beim künstlerischen und phantasievollen Basteln von schönen Wörtern und Geräuschen, die wir uns ein wenig anstecken können, hier und da, wird in der Sprachwissenschaft in der Regel als ein wenig absonderlich behandelt. Da geht es um das nicht dem sowieso langweiligen Standard folgende Reden als linguistische Kreativität33, Jugendsprache34, Wahnsinn, Kunst, Poesie und sonstwas. Da, wo eine vermeintlich echte Sprache suspendiert ist, da darf dann auch die Abweichung von einem vorgestellten Standard ihr Habitat finden.35 Was partikulär erscheint und spontan geschaffen, gefunden, ausgewählt wird, ist in einem solchen wissenschaftlichen Blick der markierte Fall, immer erklärungsbedürftig und immer am Rande des Behandlungsbedürftigen. Sprache in der kolonialzeitlich gegründeten und ruinös nichtenden, fixierungsfixierten Linguistik ist fast nie das Reden und Erklingen 33 Siehe Deumert & Swann 2018. 34 Siehe Nassenstein et al. 2018. 35 Anne Carson (1999: 134) schreibt deshalb: »Why are neologisms disturbing? If we cannot construe them at all, we call them mad. If we can construe them, we raise troubling questions about our own linguistic mastery. We say ›coinages‹ because they disrupt the economic equilibrium of words and things that we had prided ourselves on maintaining.«
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und schon gar nicht das Schweigen im Reden und Zuhören, sondern eben fast immer etwas, das festgeschrieben gehört (der Standard, die Orthographie, das Korpus) und nicht gerade zu intellektueller Beweglichkeit einladender Modelle bedarf, die das, was man halt so eigentlich tut, wenn man spricht, wegerklären (Standardisierung, Ausgleich, Sprachkontakt, code-switching, Superdiversität). Die Brosche als epistemische Großzügigkeit und Pracht nicht scheuende Gastfreundschaft reißt auf lange Sicht solche Applizierungen ab, die ihrem Gekiekse und Gestochere, Gewicht und Gezoppel erfahrungsgemäß nicht standhalten. – Man fragt sich, wie die applikative Linguistik wohl aussieht, wenn ihr die Applikationen abhandengekommen sind. Unter Umständen baut sich dann die Linguistik ihre eigenen Sprachen, die sie erforschen kann. – Die Brosche lädt also dazu ein, das klingende Erzählen in besonderen Wörtern und in beziehungsreicher sowie unvollständiger Sprache als das Eigentliche am Reden und Sprechen zu betrachten. Man denke nur daran, wie viele Übersetzungen es von Ibrahim Nagis Ruinen gibt: Hunderte! Weil es so etwas wie semiotische Durchlässigkeit gibt und die Stimme und das eigene Erklingen und das Gebabbel und Sichworteausdenken als das Verbindende, das, was den Anderen doch erst auf horchen lässt, zu begreifen; denken wir einfach an Oum Kalthoums Stimme, stellen wir uns Sprache als Voile vor. Es ist dieses Reichen nach dem Anderen, nicht als Geste der Einsamkeit, sondern der Großzügigkeit und der Haltung, dennoch ganz bei sich selbst zu sein, das unsere Stimmen und Körper einander in Beziehung setzen lässt. Broschenepistemologisch argumentiert geht es hier also um Verkörperung (embodiment), das Sein von Sprache im Inneren und Äußeren und im Dazwischen, also in den Interioritäten von Menschen und Dingen, ihren Körpern, Bewegungen, den Orten, die ihnen Rollen einschreiben und denen sie Ortungen geben, und eben dem, was wirklich gehört und gesehen wird. Durch ihren Auftrag, Sprache theoretisierbar, fixierbar und staatsgewaltmäßig kontrollierbar zu machen (alles Michel Foucault), ist die Linguistik als akademische Disziplin dazu geEin Grund, Linguistik zu studieren, ist nach Auszwungen, dies der Trennung von Praxis kunft eines flüchtig bekannten Kollegen, dass und Struktur zu opfern, wie auch der sich fremde Wörter so schön anhören. Cthulhu, Nichtung dessen, was man hätte lieben Ghul, Nyarlathotep klingen zwar ziemlich fremd, und respektieren können (das Unfixierte aber beschreiben wohl doch eher das Eigene, nämlich und das Unverständliche) Tribut wenngleich durchaus die sonst namenlos bleizu zollen. Im Grunde ist die Linguistik benden Seiten des Selbst. also nicht nur eine romantische Disziplin,
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was Jürgen Trabant eindrucksvoll diskutiert, die zum Ruinengewandel einlädt, sondern auch eine lebensängstliche und todessehnsüchtige Solche. Der Stimme ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken, ist dabei ein broschentheoretisch naheliegender Zug. Der Philosoph Mladen Dolar bietet in seinem Werk zur Stimme eine Perspektive, indem er schon im Geräusch selbst ein Sich Ausstrecken nach dem Anderen erkennt; die Stimme selbst, der Schrei ist bereits ein Versuch einer Deutung, und der Andere kann darauf reagieren oder nicht. Die Stimme ist etwas, das der Herstellung von Zwischenmenschlichkeit dient, und das sich dabei im konzeptuellen Dazwischen auf hält, irgendwo zwischen Natur und Kultur. Die trennende Linie zwischen Stimme und Lärm mag dabei eine ganz dünne sein, kaum erkennbar und undeutlich. Und dazu kommt dann, dass eine Stimme auch aus einer Maschine kommen kann, was dazu führt, dass sie hier und da lärmartig erscheinen mag und das Ganze dann ziemlich unentschieden und quasiartig ausgehen dürfte. Das genau ist laut Dolar dann aber auch das ganz ganz ganz Typische und Bezeichnende der Stimme.36 Sie stellt damit für die Linguistik eine erhebliche Überforderung dar, aber – das ist dann auch wieder ein Trost – auch für außerakademische Metadiskurse: We constantly inhabit the universe of voices, we are continuously bombarded by voices, we have to make our daily way through a jungle of voices, and we have to use all kinds of machetes and compasses so as not to get lost. There are the voices of other people, the voices of music, the voices of media, our own voice intermingled with the lot. All those voices are shouting, whispering, crying, caressing, threatening, imploring, seducing, commanding, pleading, praying, hypnotizing, confessing, terrorizing, declaring ... – we can immediately see the dif ficulty into which any treatment of the voice runs: namely that the vocabulary is inadequate. The vocabulary may well distinguish nuances of meaning, but words fail us when we are faced with the infinite shades of the voice, which infinitely exceed meaning. It is not that our vocabulary is scanty and its deficiency should be remedied: faced with the voice, words structurally fail.37
36 Dolar 2012: 539. 37 Dolar 2012: 539.
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Nicht nur das verfügbare Repertoire an erlernten Begriffen scheint inadäquat; auch die Fertigkeit des Zuhörens ist nur begrenzt geeignet, die uns umgebenden Stimmen lauschend mit Sinn zu füllen. Hören ist, das legt Dolars Werk nahe und das ist auch ein wichtiges Thema in den Sound Studies, wie sie etwa von Salomé Voegelin oder Brandon Labelle vorgeschlagen werden, ein recht aktiver, volitionaler und aufwendiger Vorgang. Hören und das Reden darüber und die Stimme und damit auch die Sprache und die ganze Sprachwissenschaft sowieso sind ein bisschen mühsam, scheint es, aber das macht es ja auch so interessant. Das Leben wäre sonst vielleicht ein wenig langweilig, vermutlich sogar sinnlos und leer. An einem Abend jedenfalls ist einer von uns heimgelaufen, vom Tahrirplatz zum Hotel im fünften Stock. Unterwegs ein bisschen Verkehr, ein wenig Lärm; man hupt und arbeitet sich vorwärts. Irgendwo falsch abgebogen: برح تعلططﻠﻌﺖ عراشلا ﺣﺮب نيأﻦ اﻟﺸﺎرع نمﻚ أﯾ كلضفﻀﻠ ﻣﻦ ﻓ Die Antwort windet sich um mehrere Ecken, verschwindet hinter einem Lachen und kommt wieder hinter einer knarrenden Türe hervor, krabbelt um das Krachen eines umgekippten Eimers, wurschtelt sich um plaudernde Männerrunden, pröttelnde Shishas, läuft eilig vor einer miauenden Katze her, ignoriert eine Hupe, lächelt, hat einen braunen Zahn dabei, redet leise, sagt etwas und noch etwas und führt an einem Handwagen voll duftendem Koshari vorbei zum Eingang des Hotels.
Luft Ein anderes Mal haben wir ein paar Tage auf der Insel Zanzibar, die man auch Unguja nennen kann, in einem ganz verwinkelten Haus zugebracht, das offenbar aus mehreren Gebäuden bestand, die man über die Jahre, Jahrzehnte und vielleicht wohl Jahrhunderte zusammengefügt hatte, ineinandergeschachtelt und übereinandergetürmt; ein Haus und mehrere zugleich. Dort hatten wir eine Dachterrasse, von der wir auf die frühabendlich blaue Stadt blicken konnten, dem Ruf zum Gebet lauschend und leichten tropischen Wind spürend. Es war ein schöner Aufenthalt, aber auch ein komplizierter, bei dem wir immer wieder glaubten, uns entscheiden zu müssen, ob uns etwas zusagte, leichtfiel, kolonial oder neokolonial vorkam – was ist der Unterschied? – oder richtig gut und southern und was man sonst noch so sagt. Und es wurde ein Aufenthalt, bei dem wir immer mehr für möglich hielten, dass es eigentlich gar nicht darum geht, solche Fragen zu stellen. Gerne wollten wir in Zanzibar die Sache umkehren: einfach losschreiben und das Gegenteil behaupten. Eine Umkehrungsgeschichte erzählen. Die da oben haben sowieso keine Ahnung vom wahren Leben im globalen Süden. Wir hingegen sind jetzt hier, machen eine tropische Feldstudie, und geben den gedanklichen Knechten einfach Aufträge, los, schreibt ein schlaues Buch, ihr bekommt hier genug Futter; anleiten zur Arbeit in der Wärme. Wie zu erwarten, hat es nicht funktioniert, eine imaginierte Kreativität im Anderswo zu entfalten. Das touristisch Verformte ist keine Inversion des Alltäglichen, sondern – für diejenigen, die sich dort finden wollen – ein Simulacrum derartiger Orte. Das Simulacrum ähnelt nicht einfach, sondern beschwört herauf und bietet an oft ganz nebensächlich erscheinenden Merkmalen festzumachende Annäherungen. Es schafft also etwas Neues, anstatt Existierendes zu imitieren oder eben anzuerkennen und umzukehren, in Südlichkeit und freie kreative Räume zu verwandeln, beispielsweise. Stattdessen geschieht in der touristischen Inbesitznahme, welche
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die alltäglichste neokoloniale Mobilität überhaupt kennzeichnet, etwas, das wir zumeist als ›Entdeckung‹ apostrophiert finden können. Da werden Orte und Spektakel ›entdeckt‹, die dabei oder zuvor als Simulacren geschaffen werden und dann etwas anderswoher Bekanntem ähneln. Und so kann Zanzibar sein, als ob es das sei, was hier gerade gebraucht wird – Sansibar, das Paradies, Afrika, Tausendundeinenacht. Hier ist aber kein Gegenteil zu finden, keine Umkehrung, keine Erlösung vom Norden. Weil es nämlich solche Erlösungen durch Inversionen und erst recht im Simulacrum nicht gibt, außer in den gegen das Licht gewandten, zugeknif fenen oder sonnenbebrillten Augen derjenigen, die sie sehen wollen und erzwingen. Auch das akademische Projekt einer Erlösung aus den engen Grenzen der eigenen Disziplin funktioniert hier nicht, man kommt mit einem solchem Versuch nicht weit. Hier in Stone Town, der alten Stadt in Zanzibar City, konnte es uns gerade nicht um das gehen, was wir sehen wollten, um uns zu positionieren, sondern nur um das, was wir zu sehen bekamen, und dies war selbstverständlich immer das, was wir angeblickt haben. In den Worten der Philosophin Sybille Krämer geht es immer auch um das »Wahrgenommenwerden des Bildes im Blick des Betrachters«1. Wir waren also, um mit Krämer weiterzudenken, nicht bloß mit Sehen befasst, sondern mit dem Anblicken von dem, was wir zu sehen bekamen und bestätigten dabei unausweichlich eine Frage, die Krämer aufwirft: »Und könnte nicht eine Besonderheit des Blickbezugs auf Bilder darin liegen, dass diese uns nun ihrerseits anblicken?«2 Und dies bedeutet auch, dass wir von Sehenden in unserer feldstudierenden Praxis selbst zu Angeblickten wurden; »[d]er Andere ist nicht der, mit dem ich kommuniziere, sondern derjenige, durch den ich angeschaut werde.«3 Feldstudieren und sich recherchierend umschauen, heißt also vor allem auch, selbst zum Angeblickten zu werden und in die Rollen geworfen zu sein, die für einen vorgesehen sind. Was passiert körperlich in der tropischen Luft, wenn der Ausgangspunkt die Sansibar war – ein Kult, eine applikative Welt, eine sichere Konsumsache und eine harmonische Ablenkung. Was geschieht mit uns, wenn wir eine
1 Krämer 2009: 4. 2 Krämer 2009: 5. 3 Krämer 2009: 6.
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Reise machen, bei der das Rantumer Einmal standen wir abends auf unserer HotelBecken zum Anderswo wird, und terrasse, sahen über die Stadt und hörten den wir angeschaut werden? Rufen zum Gebet nach, Rufen, die von den umWir feldstudieren die Straße liegenden Moscheen ausgingen und die einander entlang, während andere ganz antworteten, wie Stimmen alter mystischer und ähnliches tun, es nur nicht so weitfliegender Vögel, den ganzen Raum in Klang, nennen. Diese Anderen machen Sprache, Unmittelbarkeit verwandelten, ein Urlaub. Wahrnehmbar machen sich Raum, in dem es keine Erklärung mehr gab, nur dabei für uns wie für die anderen noch Deklamation, irgendwie kommt man sich natürlich diejenigen, die das Leben da ganz begrenzt mit seinem wissenschaftlichen hier vermutlich nicht also tropische Tun vor, dachten wir, ein Augenblick reicht, und Luft empfinden, sondern eindas ganze Gedenke wird glanzlos, zur matten Befach als ihre Existenz, in der sie schäftigung, der man gewohnt ist, nachzugehen, sich bewegen, und die in gewisser Wissenschaft kann eine recht fahle Routine sein. Weise abhängig vom Tourismus ist. Alle werden angeschaut. Das große neokoloniale Panoptikum. Die mit Allinclusivebändchen ausgef laggten Touristen aus den Resorts etwa – in Stone Town haben wir darüber noch gelächelt, wenige Tage später waren wir selbst mit einem orangenen Bändchen resortet und lächelten nicht mehr –, Touristen, die manchmal besorgt um sich schauten und aus der f ließenden Luft in das klimatisierte Souvenier Emporium tappten, das Memories of Zanzibar heißt: … too good to leave behind. Selbstverständlich hat uns das auch interessiert, dafür waren wir hier. Man kann also auch an Feldforschern verdienen, denn unsere Neokolonialtourismussammlung wurde hier ergänzt. Wir werden zu Beobachtern, Zuschauern, die wahrgenommen werden durch die, die sich wahrnehmbar machen, weil sie etwas verkaufen wollen und müssen. Kleiner Shop an kleinem Shop. Hier eine Frauenkooperative, die Tücher und Taschen verkauft, dort die Ausschussware des globalen Ramschhandels. Dazwischen ein in die schwüle Brise geworfenes, phatisches 8HAKUNA MATATA8, 8JAMBO JAMBO8. Ambientwords. Willkommen im Swahilisound. Vieles ist der Plunder, der vermutlich aus China verschifft, hierhergeschafft, verkauft und irgendwo und irgendwann am Ende der Reise verlegt wird und zum weltumspannenden Müll der globalen Mobilitäten gehört, der überall dort angeschwemmt wird, wo Urlaub mit Ortserfahrung gemacht werden soll, wo es Dinge zu merken gibt, wo es Memory Shops gibt und wo das Leben weggekauft wird. Dieser Ramsch ist ein Kitt in den Blick-
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kontakten, er vermittelt die Körper, die sich sonst eigentlich nichts sagen. Dass Zanzibar dabei ebenso zur Kulisse wird, wie die Nordseedünen in der Sansibar, spielt für den Umsatz gar keine Rolle, im Gegenteil. Es wird alles appliziert, was der Raum so fassen kann. Gerne auch immer wieder mit dem Aufdruck 8Zanzibar8. Der touristische Krempel nichtet Orte, weil er sie zum leeren Ortsnamen verschiebt, zu einer Applikation auf Dingen und die Stelle derjenigen einnimmt, die angeschaut werden und selbst anschauen. Es ist bezeichnend, dass der touristische Trott durch die Souvenirgassen – mit einem oft merkwürdig traurig-erschöpften Melancholieausdruck – eigentlich immer mit menschlichen Blicken und einer Kontaktaufnahme beginnt – 8JAMBO8 – und dann im Schauen auf und Kaufen von Firlefanz endet. Es scheint, als seien gerade die nutzlosen Dinge eine Möglichkeit, den persönlichen Blicken auszuweichen. Von den Funktionen leerer Ortsnamen, von entleerten Toponymen spricht auch der französische Ethnologe Marc Augé in seinem Buch Non-Lieux, von Orten, die nur durch Worte existieren, die sie evozieren: »Certains lieux n’existent que par les mots qui les évoquent, non-lieux en ce sens ou plutôt lieux imaginaires, utopies banales, clichés.« 4 Das applizierte Zanzibar auf Dingen ist ja eben nicht der reale Ort, sondern eine klischeehaf te Imagination, die sich zur Anschauung bringt und dabei als banale Utopie irgendetwas Reales verdrängt. Ein Name, der zwar geeignet ist, persönliche Erinnerungen zu binden, die aber selbst nicht mehr zu uns sprechen, mit denen wir auch nicht sprechen können. Es sind stumme Erinnerungsstücke, die man kaufen kann. Sprachtote Dinge mit toter Sprache. Das Zanzibar, von dem auf den Zanzibarshirts, Zanzibartassen etc. die Rede ist, ist ein imaginärer Ort, an dem nicht gesprochen wird. Doch zurück zu unserem Vorhaben an und für sich: Unser Setting ist jetzt also nicht mehr der Reizklimakuref fekt mit Kulteskapismus, sondern die Schwüle. Ereignen tut sich hier wie da sehr viel an der Luf t. Ein Entlanggehen, Schlendern auf der touristischen Passage, von Shop zu Shop blicken – noch einmal: Vor allem auch angeschaut zu werden – und irgendetwas zu kaufen, um sich aus der Fremde hinwegzustehlen. Am Besten in Dollar bezahlt. Diese Allerweltspraxis findet an der Luf t statt, da, wo man sich in der Fremde eben üblicherweise bewegt. Urlaubmachen als Rumlaufen. Wir sind ja im Urlaub nicht zu Hause, wir arbeiten nicht in einer 4 Augé 1992: 120.
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Werkstatt, in einem Büro oder Laden, sitzen nicht in unserem Garten oder an einem Schreibtisch, in unserer Wohnung, in unserem Zimmer. Als Tourist und als Feldforscher verlässt man sein Zimmer, um an die Luf t zu gehen. Eine Feldstudie ist immer auch eine akademische Luf tkur. So wie unsere Schuhe und Blusen, und Broschen übrigens auch (aktuell: Dhaubrosche in Türkis, Blau, Braun), anders sind als diejenigen, die uns üblicherweise schmücken, so könnten wir doch, radikal epistemisch und performativ ausbrechend aus unserem Alltag, auch unsere Terminologie einmal auswechseln. Einmal rauskommen, weg vom Schreibtisch, hinein in die Kur, mal was für sich tun. Terminologisches Detox. Wir sind jetzt ganz bei uns, total unvermittelt authentisch, in Afrika ge- Fangen Sie mal an. erdet und superkreativ; wenigstens für diesen Augenblick, ein- Nö, ich wieso ich. mal eine Utopie wagen. Wir beginnen mit drei Augenblicksbeschreibungen, also dem, was bezeichnet, was jetzt ist. Im Hier und Jetzt – was ereignet sich da nun: lüften, luften und lieben. Drei Konzeptwörter, mit denen wir ab jetzt – und bis ein klein wenig später – unsere zanzibarischen Eindrücke ordnen. Es fällt gleich auf, dass das ziemlich ungewöhnliche Wörter in einer Publikation sind, die auf eine wissenschaftlich motivierte und finanzierte Feldstudie zurückgeht. Transgression, Eskapismus, Negation, Silencing, Emotion usw., das wären übliche Ausdrücke, um So etwas Scheinheiliges. Da haben wir in der Altstadt den gansich eine wissenzen Vormittag nach Broschen gesucht, und alles was wir fanschaftliche Position den, waren Anstecknadeln. Und selbst für die waren unsere zurechtzuschneidern. unzureichenden Hemdchen zu locker, albern sich verziehend Wir vermeiden das bei so wenig äußerlich angebrachtem Gewicht. Wenn nicht aber. Wir werfen wenigstens die Sonnenbrille und das Taschentuch im Koffer unserer Studie lieber vergessen geblieben wären. Dann hätte zumindest ansatzein luftiges Tuch weise eine Oumkalthoumaffinität hergestellt werden könrecht einfacher Ausnen; immerhin haben wir noch ein Schweißtüchlein gekauft. drücke über und So bleibt uns nur der Rückzug ins Philologengebaren, das so tut, als halten sie zusammen wäre das Äußerliche unnötig und eitel und die Sprache absolut alles. mit einer brosche, also unserem entschiedenen Willen, nicht zu schnell in ausgetretenes Terrain zu geraten.
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§ 1 Erstes Wort. lüften. Urlaub zu machen bedeutet, sich lüften zu wollen, sein Leben zu lüften, und Feldstudieren nicht minder. Die Routine der angelesenen Dinge mal wegblasen und unter freiem Himmel forschen. An die luft gehen. Den Tropenmond sehen und auch schwitzen, manchmal im Indischen Ozean schwimmen. Mit dem lüften ist die Erwartung eines resultativen Wandels verbunden, nachher ist dann alles frisch. Der Körper, das Leben, die Arbeit, die Erkenntnis. Dass luft dabei nichts anderes ist als luft, spielt keine Rolle, weil das lüften durchdrungen ist vom Wunsch nach Wandel, nach einem Effekt; man will erholt sein, wenn man sich zum Erholen aufgemacht hat. Wir wunderten uns zum Beispiel, dass zu einem dystopischen Gruselresort, in dem wir auch ein paar Tage auf Zanzibar gewohnt haben, begeisterte Gästekommentare im Netz standen. Der Wille zum lüften muss groß gewesen sein. Das ist ja beim Feldstudieren nicht anders, auch hier muss etwas dabei herauskommen und es wird schon. Man wird studiert haben, wenn man feldstudiert hat. Wir müssen uns nur genügend lüften. Ganz unten in den Süden zu fahren, verspricht dabei natürlich besonders lüftend zu sein, für Afrikanisten vielleicht nicht so sehr, aber für Germanisten ja wohl auf jeden Fall. Weil man die gewohnte Jahreszeit abschütteln kann – die Germanistik ist eine Wissenschaft, die in Jahreszeiten entstanden ist, die Afrikanistik allerdings auch – und mit milchiger luft umf lossen wird, manchmal auch vom Monsun durchnässt, was einer von uns als besonders lüftend empfand. Aber auch Sylt war zweifellos lüftend und machte ja nicht zuletzt wegen der luft ambientwordartig gesprochen 8sychtig8. Und nur zur Erinnerung: 8sychtig8 ist im Übrigen als Ambientword ein mit Surroundzirkel (8) markiertes Element, was eine Konvention ist, die wir ja hier eingeführt haben, so wie Konzeptwörter in Kapitälchen stehen und Applikativwörter mit Stitchmarker (`) versehen sind. Im Abschnitt Abreise kann man das noch einmal nachlesen. Wenn man damit weiterarbeiten möchte, ist diese Lektüre obligatorisch. Das lüften auf Zanzibar ist jedoch ebenso wie auf Sylt nicht logofrei, im Gegenteil, das `Logo`, die Applikation haben auch hier längst Platz gegriffen, `Mottoshirts` werden recht teuer verkauft, und nutzloser Erinnerungsfirlefanz in der 8HAKUNA MATATA8cloud abgelegt. Wörter wie `Logo` sind im Gegensatz zu Ambientwords übrigens Applikativwörter, die eben zu stitchmarkieren sind.
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Die hässliche Welt der Nichtortung durch nutzlose Objekte funktioniert in Stone Town wie sonstwo auch. Vielleicht ist der Zwang zum lüften, zum Wohlfühlen auf Zanzibar für den generischen Nordtouristen etwas Es gibt Strandläden, die Gucci, Prada, Harrods und größer als sonstwo, der weite Flug, eine Reihe von Luxuslabeln ironisch zitieren. Sind die Gelbfieberimpfung, die Fremde, kleine Holzschilder dran. Pradashop. In einer dieser all das muss schließlich ein wenig Hütten haben wir noch ein Zanzibarshirt gekauft. weggefreut werden. Dinge wegGenauer ist das ein Fußballshirt, mit Nummer auf freuen, das ist auch Teil des lüftens. dem Rücken (stimmt übrigens nicht, habe ich Zum lüften gehört aber auch bei der Korrekturlektüre extra noch mal nachgedas Aufdecken, frische luft an schaut) und schönen Dreierstreifen am Ärmel (vor die verdeckten Sachen kommen allem auf der Schulter): angeblich Originaladidas. lassen, wenn es etwa darum geht, Wollten es in Azurblau haben. Und das trägt dann verdrängte Geheimnisse, Vereiner von uns in der Sansibar auf Sylt. Das ist Kult. schwiegenes zu lüften. Der berühmte Urlaubsstreit lässt grüßen. Die Süddeutsche Zeitung hat sogar mal einen Artikel darüber gemacht: »Streit am Strand«.5 Das, was covered ist, wird aufgedeckt, bringt sich zur Anschauung, kommt an die luft. Bezogen auf Kolonialismus und überhaupt Geschichte ist das jedoch etwas ganz anderes als der Slogan vom … too good to leave behind, der das Emporium in Stone Town schmückt. Es könnte beim lüften auch darum gehen, sich zu fragen, woher diese Imaginationsnamen Sansibar, Samoa, Abessinien, Klein Afrika, Nakupenda eigentlich kommen. Der Ort, wo sie zu Hause sind, und vor allem der Konnex mit der Sylter Welt ist aber nicht zu gut, um ihn hinter sich zu lassen, sondern of fenbar zu schlecht, um ihn sich zu vergegenwärtigen: too bad to think about, to remember. Es gibt im globalen Tourismus eine Praktik, die eng an das lüften gebunden ist und die mit Praktiken der Vermeidung zu tun hat, mit der Vermeidung, dass etwas aufgedeckt wird, dass sich etwas zur Anschauung bringt. Bloß die erkauf te und mühsam erf logene Idylle (blöde Meilen, kann man eh nie einlösen) nicht stören. Vermeidung einer Konfrontation auch mit kolonialer Geschichte, mit Gewaltgeschichte als Unterstützung der Praktiken des lüftens. Damit die Erholung auch funktioniert. Wir nennen das nun luften.
5 Jakat & Kock 2013.
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§ 2. Zweites Wort. luften. Das luften scheint das Gegenteil davon zu sein, eine Sache zu lüften, etwa weggedachte Kolonialgeschichte hervorzuholen, an die luft zu holen. Denn das luften ist eine Praktik der Verdeckung und Nichtung. Wir haben gehört, dass man sich unter Touristen erzählt, in Zanzibar habe man besser Dollarnoten in kleinen Scheinen dabei, um sich das Leben vor Ort etwas einfacher machen zu Begegnung belauscht: können. Hundert Eindollarnoten bitte. – Wo geht’s denn hin? Das ist auch eine Seite der luft, Afrika. die genichtete Seite, Menschen, Ja, das ist gut, sollte man immer dabeihaben. Im Urlaub will man ja Dinge, Welt wegkaufen. Nicht seinen Spaß haben und Urlaub machen. Um mich zu ärgern, muss ich die volitive Erfrischung, sondern ja nicht die banale Überschreitung des wegfahren. eigenen Handlungsraums durch Nichtung all der störenden Dinge, die das lüften beeinträchtigen könnten. luften kann man, in dem man sich etwas schönerzählt. Übrigens ist die feuchte luft das erste, was man spürt, wenn man auf Zanzibar aus dem Flugzeug steigt. Und da kann es ein kleiner Trick sein, um das Ganze in seiner Fremdheit nicht als Bedrohung zu erleben und mir nichts dir nichts in die erste Falle des Tropenkollers zu tappen, die milchige luft einfach zu luften, zu ignorieren, nicht wahrzunehmen. Das luften findet stets in kleinen Situationen statt, beim Aussteigen aus dem Flugzeug, beim Übersehen eines Gesprächspartners usw. Das luften geht ganz rasch, man kann es nach Bedarf einsetzen, lüften hingegen braucht Zeit.6 Aber die kleinen Praktiken des luftens setzen sich natürlich zu einem Mosaik zusammen, zu einem Panorama touristischer Sicherungsdiskurse. Diesem Mosaik könnte man dann in einer Ausstellung zum ruinösen Tourismus den Titel ›Neokoloniale Nichtung‹ geben. Besonders gut lüften kann man also, wenn man alles, was stört und irritieren könnte, luftet. Das Klima etwa, und sei es durch eine touristengeeignete Klimaanlagenbatterie mitten in der UNESCOWeltkulturerbestätte Stone Town, an der auch jemand gut verdient hat.
6 Linguistisch legen wir nahe, eine Differenz in den Aktionsarten der Verben festzustellen: terminativ und durativ.
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Kompressorische luftung als Kühlung und Lärmung. Zanzibar 2018 Eindollarnoten zu nehmen und bei der Einreise auf Zanzibar in den Pass zu legen, um die Ungewissheit der Einreiseformalitäten wegzukaufen. Und dabei den zanzibarischen Einreisebeamten luften. Man kann dabei auch ruhig für Transparency International einstehen und die Korruption auf der Welt beklagen, denn beim luften geht es ja nicht ums Große, sondern nur
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um die kleinen Situationen. Man kauft sich das fremde Gegenüber lediglich situativ weg. Man löst es ins Klima auf, luftet es. Das auf der von uns besuchten kairensischen Konferenz so intensiv diskutierte koloniale und postkoloniale Silencing des Anderen und Anderswo erscheint uns hier beim feldstudierenden lüften viel treffender als luftung bezeichnet. Denn lüften und luften sind Konzeptwörter, die den sansibarischen Traum in seiner Ambivalenz von Einmal sahen wir am Strand von Paje im Osten von Zanzibar gesuchter Nichtung und eine kleine Strandhütte, die Mama Africa Boutique. Hier exotisierender Sehnsucht nach werden ein paar T-Shirts, Massagen, Henna Paint und Hair Befreiung stets umwehen. Braiding angeboten. In dieser ganzen Ecke schien uns lüften und luften Afrika am syltigsten zu sein. Weiße Häuser, Palmdächer können sich wunderbar erund auch ansonsten recht schick und kultsansibarartig. gänzen. Man entspannt, inDa kam uns die Betreiberin des Nachbarladens entgegen, dem man andere ignoriert. bot uns Massagen bei Kilima Kadoga an und sagte for me, Das luften funktioniert Mama Africa is bla bla, come to my shop. Wahrscheinlich beim touristischen lüften gehört das auch zum luften. übrigens erstaunlich direkt. In
Karte 7 | Zanzibar macht 8sychtig8
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Stone Town in einer bodegamöblierten Tapasbar etwa durch Nichtnennung der problemlos bestellbaren tansanischen Biere auf einer `International Beer Festival` Karte, die vom Bremer BECK’S angeführt wird, was jeden bremischen Touristen oder Feldstudierer wohl verwundern wird, weil Bremen selten oben steht, was aber hier auch geluftet ist. Je gelufteter der Ort, umso besser lässt sich das Leben dort lüften. Auch in der Bibliothek des hypergentrifizierten und supergecleanten Park Hyatt Zanzibar,
Eine Bibliothek ohne Bücher im Park Hyatt Zanzibar. Zanzibar 2018.
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ein total gelufteter Ort, in dem sich kein einziges Buch findet. Jaja, eine Bibliothek ohne Bücher, Sie verstehen richtig. Das Ideal eines gelufteten Raums. Die perfekte Imaginationsbibliothek also. Nicht nur Zanzibar wird hier zum imaginierten leeren Ort, sondern auch die Bibliothek.
§ 3. Drittes Wort. liebe. Kommen wir zur liebe: hier ist sie ganz luftgebunden. Wir haben ja schon über Hannah Arendt gesprochen. Über liebe und Respekt. Doch langsam, jetzt noch einmal tropisch aufgerollt. Sich für etwas und vor allem jemanden zu interessieren, kann eine unkontrollierbare und sogar ruinöse Angelegenheit werden und ist vor allem eine ganz andere Praktik, als die luftung, die ja durch die Nichtung des Anderen ein krampf hafter Versuch der Erhaltung von Normalität ist. Für diejenigen, die Normalität hinter sich lassen wollen (wir, aber epistemisch), weil sie `gebildete` Touristen sind, die sich schon auf etwas einlassen wollen, die also durch Begegnung lüften wollen, bietet sich auf Zanzibar – wie überall – allerhand Gelegenheit. Besonders einnehmend und verzaubernd scheint die Möglichkeit, sich mit 8Prinzessin Salme8 zu beschäftigen, sich in den Sog der konvertierten Emily Ruete (1844-1924) und einer sansibarisch-deutschen liebe ziehen zu lassen. Das drängt sich nirgends auf, aber umschwebt den Zanzibarbesucher als Möglichkeit. Zu lieben ist immer eine Option. 8Prinzessin Salme8 ist auf Zanzibar ein recht bescheidenes anthroponymisches Placing (personennamenbezogene Ortsherstellung), bei dessen Wahrnehmung schon vorausgesetzt wird, dass man an dieser Frauenfigur bereits ein entschiedenes Interesse hat, sich einlassen möchte. So wie eine in Oman lebende Amerikanerin, die selbstverständlich die Lebenserinnerung der Emily Ruete bereits gelesen hatte und sich entschieden ernsthaft und verdrängend im kleinen 8Princess Salme Museum8 meldete, um mehr zu erfahren. Es geht um die Emotion des Mehr, es geht darum, die Kälte der ignoranten luftung von Anderen gar nicht erst zu spüren, sondern ein Verständnis des Ortes durch eine recht triviale und zudem ziemlich kleine Orientphantasie zu bef lügeln. Das kleine Museum kann man nicht applikativ betreten, wie etwa das Sklavereimuseum in Stone Town, das eine einzige Erinnerungsapplikation im Heritaging ist. Das 8Princess Salme Museum8 ist ein Ort der liebe, der Kurator der Ausstellung, Said al-Gheity,
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pf legt nach eigenen Worten eine 8Passion8 für die Verstorbene. Während das Oum Kalthoummuseum auf der Nilinsel Roda ebenfalls eine Verstorbene ehrt, geht es bei 8Prinzessin Salme8 aber nicht um ein broschiertes Leben, sondern um die Geschichte der 8Passion8 eines Mannes, der alles über Emily Ruete weiß und dessen Leben in 8Princess Salme8 in beeindruckender Weise aufgeht. Es geht darum, das Erinnern zu lieben, in die luft der Vergangenheit zu f liegen, einen Wind mitzunehmen, der auch ein bisschen unhistorisch, apolitisch und fiktiv ist. Das 8Princess Salme Museum8 kann man nicht mit historischen Intentionen besetzen, sondern hier muss man sich einlassen auf das, was geschieht. Was es mit einem macht. Man muss an der verschlossenen Tür um Eintritt bitten und wird von einem reizenden, älteren Herrn sehr jugendlich begrüßt und sogleich in seine verströmende Erinnerung an Emily Ruete aufgenommen. Es ist wie ein 8Spa8 -Besuch, der einen dazu einlädt, 8Aromen8 wirken zu lassen und den Körper hinzugeben, sich und das Leben dabei zu lieben. Ein 8Princess Salme Spa8 gab es übrigens auch. Die liebevolle Aura des Kurators verströmt sich wie Oud, er bindet ein in die 8salmische8 Erinnerung, die es außerhalb seines Memorialwillens so sicher nicht noch einmal gibt. Der Kurator ist gebroscht, von einer unbedingten Haltung durchdrungen, die weht. Hier luftet man niemanden, sondern man kommt an in liebevollen Erinnerungen, in einem Paradies Liebe, ohne den österreichischen Filmemacher Ulrich Seidl und seinen wunderbaren Film darüber überhaupt kennen zu müssen. Hier kann man Zanzibar empathisch ein- und ausatmen. Dazu gehört die spürbare Eifersucht zwischen den wenigen Besucherinnen, die den Kurator stets für sich allein beanspruchen, was dieser genau weiß, sodass er von dieser zu jener huschend eilt, um in verschiedenen Aufmerksamkeitspraktiken dem Begehren nach 8Princess Salme8 zu entsprechen und es im Spiel zu halten. Es bleibt bei diesem liebevollen Erinnern letzthin unklar, worum es geht, vielleicht einfach nur um die 8Magie8 einer Erinnerungspassion. Sogenannte Frauenschicksale gibt es schließlich allüberall und 8Prinzessin Salme8 ist nun wirklich kein Magnet für Erkenntnisse. Aber die 8Prinzessin8 ermöglicht auf wunderbare Weise die Negation der luftung, die Nichtung der Nichtung. Hier kann man ein guter Mensch sein, ein Tourist, Feldstudierer, der bereit ist, einen Hauch von Verf lechtungsgeschichte über sich wehen zu lassen, indem man sich für etwas interessiert. Sich im Wehen zu verf lechten und hauchend über seine Zeit hinauszuwachsen. Sich im
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Prinzessin Salme / Emily Ruete, fixiert an einem Erinnerungsort. Bububu 2018 Loop der liebe mit Geschichte verwickeln, den tropischen Wind zu spüren und Teil von Erinnerung zu werden. Diese 8Magie8 beherrscht der Kurator perfekt. Man schreitet mit ihm durch Stone Town, sucht 8Salmeräume8 und 8 Salmeorte8 auf – etwa eine Schule, und die vielen Kinder sehen einen gar nicht, so 8magisch8 f liegt man in Begleitung des Kurators durch die Stadt. Ein wenig gemeinsam den omanischen 8Prinzessinnenschleier8 lüften,
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und dabei ein nichtkonsumistischer, sondern ein broschierter, entschieden selbstbewusster Tourist sein zu dürfen, der vielleicht sogar performativ feldstudiert. Der Kurator ermöglicht solche Positionierungen als altersloser, graziler liebhaber von 8Prinzessin Salme8. Er selbst ist dabei eine aus der Geschichte gefallene Figur der Freundlichkeit, er weitet den Raum in kreisenden Erzählungen, sodass es keine Unterschiede mehr zwischen biographischen Nebensächlichkeiten und dem großen Entanglement gibt. Alles wird 8gesalmt8 und deshalb macht es nichts mit uns. Es ist wie das 8goschen8, nur viel luftiger, kultivierter, exklusiver und damit schöner. Einem kostbaren Duft gleich, wie 8Eskep8, 8Karama Rumba8 und so weiter. Irgendwie geht es auch im Neokolonialen um die feinen Unterschiede, für die sich ja schon der französische Soziologe Pierre Bourdieu interessiert hat.7 Wir zeigen unser informiertes und recht exklusives Interesse an einer wie aus der luft gegriffenen Gestalt und können uns und andere dabei lieben. Auch das ist eine Möglichkeit, sich im neokolonialen Raum zu bewegen. Es ist undenkbar, hier eine Eindollarnote zuzuschieben, damit man seine Sorgen luftet, denn diese sind ohnehin in der Passion zu einer partikulären Geschichte längst in luft aufgegangen. Man kann den broschierten Kurator auch gar nicht luften, nichten. Statt In Kairo dieses Parfum gekauft. Wenn Sie möchten. – Düfte eine Eindollarnote rübersind wichtig. Ich wappne mich mit ihnen gegen die Disziplin. zuschieben, – Und ich dachte an ein Foto in einem Tagesspiegelnachruf 8spendet8 man also lieber gleich auf eine vornehme Dame. Auf dem Tisch neben dem ziem50 Dollar für die Schule lich broschierten Sofa – vom Bild im Hintergrund gar nicht und liebt die Idee der zu reden – standen eine ganze Reihe von Parfumflakons. Mir Bildungsförderung auf gefällt das. Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, Zanzibar. Der Kurator füllt ganz gebroscht. den Raum vollkommen Und nun stehen Eskep, Romba, Jasmine und Sandal in handund zugleich dezent, wie lichen Zylindern mit Plastikkappe in Gold nebeneinander vor ein wirklich gutes Parfum, weißen Badezimmerkacheln. er macht das zauberhafte Angebot, gut zu sein und dabei die Tiefe der Verletzung der kolonialen Welt, ihre unheilbaren Verwundungen in eine Frauenbiographie zwischen Süd und Nord aufzulösen, in liebe.
7 Bourdieu 1979.
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Umgeben ist der Kurator des 8Princess Salme Museums 8 übrigens von schweigenden jungen Assistenten, Praktikanten, Zauberlehrlingen, die hier ein Buch halten, dort ein Lächeln schenken oder einfach nur die passionierte Erinnerungsprozession durch die Stadt mit abschreiten. Einer von ihnen hat am Goethe-Institut in Dar es Salaam Deutsch gelernt, streut hier und dort – aber sehr zurückhaltend und über die Maßen höflich – einige erfragte Kommentare ein. Es ist dieselbe Höf lichkeit, die uns an vielen Orten begegnet, eine Höf lichkeit, die mit der Schleife eines leisen, fast schon gehauchten 8KARIBU8 verziert wird. Man kann Zanzibar lieben. Im 8Princess Salme Museum8 ist die Einf lechtung der liebe zum Ort bereits spürbar, mehr eingewoben wird dann am nächsten Tag auf der 8Princess Salme8 Tour, die hier aber nicht wie die applikativen anderen Touren des Ortes eine `Tour` ist, Teil der `Touren`, die man sich anheftet als Erfahrung: `SPICE TOUR` `PRISON ISLAND TOUR` `DOLPHIN TOURS` `JOZANI FOREST TOUR` `SAFARI BLUE TOUR` `NAKUPENDA TOUR` `CITY TOUR`
Die
8Prinzessin
Salme8 Tour ist keine `Tour `, sie heißt und ist die Salme Promenade8. 8Promenade8, ein broschiertes Wort sondergleichen und ein Ambientword schlechthin. Nichts von alldem, was man abschreitet auf dieser 8Promenade8, keiner der zahlreichen Schreckensorte machtvoller Unterdrückung und Ausbeutung – das Haus von Hamed B. Muhammad Al-Marjebi etwa, bekannter als Tippu Tip8 –, die von brutaler Geschichte, Versklavung, Kolonialität erzählen, soll irritieren, sondern einzig wie kleine Vignetten und Gemmen an verstreute Szenen aus dem Leben der 8Prinzessin8 erinnern. Etwa an die ersten Begegnungen zwischen ihr und Heinrich Ruete, bei der man sich durch die luft geliebt habe, über die Tiefen zwischen ihren Balkonen hinweg, wie man in Stone Town erzählt. Auch Sascha Wisotzki unterstreicht in seinem lehr-
8Princess
8 Siehe Johnson 2005.
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reichen Buch Sansibar. 1000 Jahre Globalisierung mit Blick auf das Leben der Emily Ruete zwischen Nord und Süd und die Erfahrungen der Prinzessin in unterschiedlichen Gesellschaften bedenkend als biographische Klammer die liebe: »Als letzte Erinnerung an ihre Heimat, die sie aus liebe zu ihrem Ehemann verließ und zu der sie aus liebe zu ihren Kindern nicht zurückkehren konnte, nahm sie einen Beutel 8Erde8 ihrer Heimat mit«.9 Das Ambientword 8Promenade8, das eigentlich ja schon ein richtiges feel good word ist, versteckt geschickt seine brutale Etymologie mit Bezug auf lateinisch minare ›durch Schreien und Prügeln vor sich her treiben‹10. Genau diese Seite der Kolonialität löst sich bei der 8Princess Salme Promenade8 in luft auf. lieben ist ein Gegenkonzept zum neokolonialen übersetzen, auf das wir gleich zu sprechen kommen. Es geht gerade nicht darum, die erwartbaren Schreckenserinnerungen an die Vergangenheit und ihr gegenwärtiges Fortwirken an sich nah herankommen zu lassen, sondern sich auf etwas einzulassen, was den Ort jenseits von Gewaltgeschichte vermeintlich durchströmt. Dazu gehört auch der gern gehörte Hinweis auf die berauschenden Düfte Zanzibars, etwa in der »UNESCO-geschützten Altstadt, wo der Duft von Jasmin, Kardamom und Weihrauch wie ein sinnlicher Nebel über den Palmwipfeln wabert«.11 Gewaltorte verschwimmen in der olfaktorischen liebeswolke ohne Gewalterinnerung. Es ist die große Welt der Möglichkeiten, der retrospektiven Modalitäten, man besucht ein Zimmer, in dem ein Sofa gestanden haben könnte, auf dem vielleicht ein deutsch-zanzibarisch, hamburgisch-omanischer 8Kuss8 getauscht wurde. Die Promenade, die auch durch die 8kleine deutsche Ecke8 führt, entlang am ehemaligen 8Deutschen Konsulat8, endet am Strand am 8 Oswaldeck8, dort wo 8Prinzessin Salme8 den tiefen Süden hinter sich gelassen hat. Wir fühlen uns zwischen Dokumentationsfernsehen, Ratlosigkeit und einer Magie des Moments. Der Kurator ist der liebende, der starke Präsenz besitzt, aber sich immer auch entzieht in den passionierten Vergleich zwischen alten Photos und einer heute damit nicht mehr in Verbindung zu bringenden Realität, ein Mann, der sich in Orte einer alten liebe zurückzieht. Nachfragen nach der zanzibarischen Revolution passen hier nicht, sie werden freundlich geluftet: »aber was auch immer hier war, das war die 9 Wisotzki 2009: 41 (Hervorhebungen und Markierungen AS & IHW). 10 Link: DWDS ›Promenade‹. 11 Tapper 2015: 8.
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Landscape der Sultane«.12 Der Kurator ist nicht gewillt, unsere kritikalitätstheoretisch informierten Dekolonialitätskonzepte, die wir im postkolonialen Schlepptau der akademischen Zurüstungen mit uns führen, mit eigener Betroffenheit aufzugreifen, sie auf den Ort zu applizieren. Ähnliche Beobachtungen hat einer von uns auch schon einmal auf einer Tagung in Südafrika gemacht, wo Weißes Selbstbeschuldigungsnachdenken eher Verwunderung ausgelöst hat. Der Kurator hat als wohlstudierter Medizinanthropologe keine Neigung, white guilt auf den Ort zu beziehen, Geschichte wie ein `Sansibarlogo` auf ein buntes `Baumwolloberteil` der Erinnerung zu kleben, zu heften, zu steppen. Hier klebt nichts, hier heftet nichts an, hier wird nicht gesteppt, hier wird einzig einer zeitlosen Passion nachgegangen, die in erinnerungslüften magische Heilung verspricht. Eine Heilung übrigens, die der Kurator selbst wohl auch als notwendig anerkennt, denn er spricht von der sozialen Fragmentierung als dem Problem der Insel seit dem 19. Jahrhundert. Die 8Princess Salme Promenade8 ist gleichwohl keine soziologische Recherche zu einer gewaltvollen Vergangenheit, sie hat nichts mit der weit beachteten Rückkehr in die Milieus eines Gestern der Gewalt zu tun, wie sie etwa weit entfernt Didier Eribon in Retour à Reims unternimmt. Obgleich der Kurator in etwa das Alter von Didier Eribon haben mag und indirekt viel von sozialer Schichtung auf Zanzibar die Rede ist, geht es ihm offensichtlich gerade nicht um den »l’effet des déterminismes sociaux dans la constitution des subjectivités«13, es geht nicht um Fragen etwa der Subjektivierung in Abhängigkeit von Klassenzugehörigkeit, der Kurator vermeidet solche Fragen regelrecht. Wir erfahren entsprechend nichts aus 8Salmes8 Leben, was auch nur im Entferntesten an die Schrecken der auf Eribon verweisenden Kindheitserinnerung etwa eines Éduard Louis erinnern ließe, die dieser jüngst in En finir avec Eddy Bellegueule krass als einen Ort jenseits der liebe ausbuchstabiert hat und damit auf breites Interesse gestoßen ist. Die Erinnerungen an 8Salme8 sind das Gegenteil von lieb12 Said al-Gheity, Kurator des 8Princess Salme Museums8; 07.03.2018. Keineswegs ist von einer Repression der Erinnerung auszugehen. Vielmehr ist der Diskurs über die Revolution und ihr vorhergehende, sie begleitende wie auch ihr folgende Gewalterfahrungen ein Diskurs, der in öffentlichen touristischen Räumen vermieden werden muss. Das Leben in Afrika ist als schön, problemfrei und tief geerdet zu verhandeln. Die Heterotopien des Eskapismus und des touristischen Raums kontinentalen Umfangs haben beispielsweise Wainaina (2006) und Mietzner (2018a, 2019) untersucht. 13 Eribon 2009: 19.
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losigkeiten, sie sind 8salmiert8, von Klassenkampf und Fragen der konf liktären Schichtzugehörigkeit befreit in eine Erinnerung jenseits von Gewalt, da eben, wo liebe als Möglichkeit dauerhaft imaginiert werden kann. An die Stelle einer Erzählung von Geschichte und Gesellschaft tritt dabei die ganz vertraut klingende Familiengeschichte von Emily Ruete, von Kindern ist die Rede, vom Umzug nach Jena. Es ist übrigens auch hier Hannah Arendt, die die Gesellschaftsferne der liebe, ihre antipolitische Kraft14, über die wir bereits gesprochen haben, auf das Kinderkriegen und Familienleben zurückbezieht. Der Weltverlust der liebenden – bei 8Princess Salme8 ist dieser übrigens ganz buchstäblich zu verstehen – wird durch die Kinder der liebenden wieder ein Stück gut gemacht: »Through the child, it is as though the lovers return to the world from which their love had expelled them.« 15 So ist es kein Wunder, dass das bisschen Weltgeschichte, das dann doch bei der 8Princess Salme Promenade8 und im Museum durchscheint, vor allem die Erzählung von den Kindern der Emily Ruete ist; ihre liebe wird »unwordly«16 erzählt. Eine liebe, die sich als nächtlicher Monsunregen ergießt, der alle Calls for Papers für kritische Konferenzen gleich mit hinwegschwemmt. Gefangen im Blick eines passionierten liebenden auf eine imaginierte Welt der geschlossenen Nähe, die es nie gegeben hat. Auch beim Besuch des Palace Museum Zanzibar geht es um liebe. Wir werden persönlich durch die stickigen, schwülen Räume geführt. Da wird uns ein seltsamer Doppelstuhl gezeigt, der immer expliziter erst als romantic chair tituliert wird, dann als couple chair, kissing chair und schließlich mit augenzwinkerndem Blick auf das sultan-sized bed als preparation chair.17 Der ganze Ernst des Erinnerungswillens wird in diesem Museum durch 14 Arendt 1998 [1958]: 242. 15 Arendt 1998 [1958]: 242. 16 Arendt 1998 [1958]: 242. 17 Anon. Guide im Museum Stone Town; 06.03.2018. Die außerordentlich gut vorbereiteten Touristenführer des Museums weisen immer wieder darauf hin, dass nicht nur die vorwiegend im Eingangsbereich des Palasts ausgestellten Urkunden (ausschließlich Faksimiles) etwas erzählen, sondern dass auch die in den Ausstellungsräumen der oberen Stockwerke gezeigten Dinge sprechen. Latours Existenzweisen und ihr folgende Untersuchungen im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie befassen sich ebenfalls mit dieser Problematik. Es ist nicht uninteressant zu bemerken, dass sich die Onomastik mit Namen von Dingen (kissing chair, preparation chair, usw.) dagegen eben einfach so befasst, als seien sie nur Namen von Dingen, wobei sie dies auch nur tut, wenn der Namencharakter unzweifelhaft ist und die singularisierende Identifizierung des Objekts damit funktioniert.
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nette kleine Köstlichkeiten relativiert, bis hin zum OTIS-Aufzug im ehemaligen Sultans-Palast, der eine »German Angela Merkel technology«18 besitze. In die Tage mischen sich Albernheiten. Mit den Konzeptwörtern lüften, luften und lieben, die den globalen Tourismus auf Zanzibar formatieren, sind nun linguistische Verortungspraktiken lokaler Akteure und durch diese geskriptete sprachliche Rollen für Touristen und Feldforscher verbunden, die unser weiteres Interesse geweckt haben: übersetzen, anheften und kuratieren.
§ 4. Viertes Wort. übersetzen. Der Old Slave Market, ortsgleich mit der Anglican Church in Zanzibar City, ist als Schreckenserinnerungsort eine heritage site, bei der die Positionierung des kolonialen Akteurs in der Rolle des neokolonialen Touristen eindeutig ist. Es geht darum zu erschüttern, Geschichte als Schuld erfahrbar zu machen. Die linguistische Verortungspraktik ist dabei das übersetzen. Auf den raumhohen Tafeln der Ausstellung wird im Format eines textzentrierten und teilweise bebilderten Panoramas die Geschichte der Versklavung auf Zanzibar ausgestellt. In jedem Raum finden sich Hinweise, die zum Schweigen auffordern. Es geht darum, zum Verstummen zu bringen. Bis dahin, dass die Ausstellung mit einem Hinweis auf die heutige weltweite Versklavung schließt und damit jedem ermöglicht, sich zum Erschütterten seiner eigenen Gegenwart zu machen, dessen Sprachlosigkeit am Ende selbst ausstellbar wird. Die Einfühlung ist total. Ähnlich funktioniert auch das zwischen Museum und Kirche liegende KUMBUKUMBU YA HISTORIA YA WATUMWA, das Memory for the Slaves der schwedischen Bildhauerin Clara Sörnäs aus den Jahren 1997-98. Die übersetzung von Versklavungsgeschichte in das eigene 18 Anon. Guide im Museum Stone Town; 06.03.2018. Der Zusammenhang von Emotion und Sprache wird in der Linguistik überwiegend anhand von strukturalistischen und pragmatischen Studien zu Gefühlsverben, experiencer constructions und Affektvokabular untersucht. Mietzner (2019) zeigt, dass die rasche Bezugnahme auf das dem Gesprächspartner Vertraute und dessen gleichzeitige Dekontextualisierung als emotional intensiv empfundene Sprechakte gesehen werden müssen. Phipps (2006) geht diesem Phänomen in ihrer Studie zum touristischen Spracherwerb nach, wo die von ihr »quick« genannte Praxis eine wesentliche Rolle spielt.
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Erleben von Touristen geht hier – wie auch in der Ausstellung – offenbar gut auf, dies dokumentiert ein Post der GEO Reisecommunity: Selten hat mich ein Monument so berührt. Die Steine sprechen, die Skulpturen leben, die Augen schauen dich an und fragen »warum?«. Lebensechter kann man (in Stein gehauen!) Menschen nicht mehr darstellen. Da spielt es dann
Erschütterung im Schweigen. Zanzibar 2018
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auch keine Rolle mehr, dass die Ketten, wie unser Guide sagt, die OriginalKetten aus dem 19. Jahrhundert seien. […] Es ist so beklemmend und ich bin dermaßen ergriffen und wütend, dass sich ob dieser Gräueltaten alle Gedanken in meinem Kopf überschlagen.19
Die sich überschlagenden Gedanken im Kopf sind das Ergebnis von erzeugter Einfühlung. Das Leid der angeketteten Menschen in sich und an sich spüren, mit Blicken zu erfassen, ohne Abstraktion erleben, und dabei vielleicht einen moralischen Gewinn in der eigenen Erschütterungsbereitschaft erleben, ein Topos, den Carsten Junker mit Blick auf abolitionistische Skandalisierungsdiskurse bereits des ausgehenden 18. Jahrhunderts als self-aggrandizement bezeichnet hat.20 Dies erinnert auch stark an kulturmorphologische Ansätze in der Erforschung Afrikas, etwa bei Leo Frobenius (1873–1938), bei dessen Erforschung Afrikas es nicht um wissenschaftliche Analyse, sondern um inneres Bewegtsein ging: Der Forscher hatte sich demnach seinem Gegenstand nicht analysierend, sezierend zu nähern, sondern sehend, beschreibend, empathisch, einfühlend, auch ergriffen, überwältigt. Tiefenschau, Einfühlung und Ergriffenheit waren Schlüsselwörter in Frobenius Theorie und Ansatz.21
Auch das KUMBUKUMBU YA HISTORIA YA WATUMWA ist Mittel zu einer solchen Tiefenschau, es ist übrigens buchstäblich in den Boden eingelassen, man muss tief hinunterschauen. Dazu passt, dass man in Kellergewölbe geführt wird, in denen Versklavte auf ihren Verkauf gewartet haben sollen, man bewegt sich räumlich in einer Tiefenschau und fühlt sich ein in den erlittenen Schrecken, immer aus der Perspektive des Opfers, so dass man von seiner eigenen Unversehrtheit ergriffen werden kann. Dies ist eine zutiefst koloniale Kommunikationspraxis, eine Praxis, die im heutigen Zanzibar City lediglich aktualisiert ist und für den touristischen Besucher sehr gut auf bereitet wird. Das Verstummen in Erschütterung ist Folge einer übersetzungspraktik, so meinen wir. Es geht um eine Rahmung von Geschichte, die 19 Link: GEO Reisecommunity. 20 Junker 2016. 21 Speitkamp 2016: 46.
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die Erschütterungsbereitschaft der Betrachtenden bedient. Es geht um die übersetzung von Geschichte in die Welt von Touristen, die sich lüften wollen, und die dabei ihre gewohnte Perspektive bei der Wahrnehmung von Gewaltgeschichte nicht ändern müssen, sondern eine Katharsis als moralisches lüften erfahren können. Das lüften als Erfüllung des Begehrens nach resultativem Wandel, nach Erfrischung, Erholung, schließt die Erschütterung mit ein, nutzt Momente der moralischen Läuterung. Sich zu lüften, als Tiefenschau einfühlender Ergriffenheit, weil Geschichte übersetzt ist ins Lesen und Schweigenwollen von Touristen. Das Medium sind schriftlich fixierte Botschaften im Museumskontext, die, weil sie bereits geschichtsinterpretierend sind, keinen Spielraum zur Interpretation lassen. `SILENCE PLEASE` als applikativer Sprechakt. Sprechverbot, Tafeln, Bilder, Schrift, Kellergewölbe, ein Monument. Ausgestellt wird letzthin die Bestürzungsbereitschaft des neokolonialen Subjekts, das der Aufforderung nachkommt, zu schweigen und sich darin subjektiviert, unterwirft. Die Verhaltensregel ist ein Hinweis auf die Nichtortung solcher musealer Versuche der Geschichtskonstruktion. Marc Augé spricht davon, dass Nichtorte auch durch Wörter und Texte definiert werden und dass dabei unter anderem in den Raum eingelassene Gebrauchsanleitungen, Vorschriften, Verbote und Informationen eine wichtige Rolle bei der Entortung spielen22 – es geht um Bedingungen von Räumen, in denen Wörter und Texte die Regie übernehmen: »Ainsi sont mises en place les conditions de circulation dans des espaces où les individus sont censés n’interagir qu’avec des textes«23. Die Einschreibung von Text in Räume des Erinnerns ist ein entsprechender Modus auch beim neokolonialen lüften. Das Ergebnis ist die Adressierung der Person als durchschnittlicher Mensch, als »l’homme moyen«24, Augé spricht sogar von dessen Herstellung durch Kommunikationspraktiken. Praktiken der Befreiung von white guilt und einer damit verbundenen Selbstzentrierung von Affekten des Durchschnittsmenschen, der ja hier ein Durchschnittstourist ist, finden also statt in regulierten Räumen, in denen Texte vorgeben, was gedacht werden kann, und damit Emotionen im Resonanzraum von Schweigegeboten erzeugen. Die übersetzung ins Erwartete durch Texttafeln und Gebote kongruiert im neokolonialen Tourismusepistem mit 22 Augé 1992: 121. 23 Augé 1992: 121. 24 Augé 1992: 126.
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Lesen und Unterdrückung der Rede, wobei die linguistischen Verortungspraktiken durch Materialisierungen des Erinnerns und Positionierungen des neokolonialen Subjektes einander bedingen.
Auf Simultanübersetzung wartend. Zanzibar 2018 Sprache ist ein Instrument dieser neokolonialen Erinnerungspraxis, und sei es dadurch, dass sie unterbunden wird. Eine Sprache als zirkuläre Monolingualität des Affekts, die die Ruinen von Gewaltgeschichte für jeden Einzelnen wie ein Simultandolmetscher synchronisiert und damit erlebbar machen soll. Wie ein synchronisierter Film funktioniert diese Art der Medialisierung. Wir mussten eigentlich nur in Zanzibar sein und uns einige Tage durch den Ort bewegen, denken, sprechen, schmecken, riechen, hören, schlafen, duschen, trinken, schwitzen, um die Erfahrung zu machen, dass wir trotz solcher übersetzungsangebote ständig gegen die Wand der eigenen Episteme laufen. Man steht im Nu in einer f luiden Vielsprachigkeit der zergliederten kolonialen Welt, die sich mit Sicherheit immer dann entzieht, wenn man sie kritikalitätstheoretisch erklären will. Sich lüften, erholen, auch sich erschüttern zu wollen, ist aber genau das Gegenteil einer solchen
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Erfahrung der Verstreuung. Denn man läuft ja aus der Gummizelle der Gewaltwelten hinaus ins Freie, in den Luftkurort, an den Strand, in die Tropen und atmetet luft, um sich zu erfrischen, sich zu erneuern, und sei es in einem Resort schwitzend. Das Ziel des lüftens ist es nicht, mit eigenen Grenzen zu tun zu haben. Die Hauptsache heißt vielmehr, raus an die luft. Und dann auch mal rein ins Museum, zwecks Erschütterung. So wie Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der ja als junger Mann aus dem Norden gef lohen war, um südliche luft zu atmen, und der am 2. Dezember 1786 in Rom notiert: Wir gebrauchen die gute Zeit in freier luft, die böse im Zimmer, überall findet sich etwas zum Freuen, Lernen und Tun.25
Sich an freier luft im Draußen erfreuen und dabei zugleich etwas tun und lernen, das ist auch der Modus, auf den die Kommunikationspraxis des übersetzens zielt. Denn die Erschütterung ist ja auch eine Freude im Urlaubmachen, eine Erfahrung des Anderen. Es handelt sich also auch hier um Praktiken, die bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert präformiert sind, wie wir das bereits für das self-aggrandizement festgestellt haben. Die Sklavereierinnerung im Museum ist Teil des heutigen globaltouristischen lüftungsprogramms. Man kann das böse Zimmer der eigenen ausbeutenden Nördlichkeit verlassen, Erschütterung üben und dann wieder am Strand liegen, lüften. Erlöst zu werden aus der Fluidität von Sprachen, aus der Nichtgreif barkeit von sozialer Fragmentierung, von Ruinierung und Gewalt sowie von der Stärke ihrer fortgesetzten Wirkung absehen zu können, das ist die Hoffnung beim aufgeklärten Urlaubmachen, auch ein lüften. Das koloniale übersetzen bedient dieses Begehren: die Unübersichtlichkeit des Repertoires der Erinnerungen wird ins Globalenglische monolingualisiert, Einfühlung in der Tiefe der Erinnerung ermöglicht und Ergriffenheit geskriptet. Die Erschütterung ist hier nichts anderes als ein moralisches Applikat.
25 Goethe 1982 [1786]: 145 (Hervorhebung AS & IHW).
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§ 5. Fünftes Wort. anheften. Anders funktioniert die Nichtung, die kein Erinnern durch Übersetzen in die eigenen Episteme ist, sondern eine Auslöschung von Geschichte, auch wenn aus dieser je und je nicht zu entkommen ist. Auch dafür entstehen Kommunikationsräume. Die bei der Einreise rübergeschobene Dollarnote ist für manche vielleicht nur der Wegzoll, um in das Land der anheftungen zu gelangen. In diesem Land ist Sprache mit Dingen verwachsen, dort herrscht das Emblematische, das sich wie Applikationen an Objekte heftet, an eine `Basecap`, an ein `Mottoshirt`, an eine `Trinkflasche`, einen `Kaffeebecher`, und an all den Ausschuss der Dinglichkeit, der Sprache an sich kleben lässt, um »tourism’s search for exoticity and authenticity«26 zu bedienen. Diese anheftungen sind Teil der neokolonialen Kommunikation, die auf und mit Dingen stattfindet. Sprache, die man mitnehmen kann, um sie wie Fundstücke zu Hause aufzustellen. Dazu später mehr. Was früher vielleicht einmal der mitgebrachte Tempelbrocken gewesen sein mag, ist nun der mit Sprache applizierte Plunder als Fundstück des Massentourismus. Es geht um eine Sprache, die emblematisch für das Dagewesensein steht, also bereits im Moment ihrer Wahrnehmung gegen Geld verfügbar wird, etwa als ein Swahili, das man kaufen und sich aneignen kann, ohne es beherrschen zu müssen. Wichtig sind dabei Ortsnamen, Toponyme, die wie der Stempel im Pass das Dagewesensein besonders gut dokumentieren: Zanzibar Zanzibar Zanzibar, Sylt Sylt Sylt, Sansibar Sansibar Sansibar. Bei den touristischen Sprachobjekten, etwa bei toponomastischen Flaschen, handelt es sich um Zukunftsobjekte, ihre Funktion stellt sich nämlich erst in der Distanz zum Ort des Erwerbs ein, im Später, beim Auspacken des Koffers in der fernen Heimat; hier kann dann erinnert werden. Auch wenn vollkommen unklar bleibt, ob diese Erinnerung dann tatsächlich stattfindet. Das Souvenir ist ja das Erinnerungsgeschenk, abgeleitet aus frz. se souvenir »›sich erinnern‹ […] aus lat. subvenīre ›(von unten) herankommen, zu Hilfe kommen, in die Gedanken kommen, einfallen‹«.27 In der Regel geht es hier um die autobenefaktive Handlung des Schenkens, um das Sichselbstetwasgönnen, es geht darum, sich Erinnerungen zu 26 Thurlow & Jaworski 2011: 285. 27 Link: DWDS ›Souvenir‹.
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An diesem Ort wurden vor einiger Zeit Objekte mit applizierter Sprache verkauft, aber das ist jetzt vorbei. Nungwi 2018 gewähren. Das Toponym hilft von unten, damit nicht vergessen wird, welche Erinnerung man sich da eigentlich geschenkt hat. Die Sprache der anheftung ist deshalb vor allem eine autobenefaktive Sprache und mithin eine selbstzentrierende Angelegenheit.
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Eine solche Sprache, die auf Dinge angeheftet wird, gibt es im Tourismus überall. Ihre Lexik besteht vor allem aus Ortsnamen und verbreiteten sprachlichen Floskeln, die als Erinnerungshilfen dienen. Wie Berge, Buchten, Orte auf einer Karte benannt werden, um sie unterscheidbar zu machen, so werden Objekte im Land der anheftungen mit einem Herkunftsstempel versehen. Es muss eine weltweit riesige Industrie dieser Verortung von Objekten geben. Während bei der Praktik des übersetzens ins Erwartete eine Annäherung an Orte geschieht, geht es bei der angehefteten Sprache darum, sich von einem Ort zu entfernen, und diesen vermittels seiner applizierten Sprache mitzunehmen. Mitnehmen bedeutet dann, dass man die anheftungen kaufen muss: die `HAKUNA MATATA Basecap`, die `Namaste Zanzibar flask`, den Kalender aus dem `Land of Hakuna Matata`. angeheftete Sprache mit ihren applizierten Toponymen und Floskeln ist eine Ware; nicht Medium eines Austauschs, sondern Objekt eines Tauschs in Praktiken der Inbesitznahme.
Für jemanden, der kein Swahili kann, vielleicht kleidsam oder nützlich. Zanzibar 2018
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Der Psychologe Karl Bühler (1879-1963) hat in seiner Sprachtheorie von 1934 bereits ausgeführt, dass die dingliche anheftung von Sprache an Objekte ein Mittel ist, um ortsgebundene Bedeutungen zu etablieren, bei der die für die Sprachverwendung üblicherweise so wichtige Kontextbindung ersetzt werden kann durch die materielle Fixierung.28 Einzelne sprachliche Versatzstücke wie `HAKUNA MATATA` werden also entkontextualisiert, indem sie auf Objekte `gesteppt`, `appliziert` sind. Sie fordern infolge dieser anheftung gerade nicht in konkreten Situationen dazu auf, cool zu bleiben, sondern belegen ein Ding mit einem Emblem, das autobenefaktive Erinnerungen befördern kann. Diese sprachliche Praxis hat Auswirkungen auch auf die Funktion eines `HAKUNA MATATA` jenseits solcher anheftung, denn die Verdinglichung von Swahiliphrasen führt zu ihrer emblematischen Nutzung, also zu einer kommunikationslosen Kommunikation mit signalhaften Zurufen, die etwas anbahnen könnten, dies aber zumeist nicht tun. Es entsteht eine sprachlose Sprache, die touristisches luften ermöglicht und das große silencing des neokolonialen Apparates stützt. Die anheftung durch linguistische Applikationen auf Dingen löst Ausdrucksformen aus ihren Gebrauchskontexten, aus Zusammenhängen, in denen sie mit Geräusch, Klang, Geruch, Temperatur und allerhand Umgebung verschmolzen sind. Die anheftung macht Sprache damit nicht nur transportabel, nicht nur verkäuflich, sondern auch still verfügbar, sie unterwirft Sprache. Es ist die große luftung von Sprache, ihre Lossprechung von Dialog, Austausch, Mitteilung, auch von Erfahrungen der Schwierigkeit, über etwas oder überhaupt zu sprechen, also von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Entgegnung, Affirmation oder auch Kritik. angeheftete Sprache ist übergriffig, weil man ihr nichts entgegnen kann, alle sind schon längst hier gewesen. Und sie ist letzthin weltlos wie die Liebe in Hannah Arendts politischem Verständnis. Dazu gehört, dass Applikationssprache einen vollkommen in Ruhe lässt, man kann sie kaufen oder hat sie bereits gekauft und damit sogleich zum Schweigen gebracht. Eine solche Sprache ist im Tourismus verfügbar, objektifiziert und im neokolonialen Projekt nicht zuletzt die Chiffre einer großen Dauer, einer Dauer der Sprachlosigkeiten, die auf den zahllosen mobilen Erinnerungsobjekten, die man in Koffer packen kann, ihre Präsenz zeigt. 28 Bühler 1999 [1934]: 154–168.
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Applizierte Ortswörter als käufliche Sprache. Zanzibar 2018 Karl Bühler spricht in Bezug auf angeheftete Zeichen auch von Symphyse, ein Begriff aus der Anatomie, mit dem das Zusammengewachsensein etwa von Knochen mit und durch Knorpel benannt wird. Im luften als Auf hebung und seiner linguistischen Realisierung durch das anheften von sprachlichen Emblemen an mobile Objekte verwächst Sprache mit Dingen, einer `Basecap` etwa, die man mitnehmen, verlieren, wegwerfen kann, und hebt
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damit das auf, was Sprache im Gebrauch ausmacht. Das Auf heben scheint uns hier eine interessante und bemerkenswerte Sache zu sein. Wir verweisen daher ganz bedeutungsschwer auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der in seiner Wissenschaft der Logik die doppelte Bedeutung des Auf hebens herausgearbeitet hat, jene mystisch anmutende Verbindung von Löschung – etwas hört auf zu sein – und Bewahrung – etwas wird auf bewahrt. Genau darum geht es auch beim luften und anheften: A u f h e b e n hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es ſo viel als auf bewahren, e r h a l t e n bedeutet, und ſo viel als auf hoͤ ren laſſen, e i n E n d e m a c h e n . Das Auf bewahren ſchließt ſchon das Negative in ſich, daß etwas ſeiner Unmittelbarkeit und damit einem den aͤ uſſerlichen Einwirkungen of fenen Daſeyn entnommen wird, um es zu erhalten. — So iſt das Aufgehobene ein zugleich Auf bewahrtes, das nur ſeine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht verſchwunden iſt.29
In der Auf hebung von Kontext durch die Objektifizierung von Sprache wird diese als imperfekt gebrochene Realität menschlicher Begegnung gelöscht. Sprache wird zum Souvenir, zu einem der Unmittelbarkeit entkleideten Erinnern, bei dem Möglichkeiten der kontextuellen Dynamik ausgeschlossen sind, sie ist einem »den aͤ uſſerlichen Einwirkungen offenen Daſeyn«30 entnommen. Das ist genau jene Kontextfreiheit, die man auch mit Bühler einordnen kann. Auf bewahrt bleibt ein kärgliches Emblem, eine Swahiliphrase aus Zanzibar, ein Toponym oder das kommodifizierte Sylter `Moin Moin`, das im besten Fall in das heimische Schauregal gestellt wird und spätestens bei der Wohnungsauf lösung, vermutlich viel früher und sehr bald weggeschmissen wird, verlorengeht. Vermüllte Sprache. Swahili und ein Irgendwoniederdeutsch als auf bewahrter Ramsch, der etwas auf hören lässt. Doch das ist auch Sprache, so billig das alles funktioniert: Was ſich auf hebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts iſt das U n m i t t e l b a r e ; ein Aufgehobenes dagegen iſt ein V e r m i t t e l t e s , es iſt das Nichtſeyende, aber als R e ſ u l t a t , das von einem Seyn ausgegangen iſt.31 29 Hegel 1812: 46 [Hervorhebung im Original]. 30 Hegel 1812: 46. 31 Hegel 1812: 45 [Hervorhebung im Original].
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Der Kauf entkontextualisierter (deshalb oft lustiger) Sprache geht also vom Sein der Sprache aus. Und so hält man, mit Hegel gedacht, eine nichtseiende Sprache in den Händen, die das Gegenteil einer broschierten Praxis ist, die Dinge ja als das, was sie sein können, wertschätzen müsste, als seiend eben. Ein Wert des Seins, der nicht verdinglicht ist, sondern abhängig von wechselnden Orten und Situationen, von Kontexten, in denen er auftaucht. Sprache als Gebrauch und nicht als Entwendung. Bei den neokolonialen Andenken sind die Knorpel des symphysischen Zusammenwachsens die globalen Produktionsweisen und lokalen Verkaufspraktiken, sie sind es, die Sprache in das Ding einbinden. Wachsen Sprache und Objekt erst einmal zusammen – vermutlich in chinesischer Produktion, sagt man so –, kann man über sie verfügen. Man wird nicht mehr mit ihr konfrontiert, empfindet keinen Drang mehr, ihr antworten zu müssen, sondern kauft sie still. Ein Sprachkurs ist auch nicht mehr nötig, denn den gibt es auch bereits als `Applikation`. Es begegnet uns eine körper- und klanglose, ungebroschte, geluftete Sprache, die keine Stimme besitzt, sondern dingfixiert tot ist; aufgehoben. Auf diese Sprache gibt es keine Antwort, an diese Sprache hat man keine Fragen, es gibt keine Unmittelbarkeit, man sucht sie sich im Emporium aus, und konsumiert sie als geluftete Auf hebung, um sich vielleicht mal zu erinnern. Aber an was? Nicht nur bei der Einreise in Afrika kann man versuchen zu luften – durch den eingelegten Dollarschein etwa –, sondern eben auch durch den trivialen Kauf von amputierter Sprache eines Ortes, an dem man war. Die `HAKUNA MATATA Basecap` als konsumierbare Präsenz des Dagewesenseins, die Bewahrung und Löschung zugleich ist. Eine Tötung und Nichtung von Raum, die dem luften entspricht. Die linguistische Verortungspraxis der anheftung unterscheidet sich dabei auf Zanzibar in nichts von der auf Sylt, in Kairo oder sonst einem Ort, dessen sprachliche Praktiken der Verwachsung eine aufgehobene Sprache hervorbringen, eine Applikationssprache. lüften und luften bringen also spezifische koloniale Sprachpraktiken hervor, von denen wir hier übersetzen und anheften betrachten. Es gibt sicherlich noch weitere dieser Praktiken, in ihrer Strukturierung und Adressierung mögen sie sich aber nicht wesentlich von dem unterscheiden, was wir beschreiben. Wie verorten sich nun aber lokale Akteure im kolonialepistemischen Konzept der liebe und welche geskripteten Rollen sieht die
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Vom Regen weggesperrte Sprache. Sylt 2017 liebe für Touristen und performative Feldforscher vor? Für Personen, die zwar beobachten mögen, die aber ebenfalls Teil des Großformats der neokolonialen Raumbesetzung sind. Wir denken, dem Konzept der liebe entspricht die linguistische Verortungspraxis des kuratierens.
§ 6. sechstes Wort. kuratieren. Der gesamte 8Salmekomplex8 ist in Stone Town eine kuratierte Erinnerung. Hier wird etwas ausgestellt. Von kuratieren sprechen wir nicht nur, weil die zanzibarische Erinnerung an 8Prinzessin Salme8 in einem kleinen Privatmuseum verdichtet ist und ein Museum als Institution, so klein es auch sein mag, grundsätzlich Ausdruck kuratorischer Absichten ist. Wir sprechen von kuratieren insbesondere, weil es der Leiter des 8Princess Salme Museums8 selbst ist, Said alGheithy, der sich als kurator bezeichnet, der die Ausstellung mit einer kuratorischen Notiz versehen hat und dessen liebevolle Aneignung der 8Prinzessin8 für uns das Muster dessen ist, was wir kuratieren nennen.
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Das kuratieren ist eine Praxis der Sorge und Pf lege von Geschichte, denn ausgestellt wird ja mit 8Prinzessin Salme8 personalisierte, individualisierte Verf lechtungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Im neokolonialen Dispositiv, in Kontexten des heutigen Tourismus, setzt diese erinnernde Praxis der Sorge und zurückschauenden Pf lege des Damals zunächst einmal eine Anerkennung von Geschichte voraus, die auf Zanzibar eine Geschichte von Machtverschiebungen, weiten Einf lusssphären und nicht zuletzt auch des imperialen Kolonialismus ist. Während die kommunikativen Praktiken der anheftung dieses Erbe und Vermächtnis luften, nichten, oder zumindest gar nicht erst in Betracht ziehen und stattdessen Versatzstücke sogenannter Kultur im touristifizierten Konsumismus zwischen Menschen stellt, ist das kuratieren inhalts- und kontextbezogen, es findet seine Begründung in Geschichte. Die daraus erwachsende Praxis einer fortgesetzten, sorgsamen Beschäftigung mit Erinnerung ist der Geschichtsbezogenheit der übersetzung eines historischen Vermächtnisses wie der Versklavung nicht unähnlich. Beim kuratieren geht es aber im Gegensatz zum übersetzen nicht um die Konstruktion kollektiven Erinnerns, sondern um eine gänzlich individualisierte und privatisierte Sicht auf Raum, Menschen, Dinge und Geschichte. Wenn Andrea Tapper in ihrem Buch From Sansibar with Love Zanzibar im Licht ihrer individuellen liebeserfahrungen beschreibt und uns ihre entsprechenden Erlebnisse vermittelt, dann ähnelt das dem Vorhaben des Kurators im 8Princess Salme Museum8 weitgehend. Es geht in beiden Fällen um eine liebesgeschichte. Bei 8Prinzessin Salme8 um die liebe zum Hamburgischen Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete und den liebesweg von Zanzibar nach Hamburg. Bei Andrea Tapper um die Hamburger Journalistin und ihre zanzibarische liebe zu Ahmed Ally, um ihren Weg zu einem Leben auch auf Zanzibar. In gewisser Weise eine Spiegelung. Beide Geschichten bringen die Insel dem Touristen und dem Feldstudierer nahe, dadurch, dass man Neues lernen kann bzw. freundlichst eingeladen wird, Bekanntes in neuen Kontexten zu denken. Sowohl bei Andrea Tapper als auch bei Said al-Gheity ist dafür das Gespräch vorgesehen. Andrea Tappers Buch ist als Beziehungsgespräch mit Ahmed Ally strukturiert, und Said al-Gheity ist ohnehin in seiner Ausstellung anwesend und spricht mit denen, die ihm gegenüberstehen. Das alles ist das Gegenteil des übersetzens, kein `SILENCE PLEASE` , stattdessen zählen hier Sprechen, Sprechen, Sprechen. Kolonialgeschichte und neokoloniale Gegenwart werden als private Geschichten erzählt, es geht um ein emplotment
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im Sinne von Hayden Whites Konzept in Metahistory. Eine Geschichte, die nicht zuletzt und wohl immer mit liebe zu tun haben muss, um überhaupt erzählt werden zu können, oder eben mit dem, was man liebe nennt. Das ist die Praxis des kuratierens. Einmal mehr ist Zanzibar wenig von der Sylter Sansibar entfernt, denn Horst Seckler kuratiert in diesem Sinne sein Universum tatsächlich auch, er erzählt die Sansibar als eine Geschichte der liebe zur Insel Sylt und auch als private liebesgeschichte, die das Projekt Sansibar immer mitgetragen hat. Die übersetzung von Geschichte in das Epistem von Touristen ist eine monologische und schriftlich fixierte Angelegenheit, die in einem erbetenen Raum des Schweigens stattfindet. Im Gegensatz dazu geschieht das kuratieren also im Gespräch. Sowohl mit Andrea Tapper als auch mit Said al-Gheity haben wir auch gesprochen. Unser Besuch im 8Princess Salme Museum8 in Stone Town war ein andauerndes Gespräch, das vor allem aus Erzählungen bestand und nicht zuletzt auch aus quizartigen Fragen an uns; welches Bild von 8Prinzessin Salme8 wurde wohl in Hamburg aufgenommen? Wir wurden ins Erinnern eingegliedert und mitgenommen in die persönliche Aneignung der individualisierten, emplotteten Geschichte und Geschichtsschreibung einer verf lochtenen Kolonialwelt des 19. und 20. Jahrhunderts. Geschehen ist dies durch Sprechen und Hören, nicht durch Schweigen und Lesen. Begegnet ist uns dabei eine Welt, die so nur in der kuratorischen Bearbeitung existiert und die sicherlich ebenso schnell in die Ruinierung entgleiten kann, wie es die Spuren des Erinnerns an den Mtoni Palace Ruins zeigen, ein ehemaliger Palast des Sultans Seyyid Said, der 1828 erbaut wurde und in dem 8Prinzessin Salme8 aufgewachsen ist. Heute findet sich nur noch eine Ruine, und selbst das Erinnern ist inzwischen ruiniert. Was wird aber bearbeitet beim kuratieren? Es sind gerade nicht die Erwartungen von Touristen oder Feldstudierern, es sind auch keine anheftungen, sondern kuratiert wird das koloniale Archiv. Bei Herbert Seckler ist das am wenigsten deutlich erkennbar, aber auch hier ist es ja der koloniale Klang der exotischen Ferne, der die gesamte Geschäftsidee durchdringt. Bei 8Prinzessin Salme8 nun und auch bei Andrea Tappers Buch geht es aber unübersehbar um Manifestationen und Spuren des kolonialen Archivs. Um eine Sammlung von Geschichte und Geschichten, die mit Sorgfalt betrieben wird und die eine archivarische Galerie der Erinnerung aufbaut. Die Auswahl der Materialien ist dabei Interpretation genug. Dazu
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Ruinierte Ruinen erinnern sich. Zanzibar 2018 passt, dass bei Nachfragen an Said al-Gheity alle Versuche der Festlegung auf Interpretationen abgelehnt werden. Said al-Gheity archiviert Geschichte und ermöglicht Interpretationen, er legt sich aber nicht fest, er bearbeitet ein Archiv und teilt dieses großzügig. Auch mit denen, die es aus ihren akademischen Kontexten eher gewohnt sind, Gesehenes und Gehörtes in ihre Episteme zu übersetzen, oder gleich ins Korpus, besser Datenrepositorium auf der Grundlage eines funktionierenden Datenmanagementplans zu verbringen. Doch der kurator verunmöglicht das in stets eleganter Freundlichkeit, er lässt das Erinnern offen in viele Richtungen. Die Praktik des kuratierens hält sich heraus aus dem Geschäft der Interpretation und ermöglicht dieses gerade dadurch, ohne Neigungen jedoch, hier ist Geschichte nicht vorgedacht. Irgendwie mussten wir uns schon selbst einen Reim auf das Gehörte machen. Den Findbüchern im institutionalisierten Archiv entsprechen beim kuratieren von kolonialer und neokolonialer Geschichte auf Zanzibar interessanterweise auch Bücher. Bei 8Prinzessin Salme8 sind es die Memoiren einer arabischen Prinzessin auf Sansibar, um die die gesamte Archi-
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vierung dieses Lebens kreist, bei Andrea Tapper ist es das Buch From Sansibar with Love, das das persönliche Erinnern zugänglich macht. 8Prinzessin Salme8 auf Zanzibar zu begegnen, bedeutet, die Lebenserinnerungen von Emily Ruete schon zu kennen oder eben schnellstens zu lesen. Und genau das ist auch der Fall bei Andrea Tapper. Zanzibar mit ihr zu sehen, heißt, ihr Buch zu lesen, besser zu kennen. Diese Bücher sind also Findbücher für das kuratierte Miterleben von Geschichte und Geschichten, mögen diese auch noch so weit vom Inselalltag mancher entfernt sein, die heute auf Zanzibar ein Auskommen haben oder suchen. Bei Andrea Tapper geht das so weit, dass man ihr Buch als Gebrauchsanleitung für schöne Tage auf der Insel nutzen kann. Es gibt dabei keine Erwartungen an das Beschriebene, es geht einfach um die unterschiedlichsten Dinge und es geht in solchen kuratorischen Projekten darum, dass man liebt, worüber man schreibt oder dass man gleich über die liebe schreibt: Gebäude, die teilweise verfallen sind, Orte wie das deutsche Eck, Gegenstände, Situationen, Flirt und Sex. Im neokolonialen Archiv wird all dies gesammelt und steht der Interpretation offen. Das Ganze ist folglich ein sorgendes, bewahrendes und irgendwie auch liebevolles Projekt. Bleiben wir noch beim kuratieren. Der kurator Hans Ulrich Obrist hat dazu in Ways of Curating einige Dinge ausgeführt, die auch für das Verständnis linguistischer Verortungspraktiken auf Zanzibar nützliche Hinweise geben. Die Rolle des kurators bezieht sich im begriffsgeschichtlichen Verständnis von Obrist auf drei Dimensionen der Pf lege und Sorge. Im antiken Rom seien die kuratoren beamtete Aufseher gewesen, im Mittelalter habe sich diese Bedeutung zur metaphysischen, priesterlichen Sorge um die Gemeinde verschoben und erst seit dem späten 18. Jahrhundert sei der kurator derjenige geworden, der Verantwortung für eine Museumskollektion getragen habe.32 Drei Verfahren – Raumkontrolle, Seelenkontrolle und ausstellende Bewahrung – kennzeichnen also das kuratorische Handwerk in seiner historischen Semantik. So betrachtet ist das kuratieren weit mehr als ein Spleen von Inselindividualisten, es prägt als Angebot das, was Zanzibar auch sein kann, es verbindet räumliche Aneignung und Diskurskontrolle ganz im Sinne der 8Princess Salme Promenade8, es ermöglicht liebe und versammelt schließlich eine Welt im Museum, oder Buch, oder
32 Obrist 2015 [2014]: 24-25.
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auf einer Webplattform33. kuratieren heißt, ein Archiv zu bearbeiten und damit retrospektiv, aber vor allem prospektiv auf Geschichte zu blicken, und sei das jeweilige Erinnern dabei noch so partikulär, entfernt von großen historischen Linien. Es fällt auf, dass Gewaltgeschichte weitgehend ausgeklammert ist, die liebe dafür aber ganz im Vordergrund steht. Und dies nicht nur als archivierter Inhalt, sondern auch als Haltung, denn kuratieren erfolgt mit dem Angebot der Nähekommunikation, durch die Einladung, liebevoll einer Passion zu folgen. Der Neokolonialtourismus als Archivbesuch besteht dabei in der Suche nach kuratoren, und im Zuhören, in großen kuratorischen Monologen und kleinen Dialogen, deren Zweck es ist, etwas über die liebe zu erfahren. Obrist zufolge verbindet sich das professionelle kuratorische Handwerk mit vier Funktionen: Konservieren, Neues auswählen, zur Kunstgeschichte beitragen sowie zur Schau stellen und ordnen. 34 Es ist diese Verbindung, die uns auch auf Zanzibar begegnet, wenn auch in einer von herkömmlichen Ausstellungszusammenhängen des Museums befreiten Gestalt. Geschichte bewahren, am besten eine Liebesgeschichte konservieren, immer wieder neue Menschen und Gäste und Dialogpartner damit verknüpfen, zur Geschichte eines Archipels35 beizutragen und dies zu performen, stets neu aufzuführen, die Dinge in Ordnung bringen, und sei es beim alles beschließenden Drink mit dem kurator auf dem Emerson on Hurumzi. In einer Situation, in der Sprache sich einfach verbindend ereignet. So wie die sansibarischen Konzeptwörter lüften, luften und lieben als grundlegende Praktiken neokolonialer Raumbearbeitung verstanden werden können, sind übersetzen, anheften und kuratieren also damit verbundene linguistische Verortungspraktiken. *** 33 Link From Sansibar with Love. 34 Obrist 2015 [2014]: 25. 35 Im Abschnitt Mondialité befasst sich Obrist (2015 [2014]: 14-16) mit Édouard Glissants archipelischem Denken. Er zitiert in diesem Kontext Glissants einladenden, freilassenden, wehenden, fließenden, wir könnten auch sagen, respektvollen Gedanken zur sogenannten Kreolisierung: »I can change through exchange with the other without losing or deluding my sense of self.« (Obrist 2015 [2014]: 15). Wir erkennen in dieser Haltung etwas, das jenseits von Tourismus Begegnung ermöglichen könnte und ein Sprechen gestattet, bei dem sich Sprache in all ihrer Gebrochenheit als Verbindung zwischen Menschen ereignet.
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Durchspielt, enternstet, gebrochen sind diese nun überall dort, wo der Djinn auftritt, jene unerwartete Figur – die andere Seite des Anderen –, die plötzlich auftaucht, die niemand sieht, nur man selbst. Eine Figur, die nur einen halben Körper hat, was man von der Seite aber nicht sieht. Der Djinn kommt und geht mit einem und die ganze ernste Angelegenheit der akademischen Feldstudiererei mit ihrer Kategorisierungsfreude ist hinterfragt. Schon auf Sylt war uns eine solche Figur begegnet. Ein aus der Zeit gefallener Mann, mit einem langen schwarzen, wehenden Rastazopf, ausgelaufenen Schuhen, einer Stofftasche in jeder Hand; eine Figur, die präsent und zugleich unwirklich im Westerländer Alltag herumspazierte. Immer wieder dort, wo wir waren, und im selben Augenblick auch schon wieder verschwand. Wer, außer uns, hat diesen Mann noch gesehen? Ein Djinn. Der alles infrage zu stellen vermag. Nach unserem Besuch des Old Slave Market mit seinem übersetzungsanspruch in ein touristisches Epistem haben wir die von Sultan Barghash errichteten Hamamni besichtigt. Da stand plötzlich wieder ein solcher Djinn vor uns, mit einem merkwürdig einmaligen Gesichtsausdruck, ganz alt um die Augen, ganz schief in der Jugend, und hat die ganze Erschütterungsbereitschaft zerstreut. Es war keine Führung, die er uns anbot, sondern ein klickender, schnalzender, singender, gestikulierender Reigen, der die touristische Lernbegierde ad absurdum führte. Jeder kleine Winkel der stets gleich aussehenden, vollkommen entleerten Hamamräume – nichts als gekalkte Wände – wurde mit kleinen Gesten bespielt. Hier nahm man Wasser – und machte dies vor – hier verrichtete man seine Notdurft – und machte es vor – hier schwitzte man – und machte auch dies vor. Der Djinn hebelt die Kodierungserwartungen an Sprache aus und treibt das Denken ins Flüchtige. Klick. Ein junger alter Mann, ein Djinn setzt sich hinweg über übersetzen, anheften und kuratieren, weil er sich nicht nur außerhalb der kolonialen Episteme bewegt, sondern überhaupt losgelöst von Wissensordnungen agiert. Er singt. Der Djinn gibt keine Position vor, keine Rollen, er spricht broken language, hat eine lokale Existenz und übt sich in einer stets ortsverwandelnden idiosynkratrischen Praxis. Der Djinn benötigt dafür keine Worte, er fordert unser Hören heraus und schenkt als zufälliges Ereignis Geräusch, Musik, Ausscheidung, Waschen und Leben. Interessiert man sich für Tourismus, dann ist es eines, sich in geskripteten Rollen zu bewegen und aus diesen heraus autoethnographisch zu beschreiben, was passiert. Etwas ganz anderes ist es aber, für möglich zu halten, dass Dinge passieren, die
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sich über Skripts, Geschichte, Perspektiven hinwegsetzen. In den Figuren, die diese Dinge ermöglichen, liegt eine tiefe Wahrheit, sie sind unmittelbar und entziehen sich der Analyse. Das ist ihre Wahrheit. Sie sprechen für sich und nur zu dem, dem sie begegnen. Das festzuhalten ist analytisch. Es sind nicht nur die Small Stories36, die unsere Routinen auf brechen, die uns lesbar machen, die freundlich sind, die uns mit Lesern verbinden, es sind auch die Djinns, die uns zeigen, wie brüchig und ruinös die eigenen Beobachtungen sein können. Weil Djinns mit einem Dreh die ganze schöne Sinndeutung, Auseinandersetzung und wissenschaftliche Beschäftigung hinwegluften können. Am letzten Feldstudientag in Stone Town haben wir noch den Shiva Shakti Tempel besucht, vor einer Reise kann das nichts schaden, dachten wir. Das merkwürdig schiefe Gesicht des Djinns vom Vortag wirkte irgendwie noch nach und da sehen wir plötzlich, nein, wir erkennen, dass der Djinn von den Hamamni auch eine hinduistische Gottheit ist. Es besteht nicht nur Ähnlichkeit, sondern die kleine Skulptur ist das Phantombild des Djinns, ein Djinn, der nur uns begegnet ist. Die Unterscheidung von Realität und Repräsentation ging endgültig in luft auf. Wie manches während und nach dieser Feldstudie. Im Osten von Zanzibar in Jambiani und vor allem am Strand von Paje haben wir uns dann nicht zuletzt unter diesem Eindruck gefragt, ob das 8syltige8 Bequemleben am dortigen Traumstrand eher Ausdruck eines unbedingten Willens zum Urlaubmachen ist – im Urlaub will man es schließlich schön haben, wie auf Sylt –, oder Ausdruck einer von Ignoranz gegenüber den neokolonialen Bedingungen des Ortes gekennzeichneten Haltung. Es waren die Konzeptwörter lüften und luften, die uns zu dieser Frage veranlasst haben, wobei wir selbst schon ziemlich schnell bemerkten, wie diese Konzeptwörter begannen, nicht nur unsere Gespräche, sondern vor allem unsere Einordung des Untersuchungsfelds immer mehr zu prägen, sie waren zu animierten Werkzeugen unserer Wahrnehmung geworden, fingen schon an, ein Eigenleben zu führen, zu nerven. Sie tanzten, schnalzten und hüstelten uns zunehmend dazwischen bei unserer Unterhaltung. Da hat auch der Djinn nicht geholfen. Ist der Strand von Jambiani und Paje – dieser syltigste Teil Zanzibars – nun ein Ort des lüftens oder luftens, so fragten uns unsere Konzepte bereits ab. 36 Storch 2017.
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Phantombild. Zanzibar 2018 Diese Frage aber überhaupt so zu stellen, setzt voraus, dass wir es mit Konzepten zu tun haben, die einander ausschließen und deren Verbindung damit widersprüchlich wäre. Irgendwie lag das nahe. Wir sind es gewohnt, im Entweder-Oder zu denken, also in einer aristotelischen Welt des Ausschlusses, des Ausschließens, einer Logik, mit der man wissenschaftlich treff lich arbeiten kann, die aber nicht überall funktioniert, schon gar nicht,
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Auch hier ist Afrika am syltigsten. Amman 2008 wenn der Djinn jederzeit erscheinen kann. Im 3. Kapitel des IV. Buchs37 der Metaphysik des Aristoteles wird als »das sicherste unter allen Prinzipien«38 angenommen, dass es unmöglich sei, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukommen und nicht zukommen könne39. Es scheint, als müsse man sich entscheiden. Als Feldforscher ohnehin, um sich nicht dem Gespött unserer Fächer auszuliefern. Sind aber lüften und luften überhaupt kontradiktorisch, schließen sie einander wirklich aus, bedeutet, sich zu lüften, denn wirklich, auf das luften verzichten zu müssen? Wohl nicht, auch wenn das kategorielle Denken der wissenschaftlichen Feldstudiererei natürlich lieber mit kontradiktorischen bzw. konträren Kategorien arbeiten würde. Mit Distinktion. Doch ein in der Auf klärung verankerter europäischer Humanismus ist ebenso wenig ein Gegensatz zu außereuropäischen Ethiken, wie Southerness ein Gegenbild zur Northness sein sollte, und eben auch lüften zu luften nicht. 37 1005b. 38 Aristoteles’ Metaphysik 1989: 137. 39 Zur unserer Paraphrase siehe Aristoteles’ Metaphysik 1989: 137.
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Wir arbeiten hier nämlich mit Konzepten, die ineinanderf ließen. Natascha Ueckmann und Gisela Febel haben in Zusammenhang ihrer Beschäftigung mit Négritude und Negrismo den Ausdruck Pluraler Humanismus verwendet. Ist das eine Figur, die man aufgreifen könnte, die man zur Idee weiterentwickeln könnte, im neokolonialen Tourismus quasikontradiktorische Pluralisierungen zu betrachten? Liegt die Auf lösung des wissenschaftlichen Gebots zu widerspruchsfreiem Denken vielleicht in einer Bewegung zur Pluralisierung? Sollten wir in unserer Feldstudie das SowohlAls-Auch feiern und dem Entweder-Oder eine Absage erteilen? Wir sind skeptisch: Wäre damit nicht genau das Entweder-Oder erneut etabliert, nur ein Stockwerk nach oben versetzt, mit etwas mehr Überblick: entweder das Entweder-Oder oder das Sowohl-Als-Auch. Unsere Reise von Sylt nach Zanzibar, von der Sansibar bis an den Strand von Paje, veranlasst uns eher dazu, den Widerspruch zuzulassen. Beides simultan zu denken, das Entweder-Oder einer artistotelischen Logik und das Sowohl-Als-Auch einer pluralen Epistemologie. Wir nennen das, sich im entweder-sowohloder-als-auch bewegen, oder einfach Broschenlehre. Nichtung und unbedingter Urlaubswille schließen einander eben gerade nicht aus und sie tun es doch. Ihre Verschmelzung und Abgrenzung kennzeichnet den Tourismus, wie wir ihn auf Zanzibar erleben und wie er auch in Kenia und andernorts in der Postkolonie performativ nachzuvollziehen ist. Es ist ja fast nicht möglich, in der Rolle des Urlaubers nicht zu nichten und es zugleich nicht zu wollen, um mal ausspannen zu können, also zu lüften ohne zu luften. Denn überall sind Beachboys, Maasai, dieser und jener, der einem beim lüften beeinträchtigen könnte und zugleich helfen kann zu leben, Menschen, die man sehr schnell und immer wieder luftet, auch wenn man das luften gar nicht mag. Wir schließen uns da nicht aus. Der Strand als eine neokoloniale Kontaktzone. Mit einer vielzitierten Erläuterung dieses Konzepts der contact zone von Mary Louise Pratt könnte man auch die Strände als soziale Räume verstehen, »where cultures meet, clash, and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power, such as colonialism, slavery, or their aftermaths as they are lived out in many parts of the world today«.40 Der Strand als Kontakt40 Pratt 1991: 34. Mit Bezug auf Mary Louise Pratt spricht James Clifford (1997: 188-219; hier vor allem 192-193) auch vom Museum als contact zone, was eine Verbindung zwischen kuratieren als linguistischer Verortungspraktik, wie wir sie nicht zuletzt im 8Princess Salme
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Territorialisierung. Zanzibar 2018 zone ist ja genau von diesen asymmetrischen Machtkonstellationen geprägt, und dies allemal dort, wo Neokolonialismus die Körper zueinander in Stellung bringt, sie um Aufmerksamkeit oder auch nur Erholung kämpfen. Museum8 kennengelernt haben, und dem Leben am Strand als einem Expositionsraum – und zwar nicht nur von Touristen – recht deutlich ziehen lässt; vgl. dazu auch Obrists (2015 [2014]: 20-21) Bemerkungen zum ethnographischen Museum.
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Beherzter Urlaubswille und Nichtachtung berühren einander ständig, ein entweder-sowohl-oder-als-auch von Begegnung mit dem Anderen durch Sich-Vergessen im Anderswo und Bei-Sich-Bleiben durch Grenzziehungen, Territorialisierungen von Körpern. Der streng bewachte Strand mit Zugangskontrollen ist dafür der beste Ausweis. Mit dem Hotelaufenthalt, der ein geregeltes Dasein im Anderswo ermöglicht, ist die Abgrenzung immer schon mitgekauft. Und die liebe ist ohnehin mit beiden Praktiken engstens verbunden, davon erzählt der Sextourismus, der gerade am Strand angebahnt wird. Die Konzepte lüften, luften und lieben bewegen sich aber bei genauerem autoethnographischen Nachdenken zugleich und eigentlich ständig nicht nur miteinander, sondern auch gegeneinander. Es gibt keine eindeutigen Positionen im Spiel der Plünderung von Raum, Geschichte und Körpern. Denn der Tourismus hat von allem, was hier Das Ketchup in Nungwi war nicht gut. In der ersten möglich ist, längst Besitz erApotheke gab es irgendwie nichts, was half. Oder doch? griffen und verschiebt zahlWir haben uns jedenfalls einen Wagen genommen und reiche Handlungsoptionen wurden in den nächsten Ort gefahren. Da war eine Hütte ineinander. Und er tut dies am Straßenrand, viele Frauen mit Kindern saßen davor. zugleich nicht, das gehört Vorgefahren und reingegangen. Nach Medikamenten gezum gesamten Bild. Man fragt. Die Beratung war freundlich und kompetent. Später kann sich auch vermeintlich wurde uns klar, dass das die Sprechstunde eines Arztes rausnehmen, Touristen und war, in die wir hineingeplatzt sind. Vorfahren, reingehen, Feldstudierer können auch in Problem nennen, Medikament mitnehmen. An all den ihren Gewissheiten bleiben, Frauen und kleinen Kindern, die ja wohl krank waren, vorbewacht, bezahlt, geschützt bei. Das Medikament bekamen wir. Aber wir haben auch vor sich selbst. Und es gibt die Erfahrung gemacht, dass das ein ziemlich bescheuschließlich auch den Djinn, ertes Verhalten war. Der Taxifahrer sagte uns später, das die Stadt unter Wasser, die sei kein Problem gewesen, sie hätten uns bestimmt für jeGeister, das Anderswo im mandem von einer NGO oder ähnlichem gehalten. Scheint Präsenten, das Dort im Hier. also ein ganz normales Auftreten zu sein. Plötzlich wird der Eine oder Andere krank, träumt schlecht. Die europäischen Koffermedikamente helfen nicht weiter. So erweist sich der feldstudierende Blick des Wissenschaftlers als ein Instrument, das sehr schnell am Leben vorbeidenken kann, dann nämlich, wenn Kategorien eine Ordnung schaffen wollen, die in der geordneten Un-
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ordnung des Lebens – also im Paradox, im Widerspruch – nicht zu Hause ist. Das derangement, die Unordnung in der Ordnung der Welt, ihr entwedersowohl-oder-als-auch, das ist es, was uns zunehmend interessiert. Kritikalitätstheoretische Analysen und andere wissenschaftliche Konjunkturen der globalen Humanities – die Literaturwissenschaftlerin Robyn Wiegman spricht vom Ab- bzw. Austragen wissenschaftlicher Orientierungen in den letzten 40 Jahren, vom »very process of wearing
Kreiseln. Jambiani 2018
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out«41 – sind unseres Erachtens in einen f luiden Strom des Für-MöglichHaltens gleichzeitiger Gültigkeiten des einander Ausschließenden zu werfen, auf dass sie austreiben, schwimmen, strömen und sich mit dem verbinden, was schon da war und noch da sein wird. Und dieser Gedanke verlangt nun, nach sorgfältig ein- und wieder ausgeführter Terminologie und sozusagen abschließend, nach einem mindestens ebenso sorgfältig entwickelten methodologischen Ansatz. Schön. Schön wäre es, auch mal einen linguistischen Text nach dem Vorbild der mönchischen Ruminatio zu schreiben. Wiederkäuendes Schreiben. Immer wieder das Gleiche und auch das Selbe sagen und das Fach im Kreis drehen. Die Redundanz zur Methode erheben. Weil eh (fast) alles gesagt ist. Die Austreibung von Bedeutung durch Massiviteration. Dies nur mal so als Snippet, als Idee. Vielleicht verrückt, aber daran denke ich gerade. Das ist nicht verrückt, das ist genial. Das passt doch sehr gut in unser Buch. Das ist kult. Supi ist das. Als Dialog wäre es auch schön. Ja. Ein Dialog! Als Dialog wäre es auch schön. Dialoge sind scholastisch. Als Dialog wäre es auch schön. Dialoge sind scholastisch. Es gibt diese saugeile Szene in der Bettwurst von Rosa von Praunheim, wo Luzi und ihr Lover (der Stricher) immer nur ich liebe dich sagen. Als Dialog wäre es auch schön. Dialoge sind scholastisch. So ein ruminativ geschriebener Text wäre schön. Ein Dialog vielleicht. Ein rumgrübelndes Ruminieren. Als Dialog wäre es auch schön. Schön wäre es. Man kann sich einen Exkurs über Ruminativableitungen vorstellen (Urfriesisch, Vorbantu). Als Dialog. So schön. Da könnte man mal einen Dialog führen. Es ist so schön. Das Wiederkäuen. Gern auch ein bisschen redundant sein. Mut zum Vormagen. Ja. Als Dialog. Oder Dislog. Ja. 41 Wiegman 2015: 22.
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Dialoge sind scholastisch. So schön der Dialog. Das wäre schön, wenn so ein scholastischer Dialog zustande käme. So ruminierend. Als Dialog wäre es auch schön. Scholastisch halt. Wäre der. Als Dialog wäre das schon gut, irgendwie. Ich grüble so gern über den Fislog. Und Dislog. Aber am liebsten über den Dialog. So schön. Ich denke gern an Vor- und Labmägen. Dialoge sind scholastisch. Es wäre gut, da mal einen Dialog zu machen. Das wäre so schön. So dialogisch zu schreiben. Ein Dialog, der ruminastisch ist. Ja, vom Magen her. Der Dialog. Immer wieder. So zwischen Scholastikern. Bei der Sache bleiben. So schön. So habituell, der Dialog; schön. Die Schule des Kauens und Wiederkäuens. Und der scholastischen Redundanz. So zwischen Scholastikern. Da mal ein Dialog zu. Das wäre schön. Der ruminastisch ist. So schön. Was das mit uns machen würde! Ein Dialog der schön ist und der bestätigt. Zwischen Scholaren wird der geführt. Mir ist schon ganz dialogig. So schön. Mir auch. Der Dialog. Der Dialog wäre schön. Der wäre scholastisch. Es gibt diese saugeile Szene in der Bettwurst von Rosa von Praunheim, wo Luzi und ihr Lover (der Stricher) immer nur ich liebe dich sagen. Ich würde ruminieren dazu. Vielleicht danach ein kleiner Dialog. Das ist kult, das muss erwähnt werden. Das wäre schön. So schön. Als kult wäre es supi. Da mal ein Dialog zu.
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Es wäre halt mal was Scholastisches. Es ist so schön, sich wissenschaftlich auszutauschen. Im Dialog. Gerade auch als Scholastiker. Ja. So schön. Das ist ein schöner Dialog. Ein Dialog, der schön ist und der bestätigt. Rosa von Praunheim gilt ja als Urheber. In der Bettwurst. Das ist nicht verrückt, das ist genial. Das wäre mal einen Dialog wert. Supi, das ist kult. Zwischen Scholaren wird der geführt. So schön, wenn es mal im Magen redundant sein darf. So habituiert man einen Dialog. Ohne böse Überraschungen. Gern auch mal ein bisschen redundant sein. So schön. Man könnte einen Dialog dazu führen. Das ist ein schöner Dialog. So etwas Habituelles unter Scholaren. Ein schöner scholastischer Dialog. Man könnte einen Dialog dazu führen. Die Schule des Kauens und Wiederkäuens. Ich grübele ein wenig. Immer noch über den Vormagen. Der Dialog wäre schön. Ein Dialog dazu wäre schön. Das wäre scholastisch. Die Disziplin hat ihre Methoden. So schön. Wirklich schön. Das wäre so schön. Die gehen durch den Magen. Methodische Schönheit. Das ist supi, das ist kult. Ein Dialog dazu wäre schön. Das ist supi, das ist kult. Ein Dialog dazu wäre schön. Unter Scholastikern. Die Disziplin hat ihre Methoden. Unter Scholastikern. Rosa von Praunheim hat einen Film gedreht. Dazu wäre ein Dialog denkbar. Ja. Die Bettwurst. Das wäre schön. Das wäre schön für Scholastiker. So eine Bettwurst im Dialog. Ja und Mönche. Beim Ruminieren. Das wäre schön. Ohne böse Überraschung. Dazu kann man grübeln. Und sich iterieren.
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Die Schule des Kauens und Wiederkäuens. Bis es ein paar hinter die Löffel gibt. Oder der Hammer fällt. Dazu kann man grübeln. Immer wieder Schönes tun. Aber ein Dialog wäre schön. Das wäre scholastisch. Da kann ein Dialog geführt werden. Schön ist das. So ein Dialog ist kult. Ein Dialog. Das wäre schön. Gerade auch mal zur Ruminatio. Ja kult. Ein schöner kult. Das machen Mönche. Bei den Mönchen. Rosa von Praunheim beschreibt das in seinem Film. Nein, er beschreibt das nicht. Aber Luzi und ihr Lover lieben sich. Sie sagen es immer wieder. So ein Dialog ist kult. Das ist eine geile Szene in der Bettwurst. Dazu ein Dialog! Mann, schön! Dazu wäre ein Teller Kutteln möglich. Ein Dialog über Kutteln. Das wäre schön. Verkuttelte Linguistik! Saugeil, sage ich Ihnen! Darüber müßte man mal einen Dialog führen. Das wäre mal kult. Mal wieder. Das wäre scholastisch. Dazu mal ganz dialogisch was Scholastisches. Das wäre schön.
Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein. Und wer ein Wort erteilt, soll auch ein Ohr leihen. Sonst nützt das Ganze doch gar nichts!
Körper Einmal haben wir uns in ein Resort begeben. Wo sind wir hier? Schöner Name, orangenes Bändchen, ruinöse Atmosphäre. Der Blick aufs Meer bedeutungsleer. Ein Zimmer zu wenig. Ein Ort zum luften ohne Sinn und Verstand. Reduziert auf den Körper. Geschichtslos. Inhaltsleer. Nach Zanzibar fahren und sich bei sich selbst irgendetwas dabei denken, was niemand weiß. Das innere Geheimnis der kolonisierten Gegenwart empfinden. Keine Kommunikation. Brummen eines Kompressors. Ein diskursfreies Dispositiv. Auf den Körper zurückfallen. Regredieren in einen zauberfreien Naturzustand. Trägheit greift um sich. Hier gibt es nichts, worüber man sprechen kann. Kein Buch ist hier zu Hause, keine Geschichte. Ein simpler Ort, der noch nicht einmal durch cleane Leere mit Bedeutung angefüllt ist, wie das Luxushotel, das man so kennt, sondern nur noch durch körperliches Erleben. Ein zeichenfreier Raum irgendwo auf dieser verdammt ruinierten Welt, unterlegt mit Elektrosound. Leere im Vakuum. Es ist nicht möglich, hier eine entschiedene Haltung einzunehmen, weil es weder kritischen Widerstand noch irgendein Angebot zur Positionierung gibt. Wir sind hier im Hinterhof der Verf lechtungsgeschichte angekommen, da, wo ein Werkzeug rostet, das schon lange nicht mehr gebraucht wurde, und wir sind hier weit weg von der globalen Akademia und kolonialkritischen Straßennamenprojekten in Deutschland. **** Kleine Intervention jetzt hier mal. Das ist natürlich nur als Performanz, Darbietung, richtig, also deutlich eingeschränkt: Sprache und Wissen sind ja verkörpert im Leib des Experten. Und hier sind zwei solche Experten am Werk, und zwar im Beach Resort am Strand, und winden ihre Körper in ihre Plastikarmbändchen und tun sich schwer. Warum ist das nicht wenigstens ein Designhotel, was Intellektuelles zum Absteigen, was, wo innerliches, ver-
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innerlichtes Erleben möglich ist. Und alle so unfreundlich, mein Gott. Aber dennoch, machen wir weiter, fragen wir mal anders, sehen wir mal nach. **** Warum nämlich gibt es Orte wie das Allinclusiveresort am fernen Strand? Vermutlich, weil die lange Implosion des imperialen Traums leere Räume der Ausbeutungskette schafft und Ruinen produziert, in der mit den Körpern etwas geschieht, sie können unheilig und seelenlos werden, was den Experten, trotz aller Rationalität, offensichtlich in Unruhe versetzt. Ann Laura Stoler behandelt in ihrem Buch Duress gegenwärtige Fortwirkungen des Kolonialismus – Imperial Durabilities in Our Times –, die nicht nur als unmittelbar wahrnehmbares koloniales Vermächtnis zu beschreiben sind, als eine auferlegte Bürde oder ein gewusstes Erbe, sondern als eine mittelbare Präsenz, die zwar das Leben mit kolonialer Geschichte durchdringt, aber die postkoloniale Eindeutigkeiten nicht herstellt, wie es etwa das Museum zur Sklaverei auf Zanzibar tut. Es geht um etwas, was Stoler koloniale Präsenz nennt, um »refashioned and sometimes opaque and oblique reworkings«1. Diese Neugestaltung, diese undurchsichtigen und mittelbaren Neubearbeitungen der kolonialen Idee sind allüberall zu besichtigen, im Tourismus allemal. Allerorten kann man immersiv in sie eintauchen, auch wenn das vordergründig nicht mehr als eine leerende Erfahrung ist. Dabei werden keine Kolonialarchitekturen oder Ruinen ausgestellt und begangen, geschweige denn retrospektive Werte auf erklärenden Tafeln mitgeteilt. Das neokoloniale Epistem des einundzwanzigsten Jahrhunderts produziert Orte der vereinzelten, auf sich geworfenen Körper. Irgendwo im Nirgendwo. Dieses Wo – es bedarf dabei eigentlich weder eines Irgend, noch eines Nirgend – kann ohne komplexe Konstruktion vor sich hinexistieren, denn es ist einfach da, ohne dass es ein Gegenstück bräuchte. Dieser Ort ist ein Wo, ohne augenscheinlichen äußeren Anlass, und er macht Körper. Er ist das, was wir überall, wo es solche Orte gibt, von ihm erwarten dürfen und werden: eine Anlage aus Wegen, Zugängen und Treppen, mit einer Rezeption, in der man ankommt und sich legitimiert, indem man seine Rechnung begleicht und ein Plastikbändchen um das Handgelenk fixiert bekommt und über die Frühstückszeiten im palmwedelgedeckten Spaß1 Stoler 2016: 5.
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ort weiter unten aufgeklärt wird. Zum Rezeptionsgebäude gehört die davorliegende Pforte, bewacht von müden Männern in einer pseudomilitärischen Phantasieuniform, die Sicherheit vermitteln sollen. Und das Ensemble liebloser Ferienhäuschen und Appartements. Dazwischen vor allem Wege, davor (oder dahinter, das kommt jetzt auf die Perspektive an) ein Strand mit Strandlokal und Strandbar und Bläue und Booten und Sonne. Abends Programm, am Wochenende Vollmondparty. Das Legitimationsbändchen erlaubt uns, all dies zu betreten, zu erkunden und zu gebrauchen. Der Ort ist dazu da, konsumiert zu werden, und weil das so ist, bedarf er keines Spiegelortes, keines Gegenstücks. Er ist, weil er ist und er muss nicht verglichen werden. Reines Wo, ohne ein Irgend- oder Nirgend-, ein Ort, an dem sich selbst die wohlstrukturierte Morphologie des Deutschen erschöpft. Dieses Wo kann nicht verandert werden und daher auch keine Idee des Selbst generieren. Der Nichtort, den Marc Augé in den konsumierten spätkapitalistischen Umgebungen ethnologischer Arbeit – also dem, was vor der eigenen Haus- oder Institutstür liegt – erkannt hat, ist hier nahezu spektakulär verwirklicht worden. Während man an denjenigen Orten, die Einiges von Augés typischen non-lieux ausmachen und die wir öfters besuchen (Parkplätze vor Großmärkten, Tankstellen an Umgehungsstraßen, Unterführungen und Wartehallen), noch immer hof fen kann, dass sie irgendwie dennoch Orte geblieben sind, dass sie weiterhin etwas erzählen und bedeuten – für irgendjemanden zumindest –, einen vor Schmuddelästhetik und Retrocharme nur so triefenden Arbeitsplatz multilingualer, superdiverser outgesourcter Angestellter vorstellen oder ein kreatives Areal nicht autorisierter Protestler und ähnliches, ist es hier aus mit der Hof fnung. Hier findet sich wirklich das, was Augé surmodernité nennt: eine Übermoderne, deren Realitäten durch ein Übermaß an Orten gekennzeichnet sind. Diese Übermoderne besichtigen wir allerdings nicht in den Ferienzentren der Modernitätszivilisationen des globalen Nordens, sondern viel direkter auf Zanzibar. Sprache im Übermaß bedeutet hier genau das, was Augé meint, nämlich nicht die Präsenz vieler diverser Sprachen in einer Umgebung, die Normen außer Kraft setzen lässt und stattdessen Vielzüngigkeit gestattet, sondern die Präsenz eines Übermaßes kontrollierender, kontrollierter, normierender Sprache. Es geht um ein Übermaß dessen, was literacy
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sein soll,2 die aus kommunikativer Dif ferenz eine Essenz herstellt, die zur Konstruktion exklusivierender Räume gebraucht wird. Sprache in einer kolonialen Welt ist Sprache, die kartiert, benannt, gezählt, normiert, orthographisiert, archiviert und korpusentsorgt wird. Sprache in einer kolonialen Welt ist linguistisch territorialisierte Sprache, sie funktioniert wie das von Stuart Elden erklärte Territorium, sie ist »owned, distributed, mapped, calculated, bordered and controlled«3. Sie darf am Nichtort erwartet werden: einmal als musealisiertes, in ein geliebtes Andenken verwandeltes Einst und Dort, und einmal als standardisiertes Utensil der vertraglich vereinbarten Begegnung zwischen den Tourismusarbeitenden und ihren Gästen, jeweils deutlich zugeordnet zu jemandem, dem die Sprache gehört, dem sie zugeteilt ist, soziolinguistisch kartierbar, zählbar nach Merkmalen, an kommunikative Grenzen stoßend und vom Diskurs der Sprachwissenschaft mindestens potentiell kontrolliert. Dieses Übermaß setzt alles außer Kraft, was hier eigentlich auch noch ist, nämlich Handeln und Sprechen außerhalb imperialer Anweisungen. Das zeigt sich auch – oder vielleicht insbesondere – in der Produktion von Zeugnissen und Berichten der in diesem Übermaß auffindbaren Vielfältigkeit. In ihrem Buch über ihre touristischen Erfahrungen von Selbstentfremdung schreibt Andrea Tapper über Zanzibar: Ich bin kein Neuling in Afrika, ich habe fast zehn Jahre als Korrespondentin in Kenias Hauptstadt Nairobi gearbeitet. Doch die Märcheninsel, wo der Pfeffer wächst, hat noch mal eine ganz spezielle Magie. Sansibar, Afrikas bestgehütetes Geheimnis, Sehnsuchtsziel im Indischen Ozean, reich geworden mit Gewürznelken, Sklavenhandel und Elfenbein. Vor langer, langer Zeit.4
Hier wird alles noch einmal zitiert, das ganze Einst: Die Vernetzungen innerhalb eines Imperiums und seine Verortung in einer kolonialen Welt. Exotisch klingt es eigentlich nur, weil das, was daran unerträglich ist, längst verdrängt und verschoben worden ist. Geluftete historische Erfahrungen und geluftete Geister, die uns daraus geblieben sind, verbergen sich hinter den imaginierten Gewürzballen und unter der Oberf läche des makellosen 2 Bongartz 2019. 3 Elden 2010: 810. 4 Tapper 2015: 7–8.
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Sektorzone. Stone Town, Zanzibar 2018 scheinenden Meeres. Was uns bleibt, ist aber die Frage nach der Vielfältigkeit der Gegenwart: Ist dieses Sansibar nicht auch deswegen ein Sehnsuchtsziel, weil es als Geheimnis gedacht werden kann? Denn das, was uns aus der präsenten Vergangenheit dieses Ortes begegnen soll, sind die Folgen von Verf lechtungen, die wir in Form kosmopolitischer Sprachpraktiken genauso wertzuschätzen aufgefordert sind, wie in den Spuren, die sie im
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Kulinarischen, Musikalischen, Architektonischen und eben auch Körperlichen hinterlassen haben. All das kann und muss konsumiert werden, denn es geht hier ausdrücklich um den Verkauf, und zwar von Dingen, Orten und Verkehr.5 Attraktiv und begehrenswert wird insbesondere das, was außerhalb des Hegemonialen gedacht werden kann: Also Sprache, die ›viel‹ im Sinne von ›viele‹ ist und die außerhalb des Kontextes gedacht wird, der das Übermaß normierender Sprache kennzeichnet. Gleich außerhalb der Zone, in der wir unser Plastikarmband tragen, ist Afrika deshalb ›anders‹, irgendwie besonders, luftig: Man spricht viele verschiedene Sprachen, egal wie, Swahili kommt von selber, ein bisschen kann jeder, wie gut doch alle Deutsch können, Italienisch auch. Performatives Sprechen steht hier nicht, wie von der jüngeren Soziolinguistik gern behauptet, in Opposition zu Sprache als λόγος, als rationaler Diskurs und als Struktur, sondern ist Teil einer luftenden Objektifizierung von Sprache, also Sprache gedacht als billiges Ding, Theaterschminke, die auf dieser Bühne gebraucht wird. Wenn Richard Bauman und Charles Briggs6 in ihrem wegweisenden Text über performative Sprachpraktiken schreiben, dass Studien, die sich mit Performativität befassen, dominante westliche Konzepte in Frage stellten, indem sie anstelle strukturlinguistischer Merkmale die kulturelle Organisation kommunikativer Prozesse wichtig nähmen, dann haben sie damit zweifellos Recht. Aber hier wird etwas noch viel Radikaleres erkennbar: Es geht nicht mehr nur darum, auch nach anderen (nichtwestlichen) Konzepten von Sprache und damit dem, was gemeinhin als Folk Linguistics abgetan wird, zu fragen, sondern auch danach, was von Sprache überhaupt noch bleibt, wenn man sie, als Praxis im Kontext und nicht bloß Struktur gedacht, zu exotisierenden Portraits südlicher Andersartigkeit verformen muss, um das, was außerhalb der in der Linguistik nie überwundenen eurozentrischen Perspektiven liegt, irgendwie mit Sinn zu füllen. Und das wird überall nachspürbar, sobald man sich diese Frage stellt. In ihrer Arbeit zu den kolonialen Kontinuitäten in der Sprachwissenschaft befassen sich die indische Linguistin Sonal Kulkarni-Joshi und ihr Kollege S. Imtiaz Hasnain mit nördlichen Perspektiven auf Sprache im sozialen Kontext. Dabei untersuchen sie nicht nur kolonialzeitliche Quellen, sondern auch einige der wegbereitenden Beiträge zur modernen Soziolinguistik: 5 Traber 2017. 6 Bauman & Briggs 1990.
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John Gumperz’ Studien zu sprachlicher Variation in Indien beispielsweise, die stilbildend für Generationen waren. Und dennoch, auch hier findet die Kritik der sich transformierenden Soziolinguistik an der etablierten Wissenschaft vor dem Hintergrund unref lektierbaren Veranderns statt. Sprache in Indien (was auch im historisch eng mit Indien verbundenen Zanzibar gilt) sei durch vielfältige rituelle Restriktionen viel reicher an Variation und Differenz. Gemeint ist das Kastensystem, das aber so, wie es dann beschrieben wird, genauso ein Ergebnis kolonialer europäischer Herrschaft und Wissensproduktion ist, wie die Idee sprachlich andersartiger Gemeinschaften in den wir irren durch ein unendliches Tropen. Kulkarni-Joshi und Hasnain enttarnen ein Nichts populären Texten wenig nachstehendes Bemühen wir Irren um Exotisierung des zu erklärenden kolonialen wissen endlich Anderen, das eine ganze wissenschaftliche Biblionichts thek durchzieht. Eine Broschentheorie tut hier Not. In der Linguistik gibt es durchaus eine aktuelle Diskussion über das Andere im Eigenen. Was ihr fehlt, scheint der Blick auf den eigenen Körper. Hätte man diesen zugelassen, und hätte man den Blick auf das Selbst gelenkt, die Brosche oder Applikation auf dem eigenen Hemd genauer untersucht, wären Fragen zur Positionalität eben auch immer Fragen nach der eigenen Positionierung gewesen. Dass die eigene Verortung bei der Betrachtung des Redens der Anderen das Maßgebliche überhaupt ist, zeigt sich nicht nur, wenn man im Beachresort auf seinen Körper zurückgeworfen ist, sondern auch daran, dass sich die einf lussreichen Beiträge in der Forschung zu sprachlicher Differenz mit den komplexen Orten vor der eigenen Haustür befassen.7 Die Städte des Nordens werden so zur neu dekorierten Bühne linguistischer Forschung. Sie sind dabei nicht länger als Metropolen des Nordens beschreibbar, sondern eben als Spielstätten – Bühnen – performativer Sprachpraxis, an denen sich diejenigen, die aus den postkolonialen Peripherien kommen, angesiedelt haben. Die von ihnen bewohnten und belebten Viertel werden nun zu Stätten andersartigen, südlichen, immer exotisch gebliebenen Sprechens: Dort befinden sich Geschäfte, graffitibemalte Mauern, Klassenräume in Abendschulen und Kneipen, deren Beschriftung und Beschilderung auf die Präsenzen von Sprecherinnen und Sprechern aus dem Wo, dem Anderwo 7 Siehe Blommaert & Backus 2011, Blommaert & Rampton 2011.
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(Irgendwo, Nirgendwo) hindeuten. Diese Stätten gilt es zu fotografieren und zu untersuchen; sie sind die Orte, an denen die im Norden und in der Wissenschaft wahrgenommene, problematisierte und diskutierte Globalisierung sich niederschlägt und materialisiert. Sprache als lokale Praxis8 hat ihren Sitz offenbar nicht mehr einfach nur an den jeweiligen Lokalitäten des Nordens oder des Südens, Ostens oder Westens, sondern als südliche Praxis eben auch im Norden und umgekehrt, bzw. überall sonst. In seinem programmatisch intendierten Text über The Sociolinguistics of Globalization schreibt Jan Blommaert darüber Folgendes:9 The new migrants typically settle in older immigrant neighbourhoods, which thus develop into a layered immigrant space, where resident (»old«) immigrants often rent spaces to newer, more temporary or transient groups, and where new segments of the labour market are developed. Many of the new immigrants live in economically and legally precarious conditions, and many of them are strongly dependent upon informal employment and solidarity networks such as churches [...]. The extreme linguistic diversity in such neighbourhoods generates complex multilingual repertoires in which often several (fragments of) »migrant« languages and lingua francas are combined. And such neighbourhoods often display a density of mediating institutions such as welfare and employment offices, as well as night shops, money transfer bureaus such as Western Union and – significantly – telephone and Internet shops where international phone calls and Internet access are offered at bargain prices.
Was hier als äußere Erscheinung und Lebensumfeld in der sogenannten superdiversen Stadt beschrieben wird, gleicht einer lediglich weniger orientalistischen Fassung dessen, was der in älteren soziolinguistischen Texten präsente Diskurs bereits konstruiert: Die Differenz des Südens ist das entscheidende Moment in der Gestaltung des Textes – er gleicht in weiten Teilen einer Aufzählung, einer Liste dessen, was in dieser mitten in die Stadt geratenen Peripherie alles anders ist – und der Begründung der ihm zugrundeliegenden Forschungsarbeit. Und der, der sie beschreibt, der Körper des Linguisten im Wo, ist transzendiert in die Disziplin. Die sich 8 Pennycook 2010. 9 Blommaert 2010: 7.
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hier konstituierende Diversität (viel davon hat mit Zeit zu tun: Öffnungszeiten, Einwanderungszeitpunkte; eine Allochronie der Migrierten entfaltet sich) ist ein Merkmal der Fremdheit, und sie ist neu, überlagert alte Fremdheiten und ist deswegen komplex. Dazu sagt man Superdiversität, und das ist zwar nicht Kult, aber supi. Wie Ana Deumert 2014 10 feststellt, ist der Begriff (kleingeschrieben; superdiversity) dann auch innerhalb weniger Jahre im Internet viral geworden. Zurück zum Bühnengedanken. Was hier also in einer Kontinuität und in diversen Genres – gleiches beschreibt auch der touristische Text von Andrea Tapper – erfasst und gestaltet wird, ist etwas ganz am Alten Festhängendes. Die Konstruktion des Forschungsobjekts als Anderes ist an sich nichts Neues und vielfältig ref lektiert worden. Besonders wichtig erscheint uns dabei Johannes Fabians Time and the Other als ein Beispiel unter anderen. Aber hier wird ihre Rechtmäßigkeit im selben Atemzug in Frage gestellt, in dem diese Konstruktion auch schon wieder verdinglicht wird. In Studien zur Superdiversität geht es nicht um einen radikalen Blickwechsel: Hier wird ja gerade nicht danach gefragt, wie ein weniger metropolitaner, eurozentrischer und akademischer Blick auf die Strategien der Bildung von Gemeinschaft erkennen lassen könnte, dass diese Art der Diversifikation von Orten und Gruppen nichts Besonderes ist. Woanders weitermachen, wenn es dort, wo man ist, nicht mehr läuft, ist eine ziemlich gute Idee, und sie ist wesentlich für das, was der Historiker und Anthropologe Igor Kopytoff »frontier« nannte – ein Raum, in dem immer neue Gemeinschaften konstituiert werden müssen, um Konf likte kontrollierbar zu halten und Krisen zu bewältigen. Geschichte muss deshalb nicht als Faktum und Kette aufeinander folgender historischer Ereignisse erzählt werden, sondern kann auch als Weg vom Irgendwoher ins Irgendwohin gedacht werden, wobei diejenigen, deren Weg irgendwann einmal gekreuzt worden war, lebendige Gemeinschaften sind, mit denen man in Beziehung steht. Es geht hier auch um Zwischenmenschlichkeit, Beziehungen zu anderen Menschen und nicht um die Gestaltung von Differenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Das sind nicht nur Erfahrungen, die von Menschen in verschiedenen Regionen Afrikas gemacht wurden, sondern auch in der Diaspora und ganz woanders auf der Welt. Die Texte, die aber nun von den vermeintlich superdiversen Präsenzen in Städten erzählen, die folglich sonst recht eintönig gefunden werden dürften, 10 Deumert 2015.
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konstruieren das Abnorme inmitten des Normalen. Die neighbourhoods der Migrierten sind divers, laut vielleicht (Die langen Öffnungszeiten! Die vielen Sozialangebote für die Gestrandeten!), ganz bestimmt anders. Sie sind dem, was wir sonst so an neighbourhoods kennen und bewohnen mögen, in einer Art binärem Kontrast gegenübergestellt: Ein Schaukasten, in dem der postkoloniale Other präsentiert wird, bequem nur zwei Straßenbahnhaltestellen entfernt erreichbar. Diese Binaritäten sind, das wissen wir längst von Frantz Fanon, ein ganz grundlegendes Merkmal kolonialer Diskurse. Und diese Idee vom irgendwie lauten, unordentlichen, supertoll diversen Süden ist, das wissen wir seit Achille Mbembes Texten über die Postcolony, ein ebenso grundlegendes Merkmal der Konstruktionen der kolonisierten Welt als dem unzureichend und abstoßend gebliebenen Gegenstück zur richtigen Welt, Europa undsoweiter, wo alles so ist, wie es sein soll. Was diese doch eigentlich ganz banalen Präsenzen des Anderswoher im Hierirgendwie zu etwas macht, das zu erzählen sich lohnen könnte, ist die Tatsache, dass sich das hierüber zu Wissende wunderbar eignet, von den Forschenden zum Teil einer theatralischen Aufführung gemacht zu werden. Im Fokus einer linguistischen Debatte stehen die Verortungen globaler sozialer Ungerechtigkeit, kolonialer Kontinuitäten und aber auch souveräner Lebensgestaltungen von Menschen, denen wir im Alltag begegnen oder auch nicht. Deren Lebenswirklichkeiten werden von unseren abgespalten, sodass alles, was an diversen Sprachpraktiken präsentiert, beschrieben und illustriert werden kann, nichts anderes als der Text eines Bühnenstücks ist; Text und Performanz treten anstelle von Begegnung und Geteiltem. Die Kulissen dieser Theateraufführung, in der die Darsteller nichts sagen, sondern nur noch performen, sind besprayte Waggons, mehrsprachige Straßenschilder, Zettel an der Tür zum Copyshop, Poster im Klassenzimmer einer Abendschule, Reklametafeln und Speisekarten. Die von ihnen als Signale des Superdiversen kündenden Experten sind für die gute Sache unterwegs: eine Stimme geben, Bescheid wissen über die in den Edgelands und der Banlieue Gebliebenen, über ihre Geheimnisse und Schwierigkeiten. Ein Sujet, das Privilegien überdecken hilft, indem es den Blick auf die Gegenwart der immerzu redenden, erklärenden, weiterforschenden und wiederum redenden, vor allem auch vortragenden, noch wichtiger publizierenden und noch viel wichtiger zitierten Personen in ihrer Gegenwelt lenkt. Dort solidarisiert man sich, erwirbt man sich eine moralische Legitimation und endlich auch ein Recht darauf, den weniger
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Coolen in der Fakultät (nach getaner Forschung, nach überstandener Härte) überlegen zu sein im eigenen kleinen Fach, im Wissen um die superdiverse Welt. Der einen Aufführung folgt die nächste. Das bringt uns, wenn auch ganz kurz nur, zum Viralitätsproblem. Superdiversity zählt zu den produktivsten Konzepten der Soziolinguistik der vergangenen Jahre. Obgleich das, was es beschreibt, aus einer alternativen Perspektive betrachtet für ein besseres Verständnis komplexer Sprachpraktiken und Kontexte hilfreich ist,11 findet sich unter den vielen Publikationen zu diesem Thema eine überwältigende Anzahl von Arbeiten, die sich mit Differenz in eher althergebrachter Form auseinandersetzen. Es ist leicht zu verstehen, warum das dennoch derartig produktiv ist: Da liegt alles direkt vor der Haustür – sprachideologische Konzepte, Konstrukte von Selbst und Anderem, Graffitis, Gemüseläden, Bahnhofsviertel. Betrachten ohne einen Gedanken an das Anblicken, schnell gemachte Arbeit. Die Verkörperung unserer eigenen Rolle, unsere Körper überhaupt, und wie sie Orte durchqueren, bleiben verschwiegen und sind nicht Gegenstand unserer Texte und nicht unser Sujet. Das entkörperte Schweigen des Experten in seinem benevolenten Verständnis für den performten Körper der Anderen. Einer solchen Verantwortungslosigkeit wie die Entkörperung der Linguistik, Da hat einex Kollegix neulich erzählt, dass der ja auch jeder Gedanke an Sprachhen nur noch Dank manueller Therapie magie zuwider ist, lässt sich so einiges arbeiten kann. Da denkt man sich einmal entgegensetzen; die an sanftes Pendeln, mehr, dass der Körper dex Expertix doch Atmen, erinnernde Melodie von Luigi ziemlich wichtig ist. Rossis Vertonung des Peccator Petitor des Giovanni Lotti etwa.12 »Spargete sospiri / Ergete lamenti / Memorie dolenti / Di tanti deliri!«, heißt es da. Wäre das nicht eine schöne Wendung? Wenn wir uns jedoch die Forschenden in der gleichen Allochronie verortet denken könnten wie die Beforschten, dann könnten wir uns bei dieser Gelegenheit auch ein paar wenige Gedanken um eine passende Kostümierung machen. Trachten und Talare, und dergleichen mehr, die entzeitete Repräsentationen zuließen, scheinen eine banale Wahl zu sein. Denken wir doch viel lieber an das, was Richard Cobb in seiner schönen Geschichte vom Tod in Paris über die Kleidung derer zu berichten weiß, die in der Metropole 11 Deumert 2015. 12 Rossi 2006.
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lebten, bevor diese sich in eine Maschine immer rascherer Veränderungen verwandelt haben soll. Um die Zeit der Französischen Revolution (die in etwa zeitgleich zur Revolution von Haiti stattfand, was eine schöne Feststellung ist, die für das Folgende aber von geringer Wichtigkeit zu sein scheint) besaßen die einfachen Leute, deren Hinterlassenschaften Cobb in Archiven nachspürt, ähnlich eingeschränkte Möglichkeiten zur sozialen Mobilität wie es heute in den Szenarien, die etwa Blommaert für nördliche Städte andeutet, der Fall sein mag. Ihre Kleidung, die in den Listen der Archive überdauert hat, hingegen bestand aus so vielen unterschiedlichen Flicken und Fetzen, Fasern und Lappen, Knöpfen und Knebeln, wie so etwas eben sein muss, wenn man in einer Wirklichkeit lebt, welche durch Komplexität, raschen Wandel (Revolution, wie gesagt) und Mobilität gekennzeichnet ist. Diese Leute trugen die Reste der Kleidung mehrerer Generationen und vielzähliger Provenienz auf dem Leib, als sie tot waren. »Die Toten, wie auch immer sie umkamen, bieten die Gelegenheit, über die Lebenden zu sprechen«, teilt Cobb13 uns mit. Ein passendes Kostüm wäre doch so ein retrodiverser Rock, oder etwa nicht? Das ist natürlich nicht vorgesehen. Die große Alltagschronistin Gabriele Goettle berichtet aber über das, was uns hier fehlt: Den eigenen Körper dort, wo auch die Körper der Anderen sind, zu platzieren. Merkwürdig eigentlich, mit welch gefaßtem Bedauern die Stillegung und Verkümmerung von mehr als einem Fünftel unserer Bevölkerung im »arbeitsfähigen Alter« registriert, kommentiert und hingenommen wird. Die Ausgesonderten sitzen mit ihren Fähigkeiten und Kenntnissen in vollautomatischen Haushalten herum, die nichts zu bieten haben an Herausforderung oder gar Subsistenzmöglichkeit. Ohne Fachmann zu sein, darf man vermuten, daß die Abwesenheit von geselliger Zusammenarbeit, Sorgfalt, Verantwortung, Erfahrungsaustausch, Klatsch und Streit zum Absterben der sozialen Intelligenz führen muß, zu einer Verkümmerung der gesamten Persönlichkeit. Was eigentlich will man tun, wenn eines Tages diese Aus- und Abgeschiedenen aus ihren Wohnzellen treten und nicht mehr imstande sein werden, ein Gespräch zu führen, eine Situation einzuschätzen oder einen Konf likt friedlich zu lösen?14 13 Cobb 2011 [1987]: 145. 14 Goettle 2000: 172.
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Deshalb ist das Beach Resort unser Ort. Hier gehören wir hin, hier müssen wir sein. Das orangene Armbändchen legitimiert uns nicht nur, es schmückt. Zwar ist es weit davon entfernt, eine Brosche zu bilden, aber es ist schon auch ein Zeichen von Haltung: Wer dies trägt, dringt mit seinem Körper in einen Raum ein, in dem nichts der Nichtung entgeht. Denn genauso wie die exotisierten Umgebungen, in denen Marginalität und Kritikalität daheim gegeneinander ausgespielt werden, ist auch dies hier eine Umgebung, die uns vertraut und vorhersehbar zu sein scheint. Wir wissen ja im Grunde, wie das hier geht, Touristen waren wir alle schon einmal irgendwo. Die Regeln sind bekannt, gerade hat man uns nochmals daran erinnert; bis zehn Frühstück. Nun sind wir Gäste, auf der Suche nach ein wenig Romantik, Ruhe und Glück. Der Dieselgenerator brummt. Jetzt sitzen wir hier, am Nichtort. Gott genichtet, Liebe genichtet, Sprache auch. Das Reden nicht: Was will man hier auch anderes tun. (Ernste Frage? Im Wifi rumsurfen natürlich.) Es gibt Frühstück von sieben bis zehn, Imbiss am Strandlokal, Dinner gleich daneben, Getränke nur mit Bändchen am Handgelenk und sonnenbeschienenen Sand. Dort die durchgelegenen Strandbetten, alte Surf bretter, Schnorchelverleih, eine Palme mit angeschraubten Partyleuchten. Jeder Morgen beginnt mit dem Dieselgenerator und stillen Arbeitsschritten in der Wäscherei, die gleich neben unseren Zimmern liegt. Jeder Morgen beginnt mit vier Hunden, die von der Besitzerin unseres Nichtortes am Strand ausgeführt werden, bevor es zu heiß wird. Es folgt das Frühstück (bis zehn) und dann haben wir Zeit, bis jeden Abend ein Sonnenuntergang erfolgt. Wir sitzen dann am Strand, schauen und reden. Diese ganze Performanz von etwas, das nicht mehr gesagt werden kann, weil der Andere ebenfalls genichtet ist und die Liebe auch und wir auch nicht lieben müssen, um lüften zu können: Das ist doch eigentlich sehr interessant. Zeit für ein Gespräch unter Experten. **** An einem Strand habe ich einmal ein Gebiss gefunden. Ach! Jaja, das war in Südafrika, ich war mit einer Kollegin da; wir reden, laufen den Strand lang, diskutieren, und da liegt dieses Gebiss. Wir haben überlegt, ob es jemand verloren hat auf einer Kreuzfahrt, Seekrankheit und schwupp.
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Hm. Oder ob es einer Wasserleiche aus dem Mund gefallen ist. Was haben Sie damit gemacht? Erstmal den Sand abgewischt und dann anprobiert (zu klein) und dann eingesteckt. Zuhause habe ich es aus der Hosentasche genommen und mir überlegt, was das jetzt ist: Sind Gebisse Daten, Funde, Reste? Das ist ja wichtig, denn – überlegen Sie mal, daran erinnern Sie sich gewiß auch – wir haben ja doch früher im Studium Feldforschungskurse gehabt, und da haben wir gelernt, dass es Informanten gibt. Leute die wir befragen, Wortlisten, Grammatik, Geschichten. Wenn das alte Leute sind, wissen die viel, hieß es, und das ist gut. Aber alte Menschen haben oft auch weniger Zähne als junge, und das sei zu bedenken. Wenn man nicht weiß, ob eine bis dahin unentdeckte Sprache Interdentale hat und Alveolare oder nicht, erhält man kein vollständiges Bild vom Phoneminventar. Und auf Vollständigkeit kommt es an. Wie sah das Gebiss aus? Ich habe ein Bild im Handy, hier:
Handybild: Gebiss aus East London, Eastern Cape.
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Ach nur ein Zahn. Acheieiei. Das war ein ganz ein armer Sünder. Jetzt klingen Sie doch nicht so. Es ist sicher nur Kunststoff und wahrscheinlich längst durch eine permanente Lösung ersetzt worden. Aber was mir wichtig erscheint, ist doch, dass so ein Gebissfund ganz andere Assoziationen im Unbewussten wachruft als ein Muschelfund beispielsweise. Ich denke da an den Informanten, dessen Zähne so betrachtet werden wie die eines Versklavten im Abolitionsroman ... Oder der Wirklichkeit! Naja, klar, und das zeigt, dass wir unmittelbar und auch mittelbar mit der Kolonialzeit verknüpfte Konzepte und Praktiken pf legen, die uns dann beim Strandspaziergang bewusst werden können. Na, und, was haben Sie getan? Haben Sie das Gebiss als Datum oder als Fund behandelt? Schwer zu sagen. In meine Ordner passt es ja nicht. Ich habe es zum Gebiss meines Großvaters dazugelegt, welches ich ja auch noch habe. Es lag auf seinem Nachttisch, als er starb, so verletzlich ohne seinen Mund, und da habe ich es an mich genommen. Genau wie das Hörgerät meiner Großmutter nach deren Tod. Jetzt habe ich alles da, was man wirklich an Körper braucht für die Sprachwissenschaft: Artikulationswerkzeuge (mit dem bei mir noch fest eingewachsenen Gebiss habe ich fünf davon!) und Gehöre. Sie sammeln lieber als ich, fürchte ich. Oh ich sammle, sammle, sammle. Ein wichtiger Grund, mich damals für das Linguistikstudium zu entscheiden. Ich sammle auch Dinge, die zur Sprache gehören, wenn ihr kein Körper mehr zur Verfügung steht. Schrift! Alte Inschriften in Kopien aus dem Museumsshop. Schönes Fugen-S. Oder heißt es namengrammatisch richtig nicht doch Museumshop? Ob sich Drittmittelgeber für so was interessieren, vielleicht in einem Schwerpunktprogramm? Weiß nicht. Aber ja, und ich hab sogar einen Plattskarabäus aus Ägypten, ganz billig, mit richtig ausgedachten Hieroglyphen auf der Unterseite. Kein Fugen-S diesmal, eindeutig. In Plattskarabäus. Ja, da ist keins. Ich hab dann begonnen, überhaupt Objekte mit Sprache darauf zu sammeln. Tassen, Taschen, T-Shirts. Vorhin auch schon, da hinten in den Souvenirbuden am Strand. Zeigen Sie mal.
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Also, die Oum Kalthoumsammeltassen kennen Sie? Tassen für Mokka, auf jeder der Titel eines anderen Liedes. Vollständigkeit würde hier zum Verhängnis, sie hat über zweihundert Lieder gesungen. Zweihundert Mokkatassen! Und jede stinkt bei Gebrauch, weil die Goldfarbe, mit der sie bemalt sind, bei Erwärmung schmilzt. Dann zwei Kaffeebecher aus Zanzibar, einmal mit Hakuna Matata, einmal mit Sprachkurs. Hübsch und praktisch. Dann überhaupt sehr viel mit Hakuna Matata. Sehen Sie mal hier: Kalender und Wetterstation. Ohne Probleme durch Jahr und Tag!
Handybild: Kalender aus Stone Town und Wetterstation aus Nungwi. Das gefällt mir ganz besonders gut. Diese komplette Nichtung, die hier materialisiert wird! Der Anthropologe Asif Agha, ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen ... Na klar, Enregisterment, Embleme und so. Äh, ja. Also, er schreibt ja davon, dass Sprache registriert werden muß, um differenter Teil eines Repertoires werden zu können. Er nennt das Enregisterment [sag ich doch], und meint damit Prozesse und Praktiken, die performierte Zeichen erkennbar sein lassen, als etwas, das zu eigenen semiotischen Registern gemacht wird. Solche Register drücken soziale
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Werte aus, wer man ist oder so. Aber was wird denn hier registriert? Das ist doch ein unglaublicher Quatsch: es gibt keinen 44. April, der Kilimandscharo liegt nicht auf Zanzibar, und was überhaupt ist das Land of Hakuna Matata? Und warum planschen Delfine über etwas, das aussieht wie eigentlich ganz leckere Brombeeren? Jetzt, im März? Und immer gibt es Maasai ... Ja, als Phantasie sexuell begehrenswerter Begegnungen. Aber was wird hier registriert? Hakunamatataswahili. Drei Wörter, vier vielleicht, die genügen, um als zahlender Gast hier irgendwelche Sexabenteuer zu erleben. Und schauen Sie mal hier: ganz charakteristisch, das kommt noch aus Kenia:
Handybild: Sprachkursdeko aus Diani. Diese Sprachkurse gibt es wirklich überall. Und sie benötigen auch wieder die Maasaiikonographie, und in der Regel findet sich auch das Wort für ›Bier‹. Das ist mir sehr aufgefallen. Meine Kollegin in Köln hat vorgeschlagen, einmal zu fragen, welche dieser sprachtragenden Objekte zuhause noch genutzt würden: Die Motto-T-Shirts vom Ballermann oder aus Mombasa, wer trägt die zuhause noch? Niemand nämlich! Und diese Sachen hier, der Kalender
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oder die Kühlschrankmagneten, die habe ich noch nie bei irgendjemandem zuhause gesehen. Sie etwa? Nein, gar nicht. Solche Tassen auch nicht, nicht mal in der Teeküche an der Uni. Eben! Das wird nicht für zuhause gekauf t, sondern für dort. Man findet das im Laden, ist entzückt über so viel Dekontextualisierung (die macht es witzig, Sie wissen schon), und dann kauf t man das. Die Sprache auf der Tasse, die ist im Dort wichtig, nicht daheim. Damit feiert man sein Dasein, sein Geerdetsein, das Coole oder einfach nur den tollen Sex nach der Vollmondparty. Und das ist doch eine ganz spannende Form von Objektifizierung, Verdinglichung des Worts zur Herstellung von Andersartigkeit, Exotik und Überlegenheit. Swahili hat drei Wörter, ›Bier‹ kann ich auch schon sagen, und das alles bedeutet mir nichts! Lüften, luften, lieben, alles gleichzeitig. Haben sie noch mehr? Das sind Sachen, die viel von Verf lechtungsgeschichte erzählen. Das ist ja schon relevant. Obwohl ich langsam Augenkrebs kriege. Schön ist das nämlich nicht, das Zeug. Nana, Schönheit liegt im Auge der Betrachterin, gell. Und ich nehme das alles ins Büro mit und stelle das da hin, wenn wir heimfahren. Ich ehre nämlich meine Verf lechtungsobjekte noch, anders als andere Leute. Und das hier, das kann ich sogar benutzen: Ein Portemonnaie, mit dem ich grüßen kann und das auch noch in der Farbe des Propheten. Geld, Verdinglichung des Menschlichen und Göttlichen und Nichtung des Anderen bei gleichzeitigem Politenessversuch. Das ist doch unheimlich komplex und gut! Ich habe sie quieken hören, als Sie es im Laden entdeckt haben. Es ist auch wirklich enorm. Und gottseidank übersichtlich. Aber diese ganzen TShirts mit diesen furchtbaren Motti, die Sie schon in Kairo zu kaufen begonnen haben. Davon müssen Sie Hunderte haben. Um genau zu sein, mit denen von vorhin aus Nungwi sind es dreiundsiebzig bisher. Immerhin! Haben Sie denn überlegt, was damit gemacht wird? Wenn andere damit forschen wollen? Das sind ja doch schon Daten ... Verf lechtungsdaten. Ich trage sie auf dem Leib. Trage den Anderen auf dem Leib! Bin der Andere, genauer, dessen Essenz, oder noch genauer, das der die Genichtete Andere. Ich trage die Nichtung meiner Menschlichkeit an mir!
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Handybild: Grüße, Grün, Geldbeutel Das ist schon Camp jetzt. Camp? Das ist mehr. Das ist High Camp. Nein: Deep Camp! Deep Camp ist das schon. Können Sie da ein Fugen-S unterbringen? Diepskemp. Sehr schön. Da machen wir mal eine Klausurtagung, das ist sicher ein Ort irgendwo in Niedersachsen. Aber jetzt mal Hand aufs Herz: haben Sie sich denn nicht überlegt, Ihre sprachtragenden Objekte mal in einem digitalen Repositorium abzulegen. Haben Sie einen Data Management Plan dafür? Na klar, und den habe ich auch schon umgesetzt. Ach. Ja, hier, ist im Handy:
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Handyfoto: Ddmpf (Deep data management plan fulfilled) Was da nun gut geordnet liegt und hängt und ein Archiv bildet – sind Sie sicher, oder ist das doch ein Shirtkorpus? –, ist, das denke ich jetzt, ein Abdruck historischer Erfahrungen und gegenwärtiger Beziehungen, denen sich nun weitere Belege zugesellen lassen dürften. Können Sie mir folgen? Ja? Gut. Deshalb finde ich es angezeigt, dass Ihre ›Sammlung‹ – ich setze das jetzt mal bewusst in diese schicken Gänsefüßchen – mit Metadaten ausgestattet wird. Nicht nur, wo das her ist, was es gekostet hat, wann Sie es erworben haben, sondern auch mit wem (mir halt). Und dann, das halte ich für eminent wichtig, welche Reaktionen diese Daten in öffentlichen Zurschaustellungen und veröffentlichten Artikeln erhielten. Das ist doch das Meta hier, die Ref lexion in der Disziplin, die Reden nichtet und sich den Anderen am liebsten noch selbst auf die Tagungstasche und das Projekt-TShirt druckt. Sie haben wahrscheinlich Recht, aber dieses Meta ergibt einen knappen Text, das kann ich Ihnen sagen. Wenn Sie nach der Disziplin fragen: Die Reaktion ist so eine Art Gelächter. Aber keines, das mich zum Einstimmen einlädt, sondern ein abwehrendes. Apotropäisches Lachen. Man möchte doch
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das Neokoloniale nicht auch noch repräsentiert haben. Pascal Wilke nennt dieses Lachen ja deshalb auch das unversicherte lachen. Ich denke, Sie kommen um ein digitales Repositorium nicht herum. Nein! Gehen Sie doch ins Museum und sehen Sie burmesischen Elefanten beim Bildermalen zu, am besten Jugendstil. In meiner Sammlung ist es doch nicht nur das Visuelle, das zählt. Da gibt es eine Hakunamatatahotelglocke in Prophetengrün, die ist wirklich laut. Und wenn sie erklingt, kommt zuverlässig eine Kollegin herbeigeeilt. Dann gibt es Gerüche; ich habe da ein violettes Textil aus Mallorca, das richtig fies stinkt. Wie wollen Sie das denn digitalisieren?! Als chemische Formel in den Metadaten? Nein, nicht mit mir. Ich begrüße Sie gern bei mir im Büro, helfe Ihnen ins Motto-T-Shirt rein und wieder raus, zeige Ihnen alles und erkläre die Hintergründe. Je nach Tagesform anders, ohne Angst vor Kritik und Nähe. Ich bin völlig distanzlos, was das angeht. Ja, dann verstehe ich Sie. Da wird holistisch archiviert, Tuch Gestank Zahn. Der ganze Mensch, nur, dass er schweigt. Alles sensuell. Ich habe auch alte Kassetten aus meinen früheren Forschungsreisen. Ich habe Erzählungen und Geisterpräsenzen auf Kassette und kann die spielen, wenn ich will. Das kann dann ein ganz anderer Datenmoment sein, so eine Hinwendung zum Unsichtbaren. Dabei kann man immer noch am violetten Gewand riechen, wenn man mag. Brrrr. Aber die Geister sind natürlich interessant. Die sammeln sich im Körper an, nicht wahr, und bleiben dennoch fremd. Werden kein Teil von uns, wie auch dritte Zähne ein Fremdkörper bleiben. Sie wissen schon, dass Sie jetzt etwas ganz Wichtiges ansprechen. Gerade hier, am f lachen Meer zwischen Zanzibar und der Insel Tumbatu da drüben gibt es mehr Geister als irgendwo sonst. Sie sind überall. Sie waren viel am Strand zu sehen, einst, aber jetzt, hat mir jemand erzählt, sind sie hier etwas seltener geworden. Die Weißen hätten sie in Flaschen gesperrt und somit gebannt, regelrecht dezimiert sogar. Im Wasser und auf Tumbatu sind sie aber immer noch so richtig präsent. Und sie sitzen in den Booten, fahren Dhau, machen Unsinn. Man kann kentern, wenn man nicht aufpasst. Hier lese ich es gerade: der Popobawa. Das kennen Sie? Ach, schön, dass Sie es gleich gefunden haben. Machen Sie mal ein Bildergoogel: das ist ein Unhold mit riesigem Phallus und dafür nur einem Auge. Jaja, man sieht nur mit dem Herzen gut!
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Immer schon nicht gemocht. Reizend und uninteressant. Also hier: der Popobawa. Hui. Naja. Also, der Popobawa ist ein f ledermausartiger Geist, der nachts kommt, und wer alleine auf dem Dach oder Balkon schläft, wegen der Hitze steht hier, wird anal vergewaltigt. Männer vor allem. Wie ist das mit Homosexualität? Kompliziert ist das. Es gibt Geistbesessenheitsrituale – Zar – überall im ostafrikanischen Raum, im Indischen Ozean und am Persischen Golf. Da geht es um Heilung, aber auch um Erinnerung und Ermächtigung. Eine Kollegin forscht dazu und kennt sich wirklich gut aus. Sie hat viel über diese rituellen Praktiken und die Inszenierung homoerotischer Handlungen erfahren, hier in Zanzibar; und ich damals über Homosexualität im Kontext von Besuchen im Hammam. Aber es ist offenbar nicht ganz so einfach. Haben Sie eigentlich schon einmal Ihre linguistischen Kollegen gefragt, ob sie gern ins Hammam gehen? Ja, hab ich. Bringt aber nichts. [Gehüstel] Bei Kjersti Larsen kann man lesen, dass Zar von Beziehungen zwischen Geistern (und damit anderen Orten, anderen Akteuren und so) und Menschen handelt. Es geht um Beziehungen. Und Katrina Daly Thompson beschreibt den Popobawa als ein Diskursinstrument, das hilft, sich zu schwierigen Themen zu äußern: Geschlechtskonstruktion, Homosexualität, freie weibliche Sexualität ... Michael Walsh sagt das auch – wenn jemand in einer Interaktion deutlich machen möchte, dass er an einer homoerotischen Begegnung interessiert ist, gerne penetriert werden möchte zum Beispiel, dann kann dieser jemand davon berichten, dass er vom Popobawa besucht wurde. Ein verborgener, metaphorischer Ausdruck für sozial sanktionierte Sehnsüchte. Aber nicht sehr geheim, oder? Ich frage mich gerade, wie wir das in der Linguistik machen, wir mit unseren Körpern, wie wir miteinander sprechen. Das ist doch alles geheim, oder? Nein, ein sehr öffentliches Geheimnis. Es gibt sogar populäre ostafrikanische Nollywood Remakes, die in diesem Sinne vom Popobawa erzählen. Das findet sich bei Claudia Böhme, beispielsweise. Geister sind also etwas sehr Relationales, sie sind körperlich und sie sind medialisiert. Dennoch schwer in einer Sammlung unterzubringen. Das ist f lüchtige Substanz. Es gibt ja auch noch einen anderen Geisterdiskurs, derzeit: Geister, die keine Ruhe geben, die an beunruhigende Geschichten erinnern, an vergessene, verdrängte Ereignisse und Schicksale. Das kommt alles wieder
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hoch, die koloniale Gewalt beispielsweise. Und wenn diese Geister erscheinen, gehen alle Sicherheiten verloren, alles wird zweifelhaft und unklar. Das ist gerade in der Ausstellung im Hamburger Bahnhof wieder dran gewesen ... Geister aus der Vergangenheit, die uns einholen; unser kollektives Unbewusstes. Psychoanalyse könnte schön sein als Sujet in der Linguistik. Da habe ich in Berlin doch neulich etwas von Deumert gesehen, lassen Sie mich mal nachdenken ... Ja, das kenne ich; sehr spannend! Aber wissen Sie was: Was, wenn diese Geister eigentlich wir sind? Dann geistern wir! Dann begeistern wir! Nein, glaube ich nicht. Wir sind viel zu gebildet und kritikalistisch, um so etwas zu tun. Denken Sie an Lovecrafts Outsider. Ich glaube, dass wir dann einfach nur über uns selbst schreiben, über uns selbst als die Geister, die wir von uns abspalten. Wir denken, wir schreiben über etwas Anderes, aber wir täuschen uns. Das Sujet sind wir selbst. Die Alternative dazu wäre eine Selbstaustreibung. Ganz schwer! Vielleicht schreiben wir die ganze Zeit über uns. Ich hatte schon mal die Idee, die Forschungsprojekte unserer Kollegen mit ihrer Biographie in Verbindung zu bringen. Mache ich auch manchmal so für mich. Traut man sich natürlich nicht zu fragen. Aber warum forscht denn nun jemand über den Konnektor oder über die Höf lichkeit, oder über die selbstgeschneiderte Identität. **** Orte sind mobil, aus der Perspektive derjenigen, die Zar praktizieren, und aus der Sicht der Geister. Moment mal, das kann ja gar nicht sein. Der Geograph Tim Cresswell sagt, dass Orte immer eine Lokalisierung haben, das muss schon so funktionieren wie bei Google Maps. Was sollen denn das sein, mobile Orte? Sie sind Teil von Beziehungen, als Stätten der Begegnung mit dem Einer von uns war neulich beim Inder. Da schlappt Anderen, und deshalb tragen wir sie ihm doch der ganze Teller mit der Gelbwurzsoße in uns. Orte sind daher auch vielüber das weiße Hemd. Und er hatte gleich Vorlesung. schichtig, regelrechte Palimpseste, Da hat er sich schnell ein Poloshirt gekauft, das hat in die immer wieder neue Begerade mal sieben Minuten gedauert und dann war deutungen eingeschrieben werden. er ganz sportlich in der Vorlesung.
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Und so ist der Nichtort eben nicht nur voll mit genichteter Hakunamatatasprache, sondern auch erfüllt von der Heteroglossie der Geister, von lustvollem Stöhnen und stummem Verzweifeln gleichermaßen. Die genichtete Sprache liegt gut gepf legt im Archiv. Die Stimmen der Geister und all das körperliche Körperlose finden sich bestenfalls in einem weggestellten Karton irgendwo ganz hinten im Regal. Wenn Tim Cresswell Orte tatsächlich als bedeutungsvolle Verschränkungen von Lokalität, lokaler Materialität und ortsgebundenen Repräsentationen versteht,15 dann sollten wir fragen, ob es nicht auch Orte gibt, die multilokal und maximal vervielfältigt sind. Am Ende sind dann die Sansibar und das Beach Resort im Norden Zanzibars in gewisser Weise ein und derselbe Ort. Ein Ort, der hier und dort ist. Und den wir ja auch mitnehmen. Der mobile Ort, ob das nicht mal ein Widerspruch in sich ist. Aristoteles! Klar, da geht es sicher auch um die Geister der Vergangenheit, um koloniale Spuren, aber eben auch um das, was banale Globalisierung ist: Der Nichtort als Stätte lokaler Deutungsleere. Sogar das Materielle, die Holzbänke im Sand beispielsweise, unterscheiden sich nur unwesentlich, die lokalen Materialitäten sind austauschbar, der Sound kann hier und dort gedacht werden, und die Repräsentationen schließlich gibt es hier wie dort nur in Form von Befinden. Und das ist krass. Austauschbare Lokalität, Allerweltsmaterialität und immer die gleiche eigene virtuelle Repräsentationswelt im Smartphone. Das macht ja gerade den Körperort aus, dass er multilokal ist, austauschbar in seiner Materialität, und vollständig gefüllt wird von jedem, der sich darin befindet. Das italienische Pärchen erlebt seinen Beach, die ukrainische Touristin ihre Maasairomanze, die deutsche Familie ihre Spice Tour. Welchem Skript aber folgt das Verhalten all derer, die sich hier verorten? Ein Verhalten, das ja immer an ein Gegenüber gerichtet ist, weil es performative Wirkungen entfaltet. Der neokoloniale Ort des Tourismus ist vielleicht nicht einfach nur ein Nichtort, ein Ort, der keine besondere Identität und keine besondere Relation schaf f t, der durch Einsamkeit und Ähnlichkeit gekennzeichnet ist, wie Marc Augé ausführt, sondern vielleicht außerdem ein iterativer Raum der beliebigen Verkörperungen, ein Raum ständiger Wiederholungen von individuellen und damit absolut f lüchtigen Performanzen. 15 Cresswell 2009: 169.
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Am Ende des Freiwilligenjahrs in Ostafrikahätten alle irgendjemand kennengelernt; das gehöre dazu. Wie aber gehört das dazu? Ist das so wie eine Applikation: Angeberei, oder ist das Immersion, ein Sich-Einlassen. منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ نم نم منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ مناد هچ نم ﻣﻦ ﭼﮫ داﻧﻢ
Die Frau im Bikini, auf dem Tuch am Strand, und der Mann mit dem Tuch um seinen Körper, neben ihr: was verbindet sie. Werden sie einander schnell vergessen. Was besprechen sie da, auf ihrem Platz vor dem dichter werdenden Gürtel aus Seetang bei Ebbe. منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ نم نم منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ نم منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ
Andere sind zu dritt beieinander, den ganzen Nachmittag schon. Welche Nähe umgibt sie hier. Werden sie einander schreiben, einander anrufen, nach dem Ende der Reise dieses Paares. Haben sie sich wiedergetroffen, mag der eine den anderen jetzt noch. Sind sie da zu dritt weil sie sich egal sind und sich dennoch gefunden haben. منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ نم منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ نم نم منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ
Der da hinten, der Andenken verkauft, der hat mit afrikanischen Stoffen bespannte Fächer, auf denen Hakuna Matata steht. Ein Fächer aber ist aus einem Stück Shuka gemacht, rot-schwarz kariertem Stoff, den die Männer tragen, die da am Strand sind. Auf diesem Fächer steht Nampenda mume – ich liebe diesen Mann. Wer hat das geschrieben. Wer hat diese Unausweichlichkeit von Farbe und Sprache an diesem Ort kommentiert. منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ نم منادﭼﮫهچداﻧﻢ ﻣﻦ نم نم هچ مناد ﻣﻦ ﭼﮫ داﻧﻢ
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Das Beach Resort vollzieht kein kommunikatives Spiel des Kuratierens, birgt keine beständige Erzählung der immer gleichen Erinnerung. An diesem Strand gibt es das nicht. Hier gibt es Orte, Orte, Orte. Wir sind an einem Ort der Orte. Jeder macht sich seinen eigenen. Und muss dies auch tun, weil es gar keine andere Möglichkeit gibt. Es ist der leere Raum, der mit dem eignen Körper gefüllt wird. Das kennzeichnet den Körperort. Im neokolonialen Epistem ist der Raum erfüllt von rekursiven Orten, in denen immer weitere Körper und an diese wiederum gebundene Orte liegen, Orte so viele, wie es Körper darin gibt. Und viele davon längst und vor allem in einer erweiterten Realität oder ersetzten Wirklichkeit des Smartphones.
Smartphones, Musikdarbietung, Abendidyll. Nungwi 2018 Wenn wir mit Ann Laura Stoler nun nach dem Zwang in diesen beziehungslosen kommunikativen Routinen fragen, dann wird Kolonialismus zum unübersehbaren modus operandi. Nicht nur in den Hautfarben von Bedienenden und Bedienten, sondern viel undurchsichtiger und mittelbarer in der gesamten Verkörperung der ortenden Subjekte.
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Die neugestaltete, smarte Welt von Körperorten, von rekursiven Orten, ist ein gänzlich gegenwärtiger Raum, der mit Tropenhelm, Safaris und Ruinen vordergründig rein gar nichts zu tun hat. Das macht seine Nutzung auch viel leichter und unbeschwerlicher als die Tropensafari in der Serengeti. In Kilimandscharo steigen ja vor allem die Alten aus dem Flugzeug aus, die, die noch ein Abenteuer aus Kinderbüchern suchen. Sie f liegen nicht weiter nach Zanzibar zum Traumstrand, sie wollen in den Usambarabergen wandern und in Lodges das ursprünglich vorgestellte Afrika erleben. The big five sehen. Im Beach Resort aber zeigt die koloniale Abwesenheit ihre eigentliche Gegenwart. Der DJ-Loop big hair is confusing erzählt in seinem gerippten und bedeutungsfreien Elektrosound und Loungef low – der so auch in Barcelona, Kapstadt, Shanghai oder Berlin mit individuellem Erleben erfüllt werden kann – von der großen Auf lösung der Kolonialgeschichte in andauernde reworkings16, Umarbeitungen, Überarbeitungen, Aufarbeitung der Ungleichheit und Nichtung. Neulich hat einer von uns [Am Strand, man liest:] Haben Sie viele Freunde? übrigens gelesen, in so einer Zeit- – Nein. Geht. Sie. – Nein, nein, gar nicht, bin gern schrift über schöne Häuser und allein. Aber die in dem Buch hier, die hat viele. Wohnungen, dass coole junge Viele. Freundinnen. Die haben Schönheitssalons Designer der Meinung sind, dass und Makleragenturen. Das sind alles Freundinnen, man eh nichts mehr designen kann, auf der ganzen Welt. Die kennt alle und immer, dass alles nur noch Redesign ist. Dem wenn sie Hilfe braucht ... – Facebook vielleicht. kam das so vor, als habe das etwas mit – Da bin ich nicht, Sie auch nicht. – Das ist doch diesem iterativen Selbstlooping zu alles Unsinn. – Unser Gespräch hier? – Was weiß tun. Man performe sich immer über- denn ich, was weiß denn ich, was weiß denn all nur noch selbst und redesigne sich ich. [Eine Seite im Buch wird umgeschlagen, einfach. Kann man überall machen. Rascheln.] Es findet dabei wenig bis keine Kommunikation statt. Wofür auch. Für Linguisten scheint hier wenig los zu sein. Das ist unübersehbar. Junge Nordtouristenmänner mit Sonnenbrand sitzen schweigend in der Strandbar und lösen Kreuzworträtsel. Ein Ehepaar, dessen Kinder irgendetwas machen, sitzt wie entfremdet von jeglicher Zugehörigkeit vor sich hin, schweigt in den Sound hinein, schließlich zücken auch sie das Phone. Andere essen und verstummen. Selbst abends, wenn der Folkloreteil beginnt, wenn ein verkleideter Mann singt und spielt, schauen 16 Siehe Stoler 2016: 5.
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die Menschen auf ihre Smartphones und bleiben an ihrem Körperort. Die touristische Kommodifizierung afrikanischer Musik ist dagegen ja geradezu ein Inbegriff der Positionierung und Verortung im Sinn. Es gibt hier nicht einen Nichtort, sondern jeder nimmt seinen Platz ein, ist an seinem Ort, in seinem Körper und redesignt sich. Die Kulturwissenschaftlerin Hazel Andrews hat gezeigt, dass die Bereitwilligkeit, mit der die diese Orte Konsumierenden so eine Nichtung hinzunehmen in der Lage sind, die völlige Abwesenheit jeder Rebellion also, wohlkalkuliertes Ergebnis einer touristischen Architektur ist, die in der Lage ist, überall iterative Orte hervorzubringen, die nichts Anderes als konsumiert werden wollen. Das Beach Resort kann also, denken wir an den Ägyptologen Philippe Derchain, mithilfe einer grammaire du temple gelesen werden, die eine der wesentlichen Materialisierungen des performativen Registers ist, das global superdiversifiziert und kommuniziert wird. Eine Besonderheit, die aus dem kolonialen Epistem heraus weiterbesteht, ist die Praxis der hegemonialen Benennung. Nicht nur Personen werden dabei mit oft arbiträr wirkenden Namen versehen (Helmut, Gisela, Cougar, Mpenzi), wie uns auch aus Fanons berühmter Passage in Peau noire, masques blancs17 vertraut ist, sondern auch gebaute Umgebung und Orte überhaupt. Benennen kann, wer die epistemische Macht dazu hat, sagt Fanon, wenngleich es Zurücknamensgebungen auch gibt, subversive Handlungen zuvor Benannter. Im Beach Resort erinnert so gut wie nichts an das, was Ein schön gebundenes altes Buch aufgeschlagen, Axiome diese Stätte außerdem noch des Staatsrechtlers Dietrich Reinkingk. Die Seiten fielen war und ist; auch die Herkunft an dieser Stelle ganz von selbst auseinander: seiner Betreiberin und deren Klientel sind an der Architek»Eusserlicher splendor, Glücksseligkeit / Macht / Gewalt / tur nicht abzulesen, auch nicht Friede und andere zeitliche Herzlichkeiten / seind keine an Beschriftungen oder gar Kennzeichen der wahren Religion.« ausliegenden Zeitschriften oder Büchern – hier liegt nämlich nichts aus und steht auch nichts dran. Dennoch ist dieser Ort in seiner Iterativität so überreich an Namen, dass wir uns kaum zurechtfinden. Dabei funktionieren Ortsnamen toponomastisch betrachtet ja eigentlich, um Dinge klar verortbar zu machen. Hier tun sie aber das Gegenteil, was einmal mehr zeigt, dass die Linguistik dort, wo die 17 Fanon 1967 [1952]: 113.
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Körper regieren, schnell an ihre Grenzen gebracht ist. Alles, was hier ortsbezeichnet werden kann, ist ortsbezeichnet. Eine toponomastische Hölle, die uns auch zeigt, dass die Idee, Hotelzimmer zu nummerieren, gar nicht so schlecht ist. Eine Zahl passt auf einen handlichen Schlüsselanhänger und lässt sich merken: 7. Ich bin in der 7. Wie Madame Chauchat. Hier aber sind alle Appartements und Chalets und Hütten toponomastisch benannt, namensgrammatisch markiert. Sie heißen nach Afrika und Indischem Ozean, bilden die Lokalisierung für einen Raum, den die hier Logierenden vermeintlich bereisen. Wer hier wohnt, soll wissen, wo er ist. An einem Strand an einem sehr warmen Meer, in Übersee. Unsere Schlüssel schwer in der ausgebeulten Hosentasche, die leichte Sommerkleidung hängt schief und unbequem an uns herab. ›Zimbabwe‹ steht auf dem Anhänger, Holz, schwer und bedeutungsleer. Madame Chauchat in Zimbabwe und Hans Castorp in Uganda. Nach dem Weg zum Frühstück spätestens haben wir vergessen, in welchem Land wir wohnen. Dürfen wir aber nicht: könnte sonst jeder kommen für Rührei und Kaffee. Your room please. – Africa. – Which Africa. – Wait, Gambia, I think. – There is no Gambia, Madame. Selbstentfremdung und Fremdbennenung werden hier nicht nur reglementiert, sondern auch kommodifiziert. Und die Namensgrammatik müsste kapitulieren, forschte sie denn hier. Die geschnitzten Türschilder, die uns am Ende unser temporäres Zuhause erkennen lassen (also ich weiß gar nicht, wo ich gewohnt habe in Afrika dort, ich kannte irgendwie den Weg), gibt es auch zu kaufen, als Souvenir. Ach schön, ein applikatives Souvenir. Ein schwarz geöltes Brettchen, das Aufschriften trägt wie Karibu Afrika Willkommen in Afrika. Was würde eine Archäologie dieser Ortsmultiplikation zutage fördern? Wie haben die Zimmer vor der letzten Renovierung geheißen? Welche Phantasien und Repräsentationen waren schon auf den Türen zu diesen homeless homes angebracht, die im Übrigen so trostlos geistleer waren, so verkörpernd. Nichts kuratiert, alles gelöscht. Information entsteht dort, wo Informationen nicht gegeben werden. Die Lücke, das Schweigen, das ist doch ein enorm dichter Text.18 Und das Zuhören erst einmal. Sein Gegenstück mag der archäologische Aufschluss und seine Publikation sein. Ein auf schwerem Papier gedruckter Band, der Beschreibungen der zutage geförderten Scherben und Pfostenlöcher enthält, sowie einen Tafelteil, der 18 Das trifft nicht nur für Text und Rede zu, sondern auch für materielle Kultur, wie Janine Trabers Archäologie der Intimität zeigt.
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schöne Zeichnungen und unklare Photographien der Artefakte zeigt. Tafeln sind wichtig; ein stilistisches Relikt und ein Genrezitat. Die Brosche der wissenschaftlichen Publikation. Unsere Archäologie des kolonialen Wissens in der Linguistik und am iterativen Nichtort benötigt das auch. Denn wir arbeiten broschiert, mit entschiedener Haltung. Stecken die Brosche direkt an unseren Körper an.
Körper: Tafelteil
Tafel I: Arabien 27
Tafel II: Äthiopien
Tafel III: Uganda
Tafel IV: Kenia
Tafel V: Afrika 3
Tafel VI: Jemen
Tafel VII: Schiras
Tafel VIII: Indien
Tafel IX: Oman
Tafel X: Sambia
Tafel XI: Malawi
Tafel XII: Simbabwe
Tafel XIII: Mafia
Tafel XIV: Kilwa
Tafel XV: Lesotho
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Dieser vernamte Raum, der auf den Tafeln zu besichtigen und noch das schönste Andenken von diesem Platz ist, das man mitnehmen kann, der ist keine Bühne wie Hipsterland. Hier kann man nicht performen und sich eine Identität zurechtschneidern, hier loopt man seine körperbefangene, verschwitze Erholungssuche, verkörpert den Ort, hat keine Sprache. Hier findet keine Selbstperformance statt. Im Gegenteil. Man muss sich hängenlassen zwischen den afrikanischen Orten aus Holz. Körper werden ausgestellt durch einen Kurator, der Gewaltgeschichte heißt.
Identitätsprobleme? Martin hilf t! Paje 2018 Die Positionen sind vorgegeben. Der Determinismus gedeiht, es geht um den essenden, badenden, trinkenden Touristen, aber auch um den traurigen, liebebereiten Maasai, die gelangweilten Locals usw. Wer kann sich hier denn schon seine linguistischen Stile schneidern, welches lebenslange Projekt der Selbstkonstruktion soll denn gemeint sein? Man ist sein Körper. Um den neokolonialen Sprachraum beschreiben zu können, benötigten wir eine Soziolinguistik, die davon ausgeht, dass das Anderswo längst die
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Regie übernommen hat, dass das dämonisierte Andere längst der ›Daimon‹19 ist, der uns positioniert. Und dass unser Körper auf die Namensgrammatik pfeift. Ist mir doch egal, warum das hier Kilwa heißt. Hier gibt es kein Selbsttailoring, keine Handarbeit des sozialen Stils, sondern eine Massenproduktion von Rollen, Räumen und Realitäten. Ein tourismusindustrielles Redesign von Körpern. Darin macht uns auch die Linguistik zu Linguisten, der Tourismus zu Touristen, und die Gewaltgeschichte zu gewaltvollen Subjekten. Denn der Strand war schon lange da,20 bevor die auswechselbaren Exponate darin abgestellt wurden, markiert mit dem Allinclusiveband oder dem Clubshirt. Im Tourismus geht es nicht um die Wahl der Positionierungen. Der von der Soziolinguistin Penelope Eckert behandelte soziale Stil mit seinen indexikalischen Funktionen ist hier kein Repertoire, über das man verfügt, sondern eine Ideologie, die über einen verfügt. Eine machtvolle Maschine, die die Körper in sich gefangen hält und sprachlos macht. Nicht schweigend, sondern still. Die bewachte traurige Leere des Beach Resorts, die sich in ihrer eigenen Partystimmung langweilt, unterwirft die neokolonialen Subjekte. Und stanzt das Redesign der stillen Körper tief in das Konzept Urlaub ein. Da wird nichts mehr zurechtgeschnitten, schon gar nicht fein vernäht oder durch Knöpfe, gar eine Brosche zusammengehalten, da werden nur noch Versatzstücke appliziert. Jeder Platz ist vorgesehen, jedes Verhalten an jedem noch so kleinen Ort. Hier wird getrunken, dort gef lirtet, hier geschaut, dort getanzt. Im Beach Resort ist Kolonialität nicht eingesickert wie auf Sylt, sondern auf Zanzibar ist Kolonialität implodiert. Und lässt die Urlaubskörper ziemlich ruinös ausschauen. Nicht mehr kontrollierbar. Sie ruiniert die Möglichkeit der sozialen Positionierung, weil alle bereits positioniert sind. Die Ruinierung feiert hier ihre Party, die Bässe schlagen die Menschen in ihre Positionen, die Rhythmen fordern auf, locker zu lassen und dabei reiner Körper zu werden. Hier kann man noch nicht mal mehr etwas applizieren, wie auf Sylt. Man wird selbst zum Applikat. Dort oben geht es tatsächlich um Positionierung. Der Sansibarsticker ist eine free 19 Da einer von uns Germanist ist, kann ein letzter Hinweis auf Goethe hier nicht falsch sein, auf die Urworte. Orphisch, denn hier ist der ΔΑΙΜΩΝ ja eine Prägung, der man nicht entfliehen kann, also bereits das Fixierte, Positionierte, jenseits einer hippen urbanen Pluralitätsidentität, auch wenn es bei Goethe doch noch um Entwicklung geht, und nicht um Tropenurlaub (Goethe 1982 [1817]: 359). 20 Siehe Kluwick & Richter 2015, Taussig 1999 & 2018.
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choice von Leuten, die ihr Kapital nutzen, um sich ein mehr oder weniger kostspieliges Feeling zu geben. Hier im Resort aber feiert sich der Loop der kolonialen Entleerung. Und da ist schließlich rein gar nichts mehr mit sozialer Positionierung à la internationale Keynotesoziolinguistik.
Da steht ›19‹ an der Tür. Nungwi 2018 Der Djinn-Musiker, der zum abendlichen Unterhaltungsprogramm gehört und aus der Dunkelheit plötzlich hervortritt, berührt nicht mehr. Die Touristen fallen in sich über ihren Smartphones zusammen und luften die Performance. Nicht einmal händische Musik vermag das Smartphone zu relativieren. Hier findet kein selftailoring statt, hier sind die Körper in sich fixiert. Die Menschen hören nicht zu, blicken nicht auf. Der gewaltvolle Kurator der Geschichte sieht das nicht vor. Stillness. Man spricht nicht miteinander, man appt. Wifi aktiv und alle Kanäle zu. Übrigens grüßt man sich
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hier auch nicht, das Beach Resort ist ein dystopischer Ort der Beziehungslosigkeit und von Traurigkeit durchdrungen, die einzig eine Freiheit ermöglicht: Traurig zu sein. Leben wir in einer postkolonialen Zeit, die epistemische Dekolonisierung von kolonialen Relikten betreiben kann? Nein, denn der Kolonialismus ist als duress, als Zwang weiterhin unter uns und »Wir sind die Seinen / lachenden Munds«21, wie Rainer Maria Rilke 1900/1901 vom großen Tod im Buch der Bilder sagt, im Gedicht Schluszstück. Auch heute tanzt der koloniale Apparat ihren Totentanz, auf anderer Bühne als in der Vergangenheit, mit anderen Schrittfolgen. Professionell maskiert und erbarmungslos annihilierend wird ihr Schlussstück allerorten performt. Sprache als Show, Orte als Bühnen, Körper als Kostüm: durchlässige Körper, besessene Körper, böse Körper, gebroschte Körper, Männerkörper, Frauenkörper, Körperkörperkörper.
21 Rilke 1986 [1900/1901]: 233.
Austreibung Ein anderes Mal sind wir am frühen Abend, wie man es so macht, am Strand (der ja auch ein liminaler Ort ist, ein peut-être, ein Quasi par excellence), am Meer entlanggeschlendert. Unser Schlendern fand zunächst auf sandigem Untergrund statt, der unverdächtig, regelrecht feinstsandig und frei von Scherben, leicht abschüssig (von uns aus nach links gedacht – und ich hätte schwören können, nach rechts gedacht) und gegebenenfalls korallenweiß war. Pole pole, dachte einer von uns, als der andere schon wieder eine diskursive Handlung herbeiführen wollte, es dann aber doch ließ. Die Schritte vervielfältigten sich, redupliziertes Gehen, mit Mühe und ohne einen weiteren Gedanken an den jeweiligen Anderen. An einigen Stellen nun, dort, wo das Wasser bereits stieg, war der feine Sand wie nasser Lehm; unsere Schuhe hingen daran fest, blieben hinter uns zurück. Unsere Zehen spielten mit gebrochenen Muscheln, Jahre hatten sich in sie eingeschrieben. Schwarze Schatten liefen uns voraus. Eine Flasche, ein Kofferfisch; wir schritten darüber hinweg. Manchmal aber blieben wir einen Augenblick stehen, sprachen immer noch nicht, blickten in die Ferne, ohne zu wissen, warum. Vögel spielten mit den Farben ihrer Flügel. Am Wassersaum lag Seegras, das uns ein weicher Teppich wurde. Wind kam auf. Niemand sprach mit uns. Es war eine Welt, in der man sich nicht vorstellen musste. Hier war nichts zu diskutieren. Aber eine Insel in der Ferne. Tumbatu ist ein Eiland, das, würde man es von oben betrachten, geformt ist wie ein Keil. Nun, von da, wo wir sind, ist es eher ungeformt. Dazu kommt, dass man sowieso nicht einfach auf Tumbatu schauen kann, sondern immer auch Popo mit einbeziehen muß, das nämlich vor Tumbatu liegt und damit im Anblick inbegriffen ist. Was man jedoch nicht ohne weiteres sieht, ist das Riff, und alles, was unter der Wasseroberf läche liegt – bunte Fische, Seeigel, eine ganze Stadt des Anderswo. Im Süden liegen Städte, und es gibt generell einen Grund für geschicht-
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liches Interesse dort. Wir setzen uns einen Augenblick, es ist warm und man ist jetzt etwas müde. Dort soll ein f liegender Geist umherwehen, sagt der eine von uns. Ja, sagt der andere, und dieser Geist kann gefährlich werden. Haben wir nicht vorhin aus dem Auto so ein Schild gesehen, da war etwas mit Ruinen. – Das steht bei Prins am besten nachzulesen. Shirazi. Persien, Indischer Ozean, das Ganze. – Es gibt ein Gedicht darüber, das finde ich ganz gut. Da spürt man das alles, diese Southerness, den Ort, diese ganzen Verf lechtungen. – Aha. – Haji Gora. Mal sehen ob ich es zusammenbringe.1 Nyama za Baharini
Nein, Moment, anders. Nyama wa Baharini Duniani kuna nyama Jina lake ninini Nyama huyu nawambia Siwafanyii utani Itoka meli Ulaya Ya Wazungu, Wajapani Ili kwenda kupakia Wamtambue mwishoni Meli ikapiga mbio Kutembea baharini Muda wa miezi mitatu Na dakika ishirini Mwishowe wakakimbia Hawemfika kichwani Nataka mnitajie Nyama huyo nyama gani
Dann sind wir wieder aufgestanden und weitergegangen. Nach einer Weile gab es Felsen, unterspült. – Wie heißen diese Felsen? – Kliff. Korallenkliff. Das Wasser kam jetzt ganz ordentlich. Schlug gegen den Stein. Wir hielten uns noch. Dann mehr Wasser. Messerscharfe Felsen in unseren 1 Saleh 2016: 37.
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Fersen. Einer von uns rutschte. Rutschte zur Seite. Knickte ein. Hielt sich fast am Gestein fest. Der andere wollte helfen, streckte die Hand aus. Das Handy im Wasser. Verlor auch den Horizont. Unterspülungen sind das, Unterstömungen durch Unterspülungen. Noch einmal das Stehen und Widerstreben versuchen; Korallensteine am Grund. Eine siebte Welle kommt und trägt uns. Wir treiben. Madame is good, denkt der eine. Der andere erklärt: Es gibt das Wort Brandungswelle im Deutschen. Steht im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache. Überspülen ist auch ein schönes Wort. – Haben Sie sich wehgetan? – Sind Sie verletzt? – Zieht es Sie auch raus? – Wasser geschluckt. – Wie Bitte? – Wasser. Das wird jetzt aber laut hier. – Ja, natürlich, bei den Strudeln! Und vergessen Sie nicht: Das ist ein Heilstext. Die sind meistens recht laut. – Was?!? – Nun ja, Heilstexte sind laut, weil sie quasi Unheil und Not konstatieren, einen Bedarf an Wandel formulieren, dann aber übertönen müssen, dass sie diesen Wandel nicht vollbringen. Der Heilstext selbst hat keine terminierende Agentur, sondern lediglich situative Kraft und ist dazu nur von fragiler Dauer. – Ach. – Ja, eben. Er mag Wandel versprechen, ist aber eine Versprechung, die er selbst nicht einlösen kann. Wir sehnen uns nach einer Heilung, von der wir ahnen, dass sie vielleicht nicht eintreten wird. Die mögliche Vergeblichkeit des Heilungswunsches macht diese Sehnsüchte gerade besonders stark. – Ich kann Sie kaum mehr hören. Hallo? Ja, hallo. Was, wenn wir einfach nur so lostreiben, also ich, weil ein Wir, das ist da nicht mehr. Oder wo sind Sie? Kommt da wirklich ein Wir auf uns zu? Ich sehe etwas. Ein irgendwie Anderes, etwas, was anders ist als das, wovon ich damals gelesen habe. Sie auch? Das mit den verschiedenen Varietäten. Das Fach, dem ich mich verschrieben habe, irgendwie heilend verstehen, in seinem Versprechen, das Sprechen zu verstehen. Auszutreiben in eine Welt der Widersprüche. Den Tod verstehen als den größten Widerspruch. Ende und Dauer. Aber hier geht es nicht um Tod, hier geht es ums Austreiben. Wohin ist gleich. Eine Heilung, die ziellos ist. Keine Fahrkarte, kein Ziel, nur Bewegung. Eine Brosche löst sich von der grünen Bluse und sinkt hinab in das Türkisfarbene. Sie trudelt etwas, rund kreiselt sie, das Sonnenlicht lässt ihre goldene Fassung auf leuchten, bevor sie verschwindet. Die Strömung ist jetzt sehr stark. Gegenhalten bringt nicht mehr viel, das offene Meer liegt vor uns. Ausgetrieben.
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Die Zanzibartasche heißt auch mfuko und besteht aus Kokospalme. Fast alle nützlichen Dinge des Alltags könnten aus Kokospalme bestehen, davon kündet Ahmed Sheikh Nabhanys Gedicht Umbuji wa Mnazi. Weil sie dort hergestellt wird, wo sie in Gebrauch ist, also lokal, ist die mfuko recht unverziert. Es gibt zwar Modelle, die sowohl aus naturfarbenen als auch eingefärbten Kokospalmblattstreifen gefertigt sind und dann sehr hübsche lila-beige oder grün-lila-beige Muster aufweisen, am meisten jedoch findet sich Schlichtheit. Applikationen braucht die Zanzibartasche keine. Sie ist ein Objekt der Großzügigkeit, aus welcher sich Würde ganz von allein ergibt. Einer von uns hatte einmal einen Swahili-Lehrer von großem Wissen und großen pädagogischen Fähigkeiten. Seine Bücher und sonstigen Lehrmaterialien waren stets in einer mfuko verstaut, die am Lenkrad seines schwarzen Fahrrades baumelte. Infolge dieser Erfahrung trug der eine von uns, der Swahili lernte, einige Semester lang seine eigenen Bücher und Unterlagen in einer mfuko durch die Uni. Man kann auch andere Dinge darin transportieren, Obst vom Straßenstand, frische Klamotten, Eier, Brille, eine Sammlung, oder auch erstmal nichts. Die mfuko ist ein Gegenstand, der vielem Raum bietet und der dort, wo er abgestellt wird, von vielem kündet, zum Beispiel von der Kraft der mit diesem Gegenstand verknüpften, in ihn eingef lochtenen Geschichten.
Kulturwissenschaft Gabriele Dietze
Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6
Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., 39 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., 30 SW-Abbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2
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Kulturwissenschaft Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers
Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben 2019, 214 S., kart., Dispersionsbindung, 12 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4717-4 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4717-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4717-4
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POP Kultur & Kritik (Jg. 8, 2/2019) 2019, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4457-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4457-3
Zuzanna Dziuban, Kirsten Mahlke, Gudrun Rath (Hg.)
Forensik Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2019 2019, 128 S., kart., 20 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-4462-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4462-7
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