Sakralität und Sakralisierung: Perspektiven des Heiligen 3515106243, 9783515106245

Das Heilige ist allgegenwärtig. Es zeigt sich in konkreten Formen wie etwa heiligen Schriften, Sakralbauten oder auch Pe

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German Pages 210 [214] Year 2013

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT DER HERAUSGEBER
SAKRALITÄT: EINLEITENDE BEMERKUNGEN
HERRSCHERSAKRALITÄT
MARTERTODT IN HELVETISCHEN LANDEN – DIE HEILIGEN FELIX UND REGULA IM MITTELALTERLICHEN UND FRÜHNEUZEITLICHEN ZÜRICH
SAKRALITÄT IM PROTESTANTISMUS, ODER: WO STECKT DAS HEILIGE NACH DER REFORMATION?
MARKIERUNGEN DES HEILIGEN?
SAKRALITÄT UND SAKRALISIERUNG. WIE KANN ZEIT GEHEILIGT WERDEN?
ÄGYPTEN ALS TEMPEL DER WELT UND HORT DES ABERGLAUBENS
KONZEPTE VON HEILIGKEIT DURCH ERFAHRUNG DES ABSOLUTEN IM ADVAITA-VEDĀNTA DER PAÑCADAŚĪ
HEILIGKEITSKONZEPTIONEN IM SPÄTKAISERZEITLICHEN CHINA
EXKURSIONEN ZU DEN URSPRÜNGEN DES HEILIGEN
FARBTAFELN
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Sakralität und Sakralisierung: Perspektiven des Heiligen
 3515106243, 9783515106245

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Andrea Beck / Andreas Berndt (Hg.)

Sakralität und Sakralisierung Perspektiven des Heiligen

Geschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Hagiographie 13

Andrea Beck / Andreas Berndt (Hg.) Sakralität und Sakralisierung

Beiträge zur Hagiographie -----------------------------------------herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein Band 13

Andrea Beck / Andreas Berndt (Hg.)

Sakralität und Sakralisierung Perspektiven des Heiligen

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Universitätsverbund Erlangen-Nürnberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10624-5 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort der Herausgeber....................................................................................

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Klaus Herbers Einleitende Bemerkungen................................................................................... 11 Franz-Reiner Erkens Herrschersakralität – Ein Essai ........................................................................... 15 Andrea Beck und Michele C. Ferrari Martertodt in Helvetischen Landen – Die Heiligen Felix und Regula im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zürich................................................... 33 Carola Jäggi Sakralität im Protestantismus, oder: Wo steckt das Heilige nach der Reformation? ...................................................................................................... 53 Sebastian Watta Markierungen des Heiligen? Zum Kommunikationspotenzial frühbyzantinischer Bodenmosaiken für die „Schaffung“ heiliger Räume.......... 71 Klaus Herbers und Christian Saßenscheidt Sakralität und Sakralisierung. Wie kann Zeit geheiligt werden? Die Sakralisierung von Zeit in lateinischen und arabischen Kalenderwerken .......... 89 Florian Ebeling Ägypten als Tempel der Welt und Hort des Aberglaubens ................................ 105 Matthias Ahlborn Konzepte von Heiligkeit durch Erfahrung des Absoluten im Advaita-Vedānta der Pañcadaśī ...................................................................................................... 121 Andreas Berndt Heiligkeitskonzeptionen im spätkaiserzeitlichen China. Die Drachenkönige (longwang) im Spiegel zweier Werke der traditionellen Literatur ..................... 141

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Inhaltsverzeichnis

Roger Thiel Exkursionen zu den Ursprüngen des Heiligen. Max Müllers Vergleichende Religionswissenschaft......................................................................................... 177 Farbtafeln ............................................................................................................ 197

VORWORT DER HERAUSGEBER Im Sommersemester 2012 präsentierte die DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“ der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eine Ringvorlesung unter dem Titel „Was ist Sakral? Perspektiven des Heiligen“. Mittels der Möglichkeiten, welche die modernen Medien Fernsehen und Internet bieten, konnte die Gruppe neue Wege beschreiten und sich mit acht Vorträgen einem breiten, nicht nur universitär geprägten Publikum vorstellen. So wurden die einzelnen Vorträge aufgezeichnet und stehen nun im Video-Portal der Universität zu Verfügung1. Zwei ausgewählte Beiträge – von Peter Strohschneider (München) und Carola Jäggi (Zürich) – wurden zudem durch den Sender BR-alpha unter der Rubrik „alpha-Campus“ im Januar 2013 deutschlandweit ausgestrahlt. Gleichwohl wird nun auch ein traditionelles Mittel der Forschungskommunikation mit der Herausgabe eines Sammelbandes genutzt. Der vorliegende Band vereint nicht nur einen Großteil der im Verlauf der Ringvorlesung gehaltenen Vorträge, sondern wurde zudem um drei weitere Beiträge von Franz-Reiner Erkens (Passau), Florian Ebeling (Heidelberg) und Sebastian Watta (Erlangen), von denen letzterer direkt am Forschungsprojekt beteiligt ist, ergänzt. So ließ sich das Spektrum der Forschergruppe erweitern, und es konnten Themenbereiche einbezogen werden, welche in den einzelnen Teilprojekten bisher nur peripher Beachtung finden konnten, obwohl in diesen bereits eine Fülle unterschiedlichster Themenkomplexe untersucht wird. Die Arbeitsgebiete reichen dabei weit über das christlich-abendländisch geprägte Europa hinaus und umfassen auch Regionen des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens. Den zeitlichen Rahmen setzen die Spätantike sowie das Ende der Frühen Neuzeit. Weit gefasst und interdisziplinär angelegt ist die Auswahl der einzelnen Autorinnen und Autoren. Bewusst wurde bei der Konzeption der Ringvorlesung und des Sammelbandes auch darauf geachtet, dass sich gerade Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler alleine oder zusammen mit erfahrenen Akademikerinnen und Akademikern in die aktuelle Forschungsdiskussion einbringen konnten. Für die Herausgeber eines Sammelbandes ist es ein Glücksfall, Beiträge vorliegen zu haben, die in ihrem Inhalt ebenso wie in ihrer theoretischen und methodischen Ausrichtung so vielfältig sind: Alle haben sie die Betrachtung von Sakralität und Sakralisierung – aus, unterschiedlichen Blickwinkeln – zum Ziel, und dennoch lassen sich den gesamten Band hindurch immer wieder diverse inhaltliche und auch methodische Berührungspunkte ausmachen. Diese Berührungspunkte wurden für die Anordnung der einzelnen Beiträge verwendet, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. 1

Http://www.video.uni-erlangen.de/course/id/159.html (Stand: 29.05.2013).

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Vorwort

Zu Beginn verbinden die Ausführungen von Klaus HERBERS (Erlangen) die Frage nach Heiligkeit und dem Heiligen mit aktuellen Ereignissen, um dann in die Arbeit der Forschergruppe einzuführen und das Begriffsfeld „heilig“ zu umreißen. Daran schließt sich Franz-Reiner ERKENS‘ Essay an, in dem er unterschiedliche Facetten von Herrschersakralität von der Spätantike bis zur Neuzeit ausleuchtet. Unter ausführlicher Beachtung der bisherigen Forschungsliteratur zeigt er die Sakralität europäischer Monarchen in verschiedenen Weisen sowie das damit verbundene (Selbst-)Verständnis von sakraler Herrschaft beziehungsweise Herrschaftssakralität. Als Beispiel für eine gewisse Kontinuität von Sakralität stellen Andrea BECK (Erlangen) und Michele C. FERRARI (Erlangen) in ihrem Beitrag die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula vor. Die Verehrung der beiden Stadtpatrone wird nicht durch die Reformation, die Zwingli eingeleitet hat, beendet, sie ändert sich vielmehr und tritt in anderer Form bis in die Neuzeit auf. Die räumlichen Veränderungen der Zürcher Reformation vergleicht Carola JÄGGI mit denen in den Kirchen Nürnbergs und dessen Umland, um zu zeigen, wie sich das zeitgenössische Verständnis von heiligen Räumen unter den Protestanten wandelte und auf welche Weisen sich dies in den Kirchenräumen selbst auswirkte. Ebenfalls direkt raumbezogen untersucht Sebastian WATTA die in der frühbyzantinischen „Kirche des Priesters Wa’il“ im heutigen Jordanien gestifteten Mosaikpavimente auf ihre Ikonographie und Position in der sakralen Topographie hin. Durch die Mosaikausstattung aus dem 6. Jahrhundert seien unterschiedliche Bedeutungsebenen auszumachen, die unter anderem auf eine Binnenhierarchisierung von heiligem Raum hindeuten würden und damit generelle Einsichten zu Raumheiligkeit in historischen Kontexten ermöglichten. Den Schritt von Raum zu Zeit vollziehen Klaus HERBERS und Christian SAßENSCHEIDT (Erlangen). Sie stellen sich die Frage nach der Heiligung der Zeit und zeigen am Beispiel der Rezeption von Heiligenfesten auf der Iberischen Halbinsel in christlich-arabischen und auch in islamisch-arabischen Kalendarien, wie Zeit ge- und auch wieder entheiligt werden könne. Mit dem Diskurs über die Religion Ägyptens in der Frühen Neuzeit setzt sich Florian EBELING anhand dreier Beispiele – der florentinischen Renaissancephilosophie, des Alchemoparacelsismus und des Pietismusstreits – auseinander. Er zeichnet dabei ein spannungsreiches Bild Ägyptens, welches erst durch die Entzifferung der Hieroglyphen in der Neuzeit neue grundlegende Veränderungen erfuhr. Einen Blick auf die mittelalterliche Philosophie Indiens gewährt Matthias AHLBORN (Würzburg) mit seiner Analyse der Pañcadaśī, eines Textes aus der Tradition der Advaita-Vedānta, in dem der sogenannte Lebend-Erlöste beschrieben wird. Auf verschiedene Arten könne ein Einzelwesen wie jener Erlöste eine höhere, absolute Wirklichkeit unmittelbar wahrnehmen und so den Kreislauf der Wiedergeburten durchbrechen. Ein Einzelwesen sei dabei selbst eine Illusion und könne dennoch das Absolute erfahren. Gerade in dieser Paradoxie wurzele die Heiligkeit des Lebend-Erlösten.

Vorwort

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Gleichfalls mit asiatisch ausgerichteter Sakralität beschäftigt sich Andreas BERNDT (Erlangen) anhand der Darstellung der sogenannten Drachenkönige (longwang) in China in zwei literarischen Werken der Ming- und Qing-Dynastie. Er zeigt, wie sich darin Vorstellungen von dem, was man als sakral bezeichnen könne, widerspiegeln. Zudem setzt er sich mit methodischen Möglichkeiten aber auch Einschränkungen auseinander, welche sich in der Übertragung des vorwiegend durch eine christlich-abendländische Perspektive geprägten Sakralitätskonzepts auf einen fremden Kontext ergeben. Im letzten Beitrag des Sammelbandes erforscht Roger THIEL (Erlangen) die Wege Max Müllers zu den Ursprüngen des Heiligen. Müller gehe von der Basis der Sprache aus und verfolge sie zu ihrem Kern zurück, wobei er die Bildung und Entwicklung von Mythologie und Religion erkläre. Ohne die Unterstützung einer Reihe hilfreicher Personen, die ihre Ideen, Tatkraft und Zeit zur Verfügung gestellt haben, wäre eine Veröffentlichung dieses Bandes nicht möglich gewesen. All jenen sei an dieser Stelle gedankt. Namentlich sei Anette Reiter (Würzburg) angeführt, welche beim Satz und der formalen Bearbeitung des Bandes tatkräftig half. Ebenso sei allen Projektbetreuerinnen und Betreuern gedankt, die stets mit Rat und Tat zur Seite standen; nicht zuletzt sind hier alle Kolleginnen und Kollegen der Forschergruppe „Sakralität und Sakralisierung“ für ihre Anregungen und konstruktiven Kritiken zu nennen. Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher finanzieller Unterstützung des Universitätsbundes Erlangen-Nürnberg sowie der Dorothea und Dr. Richard ZantnerBusch-Stiftung, die dafür sorgten, dass keine Rechnung offen blieb.

Im Mai 2013

Andrea Beck und Andreas Berndt

SAKRALITÄT: EINLEITENDE BEMERKUNGEN Klaus Herbers

Als im Juli 2012 Extremisten im malischen Timbuktu begannen, dort oftmals als heilige angesehene Gelehrtengräber zu zerstören, war der internationale Aufschrei groß. UNESCO-Weltkulturerbe den einen, waren die Gräber den anderen Zeichen eines mystischen und volkstümlichen Islam – und den dritten offenkundig das genaue Gegenteil von „heilig“. Als Hindus 1992 die Babri-Moschee in Ayodhya zerstörten, um an ihrer Stelle einen Tempel zu errichten, standen sich zwei gegensätzliche Konzeptionen vom „heiligen Raum“ entgegen. Und auch in anderen Bereichen gibt es immer wieder Auseinandersetzungen um die Sakralität von Regionen, Städten, Gebäuden oder Zeiten. Darf am Sonntag gearbeitet werden? Unter welchen Bedingungen? Darf man am Karfreitag tanzen? Wirkt ein Anspruch auf eine Anrede wie „Eure Heiligkeit“ heute nicht beinahe anmaßend? Seit Februar 2013 muss sogar erstmals diskutiert werden, wie man künftig einen ehemaligen Papst, eben einen ehemaligen „Heiligen Vater“, anzusprechen habe und wie der Status seiner Person langfristig sein wird. Aber was ist uns denn noch heilig? Wenn wir auf die Straße gehen und Passanten danach fragen, was ihnen, oder genauer welche Zeiten ihnen heilig sind, dann würden wir vielleicht Antworten erhalten wie „die Mittagspause“, „die Freizeit“ oder auch „die Ferien“. Seltener würde jemand zum Beispiel die Karwoche – die in vielen Sprachen der christlichen Kulturkreise als „semaine sainte“, „semana santa“ oder „Heilige Woche“ bezeichnet wird – als Beispiel anführen. Dies zeigt – unter heilig versteht man heute oft etwas sehr Handfestes, so kann mir auch mein Auto heilig sein. Nur noch selten sind es die lange Zeit in Europa dominierenden christlichen Zuschreibungen, die sich in klassischen Ausdrücken auf die Zeit mit Heiliger Woche, Heiliger Nacht, aber auch auf den Raum hin mit Heiligem Land, Heiligen Stätten oder anderen Dingen manifestierten. Die Ringvorlesung „Was ist sakral? Perspektiven des Heiligen“ und die DFG Forschergruppe „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit“ gehen diesen Fragen nach. Mit den gedruckten Beiträgen der Ringvorlesung stellt sich die Forschergruppe, die seit dem 1. April 2011 zusammenarbeitet, einem größeren Publikum vor. Eher Heiligkeit, weniger der Begriff Gott bestimmen die Schwerpunkte zahlreicher Werke der neueren Religionswissenschaft und Religionsgeschichte1. 1

Manche Stimmen der neueren Religionsphänomenologie weisen der Heiligkeit einen zentralen Platz zu. Von dieser Forschungsrichtung wird es inzwischen als Sichtweise eines eurozentrischen Christentums angesehen, wenn im Zentrum der Religion die Gottesverehrung

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Klaus Herbers

Wenn die Vertreter dieser Ansichten Recht haben und wenn Sakralität oder Heiligkeit als das weiter gefasste Konzept zugleich über die christliche Religion hinausweist, dann wird es auch für unser Anliegen wichtig zu fragen, wie Sakralität zu definieren ist und wie sich Sakralisierungsprozesse beschreiben lassen. Die klassische Definition des Heiligen von Mircea Eliade geht von einer Dichotomie aus: heilig und profan stehen einander gegenüber2. Mircea Eliade setzt „in irgendeiner Weise das Heilige und das religiöse Leben dem Profanen und dem weltlichen Leben entgegen“3. Entsprechend kann fast alles in gewissen Situationen heilig werden. Was den Göttern vorbehalten bleibt, ist heilig, das andere, „Vorheilige“, ist das Profane. Rudolf Otto (1917) verstand unter dem Heiligen die irrationale Dimension, das Heilige ist eine andere Realität, die dem Menschen schauervoll oder anziehend entgegentreten kann (tremendum und fascinans)4. Diese Beschreibung lädt allerdings das Heilige mit einer großen Gefühlsdynamik auf, die eine wissenschaftliche Näherung erschwert. Vielleicht ist für den hier konkret verfolgten Zweck ein Blick auf die Begriffsfelder und die Semantik dienlich. Das Lateinische bezeichnet mit sacer nach Dihle „alles, was einem Numen zugehört, mit ihm in Verbindung steht, von seiner Macht besonders betroffen ist“5. Abgeleitet davon ist sancire, etwas als heilig abgrenzen, verstanden als ein juristischer Akt. Das Abgegrenzte ist das sanctum, grenzt man eine Person ab, ist diese eine persona sancta oder sanctus, sancta. „Sakralisierung“ – wie es in unserem Titel verwendet wird – und entsprechende Komposita wie De- und Resakralisierung leiten sich vom Verb sancire her. Wenn unter Sakralität keine statischen und nur an bestimmte Religionen gebundene Normen und Realitäten verstanden werden, dann erscheinen Fragen besonders spannend, die Prozesse in den Blick nehmen.

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steht. Entsprechend zitiert Arnold Angenendt in seinem Überblick zur Frömmigkeit Nathan Söderblom: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion, es ist wesentlicher als der Begriff Gott“, vgl. Arnold ANGENENDT, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. (Enzyklopädie deutscher Geschichte 68) München 2003, 74. Vgl. auch DERS., Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, bes. 1–30; 355–359 und passim. Vgl. hierzu und zu weiteren Definitionsversuchen Berndt HAMM, Heiligkeit im Mittelalter. Theoretische Annäherung an ein interdisziplinäre Forschungsvorhaben, in: Nine MIEDEMA/Rudolf SUNTRUP (Hg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main 2003, 627–645, bes. 628 f. (mit den entsprechenden Belegstellen). Das Werk von Mircea Eliade soll in der Fortsetzungsphase der Forschergruppe näher untersucht werden. Vgl. Mircea ELIADE, Die Religionen und das Heilige. Elemente einer Religionsgeschichte. Salzburg 1954, 19. Rudolf OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau 1917 (Nachdruck München 2004); vgl. HAMM, Heiligkeit (wie Anm. 2), 629 f. Vgl. Albrecht DIHLE, Artikel „heilig“, in: Reallexikon für Antike und Christentum 14, 1988, 1–63, hier: 20.

Sakralität – Einleitende Bemerkungen

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Die Leitfrage der hier mit den wesentlichen Beiträgen im Druck präsentierten Ringvorlesung „Was ist sakral?“ bleibt griffig, aber zu knapp, wenn man den Titel der Forschergruppe „Sakralität und Sakralisierung“ bedenkt. Neben der Frage, was denn sakral überhaupt ist, beschäftigt uns vor allem das Problem, wie etwas sakral wird oder diesen Status wieder verliert. Insofern geraten die Dynamik und die Prozesse von Heiligkeit und Heiligung ins Zentrum der Diskussion. Geht man davon aus – verwiesen sei auf die einleitenden Beispiele –, dass Handlungen, Objekte, Räume und Personen nicht nur sakral sein, sondern sakralisiert und auch desakralisiert werden können, so bedeutet in moderner Hinsicht die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft auch die „Sakralisierung“ einer Forschergruppe. Die vielleicht an unser Projekt gerichtete Frage: Wann wird man heilig, wie wird man heilig? wird damit schon ansatzweise beantwortet. Ein kurzer Blick auf Begriffe kann dies weiter erläutern. Das schon genannte Wort sancire entstammt der römischen Tradition und konnte den lateinischen Westen im Laufe der Geschichte prägen. Sancire meint, wie schon bemerkt, abgrenzen. Abgrenzen, hervorheben kann man einen Raum, eine Fläche. Dies mag aber ebenso Personen oder Zeiten und Zeiträume betreffen. Mit dem Blick auf den Begriff ergibt sich zugleich ein doppeltes Problem, dem sich unsere Gruppe zuwendet: Zum einen wollen wir die Reflexion über die Begrifflichkeiten weiter vorantreiben, zum anderen wollen wir Europa und die dort dominanten christlichen Traditionen mit anderen Gesellschaften und Religionen vergleichen und damit das Reflexionsniveau bisheriger Heiligkeitsdefinitionen weiter heben. Wie weit gelten überhaupt Begriffe, die in einer antik-christlichen Tradition stehen, beispielsweise für Indien oder China? Gibt es überhaupt allgemein verbindliche Möglichkeiten, Heiligkeit zu definieren? In vormodernen Gesellschaften Europas und Asiens wurde der sakrale Charakter von Handlungen, Objekten, Räumen und Personen immer wieder behauptet, aber auch bezweifelt und abgelehnt. Unsere Gruppe geht davon aus, dass Sakralität selten klar definiert, sondern vielmehr höchst umstritten gewesen ist, mithin also stets neu ausgehandelt wurde. Ziel ist insgesamt eine vergleichende Betrachtung sowohl christlicher als auch nichtchristlicher Konzeptionen von Heiligkeit in verschiedenen europäischen und asiatischen Kulturräumen, wie sie sich in Texten und Bildern, in Architektur und Raum- oder Zeitgestaltung, in Personenkulten und Herrschermodellen oder in performativen Akten (Prozessionen, Wallfahrten, religiösen Zeremonien etc.) niederschlagen. Im Zentrum steht die Frage, wie es zu Heiligkeit kommt und wie diese sich konstituiert. Von besonderem Interesse sind daher Bezüge zwischen verschiedenen Medien (das Verhältnis von Text und Bild, von Volkssprache und Sakralsprache, von Raumgestaltung/Architektur und Text, von Mündlichkeit/Performanz/Theatralität und Schriftlichkeit zueinander), der Zusammenhang von Institutionalisierung und Entinstitutionalisierung von Heiligkeit sowie die Spannung zwischen individuell legitimierter und kollektiv verbindlicher, zum Beispiel kirchenamtlicher ‚Kanonisierung‘. Der methodische Zugriff des interkulturell und intermedial angelegten epochenübergreifenden Vergleichs strebt an, Sakralität sowohl in ihrer histori-

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Klaus Herbers

schen Wandelbarkeit als auch systematisch zu untersuchen. Vor allem die Gegenüberstellung von christlich bestimmten Kulturen Europas mit Indien und China verspricht, den Blick für strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede über Epochengrenzen und die Grenzen von Religionen beziehungsweise Konfessionen hinweg zu schärfen. Die Einbeziehung zweier Forschungsvorhaben mit dezidiert außereuropäischem und nichtchristlichem Schwerpunkt bricht eine eurozentrische Sichtweise auf. Außerdem verstärkt das religionswissenschaftliche Projekt die Möglichkeiten begrifflicher Diskussion. Inhaltlich konzipiert die Forschergruppe das Thema als Verbindung von literatur-, kunst- und geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen, um text-, personen-, bild-, raum- und zeitbezogene sakrale Phänomene in ihrer ganzen Komplexität erfassen zu können. Dies führt zur kultur- und epochenübergreifenden Untersuchung von Konzepten religiöser Vervollkommnung – asketische, kontemplative und mystische Praktiken, philosophisch-theologische, soziologisch-ethnologische und herrschaftspolitische Modelle, literarische, ikonographische und architektonische Entwürfe –, aber auch zu Querschnitten, die fächerübergreifend die historisch-kulturelle Spezifik der jeweils untersuchten sakralen Phänomene deutlich sichtbar werden lassen. Es ist eine glückliche Fügung, dass die Fächer der Forschergruppe und wichtige Themen auch in diesem Band repräsentiert und darüber hinaus weitere Aspekte thematisiert werden.

HERRSCHERSAKRALITÄT Ein Essai Franz-Reiner Erkens

Um den alten Briest zu bemühen: Sakralität „ist ein weites Feld“. Schon der Anwendungsbereich des Begriffs ist breit und erstreckt sich über viele Regionen. Was kann nicht alles sakral heißen: Räume, Orte, Handlungen, Gesten, Symbole, Kunstwerke, Kultgegenstände, Personen, Gemeinschaften, Namen, Bücher, Bilder – schließlich auch Könige und die Würde, die sie bekleiden. Freilich ist die Vorstellung von der Sakralität eines Herrschers schwankend und die Sache selbst schwer zu fassen1. Sie verweist ebenfalls auf ein weites Feld, auf ein Feld mit verschwimmendem Horizont und gefährlichen Stolperfallen. Während die religiöse Konnotation von Herrschaft in vormodernen Gesellschaften ebenso unbestritten ist wie die daraus resultierende Einbindung des Herrschers in eine numinose Ordnung, ist die Charakterisierung dieser Verhältnisse als sakral relativ jung und hat vor allem erst im letzten Jahrhundert einen richtigen Aufschwung genommen etwa durch Begriffsbildungen wie Sakralkönigtum oder Sakralkönig, die in den Quellen kein Äquivalent besitzen und daher letztlich wissenschaftliche Hilfsbegriffe zur sprachlichen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts sind. Die Initialzündung dazu gab offenkundig das am Ende zwölf Bände umfassende, ‚The Golden Bough‘ betitelte Werk des schottischen Altphilologen und Ethnologen James George Frazer (1854-1941), der, von einer spätantiken Quelle ausgehend, in Afrika Könige entdeckte, deren reine Existenz zum Wohle ihres Volkes auf die Vegetation einwirkte und die mancherorts beim Schwinden ihrer Kräfte abgesetzt 1

Vgl. dazu wie zum Folgenden Franz-Reiner ERKENS, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, besonders Kapitel I („Was heißt Sakralität, was sakrales Königtum?“), sowie DERS., Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume. Versuch eines Überblicks, in: Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, hg. v. DERS., Berlin 2002, 7–32; DERS., Sakralkönigtum und sakrales Königtum. Anmerkungen und Hinweise, in: Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 49), hg. v. DERS., Berlin/New York 2005, 1–8, und DERS., Reflexionen über das sakrale Königtum germanischer Herrschaftsverbände, in: Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter (MittelalterStudien 22), hg. v. Matthias BECHER/Stefanie DICK, München 2010, 87–95, sowie den von mehreren Autoren verfassten Artikel „Sakralkönigtum“ im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 26 (²2004) 179– 320, bes. 219–234 (Franz-Reiner ERKENS: Sakrale Elemente) und 304 f. (Franz-Reiner ERKENS: Ergebnisse).

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Franz-Reiner Erkens

oder gar getötet worden sein sollen. Solche mit besonderem Heil ausgestattete Könige und ein ansonsten überhaupt nicht bezeugtes Sakralkönigtum mit priesterlicher und kultischer Verantwortung glaubte die germanistische Forschung auch bei den Germanen zu erkennen und prägte dadurch die sehr intensiv rezipierte Vorstellung von einem germanischen Königsheil, das angeblich noch die Königsidee des christlichen Mittelalters beeinflusste2. Zwar ist Frazers Lehre mittlerweile einer intensiven Kritik unterzogen worden und rückt die historische Forschung immer stärker von dem germanophil inspirierten Gedankengebäude ab, das über dem ‚germanischen Königsheil‘ aufgetürmt worden ist, aber die dabei eingeführte Begriffswelt wirkt fort. Vom mittelalterlichen „Sakralkönigtum“ wird bis in die jüngste Zeit hinein gehandelt3. Dies kann angesichts der unverkennbar religiösen Bezüge, in denen die christlichen Herrscher bis weit in die Neuzeit hinein standen, kaum überraschen. Außerdem muss des Königs besonderer Rang in der göttlichen Weltordnung und sein Verhältnis zum Numinosen, die in den Quellen greifbar sind, aber keinen eigenen Ausdruck finden, terminologisch gefasst werden. Dafür einen bekannten und gewohnten Begriff heranzuziehen, ist naheliegend, nur sollte ihm ein einheitliches Verständnis zugrunde liegen. Genau daran mangelt es aber, und es entsteht der Eindruck, dass von Sakralkönigtum recht beliebig und unreflektiert gesprochen wird, sobald ein Herrscher eine verstärkte religiöse Legitimität, Aufgabe oder Dimension besitzt oder zu besitzen scheint. Terminologische Klarheit ist aber vonnöten – nicht nur grundsätzlich, sondern weil ein Terminus, der nicht aus den Quellen genommen ist und in diesen erklärt wird, dem wissenschaftlichen Verständnis als Vereinbarungsbegriff dient und daher in besonderem Maße auch ein Deutungsbegriff ist, dessen Verwendung zugleich Interpretation bedeutet und ein ganzes Arsenal an Vorstellungen evozieren kann. Bei seiner inhaltlichen Füllung ist daher Umsicht und nicht zuletzt sprachliche Sorgfalt geboten. Die Bedeutung von Begrifflichkeit und Sprache kann dabei für die Geschichtswissenschaft nur betont werden: Texte sind in den weitaus meisten Fällen das Medium der historischen Überlieferung und müssen gedeutet werden, um Aussagen über die Vergangenheit treffen zu können; das Wort, gelegentlich gesprochen, häufiger geschrieben, dient der Vermittlung gewonnener Erkenntnis an Mit- und Nachwelt. Der Präzision und Verständlichkeit des Ausdrucks fällt 2

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Vgl. ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), Kap. II 6 („Königsheil und Kultsorge: Das Trugbild des germanischen Sakralkönigtums“), und DERS., in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde ²26 (wie Anm. 1), 225–232 (§11). Vgl. etwa die Formulierungen der Aufsatztitel von Stefan WEINFURTER, Idee und Funktion des „Sakralkönigtums“ bei den ottonischen und salischen Herrschern (10. und 11. Jahrhundert), in: Legitimation und Funktion des Herrschers (Schriften der Mainzer Philosophischen Fakultätsgesellschaft 13), hg. v. Rolf GUNDLACH/Hermann WEBER, Stuttgart 1992, 99–127; DERS., Sakralkönigtum und Herrschaftsbegründung um die Jahrtausendwende. Die Kaiser Otto III. und Heinrich II. in ihren Bildern, in: Bilder erzählen Geschichte, hg. v. Helmut ALTRICHTER, Freiburg i. Br. 1995, 47–103, und Giovanni ISABELLA, Das Sakralkönigtum in Quellen aus ottonischer Zeit: unmittelbarer Bezug zu Gott oder Vermittlung durch die Bischöfe?, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 137–152.

Herrschersakralität

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dabei die wichtige Funktion zu, eine Aussage leicht rezipierbar und vor allem im gewünschten Sinne verstehbar zu machen. Bedient man sich dabei keiner elaborierten Sondersprache, die in manchen Wissenschaftsdisziplinen üblich geworden ist und die den Eingeweihten eine exakte Verständigung erleichtert, den Außenstehenden jedoch erschwert, benutzt man vielmehr eine gehobene Umgangssprache, dann ist zwar die Allgemeinverständlichkeit meist gewahrt, aber ein Missverstehen trotzdem nicht ausgeschlossen, da ein von der Allgemeinheit verwendeter Begriff natürlich nicht genau definiert ist und mit unterschiedlichen Vorstellungen gefüllt oder auf divergierende Sachverhalte angewendet werden kann. Diese Gefahr trifft die Geschichtswissenschaft in einem besonderen Maße, da sie, will sie ihre gesellschaftliche Wirkung nicht völlig verlieren, auf Breitenwirkung und daher auf eine gehobene Alltagssprache nicht verzichten kann, und weil sie, wie die verschiedenen ‚turns‘ der letzten Jahrzehnte zeigen, sehr offen ist für Einflüsse aus anderen Wissenschaften, die methodische Anregungen bieten, aber oftmals auch eine gern adaptierte Begrifflichkeit zur Verfügung stellen. Ein neueres Beispiel dafür ist etwa der durch die 1973 erschienene ‚Metahistory‘ des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Hayden White zwar nicht auf die Wege gebrachte, aber das spätere Verständnis doch stark mitbestimmende Begriff „master narrative“, die „Meistererzählung“, verwendet als eingängiger Ausdruck für nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Gesellschaft akzeptierte und dominant gewordene Geschichtsbilder, Geschichtsdeutungen oder Darstellungen von historischen Zusammenhängen und Entwicklungen, ein schließlich zum griffigen Schlagwort mutierter Terminus also, der seither immer wieder, aber nicht unbedingt im eigentlichen Sinne unterschiedlichste Publikationen, nicht zuletzt das Feuilleton, bereichert4. In diese Kategorie fallen auch die Begriffe ‚Sakralkönig‘ und ‚Sakralkönigtum‘, die Frazer nicht verwendet, die aber, beflügelt durch seine Beschreibung des mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Herrschers, eine beachtliche Karriere in der Geschichtswissenschaft durchlaufen, dabei geschichtsbildstiftend gewirkt und praktisch eine Meistererzählung mitgestaltet haben5. Umso wichtiger ist es zu klären, was unter ‚Sakralität‘ verstanden werden soll, wenn dieser Begriff auf Herrscher (Kaiser oder Könige) bezogen wird. Dabei geht es freilich nicht darum zu eruieren, was man sich im Mittelalter unter ‚Herrschersakralität‘ vorstellte, denn dieser Ausdruck war ja unbekannt, sondern es gilt zusammenzustellen, welche Vorstellungen man damals hegte, die heute mit diesem Wort zusammengefasst werden, und auf diese Weise einen Ordnungsbegriff zu schaffen, der einerseits eine vergangene Vorstellungswelt adäquat abbildet und andererseits beim 4

5

Vgl. allgemein Konrad H. JARAUSCH/Martin SABROW, „Meistererzählung“ – Zur Karriere eines Begriffs, in: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, hg. v. Konrad H. JARAUSCH/Martin SABROW, Göttingen 2002, 9–32, und für die Mediävistik Frank REXROTH, Meistererzählungen und die Praxis der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung, in: Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen (Historische Zeitschrift Beihefte 46), hg. v. Frank REXROTH, München 2007, 1–22. Vgl. Anm. 2.

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Deuten dieser fernen Vergangenheit und ihres Verständnishorizontes hilft. Streng definitorisch darf dabei freilich nicht vorgegangen werden, sondern es muss im Sinne von Clifford Geertz (1926-2006) eine „dichte Beschreibung“ („thick description“) erfolgen, welche die sakralen Elemente des vormodernen Herrscherbildes erfasst und vorstellt. Dieses Vorgehen bietet einige Vorteile: Es gewährt einerseits eine stabile Orientierung, die den kategorialen Vergleich verschiedener Herrschaftsverhältnisse in synchroner wie diachroner Perspektive sowie Aussagen über die lange Dauer und weite, letztlich weltweite Verbreitung der Idee sakraler Herrschaft erlaubt, und ermöglicht andererseits eine Betrachtung der Entwicklung einzelner Elemente dieser Herrschaft, also das Aufspüren von Veränderungen der ‚Herrschersakralität‘. Es führt daher keinesfalls zu einem starren System6, sondern zur Erfassung von Intensivierungen und Verdichtungen, von Wachsen oder Schwinden, kurz: vom Wandel der herrscherlichen Sakralsphäre. Als Kern der herrscherlichen Sakralität lässt sich dabei das besondere Nahverhältnis der Herrscher zu Gott – oder allgemeiner: zu einer Gottheit, zum Göttlichen, zum Numinosen – bestimmen, ein spezifisches Verhältnis, das in den Quellen vielfach belegt ist und vor allem in immer wieder formulierten Überzeugungen gründet: in dem Glauben an die Erwählung des Herrschers durch Gott und in dem Gedanken der irdischen Stellvertretung Gottes durch den König, der dabei eine vikariale Sachwalterschaft in göttlichem Auftrag wahrzunehmen hat und dem daher ähnlich den Priestern eine eigene Verantwortung für die christliche Gemeinschaft zufällt, gewissermaßen eine eigene Sazerdotalität (die freilich keine priesterliche Würde bedeutete). Die Gottesnähe, die dem Herrscher zugeschrieben wurde, rechtfertigt im Übrigen auch die Verwendung des Sakralitätsbegriffs zur Charakterisierung der religiösen Dimension des Königtums, denn Räume und Gegenstände, die in Verbindung zum Göttlichen stehen, werden, worauf der Philosoph Josef Piper in seiner Antwort auf die Frage „Was heißt ‚sakral‘?“ 1988 hingewiesen hat, ganz allgemein als ‚sakral‘ bezeichnet7. Dieses unprätentiöse Verständnis des Sakralen auch auf Personen zu beziehen, die keine Heiligen sind, aber eben in enger Beziehung zu Gott stehen, liegt nahe und hilft zugleich dabei, sich den Alltag eines sakralen Herrschers nicht allzu erhaben und weihevoll zu imaginieren und sich nicht jede seiner Tätigkeiten als im Bewusstsein göttlicher 6 7

Vgl. ISABELLA, Das Sakralkönigtum (wie Anm. 3), 151. Ludger KÖRNTGEN, „Sakrales Königtum“ und „Entsakralisierung“ in der Polemik um Heinrich IV., in: Heinrich IV. (Vorträge und Forschungen 69), hg. v. Gerd ALTHOFF, Ostfildern 2009, 127–160, bes. 131 Anm. 17, meint zwar, dass auch eine „weite Begriffsverwendung“ vom sakralen Königtum alle „methodischen Konzepte reflektieren und den heuristischen Wert sowie die heuristischen Grenzen des Begriffs in den jeweiligen methodischen Kontexten kritisch prüfen“ müsse, aber – abgesehen davon, dass damit ein hoher, freilich kaum (jemals) erfüllbarer Anspruch an einen (letztlich an jeden) wissenschaftlichen Hilfsbegriff gestellt wird – bleibt daran zu erinnern, dass es bei der Bildung des Oberbegriffs „sakrales Königtum“ um wesentlich Bescheideneres geht: nämlich um den pragmatischen Versuch, ein aus den Quellen geborgenes Phänomen unter Berücksichtigung bereits vorhandener Begriffsbildungen terminologisch zu erfassen. Natürlich könnte man dazu auch einen anderen Begriff wählen oder prägen, nur wird auch der nicht die postulierte Anforderung erfüllen können.

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Stellvertretung geschehen auszumalen8. Akzentuiert wurde die Herrschersakralität wohl hauptsächlich bei den großen, vom Kirchenjahr bestimmten Festen der Monarchie, zusätzlich bei Krönungen, Hochzeiten, Beisetzungen und besonderen Auftritten; wichtige Entscheidungen in Krieg und Frieden dürften darüber hinaus im Bewusstsein der herrscherlichen Verantwortung vor Gott getroffen worden sein. Bei den englischen und französischen Königen kam natürlich noch die demonstrative Übung ihres Thaumaturgentums hinzu, die Heilung von Skrofulösen nach der Weihe und an den Hochfesten der Kirche, ein wundertätiges Wirken, das auf einer besonderen, gleichsam durch die Salbung aktivierte Fähigkeit beruhte und die Sakralität der beiden westeuropäischen, besonders aber des französischen Monarchen in unvergleichlichem Maße verdichtete. Zu den Kernelementen der Herrschersakralität konnten also noch weitere Komponenten hinzutreten, die zur Ausdifferenzierung der herrscherlichen Sakralsphären beitrugen, aber für deren Begründung nicht zwingend nötig waren. Auch das Königtum jener Herrscher, die gemäß Frazer Vegetation und Stammeswohl durch ihre reine Existenz sicherten oder die nach Ansicht der älteren Germanenforschung mit einem besonderen Königsheil ausgestattet waren, besaßen ein Mehr an Sakralität und waren Sakralkönige im eigentlichen Sinne (weswegen der Begriff ‚Sakralkönigtum‘ auch für ihre Herrschaft reserviert bleiben und ansonsten nur von einem ‚sakralen Königtum‘ gesprochen werden sollte9). Die Differenzierungsmöglichkeit, welche durch die beschriebene Kategorisierung der Herrschersakralität gegeben ist, birgt, wie gesagt, nicht nur den heuristischen Nutzen der Unterscheidung in sich – etwa des sakralen Königtums als des allgemeinen Phänomens vom Sakralkönigtum, Gottkönigtum oder Thaumaturgentum als dessen gesteigerter Erscheinung –, sondern eben auch die Möglichkeit, Intensitäten und Entwicklungen zu fassen. Dabei ist es natürlich möglich, das als Herrschersakralität verstandene, in religiösen Gesellschaften wie jenen der Vormoderne letztlich aber nicht überraschende Nahverhältnis der Könige und Kaiser zu Gott aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Deren beliebteste und geläufigste ist zweifellos die des legitimatorischen Nutzens. Und in der Tat kann es keinen Zweifel daran geben, dass die sakrale Dimension, die den Herrscher umgibt, dazu diente, diesen zu legitimieren und möglichst unangreifbar zu machen. Andererseits bot die religiöse Konnotation von Herrscher und Herrschaft die Möglichkeit, Idealvorstellungen zu entwickeln, an denen ein Monarch gemessen werden konnte. Unterweisung des Herrschers und Kritik an seinen Handlungen bildeten daher einen Aspekt der Herrschersakralität und konnten in letzter Konsequenz sogar zur Beseitigung eines beratungsresistenten Machthabers, zumindest aber zu schweren Konflikten mit ihm führen. Wie sich die Idee herrscherlicher 8

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Vgl. dazu wie zum folgenden Rudolf SCHIEFFER, Mediator cleri et plebis. Zum geistlichen Einfluß auf Verständnis und Darstellung des ottonischen Königtums, in: Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen 46), hg. v. Gerd ALTHOFF/Ernst SCHUBERT, Sigmaringen 1998, 345–361, bes. 346 und 360 f. Vgl. ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), 31.

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Sakralität allerdings letztlich auswirkte, das hing nicht unwesentlich von den jeweiligen Rahmenbedingungen ab, die daher bei der Beschäftigung mit der Herrschersakralität einen eigenen Forschungsgegenstand bilden können (wobei allerdings als sicher gelten darf, dass niemals allein durch den Glauben oder Unglauben an die besondere religiöse Legitimation eines Königs dessen Herrschaft gestützt oder gestürzt worden ist). Angesichts dieser Vielfalt an Aspekten wird einer von ihnen bei jeder zwangsläufig perspektivischen Betrachtung immer isoliert, wodurch er in einem besonderen Maße als Element der Herrschersakralität in den Vordergrund rückt. Unvermeidlich findet eine perspektivische Verengung statt. Das ist allerdings so lange unproblematisch, wie dieser Vorgang bewusst bleibt und bei der Gesamtdeutung berücksichtigt wird. Eine Verzerrung bewirkt dies jedoch, wenn diese Isolation absolut gesetzt wird und zu einem monokausalen Verständnis der Zusammenhänge führt10. Die Herrschersakralität etwa allein als Mittel der Herr10 Vgl. ISABELLA, Das Sakralkönigtum (wie Anm. 3), 152, der meint, „dass das Sakralkönigtum in seiner Tragweite als geschichtliches Phänomen erst verstanden werden kann, wenn es in seiner Eigenschaft als Mittel zum Ausbau der Legitimität innerhalb der politischen Dialektik aufgefasst wird“. Dieser Aspekt ist, wie gesagt, niemals bestritten worden, und ebenfalls nicht der von der neueren italienischen Forschung stark betonte Umstand, dass den Bischöfen im Mittelalter durch die Rolle, die sie bei der Herrscherweihe und überhaupt bei der theoretischen Diskussion von Herrschaftsaspekten spielten, eine eigene, eine herausgehobene Position zugewachsen ist (vgl. etwa Alain BOUREAU, Un obstacle à la sacralité royale en Occident: le principe hiérarchique, in: La royauté sacrée dans le monde chrétien [L’histoire et ses représentations 3], hg. v. Giovanni ISABELLA/Claudio Sergio INGERFLOM, Paris 1992, 29–37); nur sollte nicht (wie das etwa auch bei Boureau geschieht) der Anschein erweckt werden, als ob die Geistlichkeit damit einen Vorrang vor dem König oder gar eine Dominanz über den König gewonnen habe und die Steigerung der geistlichen Position dadurch wichtiger erscheint als die Betonung der Herrschersakralität (vgl. Giovanni ISABELLA, a. a. O., 148 ff., sowie ebenfalls Glauco Maria CANTARELLA, Qualche idea sulla sacralità regale alla luce delle recenti ricerche: itinerari et interrogativi: Studi medievale 44 [2003], 911–927 = DERS., Sacralità regale: itinerari e interrogativi: Rivista di storia del cristianesimo 1 [2004], 175–188, der zu dem knappen Diktum kommt: „I vescovi avanti tutto, insomma“ [920 = 182]) oder dass die Propagierung der Herrschersakralität hauptsächlich den Zweck verfolgte, die Stellung der Bischöfe zu heben. Zweifellos profitierten beide Seiten, König wie Geistlichkeit, von dem engen Zusammenwirken, aber eine eigene Handlungsmacht über den König gewannen die Bischöfe dadurch nicht und auch nicht durch die Tatsache, dass sie den König weihten (auch wenn sich dafür gelegentlich ein Ansatz bot). Erhellend ist immerhin, dass die Könige im Krönungsordo zu Christus, die Bischöfe jedoch nur zu den Aposteln in Beziehung gesetzt werden, was einen deutlichen Rangunterschied signalisiert. Außerdem ist die Thronfolge in der Praxis, vor allem wenn sie durch Wahl und Konsens bestimmt war, ein höchst komplexer Vorgang gewesen, bei dem die Bischöfe nicht nach eigenem Gutdünken verfahren konnten, sondern im Konsens mit der Allgemeinheit (oder zumindest mit einer Mehrheit) handeln mussten. Wille der Großen einschließlich Geistlichkeit ist mithin die politische Realität gewesen, Wahl durch Gott die Idee; aber selbst auf der ideellen Ebene dürften die Bischöfe als Vermittler und Deuter des göttlichen Willens kaum eine Blockademöglichkeit besessen haben. Darüber hinaus erschöpft sich die Herrschersakralität nicht ausschließlich oder vorrangig in ihrer legitimatorischen Funktion, wie etwa Hagen KELLER, Über die Rolle des Königs bei der Einsetzung der Bischöfe im Reich der Ottonen und Salier, Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), 153–174, zeigt, der dabei zu Recht betont, dass sich ent-

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schaftslegitimation verstehen zu wollen, wäre eine solche Verkürzung des Verständnisses. Eine andere Blickrichtung hingegen wird eingenommen, wenn nicht vorrangig danach gefragt wird, welchen Zweck die Sakralisierung der Herrscher verfolgte, sondern danach, ob sie ein Widerlager in der Realität besaß, ob sie reine Propaganda gewesen oder ob sie auch geglaubt worden ist, ob sie – anders formuliert – einen wirklichen Sitz im Leben hatte. Natürlich lässt sich diese Frage nicht mit letzter Sicherheit und auch nicht allein aus den Quellen heraus beantworten, da diese über solche Zusammenhänge weitgehend schweigen, aber aufgrund von Indizien und allgemeinen Überlegungen lässt sich doch eine begründete Vermutung äußern. Solche nicht auf einer quellengesättigten Basis beruhenden Aussagen sind in der Geschichtswissenschaft zwar nicht besonders beliebt, lassen sich manchmal aber nicht vermeiden, vor allem dann nicht, wenn im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung nach dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eines Phänomens gefragt wird. Dessen ‚Realität‘ hing natürlich ganz wesentlich von dem Glauben an die religiösen Bezüge der Herrschaft ab. Ohne Akzeptanz der Ideenwelt herrscherlicher Sakralität gibt es keinen sakralen Herrscher und die Verlautbarungen über ihn wären reine, um nicht zu sagen: üble, weil realitätsleere Propaganda gewesen mit dem Zweck der Herrschaftssicherung oder Herrschaftsbeeinflussung. Dabei ist wegen der Tiefenschärfe des Verstehens und angesichts der weltweit und aus allen Zeiten vorhandenen Hinweise auf die Vorstellung sakral konnotierter Königsherrschaft neben der Einzelanalyse spezieller Belege oder bestimmter Probleme auch der weite Blick des Historikers und die Berücksichtigung der globalen und epochenübergreifenden Aspekte gefordert. Die Vielfalt der Nachrichten etwa, die unterschiedlichen Quellenarten, Urkunden, annalistischen und chronikalischen Berichte, Krönungsordines, theoretische Schriften, in denen des Königs religiöse Dimension zur Sprache kommt oder angedeutet wird, bezeugen die breite Präsenz der Idee vom sakralen Königtum; die Beiläufigkeit der Erwähnung sprechende sakrale „Glaubensvorstellungen“ „nicht als Einzelelemente zu einem System zusammenfügen“ lassen (165), und wie ebenfalls KÖRNTGEN, „Sakrales Königtum“ (wie Anm. 7), hervorhebt, der (auf 132 in Anm. 19) daran erinnert, dass „die sakralen Momente des ottonisch-salischen Königtums als ein komplexes kulturelles und nicht eindimensionales politisches Phänomen zu verstehen“ seien; und auch in seinem Beitrag „Möglichkeiten und Grenzen religiöser Herrschaftslegitimation. Zu den Dynastiewechseln 751 und 918/919“, in: Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven (Österr. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Kl., Denkschriften 386, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), hg. v. Walter POHL/Veronika WIESER, Wien 2009, 369–389, warnt er davor, die legitimatorische Dimension religiöser Herrschaftsbegründung überzubewerten. SCHIEFFER, Mediator (wie Anm. 8), passim, weist zudem die geistlichen Einflüsse auf die ottonenzeitliche Vorstellung vom Königtum auf, ohne dabei einen episkopalen Vorrang festzustellen. Dass es auch eine andere Sicht auf die Relation zwischen Bischöfen und (wie sich zeigt: gottunmittelbaren) Königen gab, als die von der erwähnten italienischen Forschung akzentuierte, zeigt Dieter VON DER NAHMER, König und Bischof bei Einhard, Notker von St. Gallen und Widukind von Corvey. Nebst einem Seitenblick auf weltliche Größe, in: Geschichtsvorstellungen. Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter. Festschrift für Hans-Werner Goetz zum 65. Geburtstag, hg. v. Steffen PATZOLD u. a., Wien 2012, 53–101.

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zeigt deren prinzipielle Akzeptanz. Gleichzeitig weist diese breite und vor allem unterschiedliche Bezeugung darauf hin, dass alle Erwähnungen unmöglich nur gelehrtes Beiwerk mit legitimatorischer Absicht gewesen sein können. Vielmehr spricht sie für einen allgemeinen Glauben an die Sakralität des Herrschers, für eine Einstellung, die in religiös bestimmten Herrschaftsverbänden ohnehin mehr als wahrscheinlich ist, außerdem in außereuropäischen Kulturkreisen und dort manchmal bis in die Moderne hinein bezeugt11 und selbst im europäischen Mittelalter gelegentlich greifbar ist12. Deswegen wird man sagen dürfen: Die Sakralität von Königen und Kaisern ist geglaubte Wirklichkeit und nicht nur ein Mittel der Herrschaftslegitimierung gewesen, war mithin kein bloßes Instrument, das sie aber auch gewesen ist, und als solches gerade deshalb erfolgreich sein konnte, weil es auf die entsprechende Vorstellungswelt traf. Daher besitzen die Zeugnisse, die von einzelnen oder mehreren Elementen der herrscherlichen Sakralität künden, zumeist auch in verschiedenen Zusammenhängen Auskunftswert13: einmal und primär hinsichtlich der konkreten Angelegen-

11 Vgl. etwa Bernhard KÖLVER, Der König: Herr von allem, in: Die Sakralität von Herrschaft (wie Anm. 1), 181–186, und Bert VAN DEN HOEK, Does Divinity Protect the King? Ritual and Politics in Nepal, Contributions to Nepalese Studies 17/2 (1990), 147–155; Adam JONES, “I am the same as god”. Königliche Körper und Menschenopfer in drei westafrikanischen Staaten (18.–19. Jahrhundert), in: Die Sakralität von Herrschaft (wie Anm. 1), 201–212; Ute RITZ-MÜLLER, Die magische Macht afrikanischer Könige, in: Das frühmittelalterliche Königtum (wie Anm. 1), 22–41, sowie Walter KÜHME, Zwischen Vergöttlichung und enttäuschter Erwartung. Die Inthronisation des Königs von Gobir Abdou Balla Marafa im Jahre 1998 (Süd-Niger), in: Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, hg. v. Marion STEINICKE/Stefan WEINFURTER, Köln 2005, 347–356. 12 Vgl. etwa die Berichte über den Glauben der einfachen Bevölkerung des Reichs an segenspendende Kräfte von Königen des 12. Jahrhunderts: ERKENS, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde ²26 (wie Anm. 1), 230 ff.; DERS., Herrschersakralität (wie Anm. 1), 219–222; zu dem Bericht über Friedrichs III. Krönungsreise im Jahre 1442 vgl. auch Franz-Reiner ERKENS, Heißer Sommer, geistliche Gewänder und königliche Siegel: Von der Herrschersakralität im späten Mittelalter, Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica Universitatis Carolinae Pragensis factae 6 (2003), 29–44, bes. 29, vgl. auch das thaumaturgische Wirken der englischen und französischen Könige vom hohen Mittelalter an: Marc BLOCH, Die wundertätigen Könige, München 1998 [frz. 1924], bes. das Zweite Buch („Größe und Schicksale der königlichen Heilkraft“). 13 Vgl. zum Beispiel KÖRNTGEN, „Sakrales Königtum“ (wie Anm. 7), 150 Anm. 87; Ludger KÖRNTGEN, Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit (Orbis mediaevalis 2), Berlin 2001, sowie DERS., König und Priester. Das sakrale Königtum der Ottonen zwischen Herrschaftspraxis, Herrschaftstheologie und Heilssorge, in: Die Ottonen. Kunst, Architektur und Geschichte, hg. v. Klaus Gereon BEUCKERS u. a., Petersberg 2002, 51–61, der etwa, ohne das königliche Gottesgnadentum und die herrscherliche Sakralität zu bestreiten, hinweist auf die fromme Intention der Stifter und die Memorialfunktion der um das Jahr 1000 entstandenen Bilder von Herrschern in Gottesnähe; aber darin erschöpft sich die Aussage der Darstellungen keineswegs, wie etwa Michael BORGOLTE, Die zwei Könige des Kaisers, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 5 vom 5. I. 2002, 42, betont (vgl. dazu auch Thomas ERTL, Von der Entsakralisierung zur Entpolitisierung ist es nur ein kleiner Schritt.

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heit, in der sie entstanden, und zum anderen ganz allgemein für den großen und heterogenen Komplex der Herrschersakralität. Wenn dieser naturgemäß auch nicht in seiner Gesamtheit lückenlos erfasst werden kann, so lässt er sich doch in seinen Umrissen erkennen und werden die Grundlinien seiner Entwicklung deutlich. Deren Wendepunkte und mögliche Zäsuren sind freilich nicht punktgenau zu bestimmen, da Vorstellungen und Mentalitäten sich nur langsam wandeln und dies oft, ohne sofort Spuren in den Quellen zu hinterlassen; aber die Tendenzen des Entwicklungsprozesses sind anhand der Sakralitätselemente leicht zu verfolgen. Die Vorstellung etwa, dass die königliche Herrschaft auf den Willen Gottes zurückgehe, ist über Jahrhunderte hinweg zu greifen, differenziert sich jedoch seit dem hohen Mittelalter spürbar aus und manifestiert sich schließlich in einer großen Bandbreite von Antworten auf die Frage, wie sich die göttliche Mitwirkung bei der Bestellung eines neuen Herrschers vollzog. Diese konnte direkt sein, wenn Gott als eigentlicher Wähler eines Herrschers galt, oder indirekt, wenn Gott nur noch aus dem Hintergrund wirkte, beteiligt jedoch war er auf irgendeine Weise immer14. Von vergleichbarer Dauer war die Meinung, nach welcher der Herrscher irdischer Sachwalter Gottes sei; nur musste sie im Laufe der Zeit ebenfalls stark modifiziert werden und zum einen darauf reagieren, dass der Papst nach 1100 begann, die eigene Stellung als Christi Vikar zunehmend zu betonen, und zum anderen berücksichtigen, dass die europäischen Monarchen die Gottesstellvertreterschaft, die zunächst dem antiken Kaiser und seinen mittelalterlichen Nachfolgern gebührte, für sich beanspruchten. So galten die Könige und Kaiser schließlich als vicarii dei in temporalibus, und zwar bezogen auf ihren Herrschaftsbereich15. In Korrelation dazu stand die zunehmende Betonung der herrscherlichen Gottunmittelbarkeit16, die zugleich dazu diente, gegenüber einem immer stärkere Hierokratisierungstendenzen zeigenden Papsttum die Unabhängigkeit der weltlichen Gewalt in temporalibus zu sichern. Unmittelbarkeit, große Nähe zu Gott bedeutete zugleich direkte Verantwortung des Herrschers vor Gott – und dabei kam die herrscherliche Sazerdotalität ins Spiel. Dieses dritte Element der Herrschersakralität ist sicherlich nur schwer zu

Gedanken zur Rolle des Politischen und Rituellen anläßlich einer neueren Arbeit zum ottonischen Königtum, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 [2004], 301–317). 14 Vgl. dazu wie zum Folgenden Franz-Reiner ERKENS, Herrscher und Reich nach herrschaftstheoretischen Äußerungen des 14. Jahrhunderts, in: Ludwig der Bayer (1314–1347). Reich und Herrschaft im Wandel, hg. v. Hubertus SEIBERT (erscheint 2014). 15 Vgl. dazu mit Hinweis etwa auf Wyclif und andere Franz-Reiner ERKENS, Vicarius Christi – sacratissimus legislator – sacra majestas. Religiöse Herrschaftslegitimierung im Mittelalter, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Kanonistische Abteilung 89 (2003), 1– 55, bes. 26 mit Anm. 111, und DERS., Herrscher und Reich (wie Anm. 14). 16 Vgl. Franz-Reiner ERKENS, Der pia Dei ordinatione rex und die Krise sakral legitimierter Königsherrschaft in spätsalisch-frühstaufischer Zeit, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung (MittelalterStudien 13), hg. v. Jörg JARNUT u. a., München 2006, 71–101, bes. 85 ff.

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fassen und darf nicht als Priestertum missverstanden werden17: Priester sind die christlichen Herrscher des Mittelalters nicht gewesen. Aber ihnen ist aus der spätantiken Kaisertradition heraus eine besondere Verantwortung für die christliche Gemeinschaft und damit auch für die Kirche zugewachsen, eine Sorge, die sich nicht auf die weltlichen ‚Amtsgeschäfte‘ beschränkte und die Herrscher in die Nähe der Priester rückte18. Auf diese priesterähnliche (sazerdotale) Rolle wird in frühmittelalterlichen Quellen angespielt, wenn Chlodwig eine sacerdotalis mens nachgesagt wird oder Karl der Große als pontifex in praedicatione und Ludwig der Fromme als rector totius christianae religionis charakterisiert werden; sie schien auf, wenn die Herrscher an Synoden teilnahmen, auf die sie ganz allgemein Einfluss ausüben konnten, und sie dürfte sich auch noch manifestiert haben in dem Auftritt Heinrichs III. als Prediger bei der Verkündung seiner Indulgenzpolitik, dem Versuch einer Verwirklichung des christlichen Liebesgebots in der rauhen Wirklichkeit der Zeit. Ein Ravennater Erzbischof, möglicherweise der spätere Papst Johannes X., hat zu Beginn des 10. Jahrhunderts sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, wie wenig getrennt kaiserliche und priesterliche Gewalt im Grunde seien und dass die Beherrscher des Reiches einst sacerdotes genannt worden sind. Das konnte freilich nicht das letzte Wort bleiben, und spätestens seit dem 11. Jahrhundert ist es zu einer Änderung gekommen, als das Wirken des Reformpapsttums zu einer deutlicheren Scheidung zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre führte. Die Verantwortung jedoch ist dem König geblieben und beschränkte sich nicht allein auf das Gemeinwohl nach modernem Verständnis19. 17 Vgl. ERKENS, Vicarius Christi (wie Anm. 15), 36 f., und KÖRNTGEN, „Sakrales Königtum“ (wie Anm. 7), 149; Hartmut HOFFMANN, Canossa – eine Wende?, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 66 (2010), 535–568, bes. 544–556, der zu Recht betont, es habe eine unüberschreitbare Grenze zwischen Priester- und Königtum gegeben, stellt das Gottesgnadentum zwar nicht völlig in Frage, reduziert aber dessen Bedeutung stark, weil er die Aufgabe des Herrschers allein auf weltliche Ziele beschränkt wähnt und eine königliche Verantwortung für das ‚Heil‘ der ihm anvertrauten Menschen jenseits der Sicherung von Recht und Wohlstand, jenseits der Sorge „für das materielle Wohlergehen des Volkes (einschließlich der Kirche)“ (548) als nicht gegeben erachtet. Allerdings wird diese offenbar an modernen Vorstellungen geschulte, in klare Worte gefasste Meinung kaum begründet, sondern lediglich behauptet (vgl. etwa 549). Betrachtet man die über das ganze Mittelalter verstreuten Zeugnisse für eine besondere Heilssorge des Herrschers im Zusammenhang, dann wird man diese allerdings nicht einfach als rein weltlich deuten können (vgl. 553: „doch geht es dabei im allgemeinen nur um das irdische Heil“), noch wird man einfach behaupten dürfen, Frieden und Gerechtigkeit, die der König zu schaffen habe, seien „in der damaligen Weltsicht Vorstufen zu dem höheren Frieden des Himmelreichs“ gewesen (554) und hätten – wie man die Aussage wohl ergänzen muss – nichts mit Seelsorge zu tun gehabt. Zum Königtum allgemein vgl. auch Franz-Reiner ERKENS, König, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 3 (²2013, 17. Lieferung), 3–18. 18 Vgl. dazu wie zum Folgenden allgemein ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), Kap. II 5, III 3, V 1 und VI 1, sowie bes. 104 zur sacerdotalis mens, 137 zum pontifex in praedicatione, 139 zum rector totius christianae religionis und 159 zur Indulgenzpolitik Heinrichs III. sowie 140 f. zu dem Ravennater Schreiben vom Beginn des 10. Jahrhunderts (zu dem auch zu vergleichen ist HOFFMANN, Canossa [wie Anm. 17], 554). 19 Vgl. dazu wie zum Folgenden ERKENS, Herrscher und Reich (wie Anm. 14).

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Vielmehr ist es, wie etwa Thomas von Aquin hervorhebt20, herrscherliche Pflicht gewesen, die Menschen zu einem tugendhaften Leben zu bringen, weil dieses erst die Voraussetzung schafft für die Glückseligkeit im Jenseits: für die Anschauung Gottes. Diese ist zwar, wie der Aquinate weiter ausführt, nicht allein aus menschlicher und königlicher Kraft zu erreichen, sondern bedarf vor allem der Anteilnahme Gottes und der Tätigkeit der Priester, aber die herrscherliche Sorge für das menschliche Seelenheil in einem weiteren Sinne ist doch unverkennbar. Der französische Dominikaner Jean Quidort spricht zu Beginn des 14. Jahrhunderts sogar direkt von der cura animarum, die ein legislator, gemeint ist natürlich der König, übt; und auch der Basler Professor Peter von Andlau, ansonsten durchaus papalistisch gestimmt und keinesfalls unkritisch gegenüber der imperialen Gewalt, erklärt noch nach der Mitte des 15. Jahrhunderts in thomistischer Tradition die eterna beatitudo zum höchsten Ziel, das der Kaiser für sich, aber auch für seine Untertanen anstreben müsse, denn die Leiter der Welt (mundi rectores) seien Gottes Mitarbeiter (Dei cooperatores) 21. Um es nochmals zu betonen: Diese besondere Sorge für das Seelenheil der Untertanen, diese Seelsorge in weiterem Sinne, die den Herrschern aufgetragen war und die sich im gesamten Mittelalter greifen lässt, machte keinen Herrscher zum rex et sacerdos, keinen König oder Kaiser zum Priester, auch nicht Karl den Großen, der das Ideal der herrscherlichen Seelsorge vielleicht am ehesten verwirklichte22; aber sie schuf Priesterähnlichkeit, rückte das weltliche Oberhaupt an das sacerdotium heran und verlieh ihm eine sazerdotale Komponente, die wohl auch noch durch die Vorstellung verstärkt werden konnte, nach welcher iudices – mithin auch die Könige und Kaiser als oberste Richter – „Priester der Gerechtigkeit“ gewesen sind23. Bemerkenswerterweise ist diese Nähe zum Priestertum nicht nur im spätmittelalterlichen England und Frankreich betont worden, wo die sakrale Dimension der Könige ja durch das Thaumaturgentum erheblich verdichtet worden war und der Herrscher nach der Salbung nicht mehr als reiner Laie galt, sondern als persona mixta wie in England oder als espirituel et sacerdotal wie in Frankreich; aber auch im Reich finden sich ähnliche Vorstellungen24. Der kaiserliche Ornat, wie er etwa seit 1328 auf Siegeln zur Darstellung gebracht wurde, zeigt, dass der Kaiser Stola und Pluviale nach Art der Priester und Bischöfe und nicht nach Art der Diakone trug – und eine Episode während des zweiten Rom20 De regimine principum ad regem Cypri I 14/15, hg. v. Joseph MATHIS, Turin ²1971, 17 ff. 21 Libellus de cesarea monarchia I 2, hg. v. Rainer A. MÜLLER, Peter von Andlau. Kaiser und Reich (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 8), Frankfurt/M. 1998, 30. 22 Vgl. ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), 136 ff.; HOFFMANN, Canossa (wie Anm. 17), 555 f. 23 Vgl. ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), 224; DERS., Vicarius Christi (wie Anm. 17), 48 f., und DERS., Sol iusticie und regis regum vicarius. Ludwig der Bayer als ‚Priester der Gerechtigkeit‘, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 66 (2003), 29–44, bes. 802–806. 24 Vgl. dazu wie zum folgenden ERKENS, Sol iusticie (wie Anm. 23), 808–815; ERKENS, Heißer Sommer (wie Anm. 12), 33–42 (zu der Episode während der Weihnachtsmesse bes. 35 f.), sowie für das französische und englische Herrscherverständnis DERS., Vicarius Christi (wie Anm. 15), 38 ff.

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zugs Friedrichs III. im Jahre 1468 macht deutlich, wie sehr auf die korrekte Bekleidung wert gelegt wurde: Als die geistlichen Helfer dem Habsburger während der Weihnachtsmesse beim Ankleiden zur Evangeliumslesung Stola und Mantel nach Diakonsart umhängten, protestierte der Kaiser und rückte zumindest das Pluviale eigenhändig zurecht (während er auf eine Korrektur der falsch angelegten Stola verzichtete, weil diese vom Mantel verdeckt wurde und daher kaum sichtbar war). Stola und Pluviale waren dabei ebensowenig wie die Mitra, die unter der Krone getragen wurde und in spätmittelalterlichen Ordines für die Kaiserkrönung als clericalis charakterisiert wird25, geistliche Kleidungsstücke. Sie sollten nicht den geistlichen Stand ihres Trägers signalisieren (der letztlich ja nur Einordnung in die kirchliche Hierarchie und Unterordnung unter den Papst bedeutet hätte), sondern die Nähe von regnum und sacerdotium, wobei der Herrscher, obgleich unter die Laien gezählt, offenbar einem eigenen Stand angehörte: dem, wie Peter von Andlau es mit Blick auf die Kaiserkrönung ausdrückt, einer sacra majestas, denn die Salbung bewirkte bei der Herrscherweihe offenkundig einen Dignitätswechsel, der den geweihten König (oder Kaiser) nicht zu einem Geistlichen, wohl aber zu einem geweihten Laien sui generis machte26, zur Verkörperung einer majestas, von der bereits Nikolaus von Kues etwa ein Vierteljahrhundert vor Peter von Andlau erklärte, dass sie sakral, geistlich (was keinesfalls priesterlich meint) und von Gott sei (… sacra est omnis maiestas et spiritualis et a deo27), und die – wenn auch in französischer Ausgestaltung und Intensität – der in Paris tätige Karmeliter Jean Golein aus der Normandie bereits im 14. Jahrhundert meint, 25 Die Ordines für die Weihe und Krönung des Kaisers und der Kaiserin, hg. v. Reinhard ELZE, Monumenta Germaniae Historica Fontes iur. ant. 9, Hannover 1960, 66 (Ordo 17 §23) = 77 (Ordo 18 §24) = 95 (Ordo 19 §28) = 127 (Ordo 21 §30) = 131 (Ordo 22 §21) = 136 (Ordo 23 §24) = 143 (Ordo 23A §29). 26 Libellus de cesarea monarchia II 6 (wie Anm. 22) 206 (Attamen per hujusmodi et consecrationem aut inunccionem non dicitur habere sacrum ordinem, sed sacram majestatem; vgl. dazu Josef HÜRBIN, Peter von Andlau. Der Verfasser des ersten deutschen Reichsstaatsrechts. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus am Oberrhein im XV. Jahrhundert, Strassburg 1897, 91). Dass die gesalbten Herrscher „eine eigene Wirklichkeit neben Klerikern und Laien“ schon in ottonisch-salischer Zeit verkörperten, hebt bes. KÖRNTGEN, „Sakrales Königtum“ (wie Anm. 7), 156 f. (das Zitat steht auf Seite 157), hervor (der aber, wie das angeführte Zitat lehrt, zu Unrecht davon ausgeht, dass diese „Sonderstellung“ nach dem Investiturstreit „außerhalb des jetzt Denkmöglichen“ [157] blieb). Zum Standes- be-ziehungsweise Dignitätswechselwechsel vgl. Franz-Reiner ERKENS, Königskrönung und Krönungsordnung im späten Mittelalter, Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 110 (2008), 27–64, bes. 46 f. (Wenn der nicht in allen Handschriften des spätmittelalterlichen Krönungsordo erwähnte Kleiderwechsel des geweihten Königs erst im Verlauf des 14. oder 15. Jahrhunderts aufgekommen und nicht bereits bei der Erstellung dieses Ordo geübt worden sein sollte, vgl. dazu Andreas BÜTTNER, Der Weg zur Krone. Rituale der Herrschafts-erhebung im spätmittelalterlichen Reich I/II [Mittelalter-Forschungen 35], Ostfildern 2012, 155, dann würde dies die Bedeutung dieses Wechsels nicht mindern, sondern steigern). 27 De Concordantia catholica, hg. v. Gerhard KALLEN, Nicolai de Cusa Opera omnia 14, Hamburg 1968, 326 (III pooemium).

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wenn er erklärt28, der französische König verlasse durch die Salbung den weltlichen Stand und trete in den der religion royale ein. Mithin zeigt die mittelalterliche Herrschersakralität als eigentümliches Phänomen der longue durée, das tiefe Wurzeln im Altertum besitzt und Ausläufer bis weit in die Neuzeit hinein aufweist, eine im Grunde wenig überraschende Kontinuität von Grundvorstellungen, die sich zwar wandeln, intensiver werden oder abflauen, die sich auch ausdifferenzieren, im Kern aber offenbar immer vorhanden sind29. Es ordnet sich dabei in globale Zusammenhänge ein, gewinnt aber durch den christlichen Monotheismus, die Entwicklung des Papsttums und die herrschaftliche Diversifizierung Europas eine eigene abendländische, durch Vielfalt gekennzeichnete Ausprägung. Betrachtet man die europäische Entwicklung im Überblick, dann zeigt sich eine starke Beeinflussung durch spätantike Verhältnisse, in die antik-heidnische und christlich-biblische Vorstellungen eingeflossen waren und an die die nachantiken Herrschaftsträger, aus eigener Tradition heraus offen für eine solche Ideenwelt, anknüpfen konnten. Am nachhaltigsten erfolgte die Rezeption im karolingischen Frankenreich, wobei zusätzlich westgotische und irische Einflüsse wirksam wurden. Die Vorstellungen, die damals über das Königtum formuliert worden sind, konnten sich in den karolingischen Nachfolgestaaten entfalten und dabei unter Berücksichtigung eigener Erfahrungen weiterentwickelt werden. Dabei kam zunächst die imperiale Tradition mit ihrem ideellen Universalismus am stärksten zum Tragen. Sie formte daher das Ideengut sakraler Herrschaft besonders intensiv im Reich, wo die ottonischen Herrscher und ihre Nachfolger die Institution des karolingischen, in römischen Bezügen stehenden Kaisertums fortsetzten und wo die Idee von der Sakralität eines Herrschers unter den Saliern besonders ausgestaltet werden konnte. Allerdings war der damit verbundene „theokratische“ Anspruch angesichts des sich entwickelnden Selbstverständnisses der Reformpäpste letztlich nicht zu verwirklichen. Die canusinische Unterwerfung unter die priesterliche Gewalt des Papstes brachte hier in der Tat 28 Vgl. Marc BLOCH, Les rois thaumaturges. Étude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et Angleterre, Paris 1924, 478–489 (Appendice IV. Analyse et extraits du Traité du Sacre de Jean Golein), bes. 483 [dt. Übersetzung von Claudia Märtl (vgl. Anm. 12), 502–513, bes. 507], sowie jetzt vor allem die Edition von Richard A. JACKSON, The Traité du Sacre of Jean Golein, Proceedings of the American Philosophical Society 113 (1969), 305–324 (Edition: 308–324), hier 315: Golein weist in seinem Traité du Sacre darauf hin, dass das Entkleiden des Königs vor der Salbung anzeige, quil relenquist lestat mondain de par devant prendre celui de la religion Royale; zum Traktat wie zum Verfasser vgl. Jacques NEPOTE, Présentation du Traité du sacre de Jean Golein (1374), in: le sacre des rois. Actes du Colloque international d’histoire sur les sacres et couronnements royaux (Reims 1975), Paris 1985, 217–223. Der 1384 verstorbene John Wyclif sah in der regia potestas ein ordo in ecclesia (Tractatus de officio regis, ed. by Alfred W. POLLARD and Charles SAYLE, Wyclif, The Latin Works [11], London 1887, 10 f. [cap. 1]) und dürfte die Königsweihe daher ebenfalls als ein Standeswechsel verstanden haben. 29 Vgl. dazu wie zum Folgenden Franz-Reiner ERKENS, Konvergenz und Divergenz politischer und religiöser Herrschaft, in: Weltdeutungen und Weltreligionen. 600 bis 1500 (WBG-Weltgeschichte III), Darmstadt 2010, hg. v. Johannes FRIED/Ernst-Dieter HEHL, 279–305, sowie ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), passim sowie bes. 215–225.

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einen Einbruch, wenn man so will: den Beginn einer Wende, die freilich noch lange nicht beendet war, denn – wie bereits erwähnt: Die Kaiser behaupteten ihre Gottunmittelbarkeit in temporalibus auch noch in den nächsten Jahrhunderten, wobei die durch die Rezeption des römischen Rechts30 gestärkte imperiale Tradition weiterhin nützlich gewesen ist. Brachte der Gang nach Canossa für die Kaiser auch einen Absturz aus den höchsten Höhen der Herrschersakralität (ohne diese völlig zu verlieren), so gewinnt man aus europäischer Perspektive jedoch keinesfalls den Eindruck eines Zusammenbruchs der Welt sakraler Herrschaftsbegründung oder auch nur einer erheblichen Einschränkung dieses Ideenhorizontes wegen des für die Reichsgeschichte keinesfalls unwichtigen, in Europa aber kaum zur Kenntnis genommenen31 Ereignisses, das sich 1077 auf der Burg der tuszischen Markgräfin Mathilde abspielte. Im Gegenteil! Erst nach (und natürlich unbeeinflusst von) diesem Geschehen kommt die zweifellos schon längst vorhandene Sakralität der übrigen europäischen Könige deutlicher zum Vorschein und übernehmen die seit dem 10. und 11. Jahrhundert im slawischen Osten und im skandinavischen Norden entstehenden Herrschaften christlicher Könige diese Ideenwelt32 – und vor allem: Erst jetzt beginnt sich das Thaumaturgentum der englischen und französischen Könige allmählich zu entwickeln33 und die verdichtete Sakralität dieser Monarchen Gestalt anzunehmen. Hat sich die westeuropäische Königsidee auch grundsätzlich an den allgemein bekannten, aus der christlichen Spätantike stammenden Gedanken orientiert, weswegen die Kernelemente der mittelalterlichen Herrschersakralität gleichermaßen bei Königen wie Kaisern anzutreffen sind, so gewinnt sie für die Herrscher Englands und Frankreichs doch durch den Glauben an ihre Heilkraft eine ganz eigene Dimension (die das römisch-deutsche Kaisertum nie erlangte, weil es zwangsweise der imperialen Tradition verhaftet blieb und dadurch mit dem Papsttum auf vielen Feldern wiederholt in Konflikt geriet, was manche Entwicklung hemmte). Insgesamt aber lässt sich sagen, dass das mit Blick auf eine zunehmend rationalere Erfassung und Deutung der Welt geprägte Wort eines weiteren und besonders wichtigen Stichwortgebers der modernen Geschichtswissenschaft, nämlich Max Webers34, von der „Entzauberung der Welt“ nicht für das Königtum zutrifft. Auf keinen Fall markiert zudem das Ende des Mittelalters auch das Ende von religiöser Herrschaftsbegründung und religiösem Herrschaftsbezug, 30 Vgl. ERKENS, Der pia Dei ordinatione rex (wie Anm. 19), 92–98. 31 Vgl. Rudolf SCHIEFFER, Worms, Rom und Canossa (1076/77) in zeitgenössischer Wahrnehmung, Historische Zeitschrift 292 (2011), 593–612, bes. 607–611. 32 Vgl. dazu und zum folgenden ERKENS, Konvergenz und Divergenz (wie Anm. 29), 288 ff., und ERKENS, Vicarius Christi (wie Anm. 15), 33 Anm. 140, sowie Tore NYBERG, Les royautés scandinaves entre sainteté et sacralité, in: La royauté sacrée (wie Anm. 10), 63–69. 33 Vgl. Jacques LEGOFF, La genèse du miracle royale, in: Marc Bloch aujourd’hui. Histoire comparée et Sciences sociales. Textes réunis et présentés par Hartmut ATSMA et André BORGUIÈRE (Recherches d’histoire et sciences sociales 41), Paris 1990, 147–156. 34 Max WEBER, Die Wirtschaftspolitik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche, in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 9 1988 [erstmals 1920], 237–573, hier: 513.

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kurz: das Ende der Herrschersakralität. Diese lässt sich vielmehr noch bis weit in die Neuzeit hinein nachweisen35. Nicht Humanismus oder Reformation, sondern offenbar erst die Aufklärung ist zum Totengräber der Herrschersakralität geworden. Obwohl, und das sollte nicht übersehen werden, schon seit der Spätantike Argumentationsmuster bereitlagen, die dazu dienen konnten, die Idee sakraler Herrschaft zu negieren36. Bevor dies allerdings wirklich einzutreten vermochte, musste offenbar erst die ganze Gesellschaft in einen Prozess der Entsakralisierung eintreten und die Religion ihre gesellschaftliche Bedeutung verlieren. Aber auch das aufgeklärte Gedankengut brauchte lange, bis es sich restlos durchsetzte. Ist in England bereits 1714 die letzte Skrofelnheilung durch königliches Handauflegen vollzogen worden, so geschah dies erst 1825 in Frankreich, wo der Marquis de la Franquerie noch 1978 in Ausführungen über den „caractère sacré et divin“ des französischen Königtums die (wohl eher vereinzelte) Überzeugung hegte, „que, pour un Français, l’amour de Dieu, de la France et du Roi doit être un seul et même amour indissociable“, und diese Dreiheit dabei als eine Trinität minderen Ranges („trinité une, certes d’un rang inférieur à la Trinité Divine“) begriff37, während in England zumindest bis 1953 bei jeder Krönung die Salbung üblich geblieben ist, durch welche der Monarch oder die Monarchin „geheiligt“ wird (wie es im englischen Krönungsordo heißt), weswegen der Chronist der Times mit Blick auf diesen Akt auch noch 1953 einen höchsten sakramentalen Augenblick („supreme sacramental moment“) empfand38. Heute lehnt wohl die deutliche Mehrheit der von der europäischen Aufklärung geprägten Menschheit jegliche Vorstellung von einer eigenen Sakralität der Herrschenden ab. Aber die angeführten Beispiele belegen, wie lange Ideenreste der Herrschersakralität auch über den siècle de lumière hinaus fortexistierten und dass es sehr viel Zeit brauchte, bis deren Welt restlos vergangen war. Immanuel Kant, selbst kaum ein Anhänger religiöser Herrschaftslegitimierung, berief sich auf diese etwa 1795 aus Gründen der Herrscherparänese39; andere hingegen dürften 35 Vgl. ERKENS, Sakral legitimierte Herrschaft (wie Anm. 1), 16 f. 36 Vgl. ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), 64 f., 71 ff. und 198–208 (außer auf die hier angeführten Belege kann etwa auch auf die um 935 in königlicher Gefangenschaft, also in einer besonderen Konfliktsituation, entstandenen ‚Praeloquiorum libri VI‘ des Rather von Verona [ed. Peter L. D. REID, Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis XLVI A, Turnhout 1984, 3–196, bes. 106 (IV 2) und allgemein 77–141] verwiesen werden; zu den Hintergründen des eine gewisse Originalität besitzenden, am alttestamentlichen Vorbild orientierten Fürstenspiegels und dem besonderen Anlass seiner Entstehung vgl. Giacomo VIGNODELLI, Il problema della regalità nei Praeloquia di Ratherio di Verona, in: „C’era una volta un re …“. Aspetti e momenti della regalità da un seminario del dottorato in Storia medievale [Bologna, 17–18 dicembre 2003] [dpm quaderni dottorato 3], hg. v. Giovanni ISABELLA, Bologna 2005, 59–74, bes. 61 und 73). 37 Vgl. dazu ERKENS, Die Sakralität von Herrschaft (wie Anm. 1), 3, sowie – zum Ende der königlichen Skrofelnheilung – ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), 13 f. und 23. 38 Vgl. ERKENS, Vicarius Christi (wie Anm. 15), 2, sowie Ian BRADLEY, God Save the Queen. The Spiritual Dimension of Monarchy, London 2002, 73 und 83–93. 39 Vgl. ERKENS, Sakral legitimierte Herrschaft (wie Anm. 1), 18.

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sie noch im 19. Jahrhundert realer verstanden haben – nicht zuletzt die Verfechter eines monarchischen Legitimismus, die freilich vor allem auf das Schwinden der religiösen Legitimation von Herrschaft reagieren mussten, und auch (wen wird es überraschen?) Wilhelm II., der in seinem Ideeneklektizismus und seinem Schwanken zwischen Traditionalismus und Moderne eine sakrale Auffassung von seiner Würde entwickelte, fühlte er sich doch als das „auserwählte Instrument des Himmels“ und als „der von Gott berufene Vermittler zwischen Gott und seinen Untertanen“40. Eine solche Sakralisierung des Kaisertums an der Schwelle zum 20. Jahrhundert (oder sollte man eher ‚Resakralisierung‘ sagen?) traf keinesfalls nur auf Ablehnung, sondern durchaus auch auf das Wohlwollen der protestantischen Mittelschicht. Historische Kenntnisse, religiöses Empfinden und althergebrachte Gewohnheiten mögen dabei zusammengewirkt haben, letztlich aber zeigt sich vor allem (wie etwa auch 1825 bei der letzten Skrofelnheilung durch einen französischen König, der selbst Skepsis gegen sein wundertätiges Werk hegte, aber auf Vertrauen bei den Kranken stieß41), wie sehr die Auffassung von einem durch Gott beauftragten Herrscher, von einem in sakralen Bezügen stehenden Monarchen immer noch Resonanz zumindest in Teilen der Bevölkerung fand. Bemerkenswert, freilich auf ein wesentlich weniger modernes als das Deutsche Reich, auf ein von spürbar älteren Traditionen geprägtes Kaisertum bezogen, ist dabei die Reflexion, die der von Wehmut, Resignation und Nostalgie geprägte und den Untergang des Habsburgerreichs beklagende Josef Roth (1894-1939) in einer kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs spielenden Szene seines 1932 erschienenen Romans ‚Radetzkymarsch‘ dem Grafen Chojnicki in den Mund legt und dadurch die offenbar noch von manchen erkannte, wenn auch vielleicht nicht mehr gebilligte und sich ohnehin in starker Auflösung befindliche religiöse Konnotation der habsburgischen Kaiserwürde in Erinnerung ruft42: „Die Monarchie, unsere Monarchie, ist begründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, dass Gott die Habsburger erwählt hat, über soundso viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist seine K. u. K. Apostolische Majestät in Europa, keine andere wie er apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes“. Auch päpstlicherseits konnte, wie noch 1925 in der Enzyklika ‚Quas primas‘, der traditionelle Gedanke vertreten werden, dass „die Fürsten und die rechtmäßig gewählten Staatsmänner“ „nicht so sehr kraft eigenen Rechtes“ regierten, sondern „im Auftrag und an Stelle des göttlichen Königs“43. Erst nach dem zweiten Welt40 Christopher CLARK, Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, 235 und 87; vgl. für das Folgende auch ebd. 240 sowie grundsätzlich Thomas BENNER, Die Strahlen der Krone. Die religiöse Dimension des Kaisertums unter Wilhelm II. vor dem Hintergrund der Orientreise, Marburg 2001, bes. 357–364. 41 Vgl. ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), 14 f. 42 Vgl. ERKENS, Sakralkönigtum (wie Anm. 1), 1 f. 43 Vgl. Franz-Reiner ERKENS, Christkönig. Anmerkungen zur Patroziniumswahl der Kirche des Bergfrieds in Passau, Passauer Jahrbuch 49 (2007), 185–199, bes. 190, sowie den allgemeinen Überblick von Andreas KOSUCH, Abbild und Stellvertreter Gottes. Der König in

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krieg, offenbar auch diskreditiert durch den Gebrauch, den die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die (freilich nicht ausschließlich) als politische Religionen begriffen werden können44, von dem nachwirkenden Ideenhorizont religiöser Herrschaftslegitimierung zu machen verstanden und diesen dabei – virtuos auf der Klaviatur überkommenen und immer noch evozierbaren Gedankengutes spielend – etwa in Deutschland für einen ebenso verbrecherischen wie charismatischen Führer45 zu instrumentalisieren wussten, erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden die letzten Reste einer religiös-politischen, Gewalthaber in einen sakralen Schimmer tauchenden Ideenwelt weitgehend. Abschließend lässt sich deshalb festhalten: Herrschersakralität, verstanden als wissenschaftlicher Hilfsbegriff, der dazu dient, das Nahverhältnis von hauptsächlich vormodernen Herrschern zum Numinosen und die dabei eine Rolle spielenden Elementen terminologisch zu fassen und in ihrer Entwicklung zu verfolgen, Herrschersakralität ist offenkundig (auch wenn man ihre späten säkularen Ausläufer unberücksichtigt lässt) ein globales und epochenüberdauerndes Phänomen, das herrschafts-theoretischen Schriften des späten Mittelalters (Passauer Historische Forschungen 17), Köln 2011, 302–325. 44 Vgl. Eric VOEGELIN, Die politischen Religionen, München 1993 [erstmals Wien 1938]; Raymond ARON, L’avenir des religions séculières, Commentaire 8 (1985), 369–383 [erstmals 1944]; Markus HUTTNER, Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien (Schriftenreihe Extremismus & Demokratie 14), Bonn 1999; Hans MAIER, „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Zwei Konzepte des Diktaturvergleichs, in: Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs (Politik- und kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 16), hg. v. Hans MAIER, Paderborn 1996, 233– 250; Hans MAIER, ‚Politische Religionen‘. Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, in: Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs II (Politik- und kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 17), hg. v. Hans MAIER/Michael SCHÄFER, Paderborn 1997, 299–310. 45 Zur Debatte um Hitlers (wirkliches oder lediglich inszeniertes) Charisma vgl. etwa Ludolf HERBST, Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt/M. 2010; M. Rainer LEPSIUS, Max Weber, Charisma und Hitler, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 196 vom 24. VIII. 2011, S. N3, oder (zur strukturellen Dimension) Maurizio BACH, Die charismatischen Führerdiktaturen. Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen (Nomos Universitätsschriften 9), Baden-Baden 1990, und DERS., Staat und Weltkrieg wurden aus dem Stegreif geführt, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 285 vom 7. XII. 2011, S. N3 (dieser Artikel ist ein Auszug aus Maurizio BACH/Stefan BREUER, Faschismus als Bewegung und Regime. Italien und Deutschland im Vergleich, Wiesbaden 2010, bes. 243–312), sowie Joachim C. FEST, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1973, etwa 610 f., 713 f., und allgemein auch Ian KERKSHAW, Adolf Hitler. 1889–1936, Stuttgart 1998, etwa 24. Max Webers Lehre von den drei legitimen Herrschaftsformen, von denen die charismatische Herrschaft und das Charisma selbst die moderne Geisteswissenschaft offenbar am meisten fasziniert (vgl. etwa den Sammelband, den Pavlina RYCHTEROVÁ u. a. 2008 herausgegeben haben: Das Charisma. Funktionen und symbolische Repräsentationen [Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 2]) und die natürlich auch hinter der Frage nach Hitlers Charisma steht, ist für Deutung und Erklärung des sakralen Königtums allerdings kaum verwendbar: Vgl. dazu ERKENS, Sakral legitimierte Herrschaft (wie Anm. 1), 22.

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aus wechselnden Perspektiven und mit unterschiedlichen Erkenntniszielen betrachtet und dem sich auf verschiedene Weise genähert werden kann. Als irrational sollte es ebensowenig verstanden werden46 wie als reine Legitimationsstrategie, entsprach es doch dem Denkhorizont einer religiös geordneten Welt. Seine historische Bedeutung lässt sich dabei kaum im punktuellen Zugriff, sondern, wenn überhaupt, allein mit breitem Blickwinkel und entsprechender Tiefenschärfe beschreiben. Eine ebenso wichtige wie die fallbezogene ist daher die epochenübergreifende Betrachtung des gesamten Phänomens oder einzelner seiner Elemente, erhellt sie doch nicht nur Kontinuitäten und verdeutlicht, wie sich Vorstellungen von Epoche zu Epoche formen und gestalten, umgestalten und entwickeln, ohne sich dabei völlig zu verflüchtigen, sondern hilft zugleich auch, (vermeintlich) jüngere Erscheinungen und ihre Wirkung aus der Tiefe ihrer Wurzeln heraus leichter und umfassender zu verstehen und verständlich zu machen – denn: Jede Epoche ist, wie Leopold von Ranke lehrt, unmittelbar zu Gott, aber es gilt auch, dass alle Geschichte Geschichte der Gegenwart ist47.

46 So František GRAUS, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit, Praha 1965, 316 Anm. 73, und dazu ERKENS, Herrschersakralität (wie Anm. 1), 33. 47 Vgl. Franz-Reiner ERKENS, Moderne und Mittelalter oder Von der Relevanz des praktisch Untauglichen. Ein Plädoyer für das historische Interesse an älteren Epochen, Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 4/2 (1999), 95–122.

MARTERTODT IN HELVETISCHEN LANDEN – DIE HEILIGEN FELIX UND REGULA IM MITTELALTERLICHEN UND FRÜHNEUZEITLICHEN ZÜRICH Andrea Beck und Michele C. Ferrari

Ein Arm des Heiligen Eventius, ein Knochen des Heiligen Martin, ein Stein aus Christi Grab, ein Stück von Moses’ Stab, Blut des Heiligen Stephan, ein Fetzen des Kleides des Heiligen Laurentius, und dazu noch Knochen von Quintinus, Symphorianus, Chrysantus, Georgius, Anastasius, Leudegarius, Agatha und Eugenia, Valentinus, Mauritius dem Thebäer, Anatholia, Walburga. Das sind nur einige der Heiligenreliquien, die spätestens im 11. Jahrhundert in der Stiftskirche Aschaffenburg aufbewahrt und verehrt wurden1. Aschaffenburg erfreute sich der Gegenwart von über 60 Heiligen und ihren Überresten, die in den verschiedenen Altären der Kirche verteilt waren, aber einen richtig anziehungskräftigen Heiligen besaß man nicht, und die Pilgerfahrt zur unterfränkischen Stadt blieb vielleicht deswegen eine bescheidene Sache. Andere konnten indes mit glanzvolleren Überresten prunken: Commençons donc par Jésus-Christ duquel, pource qu’on pouvait pas dire qu’on eût le corps naturel (…), on a amassé, au lieu, mille autres fatras pour suppléer ce défaut. Combien encore qu’on n’a point laissé échapper le corps de Jésus-Christ sans en retenir quelque lopin. Car, outre les dents et les cheveux, l’abbaye de Charroux, au diocèse de Poitiers, se vante d’avoir le prepuce, c’est-à-dire la peau qui lui fut coupée à la circoncision. Je vous prie, dont est-ce que leur est venue cette peau? L’évangéliste saint Luc recite bien que notre Seigneur Jésus a été circoncis, mais que la peau ait été serrée pour la réserver en relique, il n’en fait point de mention. Toutes les histoires anciennes n’en disent mot. Et par l’espace de cinq cents ans il n’en a jamais été parlé en l’Eglise chrétienne. Où est-ce donc qu’elle était cachée, pour la retrouver si soudainement? Fangen wir an mit Jesus Christus. Von ihm konnte man nie behaupten, man habe seinen natürlichen Leib (...). Also häufte man viel anderes Zeug an dessen Stelle, um die Lücke zu füllen. Trotzdem ließ man sich den Leib Christi nicht entgehen, ohne ein paar Stückchen zurück zu behalten. Denn abgesehen von Zähnen und Haaren, rühmt sich zum Beispiel die Abtei von Charroux in der Diözese Poitiers, die Vorhaut Christi zu besitzen, die ihm bei der Beschneidung entfernt wurde. Ich bitte Sie, woher kam denn zu den Mönchen diese Vorhaut? Der Evangelist Lukas erzählt in der Tat, dass unser Herr beschnitten wurde, aber dass man die Vorhaut aufbewahrte, um daraus eine Reliquie zu machen, davon ist nirgends die Rede bei ihm. Alle ursprünglichen (alten) Berichte schweigen darüber, und fünf Jahrhunderte lang

1

Vgl. Notae Aschaffenburgenses, ed. Harry BRESSLAU in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores [in folio] 30/2, Leipzig 1934, 757–760, hier: 758, c. 3.

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Andrea Beck und Michele C. Ferrari wusste niemand etwas davon in der Kirche. Wo hat man sie denn versteckt, dass sie dann so plötzlich auftauchte?2

Wer sich hier echauffiert, ist der gestrenge Johannes Calvin († 1564), der in der Abhandlung über die Reliquien von 1543 seine satirische Ader voll ausleben konnte. Verehrung und Kult für die Überreste von Menschen lehnte er kategorisch ab und hielt Reliquien aller Art weitgehend für eine moquerie, für Schwindel und Fopperei also, die schlaue Kleriker einsetzten, um die Kirchenfinanzen auszubessern. Für überbordende Sammlungen, wie sie in Charroux oder in Aschaffenburg aufbewahrt wurden, hatte er nur Spott und Häme. Die Kritik gegen übertriebene Form des Heiligenkultes, sowohl was die Bilder als auch was die Reliquien angeht, ist indes keine Erfindung der Reformatoren. Man braucht hier nur auf Boccaccio († 1375) als den bekanntesten Autor hinzuweisen, der schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts lustige Geschichten von fetten Mönchen zu erzählen wusste, welche ihre blauäugigen Zeitgenossen hereinlegten. Besonders gelungen ist die Geschichte von Frate Cipolla. Dieser pflegte eine Papageienfeder zu zeigen und sie als eine Feder der Flügel des Erzengels Gabriel zu verkaufen. Da ersetzten ihm zwei Witzbolde die Feder mit Kohle. Bruder Cipolla staunte nicht wenig, als er das Kästchen aufmachte, doch fing er sich sofort und erklärte den verdutzten Zuhörern, das sei just jene Kohle, auf welcher der Heilige Laurentius geröstet wurde. Der allgemeine Jubel des Volkes beschämte die Reliquiendiebe, die ihm schließlich die Feder zurückgaben3. Es besteht kein Zweifel, dass der Kampf der Reformatoren gegen den Reliquienkult eine andere Qualität besaß als die gelegentlichen Zweifel, die gegenüber Einzelreliquien und deren zweideutige Besitzer gehegt wurden. Sie gingen aufs Ganze, verneinten den Nutzen einer Vermittlung zwischen Gott und Menschen über Materielles und schufen somit ein Christentum, dem ein neues Modell von Kommunikation zwischen Dies- und Jenseits zugrunde liegt: Die Unmittelbarkeit des Glaubens benötige in einer Religion des Geistes keine Fürsprecher und schon gar keine heiligen Knochen, welche durch Wunder die Macht Gottes bezeugten. Das stellte geradezu eine radikale Abwendung von den theologischen Meinungen und den Kultgewohnheiten dar, wie sie sich seit der Spätantike etabliert hatten. Denn dadurch wurden die Hauptzüge des Sakralen abgeschafft, nämlich Präsenz und Differenz: – die Präsenz des Heiligen äußert sich über das sinnlich Wahrnehmbare und spezifisch im Heiligenkult über das Körperliche, das als Medium wirkt und trotz seines kontingenten, weil vergänglichen Charakters auf die Evidenz seiner Exzeptionalität hinweist; – die Exzeptionalität des Heiligen markiert ihrerseits die Differenz, die für seinen sakralen Charakter konstituierend ist: der heilige Leib ist keine gewöhnliche Leiche, und ihre Ausstrahlung führt zur Sakralisierung des ihr umgeben2

3

Jean CALVIN, Traité des reliques. Suivi de l’excuse à Messieurs les Nicodémites. Introduction et notes par Albert AUTIN (Collection des chefs-d’œuvre méconnus), Paris 1921, 100 f. Übersetzung von Michele C. Ferrari. Giovanni BOCCACCIO, Decameron, hg. v. Vittore BRANCA, 9. Aufl., Mailand 2008, 539–548.

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den Raumes, der zumindest in der westlichen Tradition sekundär ist gegenüber dem präsenten Leib (kein Raum ist somit sakral per se). Es ist dementsprechend nur konsequent, dass auch in Zürich der altehrwürdige Kult der Heiligen Felix, Regula und ihres Gefährten Exuperantius durch Huldrych Zwingli († 1531) aufgehoben und bekämpft wurde4. Mit der Aufhebung des Altars im Großmünster schien somit ein Kapitel der Zürcher Geschichte endgültig abgeschlossen zu sein5. Umso überraschender kommt uns nicht weniger als den damaligen Lesern die These des Jesuiten Jakob Gretser († 1625) aus Ingolstadt vor, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts behauptete, die Verehrung der beiden Heiligen Felix und Regula sei im zeitgenössischen Zürich nach wie vor lebendig. Sie sei sogar der beste Beweis dafür, dass das katholische Zürich den zwinglianischen Sturm über sich habe ergehen lassen, ohne die Grundlagen seines Glaubens zu verändern. Zürich halte an der Verehrung von Felix und Regula fest, obwohl Zwingli ihre Ruhestätte aufgebrochen und ihre Knochen „in den Fluß geworfen“ habe6. Um den Hintergrund dieser Polemik, die Zürich erschütterte, und ihre Reichweite zu verstehen, muss auf die tiefe Verwurzelung des Kultes der beiden Heiligen Felix und Regula in Zürich eingegangen werden. Wir blicken dafür zuerst in die Spätantike. Die Ereignisse erzählt ein lateinischer Lebensbericht, eine Passio, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vor der Mitte des 8. Jahrhunderts verfasst wurde7. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts folgten demnach die im römischen Heer dienenden Geschwister Felix und Regula einem Rat ihres christlichen Heerführers Mauritius und trennten sich von ihrer Legion, um einer drohenden Verhaftung durch den römischen Kaiser Maximianus zu entgehen. Diese Legion, aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft aus dem oberägyptischen Theben, heute Luxor, «Thebäische Legion» genannt, hatte sich geweigert, den römischen Göttern zu opfern und gegen Christen zu kämpfen. Im Mittelalter bezogen sich mehrere Legenden auf diese Thebäische Legion, und die Reliquien des Heiligen Mauritius waren überall begehrt (sogar Aschaffenburg, wie bereits erwähnt, besaß zum Beispiel eine solche)8. 4

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Die Gestalt des Exuperantius taucht allerdings erst im 13. Jahrhundert neben den beiden anderen Heiligen auf und wird im Folgenden außer Betracht gelassen. Andrea Beck widmet sich dieser Gestalt in einem Beitrag auf einer Erlanger Internationalen Tagung über „Saints and the City“, deren Veröffentlichung noch für 2013 vorgesehen ist. Vgl. Beitrag Carola Jäggi in diesem Band, 56–63. Vgl. Jakob GRETSER, Admonitionis de bibliis Tigurinis ad exteros defensio, in: DERS., Opera Omnia 13, Ratisbonae 1739, 241–260, hier: 256 f. Ediert ist die Passio von Iso MÜLLER, Die frühkarolingische Passio der Zürcher Heiligen, Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 65 (1971), 132–187, hier: 135–144. Über die Thebäische Legion nennen wir nur: Denis VAN BERCHEM, Le martyre de la Légion Thébaine. Essai sur la formation d’une légende (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 8), Basel 1956; Mauritius und die Thebäische Legion/Saint Maurice et la Légion Thébaine. Akten des Kolloquiums in Freiburg/St-Maurice/Martigny (17–20 September 2003), (Paradosis 49), hg. v. Otto WERMELINGER u. a., Fribourg 2005; Beat NÄF, Städte und ihre

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Felix und Regula gelangten nach der Trennung von Mauritius im Wallis zu dem am Fluss Limmat gelegenen Kastell Turicum – dem heutigen Zürich – wo sie ihr Lager aufschlugen und sich der Verkündigung des Evangeliums widmeten, bis die Häscher des Kaisers sie dort entdeckten. Deren Anführer Decius verhörte die beiden Geschwister, die sich jedoch weiterhin standhaft weigerten, den Göttern zu opfern. Daran konnte auch Folter in Form von Anbinden an glühende Eisenräder oder Trinken von siedend heißem Blei nichts ändern – die beiden überstanden dies und blieben ihrem Glauben treu. Schließlich befahl Decius, ihnen die Köpfe abzuschlagen. Mit einem Gebet auf den Lippen starben die Geschwister, doch sofort nach der Enthauptung geschah ein Wunder: Die Körper der beiden erhoben sich, nahmen die abgeschlagenen Häupter in ihre Hände und trugen sie vom Ufer der Limmat, dem Ort des Martyriums, 40 Schritte bergauf zu der Stelle, wo die Geschwister begraben wurden. In mehrfacher Hinsicht weist der Text auf die Exzeptionalität von Felix und Regula: ihr Ursprung aus Theben, ihr Festhalten am wahren Glauben trotz grausamer Folter, und natürlich die Tatsache, dass sie Kephalophoren waren, „Träger ihres Kopfes“ also, was uns indes in Berichten aus dem 6. bis 8. Jahrhundert mehrmals in Europa begegnet (Farbtafel 1)9. Diese Passio der Zürcher Heiligen unterscheidet sich aber in einem Punkt von den unzähligen Berichten über Märtyrer und Heilige, die seit der Spätantike verfasst wurden. Überraschend liest man am Ende des Textes: Explicit sanctorum passio, qui in sanctam agones ad sancto Florencio monacho per spiritum sancto est reuelata. Celebrantur autem festa eorum III idus septembribus. Es endet die Leidensgeschichte der Heiligen, welche in heiligem Ringen dem heiligen Mönch Florentius durch den Heiligen Geist offenbart worden ist. Ihr Fest aber wird am dritten Tag vor den Iden des September [11. September] gefeiert10.

Es bleibt ungeklärt, wer dieser Florentius war. Die Wiedergabe eines Passionsberichtes als Traumerfahrung ist, soweit wir sehen können, einzigartig in der mittelalterlichen Hagiographie. Vielleicht nannte sich hier der Autor selbst. Vielleicht war jener Florentius aber auch nur die Quelle für den eigentlichen, anonym geMärtyrer. Der Kult der Thebäischen Legion (Paradosis 51), Fribourg 2011. Im Mittelalter beobachtet man auch sonst die Entstehung hagiographischer Clouds, deren Dynamik auf die Expansion narrativer Muster basiert. Auf dieses Phänomen soll durch Michele C. Ferrari an anderer Stelle eingegangen werden. 9 Vgl. hierzu allgemein Gabriela KASTER, Heilige Kephalophoren, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 7, Rom u. a. 1990 (Nachdruck von 1974), 307 f. mit weiterführender Literatur. Vgl. auch zuletzt die allerdings nicht immer überzeugende Monographie von Regula DI NATALE, Das Kephalophoren-Wunder in churrätischen Viten. Placidus von Disentis – Gaudentius von Casaccia – Victor von Tomils – Eusebius vom Viktorsberg (Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 14), Chur 2005. 10 MÜLLER, Passio (wie Anm. 7), hier: 144, c. IX. Deutsche Übersetzung der Passio von Silvan MANI, Die Leidensgeschichte der Heiligen Felix und Regula, in: Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula. Legenden, Reliquien, Geschichte und ihre Botschaft im Licht moderner Forschung, hg. v. Hansueli ETTER u. a., Zürich 1988, 11–18, hier: 18.

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bliebenen Verfasser, wie Iso Müller meinte11, wodurch ein älterer Bericht über die beiden Kopfträger bezeugt wäre (was indes unwahrscheinlich anmutet). Vielleicht muss man aber in eine andere Richtung denken. Indem man vorgab, dass die Geschichte der Zürcher Blutzeugen wie ein heiliges Geheimnis verkündet wurde, wurde die Geschichte ihres heldenhaften Todes über das Onirische erhöht. Demnach wäre der geheimnisvolle, mit einem sprechenden Namen versehene Florentius („der Aufblühende“) eine Art neuer Johannes, dem das wahre Wort eröffnet wurde12. Die frühe Passio konnte dadurch als authentischer, sakral erhöhter Bericht zur textuellen Keimzelle einer Glaubensgemeinde werden, die in den folgenden Jahrhunderten sich immer wieder auf diese Narration berief, um ihre Identität zu umreißen und ihre Handlungen zu rechtfertigen13. Die Passio gestaltete auch den Raum der Verehrung. In ihr wurden die wichtigsten Orte erwähnt, an denen die Episoden ihres Martyriums stattfanden. Der Text strukturierte den sakralen Raum, in dem die Heiligen ihre Präsenz zeigten. Die Enthauptung fand am Ufer der Limmat statt, und etwa dort entstand bereits in ottonischer Zeit die Zürcher Wasserkirche, wenngleich erst im Zeitraum von 1257 bis in die 1280er Jahre hinein diese Kirche auch wirklich mit dem Ort der Enthauptung gleichgesetzt wurde14. Die erwähnte, 40 Schritt entfernte Begräbnisstätte, die sich die Märtyrer ausgesucht und hierdurch ausdrücklich zum Ort ihres Kultes gemacht hatten, stand hingegen schon in karolingischer Zeit fest: sie befand sich dort, wo sich heute das Großmünster über das rechte Limmatufer erhebt (Abb. 1)15.

11 Vgl. MÜLLER, Passio (wie Anm. 7), hier: 180–185. 12 Es ist wohl kein Zufall, dass 1000 Jahre später Johann Caspar Lavater in einer aufsehenerregenden Rede über die beiden Heiligen ihr Erscheinen im Traum darstellte, vgl. Michele C. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität in Zürich 800–1800, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (Beiträge zur Hagiographie 6), hg. v. Berndt HAMM u. a., Stuttgart 2007, 261– 274, hier: 261 f. 13 Für den analytisch günstigen Begriff einer textual community vgl. Brian STOCK, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983. 14 Vgl. Christine BARRAUD WIENER/Peter JEZLER, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft in den Festtagsprozessionen des Zürcher Liber Ordinarius, in: Der Liber ordinarius des Konrad von Mure (Spicilegium Friburgense 37), hg. v. Heidi LEUPPI, Freiburg 1995, 127–156, hier: 128 und 154 f.; Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3, Die Stadt Zürich, Teilband 1 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 110), hg. v. Regine ABEGG u. a., Bern 2007, 24 und 89; Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 1, Die Stadt Zürich, Teilband 1: Stadt vor der Mauer, mittelalterliche Befestigung und Limmatraum (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 94), hg. v. Christine BARRAUD WIENER/Peter JEZLER, Basel 1999, 208 f. 15 Vgl. Daniel GUTSCHER, Das Grossmünster in Zürich. Eine baugeschichtliche Monographie (Beiträge zur Kunstgeschichte der Schweiz 5), Bern 1983; ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 14), 35–191. Heidi LEUPPI, Das Grossmünster und sein Grabheiligtum Felix und Regula in Zürich von seinen Anfängen bis ins 13. Jahrhundert, in: Der Liber ordinarius des Konrad von Mure (Spicilegium Friburgense 37), hg. v. Heidi LEUPPI, Freiburg 1995, 41–57.

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Ein Ort wird in der Passio nicht genannt, obwohl dort den Heiligen bereits früh Verehrung zuteilwurde, nämlich das Fraumünster, das 853 von König Ludwig dem Deutschen als Damenstift links der Limmat, gleichsam dem Großmünster gegenübergestellt, gegründet worden war. Zur Weihe des Fraumünsters im Jahr 874 wurden die vorhandenen Reliquien von Felix und Regula aufgeteilt und einige davon ins Damenstift transferiert16. So wurde ein weiterer Kultort geschaffen.

Abb. 1: Ansicht Zürichs im 13. Jahrhundert, bearbeitet nach Der Liber ordinarius des Konrad von Mure (Spicilegium Friburgense 37), hg. v. Heidi LEUPPI, Freiburg 1995, 501, Abb. 5.

16 Vgl. GUTSCHER, Grossmünster (wie Anm. 15), 41 f. Zum Fraumünster vgl. auch Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 2, Die Stadt Zürich, Teilband 1 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 99), hg. v. Regine ABEGG/Christine BARRAUD WIENER, Bern 2002, 25–137.

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Zürich konnte sich als Pilgerort nie mit den großen Zentren Europas messen: da man weder Zähne noch Vorhaut Christi besaß, war die Konkurrenz anderer Orte übermächtig, auch wenn wir wissen, dass Reliquien der Zürcher Heiligen es schon im 9. Jahrhundert bis Sens in Burgund schafften17. Dessen ungeachtet war das Großmünster die wichtigste Kirche in der Diözese neben dem Konstanzer Münster, und Felix und Regula sowie später Exuperantius, der die Trias vervollständigte, verfügten als Märtyrer, die für ihren Glauben gestorben waren und deren Leiber man vollständig besaß, über einen erhabenen Status. So konnte ihr Kult gedeihen, was sich auch in den jährlichen Prozessionen innerhalb der Stadt äußerte, die von fern und nah besucht wurden. Doch obwohl die drei Kultorte – Großmünster, Wasserkirche und Fraumünster – nahe beieinander liegen und nachweislich spätestens im Hochmittelalter über eine Limmat-Brücke verbunden waren, wurden sie von den Chorherren des Großmünsters nie zusammen beziehungsweise nacheinander aufgesucht18. Dies kann man im sogenannten Liber Ordinarius nachlesen, einem Handbuch zur Zürcher Gottesdienstordnung, das um 1260 vom Chorherrn und Kantor Konrad von Mure († 1281) redigiert und erst kurz vor der Reformation durch eine Neufassung im Jahre 1520 ersetzt wurde19. Die Stiftsdamen dagegen besuchten wenigstens einmal im Jahr alle drei Kultorte und zwar am Mittwoch Rogate, dem Tag vor Christi Himmelfahrt – nicht etwa am 11. September, dem Heiligentag von Felix und Regula. Aufgrund des für die Prozession gewählten Datums ist in diesem Fall eher davon auszugehen, dass die Nonnen einfach nur der benachbarten Lage wegen die beiden anderen Kirchen besuchten, nicht jedoch in erster Linie dem Kult der beiden Märtyrer nachgingen20. Den kürzeren Weg zwischen Großmünster und Wasserkirche aber, den die beiden Kopflosen beschritten haben sollen, wurde auch von Angehörigen des Großmünsters gegangen, zum Beispiel während der Vesper am 10. September, mit der das Felix-und-Regula-Fest eingeleitet wurde21: Que [processio] fit per maiorem portam ecclesie et descendendo per gradus torture ad Aquaticam.

17 Vgl. Ernst Alfred STÜCKELBERG, Geschichte der Reliquien in der Schweiz (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 1), Zürich 1902, XV und 309. 18 Vgl. BARRAUD WIENER/JEZLER, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft (wie Anm. 14), hier: 132 und 154. 19 Der Liber ordinarius des Konrad von Mure (Spicilegium Friburgense 37), hg. v. Heidi LEUPPI, Freiburg 1995. 20 Vgl. BARRAUD WIENER/JEZLER, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft (wie Anm. 14), hier: 132 und 154. 21 Vgl. BARRAUD WIENER/JEZLER, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft (wie Anm. 14), hier: 129 und 154; ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 14), 64 f.

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Andrea Beck und Michele C. Ferrari Diese [Prozession] führt durch das Hauptportal der Kirche und über die sogenannte Martertreppe hinab zur Wasserkirche22.

Dies war übrigens die einzige Prozession der Chorherren zur nahegelegenen Wasserkirche, abgesehen von der bereits erwähnten am Mittwoch vor Christi Himmelfahrt, die teilweise zusammen mit den Stiftsdamen begangen wurde. Die Grabstätte der beiden Heiligen, die in der sogenannten Zwölfbotenkapelle im südlichen Seitenschiff des Großmünsters – also im eigenen Hause – gelegen war, wurde dagegen zu jeder anderen Vesperprozession im Kirchenjahr beehrt. Am Palmsonntag und am Mittwoch nach Pfingsten wurden die Heiligen in ihren Reliquiaren selbst durch die Stadt getragen, wo auf dem Lindenhof dann die Messe zelebriert wurde23. Die Verehrung der beiden Heiligen gliederte somit in doppelter Weise das sakrale Zürich im Mittelalter: – auf der Zeitebene, weil die liturgischen Handlungen, die mit ihnen in vielfältiger Weise verbunden waren, das Jahr strukturierten; – performativ im Raum, indem die Stadt über mehrere Kultorte, die an die Heiligen erinnerten, verfügte, so dass sich die Stadt um diese Achse orientieren konnte. Eine neue Situation ergab sich, als die Reformation in Zürich Einzug hielt. Treibende Kraft war dabei ab 1519 Huldrych Zwingli, der als Antistes am Großmünster tätig war. Zwingli kam zwar als einfacher Prediger von Einsiedeln nach Zürich, war aber ein hochgebildeter Intellektueller, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts in den einschlägigen Kreisen als Humanist gefeiert wurde. Er bezog sich wie die anderen Reformatoren auf die Heilige Schrift alleine und brach mit den damals gültigen Bräuchen und Vorschriften wie Fastengeboten, Zölibat, Wallfahrt, und natürlich Bilderverehrung. Zwingli lehnte den Heiligenkult ab, da die Interzession der Heiligen keine biblische Grundlage habe. Da die Verehrung der Heiligen nach herkömmlichen Brauch oft in Verbindung mit Bildfrömmigkeit auftrete, sei die akute Gefahr der Idolatrie, der Bilderanbetung, gegeben. Der Kult von Heiligen als interagierende

22 Liber ordinarius (wie Anm. 19), 400, § 1364 und dazu BARRAUD WIENER/JEZLER, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft (wie Anm. 14), hier: 129; Übersetzung von Andrea Beck. Vgl. ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 14), 84. 23 Zu den Prozessionen vgl. BARRAUD WIENER/JEZLER, Liturgie, Stadttopographie und Herrschaft (wie Anm. 14), hier: 152–155. ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 14), 83 f. und 104–108; Peter JEZLER, Die Desakralisierung der Zürcher Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius in der Reformation, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Peter DINZELBACHER/Dieter R. BAUER, Ostfildern 1990, 296– 319, hier: 308; Thomas MAISSEN, Die Stadtpatrone Felix und Regula. Das Fortleben einer Thebäerlegende im reformierten Zürich, in: Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne (Beiträge zur Hagiographie 5), hg. v. Dieter R. BAUER u. a., Stuttgart 2007, 211–227, hier: 213.

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Vermittler entferne zudem die Gläubigen von Christus selbst24. Zwingli verneinte, dass die Exzeptionalität der Glaubenszeugen, die sich als Verkünder des Evangeliums hervortaten und zum Teil sogar den Martertod auf sich nahmen, auf sinnlich erfahrbare Objekte übertragbar sei. Die soziale Dimension der Heiligenverehrung spielte in diesem kultkritischen Diskurs keine Rolle, denn es ging in erster Linie um die persönliche Heiligung des Einzelnen und nicht um den Zusammenhalt der Gemeinde als orthopraktisch handelnde Gruppe. In diesem Zusammenhang schreibt er in seinem Kommentar über die wahre und falsche Religion: Nunc, qum omnes ad hoc intenti fuimus, ut sancta potius attrectaremus, aut circum nos haberemus, quin palam dicam, sancta faceremus, nostra virtute scilicet, quae fortasse sancta non erant (...), quam ut ipsi sancti fieremus, factum est, ut lignum, lapides, terram, pulverem, soleas, vestes, annulos, galeas, gladios, cingula, ossa, dentes, pilos, lac, panem, quadras, tabulas, vinum, cultros, amphoras et quicquid unquam attrectarunt pii homines, adoraverimus amplectendo, osculando; et quod stultissimum erat, nos plane beatos existimabamus, si quid talium solummodo aspexissemus. (...) Veram autem pietatem (...) sic deseruimus (...). Statt selber heilig zu werden, waren wir alle vielmehr darauf bedacht, heilige Dinge entweder zu betasten oder um und bei uns zu haben, ja, um offen zu reden, [wir waren eifrig bestrebt], durch unsere eigene Kraft Dinge heilig zu machen, die vielleicht gar nicht heilig waren (...) Die Folge war, dass wir Holz, Stein, Erde, Staub, Schuhe, Kleider, Ringe, Helme, Schwerter, Gürtel, Knochen, Zähne, Haare, Milch, Brot, Teller, Tische, Wein, Messer, Krüge und was je nur fromme Menschen angerührt hatten, angebetet, umfangen und geküsst haben. Und was das Albernste war: wir schätzten uns geradezu selig, wenn wir derartige Dinge nur schon angeschaut hatten. (...) Die wahre Frömmigkeit aber (...) haben wir so völlig fahren lassen (...)25.

Der Reformator setzte für Zürich seine Ansichten mit Hilfe des städtischen Rates schrittweise um. Ab Dezember 1523 durften keine Prozessionen mehr durchgeführt werden und Altartafeln mussten geschlossen bleiben. Dies hatte auch zur Folge, dass die heiligen Reliquien in ihren Schreinen in der Kirche blieben und ihr Wirken nicht wie früher bei einer Prozession durch die Stadt oder bei einer Zurschaustellung im Chorraum zum Tragen kommen konnte. Das schränkte die Wirkung der Reliquien stark ein26. Im Lauf des nächsten Jahres, 1524, traf der Stadtrat weitere Entscheidungen, zum Beispiel mussten Heiligenbilder nunmehr gänzlich entfernt werden. Zwingli, der sich selbst als Kunstliebhaber bezeichnete, konnte Bilder als realen oder po-

24 Vgl. JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 297. Dort wird weiter verwiesen auf Pamela BIEL, Personal Conviction and Pastoral Care: Zwingli and the Cult of Saints 1522–1530, Zwingliana 16 (1985), 442–469. 25 Huldreich ZWINGLI, De vera et falsa religione commentarius, in: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke 3 (Corpus Reformatorum 90), hg. v. Emil EGLI u. a., Leipzig 1914, 590–912, hier: 774 f. Deutsche Übersetzung aus: Zwingli, der Theologe. 2. Teil, Kommentar Huldrych Zwinglis über die wahre und falsche Religion (Zwingli Hauptschriften 10), hg. v. Fritz BLANKE, Zürich 1963, 59 f. 26 Vgl. JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 302. Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte 1, hg. v. Johann Jakob HOTTINGER/Hans Heinrich VÖGELI, Frauenfeld 1838, 160 f.

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tenziellen Gegenstand von Kulthandlungen nicht zulassen. Wiederum heißt es im Kommentar über die Wahre und falsche Religion: Quod autem quidam dicunt: „Imaginibus hominem doceri, ac ad pietatem moveri“, de suo faciunt. Nusquam enim Christus hunc docendi modum docuit, neutiquam obmissurus, si profuturum esse praevidisset. Wenn aber etliche sagen: „Durch die Bilder wird der Mensch belehrt und zur Frömmigkeit angeregt“, so reden sie das aus ihrem eigenen Dünken. Denn nirgends hat Christus diese Unterrichtsweise gelehrt; er hätte sie sicher nicht übergangen, wenn er ihren künftigen Nutzen vorausgesehen hätte27.

Um eine geordnete Beseitigung der Bilder durchzuführen, wurden vom 20. Juni bis 2. Juli 1524 die Kirchen der Stadt geschlossen. Diese Anordnung betraf auch die Begräbnisstätte von Felix und Regula. Wahrscheinlich wurden während dieser Kirchenschließung auch die berühmten Tafelgemälde von Hans Leu dem Älteren aus der Zwölfbotenkapelle des Großmünsters in die Sakristei gebracht. Sie zeigten das Martyrium von Felix und Regula und haben sich nur teilweise erhalten: Man hatte die Tafeln beschnitten, die Szenen des Martyriums übermalt und so war nurmehr lediglich eine Stadtansicht Zürichs zu erkennen28. Bei jener Räumungsaktion, die für die Gläubigen eine große und vor allem visuell sofort begreifbare Veränderung bedeutete, wurde auch der Felix-und-Regula-Schrein des Großmünsters aus der Zwölfbotenkapelle in die Sakristei gebracht. Die zuvor mit der Geschichte der Geschwister bemalten Kapellenwände wurden übertüncht29. Es blieben allein ein Felix-und-Regula-Altar sowie Sarkophage mit Teilen der Gebeine in der Kapelle – die restlichen Gebeine befanden sich ja im eben genannten Reliquienschrein und im Fraumünster. Doch schon ein halbes Jahr später, genauer gesagt am Montag, 12. Dezember 1524, wurden auf Geheiß Zwinglis die Gräber abgetragen30. Zwinglis Nachfolger im Amt als Antistes, Heinrich Bullinger († 1575), blickte Mitte des 16. Jahrhunderts auf die Beseitigung der Reliquien aus dem Großmünster zurück: Zuerych zum Muenster warend Saerch, die man nampt der Seligen marterer, Felicis vnd Regulae. Vnd hats der gemein Mensch darfuer, die Coerpel der seligen marterer werind darinn behallten vnd begraben. Dieselben hieß ein Ersammer radt vnd die Burger, ouch diser zyt, imm Junio, dannen, vnd vß der kylchen thuon, vnd so ettwas gebeins darinn were, eerlich vnd still vergraben, oder in das Beinhuß (daß domalen noch was) heymlich zerstroewen. Do man aber veber die Saerch kam, vnd sy hinwaeg thet, fand man ein wenig gebeins darinn, vnd nitt die gantzen lib oder gebein der seligen marterer, ouch Kolen, Ziegelstein, vnd Haselnuß 27 ZWINGLI, De vera et falsa religione (wie Anm. 25), hier: 900 f. Deutsche Übersetzung: BLANKE, Zwingli der Theologe (wie Anm. 25), 265. 28 Die Bilder befinden sich heute im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich, Inv. AG–7.1– 3; vgl. dazu JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 299–303; ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 14), 106–108; MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 211–212. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Carola Jäggi, Farbtafeln 10 und 11. 29 Vgl. JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 303. 30 ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 14), 129; JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 303.

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mitt einem loechli./Welches ich hab vß dem Mund H. Heinrychen Vtingers, der Kylchen Custer, der ouch das gebein vß dem Sarch genommen, vnd es eerlich bestattet hat. Im Zürcher Großmünster standen Särge der heiligen Märtyrer Felix und Regula, und man dachte, die Körper der Heiligen ruhten darin. Der ehrsame Rat und die Bürger ließen nun zu jener Zeit die Särge aus der Kirche schaffen. Wenn Gebeine darin seien, so sollten diese vergraben oder heimlich ins Beinhaus gebracht werden. Als man aber die Särge öffnete, fand man nur wenig Gebeine darin und nicht den ganzen Leib, sondern auch Kohle, Ziegelsteine und Haselnüsse. Dies habe ich von Hans Heinrich Utinger, dem Custos, der auch das Gebein aus dem Sarg entnommen und es bestattet hat31.

Bullinger berichtete weiter, dass Johann Faber († 1541), der Generalvikar von Konstanz, die Lüge verbreitet habe, dass die Reliquien von Zwingli in die Limmat geworfen worden seien. Das mutet in der Tat unglaublich an, auch wenn das diffamierende Gerücht von katholischer Seite und später namentlich auch vom Jesuiten Gretser gerne aufgenommen wurde. Aber während die Schreine und die silbernen Kopfreliquien nachweislich in den Gewahrsam der Stadt gelangten, die sie später an den Münzmeister verkaufte32, ist nicht ganz klar, was mit den Knochen der Heiligen wirklich geschah. Eine Delegation des Stadtrats kam im Oktober 1525 in die Sakristei des Großmünsters, um die Kirchenschätze einzuziehen. Dabei wurde ein Inventar erstellt, das auch die Reliquien nennt, die laut Bullinger, wie erwähnt, dann begraben worden seien33. Eine Nachricht aus dem Jahre 1648 berichtet jedoch, dass Reliquien in der Nähe von Andermatt in einem Sarg gefunden worden seien, welche 1525 aus Zürich durch einen frommen Bürger heimlich weggeschafft worden seien. Mit den Heiligen Felix und Regula wurden diese Reliquien freilich erst 1688 in einem Protokoll über die Öffnung des Sarges namentlich in Verbindung gebracht34. 31 HOTTINGER/VÖGELI, Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte (wie Anm. 26), 161. Inhaltswiedergabe von Andrea Beck. Vgl. auch „Da beschachend vil grosser endrungen“. Gerold Edlibachs Aufzeichnungen über die Zürcher Reformation 1520–1526, hg. und kommentiert v. Peter JEZLER, in: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation, hg. v. Hans-Dietrich ALTENDORF/Peter JEZLER, Zürich 1984, 41–74, hier: 59: „Im obgemelten jar, uff sant Lucien, Otiligenn und sant Jost abind, da ward Zürich von klein und grossen rätten erkent, die begreptnis beder helgen obgemelt, Felix und Regulan, die lange zitt der stat Zürich pattren gewessen warren und von allen menschen hoch geeret, daß man die ouch söl hin und abschlissen, die da erst nüwklich in kurtzen jarren von fil fromer lütten mit vergülten, costlichen tafflen und sidinen tuecher irre särch verdeckt ob den grebren. Ouch allwegen brunend 12 amplen, wen eß tublex und Samstag nächt warent. Disse begreptniß wart gar und gantz geschlissen.“ 32 JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 304 f. 33 MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 213: „Die Reliquien selbst werden am 2. Oktober 1525 aus dem Großmünster entfernt und im alten Turm des Fraumünsters untergebracht, wo sie erst 1535 wieder gefunden werden: dann werden die sterblichen Überreste der Heiligen christlich bestattet.“ 34 Vgl. Urs BAUR, Reformation und Gegenreformation. Von Zürich nach Andermatt, in: Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula. Legenden, Reliquien, Geschichte und ihre Botschaft im Licht moderner Forschung, hg. v. Hansueli F. ETTER u. a., Zürich 1988, 87–97, hier: 92 f.

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Noch heute liegen diese vermeintlichen Reliquien von Felix, Regula und Exuperantius in der Sakristei der Pfarrkirche in Andermatt. Eine naturwissenschaftliche Untersuchung hat 1988 ergeben, dass Schädelteile tatsächlich einem jungen Mann und einer jungen Frau aus römischer Zeit zugeordnet werden können35. Zurück in die Zwölfbotenkapelle und ins Jahr 1524. Der bereits genannte Altar wurde kurz nach der Entfernung der Heiligengräber am 17. Dezember abgetragen36. Doch die Bemühungen, den Kult um Felix und Regula auszulöschen, waren damit noch nicht am Ende. Zwingli ließ zahlreiche Bücher vernichten, um die bisherige Liturgie, den Chorgesang und die Messe, zu tilgen. Bei dieser Aktion wurde sehr gründlich vorgegangen, denn in Zürich selbst haben sich kaum schriftliche Zeugnisse erhalten, die Aufschluss über die Legende oder die Verehrung der beiden Kopfträger geben könnten. Das meiste ist aus Bibliotheken außerhalb Zürichs überliefert37. War nun die Wallfahrt und die kultische Verehrung durch die Zerstörung der Gräber und durch die Entfernung der Reliquien unmöglich gemacht, weil eine radikale desakralisierende Enträumlichung stattfand, so wurde zudem sogar die Zeit einer Veränderung unterworfen, denn die Ablehnung der Heiligenverehrung hatte zur Folge, dass deren Feiertage zusammengestrichen wurden. Insgesamt fielen etwa 30 kirchliche Feiertage aus dem Zürcher Kalender38. Dies ließ zum einen die Wirtschaftskraft steigen, zum anderen wurden die Gelegenheiten des oftmals an den Feiertagen praktizierten ausgelassenen Feierns reduziert. 1530 fielen dann alle Feste weg, die sich nicht auf Christus selbst bezogen39. Zwingli erreichte 1525, das Abendmahl nun lediglich vier Mal im Jahr abhalten zu lassen: nämlich „zů ostren, pfingsten, herbst, wienacht“40. Neben den gro35 Vgl. Hansueli F. ETTER, Die Untersuchung an den Reliquien, in: Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula. Legenden, Reliquien, Geschichte und ihre Botschaft im Licht moderner Forschung, hg. v. Hansueli F. ETTER u. a., Zürich 1988, 103–119 und Georges BONANI/Waldemar A. KELLER, Die Datierung der Reliquien, in: Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula. Legenden, Reliquien, Geschichte und ihre Botschaft im Licht moderner Forschung, hg. v. Hansueli F. ETTER u. a., Zürich 1988, 120 f. 36 Vgl. ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 14), 129. 37 Vgl. JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 307, der auch verweist auf Martin GERMANN, Der Untergang der mittelalterlichen Bibliotheken Zürichs: der Bildersturm von 1525, in: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation, hg. v. Hans-Dietrich ALTENDORF/Peter JEZLER, Zürich 1984, 103–107; MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 213. Die Recherchen im Rahmen der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“ haben ein differenzierteres Bild der hagiographischen Tradition in Zürich ergeben, als bis jetzt bekannt war. Die Ergebnisse werden für die Publikation vorbereitet. 38 Vgl. JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 308, JEZLER, Gerold Edlibachs Aufzeichnungen (wie Anm. 31), hier: 70 mit Anm. 360. 39 Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 213 f., HOTTINGER/VÖGELI, Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte (wie Anm. 26), 328. Vgl. auch Anton LARGIADÈR, Das reformierte Zürich und die Fest- und Heiligentage, Zwingliana 9 (1953), 497–525, besonders 507–513. 40 Huldreich ZWINGLI, Action oder bruch des nachtmals, gedechtnus oder dancksagung Christi, wie sy uff osteren zů Zürich angehebt wirt im jar, als man zalt 1525, in: Huldreich Zwinglis

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ßen christlichen Festen soll also auch im Herbst gefeiert werden, und zwar – man mag es kaum glauben – tatsächlich am 11. September, dem Felix-und-RegulaTag, der zugleich der Tag der Kirchweihe des Fraumünsters war, jenes Klosters, dessen Äbtissin ursprünglich die Stadtrechte innehatte41. Dieses Fest der Kirchweihe, von den Zürchern auch Chilbi genannt, hatte im Lauf der Zeit den Charakter eines Volksfestes angenommen, bei dem der weltliche Anteil der Feierlichkeiten überwog: Es wurde viel gegessen und getrunken und getanzt. Das Kirchweihfest wurde erst am 3. August 1597 abgeschafft, also über siebzig Jahre nach dem Tode Zwinglis42. Warum so spät? Man muss beachten, dass sich die Bevölkerung noch im Rhythmus der sich immer wiederholenden Feiertage befand, so dass es nicht zu sehr verwundert, dass man gerade den prägnanten 11. September weiterhin aufrecht erhielt43. Zudem war die Chilbi ja bereits gewissermaßen desakralisiert worden, indem man weniger der Weihe des Fraumünsters aus dem Jahre 874 gedachte, sondern vielmehr weltlich feierte. Der Heidelberger Historiker Thomas Maissen beschreibt sie als einen „Staatsakt einer ganzen Stadt, ja des gesamten Kantons, dessen Bürger und Untertanen sich an diesem Tag in der Hauptstadt treffen“44. Die Chilbi – ursprünglich ein rein kirchlicher Festtag, an dem das Fraumünster geweiht worden war und seine Felix-und-Regula-Reliquien erhalten hatte – war dann das „zentrale Zürcher Integrationsritual“ (so Maissen)45, das von der Stadt und der Bevölkerung des Umlandes zusammen begangen wurde. Wenn man berücksichtigt, nicht nur dass die Eucharistie just am 11. September verabreicht wurde, sondern auch dass der Stadtrat noch im 17. Jahrhundert gegen Kulthandlungen der ländlichen Bevölkerung vorgehen musste, die zum Beispiel darin bestanden, dass man insgeheim nach Einsiedeln pilgerte oder katholische Verwandte damit beauftragte, dann zeigt sich, dass die mit Felix und Regula verknüpfte memoria noch virulent war: die Abkoppelung von privater Frömmigkeit und Kult, wie Zwingli sie angestrebt hatte, war noch lange nach

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sämtliche Werke 4 (Corpus Reformatorum 91), hg. v. Emil EGLI u. a., Leipzig 1927, 1–24, hier: 17. Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 213, so auch schon Thomas MAISSEN, Ein Irrtum Bullingers? Die Chilbi von 1525 als Ausdruck bäuerlicher Opposition (Zwingliana 25), 1998, 107–128, hier: 116 und Thomas MAISSEN, „Unser Herren Tag“ zwischen Integrationsritual und Verbot: Die Zürcher Kirchweihe (Kilbi) im 16. Jahrhundert (Zürcher Taschenbuch 118), 1998, 191–236, hier: 213. Vgl. MAISSEN, „Unser Herren Tag“ zwischen Integrationsritual und Verbot (wie Anm. 41), vor allem 193 und 226 und MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 214. Vgl. JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 308. MAISSEN, „Unser Herren Tag“ zwischen Integrationsritual und Verbot (wie Anm. 41), hier: 195. Vgl. auch JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 23), hier: 312. Vgl. insgesamt zur Chilbi in den 1520er Jahren und deren Besucherzahlen MAISSEN, Ein Irrtum Bullingers? (wie Anm. 41). MAISSEN, Ein Irrtum Bullingers? (wie Anm. 41), hier: 110. Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 214 und allgemein MAISSEN, „Unser Herren Tag“ zwischen Integrationsritual und Verbot (wie Anm. 41).

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seinem Tod nicht überall angenommen. Der Präsenz der Heiligen konnte offenbar die weitgehend durchgesetzte Enträumlichung und Entkörperung nichts anhaben. Der fixe Termin des 11. Septembers, der mit den beiden Kopfträgern eng verbunden war, gliederte darüber hinaus nach wie vor die Zürcher Zeit als Höhepunkt städtischer Repräsentation und sicherte somit auch der Zeitdimension des alten Kultes das Überleben. Hinzu kommt, dass Huldrych Zwingli selbst und seine Nachfolger von Heinrich Bullinger bis zum Gretser-Gegner Johann Jakob Ulrich († 1638) die traditionsstiftende Funktion der Heiligen voll anerkannten. Ihre Historizität wurde nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern der in der textuellen Tradition des Lebens- und Marterberichtes festgehaltene Ursprung der beiden Heiligen und der von ihnen angeblich vertretene Glauben (über dessen theologischer Gehalt die Passio eigentlich kaum Rückschlüsse ermöglicht) bildeten die Grundlage für weiterführende Gedanken zur Reinheit der Zürcher Lehre. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts war ein Versuch unternommen worden, die Geschichte von Felix und Regula von Albernheiten und Unglaubwürdigkeiten zu reinigen, wie der Humanist Glarean († 1563) sie nannte, als er seine Divorum Felicis, Regulae et Exuperantii Agon genannte Passio Zwingli 1519 schickte. Wir wissen nicht, wie dieser reagierte. Allem Anschein nach fand der Text keine Verwendung, und schon fünf Jahre später war es Zwingli kaum nach erbaulicher Lektüre über die Märtyrer zumute. Glareans Text, der bis jetzt kaum beachtet wurde, fährt schweres humanistisches Geschütz auf, nicht etwa um die Legende zu entlarven, sondern um ihren wahren historischen Kern herauszuschälen. Der Glarner Humanist aktualisiert diese histoire ancienne, wie Calvin sie wohl genannt hätte, indem er antiquarisch inspirierte Korrekturen vornimmt. Köstlich zu lesen ist zum Beispiel jene Stelle, in denen Glarean bezweifelt, dass Felix und Regula auf erhitzten Eisenrädern gequält wurden, weil dies kaum dem römischen Brauch entspreche46. Erst im aufklärerischen Zürich des 18. Jahrhunderts wagte man den für Reformatoren wie für Humanisten eigentlich naheliegenden Schritt, die Sage der Thebäer insgesamt für groben Schabernack zu erklären47.

46 Glareans Divorum Felicis, Regulae et Exuperantii Agon ist abgedruckt bei Johann Heinrich HOTTINGER, Historiae Ecclesiasticae 8, Novi Testamenti, Zürich 1667, 1063–1077, hier: 1074: „Hic lectorem admonuimus; Historiam esse hoc in loco variatam. Alii enim plumbum calidum ori Sanctorum infusum, alii rotis inflexos omnibus ruptis membris, nonnulli candente unco laceratos scribunt. Ego postremum facilius crediderim, nam rotis ita tortos, ut hodie Germani et Helvetii latrones plectunt, a Romana consuetudine longissime abfuit, quanquam rotis alligari, et in vertiginem rapi adhuc consuetudo manet in Galliis, a Romanis ne inducta, an a barbaris, incertum.“ Auf die Bedeutung dieses späten Zeugnisses der Zürcher Hagiographie ist Michele C. Ferrari 2012 in einem Zürcher Vortrag eingegangen, der im Druck erscheinen soll. Eine Edition und Übersetzung des Textes ist im Rahmen unseres Teilprojektes in der DFG-Forschergruppe 1533 „Sakralität und Sakralisierung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interkulturelle Perspektiven in Europa und Asien“ erstellt worden. 47 So zum Beispiel Johann Jakob Breitinger († 1776), vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 221–223.

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Andererseits waren die beiden Heiligen in der Frühen Neuzeit die Garanten gemeinschaftlicher Staatlichkeit48. Schon seit dem Hochmittelalter waren sie als Stadtpatrone auf Siegeln, Münzen und Wappen dargestellt worden und waren so „ein zentrales [Bild-]Element der staatlichen Identität und Selbstdarstellung“ geworden, wie Thomas Maissen schreibt49. Und Ihr Bild tauchte wieder auf, gar massenweise. Nach 1524 hatte man es aus Zürich verbannt, aber im 17. Jahrhundert zierten die kopflosen Geschwister beispielsweise den Zürcher Dukat wieder50. Auf diese Weise realisierte sich die Präsenz der Heiligen nach langer Zeit wieder als haptische Erfahrung: die Heiligen waren buchstäblich allerhand greifbar. Mit der Ausnahme der Münzen war ja alles Berührbare, was im unmittelbaren Zusammenhang mit den Heiligen stand, entfernt worden, doch sie verblieben im kollektiven Gedächtnis, gliederten die Zeit, repräsentierten die Stadt und ihre Verfassung – und sie nahmen wieder einen Körper an51. Nach alter Gewohnheit wurden auch in Zürich Kinder auf den Namen der Stadtpatrone getauft. Darin unterschieden sich die Zürcher nicht von jenen Städten, in denen spätestens seit dem Hochmittelalter die Sprösslinge vornehmer, aber auch einfacher Familien die Namen der Hauptheiligen trugen. In dieser Praxis, die wir zumindest südlich der Alpen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beobachten können, äußerten sich Traditionsbewusstsein, Bürgersinn und eine nach wie vor starke, aber diffuse abergläubische Haltung, die den Lebensweg von neugeborenen Menschen durch das Tragen des Namen eines Heiligen oder in unseren Tagen eines Sängers oder anderen Medienclowns positiv zu beeinflussen trachtet. Man könnte nun erwarten, dass der Bruch, den Zwingli herbeiführte, auch und gerade die Namensgebung betraf. Denn das Tragen der Namen der Heiligen war nicht nur ein Zeichen der Kontinuität, es erlaubte darüber hinaus, einen biologischen Link zwischen Kultpersonen und Gläubigen. Aus dem Spätmittelalter hat sich ein eindrückliches Zeugnis davon erhalten: der Zürcher Landvogt Felix Schwarzmurer ließ um 1480 in der Kapelle der Kyburg einen Bilderzyklus bemalen, in dem nur die heilige Regula und ihr Martyrium dargestellt wurden52. Er

48 Vgl. MAISSEN, „Unser Herren Tag“ zwischen Integrationsritual und Verbot (wie Anm. 41), hier: 212 und MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 212 f. 49 Vgl. MAISSEN, „Unser Herren Tag“ zwischen Integrationsritual und Verbot (wie Anm. 41), hier: 212. 50 Eine Abbildung des Dukats bei Cecile RAMER, Felix, Regula und Exuperantius. Ikonographie der Stifts- und Stadtheiligen Zürichs (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 47), Zürich 1973, Taf. I, Abb. 201a, b und bei Hans-Ulrich GEIGER, Die Zürcher Stadtheiligen im Münzbild, in: Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula. Legenden, Reliquien, Geschichte und ihre Botschaft im Licht moderner Forschung, hg. v. Hansueli ETTER u. a., Zürich 1988, 78–83, hier: 81, Abb. 12 (im Maßstab 1:1). 51 Vgl. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität (wie Anm. 12), hier: 263. 52 Zur Kyburg insgesamt vgl. Hans Martin GUBLER: Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3: Die Bezirke Pfäffikon und Uster (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 66), Basel 1978, 141– 200; Werner WILD, Die mittelalterlichen Bauten auf der Kyburg, Kanton Zürich. Eine Bestandesaufnahme mit neuen Erkenntnissen, Mittelalter: Zeitschrift des Schweizerischen Bur-

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selbst als Auftraggeber vertrat offensichtlich in einem übermedialen Wechselspiel den in der Darstellung ausgelassenen Felix. Der Name schuf körperliche Präsenz und verlieh somit jenen Kultpersonen, die nicht mehr als solche verehrt werden durften, eine neue Gegenwart im Stadtund Familienverband. Dieser Brauch setzte sich im reformierten Zürich wider Erwarten fort. Zwingli selbst gab seiner am 31. Juli 1524 geborenen Tochter den Namen Regula, das heißt einen Monat nach dem Schließen der Kirchen, während sein Nachfolger Bullinger seinen jüngsten Sohn 1547, also über zwanzig Jahre nach der Zerstörung der Heiligengräber, Felix nannte53. Ähnliches beobachtet man auch in den führenden Kreisen der Stadt. Bullinger war es auch, der im Februar 1553 im Tagebuch seine Arbeit an einer deutsch-sprachigen, heute verlorenen comoedia sacra über das Martyrium von Felix und Regula festhielt (es ist bedauerlich, dass dieser Text verschollen ist)54. Die memoria der Heiligen war also alles andere als ausgelöscht, ja, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren die Zürcher Blutzeugen sogar Gegenstand der leidenschaftlich geführten Diskussion zwischen dem Chorherren am Großmünster Johann Jakob Ulrich und dem Jesuiten Jakob Gretser, auf die schon hingewiesen wurde und der eine zentrale Rolle zukommt, um die sakrale, aber ohne Kult auskommende Präsenz der beiden Heiligen Felix und Regula, wie sie in Zürich nach 1524 bezeugt ist, zu verstehen. Einer der Punkte, die von Gretser eigentlich eher nebensächlich angeführt wurden, war der Widerspruch zwischen der Aufhebung der Gräber von Felix und Regula und deren weiterhin bestehenden Präsenz in der Stadt Zürich, die, wie wir gesehen haben, eine unbestreitbare Tatsache war55. Nach diesen und anderen Einwendungen des Ingolstädter Jesuiten mussten sich die Zürcher mit der Frage auseinandersetzen, warum sie noch an ihren Stadtpatronen festhielten, nachdem sie deren Überreste beseitigt hatten56. Vorsprecher der Zürcher wurde der bereits genannte Chorherr Johann Jakob Ulrich. Gretser ließ es sich nicht nehmen, auf Ulrichs Argumentation wiederum mit einer Gegenschrift einzugehen, der Chorherr verfasste schließlich 1628 – als sein Kontrahent bereits drei Jahre tot war – eine weitere Schrift unter dem Titel „Von dem alten wahrhafft Catholischen Glauben“57.

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genvereins 8/3 (2003), 61–98; Anton LARGIADÈR, Die Kyburg, Zürich 1955; Zeitspuren. 800 Jahre Leben auf der Kyburg, hg. v. Dione FLÜHLER-KREIS, Kyburg [1999], besonders 28. Vgl. Fritz BÜSSER, Heinrich Bullinger. Leben, Werk und Wirkung 1, Zürich 2004, 74. Vgl. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität (wie Anm. 12), hier: 264 und MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 215; Heinrich Bullingers Diarium (Annales vitae) der Jahre 1504–1574, hg. v. Emil EGLI (Quellen zur Schweizerischen Reformationsgeschichte 2), Basel 1904, 43. Vgl. GRETSER, Admonitionis (wie Anm. 6), hier: 256 f. Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 218. Vgl. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität (wie Anm. 12), hier: 265 und MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 219. Johann Jakob ULRICH, Von dem alten wahrhafft Catholischen Glauben S. Felix und Regulae sampt andrer von der Thebaischen Legion säligen Martyren..., Zürich 1628. Diesem Werk ging eine auf einer Rede basierende lateinische Fassung voraus: De religione antiqua et catho-

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Ulrich sah in Felix und Regula direkte Vorgänger von Zwingli. Sie seien aus Ägypten nach Zürich gekommen und hätten dort den wahren apostolischen Glauben, eine Urform des Christentums, das noch nicht durch den Papst verfälscht gewesen sei, verbreitet58. Er schreibt: Darauß dann ohn alles widersprechen folget, daß S. Felix und S. Regula, wie auch andere Thebaische Christen, keinen andern Glauben, vom HERREN Christo dem einigen Heyland der Welt, zu ihrer Zeit, in diesen Helvetischen Landen, gelehrt, bekennet unnd mit ihrem Martertodt bezeuget und versiglet haben, danneben und allein denjenigen, so in den obangezognen Hauptpuncten wol gründet gewesen: zu demselbigen Glauben nachmaln auff den heutigen Tag, die nach GOTTES Wort Reformierten Kirchen der Helvetischen Landen, sich mit Mund und Hertzen, ohne einiche Falschheit unnd Trug, warhafftig bekennen59.

Der Chorherr machte auch den Zeitpunkt der Wende aus: Bey den Lebzeiten deß frommen Gottseligen Koenigs Caroli deß Grossen, hat auch das Moenchisch Gedicht vom Fegfewr, unnd was daran hanget, die Seelmaessen, so am dritten, sibenden, dreysigsten Tag, zu Erquickung, Trost vnd endtlicher Erloesung, der notleidenden Seelen, auff die Ban gebracht worden. Item, daß man die Welt bethoeret hat, mit vermeinter Erscheinung der Geistern vnd Seelen, so Hilff von den Lebendigen Menschen begehrt, sonderlich reiche Vergabung der jaehrlichen Zinsen vnd Gülten, an gewüsse Altar vnnd Capellen, inen gerathen haben. Damaln auch die Baepstisch Hauptlehr von der Transubstantiation, oder Verwandlung der Hostien vnd deß Weins, in den wahren wesenlichen Leib vnnd Bluet Christi: das taegliche Maeßopfer für die Sünde der Lebendigen vnd der Todten, so durch die Meister von hohen Sinnen, die subtilen Doctores Scholasticos, auff die Ban gebracht worden (…). Von diesen abergleubigen Stucken allen, dz alte Christenthumb, zun obgedachten Zeiten, der Helvetischen seligen Martyren, nichts weder gehoert, noch gewüßt, noch glaubt hat“60.

Es wäre albern, darauf hinzuweisen, dass Ulrichs Darlegungen historisch betrachtet abenteuerlich anmuten und kein gutes Zeugnis der damals im altehrwürdigen Chorherrenstift Großmünster gepflegten Gelehrsamkeit ausstellen. Wichtiger ist zum einen die Feststellung, dass Ulrich – in wohl unbewusster Nachfolge Glareans – historiographisch vorgeht, um Felix und Regula ihren Platz in der heilsgeschichtlich verbrämten Geschichte der Zürcher und dadurch Schweizer Reformation zu sichern. Zum anderen aber vertraten auch andere dieselbe Position. Der Zürcher Antistes Johann Jakob Breitinger († 1645) bezog sich bereits 1617 auf die ursprüngliche apostolische Lehre, die zahlreiche Märtyrer bezeugt hätten. Was die ehrwürdige Urkirche früher geglaubt habe, das habe damals auch Zürich geglaubt. Die Stadtpatrone Felix und Regula ständen für die Urtümlichkeit der Zürcher Kir-

lica S. Felicis et Regulae protomartyrum Tigurinorum, Tiguri 1628. Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 219. 58 Vgl. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität (wie Anm. 12), hier: 265 und MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 219. 59 ULRICH, Von dem alten wahrhafft Catholischen Glauben (wie Anm. 57), fol. 42v–43r. Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 219 f. 60 ULRICH, Von dem alten wahrhafft Catholischen Glauben (wie Anm. 57), fol. 75v–76v.

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che; sie seien deswegen Vorbilder, da Gott durch sie den richtigen Glauben nach Zürich gebracht habe61. Gretser hatte mit solchen Argumenten leichtes Spiel und fokussierte seine Polemik auf den Gedanken der von Ulrich behaupteten Kontinuität zwischen Felix und Regula und Zwingli. Die Wende, so behauptet Ulrich, sei mit Karl dem Großen gekommen, denn nach seinem Tode seien Kult und Religion immer mehr verkommen und durch fremde Elemente von ihren frommen Ursprüngen entfernt worden. Gretser meinte, dass kein Bruch im Glauben zwischen den beiden Märtyrern und Karl dem Großen festzustellen sei, den es ja gegeben haben müsse, wenn zwischen diesem karolingischen Kaiser und Zwingli eine Veränderung im Glauben stattgefunden habe, welche Voraussetzung für die Reformation gewesen sei62. Diesem Gedanken entgegen führte dann Ulrich Karls ablehnende Haltung in der Bilderfrage an. Kaiser Karl sei zwar ein Feind der Bildverehrung, habe allerdings bei diesem Thema dem päpstlichen Druck nachgegeben63. Hier sei also der von Gretser gesuchte Umbruch im Glauben tatsächlich zu finden. Zu diesem Punkt hatte sich schon Bullinger geäußert: Karl der Große sei verantwortlich „für den abergläubischen Bilderkult“ in Zürich vor Zwingli64. Die Thesen in den Schriften Ulrichs zeigen die Angst um die Selbstachtung Zürichs, das seine Identität teils noch immer aus den frühchristlichen Märtyrern zog. Im Grunde sah Ulrich in Felix und Regula die Repräsentanten eines ausgesuchten Ortes, nämlich Zürichs, der mit einer besonderen Aura versehen war, jener des Urchristentums, das Felix und Regula an die Limmat gebracht hatten. Aber mit solchen Ausführungen war er gar nicht so weit von den Verfassern der mittelalterlichen Viten entfernt, die mit ihren Erzählungen einen sakralen Raum geschaffen hatten, mit der von Zwingli später zerstörten Grabstätte der Heiligen als Zentrum65. Auch jetzt wies die Verehrung von Felix und Regula vor Zwingli die Koordinaten jeglichen sakralen Kultes nach mittelalterlichem Verständnis auf: die exzeptionellen Glaubenszeugen wirkten durch ihre Gegenwart, wenn auch nicht mehr in der Zwölfbotenkapelle. Denn nach Zwingli fand eine Verlagerung statt. Die Tilgung ihrer Körperlichkeit, die nach 1524 nicht mehr ge61 Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 220. Maissen verweist auch auf den Theologieprofessor Caspar Waser. Für diesen waren 1622 Felix und Regula diejenigen, die den wahren Glauben verkündet hätten, der bis dato in der Stadt an der Limmat rein geblieben sei, vgl. ebd., 219 und Caspar WASER, Dissertatio aphoristica, theologico-historica de persequutionibus ecclesiae Dei, Tiguri 1622, [14], B3v: „...in quam urbem, superatis Lepontiis alpibus per agrum Glaronensem secundo lacu pervenere, circa annum Domini CCXCV ubi incolis urbis, tum Ethnicis et Idololatris, veram religionem integrum decennium pure fideliterque praedicarunt, quae fides sanctorum martyrum inde a mille trecentis viginti septem annis, ab ipsis tradita, et sanguine eorum obsignata, in ecclesia Tigurina singulari beneficio, etiam num hodie salva integraque retinetur ac docetur.“ 62 Vgl. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität (wie Anm. 12), hier: 265. GRETSER, Admonitionis (wie Anm. 6), hier: 256. 63 Vgl. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität (wie Anm. 12), hier: 266. ULRICH, Von dem alten wahrhafft Catholischen Glauben (wie Anm. 57), fol. 76v–77v. 64 Vgl. MAISSEN, Stadtpatrone (wie Anm. 23), hier: 215, Zitat ebd. 65 Vgl. FERRARI, Kult, Sakralität und Identität (wie Anm. 12), hier: 265 f.

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geben war, wurde auf eine doppelte Ebene projiziert: einerseits als ideelle Repräsentanten des städtischen Zusammenhaltes, andererseits als historisch bezeugte Vertreter einer reinen Lehre, zu der Zwingli zurückgekommen war und die Zürich zum auserwählten Ort des Glaubens machte. Auch nach 1524 blieb Zürich eine Gemeinschaft, welche die Geschichte ihrer alten Stadtheiligen zur Grundlage des eigenen Selbstbewusstseins machte. Im städtischen und im privaten Diskurs behaupteten Felix und Regula ihre Präsenz, jene von exzeptionellen Menschen, die Zürich als Ort ihres Wirkens ausgezeichnet hatten.

SAKRALITÄT IM PROTESTANTISMUS, ODER: WO STECKT DAS HEILIGE NACH DER REFORMATION?1 Carola Jäggi

Angesichts des weitverbreiteten Credos, dass der konfessionelle Umbruch des frühen 16. Jahrhunderts in den von ihm betroffenen Gebieten zu einer flächendeckenden De-Sakralisierung der traditionellen Heilsmedien geführt hat, scheint es prima vista widersinnig, nach dem „Ort“ des Heiligen in und nach der Reformation zu fragen. Die Verbindung von Sakralität und Protestantismus erscheint als Paradox, gilt doch als ausgemacht, dass die Reformatoren gründlich aufgeräumt haben mit den und dem Heiligen und alles aus ihren Kirchen eliminiert haben, was ablenkte vom Wort Gottes als Kern des wahren Glaubens. So pauschal formuliert ist dies jedoch nicht richtig, und zwar schon deshalb, weil die verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Protestantismus – Lutheraner, Zwinglianer und Calvinisten – mit durchaus unterschiedlicher Vehemenz gegen die tradierten Formen von Heiligkeitsmanifestationen vorgegangen sind. Auch ist bekannt, dass es zu Umkodierungen kam, dass sich Konzepte von Sakralität und Sakralisierung unter dem Einfluss des Protestantismus auf andere Gegenstände und in andere Medien verlagerten, als dies bis dahin üblich war, dass Kräfte, die im vorreformatorischen Katholizismus an heilige Menschen, Orte und Dinge gebunden waren, im Laufe der Neuzeit auf Entitäten wie die Natur beziehungsweise Landschaft, die Nation oder auch die Person, das heißt das menschliche Individuum, bezogen wurden2. Es ist jedoch nicht dieser Umkodierungsprozess, den ich in der Folge thematisieren möchte, sondern die sehr viel konkretere Frage nach den Auswirkungen der Reformation auf den einzelnen Kirchenraum. Mich interessiert,

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Der Text entspricht weitgehend dem Vortrag, wie er am 9. Mai 2012 im Rahmen der Ringvorlesung „Was ist sakral? Perspektiven des Heiligen“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen gehalten wurde. Der Vortrag wurde von BR-alpha aufgezeichnet und ist einzusehen unter http://www.video.uni-erlangen.de/clip/id/2682.html (Stand: 29.05.2013). Für Hilfe bei der Beschaffung der Abbildungen danke ich Susanne Bammessel (Nürnberg), Barbara Dieterich (Zürich), Daniela Hoesli (Zürich), Christine Keller (Zürich), Ylva Meyer (Zürich), Sandra Münzel (Fürth) und Claudia Voigt-Grabenstein (Nürnberg). Zur Landschaft als religiöses Erfahrungsmedium im protestantischen Kontext siehe Joseph Leo KOERNER, The Reformation of the Image, London 2004, 8–16 und 441–444; Gregor WEDEKIND, Bilder für ehrliche Leute. Zum Problem der Mimesis bei Caspar David Friedrich, in: Der unbestechliche Blick. Festschrift zu Ehren von Wolfgang Wolters, hg. v. Martin GAIER, Bernd NICOLAI u. Tristan WEDDIGEN, Trier 2005, 413–427. Zur Sakralisierung der Person im Gefolge der Aufklärung siehe Hans JOAS, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.

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ob und wie das mittelalterliche Verständnis von der Kirche als heiligem Raum durch den Protestantismus eine Umprägung erfahren hat und wie sich diese Umprägung materiell – das heißt in der Binnentopographie und Ausstattung des jeweiligen Kirchengebäudes – niedergeschlagen hat3. Ganz konkret ist danach zu fragen, was in den evangelisch gewordenen Gebieten aus den mittelalterlichen Altären und Heiligenbildern geworden ist, außerdem, wie sich traditionelle Konzepte von Ort- und Dingheiligkeit durch die Reformation verändert haben und ob sich „das Heilige“ unter gewissen Bedingungen auch weiterhin an Materie band und ergo verorten ließ4.

DIE KIRCHE ALS SAKRALER RAUM Grundlegend für das Nachfolgende ist die Erkenntnis, dass die Wertung des Kirchengebäudes als heiliger Raum keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt, sondern das Produkt einer historisch klar zu verortenden Zuschreibung ist5. Der Urkirche nämlich war der Gedanke, dass ihre Versammlungsräume heilig seien, fremd. Mehrfach wird in den Evangelien und in der Apostelgeschichte betont, dass Gott nicht in Tempeln wohne, „die mit Händen gemacht sind“ (Apg 7, 48-50; Apg 17, 24), denn „Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4, 23f.). Dass ganz normale Wohnhäuser den frühen Christengemeinden als Orte der Zusammenkunft dienten, scheint vor diesem Hintergrund nur folgerichtig. Bereits im 2. Jahrhundert lassen sich jedoch Tendenzen fassen, die dazu führten, dass spätestens im darauffolgenden Jahrhundert eigens dem christlichen Kult zugedachte Gebäude errichtet und als domus Dei – als Häuser Gottes – bezeichnet wurden6. Unter Kaiser Konstantin erfuhr die Entwicklung im frühen 4. Jahrhundert einen weiteren qualitativen Sprung, indem die Orte von Jesu Leben und Wirken nun systematisch durch große Kirchenbauten überhöht wurden. Gleichzeitig sind aus jener Zeit die ersten Kirchweihriten über3

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Vgl. dazu bereits Carola JÄGGI, Die Reformation und ihre Folgen für die Binnentopographie frühneuzeitlicher Kirchenräume: Das Beispiel der deutschsprachigen Schweiz, in: Zwischen Tradition und Wandel. Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts (Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie 3), hg. v. Barbara SCHOLKMANN u. a., Büchenbach 2009, 73–80. Zur Wahrnehmung des Heiligen im Spätmittelalter siehe Robert W. SCRIBNER, Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, hg. v. Lyndal ROPER, Göttingen 2002, 101–119 und passim. Carola JÄGGI, „Heilige Räume“. Architektur und Sakralität – Geschichte einer Zuschreibung, in: Kirchenbauten in der Gegenwart: Architektur zwischen Sakralität und Identitätskrise, hg. v. Angelika NOLLERT u. a., Regensburg 2011, 23–30; vgl. bereits Carola JÄGGI, Die Kirche als heiliger Raum: Zur Geschichte eines Paradoxons, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (Beiträge zur Hagiographie 6), hg. v. Berndt HAMM, Klaus HERBERS u. Heidrun STEINKECKS, Stuttgart 2007, 75–89. Paul Corby FINNEY, Topos Hieros und christlicher Sakralbau in vorkonstantinischer Überlieferung, Boreas 7 (1984), 193–225, hier: 221–225; John Gordon DAVIES, The Secular Use of Church Buildings, London 1968, 1–17; JÄGGI, Kirche (wie Anm. 5), 78 f. (mit weiterer Literatur).

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liefert, aus denen klar hervorgeht, dass Kirchen Gebäude einer höheren Ordnung waren, für die genaue Regeln der Zugänglichkeit bestanden7. In ihrem Inneren waren durch Schranken und Vorhänge Zonen abgestufter Heiligkeit ausgewiesen, die im Altar – dem „Allerheiligsten“ – kulminierten. Seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert scheint es dann üblich geworden zu sein, im Altar Reliquien zu rekondieren und das Gotteshaus damit zum Präsenzort der betreffenden Heiligen zu machen. Doch auch Gott selbst wurde in Form der Eucharistie als real präsent gedacht, und zwar nicht nur während der Messe, sondern auch außerhalb der Liturgie, wurde die heilige Species doch in einem eigens dafür vorgesehenen Gefäß oder in einem Tabernakel im Kirchenraum verwahrt8. Die Kirche wurde damit gleichsam zur Wohnstatt Gottes, zu einem Sakralraum par excellence. Das heißt nicht, dass mittelalterliche Kirchen nicht auch höchst profanen Zwecken gedient hätten9; konzeptuell jedoch unterstanden sie einer anderen Macht als der weltlichen, waren Orte, die physisch mit Heiligkeit aufgeladen waren und bereits dadurch den Besuchern eine Begegnung mit Gott garantierten.

DIE WERTUNG DES KIRCHENGEBÄUDES BEI DEN PROTESTANTEN Durch Luther und die anderen Reformatoren erhielt dieses Konzept im frühen 16. Jahrhundert eine entscheidende Schwächung: „Wir heißen unßere kirchenn Gotts heußer umb unßer dinstlichen wergk willen, und das wir Gott drinnen dienen, und nicht von dem hern, das dehr drinnen wohne und regire“10. Für die Protestanten war Gott nicht mehr durch die Eucharistie im Kirchenraum präsent, sondern – nach urkirchlichem Vorbild – in der Gemeinde, die sich zum Gebet und zur Predigt versammelt. Dafür reiche – so Luther – im Prinzip ein Strohdach oder ein Schweinestall oder ein Platz unter freiem Himmel, doch hielt Luther grundsätzlich am Konzept des Kirchenraums als eines herausgehobenen, der Würde des Gottesdienstes angemessenen Ortes fest11. Er spricht von einem „sonderlichen ort, da 7

Siehe dazu die Beiträge in „Das Haus Gottes, das seid ihr selbst“: Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe, hg. v. Ralf M. STAMMBERGER/Claudia STICHER, Berlin 2006; zuletzt Sible L. DE BLAAUW, Die Kirchweihe im mittelalterlichen Rom: Ritual als Instrument der Sakralisierung eines Ortes, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (Beiträge zur Hagiographie 6), hg. v. Berndt HAMM, Klaus HERBERS u. Heidrun STEIN-KECKS, Stuttgart 2007, 91–99; JÄGGI, Kirche (wie Anm. 5), 79 f. 8 Godefridus J. C. SNOEK, Medieval Piety from Relics to the Eucharist: A Process of Mutual Interaction, Leiden/New York/Köln 1995, 31–64. 9 Immer noch grundlegend: DAVIES, Secular Use (wie Anm. 6). Siehe auch Karsten IGEL, Von Belagerung bis Mord. Gewalt und Konflikt in spätmittelalterlichen Sakralräumen, in: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, hg. v. Susanne RAU/Gerd SCHWERHOFF, Hamburg 2008, 200–220. 10 Predigt über das erste Buch Mose, gehalten 1523/24, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 14, Weimar 1895, 386. Luthers Werke künftig zitiert als WA. 11 WA 6, 239 (anno 1520): „... unter einem strodach odder sew stal...“; vgl. WA 49, 592 (anno 1544): „Nicht das man daraus ein sondere Kirchen mache, als were sie besser denn andere heuser, do man Gottes wort predigt, Fiele aber die not fur, das man nicht wolte oder kuonte

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nicht jderman sein mus, wie auff der gassen odder marckt“, weil hier auch „etwas sonderlichs (...) gehandelt“ werde, „da bey (...) nicht jderman sein sol“12. Allerdings solle man daraus keine „besondere Kirche“ machen, als wäre sie besser als andere Häuser, in denen Gottes Wort gepredigt werde13. Bei der Wahl und Gestaltung der Kirchenräume sei vor allem auf Zweckmäßigkeit zu achten; einziger Sinn und Zweck von Kirchenbauten sei es, dass die Gemeinde zum Gebet und zur Predigt zusammenkäme, und deshalb sei es auch nur konsequent, dass man Kirchen abreiße, wenn sich keine Gläubigen mehr in ihnen zum Gottesdienst einfänden14. Denselben Grundtenor finden wir auch in Calvins Institutio von 1536: „Wie nun Gott den Gläubigen das gemeinsame Gebet in seinem Wort gebietet, so müssen auch öffentliche Kirchengebäude da sein (...). Nur muß dabei alles Gepränge wegbleiben (...)“15. Calvin betont zudem, dass man den Kirchen „nicht irgendeine verborgene Heiligkeit andichten“ solle, „die unser Gebet bei Gott geheiligter machte. Denn wir sind doch selbst Gottes wahre Tempel (...).“ Rund 30 Jahre später, im Zweiten Helvetischen Bekenntnis von 1566, wird das Bild vom Gläubigen als wahrem Tempel Gottes zwar weiterhin hochgehalten, doch wird der Kirche als Ort, wo das Wort Gottes gepredigt wird, nun durchaus Heiligkeit zuer-

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hierin zusamen komen, so moecht man wol draussen beim Brunnen oder anderswo predigen.“ In dieselbe Richtung zielt auch das Votum von Diepold Peringer von 1524: „Denn Gott ist dir ebenso ein gnädiger Gott im Kuhstall wie in der Kirche“, zitiert bei Gudrun LITZ, Die Depotenzierung traditioneller Gnaden- und Heilsmedien, in: Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, hg. v. Johanna HABERER/Berndt HAMM, Tübingen 2012, 87–97, hier: 92. Zum lutherischen Verständnis vom heiligen Ort siehe auch Klaus RASCHZOK, „...an keine Stätte noch Zeit aus Not gebunden“ (Martin Luther). – Zur Frage des heiligen Raumes nach lutherischem Verständnis, Kirche und Kunst 79 (2001), Heft 1, 2–7; Kersting WITTMANN-ENGLERT, Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg im Allgäu 2006, 142 f.; Gerd SCHWERHOFF, Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: RAU/SCHWERHOFF, Topographien (wie Anm. 9), 38–69; Robert J. CHRISTMAN, „Gottes Haus, Werckstadt des Heiligen Geistes“. Lutheran Understanding of Church and Cemetry Space, c. 1570–1620, in: RAU/SCHWERHOFF, Topographien (wie Anm. 9), 221–237. Der 111. Psalm ausgelegt (anno 1530), in: WA 31, 1. Abt., 406. Von der Kirche wird hier der Chor speziell genannt als jener Ort, „welcher von alters her dazu sonderlich ist gebawet und abgesondert, das man daselbst hat das Sacrament gehandelt“. Zur Wertigkeit des Chors in den lutherischen Kirchen siehe auch Frank SCHMIDT, Der lutherische Kirchenbau im 16. und 17. Jahrhundert, in: Die Anfänge des protestantischen Kirchenbaus im 16. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Kirchengeschichte der Kirchenprovinz Sachsen 3), hg. v. Christina NEUSS/Michael SCHOLZ (Red.), Magdeburg 2010, 9–19, hier: 17–19. Siehe Otto BARTNING, Vom Raum der Kirche. Aus Schriften und Reden ausgewählt und eingeleitet von Alfred Siemon, Bramsche bei Osnabrück 1958, 14 f. Vgl. WA 14, 386 f. (anno 1523/24); WA 37, 439 (anno 1534); WA 49, 588–615 (anno 1544). Epistel am S. Stephans-Tage 1522, in: WA 10/1,1, 252 (anno 1522): „Denn keyn ander ursach ist kirchenn zu bawenn, ßo yhe eyn ursach ist, denn nur, das die Christen mugen zusamenkomen, betten, predigt horen und sacrament empfahen. Und wo dieselb ursach auffhoret, sollt man dieselben kirchen abbrechen, wie man allen andernn hewßern thutt, wenn sie nymmer nuetz sind.“ Johannes CALVIN, Unterricht in der christlichen Religion (Institutio Christianae Religionis 2), übersetzt und bearbeitet von Otto WEBER, Neukirchen 1937, 472.

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kannt: „So wenig wir aber glauben, daß Gott wohne in Tempeln von Händen gemacht, so gewiß wissen wir, daß die Räume, die Gotte und seiner Verehrung geweiht sind, um des Wortes Gottes und der heiligen Handlungen willen nicht gemein, sondern heilig sind, und daß diejenigen, die in denselben sich aufhalten, sich ehrerbietig und anständig verhalten müssen, da sie ja an einem heiligen Orte vor dem Angesichte Gottes und seiner heiligen Engel sich befinden“16. „Nicht gemein, sondern heilig“ – „non prophana sed sacra“17 – so lauten die entscheidenden Worte, wobei es hier Predigt und Gebet sowie die evangelischen Sakramente Taufe und Abendmahl sind, die in ihrem Vollzug den Raum heiligen, und nicht wie im katholischen Verständnis die Realpräsenz Christi in der Eucharistie. Dass dies genauso für den Zweig der Wittenberger Reformation galt, zeigt die Predigt zur Einweihung der lutherischen Salvatorkirche in Prag anno 1614, wo das spezifisch evangelische Verständnis von Orts- und Raumsakralität in einem Satz sehr anschaulich charakterisiert wird: „Nicht der Orth macht den Menschen heilig, sondern ein heiliger frommer und gerechter Mensch macht den Orth heilig“18. RE-FORMATION DES KIRCHENRAUMS?19 DIE NÜRNBERGER KIRCHEN NACH DER REFORMATION Mit dem Verweis auf den einzelnen Christenmenschen, der durch seinen Glauben und sein Zusammensein mit Gleichgesinnten aus einem x-beliebigen Raum einen heiligen macht, wäre die Titelfrage nach dem Verbleib des Heiligen nach der Reformation eigentlich beantwortet. Doch ganz so einfach haben es sich auch die Protestanten nicht gemacht – immerhin standen sie bei jeder einzelnen der von ihnen genutzten Kirchen erneut vor der Frage nach der adäquaten räumlichen Inszenierung ihres Kults. Von Interesse sind dabei nicht so sehr die kirchlichen Neubauten – solche sind im 16. Jahrhundert noch ausgesprochen rar und mehren sich erst nach dem 30-jährigen Krieg20 –, sondern vielmehr jene „altgedienten“ 16 Art. XXII; hier zitiert nach der Übersetzung bei: Die wichtigsten Symbole der reformierten und katholischen Kirche, hg. v. Philipp BACHMANN, Erlangen/Leipzig 1891, 100. 17 Zitiert nach der neuesten Edition des lateinischen Originaltextes; Reformierte Bekenntnisschriften 2/2 (1562–1569), Neukirchen-Vluyn 2009, 334. 18 Vera ISAIASZ, „Architectonica Sacra“: Feier und Semantik städtischer Kirchweihen im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnung und ihre Repräsentation, hg. v. Vera ISAIASZ u. a., Frankfurt/New York 2007, 125– 146, hier: 137. 19 Das schöne Bild der reformationsbedingten „Re-Formation“ des Kirchenraums findet sich bereits in Will COSTER/Andrew SPICER, Introduction: The Dimensions of Sacred Space in Reformation Europe, in: Sacred Space in Early Modern Europe, hg. v. Will COSTER/Andrew SPICER, Cambridge 2005, 1–16, hier: 7. 20 Zum evangelischen Kirchenbau siehe Georg GERMANN, Der protestantische Kirchenbau in der Schweiz von der Reformation bis zur Romantik, Zürich 1963; Reinhold WEX, Ordnung und Unfriede. Raumprobleme des protestantischen Kirchenbaues im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland, Marburg 1984; Geschichte des protestantischen Kirchenbaus. Festschrift für Peter Poscharsky zum 60. Geburtstag, hg. v. Klaus RASCHZOK/Reiner SÖRRIES, Erlangen

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mittelalterlichen Kirchen, die zum Zeitpunkt der Reformation bereits auf eine jahrhundertelange Bau- und Ausstattungsgeschichte zurückblickten und nun, im frühen 16. Jahrhundert, den Neugläubigen zur Nutzung übergeben wurden und für deren Kult adaptiert werden mussten. Was geschah – so ist zu fragen – in diesen Fällen mit der traditionellen Aufteilung in Laienhaus und Sanktuarium, was mit den Altären samt ihren Reliquien und Heiligenfiguren, die im Mittelalter als sakrale Kulminationspunkte par excellence fungiert hatten? Reichte es, dass die Heiligen nun nicht mehr in der Liturgie erwähnt wurden, dass vor ihren Bildern fortan keine Lichter mehr entflammt und die Reliquienschreine nicht mehr in Prozessionen herumgetragen wurden, um die Realpräsenz der Heiligen aus den Kirchen zu verbannen und aus den Heiligenfiguren und Reliquienschreinen reine Kunstwerke ohne jegliche sakrale Potenz zu machen? Oder war es notwendig, sie physisch „abzutun“, Bilder, Reliquiare, Altäre und Sakramentshäuser also aus den Kirchen zu entfernen oder gar zu zerstören, um jegliche Materie, an die sich einst Heiligkeit gebunden hatte, gleichsam magisch zu bannen? Es ist längst bekannt, dass die unterschiedlichen Zweige der Reformation auf diese Herausforderung unterschiedlich reagiert haben. Luthers vielzitierte Wertung der Bilder als Adiaphora, als nicht heilsnotwendige Nebendinge, hat dazu geführt, dass es in den lutherischen Gebieten kaum zu bilderstürmerischen Aktionen gekommen ist21. Das von Johann Michael Fritz geprägte Diktum von der „bewahrenden Kraft des Luthertums“22 zeigt sich nirgends so eindrücklich wie in den 1994; Dieter GROSSMANN, Protestantischer Kirchenbau, Marburg 1996; Jan HARASIMOWICZ, Protestantischer Kirchenbau im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, hg. v. Peter Claus HARTMANN, 2. Aufl., Frankfurt 2006, 327–370; Reiner SÖRRIES, Von Kaisers Gnaden. Protestantische Kirchenbauten im Habsburger Reich, Köln 2008; Hanns Christof BRENNECKE, Auf der Suche nach einer sichtbaren Identität. Protestantischer Kirchenbau zwischen Sakralität und Profanität, Zeitschrift für Theologie und Kirche 107 (2010), 31–63; siehe auch die Beiträge in NEUSS/SCHOLZ, Die Anfänge (wie Anm. 12). Zuletzt: Lutheran Churches in Early Modern Europe, hg. v. Andrew SPICER, Farnham/Burlington 2012. 21 „...vmb die bilder ist es auch so gethan, das sie vnno(e)ttig sonder frey sein, wir mügen sie haben oder nicht haben, wie wol es besser were wir hatten sie gar nicht“; Invocavit-Predigten, hier zitiert nach: Martin Luther: Studienausgabe 2, hg. v. Hans-Ulrich DELIUS, Berlin 1982, 541. Zur Bilderfrage bei Luther generell siehe Margarete STIRM, Die Bilderfrage in der Reformation (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte XLV), Gütersloh 1977, 17– 123; Sergiusz MICHALSKI, The Reformation and the Visual Arts, London/New York 1993, 1– 42; KOERNER, Reformation (wie Anm. 2), 402–440; Irene DINGEL, „Dass wir Gott in keiner Weise verbilden.“ Die Bilderfrage zwischen Calvinismus und Luthertum, in: Gott im Wort – Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus?, hg. v. Andreas WAGNER, Volker HÖRNER u. Günter GEISTHARDT, Neukirchen-Vluyn 2005, 97–112; Gudrun LITZ, Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007, 21–27. 22 Johann Michael FRITZ, Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, Regensburg 1997. Vgl. bereits Paul GRAFF, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus, Göttingen 1921, 99–106. Siehe auch KarlHeinz MEISSNER, Bewahrung und Veränderung. Konsequenzen der Reformation für die evangelischen Kirchenbauten in Erfurt, in: Erfurt im Mittelalter. Neue Beiträge aus Archäo-

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beiden großen Nürnberger Pfarrkirchen St. Sebald (Farbtafel 2) und St. Lorenz (Farbtafel 3), beides Bauten aus dem Hoch- und Spätmittelalter, die 1525 dem lutherischen Kult übergeben wurden23. Auch wenn nicht alle Ausstattungsgegenstände, die heute in ihnen zu sehen sind, für ihren aktuellen Aufstellungsort geschaffen wurden, so gilt dies doch für einen großen Teil. So ist in der Sebalduskirche noch heute das kunstvolle, 1508-1519 von Peter Vischer und seinen Söhnen geschaffene Bronzeguss-Gehäuse für den Reliquienschrein des heiligen Sebald erhalten – nota bene inklusive dem fast 120 Jahre älteren Schrein, der seit der Reformation jedoch nicht mehr wie zuvor alljährlich am Jahrestag des Heiligen, dem 19. August – der mit der Reformation aus dem Festkalender verschwand –, um die Kirche getragen wird24. Und in St. Lorenz verblieben sowohl das kunstvolle Sakramentshaus von Adam Krafft als auch der Englische Gruß von Veit Stoß an Ort und Stelle. Beide Bildwerke waren zum Zeitpunkt der Reformation erst wenige Jahre alt; das Sakramentshaus verlor jedoch seine Funktion als Aufbewahrungsort der Eucharistie, während der Englische Gruß nun dauerhaft in seiner Stoffhülle verblieb (Farbtafel 4), die ihn auch zuvor schon – außer an den hohen Festtagen – den Augen der Gläubigen entzogen hatte25. Eine Statuenentfernung ist in Nürnberg nur für die Frauenkirche überliefert, die 1525 ebenfalls den Lutheranern übergeben worden war; betroffen war eine offenbar besonders verehrte Marienfigur, die 1529 auf Befehl des Stadtrats aus der Kirche geschafft werden musste, um einem Rückfall in die Idolatrie zuvorzukommen. Auch in Hinblick auf die Altäre lässt sich in den Nürnberger Kirchen ein pragmatisches Vorgehen der Lutheraner rekonstruieren, indem nur jene Altäre weggeräumt wurden, die die Sicht- und Hörbarkeit des Predigers beeinträchtigten; in St. Sebald betraf dies drei, in St. Lorenz zwei der dort insgesamt 16 Altarstellen26. In seiner „Deutschen Messe“ von 1526 hatte Luther zwar generell empfoh-

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logie, Bauforschung und Kunstgeschichte, hg. v. Mark ESCHERICH, Christian MISCH u. Rainer MÜLLER, Berlin 2003, 270–290; Maria CRACIUN, The Construction of Sacred Space and the Confessional Identity of the Transylvanian Lutheran Community, in: Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa, hg. v. Evelin WETTER, Stuttgart 2008, 97–124; Klaus RASCHZOK, Evangelische Kirchenbauten im Spannungsfeld von Religion und Gesellschaft, in: Lebensraum Kirchenraum. Das Heilige und das Profane, hg. v. Hanns KERNER, Leipzig 2008, 17–36, bes. 20 f. Zur Nürnberger Situation zuletzt Bridget HEAL, Sacred Image and Sacred Space in Lutheran Germany, in: COSTER/SPICER, Sacred Space (wie Anm. 19), 39–59 (mit älterer Lit.). Siehe auch Gudrun LITZ, Nürnberg und das Ausbleiben des „Bildersturms“, in: Bildersturm – Wahnsinn oder Wille Gottes?, hg. v. Cécile DUPEUX, Peter JEZLER u. Jean WIRTH, Ausst.Kat. Bern 2000, 90–96. Gerhard WEILANDT, Die Sebalduskirche in Nürnberg. Bild und Gesellschaft im Zeitalter der Gotik und Renaissance, Petersberg 2007, 156–163, 362–418 und 526–555. LITZ, Nürnberg (wie Anm. 23), 90–92; HEAL, Sacred Image (wie Anm. 23), 53 f. Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler im Zeitalter der Spätgotik und Renaissance 1, hg. v. Thomas HAMPE, Wien/Leipzig 1904, 371, Nrn. 2664 f.; Walter HAAS, Die mittelalterliche Altaranordnung in der Nürnberger Lorenzkirche, in: 500 Jahre Hallenchor St. Lorenz zu Nürnberg 1477–1977, hg. v. Herbert BAUER, Gerhard HIRSCHMANN u. Georg STOLZ, Nürnberg 1977, 63–108, hier: 87.

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len, in den aus katholischen Zeiten übernommenen Kirchen die Altäre abzureißen, doch sah er darin keine Vordringlichkeit; wichtiger sei, dass sich der Pfarrer – wie einst Jesus beim Abendmahl seinen Jüngern – beim Dienst am Altar der Gemeinde zuwende und ihr nicht, wie dies im katholischen Kult der Fall sei und angesichts der großen Altarretabel gar nicht anders möglich war, den Rücken zuwende27. Interessant mag in diesem Zusammenhang auch sein, dass der Altar der Torgauer Schlosskapelle, der als erstem Neubau eines lutherischen Gotteshauses eine gewisse Programmatik zukam, den Typus des Tischaltars vertritt und schon durch seine Form dokumentiert, dass in ihm keine Reliquien deponiert sind wie in den mittelalterlichen Kasten- oder Blockaltären28. Doch zurück zu Nürnberg: Schaut man sich Innenansichten der genannten Pfarrkirchen aus dem 17. Jahrhundert an, so fällt trotz des prima vista mittelalterlichen Gesamteindrucks die rigorose Betonung der Kanzel ins Auge (Farbtafel 5)29. Diese war jeweils an einem der Freipfeiler des Schiffs angebracht und bildete nun insofern ein neues „Gravitationszentrum“, als die ganze Bestuhlung des Raums auf sie ausgerichtet war. In der Kanzel als Ort der Predigt und Verkündigung der Heiligen Schrift entstand somit ein neuer sakraler „hot spot“, der dazu führte, dass die traditionelle, auf den Chor und den Hauptaltar ausgerichtete Längsorientierung der Kirche zugunsten einer Betonung der Querachse aufgegeben wurde. Die unschöne Konsequenz aus dieser tiefgreifenden räumlichen Neuordnung war, dass ein Teil der Kirchgänger beim Abendmahl dem Zelebranten den Rücken zuwandte beziehungsweise sich bei dieser Gelegenheit umdrehen musste, doch scheint man dies ganz offensichtlich in Kauf genommen zu haben. Eine explizite Parallele für diese Sakralisierung der Kanzel findet sich in der Predigt zur Einweihung der Nieuwe Lutherse Kerk in Amsterdam von 1671, wo das Logenhaus des dort theaterförmigen Kirchenraums mit der Vorhalle des Salomonischen Tempels verglichen wird, der Hauptraum, „in dem das Heilige Sakrament empfangen wird“, mit dem Sanctum, und die Kanzel schließlich „mit dem Allerheiligsten, zu dem nur der Berufene Zutritt hat“30.

27 WA 19, 80. 28 Steffen DELANG, Die Schlosskapelle in Torgau – der älteste protestantische Kirchenbau?, in: NEUSS/SCHOLZ, Die Anfänge (wie Anm. 12), 91–116, hier: 95; Hans-Joachim KRAUSE, Die Schlosskapelle in Torgau, in: Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, hg. v. Harald MARX/Cecilie HOLLBERG, Dresden 2004, 175–188, hier: 182; Gabriele WIMBÖCK, Macht des Raumes, Raum des Bildes: Die Ausstattung der Schloßkirche von Torgau, in: Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation, hg. v. Enno BÜNZ, Stefan RHEIN u. Günther WARTENBERG, Leipzig 2005, 233– 264, hier: 241. 29 Vgl. HEAL, Sacred Image (wie Anm. 23), 40 und 49. 30 Sergiusz MICHALSKI, Einfache Häuser – Prunkvolle Kirchen. Zur Topik der frühen protestantischen Debatten um den Kirchenbau, in: RASCHZOK/SÖRRIES, Geschichte (wie Anm. 20), 44–46, hier: 44; das originalsprachliche Zitat findet sich bei Hartmut MAI, Der evangelische Kanzelaltar. Geschichte und Bedeutung, Halle 1969, 247.

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DIE PERSISTENZ DES „HEILIGEN“ IM NÜRNBERGER LAND Nürnberg darf nun nicht unbesehen als repräsentativ für den lutherischen Umgang mit überkommenen Kirchenräumen und ihrem Mobiliar angesehen werden. Bereits ein Blick in das Nürnberger Umland zeigt, dass die alten Vorstellungen von Raum- und Dingheiligkeit sich hier sehr viel beharrlicher hielten als in der großen Reichsstadt. Insbesondere jene Orte, die über mittelalterliche Kultbilder verfügten und deshalb von Wallfahrern aufgesucht wurden, waren schon aus ökonomischen Gründen nicht vital an einer aktiven Depotenzierung ihrer Heiligen und deren Bildwerke interessiert31. Veitsbronn bei Fürth etwa wurde nicht nur wegen seiner augenheilenden Wasserquelle besucht, sondern auch wegen der dort – genauer: in der seit 1529 evangelischen Veitsbronner Wehrkirche – verwahrten Statue des heiligen Vitus (Farbtafel 6), die bis ins 18. Jahrhundert nicht nur von den Katholiken aus dem 7 km entfernten Herzogenaurach, sondern auch von den protestantischen Bewohnern von Veitsbronn selbst und seiner unmittelbaren Umgebung bei Problemen mit dem Vieh um Hilfe angegangen wurde32. Interessant ist auch der Fall der Creglinger Herrgottskirche im badenwürttembergischen Grenzgebiet zu Unterfranken, heute vor allem bekannt wegen des wunderbaren, Tilman Riemenschneider zugeschriebenen Altarretabels aus den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts (Farbtafel 7)33. Die Kirche wurde 1384 von den Grafen Konrad IV. und Gottfried Hohenlohe von Brauneck errichtet, nachdem dort auf einem Acker eine Hostie gefunden worden war und sich in der Folge Wunder ereigneten34. Die Wallfahrten nach Creglingen fanden nach Einführung der Reformation 1528 dadurch ein Ende, dass die Kirche vorerst geschlossen wurde – wie lange, ist freilich nicht ganz klar; klar ist nur, dass der im Mittelschiff 31 Reiches Material zu diesem Thema liefert Elisabeth ROTH, Wallfahrten zu evangelischen Landkirchen in Franken, Jahrbuch für Volkskunde N.F. 2 (1979), 135–160. Vgl. auch Robert W. SCRIBNER, The Impact of the Reformation on Daily Life, in: Mensch und Objekt im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Leben – Alltag – Kultur. Internat. Kongress Krems 1988, Wien 1990, 315–343 (in deutscher Übersetzung in SCRIBNER, Religion und Kultur (wie Anm. 4) 303–330); HEAL, Sacred Image (wie Anm. 23), 57 f. Interessant ist auch der Fall des Brunnenheiligtums der heiligen Winefride in Holywell in Wales; Alexandra WALSHAM, Holywell: Contesting Sacred Space in Post-Reformation Wales, in: COSTER/SPICER, Sacred Space (wie Anm. 19), 211–236. 32 Gertrud FRAUENKNECHT, Die evangelische Pfarrkirche Veitsbronn als Ziel einer Wallfahrt, in: Festschrift Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte, hg. v. Edith ENNEN/Günter WIEGELMANN, Bonn 1972, 384–394; ROTH, Wallfahrten (wie Anm. 31), 144 f.; SCRIBNER, Religion und Kultur (wie Anm. 4), 313 f.; Manfred WELKER, Glaube – Brauchtum – Heimat. Kirchenpatrozinien und Heiligenfeste zwischen Aurach, Aisch, Reicher Ebrach und Regnitz (Schriften zur Heimatpflege im Landkreis Erlangen-Höchstadt 6), 94. 33 Zur Frage, ob der Altaraufsatz für seinen heutigen Aufstellungsort gefertigt wurde, siehe Holger SIMON, Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider, 2. Aufl., Berlin 2002. 34 Zur Geschichte der Kapelle siehe Hermann EHMER, Die Herrgottskirche bei Creglingen. Vom Kultort zur Kunstandacht, Jahrbuch für Volkskunde N.F. 16 (1993), 137–160; SIMON, Creglinger Marienaltar (wie Anm. 33), 29–41. Zur Kapelle selbst siehe Sabine KUTTEROLFAMMON, Die Herrgottskirche zu Creglingen, 3. Aufl., Gerchsheim 2007.

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stehende Hostienaltar auch in nachreformatorischer Zeit noch als sakraler Anziehungspunkt wirkte, finden sich doch um diesen Altar herum in dichter Drängung zahlreiche Gräber aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowie dem 17. und 18. Jahrhundert, die sich schon durch ihre Lage ganz explizit auf den Altar beziehen (Farbtafel 8 und 9)35. Auch wenn das Sepulkrum des Altars damals längst leer gewesen sein muss, so besaß der Altar als solcher beziehungsweise der „heilige“ Ort, auf dem er steht, offenbar noch immer eine materiale Potenz beziehungsweise eine sakrale Präsenz, deren Nähe auch von Protestanten in der Hoffnung „auf fröhliche Auferstehung“ – wie es auf einigen Grabplatten heißt – gesucht wurde.

VOM UMGANG MIT DEN UND DEM HEILIGEN IN DEN REFORMIERTEN GEBIETEN DER SCHWEIZ In jenen Gebieten hingegen, die sich unter dem Einfluss von Zwingli und Calvin der neuen Konfession zuwandten, begegnete man der latenten Idolatrie-Gefahr, die von den Altären, Reliquien und anderen traditionellen Heilsmedien ausging, sehr viel weniger entspannt als in den lutherischen Gebieten36. Schon die Tatsache, dass man Heiligenfiguren „auf den Altären mit der Blickrichtung zu den Menschen“ aufstelle, war etwa für Zwingli ein untrügliches Zeichen dafür, dass man den Heiligenbildern „etwas zutraut“37. Zwingli meinte gar beobachten zu können, dass Bildwerke bereits durch ihre Aufstellung in einer Kirche zu Göttern würden, denen man Kräfte zuschreibe, die Gott allein zustünden38. Selbst Bilder schlechter Menschen wie etwa Herodes würden dadurch, dass sie in einer Kirche 35 Die Grabplatten sind inventarisiert in Harald DRÖS, Die Inschriften des ehemaligen Landkreises Mergentheim (Die Deutschen Inschriften 54), Wiesbaden 2002 (die Grabsteine sind kartiert auf Tafel CXXVII; die dort eingetragenen Nummern entsprechen den Katalognummern im Text). 36 Vgl. Regnerus STEENSMA, Desacralisatie binnen het gereformeerd protestantisme. De protestantse omgang met de inventaris van de voormalige katholieke kerken, in: Materieel christendom. Religie en materiële cultuur in West-Europa, hg. v. Arie L. MOLENDIJK, Hilversum 2003, 211–232. 37 Huldrych ZWINGLI, Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel (1523), in: Huldrych Zwingli, Schriften 2, hg. v. Thomas BRUNNSCHWEILER/Samuel LUTZ, Zürich 1995, 256. Zur Bilderfrage bei Zwingli siehe auch Charles GARSIDE, Zwingli and the Arts (Yale Historical Publications, Miscellany 83), New Haven 1966; STIRM, Die Bilderfrage (wie Anm. 21), 138– 153; Hans-Dietrich ALTENDORF, Zwinglis Stellung zum Bild und die Tradition christlicher Bildfeindschaft, in: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation, hg. v. Hans-Dietrich ALTENDORF/Peter JEZLER, Zürich 1984, 11–18; MICHALSKI, The Reformation (wie Anm. 21), 51–59; Carola JÄGGI, Die Bilderfrage im Kontext des reformierten Protestantismus, in: Erinnerung und Erneuerung. Vorträge der 5. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 10), hg. v. Matthias FREUDENBERG/Georg PLASGER, Wuppertal 2007, 29–54; LITZ, Bilderfrage (wie Anm. 21), 27–33. 38 Huldrich ZWINGLI, Kommentar über die wahre und falsche Religion (1525), in: Huldrych Zwingli, Schriften 3, hg. v. Thomas BRUNNSCHWEILER/Samuel LUTZ, Zürich 1995, 439.

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zur Schau gestellt würden, zum Gegenstand der Verehrung, da die einfältigen Leute gar nicht wüssten, wen sie überhaupt vor sich haben39. Wenn aber Bildern eine solche mediale, ja sakramentale Eigenmacht eingeräumt wird, wie dies bei Zwingli der Fall ist, dann konnte es nicht ausreichen, sie lediglich – wie in Nürnberg gesehen – durch Kultentzug zu depotenzieren. Vielmehr mussten sie physisch zerstört werden, mussten ein für alle Male aus den Augen der Gläubigen hinweggeschafft werden. Nirgends ist die reformatorische beziehungsweise richtiger: die reformierte Desakralisierung des Kirchenraums so gut nachzuvollziehen wie in Zürich. Im September 1523 kam es dort – vermutlich in direktem Zusammenhang mit einer bilderfeindlichen Predigt Zwinglis40 – erstmals zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen „etlich tafelen, brief und ander gottsgezierden“ in der Pfarrkirche St. Peter zu Bruch gingen41. Aus derselben Zeit oder kurz danach dürften auch die tiefen Kratzspuren auf dem mehrteiligen Panoramabild mit den Zürcher Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius stammen (Farbtafel 10 und Farbtafel 11), das seit 1502 in der sogenannten Zwölfbotenkapelle an der Südseite des Chors des Großmünsters an der Wand hing und dort zur bildlichen Ausstattung des Heiligengrabes gehörte42. Pünktlich zu Weihnachten 1523 erließ dann der Zürcher Rat das Verbot öffentlicher Kulthandlungen wie Prozessionen oder die Aussetzung von Reliquiaren an bestimmten Festtagen. Ebenfalls auf obrigkeitliche Initiative hin erfolgte ein halbes Jahr später, im Sommer 1524, die planmäßige Beseitigung der Bilder aus den Zürcher Kirchen43. Um Störungen durch das Volk zuvorzukommen, wurde angeordnet, dass die Bilder in einer konzentrierten Aktion hinter verschlossenen Türen abgeräumt werden sollten44. Und so geschah es 39 Ebd., 443. Vgl. Zwinglis „Kurze christliche Einleitung“ von 1523: „Aber die bilder, die gemeld, die wir in den templen habend, ist offenbar, das sy die geverd der abgötterey geborn habend. Darumb sol man sy da nümmen lassen (...) da man inen einigerley eer anthu(o)t. Voruß sind sy in den templen unleydenlich; denn alles, so wir darinn habend, ist uns groß“, hg. v. Emil EGLI/Georg FINSLER, Huldreich Zwinglis sämtliche Werke 2 (Corpus Reformatorum 89), Leipzig 1908, 658. 40 Emil EGLI, Schweizerische Reformationsgeschichte 1, hg. v. Georg Finsler, Zürich 1910, 95– 97. Siehe auch Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3, Die Stadt Zürich, Teilband 1 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 110), hg. v. Regine ABEGG u. a., Bern 2007, 129. 41 Emil EGLI, Aktensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519– 1533, Nieuwkoop 1973 (Nachdruck der Ausgabe Zürich 1879), 158 f., Nr. 414. Vgl. Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 2, Die Stadt Zürich, Teilband 1 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 99), hg. v. Regine ABEGG/Christine BARRAUD WIENER, Bern 2002, 148. 42 Peter JEZLER, Die Desakralisierung der Zürcher Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius in der Reformation, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Peter DINZELBACHER/Dieter R. BAUER, Ostfildern 1990, 296–319, hier: 299–302. 43 EGLI, Aktensammlung (wie Anm. 41), 240, Nr. 552. Vgl. Daniel GUTSCHER, Das Grossmünster in Zürich. Eine baugeschichtliche Monographie (Beiträge zur Kunstgeschichte der Schweiz 5), Bern 1983, 158; Peter JEZLER, Der Bildersturm in Zürich 1523–1530, in: DUPEUX/JEZLER/WIRTH, Bildersturm (wie Anm. 23), 75–83, hier: 79. 44 „Vorschlag wegen der Bilder und der Messe“, in: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke 3 (Corpus Reformatorum 90), hg. v. Emil EGLI, Georg FINSLER u. Walther KÖHLER, Leipzig 1914, 115 f.

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auch: Am 20. Juni wurden die städtischen Kirchen geschlossen und den Stiftern der Bilder die Möglichkeit gegeben, ihre Stiftungen zurückzunehmen45. Nachdem dies geschehen war, befanden drei Kleriker – unter ihnen Zwingli höchstselbst sowie der Pfarrer von St. Peter, Leo Jud – darüber, welche Bilder zerstört werden sollten und welche bleiben durften46. Bleiben durften beispielsweise die Glasfenster, ebenso die Schlusssteine, Teile also der architekturgebundenen Ausstattung, was nicht zuletzt praktische Gründe gehabt haben dürfte. Figürliche Steinskulpturen allerdings wurden durch städtische Werkleute zerschlagen, wobei hier ein Unterschied gemacht wurde zwischen solchen, die verehrt wurden, und solchen, die außer Reichweite waren und deshalb keinen Verdacht auf sich lenkten, „Götzenbilder“ zu sein. Beispielsweise – so heißt es in Zwinglis Antwort an den Urner Landschreiber Valentin Compar vom April 1525 – ehre niemand den Reiter Karl den Großen, der am Kirchturm des Großmünsters angebracht sei, weshalb man diesen an seinem Ort belassen habe, da er „gantz und gar ghein ergernus“ bringe47. Eine weitere Karlsstatue, die sich im Großmünster befand, habe man hingegen – so Zwingli – weggeräumt, da man sie „wie ander götzen“ verehrt habe, und Zwingli droht bei dieser Gelegenheit explizit an, dass auch die Karlsstatue am Kirchturm entfernt werde, „sobald man sich an dem ouch vergon wurde mit abgöttry“48. Gnade vor den Augen der Reformatoren fand hinwiederum das bereits erwähnte Stadtpanorama mit dem Martyrium von Felix, Regula und Exuperantius (Farbtafel 10), das zu jenem Zeitpunkt bereits die Kratzspuren auf den Gesichtern aufgewiesen haben muss; es wurde – zusammen mit dem Reliquienschrein der drei Stadtheiligen, der bis dahin ebenfalls in der Zwölfbotenkapelle verwahrt worden war – in die Sakristei des Großmünsters verbracht. Möglicherweise entging das Bild deshalb der Zerstörung, weil es eine Gemeinschaftsstiftung von „fil frommer lütten“ war, darunter vielleicht auch einiger Honoratioren49. Möglich ist aber auch, dass bereits damals der künstlerische und dokumentarische Eigenwert der sich hinter den Martyriumsdarstellungen entfaltenden Ansicht Zü45 Siehe dazu den Bericht in der 1526 von Gerold Edlibach verfassten Chronik; Peter JEZLER, „Da beschachend vil grosser endrungen“. Gerold Edlibachs Aufzeichnungen über die Zürcher Reformation 1520–1526, hg. und kommentiert v. Peter JEZLER, in: Bilderstreit (wie Anm. 37), 41–74, hier: 56 Anm. 178. Vgl. EGLI, Aktensammlung (wie Anm. 41), 234 f., Nr. 543; ebd., 237, Nr. 546; siehe auch Peter JEZLER, Bildersturm (wie Anm. 43), 75 und 79. 46 Emil EGLI, Aktensammlung (wie Anm. 41), 231 f., Nr. 532; vgl. Peter JEZLER, Etappen des Zürcher Bildersturms. Ein Beitrag zur soziologischen Differenzierung ikonoklastischer Vorgänge in der Reformation, in: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen 46), hg. v. Bob SCRIBNER/Martin WARNKE, Wiesbaden 1990, 143–174, hier: 155 f. 47 Huldreich Zwinglis sämtliche Werke 4 (Corpus Reformatorum 94), hg. v. Emil EGLI u. a., Zürich 1927, 95 f. 48 Ebd. Es ist nicht klar, ob Zwingli mit dem reitenden Karl dem Großen das romanische Reiterrelief hoch oben am Nordturm des Großmünsters meinte, das allerdings keine Indizien aufweist, dass es sich hier tatsächlich um einen königlichen Reiter handelt; am Südturm wiederum ist zwar eine Karlsstatue angebracht, doch zeigt diese keinen Reiter, sondern einen Thronenden. Beide haben – wie man sieht – die Reformation unbeschadet überstanden. 49 JEZLER, Gerold Edlibachs Aufzeichnungen (wie Anm. 45), 59.

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richs erkannt wurde; um 1566 jedenfalls wurden die Heiligen abgesägt und die verbliebenen figürlichen Partien übermalt, das einstige Sakralbild also zu einer profanen Stadtvedute umgestaltet50. In dieser Fassung scheint das Bild wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden zu sein, vielleicht in jenem Wirtshaus, in dem es 1817 bei einem Umbau wiederentdeckt wurde. Was mit den Reliquien der Stadtheiligen geschah, ist widersprüchlich überliefert; vermutlich wurden sie vernichtet, um jeglichem Rückfall in den „Götzendienst“ zuvorzukommen51. Der Schrein der Heiligen dürfte hingegen zusammen mit den anderen kirchlichen Kleinodien aus Edelmetall im September 1525 von der Stadt eingezogen und der Münze überantwortet worden sein52. Bereits zuvor, im Dezember 1524, waren der Altar und die Heiligentumben in der Zwölfbotenkapelle abgebrochen worden. Die übrigen Altäre blieben derweil noch fast zwei Jahre stehen, wenn auch ohne „alle zierden“ und ohne Reliquien in den Altarsepulkren, da diese bereits zuvor entfernt worden waren53. Im September 1526 wurden dann in allen Zürcher Stadtkirchen die Altäre „glatt und suber“54 abgebrochen, wobei interessante archäologische Befunde zu Tage traten, die von den Reformatoren für ihre Sache ausgedeutet wurden. So berichtet Heinrich Bullinger in seiner Reformationschronik von 1567, dass man beim Abbruch des Fronaltars im Zürcher Großmünster einen intakten Plattenbelag vorgefunden habe, woraus er haarscharf folgerte, dass der Altar nicht zeitgleich mit der Kirche, „sunder erst hernach uff das pflaster gesetzt ist“, also eine sekundäre Baumaßnahme darstellt und nicht zur Originalausstattung des Großmünsters gehört – für Bullinger ein klares Zeichen dafür, dass Altäre – und damit der Verrat am wahren Verständnis des Abendmahls – das Produkt einer relativ jungen Entwicklung innerhalb der Kirchengeschichte seien55. In dieselbe Richtung zielt auch Zwinglis Nachricht, dass man beim Abbruch des Hochaltars von St. Peter auf eine Sickergrube gestoßen sei, die – so Zwingli – vom ursprünglichen Taufstein stamme und ganz ein50 GUTSCHER, Grossmünster (wie Anm. 43), 141–143; JEZLER, Bildersturm (wie Anm. 43), 79; ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 40), 106–108. 51 JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 42), 306 f. 52 Konrad ESCHER, Rechnungen und Akten zur Baugeschichte und Ausstattung des Großmünsters in Zürich. I. Bis 1525, Anzeiger für schweizerische Altertumskunde N.F. 32 (1930), 134– 142; JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 42), 304–306. 53 ESCHER, Rechnungen (wie Anm. 52), 142. Vgl. auch JEZLER, Etappen (wie Anm. 46), 160. 54 So laut der Chronik des Bernhard Wyss; Die Chronik des Bernhard Wyss 1519–1530 (Quellen zur Schweizerischen Reformationsgeschichte 1), hg. v. Georg FINSLER, Basel 1901, 70 f. 55 „Un da man den alltar Zürych zuo dem grossen münster abbrach, fand man das pflaster darunder gantz, das also der alltar mitt der kylchen nitt uffgebuwen, sunder erst hernach uff das pflaster gesetzt ist“; Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte 1, hg. v. Johann Jakob HOTTINGER/Hans Heinrich VÖGELI, Frauenfeld 1838, 367. Vgl. auch Huldrych ZWINGLI, Amica exegesis (1527): „Tiguri urbe vetustissima cum hoc anno arae omnes tollerentur: nulla prorsus inventa est quae cum templo excitata esset. Quid? an hoc signum non est, ad octingentos hinc annos aras nondum fuisse?“ Huldrici Zuingli Opera. Completa Editio Prima, Vol. III, Latinorum Scriptorum pars prima, hg. v. Melchior SCHULER/Johannes SCHULTHESS, Zürich 1832, 483.

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deutig „beweise“, dass die Altäre als solche nicht zum „urkirchlichen“ Bestand gehörten, sondern in der christlichen Frühzeit vielmehr die Taufe das Zentrum der Liturgie gebildet habe56. In bemerkenswerter Realienkenntnis fährt Zwingli dann fort, „daß man durch die gantzen Welt hin kein Sacramenthüslin findt, das über 200 Jar alt sye“. So verwundert es nicht, dass in Zürich und in den anderen reformierten Gebieten auch die Sakramentshäuser eliminiert und die dadurch entstandenen Wandausbrüche mit Mauerwerk zugesetzt wurden57. Mit dem Abbruch der Altäre und der Sakramentshäuser aber – und der bereits zuvor erfolgten Zerstörung der Bilder – erinnerte fortan nichts mehr an die vormals als real gedachte Dauerpräsenz des und der Heiligen im Kirchenraum. Dass es den Reformierten nicht reichte, nur die heilige Species und die Reliquien aus ihren Kirchen zu verbannen, es vielmehr nötig schien, auch deren einstige Gehäuse zu zerstören, zeigt das Bewusstsein für den Zeichencharakter dieser Gegenstände, für das unlösbare Junktim von Form und Inhalt, von äußerer Gestalt und innerem Sinn58. Eine hohe Sensibilität für die Wirkmacht von Orten und Dingen lässt sich in den reformierten Kirchen aber auch an der Neupositionierung von Taufstein und Kanzel ablesen. So ist es keineswegs zufällig, dass in St. Peter zu Zürich der Taufstein 1527 an die Stelle des abgebrochenen Hochaltars im Chorhaupt gerückt wurde (Farbtafel 12); die beim Abbruch des Altars gefundene Sickergrube lieferte hier nur den Vorwand, die zentrale sakramentale Bedeutung der Taufe in der reformierten Theologie auch räumlich zu visualisieren – andernorts (etwa in Basel und in Bern) hat man den Taufstein auch ohne dieses archäologische „Argument“ an den alten Hochaltarstandort im Chor versetzt59. Expliziter 56 „.... do der fronalter zuo sant Peter Zürich geschlissen ward, und man demnach im 1527. jar den touffsteyn an die statt thuon wolt, so man rumpt, findt man, daß eben der selb touffstein vor ouch dagestanden und ein sumpff des verlornen wassers, wie gemeinlich brucht wirdt; was die zyt under dem fronalter vermuret gewesen...“; aus Zwinglis Predigt am 19. Jan. 1528 in Bern, Huldreich Zwinglis sämtliche Werke 6, 1. Teil (Corpus Reformatorum 93,1), hg. v. Emil EGLI u. a., Zürich 1961, 488. Zu Zwinglis Äußerung zu den Sakramentshäusern vgl. auch die entsprechende Nachricht bei Bullinger: „Von Sacramenthüßlinen ist es kundtbar, das sy nitt lang von allten zyten gestanden sind, und fast iren ursprung habend von den Bäpsten Innocentio 3, Honorio 3 und Urbano 4, welche all nach den 1200 iaren nach den zyten Christi geläpt habend. (...) Item alls der fron alltar zuo S. petter in der pfarrkylchen Zürych abgebrochen ward fand man den gemachten sumppff und abgang des verlornen wassers, und alle anzeigung das der Touffstein vor dem alltar eben an dem ort gestanden was.“ HOTTINGER/VÖGELI, Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte (wie Anm. 55), 367 f. 57 Dies bezeugt für Zürich Bernhard Wyss; FINSLER, Die Chronik (wie Anm. 54), 70 f.; vgl. HOTTINGER/VÖGELI, Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte (wie Anm. 55), 368 („In Summa man brach Zürych alle Sacramenthüßlin und Allter in grundab, und vermuret die lucken.“). Siehe auch JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 42), 310–312. 58 Dies wird explizit thematisiert von Bullinger, der darauf hinwies, dass man die Altäre und Sakramentshäuser deshalb „abschlyssen“ (= abbrechen) solle, „damitt ouch die gedächtnus der unseligen dingen abgienge“; HOTTINGER/VÖGELI, Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte (wie Anm. 55), 367. 59 Ulrich RUOFF/Jürg SCHNEIDER, Die archäologischen Untersuchungen in der Kirche St. Peter, Zürich, Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 33 (1976), Heft 1, 2–32, hier: 16; ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 2,1 (wie Anm. 41), 153

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noch wird das Anknüpfen an althergebrachte Vorstellungen von Raumheiligkeit und deren reformatorische Transformation im Falle des Taufsteins im Großmünster fassbar; dieser wurde am 8. Dezember 1524 von seinem bisherigen Standort im Westen der Kirche in die frisch geweißte Zwölfbotenkapelle versetzt – vier Tage, bevor man in derselben Kapelle zum Abbruch der Gräber der Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula schritt und neun Tage vor dem Abbruch des zugehörigen Altars60. Wenn man diesen Prozess mit Peter Jezler lediglich unter dem Gesichtspunkt der Desakralisierung der Zürcher Stadtheiligen sieht und konstatiert, die einst „sancta sanctorum“ geheißene Memorialkapelle habe seit jenem Zeitpunkt „nur noch als nüchternes Taufhaus“ gedient, so verkennt man m.E. die reformatorische Adaption der mit diesem spezifischen Raum verbundenen Sakralität für das Sakrament der Taufe61. Als Taufhaus blieb die Kapelle durchaus auch weiterhin „sancta sanctorum“ – nur jetzt unter reformatorischen Vorzeichen. Erst knappe 75 Jahre später wurde diese Situation aufgegeben zugunsten einer nochmaligen räumlichen Umgestaltung, die ihrerseits Sinn für sakrale Raumbezüge dokumentiert, auch wenn sie letztlich durch eine konkrete liturgische Neuerung veranlasst wurde: 1598 bestimmte nämlich ein obrigkeitlicher Beschluss, „dass die bisher an jedem Wochentag und daher oft nur in kleinem Kreise gespendete Taufe von nun an nur noch an Sonntagen und wochentags nach der Predigt und damit vor der ganzen Gemeinde zu vollziehen sei“62. Im Großmünster nahm man diesen Beschluss zum Anlass, einen neuen Taufstein anfertigen zu lassen und diesen im Ostteil des Mittelschiffs aufzustellen; dabei wurde nicht nur der alte, gotische Taufstein als Fundament für den neuen wiederverwendet, sondern auch ein axialer Bezug zur Kanzel gesucht, die sich in der Mitte einer lettnerartig den alten Chor abschrankenden Bühne befand (Farbtafel 13 und Farbtafel 14)63. Predigt und Taufe wurden durch diese Maßnahme in eine auch räumlich und dauer-

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und Aufsicht auf die Grabung auf 154. Auch in Oberwinterthur lässt sich eine Position des Taufsteins im Chor nachweisen, ebenso in den Berner und Basler Kirchen; Carola JÄGGI, Reformation (wie Anm. 3), 77 f. So überliefert in der Chronik von Gerold Edlibach; JEZLER, Gerold Edlibachs Aufzeichnungen (wie Anm. 45), 58. JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 42), 304. Felicia SCHMAEDECKE, Die reformierte Kirche St. Arbogast in Oberwinterthur. Neuauswertung der Ausgrabungen und Bauuntersuchungen 1976–1979 (Zürcher Archäologie, Heft 20), Zürich/Egg 2006, 172 mit Verweis auf Johann Jacob WIRZ, Historische Darstellung der Urkundlichen Verordnungen welche die Geschichte des Kirchen- und Schulwesens in Zürich, wie auch die moralische und einiger Massen die physische Wolfart unsers Volks betreffen. Von der Reformation an, bis auf gegenwärtige Zeiten zusammengetragen, 1. Teil, Zürich 1793, 72. Daniel GUTSCHER/Matthias SENN, Zwinglis Kanzel im Zürcher Grossmünster – Reformation und künstlerischer Neubeginn, in: ALTENDORF/JEZLER, Bilderstreit (wie Anm. 37), 109–116, hier: 112; ABEGG u. a., Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich 3,1 (wie Anm. 40), 121 und 168 f. Dabei hat man auch hier das ältere Taufbecken in den Boden versenkt und zum Auffangen des Taufwassers des darüber aufgestellten neuen Taufsteins benutzt; GUTSCHER, Das Grossmünster (wie Anm. 43), 179 mit Abb. 199. Vor 1524 stand der Taufstein unter der Westempore.

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haft, also unabhängig vom jeweiligen liturgischen Akt wahrnehmbare Beziehung gesetzt. Einen festen Abendmahltisch gab es in Zürich hingegen nicht; da das Abendmahl in Zürich nur vier Mal jährlich gefeiert werden sollte, reichte eine „mensa portatilis“, ein tragbarer Tisch, oder auch eine einfache Holzplatte, die beim Abendmahl auf den Taufstein gelegt und mit einem Tuch abgedeckt wurde64. Taufstein und Kanzel bildeten somit das neue, auch jenseits des liturgischen Vollzugs erfahrbare sakrale Sinnzentrum der Kirche. Dass die damit verbundene Heilspotenz von den Zeitgenossen durchaus erkannt wurde, zeigt ein Blick auf die nachreformatorischen Gräber in St. Peter/Zürich (Farbtafel 15; vgl. auch Farbtafel 12), die sich in auffälliger Weise um den auch hier seit 1598 im Ostteil des Schiffs vor dem Zugang zum Chor stehenden Taufstein scharten und das alte Prinzip der Ad sanctos-Bestattungen damit auf die Taufe beziehungsweise deren perpetuierte Gestaltwerdung, den Taufstein, übertragen haben65. Die Hoffnung auf „fröhliche Auferstehung“ scheint sich hier an die physische Nähe zum Taufort gebunden zu haben, wobei es nicht dessen konkrete Materialität war, die ihn für die Toten so attraktiv machte, sondern die Tatsache, dass hier mit jedem Taufakt Christi Tod und Auferstehung symbolisch nachvollzogen wurde und wird66. Ein abschließender Blick auf den bereits kurz erwähnten Kanzellettner im Zürcher Großmünster mag nochmals mit aller Deutlichkeit das auch bei den Reformierten vorhandene Bewusstsein für die Sakralität von Orten und Dingen zeigen67. Für diesen Kanzellettner nämlich wurden – wie Bullinger in seiner Reformationschronik überliefert – die Mensen der im Juli 1526 zerstörten Altäre wiederverwendet, und zwar nicht irgendwelcher Altäre, sondern die Mensen der Hauptaltäre der drei großen städtischen Bettelordensklöster sowie des Hauptaltars der altehrwürdigen Fraumünsterabtei: „Und am 8 July namm man die fronalltarstein zuo dem Frowenmünster, zuo den predigern, Barfüsseren und Augustinern, und fürt sie zuo dem grossen Münster. Da ward ein nüwe Cantzel, uß ermellten steinen gebuwen: und ward der alltarstein von den predigern, alls der der längist 64 Vgl. Ludwig LAVATER, De ritibus et institutis ecclesiae tigurinae (…) opusculum, Zürich 1702 (Erstaufl. 1559), 52: „Finita concione, mensa portatilis à ministris templo infertur, et ante chorum (ut vocant) collocatur: quae sternitur mundissima mappa.“ Die Umnutzung des Taufsteins zum Abendmahltisch ist etwa für St. Peter in Zürich belegt; Georg GERMANN, Der protestantische Kirchenbau in der Schweiz bis 1900 – 30 Jahre Forschungsgeschichte, in: RASCHZOK/SÖRRIES, Geschichte (wie Anm. 20), 192–200, hier: 193; JÄGGI, Reformation (wie Anm. 3), 78 f. 65 Wilhelm H. RUOFF, Die St.-Peters-Kirche in Zürich als Begräbnisstätte nach der Reformation, Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 33 (1976), 36–44. 66 Vgl. LITZ, Die Depotenzierung (wie Anm. 11), 95. 67 Das Großmünster war nicht die einzige Kirche, die nach der Reformation einen Kanzellettner erhielt. Auch St. Arbogast in Oberwinterthur (1566), das Berner Münster (1574) und St. Peter in Zürich erhielten einen solchen Einbau; zu Oberwinterthur siehe SCHMAEDECKE, St. Arbogast (wie Anm. 62), 96 und 170 f., zu Bern siehe Stephan GASSER, Die Arbeiten am Berner Münster: Vollendung des mittelalterlichen Baus und erste Restaurierungen, in: Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt, hg. v. André HOLENSTEIN, Bern 2006, 195–200, hier: 198 f.

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was, in mitten geleit, das er fürgieng, in die Cantzel, daruff ietzund der predicant stadt“68. Dass es dabei ausgerechnet die Altarplatte aus dem Predigerkloster war, die den Boden des Kanzelkorbs bildete, dürfte nicht nur – wie Bullinger meint – an deren besonders großen Ausmaßen gelegen haben, sondern besaß durchaus Symbolcharakter, denn wie hätte der Triumph der neuen Predigt, ja der neuen Konfession, besser zum Ausdruck gebracht werden können als dadurch, dass der neue Prediger (in Gestalt des reformierten Pfarrers) während der Predigt das Allerheiligste jenes Klosters mit Füßen trat, dessen Orden mehr als alle anderen kirchlichen Institutionen des Spätmittelalters für die forcierte Buß- und Ablasspredigt stand69? Und genauso wenig war es Zufall, dass es der 11. September war, an dem der Kanzellettner im Großmünster 1526 mit einer Predigt Zwinglis eingeweiht wurde; als Festtag der Stadtheiligen Felix und Regula war der 11. September das städtische Kirchweihfest, an dem traditionsgemäß zahlreiche Besucher, darunter auch viele Standesvertreter, aus einem größeren Einzugsgebiet „mit iren spilen, trummen und pfifen“ nach Zürich zogen, wo es zu ritualisierten Loyalitätsbezeugungen zwischen Stadt und Untertanen kam70. 1526 wurde dieser Tag – obwohl nach wie vor unter dem Label der alten Stadtheiligen stehend – von Zwingli und seinen Mitstreitern dazu genutzt, den Sieg der neuen Konfession einer breiten Öffentlichkeit kundzutun. Von einer grundsätzlichen Säkularisierung des alten Kirchweihfestes kann aber keine Rede sein; immerhin ging es am 11. September 1526 auch um eine Weihe, nur eben nicht um eine Altar- oder Kirchweihe, sondern um die Einweihung des neuen Kanzellettners als Herzstück der reformierten Liturgie.

RESÜMÉE Der Blick nach Zürich, Nürnberg und ins ländliche Franken hat sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Heiligen im Protestantismus vor Augen geführt, und mit dem Einbezug weiterer Orte – etwa des calvinistischen Genf71 – ließe sich das Spektrum noch beträchtlich erweitern. Die Titel-Frage also, wo das Heilige nach der Reformation „steckte“, hat durchaus unterschiedliche Antworten erbracht; einerseits konnten Fälle gezeigt werden, wo vorreformatorische Sakralitätsvorstellungen nach der Reformation ungebrochen fortlebten, andererseits solche, wo es zur Destruktion traditioneller Heilsmedien kam. Bei genauerem Hinsehen haben sich jedoch viele der reformatorischen De-Sakralisierungsprozesse auch als Re-Sakralisierungen erwiesen, als Umdeutungen alter, materialgebundener Hei68 HOTTINGER/VÖGELI, Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte (wie Anm. 55), 368. Andernorts wurden die Altarmensen als Abdeckplatten der Abendmahltische wiederverwendet; vgl. JÄGGI, Reformation (wie Anm. 3), 79. 69 Siehe auch JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 42), 312 f. 70 Im Gegensatz zu 30 weiteren Festtagen konnte sich der Felix-und-Regula-Tag im Zürcher Festkalender halten; JEZLER, Desakralisierung (wie Anm. 42), 308 f. 71 Christian GROSSE, Places of Sanctification: the Liturgical Sacrality of Genevan Reformed Churches, 1535–1566, in: COSTER/SPICER, Sacred Space (wie Anm. 19), 60–80.

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ligkeitskonzepte für die neue Konfession72. Sakralität ist – so ließe sich etwas salopp resümieren – überall dort, wo sie gebraucht wird, sie unterliegt historischen Umdeutungen, ist das Produkt individueller oder kollektiver Zuschreibungen und erweist sich gerade in dieser Anpassungsfähigkeit als erkenntnisreiche hermeneutische Kategorie.

72 Zum selben Resultat kommt SCHWERHOFF, Sakralitätsmanagement (wie Anm. 11), 48 f.

MARKIERUNGEN DES HEILIGEN? Zum Kommunikationspotenzial frühbyzantinischer Bodenmosaiken für die „Schaffung“ heiliger Räume Sebastian Watta

Die Thematik der Raumsakralität von Kirchenbauten verschiedener Epochen ist in jüngerer Zeit Ausgangspunkt verschiedener Studien gewesen. Im Fokus stehen hier jeweils Fragen nach der Inszenierung des heiligen Raumes, sowohl architektonisch als auch durch seine Ausstattung, aber auch mentalitäts- und rechtsgeschichtliche Aspekte, wie das Aufkommen und die Entwicklung des Kirchweihritus1. Im Bezug auf spätantike und frühbyzantinische Kirchenbauten ist in einzelnen Fällen auch die Gattung des Bodenmosaiks als eine Quelle für historische Denkmuster, die an den christlichen Versammlungsraum herangetragen wurden, in den Blick genommen worden2. Hierbei ergeben sich Einblicke in differierende Konzepte des Kultraumes und seiner Ausdeutung, aber auch Antworten auf die allgemeine Frage nach einem spätantiken Verständnis von Raumheiligkeit des Kirchenbaus und nach einer Hierarchisierung seiner Teilbereiche3.

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Sharon E. J. GERSTEL (Hg.), Thresholds of the Sacred. Architectural, Art Historical, Liturgical, and Theological Perspectives on Religious Screens, East and West, Washington D.C. 2006; Ute VERSTEGEN, Die symbolische Raumordnung frühchristlicher Basiliken des 4. bis 6. Jahrhunderts. Zur Interdependenz von Architektur, Liturgie und Raumausstattung, Rivista di archeologia cristiana 85 (2009), 567–600; Carola JÄGGI, „Heilige Räume“. Architektur und Sakralität – Geschichte einer Zuschreibung, in: Kirchenbauten der Gegenwart: Architektur zwischen Sakralität und Identitätskrise, hg. v. Angelika NOLLERT u. a., Regensburg 2011, 23– 30; Miriam CZOCK, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter (Millenium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 38), Göttingen 2012. Pauline DONCEEL-VOÛTE, West and East. The Image in Context and the Iconographical Programme of the Church Building, in: Acta Congressus Internationalis XIV Archaeologiae Christianae: Vindobonae 19.–26.9.1999/Frühes Christentum zwischen Rom und Konstantinopel. Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Christliche Archäologie in Wien vom 19. bis 26. September 1999, hg. v. Reinhardt HARREITHER, Wien 2006, 3–41; Carola JÄGGI, Die Kirche als heiliger Raum: zur Geschichte eines Paradoxons, in: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (Beiträge zur Hagiographie 6), hg. v. Berndt HAMM, Klaus HERBERS u. Heidrun STEIN-KECKS, Stuttgart 2007, 75–89. DONCEEL-VOÛTE, Image (wie Anm. 2), 37–41; JÄGGI, Kirche (wie Anm. 2), 80 f., 86–88. Diese Fragestellung und ihre Methodik bildet die Grundlage für ein von C. Jäggi geleitetes Forschungsprojekt der DFG, in dem die Bearbeiter Diana Nitzschke und Sebastian Watta durch Vergleiche von westlichen und östlichen „sakralen“ Bodenmosaiken deren Kommuni-

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Die Versammlungsräume der ersten Christen besaßen keinen sakralen Charakter4. Im Gegenteil, die Vorstellung eines von Menschen erbauten Heiligtums als Wohnstatt oder Aufenthaltsort der Gottheit wurde von den Protagonisten früher christlicher Theologie dezidiert abgelehnt5. Dies änderte sich in konstantinischer Zeit, als zahlreiche biblische Orte und Ereignisplätze des Heilsgeschehens durch monumentale Kirchenbauten überhöht wurden, die zum Ziel der immer zahlreicher werdenden Heiligland-Pilger wurden. Damit zeigte sich ein Mentalitätswandel: Der Kirchenbau wurde vom Versammlungsraum zum „Tempel Gottes“, assoziiert mit den Heiligtümern des Alten Testamentes6. Er erhielt eine sakrale Konnotation, die im Laufe der Spätantike unterschiedliche Ausdrucksformen erlebte. Zur Ausstattung von Kirchenbauten im Osten und im Westen des spätrömischen Reiches gehörten unter anderem aufwändige Mosaikfußböden; inwiefern diese für die Frage nach einem historischen Verständnis von Raumheiligkeit und von Hierarchisierung im Binnengefüge des Kirchenbaus auszuwerten sind, möchte der folgende Text exemplarisch an der sogenannten „Kirche des Priesters Wa’il“ in Umm er-Rasas im Gebiet des heutigen Jordaniens untersuchen. Diese bietet sich vor allem deshalb als Exemplum an, weil ihre Mosaikausstattung als charakteristisch für ihre Region gelten kann; außerdem weist der Kirchenbau eine große Bandbreite von Merkmalen auf, die in der Analyse den vergleichenden Einbezug anderer Kirchenausstattungen des Kulturraums erlaubt.

1 DIE „KIRCHE DES PRIESTERS WA’IL“, UMM ER-RASAS Die in der Antike „Kastron Mefaa“ genannte Ortslage, im heutigen Jordanien etwa 70 km südlich von Amman gelegen, gehörte innerhalb der kirchlichen Verwaltung der Provincia Arabia zur Diözese Madaba. In und vor einem spätantiken Militärlager entwickelte sich in frühbyzantinischer Zeit ein Wohnquartier mit zahlreichen Kirchenbauten, in dessen westlichem Bereich ein aus zwei Kirchen bestehender Baukomplex liegt7. An die sogenannte „Kirche der tabula ansata“ schließt nordwestlich ein kleiner Sakralbau an, der nach Auffindung der Bauinschrift im Mosaikboden von den Ausgräbern den Hilfsnamen „Kirche des Pries-

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kationspotenzial für ein zeitgenössisches Heiligkeitsverständnis zu ermitteln suchen und auch nach einer möglichen regionalen Gebundenheit dieser Vorstellungen fragen. Paul Corby FINNEY, Topos Hieros und christlicher Sakralbau in vorkonstantinischer Überlieferung, Boreas 7 (1984), 193–225; Robert MARKUS, How on Earth Could Places Become Holy? Origins of the Christian Idea of Holy Places, Journal of Early Christian Studies 2, 3 (1994), 257–271; JÄGGI, Kirche (wie Anm. 2). Siehe die Zusammenstellung der Quellen bei JÄGGI, Kirche (wie Anm. 2), 77 f. JÄGGI, Kirche (wie Anm. 2), 79 f. Zur Siedlung und ihrer Identifizierung siehe Michele PICCIRILLO/Eugenio ALLIATA (Hg.), Umm al-Rasas Mayfa’ah 1, Gli scavi del complesso di Santo Stefano. (Studium Biblicum Franciscanum, Collectio Maior 28), Jerusalem 1994, 13–36, 37–46; Peter BAUMANN, Spätantike Stifter im Heiligen Land. Darstellungen und Inschriften auf Bodenmosaiken in Kirchen, Synagogen und Privathäusern (Spätantike, frühes Christentum, Byzanz, Reihe B, Studien und Perspektiven 5), Wiesbaden 1999, 29–39.

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ters Wa’il“ erhielt8. Bei dieser handelt es sich um eine dreischiffige Weitarkadenbasilika (Farbtafel 16) von bescheidenen Ausmaßen (12 x 9 m) mit einer halbrunden, leicht eingezogenen und gerade hintermauerten Ostapsis. Der Bau wurde offenbar bei einem Erdbeben zerstört9. Zugänge von einem angelagerten Hof zum Kircheninnern befinden sich in der Mittelachse und im westlichen Abschnitt der Südmauer, ein weiterer aus dem Bereich der „Kirche der tabula ansata“ führt von Osten in das südliche Seitenschiff10. Die durch Arkaden über jeweils einem Pfeiler und zwei Wandvorlagen abgetrennten Seitenschiffe laufen ohne Unterbrechung bis zur Ostmauer der Kirche durch. Das rechtwinklige und um ein halbes Interkolumnium nach Westen vortretende Sanktuarium ist um zwei Stufen erhöht und von einer Schrankenanlage mit Durchgang in der Mittelachse der Kirche umschlossen. Am Ostende des Nordseitenschiffs liegen zwei Halbrundnischen in der Ost- und der Südmauer, die der Ausgräber als Aufbewahrungsplätze für liturgisches Gerät oder für Reliquiare deutet11. Der Altar wurde nachträglich im halbrunden Mosaikfeld des Apsisbereichs platziert12. Im nördlichen und südlichen Abschnitt der aus sechs Pfosten und vier Platten gebildeten Schrankenanlage finden sich im Mosaik die kreisrunden Aussparungen der Stützen zweier nachträglich eingefügter Tische13; die Pfosten beidseitig des zentralen Durchgangs zum Bema besitzen angearbeitete Säulchen mit Kapitell14.

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Michele PICCIRILLO, La chiesa del prete Wa’il a Umm al-Rasas – Kastron Mefaa in Giordania, in: Early Christianity in context. Monuments and documents, hg. v. Frédéric MANNS/Eugenio ALLIATA, Jerusalem 1993, 313–334; Anne MICHEL, Les églises d’époque byzantine et umayyade de Jordanie. Ve-VIIIe siècle. Typologie architecturale et amênagements liturgiques (Bibliothèque de l’antiquité tardive 2), Turnhout 2001, 407–409 Kat. Nr. 148; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 129–138. Die Außenmauern des Baus sind unterschiedlich hoch erhalten, die Zugangssituation ließ sich jedoch deutlich klären; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 315. Die Zugänge wurden jeweils in einer späteren Phase zugesetzt; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 317. PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 321. Teile zweier Reliquiare wurden im Bereich der Kirche gefunden, ein unklares Fragment und ein Exemplar in Form eines Miniatursarkophages mit Satteldachdeckel und Eckakroteren, Einlegekreuzen und einer Einfüllöffnung im Deckel. Eingegossenes Öl konnte die inneren drei Kompartimente des Kastens durchfließen und in einer kleinen cuppella an der Vorderseite entnommen werden. Es handelt sich um das einzige bisher in Jordanien gefundene Exemplar dieser besonders in Nordsyrien verbreiteten Reliquiarform und -nutzung; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 74, 407. PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 318. Es lässt sich die für die Region charakteristische Abfolge der Altarphasen nachvollziehen: Die Stützen eines Tischaltars, der mutmaßlich einen der Ausstattungsphase des Baus zugehörigen mobilen Altar ohne Fixierungsspuren ersetzte, wurden nachträglich in das Paviment des Apsisbereiches eingefügt. In einer weiteren Altarphase wurde dieser Tischaltar blockartig ummauert; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 407; zur Altartypologie in der Arabia MICHEL, églises (wie Anm. 8), 61–68. PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 318; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 407; zu den sog. „tables annexes“ MICHEL, églises (wie Anm. 8), 68–72. PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 318, 321. Die Schrankenplatten waren zum Teil mit figürlichem Dekor versehen gewesen, der zu einem späteren Zeitpunkt abgearbeitet wurde.

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Eine Besonderheit dieses Kirchenbaus stellt sein noch in mehreren Bereichen erhaltener Wandverputz mit Malereiresten dar15. Die Mauer der Apsis zeigte zum Zeitpunkt der Grabung noch bis in etwa 1 m Höhe ein Rautengitter mit Füllmotiven, jeweils durch nach unten gerichtete Reihen von mit Kugeln kombinierten Sägezähnen begrenzt, ein Dekor, der auch im Bodenmosaik in der Begrenzung der Seitenschiffsfelder Verwendung findet. Freskoausstattung und Mosaikpaviment zeigen sich damit in deutlicher Weise als einheitliches Konzept. Auf vier Quadern des Apsisgewölbes blieben ferner Partien einer männlichen, wohl sitzend gegebenen Ganzfigur mit Bart und Nimbus erhalten, die in ihrer Linken einen geöffneten Codex hielt16. Die Gestalt bildete offenbar den rechten Abschluss eines Bildfeldes innerhalb der Apsiskomposition, schloss doch unmittelbar rechts davon ein Rahmenstreifen mit Kreisfeldern an, die mit Pflanzenmotiven und Vögeln gefüllt waren17.

2 DER MOSAIKBODEN Der kleine Bau ist zur Gänze mit einem Mosaikpaviment belegt, wobei einige Partien größere Zerstörungen zeigen (Farbtafel 16)18. Besonders Mosaikabschnitte im Westbereich des Innenraums wurden mit Kalksteintesserae größeren Formats ausgebessert, offenbar Wiederherstellungen aufgrund von Abnutzungen des Pa-

15 Man legte in eine doppelte mit Kalk bestrichene Putzschicht aus kleinen Bruchstücken bituminösen Schiefers ein Rautennetz, dessen Felder man dann mit Darstellungen von Blättern, Blüten, Gefäßen und Kreuzen mit ausgreifenden Hastenenden aus demselben Material füllte. Auch Ritzzeichnungen finden sich, so in Form von Medaillonkreuzen an den Mittelschiffspfeilern; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 317. Auffällig ist die Dekorähnlichkeit mit der Gestaltung von Mosaikböden anderer Bauten. 16 PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 318; Schlagspuren deuten auf eine Maßnahme der Unkenntlichmachung hin, die Piccirillo im Zusammenhang mit den im Bau zu bemerkenden ikonophoben Eingriffen sieht; Alessandra ACCONCI, Su alcuni lacerti pittorici di Umm er-Rasas – Kastron Mefaa, in: Claudia BARSANTI/Alessandra ACCONCI (Hg.), Bisanzio e l’Occidente. Arte, archeologia, storia. Studi in onore di Fernanda de’ Maffei. Rom 1996, 193–201; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 129 nimmt die Darstellung eines Apostels oder Evangelisten an. 17 Die Ergänzung einer links der Figur anschließenden Linie zu einem zentralen Oval- oder Rundfeld in der Apsismitte bei PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 316 Abb. 9 lehnt BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 129 als zu weitgehend ab. 18 Zu den Mosaiken PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 322–332; Michele PICCIRILLO, The Mosaics of Jordan (American Center of Oriental Research Publications 1), Amman 1993, 242 f.; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 131–138. Peter Baumann hat aufgrund der geringeren Höhe der unteren Presbyteriumsstufe im Vergleich zur darüber liegenden angenommen, das erhaltene Mosaikpaviment der Kirche stelle eine zweite Phase gegenüber einem früheren Bodenniveau des Baus dar. Eine genauere Untersuchung dieses Sachverhalts hat offenbar bisher nicht stattgefunden; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 131 Anm. 479. Die Aussage der Hauptinschrift, der Bau sei im Jahre 586 n. Chr. gegründet und fertiggestellt worden, scheint dem zu widersprechen, allerdings wäre zu fragen, inwiefern sich beide Begriffe auch auf eine Wiederherstellung des Baus beziehen könnten.

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viments19. In Abgrenzung dazu wurden aber auch in verschiedenen Partien des Mosaikbodens Darstellungen von Lebewesen durch willkürliches Versetzen der Tesserae innerhalb der Kontur der ehemaligen Abbildung unkenntlich gemacht (Farbtafeln 18, 19)20. Dieses in der Forschung als „Ikonophobie“ bezeichnete Phänomen wird heute mehrheitlich als Eingriff der christlichen Nutzer selbst in die Mosaikausstattungen ihrer Kirchenbauten in spätumayyadischer beziehungsweise frühabbasidischer Zeit gedeutet. Als Hintergrund wird die religiös begründete Ablehnung der Darstellung von Lebewesen im Islam und damit auch durch die neuen moslemischen Machthaber in der Zeit nach der islamischen Eroberung des Nahen Ostens gesehen. Die christlichen Gemeinden hätten daraufhin die figürlichen Darstellungen in ihren Kirchenpavimenten unkenntlich gemacht, durch Versatz oder Austausch des Tesserae-Materials blieben die Bauten aber weiterhin nutzbar, offenbar der zentrale Beweggrund für die Maßnahmen. In der Forschung wird diskutiert, ob diese Veränderungen durch gesetzliche Verordnungen erzwungen wurden, man also gar versuchte, einem möglicherweise drohenden Zwang zuvorzukommen, oder ob sie eine Art „Loyalitätsbekundung“ gegenüber der neuen moslemischen Obrigkeit darstellten21. Vielleicht spielte auch der Umstand eine Rolle, dass in frühislamischer Zeit Kirchenbauten zum Teil auch von Muslimen zum Gebet genutzt wurden und daher gewissen Vorgaben genügen mussten22. Die Seitenschiffe der Basilika besitzen jeweils ein von der Westmauer bis auf die Höhe der Apsisstirnwand reichendes Feld mit acht Akanthusrankenmedaillons, umzogen von einer Rahmung bestehend aus einem Faden und mit Kugeln versehenen Sägezähnen (Farbtafel 16)23. Die Darstellungen im nördlichen Seitenschiff sind fast völlig zerstört; im südlichen Feld lassen sich Darstellungen ver-

19 PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 322 f. 20 Zu den Veränderungen im Mosaikenprogramm siehe Robert SCHICK, The Christian Communities of Palestine from Byzantine to Islamic Rule. A Historical and Archaeological Study (Studies in Late Antiquity and Early Islam 2), Princeton, NJ 1995, 475. Erhalten blieb die Darstellung eines Fischers und zweier Fische im nordwestlichen Interkolumnium. Teilbereiche des Mittel- und des nördlichen Seitenschiffs verblieben nach Entfernung der Darstellungen unrestauriert. 21 SCHICK, Communities (wie Anm. 20), bes. 218 f.; Michele PICCIRILLO, Iconofobia o iconoclastia nelle chiese di Giordania? in: Bisanzio e l’Occidente. Arte, archeologia, storia. Studi in onore di Fernanda de’ Maffei, hg. v. Claudia BARSANTI/Alessandra ACCONCI, Rom 1996, 173–191; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 46–48; Adnan SHIYYAB, Der Islam und der Bilderstreit in Jordanien und Palästina. Archäologische und kunstgeschichtliche Untersuchungen unter Berücksichtigung der „Kirche von Ya'mun“, Diss. phil. München (Kunstwissenschaften 14), München 2006. 22 Ute VERSTEGEN, Adjusting the Image – Processes of Hybridization in Visual Culture. Perspectives from Early Christian and Byzantine Archaeology, in: Conceptualizing Cultural Hybridization. A Transdisciplinary Approach. Papers of the Conference, hg. v. Philipp Wolfgang STOCKHAMMER, Heidelberg, 21. – 22. September 2009. Transcultural Research (Heidelberg Studies on Asia and Europe in a Global Context 2), Berlin/Heidelberg 2012, 83 f. 23 Dieses Motiv begegnet auch in der Freskenausstattung des Baus, siehe oben.

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schiedener Tiere erkennen, die nachträglich unkenntlich gemacht wurden24. Die innerhalb der Medaillons wiedergegebenen Tiere sind nach Osten orientiert und abwechselnd nach links und rechts gewendet. Es zeigen sich zusammengehörige Zweierpaare, so ein Widder gefolgt von einem Raubtier oder die Kombination zweier Lasttiere25. Die sich zumeist abwechselnde Ausrichtung der Füllelemente nach links und rechts sowie ihre Orientierung nach Osten betont die Längsachse des Feldes von West nach Ost (Farbtafel 17). Dies wäre durch eine reine Aufreihung der Medaillons mit Tierdarstellungen zum Mittelschiff hin nicht möglich gewesen26. Hinter dem mittigen Zugang in der Südmauer findet sich im Bereich der Feldrahmung die Darstellung zweier um eine Stengelpflanze angeordneter Vögel27. Nach den wenigen erhaltenen Resten zu urteilen, besaß das nördliche Seitenschiff ehemals einen vergleichbaren Medaillondekor. Im Ostteil der Seitenschiffe ist jeweils ein rechteckiges Feld mit einer eigenen Edelsteinbandrahmung versehen. Die Felder zeigen jeweils vor hellem Hintergrund einen Baum – im Norden eine Dattelpalme, im Süden einen Granatapfelbaum –, die beide nach Osten ausgerichtet sind. Möglicherweise lassen sich in diesen beiden Darstellungen des sehr weit verbreiteten Motivs der fruchttragenden Bäume vage inhaltliche Bezüge zum Paradiesthema oder zur Vorstellung vom Lebensbaum sehen28. Deutliche Hinweise auf eine solche Deutung, etwa weitere Bildelemente oder aber Beischriften, gibt es jedoch nicht29. Zentral ist hier die Frage nach einem mögli-

24 Piccirillo identifiziert die Darstellungen von West nach Ost als nach rechts gewandten Widder, ein Raubtier nach links, einen Hirsch nach rechts, ein unidentifizierbares Tier nach links, einen Esel nach links, ein gesatteltes Pferd nach rechts, ferner zwei weitere nicht benennbare Tiere; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 326. 25 BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 133. Baumann nimmt eine Anpassung des vor allem aus Akanthusrahmungen bekannten Gliederungssystems an die Erfordernisse einer reihenden Darstellung in einem Rechteckfeld an. 26 Im Gegensatz zu BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 133 Anm. 490: „Das Vorgehen der Mosaizisten erstaunt etwas, denn man hätte sie so in einer fortlaufenden Reihe anordnen können, dass sie zum Mittelschiff hin orientiert gewesen wären.“ 27 PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 326 identifiziert die Vögel als Gänse. Gegenständige Vögel, die um ein Mittelmotiv gruppiert sind, werden häufig in eigenständigen Feldern im Bereich von Durchgängen dargestellt, so zum Beispiel auch hinter dem Zugang zur „Kapelle des Märtyrers Theodoros“ in Madaba, siehe PICCIRILLO, Mosaics (wie Anm. 18), 117. Da sie in den meisten Fällen auf den von außen eintretenden Besucher ausgerichtet sind, stellten sie vermutlich einen Blickfang und schmückende Markierung des Eingangs in die Kirche dar. 28 BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 132 Anm. 485. Das Motiv des Granatapfelbaums begegnet sehr selten in der frühchristlichen Literatur, wodurch sich wenige Hinweise auf eine zeitgenössische Deutung ergeben; Josef ENGEMANN, Granatapfel, in: Reallexikon für Antike und Christentum 12, Stuttgart 1983, 689–718, bes. 715–718. Zur Dattelpalme als Baum des Paradieses Johanna FLEMMING, Palme, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 3, Freiburg im Breisgau 1994, 364 f. 29 Kritisch zur Annahme einer generell zu unterstellenden christlich-theologischen Inhaltsebene der Motive der Kirchenmosaiken äußert sich BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 87–89. Es sei vielmehr entscheidend, die Einzelmotive und Kompositionen auf Hinweise auf ein intendiertes symbolisches Verständnis hin zu befragen und diese dann besonders in ihrem jeweiligen Gesamtkontext zu analysieren.

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chen, von den Entwerfern der Böden intendierten symbolischen Sinngehalt der Mosaikdarstellungen. Henry Maguire hat bestimmte Merkmale identifiziert, welche auf die Intention eines Motivs ursprünglich neutralen Charakters als Symbol verweisen. Als deutliche Hinweise lassen sich nach Maguire vorhandene und ein solches Verständnis erläuternde Beischriften ausmachen, ferner eine Betonung des betreffenden Einzelelementes durch eine spezielle Positionierung im Dekor oder aber der Ausdruck eines – teilweise auch changierenden – übergreifenden Themenkomplexes im Gesamtentwurf30. Schon oft wurde in der Forschung bemerkt, dass sich in den nahöstlichen Kirchen die Organisation des Mosaikdekors der Böden in Felder und einzelne Bereiche mehrheitlich nach den Binnenstrukturen und Teilräumen der sie umgebenden Architektur richtet31. Architektonische Binneneinheiten wie Mittelschiff, Seitenschiffe, Interkolumnien und das Sanktuarium der basilikalen Bauten werden zumeist mit eigenständigen Feldern versehen. Bemerkenswert sind aber die Fälle, in denen dies nicht geschieht32. Im Fall der Ostpartien der Seitenschiffe der „Kirche des Priesters Wa’il“ wird offenbar das Schema für Flankenräume angewandt, obgleich architektonisch keine Separierung der Bereiche vorliegt – eher im Gegenteil, befindet sich doch im südlichen Seitenschiff ein Durchgang zur anschließenden „Kirche der tabula ansata“33. Die separaten Felder sind als besondere Auszeichnung der Ostpartien zu werten34, wobei eine inhaltliche Aufladung – etwa durch den Anklang des Paradiesesthemas – nur unterschwellig zur Wirkung kommt. Sollte der nördliche Abschnitt, wie von Piccirillo angenommen, die Funktion eines Nebenraumes zur Aufbewahrung liturgischen Gerätes oder gar von Reliquiaren besessen haben, wäre zu fragen, inwiefern nicht eine deutliche Separierung vom Naos zum Schutz und zur Absonderung der heiligen Partikel zwingend gewesen wäre35. 30 Die Thematik kann im Rahmen dieses Textes nur angerissen werden. Siehe grundlegend Henry MAGUIRE, Earth and Ocean. The Terrestrial World in Early Byzantine Art. (Monograph on the Fine Arts 43) University Park/London 1987, bes. 10–15, 33–40, 44–50, kommentiert von BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 189 mit Anm. 752. 31 Mit Bezug auf die Kirche des Priesters Wa’il MICHEL, églises (wie Anm. 8), 409: „L’organisation des panneaux respectait les grandes subdiversions de l’église“; ferner ebd., 55–57. 32 Die Dominanz dieses basilikalen Ausstattungsschemas zeigt sich besonders im Fall der einschiffigen Kirche von Zia-Zay al Gharbi; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 109 Nr. 2. Der ununterteilte Raum war hier offenbar ehemals mit drei separaten Mosaikfeldern in der Achse nicht vorhandener Schiffe versehen; Ebd., 55. 33 Ein ähnliches Vorgehen begegnet in den Pavimenten zweier Kirchen in Rihab, der Menaskirche (MICHEL, églises (wie Anm. 8), 217 Nr. 77; Ute LUX, Der Mosaikfußboden der Menaskirche in Rihab, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 83 (1967), 34–41) und der Marienkirche (MICHEL, églises (wie Anm. 8), 221 Nr. 80; Michele PICCIRILLO, Le antichità di Rihab dei Bene Hasan, Studium Biblicum Franciscanum. Liber annuus 30 (1980), 336–341 Nr. 8). Allerdings werden hier in den Ostpartien jeweils nur eines Seitenschiffs Felder mit geometrischem Dekor eingesetzt; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 56. 34 BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 132. 35 Möglicherweise ist auch mit Abtrennungen aus vergänglichem Material wie Holz zu rechnen. Auch bei fehlenden Spuren von Schranken könnten diese, aus Holz oder in anderen Fällen

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Eine motivliche Ähnlichkeit lässt sich für einen Raum feststellen, dem wohl eine ähnliche Nutzung zuzuschreiben ist. Im durch eine Mauer mit Türdurchgang vom Seitenschiff getrennten südlichen Apsisflankenraum der auf das Jahr 536 n. Chr. datierten Georgioskirche von Khirbet et-Mukhayyat findet sich ein querrechteckiges Mosaikfeld, welches von einer Rautenreihe und einer Rahmung mit doppeltem Wellenband umzogen ist36. Im Feld wird die Bildachse durch eine Dattelpalme eingenommen, die von zwei gegenständigen gehörnten Huftieren flankiert wird, darüber befinden sich, seitlich der Palme, pflanzliche Motive sowie rechts eine Inschrift in Griechisch (der Name „Σαωλα“), links eine weitere in Aramäisch oder Arabisch, deren Lesung umstritten ist: Saller übersetzte die entsprechende Inschrift als „in Frieden“, Milik aber mit „gewähre Ruhe und Erlösung“37. Den oberen Abschnitt des Feldes oberhalb der Palme nehmen zwei gegenständige Vögel zu Seiten eines zerstörten Mittelmotivs ein, seitlich stehen zwei stilisierte Pflanzen. Der nördliche Apsisflankenraum besaß wohl einen ähnlichen Dekor, der bis auf wenige Reste zerstört ist. Piccirillo zufolge flankierten gegenständige Ziegen eine Palme in der Feldachse, die Feldrahmung bildete hier ebenfalls ein doppeltes Wellenband38. Auch im Falle dieser beiden Anräume lässt der Mosaikdekor eine Assoziation mit der Paradiesessymbolik zu, die man offenbar dem Nutzungscharakter des Raumes für angemessen hielt – angemessen genug jedenfalls für den Finanzier des Feldes, Saola, der seinen Namen und einen Friedenswunsch in diesem Ambiente platziert sehen wollte39. In der „Kirche des Priesters Wa’il“ zeigen damit auch die Seitenschiffe einen figürlichen Dekor, ferner die Felder der Interkolumnien (siehe unten). In den meisten Vergleichsbauten der Provincia Arabia werden diese Bereiche durch einen rein geometrischen Dekor der oft figürlichen Gestaltung des Mittelschiffs untergeordnet40. Das Mittelschiff der „Kirche des Priesters Wa’il“ wird von einem einzelnen gerahmten Mosaikfeld eingenommen (Farbtafeln 16, 18). Helle Kreisfelder erscheinen vor einem dunklen Hintergrund, gefüllt mit zur Feldmitte hin orientier-

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aus Edelmetall, ehemals vorhanden gewesen sein. Eusebios von Caesarea erwähnt in seiner Beschreibung der Kathedrale von Tyros, um 315, dass der Altar mit hölzernen Schranken eingefasst war, damit er „für die Menge unzugänglich sei“, Eusebius von Caesarea, Historia Ecclesiastica 10, 4, 44 (Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte (GCS) 9/2, 875); VERSTEGEN, Raumordnung (wie Anm. 1), 584. MICHEL, églises (wie Anm. 8), 57; zum Bau und zum Mosaik MICHEL, églises (wie Anm. 8), 340–345 Nr. 126; Mount Nebo. New Archaeological Excavations 1967 – 1997 (Studium Biblicum Franciscanum. Collectio maior 27), hg. v. Michele PICCIRILLO/Eugenio ALLIATA, Jerusalem 1998, 327 f. In der Nordmauer des Anraumes befinden sich auch hier zwei Nischen zur Aufbewahrung von (liturgischen?) Gerätschaften; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 342. Zu den Inschriften Leah DI SEGNI, The Greek Inscriptions, in: PICCIRILLO/ALLIATA, Nebo (wie Anm. 36), 442 Nr. 41. PICCIRILLO/ALLIATA, Nebo (wie Anm. 36), 328. Der Name Saola, einmal auf einen Archidiakon bezogen, begegnet noch in zwei weiteren Inschriften im Bereich der Interkolumnien des Baus, MICHEL, églises (wie Anm. 8), 344. MICHEL, églises (wie Anm. 8), 56 f.

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ten Motiven wie Blütenpflanzen, Gefäßen, Trauben, aber auch Vögeln41. Das so umfangene Mittelschiffsfeld zeigt in einem für die unmittelbare Region ungewöhnlichen Entwurf in mehreren Ebenen ohne genaue Trennung angeordnete Register mit einzelnen Szenen42. Im westlichen Abschnitt sind zwei von links herankommende Lanzenreiter sichtbar, der vordere richtet seine Waffe auf zwei Raubtiere, die von rechts heranspringen43. Im darüberliegenden Register verfolgt eine Meute von Hunden ein nach links fliehendes Beutetier44. Die beiden östlich anschließenden Bildfelder zeigen in einzelnen Bereichen Grundlinien, auf denen Blumen emporwachsen, im unteren Abschnitt tragen zwei Lasttiere einen rechteckigen Gegenstand auf einem Traggestell45. Im oberen Register werden zuseiten einer frontal stehenden Person in langem Gewand und mit erhobenen Armen rechts ein Hirsch, auf dem ein Reiter sitzt, links zwei weitere menschliche Gestalten mit Stäben in den Händen wiedergegeben. Die Person in der Mitte scheint dem Hirschreiter einen Zweig zu überreichen. Am Ostende des Mittelschifffeldes liegt eine tabula mit der fünfzeiligen Bauinschrift der Kirche (1,82 m x 0,64 m) zwischen zwei Rhomben (Farbtafel 18):

41 Eine motivliche Ähnlichkeit lässt sich mit den Darstellungen des Mittelschiffsfeldes der Apostelkirche von Madaba ausmachen; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 333 Anm. 14; PICCIRILLO, Mosaics (wie Anm. 18), 106 f. 42 Der schlechte Erhaltungszustand des Feldes sowie eine mangelhafte fotografische Dokumentation macht nur eine kursorische Beschreibung möglich. Die Teilung des Feldes in mehrfigurige Ebenen mit nur angedeuteter Trennung ist eher für syrische Bodenmosaiken charakteristisch, zum Beispiel im in das Jahr 722 n. Chr. datierten Paviment des Mittelschiffs der Georgioskirche von Deir el-‛Adas; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 135. Zu Deir el‛Adas siehe Pauline DONCEEL-VOÛTE, Les pavements des églises byzantines de Syrie et du Liban. Décor, archéologie et liturgie (Publications d’histoire de l’art et d’archéologie de l’Université Catholique de Louvain 69), Louvain-la-Neuve 1988, 45–54; Raffaella FARIOLI CAMPANATI, Il mosaico pavimentale d’epoca Umayyade della chiesa di S. Giorgio nel Deir al-Adas (Siria), in: Arte profana e arte sacra a Bisanzio. Atti del II Convegno Internazionale di Studi, hg. v. Antonio IACOBINI/Enrico ZANINI, Roma, 22–23 novembre 1990 (Milion 3), Rom 1995, 257–269. 43 Ähnliche Kampfszenen mit Lanzenreitern sind auch Bestandteil des Mosaikbodens der „Kapelle des Märtyrers Theodoros“ in Madaba; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 135; zur Kapelle siehe PICCIRILLO, mosaics (wie Anm. 18), 117 f. 44 Piccirillo identifiziert ein fliehendes Rind; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 324; auf der rechten Seite möglicherweise ein Tiertrieber; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 135. 45 Piccirillo sieht einen von einem Lasttier gezogenen Wagen; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 324. Die Deutung einer vergleichbaren Szene im Nordseitenschiff der Nord-Kirche von Huarte als Darstellung des Transports eines Reliquiars durch Pierre CANIVET/Maria Theresa CANIVET, Huarte. Sanctuaire chrétien d’Apamène (IVe–VIe s.) (Bibliothèque archéologique et historique 122), Paris 1987, 219 f. lehnt Baumann ab und schlägt die Interpretation als unspezifischer Lastentransport vor; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 136; so auch bereits DONCEEL-VOÛTE, pavements (wie Anm. 42), 108 f.

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Sebastian Watta Unter dem heiligsten Bischof Sergios wurde dieser heilige Tempel gegründet und vollendet, mit dem Eifer des Presbyters Oualesos im Monat Dios in der 5. Indiktion des Jahres 481 (=586 n. Chr.). Dieser ist der Priester und sein Diener46.

Allgemein ist festzustellen, dass Inhalt und Platzierung von Inschriften im Mosaikkonzept Hinweise auf die einem bestimmten architektonischen Bereich zugeschriebene Wertigkeit geben können. Die Anordnung der Bau- und Stifterinschrift unmittelbar vor dem Zugang zum Sanktuarium ist hierbei in den Bauten der Region die am häufigsten vertretene, da sie innerhalb des den Laien zugänglichen Bereichs des Mittelschiffs die größtmögliche Nähe zum heiligen Ort des eucharistischen Altars bot47. Der Presbyter Oualesos (arab. Wa’il) wird als Inhaber der Bauaufsicht über die Kirche genannt („σπουδῇ Ούαλεσου πρεσβυτέρου“)48. Stifter, die finanziell zur Errichtung der Kirche beitrugen und daher jeweils in den Bauinschriften Erwähnung finden, werden hier nicht genannt. Möglicherweise ist anzunehmen, dass der Presbyter Oualesos auch die Baufinanzierung verantwortete, wobei für eine solche Rolle auch der im übrigen anonym bleibende „Diener“ des Presbyters in Frage kommen könnte, falls es sich hierbei um eine Demut ausdrückende Selbstbezeichnung eines Angehörigen der Gemeinde handelt49. Für einen solchen Hintergrund der Baufinanzierung spräche auch das Fehlen von Namensbeischriften oder weiteren Stifterinschriften in den Mosaikfeldern, obgleich sich einige repräsentative Darstellungen, etwa die Jagdszenen, dafür angeboten hätten. Basema Hamarneh sah in der Figurenkonstellation im östlichsten Feldregister eine Darstellung des Presbyters Oualesos (Farbtafel 18), der den Streit zweier 46 Übersetzung Watta; „Ἐπὶ τοῦ ἁγιωτάτου Σεργίου ἐπισκό(που) // ἐκτίσθη κ(αὶ) ἐτελιώθη ὁ ἅγιος ναὸς // οὗτος σπουδῇ Ούαλεσου πρεσβυτέρου // ἐν μηνὶ ∆ίου ἰνδ(ικτίονος) εʹ τοῦ ἔτους υπαʹ // οὗτός ἐστην ὡ πρεσβ(ύτερος) καὶ ὡ δοῦλος αὐτοῦ“ (zitiert nach PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 322). Zu Bau- und Stifterinschriften frühbyzantinischer Kirchenbauten siehe BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 269–312; Janette WITT, „Hyper euches“ in Erfüllung eines Gelübdes. Untersuchungen zum Votivwesen in frühbyzantinischer Zeit. Diss. phil. Erlangen-Nürnberg 2006, 56–84; 175–192; Rudolf HAENSCH, Der Bezug zwischen Inschriften und architektonischem Kontext im Falle der Kirchen der östlichen Reichshälfte, in: Acta XII Congressus internationalis Epigraphiae graecae et latinae 1, Barcelona, 3–8 Septembris 2002, hg. v. Marc MAYER I OLIVÉ/Giulia BARATTA, Barcelona 2007, 695–706. 47 BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 289–291; Peter BAUMANN, Spätantike Inschriften auf Bodenmosaiken im Heiligen Land, in: Cäcilia FLUCK/Gisela HELMECKE (Hg.), Textile Messages: Inscribed Fabrics from Roman to Abbasid Egypt (Studies in Textile and Costume History 4), Leiden 2006, 72 f.; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 56; HAENSCH, Bezug (wie Anm. 46), 697 f. 48 Mit der Wendung „σπουδῇ“ im Sinne von „durch den Eifer des ...“ wird in den Bauinschriften der Sakralbauten ein Angehöriger des Klerus versehen, der die lokale Bauausführung verantwortete, so dass er inschriftlich geehrt wurde, ohne finanziell am Projekt beteiligt gewesen sein zu müssen; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 283–285; BAUMANN, Inschriften (wie Anm. 47), 75 f. 49 Die Selbstbezeichnung von Stiftern als „δοῦλος“ („Diener“) im Bezug auf Gott oder die Heiligen innerhalb der Kircheninschriften ist in der Region häufig vertreten, vgl. die Zusammenstellung bei BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 368.

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Kämpfenden auf der linken Seite schlichte sowie seinem Diener mit Hirsch auf der rechten Seite einen Ölzeig reiche, insgesamt eine Propagierung des Friedenswirkens des Oualesos50. Dem trat Peter Baumann zurecht entgegen und identifizierte die Einzelemente als Bestandteile einer überindividuellen Ikonographie aus dem Bereich von Jagd, Landleben und Zirkus (Jagdgehilfen mit Stöcken, Arbeiter im Traubenkelter, siegreicher Hirschreiter mit Zweig als Versatzstück aus einer Zirkusszene) und damit als „standesgemäße Bildformel“ der Stifterrepräsentation51. Auch die deutlich betone Mittelfigur gebe eher in herrschaftlichem Gestus einen Angehörigen der Elite innerhalb eines der genannten Bildkontexte wieder52. Baumann bezweifelte dabei eine Verbindung von Inschrift und Darstellung, so dass die mosaizierte Szene für ihn nicht die Funktion eines Stifterbildes erfülle, sondern rein repräsentativen Charakter besitze. Die letzte Passage der Inschrift stelle eher eine Art der schriftlichen Bekräftigung des Festgehaltenen dar53. Dem lässt sich das Beispiel einer Inschrift am Ostende des Nordseitenschiffs der Petros- und Pauloskirche von Gerasa entgegensetzen, die einen eindeutigen Bezug zu einer heute verlorenen Stifterdarstellung herstellt: Mosaik, wer hat dich angebracht? – Der Mann, der diesen Bau (...) errichtet hat. – Und wer ist der Hirte (Bischof), der hier gemalt ist? Um wessentwillen hat er seine Bauwerke gezeigt (errichtet)? – Sein Name ist Anastasios, seine Heimatstadt Petra, sein Ruhm ist der Heiland54.

In der zentralen Figur der obersten Szene kann man demnach meiner Meinung nach doch aus guten Gründen ein Stifterbild des Oualesos – und damit das einzige erhaltene der Kirche – in repräsentativer Szenerie sehen, wobei Versatzstücke verschiedener Themenkomplexe kombiniert wurden. Die Benennung des Stifters erfolgt in diesem Fall durch die unmittelbar darüber angebrachte letzte Inschriftenzeile. Stifterbild und Inschrift befinden sich so in axialer Lage innerhalb des für die Kommemoration des eigenen Euergetismus so begehrten Ostabschnitts des Mittelschiffs.

50 Basema HAMARNEH, Ritratti ed immagini dei donatori nei mosaici della Giordania, in: Acta XIII Congressus Internationalis Archaeologiae Christianae 2, hg. v. Nenad CAMBI/Emilio MARIN, Città del Vaticano/Split 1998, 417; siehe auch PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 324. 51 BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 135. 52 Ebd., 137 f. 53 Ebd., 138: „Der Bauherr und der ihm unterstellte Mosaizist haben mit ihm gewissermaßen unterschrieben.“ 54 „ψηφίς, τίς σ’ ἀνέθηκεν; ὁ δώματα ταῦτα τελέσσας. // τίς δ’ ὁ γραφεὶς ποιμήν; τίνος εἵνεκα ἔργα πιφαύσκει; // οὔνομ’ Ἀναστάσιος̣ [τ]ετράπτολις, ε̣[ὔ]χος ὁ Σωτήρ.“ (zitiert nach Charles B. WELLES, The Inscriptions, in: Gerasa, City of the Decapolis, hg. v. Carl H. KRAELING, London, New Haven 1938, 485 Nr. 330); Denis FEISSEL, L’évêque, titres et fonctions d’après les inscriptions grecques jusqu’au VIIe siècle, in: Actes du XIe Congrès International d’Archéologie Chrétienne 1 (Studi di antichità cristiana 41/Collection de l’École Française de Rome 123), hg. v. Noël DUVAL, Lyon, Vienne, Grenoble, Genève et Aoste, (21 – 28 sept. 1986), Rom 1989, 813 n. 61 schlug die Lesung „οὔνομ’ Ἀναστάσιο̣ς̣, [Π]έτρα πτόλις, ε̣[ὔ]χος ὁ Σωτήρ“ vor, danach die Übersetzung Reinhold MERKELBACH/Josef STAUBER (Hg.), Steinepigramme aus dem griechischen Osten 4. Die Südküste Kleinasiens, Syrien und Palaestina, München 2002, 356 f.

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In der Hauptinschrift wird der Kirchenbau als „ὁ ἅγιος ναὸς“, „heiliger Tempel“, bezeichnet, ein Beleg für ein zeitgenössisches Sakralitätsverständnis im Bezug auf den Gesamtraum der Kirche. In den Inschriften der Kirchenbauten der Region finden sich weitere Bezeichnungen, die den Kirchenbau jeweils mit unterschiedlichen Funktionszuweisungen belegen und mit dem Zusatz „ἅγιος“ kombiniert werden55. Wie stark bei den einzelnen Bezeichnungen der Charakter des inschriftlichen Topos zu werten ist, bleibt schwer zu beurteilen; als Reflex eines zeitgenössischen „Grundverständnisses“ des Kirchenbaus als heiligem Raum mögen sie dennoch zu werten sein56. Die nördlich und südlich gelegenen je zwei Interkolumnien der Stützenstellung sind jeweils mit einzelnen Mosaikfeldern belegt (Farbtafeln 16, 19). Während die Darstellungen der nördlichen Felder und jene im Südwesten auf die im Süden gelegenen Eingänge hin ausgerichtet sind, ist das südöstliche Feld nach Westen orientiert, wohl erzwungen durch das hochrechteckige Format und die Wiedergabe einer Ganzfigur (Farbtafel 17). Das nordwestliche Feld, nur noch in den beiden Außenpartien und einigen Fragmenten erhalten, zeigte ehemals eine maritime Szene. Ein nackter Fischer mit Sonnenhut und Ohrring ist erhalten geblieben; er umfasst die Ruder eines Bootes. Reste der Darstellung eines weiteren Ruderbootes zeigt die andere Feldecke, während sich im umgebenden Meer Fische tummeln57. Das nordöstliche Interkolumnienfeld wird von einem schlangenartigen Meerwesen besetzt, dessen Körperwindung die Feldmitte einnimmt58. Beide Szenen bilden möglicherweise ein thematisches Gegenstück und eine Ergänzung zu den Jagdszenen des Mittelschiffs59. Das südwestliche Mosaikfeld der Interkolumnien wurde ehemals von vier menschlichen Gestalten im Brustbild eingenommen, zwischen ihnen jeweils Architekturabbreviaturen mit Giebelhäusern und Türmen60. Bis auf einen über die Schulter gelegten Mantel 55 Es finden sich zum Beispiel die Wendungen „ἅγιος οἶκος“ („heiliges Haus“), „ἅγιον εὐκτήριον“ („heiliges Gebetshaus“), „ὁ ἅγιος τόπος“ („der heilige Ort“), „ἁγία ἐκλησία“ („heilige Kirche“), „ἅγιον μαρτύριον“ („heiliges Martyrion“), aber auch „ἱερόν“ („Heiligtum“), siehe die Zusammenstellung bei BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 372–374. 56 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Steven Fine im Bezug auf die Inschriften spätantiker Synagogen, in denen, sofern sie in griechischer Sprache verfasst sind, ein ähnliches Formular verwendet wird; Steven FINE, This Holy Place: On the Sanctity of the Synagogue During the Greco-Roman Period (Christianity and Judaism in Antiquity Series 11), Notre Dame, Ind. 1997, 97–105. 57 Da die figürlichen Darstellungen hier nicht zerstört sind, ist wohl anzunehmen, dass sie zum Zeitpunkt der ikonophoben Eingriffe nicht zu sehen waren; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 108. Piccirillo identifiziert die Szene als nilotische Darstellung; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 328; Dagegen wendet BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 133 zurecht ein, dass die eindeutigen Elemente, wie Lotospflanzen oder ein Nilometer, für eine solche Deutung fehlten. 58 Michele Piccirillo nimmt an, die Darstellungen der beiden östlichen Interkolumnien seien beide nach W orientiert; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 328. Die angedeutete Grundlinie im Feld des „Meeresmonsters“ macht für dieses eine Orientierung nach N wahrscheinlicher. 59 BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 133. 60 Besonders der westliche Abschnitt des Feldes ist stark beschädigt und ausgebessert, die Gesichter und Oberkörper der Figuren wurden ferner durch willkürliche Tesseraesetzung un-

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sind sie unbekleidet, in ihren Händen halten sie jeweils ein Füllhorn, aus dem sich Wasser ergießt. Ikonographische Ähnlichkeiten der Darstellung bestehen mit Wiedergaben von Jahreszeiten- oder Flusspersonifikationen, auch die Assoziation als Paradiesesflüsse käme aufgrund der Vierzahl in Frage. Welche dieser Deutungen allerdings intendiert war, muss aufgrund von fehlenden erläuternden Beischriften unklar bleiben61. Das Feld im Südosten zeigt eine nach Westen ausgerichtete, durch Tesseraeversatz verunklärte Darstellung einer Ganzfigur in Tunika und Mantel mit auf der linken Seite weit herabfallendem Saum (Farbtafel 19). Erkennbar ist der über den Kopf angewinkelte rechte Arm, dessen Hand die Schlaufe einer Peitsche mit Holzgriff fasst, während der linke Arm vor den Körper gezogen ist. Es handelt sich offenbar um einen zum Schlag ausholenden Tierkämpfer, einen Bestiarius, vergleichbar den Darstellungen auf einer in der Mitte oder der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts möglicherweise in Antiochia gefertigten Silberkanne des Seuso-Schatzes (Farbtafel 20)62. Die Darstellungen der Interkolumnienfelder sind, mit Ausnahme des südöstlichen Feldes, jeweils auf einen südlich stehenden Betrachter und damit auf die Eingänge zum Bau ausgerichtet (Farbtafel 17)63. Inhaltlich bieten sie eine idyllische, maritime Szenerie, möglicherweise als thematische Ergänzung zu den Mittelschiffsregistern, sowie mit dem Tiertreiber ein Versatzstück aus Zirkus- oder Tierkampfszenen als repräsentativer Bildformel64. Der Mosaikboden des erhöhten Sanktuariums ist in zwei Felder unterteilt (Farbtafel 16). Das querrechteckige Feld vor der Apsissehne wird von einem perspektivischen Wellenband, kombiniert mit gegenständigen Blättern, umzogen. Im Feld entwickeln sich aus drei zentralen Akanthustrieben Ranken, die in Weintrauben und -blättern auslaufen. Das Mittelmotiv wird seitlich von drei Rindern flankiert, zwei in Staffelung auf der linken, ein einzelnes auf der rechten Seite; auch diese wurden jeweils unkenntlich gemacht65. Bei ähnlichen Entwürfen, die sich sehr häufig in den Sanktuariumsmosaiken der Provincia Arabia finden, sind gegenständige Tiere, angeordnet um ein Mittelmotiv, die Regel; die Gegenüberstel-

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kenntlich gemacht. Piccirillo identifiziert die Gestalten als weiblich; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 328. BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 134. Marlia MUNDELL MANGO/Anna BENNETT, The Sevso Treasure. Part One. (Journal of Roman Archaeology Supplementary Series 12, Teil 1) Ann Arbor, Mi 1994, 267–318 Nr. 7. Der in hexagonale Felder unterteilte Oberflächendekor der Kanne zeigt innerhalb der Kompartimente neben geometrischen Motiven, Körben, Kantharoi, Büsten und verschiedenen Tierdarstellungen auch Tierkämpfer in unterschiedlicher Pose, dem Mosaikfeld in der „Kirche des Priesters Wa’il“ ist am ehesten die Gestalt in MUNDELL MANGO/BENNETT, Sevso (wie Anm. 62), 312 Nr. 9 mit ihrer über den Kopf erhobenen Peitsche und dem mit der Linken gehaltenen Gewandbausch vergleichbar. Zur Datierung und zum mutmaßlichen Herstellungsort der Kanne siehe ebd., 318. Zu einer Identifizierung als Tiertreiber kam auch BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 135. BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 133. Ebd., 198–202. Piccirillo identifiziert die dargestellten Rinder als Zebus; PICCIRILLO, chiesa (wie Anm. 8), 323.

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lung einer Zweiergruppe von Rindern und eines Einzelexemplars ist ungewöhnlich66. Die hintereinander gestaffelten Rinder erscheinen allerdings stark als Einheit, so dass das Grundschema der Anordnung zweier Elemente um ein Zentralmotiv auch in diesem Fall greift. Hinter einer solchen Variante stand offenbar der Wunsch nach einer gewissen Abwechslung innerhalb eines stark durchkonstruierten Gesamtentwurfes67. Die Forschung hat dem Motiv der den Altarstandort flankierenden oder diesem vorgelagerten gegenständigen Tiere mit Verweis auf eine ältere Bildtradition eine apotropäische Funktion zugeordnet68. Auch eine Deutung von gegenständigen Rindern im Sanktuariumsmosaik als Opfertiere am Altar und damit als ikonographischer Verweis auf den eucharistischen Altar der Kirche und sein Verständnis als Ort des Opfers Christi wurde erwogen69. Grundlage hierfür bieten Mosaikdekore, in denen, wie im Sanktuariumsmosaik der Theotokoskapelle des Mosesheiligtums auf dem Berg Nebo, gegenständige Rinder mit weiteren Elementen wie einem Brandopferalter und einem inschriftlichen Zitat des Psalms 51 (50), 21 („Dann werden sie Stiere auf Deinem Altar opfern“) verbunden werden70. Für einen solchen eindeutigen Bezug des alttestamentlichen Themas auf den Bereich des Altarstandortes der „Kirche des Priesters Wa’il“ fehlen allerdings Hinweise dieser Art. Das halbrunde Apsisfeld wird durch einen Streifen mit gereihten Sägezähnen nach Osten begrenzt; es zeigt sich überlagernde Achtecke, wobei die entstehenden länglichen Sechsecke jeweils mit einer Raute, die zentralen Quadrate innerhalb der Achtecke aber mit einem Wirbelmotiv gefüllt sind. Die Mosaikausstattung des Altarstandortes wirkt damit im Vergleich zum Paviment des Naos bemerkenswert schlicht, folgt damit aber einer Tendenz in den Sanktuariumsmosaiken der Region71. Die in unserem Bau noch teilweise rekonstruierbare Apsisausmalung

66 BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 108, 131; eine ähnliche Zweiergruppe findet sich, einen Pflug ziehend, im Mittelschiffsfeld der Kirche des Bischofs Sergios in Umm er-Rasas; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 131 Anm. 484. Vgl. die Zusammenstellung von Beispielen bei MICHEL, églises (wie Anm. 8), 56. 67 Zu diesem Phänomen siehe BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 107 f. 68 Gabriele CANUTI, Iconografie dei mosaici pavimentali della zona sacra nelle chiese del Vicino Oriente, Corso di cultura sull’arte Ravennate e Bizantina 41, (1994 [1995]), 482; BAUMANN, Stifter (wie Anm. 7), 109. 69 CANUTI, Iconografie (wie Anm. 68), 481. 70 JÄGGI, Kirche (wie Anm. 2), 81–84; zum Bau und zum Paviment der Theotokoskapelle siehe PICCIRILLO, Mosaics (wie Anm. 18) 1993, 151; PICCIRILLO/ALLIATA, Nebo (wie Anm. 36), 300–304, 434 f.; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 338 f. 71 Die Aufteilung des Sanktuariumsbodens in ein aufwendiger gestaltetes westliches Rechteckfeld und einen zumeist geometrisch dekorierten Apsisbereich ist, wie in unserem Beispiel, die am häufigsten vertretene Variante; MICHEL, églises (wie Anm. 8), 56; Jean-Michel SPIESER/Véronique BLANC-BIJON, Mosaik, in: Reallexikon für Antike und Christentum 25, Stuttgart 2012, 39. Den offenbar für einige Forscher verstörenden Umstand einer Dekoration des heiligsten Bereiches der Kirche, des Altarstandortes, mit rein geometrischen Mosaikfeldern suchte man vereinzelt auch auf einer inhaltlichen Ebene zu erklären. Sie verdeutliche die völlige Unbeschreiblichkeit der überweltlichen Sphäre, welche der Bereich des Sanktu-

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(siehe oben) beweist jedoch, dass es im Bereich des Sanktuariums vor allem das Gewölbe beziehungsweise die höheren Wandzonen waren, die als Anbringungsort figürlicher Darstellungen fungierten. Im Konzept des Bodenmosaiks der „Kirche des Priesters Wa’il“ lässt sich eine eindeutige Hervorhebung von Achsen festmachen (Farbtafel 17). Wie oben bereits bemerkt, betonen die abwechselnd nach links und rechts gewendeten, aber immer nach Osten orientierten Tierdarstellungen in den Akanthusmedaillons des südlichen Seitenschiffs die Längserstreckung von West nach Ost. Ähnliches ist für das nördliche Seitenschiff, dessen Darstellungen zerstört sind, zu vermuten. Am Ende der Seitenschiffe liegen jeweils die Einzelfelder mit Dattelpalme und Granatapfelbaum, die diese Längsachse fortsetzen. Die Darstellungen der Interkolumnienfelder sind, mit der konzeptionsbedingten Ausnahme des südöstlichen Interkolumniums, jeweils auf die im Süden liegenden Eingänge beziehungsweise auf von dort in das Südseitenschiff eintretende und in das Mittelschiff hinüberwechselnde Personen ausgerichtet. Die Rahmung des Mittelschiffsfeldes mit ihrer Medaillonfolge und nach innen ausgerichteten Füllmotiven zentriert den Raum des eingefassten und nach Osten ausgerichteten Feldes. Dieses ist, obgleich in Register ohne deutliche Trennung eingeteilt, ebenfalls von einer Betonung der Mittelachse bestimmt. Im westlichsten Abschnitt wird diese durch eine Pflanze im Berührungspunkt zwischen von links und rechts heranstürmenden Lanzenreitern und Raubtieren markiert. Im Register darüber erfolgt eine Bewegung nach links durch die ihre Beute verfolgende Hundemeute; im Gegensatz dazu steht darüber der nach rechts ziehende Lastentransport, das zu transportierende rechteckige Element nimmt hierbei die Bildachse ein. Das Gegeneinander beziehungsweise der Wechsel von rechts und links kommt im östlichsten Abschnitt zu seinem Ende, in dem eine zentrale, hervorgehobene Gestalt von zwei Zweiergruppen flankiert wird – links zwei Personen, rechts der Reiter auf seinem Tier. Die Ausrichtung des Mittelschiffsfeldes und der Seitenschiffsgestaltung auf einen von Westen herantretenden Betrachter wird interessanterweise trotz der fehlenden Zugänge in die Kirche aus dieser Richtung beibehalten und nicht etwa der gesamte Dekor, sondern nur die Darstellungen der Interkolumnien auf die Südmauer orientiert. Hierfür wäre einerseits das Festhalten an überkommenen Schemata verantwortlich zu machen, andererseits wären für die Feldgestaltung des Mittelschiffs in seiner freien Staffelung auch andere Möglichkeiten denkbar gewesen. Für die Figurenteppiche der Seitenschiffe wurde gar ein gängiges Rahmungsschema für die Längserstreckung von West nach Ost adaptiert. Auch im der Apsis vorgelagerten Rechteckfeld wird die Mittelachse betont, indem ein Zentralelement von zwei gegenständigen einander entsprechenden Motiven flankiert wird. Die Auflösung in eine flankierende Zweiergruppe und ein Einzelelement lockert das starre Gefüge auf, sprengt es aber nicht durch die enge Verbindung des Zweiermotivs.

ariums im Bauzusammenhang des Kirchenbaus repräsentiere; CANUTI, Iconografie (wie Anm. 68), 476. Hinweise auf ein solches intendiertes Verständnis gibt es allerdings keine.

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Die Konzeption des Mosaikbodens der Kirche unterstützt damit verschiedene Bewegungsrichtungen. So nehmen die nach Süden orientierten Elemente Bezug auf die Zugänglichkeit der Kirche von Süden. In den Schiffen wird die Bewegung in der Mittelachse von West nach Ost betont – im Mittelschiff in Richtung auf Altar und Apsis und damit auch auf die dort vollzogenen liturgischen Handlungen72. Für die Laien liegt am Endpunkt dieser Bewegungsrichtung der Bereich vor der Schrankenanlage des für sie unzugänglichen Sanktuariums. Als Ort des zwangsläufigen Verweilens besitzt dieser Raum ein hohes Kommunikationspotenzial und war daher stets besonders attraktiv als Anbringungsort von Stifterinschriften und -bildern. Es ist dieser Bereich, in dem sich die soziale Aufmerksamkeit der Zeitgenossen mit einer größtmöglichen Nähe zum heiligsten Ort des eucharistischen Altars verband.

3 FAZIT Für die exemplarisch durch die „Kirche des Priesters Wa’il“ im jordanischen Umm er-Rasas vertretenen Kirchenbauten des Nahen Ostens lassen sich durch die Analyse des Mosaikpaviments hinsichtlich der Frage nach seinem Kommunikationspotenzial für ein historisches Verständnis von Raumheiligkeit die folgenden Ergebnisse zusammenfassen. Der Gesamtstruktur der Kirche wird generell durch die Bezeichnung als „heiliger Tempel“ die Vorstellung des heiligen Raumes zugeschrieben, die damit den generellen Rahmen für weitere Deutungsebenen bildet. Der Dekorentwurf verweist in seinem Aufwand auf die Ausstattungskonventionen, die einem solchen Raumcharakter nach dem Verständnis der Erbauer und Besucher zugeordnet wurden. Das Vorhandensein figürlichen Dekors in allen Bereichen des Baus fällt auf, möglicherweise ließ die überschaubare Größe der Kirche einen solchen Aufwand finanzierbar erscheinen73. Die Struktur des Mosaikbodens betont innerhalb der Schiffe des Innenraums jeweils die Achsen in west-östlicher Richtung: Im Ostbereich des Mittelschiffs, einem Ort des Verharrens für Laienangehörige der Gemeinde, liegen Stifterbild und Bauinschrift in möglichst großer Nähe zum Altar und in einem Bereich der sozialen Aufmerksamkeit. Die Dekorachsen richten den Fokus auf die Ostpartie des Baus mit dem 72 Zu den Wechselbeziehungen von Kirchenausstattung und Liturgie siehe hinsichtlich der syrischen Kirchenpavimente DONCEEL-VOÛTE, pavements (wie Anm. 42), 492–541; Rainer WARLAND, Die Gegenwart des Heils. Strategien der Vergegenwärtigung in der frühbyzantinischen Kunst, in: Bildlichkeit und Bildorte von Liturgie. Schauplätze in Spätantike, Byzanz und Mittelalter, hg. v. Rainer WARLAND, Wiesbaden 2002, 51–74; JÄGGI, Kirche (wie Anm. 2), 81–84; VERSTEGEN, Raumordnung (wie Anm. 1), 595–597; als eine erste Hinführung vgl. auch Nancy P. ŠEVČENKO, Art and Liturgy, in: The Oxford Handbook of Byzantine Studies, hg. v. Elizabeth JEFFREYS, John HALDON u. Robin CORMACK, Oxford 2008, 731–740 mit der dort angegebenen Literatur. 73 Mosaikböden mit figürlichen Darstellungen waren um einiges kostspieliger als solche mit einem rein geometrischen Dekor, möglicherweise etwa doppelt so teuer; SPIESER/BLANCBIJON, Mosaik (wie Anm. 71), 36.

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Allerheiligsten des Altars im abgeschrankten Sanktuarium, in dessen Bereich die Ebene des figürlichen Dekors vom Boden in die Gewölbe- und oberen Wandbereiche übergeht, ferner auf die Ostenden der Seitenschiffe. Diese erhalten mit einer eigenständigen Feldgestaltung eine vage paradiesische Assoziation. Die Gestaltung und Ausrichtung des Dekors in Mittel- und Seitenschiffen sowie in den Interkolumnien machen den von den Entwerfern des Pavimentes angenommenen Weg des Kirchenbesuchers von den Eingängen in der Südmauer in den Naos nachvollziehbar, möglicherweise zeigt sich hier auch ein schwacher Reflex der ausgeübten Liturgie. Im Bereich des Mittelschiffs verschränkt sich dann eine Bedeutungsebene74, die Motive der Stifterrepräsentation an „Kommunikationsorten“ dem Betrachter vor Augen stellt, mit der Ebene einer strukturierten Raumhierarchisierung des Kirchenbaus hin zum Allerheiligsten im östlich gelegenen, abgeschrankten Sanktuarium. Durch die Analyse des Mosaikpaviments im Kontext des umgebenden Kirchenbaus, des „heiligen Tempels“, erweist sich das Gesamtgefüge des Sakralbaus als konstituierender Rahmen, in dem soziale, liturgische und allgemein frömmigkeitsbezogene Aspekte zueinander in Beziehung treten.

74 Zu den verschiedenen im spätantiken Kirchenbau sich manifestierenden Bedeutungsebenen siehe VERSTEGEN, Raumordnung (wie Anm. 1), 598 f.

SAKRALITÄT UND SAKRALISIERUNG. WIE KANN ZEIT GEHEILIGT WERDEN? Die Sakralisierung von Zeit in lateinischen und arabischen Kalenderwerken Klaus Herbers und Christian Saßenscheidt

1 SAKRALISIERUNG VON ZEIT IM LATEINISCH-CHRISTLICHEN MITTELALTER Darf am Karfreitag getanzt werden, sollten Diskotheken auch an diesem Tage geöffnet sein? Die Diskussionen kurz vor Ostern 2012 wirken noch nach: Gottesdienste und Matthäuspassion scheinen auf verlorenem Posten gegenüber DJ und anderen Interessen. War dies eine Attacke auf einen geheiligten Tag? Nur kurz zuvor gelangte der Karfreitag in Kuba durch den Papstbesuch wieder zu neuen Ehren. Der Gegensatz oder der Vergleich scheinen paradox. Dies zeigt, dass selbst in vermeintlich langfristig christlich dominierten Räumen über heilige Zeiten gestritten wird. Heilige Zeiten sind offensichtlich bis heute verhandelbar. Ist Heiligung also als ein Prozess verstehbar, der stets neu zu interpretieren ist? Und wenn dies zutrifft, stellt sich wie von selbst die Frage an die Historiker: War dies schon immer so, oder finden wir hier nur eine Tendenz neuer Zeiten, welche alte Zöpfe abschneiden will oder dem Willen des Volkes in dieser oder jener Richtung nachgibt? Um Sakralisierung und Desakralisierung wurde aus historischer Perspektive schon immer gerungen. Die Ausbreitung, aber noch mehr die Einwurzelung des Christentums erfolgte, so nicht nur meine These, durch verschiedene Sakralisierungsprozesse1. Diese betrafen Raum und Zeit. Hier sei vor allem die Zeit in den Mittelpunkt gerückt. Schon durch die Anbindung an das Judentum konnte die Zeit 1

Die folgenden Bemerkungen basieren auf Überlegungen, die ich zuletzt in Klaus HERBERS, Pilgerfahrten und die Sakralisierung von Wegen und Orten, in: Heilige – Liturgie – Raum (Beiträge zur Hagiographie 8), hg. v. Dieter R. BAUER, Klaus HERBERS, Hedwig RÖCKELEIN u. Felicitas SCHMIEDER, Stuttgart 2010, 219–235 niedergelegt habe. – Manche Stimmen der neueren Religionsphänomenologie weisen der Heiligkeit einen zentralen Platz zu. Von dieser Forschungsrichtung wird es inzwischen als Sichtweise eines eurozentrischen Christentums angesehen, wenn im Zentrum der Religion die Gottesverehrung steht. Entsprechend zitiert Arnold Angenendt in seinem Überblick zur Frömmigkeit Nathan Söderblom: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion, es ist wesentlicher als der Begriff Gott“, vgl. Arnold ANGENENDT, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 68), München 2003, 74. Vgl. auch Arnold ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, besonders 1–30; 355–359 und passim.

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einer Woche durch sechs Arbeitstage und einen Sonntag geheiligt werden, hinzu traten später besonders in religiösen Gemeinschaften weitere Ansätze, die Stunden des Tages durch Gebet und Lesung zu sakralisieren2. Betroffen war aber auch das Jahr. So war die Berechnung des Osterfesttermins an natürliche Voraussetzungen und insbesondere den Mondkalender gebunden, um jedes Kirchenjahr neu zu strukturieren. Wenn die christliche Heilsgeschichte im Jahreszyklus immer wieder bis heute mit Weihnachten, Ostern, Christi Himmelfahrt und Pfingsten aktualisiert wird, so wurden weitere Zeiträume besonders abgegrenzt – sakralisiert. Seien es die gebotenen Fastenzeiten vor den Hochfesten, sei es das Fasten vor dem Sonntag oder sei es der Zeitraum, der Hochfeste mit einer sogenannten Oktav schließlich eine ganze Woche dauern ließ. Dies alles trug zu einer Sakralstruktur bei, die liturgisch noch weiter durch Wertigkeiten abgestuft werden konnte. Dieser Prozess intensivierte sich im lateinischen Westen vor allem, nachdem das Christentum in der Folge der sogenannten Konstantinischen Wende eine staatliche Billigung oder sogar Förderung erhielt. Neue und weitere Möglichkeiten zur Gestaltung heiliger Zeiten ergaben sich durch Kalendarien und Martyrologien. Bei diesen Versuchen spielten heilige Personen eine zentrale Rolle. Neben der Möglichkeit, durch heilige Gebeine (sogenannte Reliquien) den Raum der immer größer werdenden christlichen Reiche zu sakralisieren, ergaben sich auf der anderen Seite neue Impulse zur Heiligung von Zeiten. Dies betraf in hohem Maße die ehemals nicht zum Römischen Reich gehörigen christianisierten Gebiete, wie zum Beispiel das fränkische Merowingerund später Karolingerreich. Den Prozess können Kalendarien und Martyrologien erläutern. Unter Martyrologien versteht man Verzeichnisse, um die Tage des Jahres mit verschiedenen Namen von Märtyrern oder Heiligen zur angemessenen liturgischen Memoria anzureichern3. Solche Kalender waren durch die Hauptfeste des Christentums wie Ostern, Weihnachten, Pfingsten schon belegt, aber im Zuge der seit der Spätantike zunehmenden Verehrung von Personen, die das christliche Ideal in vorbildlicher Weise gelebt hatten und deren Grabesorte sogar durch übernatürliche Zeichen hervorgehoben schienen, wurden auch deren Todesdaten zu wichtigen Orientierungspunkten. Wenn aber die Heiligkeit dieser Personen durch solche Zeichen erwiesen schien, so sollte auch der entscheidende Tag des Übergangs in die jenseitige Heiligkeit hervorgehoben werden. Die Möglichkeiten daran zu erinnern, waren zwar vielfältig, aber eine Form bestand darin, den Namen und vielleicht eine Kurzbiographie in Kalendern oder Martyrologien festzuhalten. So füllte sich der Jahreslauf mit Heiligennamen und Heiligenfesten. Der Diakon ver-

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Vgl. zur Zeit im monastischen Tagesablauf des Mittelalters zusammenfassend Hans-Werner GOETZ, Leben im Mittelalter vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, München 1986, 105–107. Vgl. klassisch Henri QUENTIN, Les martyrologes historiques du Moyen Age. Étude sur la formation du Martyrologe Romain. Paris 1908 und den handlichen Überblick von Jacques DUBOIS, Les martyrologes du Moyen âge latin (Typologie des sources au Moyen âge occidental 26), Turnhout 1978, besonders 14 f.

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kündete seit dem 8./9. Jahrhundert in der Regel, welche Heiligen in der kommenden Woche zu verehren seien. Dass Sakralisierung von Zeiten auch als ein ständiger Zuschreibungsprozess zu interpretieren ist, lässt sich gut an einzelnen Entwicklungsschüben – beispielsweise im 9. Jahrhundert – ablesen, denn vor allem in dieser Zeit erweiterten die sogenannten historischen Martyrologien von Hrabanus Maurus, Usuardus von StGermain-des-Prés, Wandelbert von Prüm oder Ado von Vienne4 ihren Kalender um neue Heiligennamen. Mit einem Schlagwort könnte man sagen: Rom drang ins Frankenreich ein. Die Orientierung auf Rom und die Päpste wird im Martyrolog Ados von Vienne besonders deutlich. Ado stellte sein Martyrolog in einer ersten Fassung schon um 855 oder unmittelbar anschließend zusammen5. Entscheidend gegenüber seinen Zeitgenossen war aber eine hier interessierende Neuerung: Er schuf ein Martyrolog ohne „leere Tage“, alle Zeit war damit in unterschiedlicher Weise geheiligt. Als Quelle diente ein venerabile perantiquum martyrologium, das angeblich von Rom nach Aquileia geschickt worden sei, und das Ado in Ravenna benutzt habe6. Wahrscheinlich stellte Ado jedoch diese Vorlage selbst zusammen. Ados Martyrolog dokumentiert, welche Heiligen in der Mitte des 9. Jahrhunderts von ihm – aber sicher auch von weiteren Kreisen – favorisiert wurden. Ado ersetzte alte fränkische, angelsächsische oder spanische vor allem durch römische Heilige und ergänzte die Notizen zu römischen Heiligen. Gegenüber dem Martyrolog des Florus von Lyon fügte Ado circa 120 Einträge hinzu; knapp zwei Drittel betreffen römische Heilige7. Viele der von Rom ins Frankenreich seit dem 8. Jahrhundert übertragenen Heiligen sind aufgenommen. In seiner zweiten Fassung von etwa 865 benutzte Ado neben den von Beda und Usuard zusammengestellten Martyrologien meist das halboffiziöse römische

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Vgl. Jacques DUBOIS/Geneviève RENAUD, Édition pratique des martyrologes de Bède, de l’Anonyme lyonnais et de Florus, Paris 1976. Zu Ados Martyrolog außerdem: Jacques DUBOIS/Genviève RENAUD, Le martyrologe d’Adon. Ses deux familles, ses trois recensions. Texte et commentaire (Sources d’histoire médiévale), Paris 1984. DUBOIS, Martyrologes (wie Anm. 3), 42 und DUBOIS/RENAUD, Martyrologe (wie Anm. 4), XX. Jüngste Edition bei DUBOIS/RENAUD, Martyrologe (wie Anm. 4), XXV: „Huic operi, ut dies martyrum verissime notarentur, qui confusi in kalendis satis inveniri solent, adiuvit venerabile et perantiquum martyrologium ab Urbe Roma Aquileiam cuidam sancto episcopo a pontifice Romano directum, et mihi postmodum a quodam religioso fratre aliquot diebus praestitum. Quod ego diligenti cura transcriptum positus apud Ravennam, in capite huius operis ponendum putavi.“ – Eine Reise Ados nach Ravenna ist eher unwahrscheinlich: Wilhelm KREMERS, Ado von Vienne. Sein Leben und seine Schriften. Bonn 1911, 19 schließt zwar eine Fahrt nach Ravenna nicht unbedingt aus, lehnt jedoch einen möglichen Romaufenthalt auf jeden Fall ab; in den Quellen gibt es hierfür keinen sicheren Anhaltspunkt. Dies geht aus einer Auswertung der bei QUENTIN, Les martyrologes historiques (wie Anm. 3), 409–464, besonders 458–464, zusammengestellten Beobachtungen hervor. Vgl. zu den Entwicklungen Klaus HERBERS, Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts – Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27), Stuttgart 1996, 387–393.

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Papstbuch zur Charakterisierung heiliger Päpste8. Trotz eines auch persönlichen Akzentes9 bezeugt das Martyrolog Ados einen Umbruch in der Mitte des 9. Jahrhunderts: Traditionelle Heilige wurden durch römische ersetzt und ergänzt, heilige Päpste zunehmend berücksichtigt. Wie auch die Aufnahme römischer Heiliger in den Messkanon im 5. Jahrhundert ihren Beitrag zur Romanisierung des Okzidentes geleistet hat, so dürfte auch die neue Ausrichtung einiger zentraler Martyrologien im 9. Jahrhundert wichtig geworden sein. Diese Heiligung von Zeit durch römische Heilige ging aber Hand in Hand mit einer Sakralisierung des Raumes, denn viele der aufgenommenen Heiligen kamen durch Übertragungen ihrer Reliquien in neue Gegenden des Frankenreiches. Die Romorientierung Karls des Großen – gipfelnd in der Kaiserkrönung 800 – war somit nicht nur ein einzelner Akt, sondern von zahlreichen weiteren Aspekten zur Romanisierung des Frankenreiches begleitet – ein Aspekt war die geheiligte Zeit, die mit den Festen im jährlichen Kreislauf Rom immer wieder vergegenwärtigte. Die Erweiterung um römische Heilige wurde für die folgende Zeit prägend. Der Prozess setzte sich in der Vormoderne fort: die berühmte, sogenannte Goldene Legende des Jakobus von Voragine aus dem 13. Jahrhundert orientierte sich wie andere Legendare ebenso am Jahresfestkreis. Die Zeit des Heiligenkalenders wurde sukzessive seit der Reformation desakralisiert, was sich nach der Säkularisation weiter fortsetzte. Wenn holy days heute eher holidays sind, dann zeigt sich hier ein sukzessiver Prozess der Desakralisierung von Zeit, der auch vor dem Karfreitag nicht haltzumachen scheint.

2 SAKRALISIERTE ZEIT UND POLITIK IM MITTELALTER Erlaubt sei noch ein kurzer Blick auf die Frage, welche Bedeutung die Sakralisierung von Zeit auch in der politischen Geschichte der Vormoderne besaß. Dort, wo es möglich war, beging man wichtige Ereignisse bewusst an hohen Festtagen; Hans-Martin Schaller hat vom „heiligen Tag als Termin mittelalterlicher Staatsakte“ gesprochen10. Der im Mittelalter fortentwickelte Festkalender hatte zahlreiche Möglichkeiten, die entsprechenden Akte symbolisch zu verstärken und aufzuladen. Für bestimmte Handlungen wartete man sogar auf diese Tage. Es ist kein Zufall, dass Karl der Große erst an Weihnachten und nicht am 23. Dezember zum Kaiser gekrönt wurde, und es zeugt von einem Kontinuitätsbewusstsein, dass Karl der Kahle und Karl III. in karolingischer Zeit ebenfalls an Weihnachten Kaiser wurden; weitere Kaiserkrönungen fanden an ähnlich wichtigen Festtagen, wie 8

Vgl. die Zusammenstellung im Rahmen der Quellenanalyse bei QUENTIN, Martyrologes historiques (wie Anm. 3) 625–627 und darauf aufbauend Jacques DUBOIS, Le martyrologe d'Usuard (Subsidia hagiographica 40), Brüssel 1965, 64 und DUBOIS, Martyrologe d’Adon (wie Anm. 4), 21. Oftmals wird nur die Sedenzzeit angeführt. 9 Vgl. zusammenfassend immer noch KREMERS, Ado von Vienne (wie Anm. 6), 12–18; Markus WESCHE, Ado, in: Lexikon des Mittelalters 1, 1980, 157. 10 Hans Martin SCHALLER, Der heilige Tag als Termin mittelalterlicher Staatsakte, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 30 (1974), 1–24.

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zum Beispiel an Ostern, statt11. Diese Hochfeste boten auch den angemessenen Rahmen, an denen Herrscher ihre Macht visualisieren konnten: Fest- oder Befestigungskrönungen, die den Antritt der Herrschaft memorierten, fielen bevorzugt auf hohe Kirchenfeste wie Ostern oder Pfingsten. Bei Kriegen und Schlachten mag der Zufall eher mitgespielt haben. Als Otto der Große am 10. August auf dem Lechfeld die Ungarn besiegte, war dies damals wie heute der Tag des heiligen Laurentius, der Sieg wurde seiner Hilfe zugeschrieben, und der Heilige dürfte bei der Siegesfeier, die der zeitgenössische Geschichtsschreiber Widukind andeutet, sicherlich entsprechend memoriert worden sein, seine Hilfe förderte jedenfalls in der Folge Stiftungen zu seinen Gunsten. Etwas anders scheint es bei Gelöbnissen und Aufbruchstagen zu Schlachten oder Kriegsfahrten zu sein: Friedrich II. versprach 1215 seinen Kreuzzug in Aachen am 25. Juli. Obwohl in der Forschung bisher unbeachtet, sprach er dieses Gelöbnis vielleicht bewusst am Festtag des heiligen Jakobus aus, am Tag eines Heiligen, der ja zunehmend, zunächst in Spanien, dann aber auch im restlichen Europa als der Patron im Kampf gegen die Muslime angesehen wurde. Dies leitet über zu der Frage, wie sich die christliche Kalendertradition und Vorstellungen sakralisierter Zeit in einem Raum entwickelten, in dem das Christentum eben nicht auch die politisch dominante Rolle spielte, sondern seit dem 8. Jahrhundert der Islam in weiten Teilen herrschaftliche Strukturen bestimmte und das Arabische zur dominierenden Kultursprache wurde. Wurden christliche Feste von den islamischen Herren des Andalus überhaupt wahrgenommen, und fanden die christlichen Vorstellungen heiliger Zeiten Eingang in die arabische kalendarische Tradition?

3 SAKRALISIERUNG DER ZEIT IN MUSLIMISCH-CHRISTLICHEN GRENZGEBIETEN DER IBERIA Man soll die christlichen Priester zwingen, sich beschneiden zu lassen […]. Schließlich behaupten sie doch, Jesus zu folgen, und dieser war beschnitten. Sie feiern ja am Tag seiner Beschneidung ein großes Fest, und dennoch folgen sie dieser Gewohnheit nicht.

Diese Bemerkung entstammt der berühmten Marktordnung des Ibn ‘Abdūn12 und zeigt eindrucksvoll, dass so manches, auch heute eher unbekannte, christliche Fest 11 Michael SIERCK, Festtag und Politik. Studien zur Tageswahl karolingischer Herrscher (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 38), Köln 1995, 75. 12 Die Schrift „Risāla fī l-qaḍā wa-l-ḥisba“ des Ibn ‘Abdūn wurden herausgegeben von Évariste LÉVI-PROVENÇAL, Trois traités hispaniques l'hisba (Publications de l'Institut français d'archéologie orientale du Caire. Textes et traductions d'auteurs orientaux 2), Kairo 1955. Eine deutsche Übersetzung einiger Bestimmungen findet sich in Hartmut FÄHNDRICH, Der Islam in Originalzeugnissen. Religion und Gesellschaft, Lenningen 2005, 163–169; die Übersetzung des obigen Zitats ist diesem Text (167 f.) entnommen. Zu Ibn ‘Abdūn siehe auch Wiebke DEIMANN, Christen, Juden und Muslime im mittelalterlichen Sevilla. Religiöse Minderheiten unter muslimischer und christlicher Dominanz (12. bis 14. Jahrhundert), (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 9), Berlin 2012 sowie DIES.: Die Mozaraber in

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Muslimen im hochmittelalterlichen Spanien anscheinend wohlbekannt war. In diesem Falle bezieht er sich auf das Fest der Beschneidung des Herrn am 1. Januar. Seit das Fest der Geburt Jesu, ab dem 4. Jahrhundert, am 25. Dezember gefeiert wurde, war es schließlich möglich, andere Ereignisse der Kindheit Jesu wie eben die im Lukasevangelium (Lk 2, 21) erwähnte Beschneidung im Jahreskreis zu verorten. Da das jüdische Gesetz die Beschneidung eines Neugeborenen am achten Tage nach der Geburt vorsah, war der 1. Januar die logische Wahl. Dieses Fest lässt sich tatsächlich in allen bekannten christlichen Kalendern der iberischen Halbinsel auffinden13. Etwa 400 Jahre bevor der Rechtsgelehrte Ibn ‘Abdun diese Zeilen schrieb, im Jahre 711, erreichten arabisch-islamische Truppen und der Führung von Ṭāriq ibn Ziyād das Reich der Westgoten auf der Iberischen Halbinsel und begannen, es unter seiner und Mūsā ibn Nuṣairs Führung in kurzer Zeit zu unterwerfen14. Für die nächsten 700 Jahre verblieb stets zumindest ein Teil der Iberischen Halbinsel unter muslimischer Herrschaft. Zunächst wurde es eine Provinz des Kalifates, regiert von Gouverneuren. Seit Mitte des 8. Jahrhunderts bildete sich das spätere selbständige Kalifat von Córdoba und schließlich nach dessen Zerfall im frühen 11. Jahrhundert verschiedene kleinere Herrschaften15, die im späten 11. und Mitte des 12. Jahrhunderts zunächst von den Almoraviden und später von den Almohaden, zwei aus dem Maghreb stammenden Dynastien, unterworfen wurden, bevor nach und nach immer größere Teile des Landes an die christlichen Königreiche des Nordens fielen. Mit der Begegnung von Christentum und Islam trafen nicht nur zwei Religionen aufeinander, sondern auch unterschiedliche Konzeptionen von Sakralität und Zeitvorstellungen. Sämtliche christlichen Konfessionen, seien es die Kopten Ägyptens, die verschiedenen Ostkirchen oder eben die lateinische Westkirche, Sevilla um 1100 aus der Perspektive eines islamischen Juristen. Zur isba des Ibn ‘Abdūn, in: Die Mozaraber. Definitionen und Perspektiven der Forschung (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 7), hg. v. Matthias MASER/Klaus HERBERS, Berlin 2011, 107–124. 13 Die bekannten Kalender der Frühzeit der Iberischen Halbinsel wurden erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts gesammelt von Marius FÉROTIN, Le Liber Ordinum en usage dans l’église wisigothique et mozarabe d’espagne du cinqième au onzième siècle (Instrumenta Liturgica Quarreriensia 6), Paris 1904 (Réimpression de l’édition de 1904, et supplément de bibliographie générale de la liturgie hispanique, préparés et présenté par Anthony WARD et Cuthbert JOHNSON, Rom 1996), 450–497; Die Arbeit Férotins wurde Mitte des 20. Jahrhunderts durch eine systematische Erfassung der erhaltenen Kalender iberischen Ursprungs fortgesetzt, zunächst durch eine Überarbeitung von Férotins Ergebnissen, Mateo ALAMO, Les calendriers mozarabes d’après Dom Férotin. Additions et Corrections, Revue d'histoire ecclésiastique 39 (1943), 100–131, später durch eine Neuedition der Kalender durch José Vives GATELL und Ángel Fabrega GRAU, Calendarios hispánicos anteriores al siglo XII, Hispania sacra. Revista española de historia eclesiástica 2 (1949), 119–146 und 339–380. 14 Eine Darstellung der Ereignisse um die Eroberung in deutscher Sprache findet sich in Klaus HERBERS, Geschichte Spaniens im Mittelalter: Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, 74–82. 15 Zu den komplexen Vorgängen dieser Zeit siehe David WASSERSTEIN, The Rise and Fall of the Party Kings, Princeton 1985.

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nutzten und nutzen Kalender, die auf dem Sonnenjahr, also dem auch uns geläufigen Jahr mit 365 Tagen und einem Schalttag alle vier Jahre sowie der Einteilung des Jahres in 12 Monate, basierten, um ihren religiösen Festen wie etwa Weihnachten oder Gedenktage für Heilige mehr oder minder feste Daten zuzuordnen und so einzelne Zeitpunkte des Jahres zu heiligen Zeiten zu machen. Die Feste der Christen waren und sind entsprechend dem Sonnenkalender konzeptioniert: Heiliger erinnert man sich an bestimmten Daten in besonderer Weise, und abgesehen vom Ostertermin und den sich darauf beziehenden Festen wie etwa Pfingsten sind sämtliche religiösen Feiern der Christen an festen Terminen des Sonnenkalenders ausgerichtet. Dem gegenüber nutzten die Araber der arabischen Halbinsel wahrscheinlich bereits in vorislamischer Zeit einen Mondkalender zur Bestimmung ihrer religiösen Feste. Ein solcher Kalender basiert auf 12 Mondmonaten, also der Zeit von Neumond zu Neumond; auf das ganze Jahr gerechnet, ist ein solches Jahr aber, je nachdem, 10 oder 11 Tage kürzer als ein Sonnenjahr. Manche Kalendersysteme nutzen einen Schaltmonat, um dieses Problem zu lösen. Doch im Islam, der den Mondkalender übernahm, wird dies durch den Koran (Sure 9, 37) explizit untersagt16. Ein Jahr, dessen Monate im Laufe der Zeit durch die Jahreszeiten wandern, ist schlecht geeignet, sinnvolle Vorhersagen etwa über das Wetter oder astronomische Phänomene zu machen. Unter anderem aus diesem Grunde existierte ein weiteres System der Zeitrechnung, das der anwā’, die mithilfe des Standes der Sternbilder das Jahr in 28 Einheiten à 13 oder 14 Tage unterteilten. Dieses System war allerdings nicht religiös geprägt, sondern folgte einem weitgehend pragmatischen Schema, eben vor allem für Zwecke der Wettervorhersage und verschmolz später mit dem System der einzelnen Häuser des Mondes, das wohl aus Indien in die arabische Welt gekommen war17. Diese islamisch-arabischen Traditionen trafen im Zuge der Expansion des arabisch-islamischen Kalifates nach Mohameds Tod im Laufe des 7. Jahrhunderts in den eroberten Gebieten Syriens, Ägyptens und Nordafrikas auf die christlichen Kalendertraditionen, bei denen das Sonnenjahr zur Bestimmung sakraler Zeitpunkte herangezogen wurde18. Hier, wie auch im lateinischen Westen, hatte sich bereits in der Spätantike eine Vielzahl an Heiligenkalendern unterschiedlicher Ausprägung (Synaxarien, Menologien, Martyrologien) entwickelt19. 16 Einführend zu islamischen Zeitvorstellungen und der Berechnung von Festtagen: Annemarie SCHIMMEL, Das islamische Jahr. Zeiten und Feste, München 2001. 17 Grundlegende Informationen dazu finden sich im Artikel anwā’ in der Enzyklopedia of Islam I, 523a; zur Nutzung dieses Systems in Spanien siehe Miquel FORCADA, Books of Anwā’ in Al-Andalus, in: The Formation of al-Andalus. Part 2: Language, Religion, Culture and the Sciences, hg. v. Maribel FIERRO/Julio SAMSÓ, Aldershot 1998, 305–328. Eine Liste der bekannten anwā’ und ihrer zeitlichen Einordnung findet sich in Charles PELLAT, Le calendrier de Cordoue, Leiden 1961, 11 f. 18 Diese Kalendertraditionen basierten zumeist auf römischen oder griechischen Vorbildern. 19 Das umfangreiche Quellencorpus orientalisch-arabischer Heiligenkalender unterschiedlicher Ausprägungen ist bis heute nicht erschöpfend erfasst und ediert. Im vorliegenden Zusammenhang sei beispielhaft verwiesen auf die Reihe der Patrologia Orientalis, die in mehreren Bän-

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Da zumindest anfangs die Christen die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Gebieten stellten, blieben ihre Kalender nicht nur für den liturgischen Nutzen in Gebrauch, auch für die Ansprüche der Landwirtschaft und – davon abhängig – für fiskalische Zwecke erwiesen sie sich als nützlich. Die Adaption der arabischen Sprache brachte es mit sich, dass somit bald auch arabische Kalender christlicher Sprache entstanden, die Elemente arabischer kalendarischer Traditionen aufnahmen. Entsprechend ihrem vielseitigen Nutzen wurden diese arabischsprachigen Kalender nicht nur mit sakralen Daten, sondern mit medizinischen, astronomischen und agrikulturellen Informationen erweitert20. Bereits diese christlichen Kalender verwendeten die Einteilung der anwā’ zusätzlich zu den christlichen Monatsnamen, wie das folgende Beispiel aus dem Kalender des syrischen nestorianischen Christen Ibn Māsawaih zeigt: Sowohl das gemeine Volk wie auch die Philosophen und die Ärzte der Perser, Inder und Griechen führen an, dass das Jahr in vier Jahreszeiten aufgeteilt ist: Frühling, Sommer, Herbst und Winter, und dass alle diese Jahreszeiten jeweils an Monaten drei oder an anwā sieben haben.

So verschmolzen im Osten frühzeitig verschiedene Formen von Kalendertraditionen; die einheimischen Heiligenkalender nahmen die anwā’-Tradition auf. Doch wie verlief diese Entwicklung des syrischen, griechischen und koptischen Sprachgebietes, also des Raumes der Orthodoxie, im katholischen, lateinisch geprägten Westen? Gerade aus dem Bereich der iberischen Halbinsel sind eine relativ große Zahl von Kalendarien erhalten, die ihrerseits zumindest im Grundbestand der verzeichneten Heiligen auf Vorbildern basieren, die bis in die Zeit der Spätantike zurückreichen21. Die Verbindung von zeitlicher und göttlicher, eben heiliger, Ebene wurde auch in iberischen Kalendarien durch ihre Gestaltung ausgedrückt. Als Beispiel mag hier eines der Kalendarien der Abtei Santo Domingo de Silos gelten (Ms. 4, entstanden im Jahre 1052), dessen prächtige Ausgestaltung Vives Gatell und Fábrega Grau dazu brachte, nebst einer Transkription der Heiligenfeste auch Abbildungen des Manuskriptes zu veröffentlichen22. Für die einzelnen Monate sind hierbei Kolonnen angelegt worden, je Folioseite zwei. Jede einzelne Kolonne ist dabei malerisch als Torbogen ausgelegt worden. Die beiden nebeneinander stehenden Torbögen der jeweils einzelnen Monate werden ihrerseits von einem geden wesentliche Werke mit meist französischer Übersetzung verfügbar gemacht hat, etwa François NAU, Les Ménologes des Évangéliaires coptes-arabes, in: François NAU/René GRAFFIN: Patrologia Orientalis. Tome X, Paris 1915, 167–244; Eugène TISSERANT, Le Calendrièr d’Aboul-Barakat, Patrologia Orientalis Tome X (1915), 247–286. 20 Ein Beispiel hierfür ist der Kalender des Yuḥanna ibn Māsawaih, eines nestorianischen Christen, aus dem 9. Jahrhundert, ediert von Paul SBATH, Kitāb Al-Azmina. Le livre de temps d’Ibn Massawaih, médicin chrétien célèbre décédé en 857, Bulletin de l’Institut d’Égypte 15 (1918), 235–257. Das folgende Zitat entstammt diesem Werk, 238. Eine französische Übersetzung liegt vor bei Gérard TROUPEAU, Le livre des temps de Jean de Māsawayh, Arabica. Journal of Arabic and Islamic Studies 15 (1968), 113–142. 21 Siehe hierzu Anm. 13. 22 Siehe VIVES GATELL/FABREGA GRAU, Calendarios (wie Anm. 13), Abbildungen IX–XII.

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meinsamen Bogen überspannt, der für die Monate März/April, Mai/Juni, Juli/August und September/Oktober jeweils ein aufwendig ausgestaltetes Evangelistentier beherbergt und so den Jahresablauf mit dem Kern der christlichen Heilsbotschaft, eben den Evangelien, in engsten optischen Zusammenhalt bringt. Kalendarien dieser Art, wenn auch meist nicht in derartig prächtiger Ausstattung, lassen sich in Spanien seit dem 7. Jahrhundert nachweisen. Sie verzeichnen Feste von Heiligen, die in der jeweiligen lokalen Liturgie eine besondere Bedeutung haben; so findet sich nebst verschiedenen Osterdaten und Festen wie Weihnachten fast immer Heilige wie Eulalia, Cosmas und Damian, Torquato und andere, die in der altspanischen Liturgie eine besondere Rolle spielten23. Das Zusammentreffen der Kalendertraditionen – Kalendarien wie das eben gezeigte einerseits, die kutub al- anwā’ andererseits – führten spätestens im 10. Jahrhundert dazu, dass diese beiden Textgattungen auch im iberischen Raum in derselben Weise verschmolzen, wie dies zuvor auch im Osten des islamischen Herrschaftsraumes zu beobachten war, um so die Informationen aus beiden Bereichen zusammenzuführen. Mit dem berühmten „Kalender von Córdoba“24, der sowohl auf Latein wie auch auf Arabisch überliefert und wohl auf Arabisch geschrieben wurde25, haben wir erstmals einen Kalender, der Charakteristika beider Traditionen aufweist. Er ist nach dem Sonnenjahr geordnet und beginnt wie alle anderen bekannten Kalender aus Spanien im Januar; aber er verzeichnet nebst den einzelnen Tagen der Monate eben auch die anwā’, die an den Sternen orientierten altarabischen Zeiteinheiten. Im hier behandelten Kontext sind allerdings seine umfangreichen astronomischen, medizinischen oder agronomischen Informationen nur nebenbei von Interesse26, denn der Kalender von Córdoba hat augenscheinlich ein Kalendarium ähnlich den anderen aus der Hispania bekannten integriert: die Feste mehrerer Dutzend Heiliger sind verzeichnet. An dieser Stelle ist es notwendig, auf die derzeitig bekannte Überlieferungslage zum Kalender von Córdoba einzugehen. Er ist uns in verschiedenen Versionen überliefert. Inzwischen sind zwei voneinander unabhängige lateinische 23 Zur altspanischen Liturgie bieten Anthony Ward und Cuthbert Johnson in ihrer Neuausgabe von Dom Férotins „Liber Ordinum“ eine umfangreiche Bibliographie. WARD/JOHNSON/FÉROTIN, Le Liber Ordinum (wie Anm. 13.), 31–42. 24 Siehe hierzu auch Johann FÜCK, Zum Kalender von Cordoba vom Jahre 961, Orientalische Literaturzeitung 60 (1965), 333–337. 25 Der „Kalender von Córdoba“ wurde erstmals von Reinhart DOZY, Le Calendrier de Cordoue de l’année 961, Leiden 1873, sowie im letzten Jahrhundert mit einer französischen Übersetzung von PELLAT, Le Calendrier (wie Anm. 17), herausgegeben. Zur Person des vermuteten Autors siehe Ángel LÓPEZ, Vida y Obra del famoso Poligrafo cordobes del s. X ‛Arīb ibn Sa‛īd, in: Ciencias de la naturaleza en al-Andalus, 1: textos y estudios, hg. v. Expiración García Sánchez, Granada 1990, 317–347. 26 Gleichwohl boten diese verschiedentlich Anlass zu entsprechenden lexikographischen Studien, zum Beispiel Joaquín Bustamante COSTA, Arabismos botánicos y zoológicos en la traducción latina (s. XII) del „Calendario de Córdoba“. Cádiz 1996; Paul KUNITZSCH, Über eine anwā’-Tradition mit bisher unbekannten Sternennamen. München 1983; Julio SAMSO, Materiales astronomicos en el Calendario de Córdoba, in: Nuevos estudios sobre astronomia espanola en el siglo de Alfonso X., hg. v. Juan VERNET, Barcelona 1983, 125–138.

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Übersetzungen, datiert ins 12. und 13. Jahrhundert, bekannt geworden, von denen die jüngere Version erst vor wenigen Jahrzehnten entdeckt wurde27. Eine arabische Version des Textes wurde 1866 in der Bibliothèque nationale de France in Paris entdeckt (Ms. 1082). Die arabische Fassung ist Teil einer umfangreicheren Handschrift, die außer dem Kalendertext auch weiteres astronomisches Material und medizinische Texte enthält und in hebräischen Buchstaben geschrieben ist28. Das Corpus an Heiligen, das im arabischen Kalender enthalten ist, ist signifikant kleiner als das in beiden lateinischen Übersetzungen: Etwa 20 Heiligen im arabischen Kalender stehen jeweils etwa 50 Heilige in beiden Übersetzungen gegenüber29. Dabei sind aber alle im arabischen Kalender enthaltenen Heiligen auch in beiden Übersetzungen zu finden, wohingegen beide lateinischen Übersetzungen untereinander das Corpus von Heiligen aus der arabischen Fassung jeweils unabhängig voneinander erweitern; nur wenige Heilige sind in beiden lateinischen Fassungen, aber nicht in der arabischen zu finden. Dies führt zu einem Problem in der Benennung des Kalenders von Córdoba. Einer der wesentlichen Gründe, der auf Córdoba als Entstehungsraum dieses Kalenders verwies, war der Heiligenbestand der lange Zeit einzigen bekannten lateinischen Übersetzung30. Diese Version enthält die Feste mehrerer Angehöriger der Gruppe der sogenannten „Freiwilligen Märtyrer von Córdoba“, einer Gruppe radikaler Christen, die in den 50er Jahren des 9. Jahrhunderts in Córdoba wiederholt Aufsehen erregten, indem sie den Islam öffentlich schmähten und dafür zum Tode verurteilt wurden31. Die beiden literarischen Apologeten dieser Bewegung, Paulus 27 José Martínez GÁZQUES, ¿Una nueva traducción latina del calendario de Córdoba del 961 en un manuscrito del siglo XIII?, in: Unidad y pluralidad en el mundo antiguo: Actas del VI Congreso Español de Estudios Clásicos (Sevilla 6–11 de abril de 1981), Sevilla 1983, 373– 397; José Martínez GÁZQUES, Un nuevo manuscrito de la traducción del calendario de Córdoba, in: Actas del I Congreso Andaluz de Estudios Clásicos: Jaén, 9–12 diciembre, año 1981. Jáen 1982, hg. v. Juan Higueras MALDONADO. Der Text der jüngeren Übersetzung wurde ediert von Julio SAMSO/José Martinez GÁZQUEZ, Una nueva traducción latina del calendario de Córdoba (siglo 13), in: Textos y Estudios sobre Astronomia Espanola en el siglo 13, hg. v. J. VERNET, Barcelona 1981, 9–78. 28 Siehe hierzu Ann CHRISTYS, Christians in Al-Andalus 711–1000, New York 2002, 123 f. 29 Die Signifikanz dieser Abweichungen erkennend veröffentlichte Martinez Gázquez nach Entdeckung der zweiten lateinischen Übersetzung eine Transkription der Heiligenfeste aus der jüngeren Version vorab: José Martínez GÁZQUEZ, Santoral del calendario del s. XIII contenido en el liber regius del museo episcopal de Vic, Revista de Teologia 6 (1981), 161– 174. 30 Pellats Übersetzung des Kalenders von Córdoba ins Französische ist insofern problematisch, als dass er seiner Übersetzung zwar stets den arabischen Text zugrunde legt, diesen aber nach dem lateinischen Text ergänzt. Er hat dies zwar transparent kenntlich gemacht, doch verwischen so im Eindruck die Unterschiede zwischen den beiden Kalenderversionen. 31 Zur Märtyrerbewegung siehe aus der äußerst breiten Literatur beispielhaft Kenneth Baxter WOLF, Christian Martyrs in Muslim Spain, New York 1988, und Manuel Cecilio DÍAZ Y DÍAZ, Los Mozárabes. Una minoría combativa, in: ¿Existe und Identidad mozárabe? Historia, Lengua y Cultura de los Cristianos de al-Andalus (siglos IX–XII), (Collection de la casa de Velázquez 101), hg. v. Cyrille AILLET, Mayte PENELAS u. Philippe ROISSE, Madrid 2008, 1– 8.

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Albarus und Eulogius, versuchten, diesen Martyrien hagiographisch Geltung zu verschaffen, aber ihre Wirkung blieb äußerst begrenzt32. Die Aufnahme dieser Cordobeser Regionalheiligen schien also ein valides Zeichen für einen Cordobeser Entstehungskontext des Kalenders zu sein. Allerdings kennt die jüngere lateinische Übersetzung keinen dieser Heiligen, und auch spätere arabische Kalender, die auf dem Kalender von Córdoba basieren (siehe unten), verzeichnen sie nicht. Ob der Kalender von Córdoba also wirklich in Córdoba entstanden ist, muss offen bleiben. Sicher ist, dass er einen wesentlichen Übergangspunkt in der Entwicklung andalusischer Kalenderformen markiert, nämlich die Integration von Anwā]Tradition und lokalen Heiligenkalendarien. Der uns vorliegende Kalender von Córdoba dürfte dabei allerdings bereits eine islamische Bearbeitungsstufe sein, die auf einer nicht erhaltenen christlichen Vorstufe basiert. Hierfür sprechen neben der Angabe des Autors in der arabischen Version auch, dass von Christen stets als ‛a^am gesprochen wird, die Perspektive auf das Christentum stets die eines Außenstehenden ist und christliche Feste teilweise durch Parallelen zu islamischen Festen erklärt werden33. Der Kalender von Córdoba verzeichnet allerdings keinerlei islamischen Feste, weder in seiner lateinischen noch in seiner arabischen Version; wohl, weil einerseits die arabische Tradition der kutub al-anwā’ eben keine sakralen Kalender darstellte, andererseits, weil die muslimischen Feste sich eben nach einem Mondkalender richten und nicht sinnvoll allgemeingültig in einen Sonnenkalender integriert hätten werden können. So wurden die Informationen über die Heiligen ihrem üblichen sakralen Umfeld entrissen und in eine pragmatische (und auch optisch deutlich schmucklosere) Kalendertradition eingefügt, vermutlich auch aus eben pragmatischen Gründen. Es war von Vorteil, die besonders wichtigen Festzeiten der anderen Religionsgruppe zu kennen, die im 10. Jahrhundert auch im islamisch beherrschten Andalus wahrscheinlich noch sehr zahlreich war. Durch die Vermittlung des Kalenders von Córdoba begannen in den folgenden Jahrhunderten Muslime, die – für praktische Zwecke eben nützlicheren – christlichen Sonnenjahre mit ihrer Tradition zu vereinigen, und das nicht nur in Spanien. Aus Ägypten sind uns seit dem 11. Jahrhundert Kalender bekannt, die eine ebensolche Verschmelzung von kitab al-anwā’-Traditionen nicht mit dem römischen, sondern mit dem koptischen Kalender vornahmen – Quelle waren offenbar ebenfalls Kalendarien, allerdings in koptischer Sprache. Sie lassen das Jahr entsprechend mit dem Beginn des koptischen Jahres im August anfangen und integrieren in ähnlicher Weise Bemerkungen zu Heiligen, teilweise zu solchen in 32 Zu der Nachwirkung der Märtyrerbewegung außerhalb Spaniens, gerade auch in Kalendarien, siehe Ann CHRISTYS, St.-Germain-de-Prés, St.-Vincent and the martyrs of Córdoba, Early Medieval Europe 7 (1998), 199–216; Janet NELSO, The Franks, The Martyrology of Usuard, and the Martyrs of Cordoba, in: Martyrs and Martyrologies (Studies in Church History 30), hg. v. Diana WOOD, Oxford 1993, 67–80. Die Schriften des Albarus und des Eulogius wurden herausgegeben von Juan GIL, Corpus scriptorum Muzarabicorum, Madrid 1973 (2 Vol.). 33 Hierzu sei als Beispiel eine Parallelisierung von Ostern mit dem Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramaḍān angeführt (Calendrièr de Cordoue, 22): „Das Fasten (aṣ-ṣaūm) beginnt bei ihnen 42 Tage vor Ostern, und Ostern ist ihr Fastenbrechen und das höchste ihrer Feste!“

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der koptischen Kirche verehrten, teilweise aber auch solchen andalusischer Provenienz – der bekannte Austausch zwischen den muslimischen Gelehrten Nordafrikas und Spaniens machte auch vor den Kalendern nicht halt34. Aber hier wie auf der Iberischen Halbinsel handelte es sich nicht um Kalender zum liturgischen Gebrauch, sondern um pragmatische Schöpfungen; sakrale Menschen wurden in ein teilweise höchst profanes Umfeld eingegliedert. Neue Nahrung aus christlich-iberischen Quellen erhielt die arabische Kalendertradition dann Anfang des 12. Jahrhunderts. Nachdem iberische Christen nach 1124 in großer Zahl nach Nordafrika deportiert wurden, wurde im Kontext dieser christlichen Gruppen ebenfalls liturgisches Material übersetzt – und so auch Muslimen zugänglich gemacht. In diesem Kontext finden sich auch Indizien dafür, dass eventuell die Liturgie zumindest in der Deportationssituation nicht mehr ausschließlich in Latein abgehalten worden sein könnte: Mit der Handschrift Aumer 238 der Bayerischen Staatsbibliothek in München existiert ein Codex, anscheinend für den liturgischen Gebrauch, in arabischer Sprache, der neben einer arabischen Übersetzung der Evangelien auch ein kalendarisches Verzeichnis von Heiligenfesten und wichtigen Festen des Jahreskreises enthält, das in einer tabellarischen Übersicht den jeweiligen Festen ihre Evangelien zuweist35. Über die Zeit der Koexistenz größerer Gruppen von Christen und Muslimen zeigte sich einerseits ein spezifisches Interesse der muslimischen Seite an bestimmten christlichen Heiligen, deren Feste bevorzugt aufgenommen wurden – hier sei vor allem Johannes der Täufer erwähnt36, eine Gestalt, die sich auch im Koran (zum Beispiel Sure 19, 12-15) findet und dadurch auch für Muslime zumindest einen gewissen sakralen Status besitzt – aber auch eine Beeinflussung hin zur Übernahme des Verzeichnisses der Todestage wichtiger Personen. Dies soll zum letzten im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten Kalender überleiten: Einem anonymen arabischen Kalender aus dem 12. Jahrhundert. Dieser anonyme Kalender trägt den arabischen Titel „Schreiben über die Zeiten des Jahres“ (Risāla fī Awqāt as-Sana)37. Er stellt sicherlich einen Höhepunkt der Rezeption christlicher Kalenderformen in der arabischen Iberia dar. Dieser erst seit etwa 20 Jahren bekannte Kalender entstand wohl gut 150 Jahre nach dem Kalender von Córdoba – und übernimmt seinen Text weitgehend 34 Fünf Beispiele für solche Kalender finden sich in Charles PELLAT, Cinq calendriers égyptiens (Textes arabes et Études islamiques 26), Kairo 1986. Innerhalb seiner umfangreichen Einleitung geht er S. XI f. auf die Parallelen zum Kalender von Córdoba ein. 35 Der Text wurde ediert und umfangreich besprochen von Philippe ROISSE, Célébrait-on les offices liturgiques en arabe dans l’Occident musulman? Étude, Édition et Traduction d’un Capitulare Evangeliorum arabe (Munich, Bayerische Staatsbibliothek Cod. Aumer 238), in: ¿Existe und Identidad mozárabe? Historia, Lengua y Cultura de los Cristianos de al-Andalus (siglos IX-XII), (Collection de la Casa de Velázquez 101), hg. v. Cyrille AILLET, Mayte PENELAS u. Philippe ROISSE, Madrid 2008, 211–254. 36 Er findet sich noch im 18. Jahrhundert in einem agronomischen Kalender aus Marokko. Vgl. Alexandre JOLY, Un Calendrier agricole maroccain, Archives maroccaine 3 (1905), 301–319, hier: 314 (Eintrag zum 29. August). 37 Ángeles NAVARRO, Risāla fī Awqāt Al-Sana. Un Calendario anónimo andalusí, Granada 1990.

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und ergänzt ihn auf vielen Ebenen, so dass er wertvolles Quellenmaterial für die philologische Erschließung des Textes bietet. Dennoch ist ihm anzumerken, dass der direkte Kontakt mit dem Christlichen zunehmend schwindet: während der Kalender von Córdoba völlig richtig anmerkt, dass Ostern ein beweglicher Feiertag sei und nur den frühesten und spätesten Zeitpunkt dafür angibt, hat dieser Kalender fünf verschiedene Osterdaten, verteilt über März und April. Das Corpus der Heiligen entspricht fast vollkommen dem der bekannten arabischen Version (Da der Text sonst eher dem der älteren lateinischen Übersetzung ähnelt, ist dies ein Argument dafür, dass die Feste Cordobeser Heiliger erst im Laufe der Übersetzung eingefügt wurden). Dennoch ist nicht zu verkennen, dass der Bezug zu den christlichen Vorläufern geringer geworden ist: während auch im arabischen Kalender von Córdoba trotz des anderen Schriftsystems die Heiligennamen meist gut erkennbar sind, haben sich hier Verschreibungen und Verlesungen Bahn gebrochen38. Viele Heiligennamen sind so entstellt, dass sie nur durch den Vergleich mit dem Kalender von Córdoba identifiziert werden können; auch scheint der Autor die Bedeutung des Wortes „Sankt“, „Heiliger“, das im arabischen Kalender von Córdoba noch als Abkürzung gebraucht wird, nicht mehr verstanden oder für überflüssig erachtet zu haben und hat es systematisch ausgelassen. Gewissermaßen können wir hier also eine Desakralisierung eines Gutteils des Jahreslaufes sehen – von hochverehrten Heiligen in den christlichen Vorlagen hin zur simplen Erwähnung eines Festtages in grundsätzlich profan orientierten Kalendern. Dennoch verzeichnet er die einzelnen Feste, die sich nicht direkt auf einen Heiligen beziehen, so genau wie möglich – eben etwa die bereits erwähnte Beschneidung Jesu am 1. Januar. Da dieser Kalender in etwa zur selben Zeit entstanden ist (der Herausgeber datierte das Werk ins 13. Jahrhundert39) wie die Schriften des Ibn ‘Abdūn mag es sein, dass er dieses Fest, wenn nicht aus eigener Anschauung, so aus den Traktaten seiner Glaubens- und Zeitgenossen kannte. Anderes aber ist so stark missverstanden, dass ein direkter Einfluss christlicher Quellen wohl ausgeschlossen werden muss – nur als Beispiel ist Weihnachten in diesem Kalender das Fest der Geburt Marias, nahezu alle Feste der Zeit zwischen 24. Dezember und 1. Januar sind inhaltlich stark verzerrt oder liegen auf falschen Daten. Markiert dieser Kalender so einen Höhepunkt der arabischen Rezeption christlicher Zeitvorstellungen, so auch das Ende des direkten Einflusses; lateinische Quellen zog er offensichtlich nicht mehr heran, und auch keiner der nach ihm erhaltenen arabischen Kalender aus Andalusien oder dem Maghreb, auch wenn der nicht-sakrale Textbestand des Kalenders von Córdoba in vielen Bereichen noch lange Nachwirkung zeigte. Doch auf der anderen Seite verzeichnet dieser Kalender an Daten des Sonnenjahres ganz nach dem Schema der christlichen Heiligen eine Vielzahl von Ereignissen koranischer oder biblischer Herkunft – so etwa das Datum des Beginns der Sintflut oder der Erschaffung der Welt – und, bis dahin nicht üblich, die Todes38 Zum Beispiel wurde der Name „Adrian“ Ángeles NAVARRO, (Risāla fī Awqāt Al-Sana [wie Anm. 37], 93, Eintrag zum 15. Juni) im Manuskript zu Andūbān verlesen. 39 Vgl. NAVARRO, Risāla fī Awqāt Al-Sana (wie Anm. 37), 26.

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daten mancher wichtiger Personen der islamischen Frühzeit, wie etwa Abū Bakrs (573-634)40 und Alī ibn Abī Ṭālibs († 661)41, des ersten und des vierten Kalifen42. Solange Christen in größerer Zahl unter muslimischer Herrschaft lebten, gab es also anscheinend immer wieder Kontakte mit dem Heiligenkult, die ausreichendes Interesse weckten, dass die Aufnahme von Heiligenfesten auch in arabische Kalender erstrebenswert schien. Doch nach dem Ende der meisten muslimischen Reiche auf der Iberischen Halbinsel und der voranschreitenden Islamisierung Nordafrikas scheint auch das Interesse an diesen Festen in arabischen Kalendern weiter zurückgegangen zu sein. Dennoch wurden manche christliche Feste, wie etwa Weihnachten oder Ostern, in arabischen Kalendern im Maghreb noch für viele Jahrhunderte verzeichnet – selbst im 18. Jahrhundert finden sich noch gebräuchliche Kalender, die auf den andalusischen Modellen aufbauen43, wenn auch viele Festnamen nur noch stark deformiert und inzwischen oftmals am falschen Datum erscheinen. Zeit kann stets auf verschiedene Weise geheiligt, aber auch entheiligt, sakralisiert und desakralisiert werden. Waren die Heiligenfeste schon im Christentum keineswegs einheitlich geregelt und stets starken Schwankungen unterworfen, so waren in Kontaktzonen zu anderen Religionen Prozesse der Desakralisierung noch einfacher, war ja das Heiligste des einen für den anderen nur ein – im Normalfall bedeutungsloser, im schlimmsten Falle vielleicht sogar blasphemischer – Festtag der anderen Glaubensgemeinschaft; So wurde zwar der Charakter der „Heiligen Zeit“ des anderen durchaus rezipiert, aber eben nicht notwendig gewürdigt und konnte auch, wie wir eingangs gesehen haben, polemisch gegen die andere Glaubensgemeinschaft gewendet werden. Dennoch bleibt gerade für die muslimisch-christliche Kontaktzone des arabischen Okzidents zu konstatieren, dass die sakralen Zeitvorstellungen des Christentums auch für die muslimische Seite von ausreichender Bedeutung waren, dass sie über viele Jahrhunderte in muslimischen Kalendern aufgeführt wurden und erst langsam verschwanden. Zu-

40 Am 11. August und damit 12 Tage vor dem überlieferten Datum. 41 Am 20. Januar und damit 4 Tage vor dem überlieferten Datum. Die Abweichungen gegenüber den bekannten Daten dürften sich leicht durch Probleme bei der Umrechnung von hi^ra-Daten in solche des christlichen Kalenders erklären, zumal bei Abständen von mehreren Jahrhunderten. 42 Diese Daten entnimmt der Kalender allerdings dem bisher nicht veröffentlichten Kalender des Kātib al-Andalusī, erhalten in einer Handschrift in Teheran, Bibliothek Malik Milli, Nr. 20499. Siehe hierzu NAVARRO, Risāla fī Awqāt Al-Sana (wie Anm. 37), 28 f. 43 Zur weiteren Nachwirkung siehe etwa Miquel Forcada NOGUÉS, Les sources Andalouses du calendrier d’Ibn al-Bannā’, in: Historia, ciencia y sociedad: actas del II Coloquio HispanoMarroquí de Ciencias Históricas, [celebrado en] Granada, 6–10 noviembre de 1989. Granada 1992, 183–196; Julia María CARABAZA BRAVO/Expiración García SÁNCHEZ, Un breve calendario de origen andalusí, Revista de filologia 17 (1999), 233–244 sowie JOLY, Calendrier maroccaine (wie Anm. 36). Zur Nachwirkung der nicht-sakralen Teile des Kalenders von Córdoba siehe grundlegend Julio SAMSO, La tradition clasica en los calendarios agricolas Hispanoarabes y Norteafricanos, in: Actas del II Congreso Internacional de Estudios sobre las Culturas del Mediterráneo Occidental, Barcelona 1978, 177–186.

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rück blieben vor allem praktisch nutzbare Informationen sowie das – ebenfalls praktischen Zwecken dienende – Sonnenjahr.

ÄGYPTEN ALS TEMPEL DER WELT UND HORT DES ABERGLAUBENS Florian Ebeling

Das Alte Ägypten ist ein Land mit einer ganz besonderen Religionsgeschichte: eine vielfältige Götterwelt, ein Gottkönigtum, eine differenzierte Tempelorganisation, Festkalender, ein aufwendiger Totenkult, der erste Monotheismus und zahlreiche Schriften, die uns von Jenseitsglauben, Kult und Religion berichten: Pyramidentexte, Totenbuch, Unterweltsbücher und vieles mehr. Dieses Wissen vom Alten Ägypten hat die moderne wissenschaftliche Ägyptologie seit dem 19. Jahrhundert für das Abendland erschlossen. Erst 1822 gelang es Jean-François Champollion, die Hieroglyphen zu entschlüsseln und damit die altägyptische Kultur selbst zum Sprechen zu bringen1. In der Frühen Neuzeit ruhte das Ägyptenbild nicht auf altägyptischen Quellen, sondern auf zwei Textkorpora, die grundverschiedene Vorstellungen überliefern: die biblischen Texte sowie die Schriften der griechisch-römischen Antike und Spätantike. Durch Vermittlung beider hat sich dem Abendland ein zweifaches Ägyptenbild tief eingeprägt, in dessen Spannungsverhältnis Ägypten in zahlreichen Diskursen zum Thema wurde. Ein einziges Ägyptenbild und einen einheitlichen Diskurs über das Alte Ägypten in der Frühen Neuzeit gibt es nicht, wohl aber gemeinsame Leitthemen. Und eines dieser Themen ist der besondere Religionsbezug, denn als säkular oder profan wurde das Alte Ägypten in der Frühen Neuzeit nie wahrgenommen. Vielmehr wurde es entweder als Land des Aberglaubens, der schwarzen Magie und der Zoolatrie stigmatisiert oder als Ursprung und Hort wahrer Religion und Weisheit verehrt. Anhand dreier Beispiele soll gezeigt werden, welche Rolle das Ägyptenbild in den theologisch-religiösen und politisch-kulturellen Diskursen haben konnte: Der florentinischen Renaissancephilosophie diente es als Bindeglied zwischen Christentum und Platonismus, dem Alchemoparacelsismus des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts zur Selbstbehauptung gegen den Schularistotelismus und im Pietismusstreit des ausgehenden 17. Jahrhunderts zur polemischen Immunisierung gegen den Einfluss antiker Philosophie.

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Einen Überblick über die Geschichte der Entzifferung der Hieroglyphen bietet: Alfred GRIMM, Zimmer mit Aussicht oder Wir entziffern nicht mehr, wir lesen: Eine wissenschaftsgeschichtliche Collage zur Entzifferungsgeschichte der Hieroglyphen 1800–1850, in: KonTexte. Akten des Symposions „Spurensuche – Altägypten im Spiegel seiner Texte“, hg. v. Günther BURKARD, Wiesbaden 2004, 7–35.

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All dies sind Variationen zweier Themen, die durch die hebräische Bibel und die hellenistische Philosophie dem Abendland implantiert sind. Sie spielen sich in einem durch diese Quellen präformierten religionsphilosophischen Rahmen ab, der bereits früh die Schlagworte für den Streit um die Religion der Ägypter geliefert hatte. Die Entstehungsgeschichte des abendländischen Ägyptenbildes ist wichtig, da sich die Quellenlage in der Frühen Neuzeit kaum verändert hat. Ihre Bewertung, die kulturgeschichtlichen und soziopolitischen Umstände der Aneignung und Interpretation lassen erst das jeweilige Bild ägyptischer Sakralität in der Frühen Neuzeit deutlich werden.

1 ZU DEN GRUNDLAGEN DES ÄGYPTENBILDES IN DER FRÜHEN NEUZEIT Der erste ausführliche Bericht in griechischer Sprache über Ägypten stammt von Herodot und nimmt wegen seines Alters2 und seines Motivreichtums innerhalb der Ägyptenrezeption eine herausragende Stellung ein3. Herodot bereiste in der sogenannten „Spätzeit“ Ägyptens ein Land im Kampf um seine politische Autonomie. Unter Psammetich I. befreite sich Ägypten um 650 vor Christus von einer kurzzeitigen assyrischen Herrschaft, wurde wieder unabhängig und öffnete sich – insbesondere unter Amasis (570-526) – der griechischen Welt. Viele Griechen suchten das Land am Nil auf. Gegen Ende der 26. Dynastie unterlag Psammetich III. im Kampf gegen Kambyses. Ägypten wurde jetzt Teil des persischen Großreichs, zahlreiche politische Unruhen und Aufstände prägten die Folgezeit der 27. Dynastie; eben in dieser Zeit hatte Herodot Ägypten bereist. Er kam in ein politisch gedemütigtes Land mit einer großen Vergangenheit (seit dem Bau der Pyramiden waren 2000 Jahre vergangen), ein Land, das mit den Griechen einen gemeinsamen Feind hatte, die Perser, und ein Land, das seine eigene Vergangenheit in ausgeprägter Weise verehrte. Die 26. Dynastie war von starken restaurativen Tendenzen gekennzeichnet. Texte und Bauten des Alten Reiches wurden kopiert, und Ägypten kultivierte das Bewusstsein der eigenen Größe durch den Bezug auf die Zeugnisse seiner bedeutenden Vergangenheit. Für Herodot ist Ägypten noch ein politischer Faktor, seine Beschreibung des Landes ist vielstimmig und befasst sich mit Geschichte und Geographie, den Sitten und dem täglichen Leben, den Kulturinnovationen und der Religion. Er beschreibt die Lokalgötter, den Opferkult, die Reinheitsvorschriften der Priester, die Balsamierung und den Totenkult und beteuert, dass die Ägypter die ersten gewesen seien, die Kultfeste und Opferfeiern eingerichtet haben4. 2 3

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Herodot greift zurück auf ältere Literatur, zum Beispiel Hekataios von Milet, die gleichwohl nur in Exzerpten erhalten ist. So ist im 18. Jahrhundert noch für Christoph MEINERS, Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, besonders der Egyptier […], Göttingen 1775, 81, Herodots Bericht als älteste Quelle auch die zuverlässigste. HERODOT, Historien. Übersetzt von August Horneffer, neu herausgegeben und erläutert von Hans Wilhelm HAUSSIG, Stuttgart 1971, §54.

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Dies ist nicht nur das Bild, das sich ein Grieche von Ägypten gemacht hat, sondern auch das Resultat ägyptischer Selbststilisierung. Es sind ägyptische Gewährsleute, auf die sich Herodot bezieht: […] hat man mir erzählt, was ich berichtet habe. Ich habe aber in Memphis bei den Priestern […] noch andere Nachrichten gesammelt, und ich bin nach Theben und Heliopolis gereist, 5 um festzustellen, ob man die Historien dort ebenso erzählt wie in Memphis .

Die Spannung von politischem Bedeutungsverlust und dem Bewusstsein der eigenen kulturellen Größe verschärfte sich im Verlauf der Geschichte immer weiter. Das Bemühen der Ägypter, zu alter nationaler Größe zurückzukehren, war nicht von nachhaltigem Erfolg gekrönt. Die Eroberung Ägyptens durch Alexander wurde zunächst als Befreiung von der persischen Fremdherrschaft begrüßt. Die Ptolemäer dagegen beherrschten Ägypten ohne als Fremde aufzutreten, sondern bedienten sich der kulturellen Semantik des Landes, ließen sich als Pharaonen inthronisieren und bauten zahlreiche Tempel nach alten Vorbildern. Der Souveränitätsverlust jedoch führte dazu, dass sich Ägypten und das Ägyptenbild zusehends veränderten: es wird zu einem Land der Religiosität und Vergangenheitspflege – anstelle seiner verlorenen politischen Bedeutung rücken nun Religion und Mythologie in den Fokus. In Plutarchs Schrift Über Isis und Osiris, in der wir erstmals den Osirismythos vollständig überliefert finden6, geht es nur noch um die ägyptische Religion und die Begründung und Explikation einer rationalen Theologie durch Allegorese. Er plädiert dafür, die ägyptische Kultur nicht als das zu nehmen, als was sie auf den ersten Blick erscheint. Man werde ihrer Religion nur gerecht, wenn man die Oberfläche durchdringe: Vielmehr ist ein Isis-Anhänger in Wahrheit derjenige, welcher das, was im Kult der Götter gezeigt und getan wird, […] mit dem Verstand durchdringt und über die darin liegende 7 Wahrheit philosophische Betrachtungen anstellt .

Die ägyptische Kultur stelle ihrer offensichtlichen Rätselhaftigkeit wegen eine nachdrückliche Aufforderung zur Interpretation dar: Die Sphingen vor den Tempeln, das „verschleierte Bild zu Sais” („Ich bin alles, was war und ist und sein wird, und mein Gewand hat noch kein Sterblicher gelüftet”8) oder auch der Name des ägyptischen Gottes „Amun“, welcher „der Verborgene“ bedeute, verdeutliche diesen Rätselcharakter. Und insofern gelte es auch, die Mythen der Ägypter einer Allegorese zu unterziehen. Plutarch schlägt mehrere mögliche Interpretationen des Osirismythos vor, verwirft einige, postuliert aber nicht eine als die einzig mögliche. Damit hat Plutarch eine These über den Umgang mit der ägyptischen Kultur in einer Deutlichkeit formuliert, die für die Rezeptionsgeschichte maßgeblich 5 6 7 8

HERODOT, Historien. Übersetzt von August Horneffer, neu herausgegeben und erläutert von Hans Wilhelm HAUSSIG, Stuttgart 1971, 100. PLUTARCH, Drei religionsphilosophische Schriften, herausgegeben und übersetzt von Herwig GÖRGEMANNS, Düsseldorf 2003, 135–273. Ebd., 141. Ebd., 149.

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werden sollte: Nicht das Evidente, nicht der erste Anschein oder die äußere Form ist das Wesen der ägyptischen Kultur. Plutarch oder auch Apuleius9 hatten diese Rätsel- und Mysterienkultur zu einem Gegenstand der philosophischen Theologie und zur Vorgeschichte des Platonismus gemacht. Politik, Geographie und Ethnologie waren kaum mehr Themen und zusehends wurde Ägypten und das Bild seiner Religion hellenistisch eingemeindet: Verwunderlich ist diese Entwicklung nicht, denn Herodot hatte Ägypten noch als lebendige Kultur im Ringen um politische Selbstständigkeit erlebt. Zur Zeit Plutarchs dagegen war Ägypten eine römische Provinz geworden, jedoch eine Kultur geblieben, in der noch immer die überlieferte Religion praktiziert wurde und Hieroglyphen geschrieben und verstanden wurden. Das änderte sich aber im 3. und 4. Jahrhundert. Aus dem Jahre 394 ist uns die letzte datierte hieroglyphische Inschrift im Tempel von Philae überliefert; vermutlich wurde sie nur noch nach Vorlagen übertragen, allerdings wohl nicht mehr verstanden. Zur Zeit, da sich Jamblichos, Porphyrios oder Proklos mit der ägyptischen Religion auseinandergesetzt hatten, war sie kaum oder gar nicht mehr lebendige Kultpraxis. Diese Hellenisierung zeigt sich auch in Schriften, die dem legendären ägyptischen Weisen Hermes Trismegistos zugeschrieben wurden; sie sind um die Zeitenwende und in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstanden, galten aber als älteste ägyptische Weisheit10. In initiatorischen Lehrgesprächen wird die Einheit des Geistig-Göttlichen als prägender Grund der Vielheit der sichtbar-leiblichen Erscheinungen verstanden sowie die Welt im Ganzen als universeller Verweiszusammenhang. Die zahlreichen hermetischen Schriften leiten daraus naturphilosophische und ethische Paradigmata ab wie auch astronomische, magische oder alchemische Lehren. Das hermetische Wissen galt als die beste Annäherung an ein vollkommenes göttliches Urwissen11. Wie sehr diese Texte in der Spätantike als Inbegriff ägyptischer Religion galten, zeigt eine Schrift, die seit Ficinos Übersetzung unter dem Titel De Mysteriis Aegyptiorum bekannt ist12. Ihr Autor Jamblichos will die „heidnischen“ Religionen verteidigen, indem er auf die Würde der Religion Ägyptens rekurriert, die er 9

John Gwyn GRIFFITHS, Apuleius of Madaura. The Isis-Book (Metamorphoses XI), Leiden 1975. 10 Florian EBELING, Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. München 2005. Carsten COLPE/Jens HOLZHAUSEN (Hg.), Das Corpus Hermeticum Deutsch. Stuttgart 1997. Garth FOWDEN, The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the Late Pagan Mind, Cambridge 1986. 11 Eine Erzählung mit einer solchen Rollenzuweisung wird uns aus dem 9. Jahrhundert von Synkellos überliefert, scheint aber antike Wurzeln zu haben, zumal sie Manetho zugeschrieben ist, der im dritten vorchristlichen Jahrhundert lebte: Der erste Hermes habe das Urwissen vor der Sintflut in Hieroglyphen niedergeschrieben; nach der Flut seien diese in die griechische Sprache übersetzt, vom zweiten Hermes in Büchern zusammengestellt und in den Tempeln Ägyptens niedergelegt worden. Vgl.: William Gillian WADDELL (Hg.), Manetho, London 1940, 208. 12 Bei Ficino lautet der Titel vollständig „Iamblichus de mysteriis Aegyptiorum, Chaldaeorum, Assyriorum“ und wurde bei Aldus Manutius 1497 veröffentlicht. Vgl. Martin SICHERL, Die Handschriften, Ausgaben und Übersetzungen von Jamblichos De Mysteriis, Berlin 1957.

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mit dem Hermetismus identifiziert. Die ägyptische Kultur versteht Jamblichos als Urbild von Theurgie13 und Philosophie und interpretiert sie als Artikulation neuplatonischer Philosopheme14. Hier wird die altägyptische Kultur nicht mehr – wie noch von Plutarch gefordert – dem verstehenden logos unterworfen, sondern theurgisch verklärt. Die ägyptische Sprache sei dem Göttlichen angemessener als das Griechische und jede Übertragung aus dem Ägyptischen ins Griechische (oder Lateinische) sei unvollkommen, denn sie verkürze das Göttliche auf das Maß des Menschlichen15. Ägypten wird als „Abbild des Himmels“ und „Tempel der ganzen Welt" zum mythisch überhöhten Ursprungsland aller göttlichen Weisheit und praktizierten Frömmigkeit16.

2 DIE HEBRÄISCHE BIBEL UND DIE FRÜHCHRISTLICHE APOLOGETIK Das ist nur das eine Fundament des abendländischen Ägyptenbildes. Ein weiteres bilden die biblischen Schriften17: Im ersten Buch Moses spielt Ägypten noch eine durchaus positive Rolle: Joseph reüssiert am Nil, sein Vater Jakob und seine Familie retten sich vor der Hungersnot in Kanaan nach Ägypten. Im zweiten Buch Moses ändert sich dieses Bild grundlegend. Die Israeliten werden in Ägypten unterdrückt und Moses von Gott zu ihrem Führer berufen. Der Pharao verwehrt den Hebräern den Auszug und es kommt zu einer Konfrontation: Pharao, Ägypten, Polytheismus und Idolatrie auf der einen Seite, Moses, Hebräer, Monotheismus auf der anderen Seite – sinnfällig zum Ausdruck gebracht in der Erzählung von den zehn Plagen, der Verfolgung der Hebräer auf ihrer Flucht und der Vernichtung der Ägypter im Roten Meer. Ägypten ist hier die überwundene Vergangenheit, aus der sich das Volk Gottes mühsam hatte befreien müssen. Zwar lebten im

13 Die ägyptische Sprache sei älter und dem Göttlichen angemessener – insofern sei sie auch zur Theurgie besser geeignet als das Griechische. Vgl. Peter CROME, Symbol und Unzulänglichkeit der Sprache, München 1970, 17–78. 14 So interpretiert er das Bild „Der als Kind auf einer geöffneten Lotosblüte sitzende Sonnengott“ als symbolischen Ausdruck für die Gottheit, die in ihrer Transzendenz über die geschaffene und sinnlich wahrnehmbare Welt erhaben ist, in ihrer Einheit und Einzigkeit aber alles Geschaffene als pantheistischer Allgott einschließt. 15 Jamblichos interpretiert den Gebrauch von Götternamen in theurgischen Gebeten, die einem Griechen unverständlich sind, als Zeichen besonderer Würde und Angemessenheit der ägyptischen Sprache. Und auch in den hermetischen Schriften findet sich ebenfalls eine Aufwertung des Ägyptischen und eine Abwertung des Griechischen. Die hermetischen Lehren über Gott und das All könnten nur in der ägyptischen Sprache klar und deutlich dargestellt werden, das „Wort-Getöse“ des Griechischen sei hierzu vollkommen ungeeignet und die ägyptischen Lehren dürften nie ins Griechische übersetzt werden. Da diese Schrift jedoch in Griechisch überliefert ist, suggeriert sie ein ägyptisches Original von bedeutend höherer Würde als der vorliegende Text. Vgl. „Brief des Asklepios an König Ammon: Erinnerungspfeiler“, Corpus Hermeticum XVI, in: Carsten COLPE/Jens HOLZHAUSEN, Corpus Hermeticum, 200–213. 16 Asclepius §24, in: COLPE/HOLZHAUSEN, Corpus Hermeticum (wie Anm. 10), 286. 17 Rainer KESSLER, Die Ägyptenbilder der Hebräischen Bibel. Ein Beitrag zur neueren Monotheismusdebatte, Stuttgart 2002.

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Alten Ägypten nach der Bibel auch Weise, die nur Salomon überbieten konnte, rezeptionsgeschichtlich jedoch ist Ägypten mit dem, was Jan Assmann die „mosaische Unterscheidung“ nennt, zum Inbegriff von Aberglauben, Vielgötterei und Idolatrie geworden18. Dieses Ägyptenbild ist eine Hypothek, gegen die sich schwerlich argumentieren ließe, und doch konnte die Stigmatisierung, die Ägypten im Verständnis des Judentums und in der Folge auch im Christentum erlitten hatte, später relativiert werden. Zunächst einmal zeigt das Neue Testament keine so entschiedene Ägyptophobie wie die hebräische Bibel. Erneut ist Ägypten Zufluchtsort, diesmal vor der Verfolgung der Heiligen Familie durch Herodes. Über diese Erwähnung Ägyptens als Asyl19 hinaus ist nur noch eine Exodusparaphrase in der Apostelgeschichte20 zu nennen, die allerdings rezeptionsgeschichtlich wichtig ist, denn sie will deutlich machen, dass Moses Weisheit auch Wurzeln in der ägyptischen Kultur habe und Ägypten nicht nur einen Makel trüge: Mose, heißt es hier, sei in aller ägyptischen Weisheit unterrichtet gewesen. Für die Rezeptionsgeschichte Ägyptens im christlichen Abendland sollte es bedeutsam werden, dass sich das Christentum in der frühchristlichen Apologetik weitgehend der platonischen Philosophie und bisweilen zugleich ihres Ägyptenbildes angenommen hatte. Mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe ließen sich die beiden Pole des Ägyptenbildes, die griechisch-römische Verehrung und der jüdisch-christliche Abscheu miteinander aussöhnen: Unter der polytheistischen Außenseite, von der der Exodus berichtet, habe sich im Inneren eine ehrwürdige Weisheit, ja ein rudimentäres Christentum verborgen21. Eine inhaltliche Bestätigung dieses Modells schienen die hermetischen Schriften zu bieten. Laktanz glaubte eine Präfiguration vieler christlicher Dogmen in der vermeintlich uralten Lehre des Hermes Trismegistos erkennen zu können. Die Transzendenz und Unerkennbarkeit Gottes, seine Einzigkeit als Schöpfer allen Seins habe auch schon der Hermetismus gelehrt. Epistemologisch und heilsgeschichtlich könne Hermes mit einem heidnischen Propheten oder den Sibyllen verglichen werden. Er habe bereits die ganze Wahrheit erforscht und sei überaus gelehrt gewesen. In seinen Schriften hätte er den einzigen Gott, ja eigentlich den Gott der Christenheit verehrt, ohne ihn als solchen vor Christi Geburt erkennen zu können22. Zwischen den Polen der griechisch-römischen Wertschätzung und der jüdisch-christlichen Abscheu eröffnete sich der Interpretation unter den Vorzeichen

18 Jan ASSMANN, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. 19 Mt 2, 13–17. 20 Apg 7, 22. 21 „Alle Barbaren und Hellenen also, um es kurz zu sagen, welche theologisiert haben, haben die Urgründe der Dinge mit Verborgenheit überdeckt und die Wahrheit durch Rätsel und Sinnbilder, Allegorien und Metaphern und auf anderen Wegen dieser Art überliefert.“ Clemens ALEXANDRINUS, Teppiche. Deutscher Text nach der Übersetzung von Franz Overbeck. Herausgegeben und eingeleitet von Carl Albrecht BERNOULL, Basel 1936, 436. 22 Andreas LÖW, Hermes Trismegistos als Zeuge der Wahrheit, Berlin 2002.

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einer platonisch inspirierten Hermeneutik ein weites Feld von Möglichkeiten, in dem sich die Geschichte der Ägyptenrezeption entfaltet.

3 ÄGYPTEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT, DREI FALLSTUDIEN Das Ägyptenbild wird in der Frühen Neuzeit nicht als eigenständiger thematischer Zusammenhang behandelt, es sind zahlreiche Diskurse, in denen Ägypten zum Thema wird und die in vielerlei Hinsicht unter- und miteinander zusammenhängen: Kunstgeschichte, Reiseberichte, Literatur über die Weisheitstraditionen, Philosophiegeschichte, Hieroglyphen oder Altertumskunde. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Geschichte des Hermetismus, der seit der Spätantike als Inbegriff ältester ägyptischer Philosophie und Theologie galt. Wie verschieden diese miteinander verwandten Ägyptenbilder dennoch ausfallen können, zeigen die drei Beispiele aus dem 15. bis 17. Jahrhundert.

1) Ägyptische Weisheit als universelle Urreligion in der florentiner Renaissance Nachdem Ägypten im christlichen Mittelalter vornehmlich als Bühne für die biblische Heilsgeschichte erschien, erlebte das Ägyptenbild in der italienischen Renaissance eine neue Blüte mit der Wiederentdeckung der griechisch-römischen Antike23. Neben der Relektüre, Edition oder lateinischen Übersetzung der Schriften von Herodot, Diodor, Plutarch oder Jamblichos hat neben den Hieroglyphica des Horapollon24 das Corpus Hermeticum die Diskussion um das Alte Ägypten besonders belebt. Erst 1460 kamen die Texte des Corpus Hermeticum nach Florenz, wo sie 1463 von Marsilio Ficino ins Lateinische übertragen und 1471 unter dem Titel Pimander gedruckt wurden25. Das Vorwort zu dieser Ausgabe feiert Hermes als legendären Kulturgründer, der über Ägypten geherrscht, den Ägyptern die Schrift gelehrt habe und wie ein Gott verehrt worden sei. Sein Epitheton ornans trage er, da er sich zugleich als König, Priester und Philosoph ausgezeichnet habe. Als erster Philosoph habe er sich von den irdischen den himmlisch-göttlichen Themen zugewandt. Dabei geht es Ficino insbesondere um drei Themen: die Transzendenz Gottes, die Hierarchie des Kosmos (der Dämonen) und die Transformationen der

23 Die Werke von Homer, Apuleius, Diodor, Plinius dem Älteren oder Platon wurden im 15. Jahrhundert gedruckt, fanden damit eine weitere Verbreitung und popularisierten das Ägyptenbild der Antike. Vgl.: Anthony GRAFTON, The Availability of Ancient Works, in: Cambridge History of Renaissance Philosophy, hg. v. Charles Bernard SCHMITT, Cambridge 1988, 767–791. 24 George BOAS, The Hieroglyphics of Horapollo, Princeton 1993. Heinz-Joseph THISSEN, Des Niloten Horapollon Hieroglyphenbuch, München 2001. 25 EBELING, Hermes (wie Anm. 10), 89–95.

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Seele. Als bekennender Christ26 nimmt Ficino das Ägyptenbild der christlichen Apologetik auf und kann so Ägypten als Ursprungsland von Weisheit, Religion und Philosophie verstehen. Hermes sei der Begründer einer theo-philosophischen Tradition, der auch die größten Philosophen Griechenlands angehören: Orpheus, Pythagoras und Platon stimmten im Wesentlichen mit Hermes Trismegistos überein. Die Weisheit dieser Philosophen unterscheide sich nur äußerlich von den biblischen Schriften und insbesondere Hermes habe sich als Prophet des Christentums erwiesen: Er habe den Untergang der „alten Religion“, das Entstehen einer „neuen Religion“, das Kommen Christi, ja sogar das „Weltgericht“ mit der Bestrafung der Sünder und der Belohnung der Gerechten vorhergesehen und damit eindeutig auf das Christentum hingewiesen27. Ficino meint, so viele Übereinstimmungen zwischen den mosaischen Schriften und dem Hermetismus festzustellen, dass man sich fragen könne, ob Hermes und Moses nicht identisch seien. Wenn Ficino auch die Reihenfolge und die Namen der Vertreter der „Secta Philosophorum“ geändert hat, so bleibt die Vorstellung einer Tradition göttlichen Wissens, das sich auch bei den Heiden gezeigt habe, für ihn wichtig: Der göttliche Geist, ahistorisch und als Offenbarungsgrund immer gleich bleibend, zeige sich in verschiedener Gestalt im Laufe der Zeit und bei den unterschiedlichen Vertretern der „alten Theologen“. Um den göttlichen Geist zu verstehen, müsse das Gemeinsame hinter den verschiedenen Zeugnissen gesucht werden. Platon und Hermes sprächen im Wesentlichen über dieselben Gegenstände, über die schon Mose von Gott unterrichtet worden sei und die das Neue Testament ausdrücke. Die Kosmologie des Pimander und der Genesis würde nicht in ihrer äußeren Form, wohl aber in ihrem semantischen Gehalt übereinstimmen. In ihrem Offenbarungsgrund sind sich hermetisch-platonisches Heidentum und Christentum gleich, denn Hermes, Platon und Pythagoras hätten je eine eigene Offenbarung erhalten, diese jedoch aus derselben göttlichen Quelle. Damit versteht der Renaissancephilosoph Hermes und die ägyptische Weisheit als Vorgänger und Wegbereiter des Christentums und des Platonismus, nicht aber als einzige authentische Quelle göttlichen Wissens. Ficino und viele, die ihm mit Übersetzungen und Kommentaren des Corpus Hermeticum folgten, zeichnen ein Ägyptenbild, in dem die Ägyptenabscheu des Exodus vollständig überwunden ist. Ägypten ist die andere Seite, jedoch nicht die Negation des Heiligen Landes und Hermes ein hervorragender Repräsentant paganer Sakralität. In der italienischen Renaissancephilosophie erhält das Ägyptenbild und die Geschichte des Hermetismus einen entscheidenden Impuls durch die theologischen und geistphilosophischen Kommentare des Corpus Hermeticum. Dieser geistphilosophische Hermetismus steht häufig im Zeichen der Überwindung des 26 Ficino wurde 1487 zum Priester geweiht, erhielt kirchliche Pfründe und war seit 1487 Kanoniker am Florentiner Dom. Zu Ficino: Michael John Bridgman ALLEN, Marsilio Ficino, his Theology, his Philosophy, his Legacy, Leiden 2001. 27 Es handelt sich hierbei um eine Interpretation der sogenannten Schilderung einer Apokalypse im Asclepius (§24–26). Dieselbe Stelle, die Ficino als Prophetie des Christentums deutet, hatte Augustinus als Angriff auf das Christentum verstanden. Übersetzung des Asclepius, in: COLPE/HOLZHAUSEN, Corpus Hermeticum (wie Anm. 10), 231–316.

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Gegensatzes von ägyptisch-heidnischer und christlich-monotheistischer Religion und diente noch im Zeitalter der Konfessionalisierung als Mittel der Versöhnung. So relativiert Sebastian Franck (1499-1543) unter Verweis auf den ägyptischen Hermetismus den Wahrheitsanspruch der christlichen Religion zugunsten eines religionsphilosophischen Universalismus28. Und Philippe de Mornay (1549-1623) wirbt mit seinem Ägyptenbild für religiöse Toleranz, indem er zu zeigen versucht, dass christliche Dogmen natürliche Wahrheiten seien, an die bereits die Ägypter geglaubt hätten29. Diese Traditionslinie des Hermetismus unterscheidet sich idealtypisch von den alchemisch-magischen Schriften, deren Zentraltext die Tabula Smaragdina ist30. In diesem Teil der Geschichte des Hermetismus geht es weniger darum, für religiöse Toleranz zu werben; vorherrschend ist die Auseinandersetzung um Orthodoxie und Heterodoxie. Aber auch hier ist Ägypten nicht das Land des Aberglaubens, der Hybris und Idolatrie, von dem der Exodus berichtet.

2) Der Alchemo-Paracelsismus und die göttliche Offenbarung Ägypten und der Hermetismus werden in der Frühen Neuzeit bisweilen als Etikett für Rechtgläubigkeit verwandt, so etwa in den Legitimationslegenden des Alchemo-Paracelsismus des späten 16. und 17. Jahrhunderts. 1603 erschien im Anhang einer Werkausgabe des Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus, eine Schrift, die bereits im Titel zeigt, welche Bedeutung Hermes für die Anhänger des Paracelsus hatte: Apocalypsis Hermetis ab illustrissimo viro, Aureolo Helvetico, qui fuit Hermes Secundus oder wie es in der Ausgabe von 1608 heißt Apocalypsis Des Hocherleuchten Aegyptischen Königs und Philosophi, Hermetis Trismegisti; von unserm Teutschen Hermete, dem Edlen, Hochthewren Monarchen und Philosopho Trismegisto, […] Paracelso […] Verdolmetschet. Laut Titel handelt es sich also um eine Offenbarung des Ägypters Hermes Trismegistos, die von Paracelsus, dem „zweiten Hermes“ oder „deutschen Hermes“ übersetzt wurde. Wie es zu dieser engen Verbindung von altägyptischer Weisheit und Naturlehre des Paracelsus kommen konnte, erläutert der Herausgeber Benedictus Figulus in einer Vorrede zur Ausgabe von 160831. Zunächst berichtet Figulus, wie er vom Aristotelismus, der nur „ein lähres todtes geschwätz von dem Grundt der Wahrheit weit abwegs“ sei32, durch die Lektüre der Schriften des Paracelsus zur „Hermetische[n] Philosophey […] welche in sich begreifft die wahre Astrono28 „Also hat dieser Egyptisch Moses die Egypter unterwiesen/ und in Egypten geleucht/ nit anders/ denn Plato der Griechen Moses/ die Griechen hat erleucht/ Moses die Hebreer.“ Sebastian FRANCK, Die Guldin Arch, Augsburg 1538, 48r. 29 Philippe Duplessis-Mornay, De la vérité de la religion chrestienne. Contre les athées, épicuriens, payens, juifs, mahumédistes & autres infidèles, Antwerpen 1582. 30 EBELING, Hermes (wie Anm. 10), 124 f. 31 Zu Figulus vgl.: Joachim TELLE, Benedictus Figulus. Zu Leben und Werk eines deutschen Paracelsisten, Medizinhistorisches Journal 22 (1987), 303–326. 32 Benedictus FIGULUS, Pandora Magnalium Naturalium. Straßburg 1608, 2v.

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miam, Alchymiam, und Magiam, wie auch Cabalam“ gekommen sei33. Und welche Bedeutung diese hermetische Philosophie für ihn hat, erfahren wir in einer Entwicklungsgeschichte des göttlichen Wissens. Sie beginnt laut Figulus damit, dass Adams Universalwissen durch die Sintflut in Gefahr geraten war, jedoch in Ägypten als hermetische Wissenschaft überleben konnte. Dort sei Moses in diese Weisheiten eingeführt worden. Die „Abgöttischen und Aberglaubischen Griechen“ seien von diesem Wissen abgefallen, da „ihre Eygener hochmut und praesumtion sie verhindert/ bethört/ unnd in Irrthumb gestürtzet hat“34. Das so entstandene Gemisch aus Falschheit, Unglaube, Teufelswerk und „eitler Vernunftgläubigkeit“ hätten die Griechen an die römische Philosophie weitergegeben, die sich in ganz Europa ausgebreitet und den Lehrinhalt der meisten Akademien und Hochschulen bestimmt hätte. Mittels aristotelischer Philosophie hätte Satan die ganze Christenheit „hinters Liecht geführet“. Figulus weiß allerdings Rettung und erläutert im Folgenden die Hauptlehren des Hermetismus35. Nur diese Philosophie sei in der Lage, die Christenheit zu ihren reinen Ursprüngen zurück zu führen. Die Geschichte des hermetischen Wissens dient Figulus dazu, eine Unterscheidung von wahrem ägyptischem Offenbarungswissen und falschem griechischem Vernunftwissen zu begründen. Vor dem Hintergrund einer solchen wissensgenealogischen Legitimationslegende ist Paracelsus als „Hermes secundus“ derjenige, der eine Renaissance des Hermetismus vollzogen hat. Damit könne, so meint Figulus, die Welt von der „teuflischen Verblendung“ gerettet werden, indem die gesellschaftliche Dominanz des Aristotelismus gebrochen werde. Die Rechtgläubigen fänden so ihr – neben der Bibel – zweites Fundament für Wissenschaft und Religion in einer wiederbelebten ägyptischen Weisheit. Auch in diesem Ägyptenbild wird die Dichotomie des Exodus unterlaufen. Zugleich wird jedoch ein anderer Gegensatz konstruiert: derjenige zwischen Offenbarung und Vernunft, zwischen heiligem Wissen und profanem Wissen, zwischen einer kleinen Gruppe gesellschaftlich eher marginalisierter, aber göttlich inspirierter Paracelsisten und den gesellschaftlich vermeintlich dominanten, aber dem Glauben an die eigene profane Vernunft verfallenen Aristotelikern.

3) Die Angst der Pietisten vor Ägypten Zum Ende des 17. Jahrhunderts kam es zu einem Streit um die Frage, ob der Pietismus in der altägyptischen Religion gründe. Der orthodoxe Lutheraner Ehrgott Daniel Colberg hatte 1670 behauptet, dass die meisten Formen mystischer Religiosität ihre Wurzeln im Platonismus und Hermetismus haben, womit sie sich allesamt als häretisch erwiesen36. Colberg stellte fest, dass die gesamte Hermesle33 34 35 36

Ebd., 5r. Ebd., 6v. Ebd., 7v. Ehrgott Daniel COLBERG, Das Platonisch-Hermetisches Christenthum; begreifend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie,

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gende der Paracelsisten ein „ungegründetes Gedicht“ sei und nicht auf historischen Tatsachen beruhe. Gegen die Behauptung des prädiluvialen oder mosaischen Alters der hermetischen Lehren vermutet Colberg, dass die Schriften, die über den „Stein der Weisen“ berichten, etwa um das Jahr 300 entstanden seien. Es fänden sich in ihnen keine altägyptischen, sondern platonische und christliche Lehren, die „von einigen Ketzern der alten Kirchen zusammen getragen“ worden sind (S. 100). Der Terminus „platonisch-hermetisches Christentum“ dient ihm also zur Bezeichnung einer illegitimen Vermischung christlicher Inhalte mit heidnischen Vorstellungen. Im ausgehenden 17. Jahrhundert hatte sich das Ansehen des Hermetismus grundlegend gewandelt. Isaak Casaubon konnte 1614 nachweisen, dass das Corpus Hermeticum keine uralte ägyptische Offenbarung ist, sondern ein Konglomerat platonischer und christlicher Lehren aus nachchristlicher Zeit37. Ralf Cudworth bemühte sich zwar, die hermetischen Schriften als esoterischen Kern der ägyptischen Religion zu verteidigen38, innerhalb der Res publica literaria hatte der Hermetismus jedoch weitgehend sein Ansehen verloren39. Unter diesen Voraussetzungen differenzierte sich das Verhältnis von Ägyptenbild und Hermetismus aus: Das wissenschaftliche Ägyptenbild kommt weitgehend ohne Rekurs auf die hermetischen Schriften aus und unterzieht die antiken Quellen einer eingehenden Kritik. Die alchemisch-magische Tradition des Hermetismus hingegen blieb von dieser Kritik weitgehend unberührt, da bei ihr weniger das Corpus Hermeticum als vielmehr die Tabula Smaragdina und die alchemischen Schriften als Erbe Ägyptens galten; seit der Entwicklung einer wissenschaftlichen Chemie und Pharmakologie im 17. Jahrhundert entsprach die Alchemie jedoch nicht mehr den Rationalitätsstandards der Zeit. Und dort, wo das Ägyptenbild immer noch mit dem geistphilosophischen Hermetismus verbunden war, führte dies zu einem pejorativen Ägyptenbild, wie es der Exodus zeichnete. So bei Colberg: Die Autoritäten der Prisca Theologia, die für Ficino und Laktanz noch als Propheten Christi gegolten haben, sind für Colberg Opfer einer „teuflischen Inspiriation“. Die Legitimationslegende des Hermetismus wird in ihr Gegenteil verkehrt, da die platonische Philosophie, aus deren Traditionslinie sie abstamme, nicht mehr als zweite Seite der Offenbarung geschätzt, sondern als magischer Aberglauben verworfen wird.

Unterm Namen der Paracelssten/Weiglianer/Rosenkreutzer/Quäcker/Böhmisten/Wiedertäuffer/Bourignisten/Labadisten/ und Quietisten. Frankfurt und Leipzig 1690. Die folgenden Zitate finden sich auf den Seiten 99 f. 37 Isaac CASAUBON, De rebus sacris et ecclesiasticis exercitationes XVI. London 1614, 70 ff. Anthony Grafton, Protestant versus Prophet: Isaac Casaubon on Hermes Trismegistus, in: Defenders of the Text. The tradition of scholarship in an age of science, 1450–1800, hg. v. Anthony GRAFTON, Cambridge, Mass. 1991, 145–161. 38 Ralph CUDWORTH, The True Intellectual System of the Universe. London 1678. Vgl.: Jan ASSMANN, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, 118–130. 39 Martin MULSOW (Hg.), Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance, Tübingen 2002.

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Mit ähnlichen Argumenten wie Colberg greift der orthodoxe Lutheraner Friedrich Christian Bücher den Pietismus an. Bereits in seiner Schrift Menses pietistici, die Tieffe des Sathans in dem Hermetisch-Zoroastrisch-Pythagorisch-Platonisch-Cabbalistischen Christentum der Pietisten macht er den Hermetismus als eine Wurzel des Pietismus aus. In Plato Mysticus […] Pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger aus dem Jahre 1699 will er verdeutlichen, inwieweit der Pietismus aus dem antiken Heidentum hervorgegangen sei40. Mit dem Platonismus haben sich, so Bücher, in den Spenerschen Pietismus teuflische Vorstellungen eingeschlichen: Da denn aus einem augenscheinlichen Parallelismo der Spenerschen Lehren mit des Platonis Philosophia, erhellen wird/ daß mit der Zeit eine recht heydnische Theologie/ und die allergefährlichsten Teuffels-Lehren […] in die Christliche Kirche unvermerckter Weise eingeführet werden41.

Anders als die aristotelische Philosophie, gegen die Spener wiederholt hetze, handle es sich beim Platonismus um eine gefährliche Häresie. Derjenige, der annehme, dass der platonische Hermetismus ein prophetischer Vorläufer des Christentums sei, werde übel getäuscht, denn unter dem Deckmantel scheinbar christlicher Vorstellungen würden sich heidnisch-teuflische Doktrinen einschleichen. Die platonische Tradition wird ihm zur Verfallserscheinung, zur heidnischen Zauberei: Der Pythagoricorum und Platonicorum Philosophie war anders nichts/ als ein Cento und Betlers-Mantel aus Satzungen der alten Zauberer in Aegypten/Thracien/Asia/ und Persien zu42 sammen geflicket .

Platon habe die sokratische Lehre mit den Philosophemen der Ägypter und Pythagoreer vermischt. Und so werden die mittel- und neuplatonischen Philosophen, die bislang als Hauptzeugen für die Heiligkeit der Ägypter galten, „Plotinus, Porphyrius, Jamblichus, Apuleius […welche ] offenbahre Zauberer gewesen“, zu Bundesgenossen im Aberglauben stigmatisiert. Den Griechen seien nicht die wichtigen Kulturtechniken und ein Christentum avant la lettre in Ägypten vermittelt worden, sondern dämonisch-teuflische Praktiken. Und in dieser fatalen Tradition ägyptischen Aberglaubens stünden auch die Pietisten. Auf diese Angriffe reagierten die Pietisten nicht etwa mit einer Verteidigung des Ägyptenbildes, vielmehr distanzierten sie sich entschieden von jedem ägyptischen oder platonischen Erbe. Philipp Jakob Spener etwa beteuert, dass seine Lehre ausschließlich auf der Bibel beruhe. Die Verwandtschaften des Pietismus zu platonischen Lehren könne man durch eine Bibellektüre Platons erklären. Und

40 Christian Friedrich BÜCHER, Plato Mysticus In Pietista redivivus, Das ist: Pietistische Uebereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger. Danzig 1699. 41 Ebd. nicht paginiertes Vorwort. 42 Ebd. 19.

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Balthasar Köpke43 unterscheidet eine wahre von einer falschen mystischen Tradition. [Der] Ursprung der wahren Mystischen Theologie/[…sei] nicht zu suchen […] beym Platone und in dessen Schrifften/ sondern in der Heil. Schrifft bey den Aposteln und Propheten/ ja bey dem Herrn Christo selbst44.

Mit Abraham beginne die wahre mystischer Theologie, mit Joseph sei sie nach Ägypten gelangt, „das ist der Ursprung der wahren Mystischen Theologie in Egypten“45. Wegen ihres Dünkels und ihrer Dummheit hätten die ägyptischen Priester jedoch „die wahre Weisheit zu unterdrücken/ und die falsche an deren Statt fortzupflantzen“ versucht. So sei Ägypten in die schändlichste Abgötterey und Blindheit gerathen […]/ also/ daß sie denen abscheulichsten Creaturen (wofür die menschliche Natur sich entsetzt) Tempel gebauet/ und ihnen einen 46 besondern Götzendienst gestifftet .

Dennoch sei die wahre Weisheit in Ägypten nicht vollständig verschwunden. Missgünstig, wie sie gewesen seien, hätten die Ägypter nicht anerkennen wollen, dass ihre Weisheit hebräische Quellen habe, sondern fälschlicherweise behauptet, Hermes Trismegistos habe diese Schriften verfasst: Indessen behielten die Egyptischen Weisen noch vieles/ daß der Wahrheit ähnlich war/ aber aus Haß und Neid wolten sie nicht bekennen/ dass sie es von Joseph und den Nachkommen Jacobs empfangen hatten; sondern schrieben es einem andern Autori oder Urheber zu/ den sie 47 Hermes oder Mercurius nannten .

Die hermetischen Schriften enthielten also durchaus Spuren der wahren Weisheit, diese seien aber nicht genuin ägyptisch. Es sei die Weisheit des Joseph, die die Ägypter dann mit heidnischen Lehren vermischten und somit sei der Hermetismus „ein zusammen geflickter Bettlers-Mantel/ aus der Christlichen/ Platonischen und Egyptischen Lehre“48. Dieses Ägyptenbild ruht ganz auf dem Fundament der Exoduserzählung. Ägypten dient als Negativfolie der Heilsgeschichte, auf der sich die religiösen und intellektuellen Tugenden des jüdischen Volkes erweisen können.

43 Balthasar KÖPKE, Sapientia Dei in Mysterio Crucis Christi Abscondita. Die wahre Theologia Mystica oder Ascetica. […] Entgegen gesetzt der falschen aus der heydnischen Philosophie Platonicis und seiner Nachfolger. Halle 1700. 44 Ebd. 1. 45 Ebd. 12. 46 Ebd. 12. 47 Ebd. 13 48 Ebd. 15

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4 ÄGYPTEN ALS LAND DES HEILS UND ABGRUND DES ABERGLAUBENS Ägypten konnte in der Frühen Neuzeit sowohl als ein Land des Heils und Garant des wahren Glaubens erscheinen wie auch als Inkarnation religiösen Abscheus und verwerflicher Gottesferne. In der Renaissancephilosophie diente das Ägyptenbild dazu, eine pagane Religion und antike Philosophie mit dem Christentum zu versöhnen und die strikte Trennung des Exodus von wahrer mosaischer und falscher ägyptischer Religion zu unterlaufen. Wahres Wissen und wahrer Glaube seien nicht an eine bestimmte Religion, eine bestimmte Kultur oder eine einzelne Offenbarung gebunden. Ägypten war für diesen Universalismus von besonderer Bedeutung, da man glaubte, in den Schriften des Corpus Hermeticum einen Hinweis darauf zu haben, dass Christentum und Platonismus sich in Vorformen schon in der ältesten ägyptischen Urreligion nachweisen ließen. Nachdem diese Schriften die Aura eines besonders hohen Alters verloren hatten, büßte das Ägyptenbild diese argumentative Funktion weitgehend ein. Das Ägypten der Alchemo-Paracelsisten weist ganz ähnliche Züge auf, beruft sich allerdings auf andere Texte, wenn diese auch demselben fiktiven Autor zugeschrieben wurden. Die Tabula Smaragdina und die vermeintlich ägyptische Urgeschichte der Alchemie werden auch hier als Antizipation christlicher Lehren interpretiert. Im Namen Ägyptens wird jedoch streng differenziert zwischen dem göttlichen Offenbarungswissen der Ägypter und Christen und dem profanen Glauben der Griechen und Römer an die eigene Vernunft. Die Pietisten und orthodoxen Lutheraner sehen im ausgehenden 17. Jahrhundert zwar eine enge Verwandtschaft von platonischer Philosophie und ägyptischer Religion, aber verstanden beides nicht mehr als Ouvertüre des Christentums. Mit dem Ansehensverlust der hermetischen Schriften und einer strikten Orientierung an der Bibel werden Ägypten und die platonische Philosophie zur Kontrastfolie wahrer Heiligkeit und echten Glaubens. Dies sind nur kleine Einblicke in die Geschichte des Hermetismus; noch viel umfangreicher und vielstimmiger jedoch ist die Geschichte des abendländischen Ägyptenbildes49. Allein in der Romanliteratur finden sich in der Frühen Neuzeit nicht nur die Josephsromane, die im 17. Jahrhundert in Anlehnung an den wissenschaftlichen Ägyptendiskurs auch ein pointiertes Ägyptenbild entwickeln50. Die Mysterien der Ägypter werden in Entwicklungsromanen, in der Erbauungsliteratur, in Schauerromanen, im didaktischen Kunstmärchen oder in Geheimbundromanen wie in Opern zu einem beliebten Thema des 18. Jahrhunderts51. 49 Ein verlässlicher Überblick über die Geschichte der Ägyptenrezeption fehlt bislang. Die acht Sammelbände „Encounters with Ancient Egypt“, die unter der Ägide von Peter Ucko 2003 in London erschienen sind, geben einen Einblick in die thematische Vielfalt. 50 Insbesondere bei Philipp von Zesen und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, vgl. hierzu: Bernhard LANG, Joseph in Egypt. A Cultural Icon from Grotius to Goethe, New Haven 2010. 51 Jan ASSMANN/Florian EBELING, Ägyptische Mysterien. Reisen in die Unterwelt in Aufklärung und Romantik, München 2011.

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Ägypten galt immer als ein Land der Religion und zugleich als eine Herausforderung für den jüdisch-christlichen Monotheismus.

KONZEPTE VON HEILIGKEIT DURCH ERFAHRUNG DES ABSOLUTEN IM ADVAITA-VEDĀNTA DER PAÑCADAŚĪ Matthias H. Ahlborn

1 VORBEMERKUNGEN Bevor ich auf die problematischen Begriffe der ,Erfahrung‘ und des ,Heiligen‘ eingehe, möchte ich kurz den ,Pañcadaśī‘ (PD) 1 genannten indischen philosophischen Text beschreiben, auf den sich meine Untersuchung bezieht, und ihn grob in die indische Kulturgeschichte einordnen2. Die PD ist ein bedeutender philosophisch-religiöser Text aus dem Indien des 14. Jahrhunderts. Der Sanskrit Name ,Pañcadaśī‘ bedeutet einfach ,die aus fünfzehn [Kapiteln] Bestehende‘. ,Pañca‘ heißt ,fünf‘ und ist mit dem griechischen ,penta‘ (wie in ,Pentateuch‘) verwandt; ,daśa‘ heißt zehn und ist verwandt mit griechisch ,deka‘ (wie in ,Dekalog‘). Der Text ist in Sanskrit verfasst, und wurde bereits im 19. Jahrhundert ins Englische übersetzt. Aber keine der Übersetzungen lässt ein historisch-philologisches Interesse erkennen. Diese Übersetzungen wurden von Apologeten einer gegenwärtigen, reformierten Form der in der PD gelehrten Philosophie verfasst. So geht oft das gerade für diesen Text Spezifische verloren, da die Unterschiede zur gegenwärtig dominierenden Form dieser Philosophie in der Übersetzung verdeckt werden. Obwohl die Pañcadaśī also noch in der Gegenwart populär ist, gibt es über sie bisher fast keine wissenschaftlichen Studien. Auch ist noch nicht geklärt, wer der Verfasser der PD ist. Wahrscheinlich war einer der beiden Autoren VIDYĀRAṆYA, Mönch und späterer Abt des Klosters Śṛagerī, einem bedeutenden intellektuellen Zentrum in Südindien. Auf diese historischen Umstände werde ich später näher eingehen.

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Die Schreibweise des Sanskrit folgt dem ,International Alphabet of Sanskrit Transliteration‘ (IAST). Siehe http://en.wikipedia.org/wiki/International-Alphabet-of-Sanskrit-Transliteration (Stand: 29.05.2013). Digitale Edition des Sanskrit-Textes vom Rashtriya Sanskrit Sansthan, BHĀRATĪTĪRTHAVIDYĀRAṆYA, Pancadaśī, New Delhi o. J., http://www.sanskrit.nic.in/DigitalBook/P/Panchadashi.pdf (Stand: 29.05.2013); eine englische Übersetzung: Pañcadaśī. Translated by Swami Swahananda. Published by Sri Ramakrishna MATH, Chennai. 1967. http://www.celextel.org/othervedantabooks/panchadasi.html (Stand: 29.05.2013); eine neuere Studie: Prem PAHLAJRAI, The Authorship of the Pañcadaśī and the Textual Context of its Tṛptidīpa-prakaraṇa, University of Washington, MA-Thesis, 2005. http://faculty.washington.edu/prem/MA_Thesis_Prem.pdf (Stand: 29.05.2013)

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Die PD gehört zu der indischen philosophisch-religiösen Tradition, die Advaita-Vedānta genannt wird. Das a in Advaita ist die auch aus europäischen Sprachen bekannte Negation; dvaita bedeutet ,,Dualität“, und ist mit diesem Wort auch verwandt; advaita heißt ,,nicht-dualistisch“. Vedānta heißt das ,,Ende der Veden“, und bezeichnet den historisch letzten Teil der Veden, der im Hinduismus als Offenbarung (śruti) geltenden Texte, sowie die philosophisch-religiösen Schulen, die diese Schriften interpretieren. Der gesamte Ausdruck ist der Name der philosophisch religiösen Tradition, die den metaphysischen Teil der heiligen Offenbarung (Veda) nicht-dualistisch interpretiert3.

2 GESCHICHTE DES ADVAITA-VEDĀNTA 2.1 Upaniṣaden Die im Hinduismus als ewig geltenden Veden entstanden historisch gesehen zwischen 1500 und 500 v. u. Z. Die spätere Tradition teilt die vedische Literatur in zwei Hälften: (1) einen älteren Teil, der die heiligen Sprüche und Anweisungen für die vedischen Rituale enthält (von denen manche noch in der Gegenwart durchgeführt werden); und (2) den erwähnten jüngeren Teil, der sich mit der philosophisch-mystischen Deutung der Welt beschäftigt: die Upaniṣaden. Der ältere Teil der vedischen Literatur besteht aus Götterhymnen, Ritualsprüchen, und deren Interpretationen. Die Upaniṣaden dagegen enthalten vielfältige Spekulationen über den Einen Urgrund der Welt. Dieses Eine, das sich selbst zur Welt entfaltet, wird als Brahman bezeichnet, und vielfältig bestimmt: als seiend, Wahrheit, Fülle, Wonne etc. Die für die spätere Entwicklung der indischen Philosophie bis in die Gegenwart bedeutendste Lehre der Upaniṣaden ist die Gleichsetzung des Brahman, also des kosmischen Urgrundes, mit dem als ,Selbst‘ (ātman) bezeichneten innersten Kern in allen Wesen.

2.2 Vedānta Die ,Vedānta‘ genannten philosophischen Traditionen versuchen, die oft widersprüchlich erscheinenden Lehren der Upaniṣaden so zu interpretieren, dass sich eine einheitliche konsistente Lehre ergibt, die auch nicht im Widerspruch zu Erfahrung oder Vernunft steht.

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Als neuere Einführungen in die Philosophie des nicht-dualistischen Vedānta können zum Beispiel dienen: Arvind SHARMA, Advaita Vedanta: Erfahrung der absoluten Einheit. Original: 2004. München 2006, der die Bedeutung der ,Erfahrung‘ betont, und Anantanand RAMBACHAN, the Advaita Worldview, SUNY Series in Religious Studies, State University of New York 2006, der dem widerspricht. Beide Einführungen sind von Wissenschaftlern geschrieben, die sich selbst dieser philosophisch/religiösen Tradition verbunden fühlen.

Konzepte von Heiligkeit im Advaita-Vedānta der Pañcadaśī

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Es haben sich mehrere, voneinander deutlich verschiedene Traditionen des Vedānta entwickelt. Manche von ihnen (etwa ab dem Jahr 1000 n. u. Z. entstanden) interpretieren die Lehre der Upaniṣaden als einen Monotheismus. Für sie ist beispielsweise der Gott Viṣṇu der eine allmächtige und allwissende Gott, der die Welt erschaffen hat, sie lenkt, und von dem man Erlösung erhofft. Die hier behandelte Richtung des Vedānta dagegen versucht zu beweisen, dass alle Upaniṣaden die absolute Einheit von kosmischem Urgrund (brahman) und dem innersten Kern der individuellen Wesen (ātman) lehren. Die höchste Wirklichkeit ist hier nicht der persönliche Gott, sondern das eine, unpersönliche und eigenschaftslose Seiende und Bewusste. Da es hier neben dem einen Seienden nichts zweites gibt, wird diese Richtung ,Advaita-Vedānta‘ genannt, ,Der Vedānta, in dem es keine Dualität gibt‘ oder: ,Nicht-Dualistischer Vedānta‘. Das eine Seiende entfaltet sich hier nur scheinbar zur Welt. Es gibt nur das eine undifferenzierte Seiende, die vielfach differenzierte Welt existiert gar nicht.

2.3 Śaakara Der Begründer der nicht-dualistischen Richtung des Vedānta ist ŚAeKARA, der um 700 lebte. Er verband den Illusionismus, der sich im Buddhismus entwickelt hatte, mit der Lehre der Upaniṣaden. Wie in der buddhistischen Philosophie von der Leerheit (śūnyatā) haben für ihn die Einzelphänomene keine letztendliche Wirklichkeit und sind einer Illusion vergleichbar. Im Gegensatz zum Buddhismus existiert aber nach ŚAeKARA hinter der illusionären Vielheit das eine Seiende (brahman)4.

2.4 Vidyāraṇya Eine besondere Bedeutung gewann die nicht-dualistische Tradition des Vedānta in der Frühphase des hinduistischen südindischen Reiches von Vijayanagara im 14. Jahrhundert. Etwa ab dem Jahr 1000 war Indien durch muslimische Beute- und Eroberungszüge traumatisiert worden. 1206 hatte ein aus Turkistan stammender Sklave (Qutb-ud-Din Aibak) das Sultanat von Delhi gegründet5. Um 1310 führte der zum Islam konvertierte hinduistische Sklave Malik Kafur Eroberungszüge

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Zu Śaakara siehe zum Beispiel Michael COMANS, The Method of Early Advaita Vedānta – A Study of Gauḍapāda, Śaakara, Sureśvara and Padmapāda, Delhi 2000; A Thousand Teachings. The Upedeśasāhasrī of Śaakara. Translated and Edited. Forword by John M. KOLLER, hg. v. Sengaku MAYEDA, Albany, N. Y. 1992; Hajime NAKAMURA, A History of Early Vedānta Philosophy 1, Delhi 1983 und Paul HACKER, Eigentümlichkeiten der Lehre und Terminologie Śaakaras: Avidyā, Nāmarūpa, Māyā, Īśvara, Zeitschrift der DeutschMorgenländischen Gesellschaft 100 (1950), 246–286. Hermann KULKE/Dietmar ROTHERMUND, Geschichte Indiens: Von der Induskultur bis Heute, München 1998, 214.

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auch nach Südindien durch6. Wahrscheinlich 1346 wurde dann das hinduistische Reich von Vijayanagara gegründet, das den muslimischen Eroberungsversuchen noch jahrhundertelang widerstehen konnte. Dort begann VIDYĀRAṆYA, wie erwähnt einer der Autoren der PD, nach der tiefen Erschütterung, die der plötzliche Einbruch des Islam in Zentral- und Südindien verursacht hatte, eine bewußte hinduistische Religions- und Kulturpolitik zu betreiben. Ihr [...] Ziel war es, der vedischen Lehre und den brahmanischen Gesetzeswerken durch ausführliche Kommentare wieder neue Geltung zu verschaffen7.

Zwar waren Kriege in Indien nicht unbekannt, aber bisher wurden in ihnen Brahmanen und Tempel verschont. Jetzt aber: [...] came down on the Hindus those masses of marauding foreigners sacking the cities, slaughtering the people destroying the ancient fanes and killing even the sacred Brahmins in the name and for the glory of God. The thing was monstrous unheard of. The result was that the whole of Southern India was convulsed by this catastrophe;[…]8

Eine (noch nicht wissenschaftlich untersuchte) Legende von der Gründung des hinduistischen Reiches von Vijayanagara (1336) durch Harihara und Bukka erzählt Folgendes: Harihara und Bukka waren durch den Sultan von Delhi zum Islam zwangskonvertiert und angestellt worden. Nachdem der Sultan sie zurück in den Süden geschickt hatte, um einen Aufstand niederzuschlagen, begegneten sie dort VIDYĀRAṆYA. Durch den Einfluss des VIDYĀRAṆYA, der als Meditation und Askese praktizierender Mönch in einer Höhle lebte, rekonvertierten Harihara und Bukka zum Hinduismus (,Weg des Veda‘) und errichteten ein Königreich zum Schutz des vedischen Weges vor dem Islam. Der historische Kern dieser Legende besteht in der wichtige Rolle, die das Zentrums des nicht-dualistischen Vedānta in Śṛagerī in der Frühphase des Reiches von Vijayanagara spielte. VIDYĀRAṆYA war wie erwähnt einer der Äbte dieses Zentrums.

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Ebd., 218. Ebd., 240. Sewell, Historical Inscriptions of South India, 177, zitiert in Madhurāvijayam, hg. v. GANGĀDEVĪ/S. THIRUVENKA-TACHARI, Annamalainagar 1957, 48–49. Während Sewell Vijayanagara als Bollwerk zur Verteidigung des Hinduismus gegen den Islam darstellt, werden in der neueren Forschung auch andere Sichtweisen vertreten. Siehe zum Beispiel Burton STEIN: The New Cambridge History of India 1.2: Vijayanagara, Cambridge/New York 1987, der den dreifachen Prozess von Urbanisierung, Militarisierung und Monetarisierung betont, und Phillip B. WAGONER, Sultan among Hindu Kings, Journal of Asian Studies (1996), November, Nr. 55 (4), der eher auf eine Islamisierung innerhalb von Vijayanagara hinweist. Dem wurde aber neuerdings von William J. JACKSON, Vijayanagara Voices. Exploring South Indian History and Hindu Literature. Ashgate 2005, 54 f. widersprochen, der eher wieder die Perspektive von Sewell vertritt. In jedem Fall bedeuteten die muslimischen Beutezüge und Eroberungen in Indien für die brahmanischen Kreise, denen die Autoren der PD angehörten, ein zutiefst bestürzendes Ereignis, auf das sie aber in ihren philosophischen Schriften meines Erachtens nicht direkt verweisen.

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2.5 Die Stellung des traditionellen Nicht-Dualismus (advaita-vedānta) im Hinduismus Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist der ,Hinduismus‘ nicht eine einheitliche Religion, die auf einer für alle Hindus verbindlichen Lehre beruht. ,Hinduismus‘ bezeichnet eher eine Gruppe verschiedener indischer religiöser Traditionen. Eine dieser hinduistischen Traditionen ist die erwähnte Lehre des NichtDualismus. Anders als in den monotheistischen hinduistischen Traditionen ist im Nicht-Dualismus die höchste Wirklichkeit nicht ein ,persönlicher‘ Schöpfergott, sondern ein unpersönliches Absolutes (brahman). Daher wird der Nicht-Dualismus oft zu den Philosophien gezählt statt zu den Religionen9. Aber da er mit einem Mönchsorden (daśanāmi), religiösen Institutionen und auf Erlösung zielenden Praktiken verbunden ist, kann der Nicht-Dualismus auch als eine der hinduistischen Religionen betrachtet werden. Falsch wäre es aber zu behaupten, der Nicht-Dualismus sei eine für alle Hindus gültige Lehre. In der folgenden Darstellung geht es also um Konzepte, die einer der religiösen Traditionen in Indien entstammen, und die zum größten Teil nur in dieser einen Tradition anerkannt sind.

2.6 Neo-Vedānta Im 19. und 20. Jahrhundert gab es in Indien mehrere prominente religiöse Lehrer, die dem nicht-dualistischen Vedānta mehr oder weniger nahe standen, und die von ihren – auch westlichen – Anhängern als ,,erleuchtete Meister“ betrachtet werden; zum Beispiel RAMAKRISHNA, VIVEKĀNANDA und RAMANA MAHARSHI10. Deren Lehren, die man als Neo-Vedānta bezeichnet hat, haben bestimmte Punkte gemeinsam, durch die sie sich vom traditionellen Vedānta unterscheiden: So begründen sie ihren Wahrheitsanspruch vor allem durch eine persönliche mystische Erfahrung, den ,meditative Versenkung‘ (samādhi) genannten Bewusstseinszustand; die Autorität der Tradition ist für sie weniger wichtig. Traditionelle indische Institutionen wie die Kasten und die traditionellen Mönchsorden und die damit verbundenen Regeln spielen keine Rolle mehr; statt dessen haben sie (oder ihre Schüler) neue, international tätige Organisationen geschaffen. Die hinduistischen Reformer des 19. und 20. Jahrhunderts begegneten damit der Herausforderung durch das Christentum sowie der Notwendigkeit, eine nationale Freiheitsbewegung ideologisch zu untermauern11.

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Worauf auch Michaels hinweist: Axel MICHAELS, Der Hinduismus: Geschichte und Gegenwart, München 1998. 10 Siehe dazu zum Beispiel Wilhelm HALBFASS, India and Europe, New York 1988. 11 ,,Die Nationalrevolutionäre beriefen sich auf einen radikalen Neo-Hinduismus und setzten das religiöse Ideal der Selbstverwirklichung mit dem nationalen Freiheitskampf gleich. […] Die Vedantaphilosophie […] bot sich als Ideologie an, die dem radikalen Nationalismus eine geistige Grundlage verleihen konnte“, KULKE/ROTHERMUND, Geschichte Indiens (wie Anm. 5), 350.

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Damit gibt es Parallelen zu VIDYĀRAṆYA im 14. Jahrhundert, dessen Vedānta vielleicht als Antwort auf die Herausforderungen durch den Islam gesehen werden kann. Zwar wird in Bezug auf Vijayanagara in der historischen Forschung auch die These vertreten, die eigentliche religiöse Auseinandersetzung in diesem Umfeld sei nicht die zwischen Hinduismus und Islam gewesen, sondern zwischen den erwähnten verschiedenen hinduistischen Religionen oder philosophischen Schulen, die sich im Konkurrenzkampf um königliche Unterstützung befanden12. Aber wenn man die Texte dieser Epoche betrachtet, zeigt sich deutlich eine Tendenz zur Bildung einer einheitlichen oder synkretistischen Philosophie/Religion aus ursprünglich parallel laufenden Strömungen. Dadurch, und auch in der Art wie diese Vereinheitlichung geschieht, ist diese Epoche charakterisiert als ein Vorläufer des Neo-Hinduismus des 19./20. Jahrhunderts. Daher scheint es eher, dass einige der Neuerungen, die man im allgemeinen der Beziehung zur britischen Kolonialmacht zuschreibt, schon durch die Begegnung mit den muslimischen Eroberern im 13./14. Jahrhundert entstanden13.

3 DIE LEHRE DES NICHT-DUALISMUS Die Philosophie des nicht-dualistischen Vedānta hat sich über mehr als zwei Jahrtausende hinweg entwickelt und enthält eine sehr scharfsinnig ausgearbeitete und komplexe metaphysische Lehre. Wenn man versuchen will, den Kern dieser Lehre (in ihrer Form ab etwa dem Jahr 1000) in wenigen Worten darzustellen, kann man etwa folgendes sagen14: 1. Im eigentlichen Sinne wahr (satya) und seiend (sat) ist nur die eine höchste, absolute Wirklichkeit, die Brahman genannt wird. Diese höchste Wirklichkeit

12 Beispielsweise Robert Allan GODDING, VIDYĀRAṆYA: Jīvanmuktiviveka. The Treatise on Liberation-in-Life. Critical Edition and Translation, Dissertation, Austin 2002, vii f. http://www.robgoodd.com/r_goodding.pdf (Stand: 29.05.2013) ,,Historians of the twentieth century long debated Vidyāraṇya’s identity and his political activity in the founding of the Vijayanagara kingdom in fourteenth century South India. The position taken here minimizes his political role and explores his possible role in the internal debates of medieval Vedānta philosophy between Advaita and Viśiṣṭādvaita, thus presenting a historical context for the Jīvanmuktiviveka.“ 13 So spielt die meditative Versenkung (samādhi), die für Vivekānanda so zentral ist (,,[…] each one will have to come to that state, and then, and then alone, will real religion begin for him.“ (Vivekānanda, Vedânta Philosoph Lectures by the Swâmi Vivekānanda on Rāja Yoga and other Subjects, New York 1999, 84.) bei Śaakara praktisch keine Rolle. Aber in der Pañcadaśī wird sie als Alternative zu ,ordnendem Nachdenken‘ (vicāra) genannt, und im vermutlich späteren Vivekacūḍāmaṇi ist sie unabdingbar für die Befreiung. Siehe Michael COMANS, The question of the importance of samādhi in modern and classical Advaita Vedānta, Philosophy East and West 43, Nr. 1 (1993), 31. 14 Eine späte Systematisierung dieser Form des Advaita findet sich in Vedāntasāra. The Essence of Vedanta 3, hg. v. Yogīndra SADĀNANDA/Swami NIKHILANANDA, Mayavati, Almora, Himalayas 1949.

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ist seiend, Bewusstsein und Glückseligkeit15. Sie, und nicht Körper oder Individualseele, ist das wahre eigene Selbst16 aller Wesen17. 2. Dieses eine Absolute erscheint als Vielheit (dvaita), als die Welt und die in der Welt gebundenen Individualseelen (jīva)18. Ein unwissendes Wesen (Mensch oder Tier) weiß nicht, dass es in Wirklichkeit das Absolute ist, und identifiziert sich statt dessen fälschlich mit seinem Körper oder seiner Psyche19. 3. Die Erscheinung der einen Wirklichkeit als Welt und Individualseelen ist illusionär (mithyā), vergleichbar einem Traum oder einer optischen Täuschung. Ursache der illusionären Erscheinung ist eine Māyā oder Nichtwissen (avidyā) genannte kosmische Illusionskraft (śakti), die die eine letztendliche Wirklichkeit verhüllt (āvara a-śakti) und das Trugbild der Welt und der Seelen hervorbringt (vik epa-śakti)20, In der Lehre des nicht-dualistischen Vedānta geht es nicht primär darum, die Welt zu erklären, sondern Befreiung oder Erlösung (mok a oder mukti) aus der Welt zu erlangen. Die Individualseele ist gebunden und erlösungsbedürftig, weil sie in der Welt in einem Körper gefangen ist. Diese individuelle, körperliche Existenz wird als überwiegend leidvoll empfunden. Auch der Tod wäre keine Erlösung vom Leid der körperlichen Existenz. Beim Sterben verlässt die Seele zwar den materiellen Leib. Aber sie bleibt an ihre feinstofflichen Leiber gebunden. Und mit diesen tritt sie wieder in eine befruchtete Eizelle ein, aus der sich ein neues Lebewesen bildet21. Die Art der Verkörperung wird bestimmt von der moralischen Qualität der eigenen Taten. Gute Taten bewirken die Geburt in einer guten Familie, schlechte die als ein niedriges Lebewesen, zum Beispiel ein Wurm.

15 sat, cit, ānanda; zum Beispiel: PD 1.46. Diese Dreiheit scheint relativ neu zu sein. Die ältere Beschreibung des Wesens des Brahman lautet: satyaṃ jñānaṃ anantam ,Wahrheit, Erkennen und Endlos‘ (Taittirīya Upaniṣad II.1.1, Eight Upaniṣads. With the Commentary of Śaakarācārya. Translated, hg. v. Swāmī Gambhīrānanda, 303); zum Beispiel PD 3.27). 16 ātman; beziehungsweise paramātman ,das höchste Selbst‘ oder pratyagātman ,das innere Selbst‘ 17 Zum Beispiel weiß der Erleuchtete ,,nitya-śuddha-mukta-satya-svabhāva-paramānandânantâdvayaṃ brahmâsmi“ ,,Ich bin das dem Wesen nach ewige, reine, befreite, wahre Brahman, das höchste Wonne, endlos und zweitlos ist“, SADĀNANDA/NIKHILANANDA, Vedāntasāra (wie Anm. 14), 171. 18 Zur Standart-Metapher für dieses Phänomen, dem Seil, das in der Dämmerung als Schlange erscheint, siehe zum Beispiel Heidrun BRÜCKNER, On Śaṃkara’s Application of the Rajjusarpa-Dṛṣṭānta, Tattvāloka, Journal of Vedānta IV, Nr. 3 (1981). 19 Das heißt mit dem ,feinstofflichen Körper‘, dem aus einer Art feinerer Materie bestehend gedachten inneren Organ des Urteilens, Denkens, Fühlens und Wollens. 20 Dass das Konzept von der Māyā/dem Nichtwissen als eine Art Substanz, aus der die Welt hervorgeht, nicht auf Śaakara, sondern auf seine ersten Schüler zurückgeht, hat bereits HACKER, Lehre und Terminologie Sankaras (wie Anm. 4), gezeigt. Aber im 14. Jahrhundert war diese Vorstellung, die das reine Absolute trennt von seiner Illusionskraft, bereits längst etabliert. 21 Beziehungsweise nach traditioneller Vorstellung ist es der Same des Vaters, der im Leib der Mutter zu einem Lebewesen heranwächst.

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Diesen anfangslosen Kreislauf der Geburten zu beenden ist Erlösung. Da die Gefangenschaft im Geburtenkreislauf durch die der Seele anhaftenden moralisch relevanten Taten (karman), das heißt Verdienst und Schuld, bewirkt wird, beruht die Befreiung von der Wiedergeburt auf einer Vernichtung von diesem Verdienst und dieser Schuld22. Wenn Verdienst und Schuld einer Seele vernichtet wurden, ist sie befreit und hat keine neue Inkarnation nach dem Tod zu befürchten23. Die Vernichtung von Verdienst und Schuld ist nach der Lehre des Nicht-Dualismus nur durch Erkenntnis möglich. Man muss erkennen, dass in Wirklichkeit nur das eine Sein existiert, und dass die Vielheit ein Trugbild ist. Wer so weiß, ist erlöst, und zwar auch schon im Diesseits, als ,,Lebend-Erlöster“24. Als idealer äußerer Rahmen für das Streben nach Erlösung gilt die Lebensweise eines Asketen.

4 SAKRALES IN DER PD In den hier betrachteten Texten findet sich kein allgemeiner Begriff für ,Heiligkeit‘. Aber in verschiedenen Bereichen findet in der PD eine Differenzierung statt, die uns als Ausdruck der allgemeineren Dichotomie von ,heilig‘ und ,profan‘ erscheint: 1. Zunächst erwähnt die PD heilige Orte, die das Ziel von Pilgerreisen sind (tīrtha); ,heilige‘ Wörter (mantra) ,heilige‘ Handlungen (yajña) und so weiter25. 2. Dann beruht die Metaphysik der hier betrachteten nicht-dualistischen Philosophie paradoxerweise auf einem dualistischen Konzept: Sie unterscheidet zwischen der einen höchsten, absoluten Wirklichkeit (brahman) und der niedereren, mannigfaltigen relativen Wirklichkeit (alles andere). Die relative Wirk22 Genau genommen wird Befreiung nicht bewirkt, da jeder ja schon immer das Absolute ist, das dem Wesen nach befreit ist. Aber das ist nur die letztendliche Wahrheit; auf der Ebene der relativen Wirklichkeit ist Befreiung ein Ereignis, das durch die Vernichtung von Verdienst und Schuld eintritt. 23 Da es sich sowohl um ,Befreiung‘ von der Fesselung an den Wiedergeburtenkreislauf, als auch um ,Erlösung‘ von Leid (du kha) und Schuld (pāpa) handelt, kann ,mokṣa‘ sowohl mit ,Befreiung‘ als auch mit ,Erlösung‘ übersetzt werden. 24 Die Definition des Vedāntasāra lautet: jīvanmukto nāma sva-svarūpâkhaṇḍa-brahma-jñānena tad-ajñāna-bādhana-dvārā sva-svarūpâkhaṇḍa-brahmaṇi sākṣātkṛte, ajñāna-tat-kārya-sañcitakarma-saṃśaya-viparyayâdīnām api bādhitatvād akhila-bandha-rahito brahma-niṣṭaḥ (SADĀNANDA/NIKHILANANDA, Vedāntasāra (wie Anm. 14), 217), ,,Lebend-Erlöst heißt einer, der durch das Wissen vom unteilbaren Brahman als seinem eigenen Wesen das Nichtwissen von diesem beseitigt hat; dadurch das unteilbare Brahman als sein eigenes Selbst unmittelbar wahrnimmt; so das Nichtwissen und dessen Produkte, das angesammelte karman, Zweifel, Irrtümer usw. auch beseitigt; und folglich im von jeder Bindung freie Brahman vollendet ist.“ 25 Und zwar indem sie diese Praktiken gegenüber der Meditationspraxis abwertet: PD 9.130: upekṣya tat tīrtha-yātrā-japâdīn eva kurvatām/piṇḍaṃ samutsṛjya karaṃ leḍhîti nyāya āpatet// ,,Auf diejenigen, die dies [die zum Beispiel in der Amṛtabindu-Upaniṣad empfohlene Meditationspraxis] vernachlässigen, und Pilgerreisen zu heiligen Orten, Murmeln heiliger Sprüche etc. praktizieren, trifft die Maxime zu: ,Er gibt die Süßigkeit auf und leckt sich die Hand.‘“

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lichkeit ist weiter in drei Stufen gegliedert: (1) Die kausale Ebene, identisch mit Māyā/Nichtwissen und dem Tiefschlaf; (2) die feinstoffliche Ebene, die unter anderem aus dem Inneren Organ und den Sinnesorganen besteht; (3) die materielle Ebene der aus den fünf Elementen bestehenden Welt. Das Absolute, verbunden mit der Māyā, die die höchste Stufe der relativen Wirklichkeit ist, ist der eine persönliche Gott, der die Welt erschaffen hat. Daher enthält dieses Konzept vielleicht zwei Stufen einer ,heiligen‘ höheren Wirklichkeit26: a) die eine, höchste Wirklichkeit, das unpersönliche Absolute (brahman); b) und der eine persönliche Schöpfergott (īśvara). 3. Der Zugang zu diesem Absoluten ist möglich durch ein besonderes ,heiliges‘ Wissen (brahma-vidyā: Brahma-Wissen; tattva-dhī: Wirklichkeits-Erkenntnis). Als Mittel, um dieses Wissen zu erwerben, dienen unter anderem: a) die erwähnten heiligen Schriften (śruti), nämlich die Upaniṣaden; b) ,ordnendes Nachdenken‘27; c) und besondere ,höhere‘, meditative Bewusstseinszustände (,meditative Versenkung‘, samādhi). 4. Eine heilige Person, ein Lebend-Erlöster (jīvanmukta) ist jemand, der im Besitz dieses Wissens ist, nämlich einer konstanten unmittelbaren Schau der höchsten Wirklichkeit. Charakter und Herkunft dieses Wissens sind umstritten. Während Philosophen des Neo-Vedānta, zum Beispiel Vivekānanda, dies als Erfahrung charakterisieren, verweisen andere, wie neuerlich zum Beispiel Rambachan28, auf die heilige Offenbarung als einzige Quelle der erlösenden Erkenntnis. Eine gründliche Lektüre der PD zeigt, dass diese im Gegensatz zu Śaṇkara auch die meditative Versenkung (samādhi) als Erkenntnismittel anerkennt, während die Rolle der Offenbarung in den Hintergrund tritt. Die PD des 14. Jahrhunderts steht somit dem Vedānta des 20. Jahrhunderts näher als dem des 8. Jahrhunderts. Eine Untersuchung des Konzepts von Heiligkeit in der PD kann sich nicht unmittelbar auf einen allgemeinen Sakralitätsbegriff beziehen, sondern muss zunächst eine Vielzahl von Konzepten betrachten: das von heiligen Personen, heili26 Mit dieser Metaphysik, die ein unpersönliches Absolutes postuliert, das sich über dem persönlichen Gott befindet, unterscheidet sich die hier betrachtete Phase des Advaita sowohl von Śaakara, als auch vom Neo-Vedānta. Wenn der Neo-Vedānta diese Unterteilung ablehnt, geht er in dieser Hinsicht vielleicht wieder zu Śaakara zurück. Siehe dazu RAMBACHAN, Advaita worldview (wie Anm. 3), 84 N. 2: ,,Instructive here is Hacker’s conclusion that the sharp distinction between saguṇa-nirguṇa brahman [unpersönliches Absolutes und persönlicher Gott] is more charakteristic of post-Śaakara Advaita. Śaakara is more fluid in his terminology and uses the terms īśvara, parameśvara, paramātman [,Herr, Höchster Herr, Höchstes Selbst‘], and para brahman [,das höhere Brahman‘] to refer to the absolute.“ 27 vicāra. Dieser Begriff ist in der PD ambivalent: teils bezieht er sich auf die upaniṣadischen Sätze, (wie bei Śaakara, Brahmasūtrabhāṣya 1.1.2 vedānta-vākyāni [...] vicāryante ,Sie denken über die Sätze des Vedānta nach‘), teils aber direkt auf das introspektiv zu erforschende eigene Innere (PD 10.3 svavicāra, ,Nachdenken über sich selbst‘). 28 Anantanand RAMBACHAN, Accomplishing the accomplished: The Vedas as a source of valid knowledge in Śaakara, Honolulu 1991; Anantanand RAMBACHAN, Response to Professor Arvind Sharma, Philosophy East and West 44, Nr. 4 (1994).

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gen Texten etc. Diese verschiedenen Bereiche von Sakralem können nicht isoliert verstanden werden. Um die Vorstellung von einer heiligen Person, einem LebendErlösten, in dieser Tradition verstehen zu können, muss man auch die Konzepte einer höheren Wirklichkeit, von heiligen, geoffenbarten Texten, von höheren Bewusstseinszuständen etc. kennen. Dabei ist die genaue Beziehung zwischen heiligen Texten, höherer Wirklichkeit und heiligen Personen im Advaita Vedānta keineswegs dogmatisch festgelegt, sondern zeigt eine hohe historische Dynamik und inhaltliche Ambivalenz. Gerade die PD scheint das Dokument eines Umbruchs zu sein, in dem yogische Bewusstseinszustände zunehmend die legitimatorische Funktion der Offenbarung übernehmen. Bereits im 16. Jahrhundert (also lange vor der Auseinandersetzung mit der britischen Kolonialmacht) ist dann der in der meditativen Versenkung (samādhi) gipfelnde Yoga-Weg fester Bestandteil des Advaita29.

5 DAS ABSOLUTE IST REINES BEWUSSTSEIN, JENSEITS DER SPRACHE, NIE OBJEKT Allen drei Möglichkeiten, das Absolute zu erkennen – durch die Sätze der Offenbarung, durch Nachdenken, durch meditative Erfahrung – widerspricht eines der grundlegenden Konzepte jeder Richtung des Advaita-Vedānta. Das besagt, dass das Absolute reines, undiffereinziertes Sein, Glückseligkeit und Bewusstsein ist30. – Eigenschaften sind immer Differenzierungen, das Absolute als undifferenziertes Sein hat daher keine Eigenschaften. Als eigenschaftslos und differenzlos ist das Absolute jenseits von Sprache, kann mit Wörtern oder Gedanken nicht erfasst werden31. – Das Absolute als Bewusstsein ist auch das Subjekt in jeder Wahrnehmung, so kann es nie Objekt einer Wahrnehmung sein32. 29 Vedāntasāra 200–208 enthält die acht Glieder der Yogasūtren. 30 akhaṇḍaṃ saccidānandaṃ; zum Beispiel in PD 1.46. 31 In den Upaniṣaden: yato vāco nivartante, aprāpya manasā saha Taittirīya-Upaniṣad 2.4.1 (Upaniṣads, wie Anm. 14, 333); naiva vācā na manasā prāptum śakyo na cakṣuśā Kathā-Upaniṣad 2.3.12 (Upaniṣads, wie Anm. 14, 225). In der PD 1.49 ff.: sa-vikalpasya lakṣyatve lakṣyasya syād a-vastutā/nir-vikalpasya lakṣyatvaṃ na dṛṣṭaṃ, na ca sambhavī // ,,[Einwand:] Wenn es differenziert wäre, wäre es [durch den upaniṣadischen Satz] bezeichenbar, aber dann wäre das Bezeichenbare nicht wirklich. Und man beobachtet nirgendwo, dass etwas Nicht-Differenziertes bezeichenbar wäre, und das wäre auch nicht möglich.“ Insgesamt steht aber in der PD im Gegensatz zu Śaakara und vor allem Sureśvara dieser Aspekt der Transzendenz des Absoluten weniger im Vordergrund. 32 Zum Beispiel in PD 3.11 ff.: ,,[Einwand:] ,Es mag sein, dass vom Körper bis zur Wonne des Schlafs [die fünf das Selbst verhüllenden Schichten] nichts das Selbst ist. Aber man erfährt an sich selbst doch auch nichts anderes!‘ [Antwort:] ,Stimmt, man erfährt an sich selbst nur den Schlaf usw. [die Hüllen], und sonst nichts. Aber — wie könnte man das leugnen, wodurch man diese erfährt? Es kann nicht erfahren werden, weil es selbst die Erfahrung ist. Weil es

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Das Absolute, das reines Sein und Bewusstsein ist, kann folglich nicht im gewöhnlichen Sinn erfahren, wahrgenommen oder beschrieben werden. Es transzendiert die Welt der Unterschiede, der Sprache und der Kultur.

6 METHODEN, DAS ABSOLUTE ZU ERKENNEN Dennoch werden in Texten wie der PD verschiedene Formen von Wahrnehmung und Erfahrung dieses Absoluten beschrieben und diskutiert. Ein Heiliger, wie zum Beispiel der VIDYĀRAṆYA der Legende, zeichnet sich aus durch Erfahrung, Wahrnehmung oder Kenntnis des Absoluten. Der Begriff der ,Erfahrung‘ ist problematisch, und es wäre falsch, von einem ahistorischen und essenzialistischen Begriff von ,religiöser Erfahrung‘ auszugehen. So hat beispielsweise Andreas Nehring am Beispiel des Würzburger ZenLehrers Willigis-Jäger gezeigt, wie sehr dessen Erfahrungs-Begriff spezifisch modernen Diskursen entstammt33. Mir geht es hier nicht darum, die Essenz der religiösen Erfahrung an und für sich zu bestimmen, sondern darum, Konzepte und Begriffe in der PD zu untersuchen, die unserem Begriff von Erfahrung ähneln, und sich unabhängig von diesem entwickelt haben34. Ich gebrauche hier den Plural – Konzepte und Begriffe –, da in der PD nicht nur ein Konzept davon entwickelt wird, wie das Absolute erkannt oder erfahren werden kann, sondern mehrere, sich teilweise widersprechende. Die PD ist ein relativ spätes Werk, und ihre Bedeutung liegt gerade darin, dass sie verschiedene philosophische Traditionen auf eine sehr spezifische Art zusammen bringt. Es findet nicht eine Vereinheitlichung unter ein dominierendes Konzept statt, eher werden die verschiedenen Stränge nebeneinander gestellt, gegeneinander abgewogen oder auch einander angenähert. Die wichtigsten Wege zum Absoluten sind keine Differenz zwischen Erkenner oder Erkennen gibt, ist es unerkennbar, nicht, weil es nicht existiert.‘“ 33 Andreas NEHRING, Die Erfindung der religiösen Erfahrung, in: Kultur, Politik, Religion, Sprache (Festschrift für Wolfgang Stegemann zum 60. Geburtstag), hg. v. Christian STRECHER (Kontexte der Schrift II), Stuttgart 2005, 301–322. Für eine vergleichbare Untersuchung des Erfahrungs-Begriff im (Neo-)Vedānta siehe HALBFASS, India and Europe (wie Anm. 10). Siehe auch Robert H. SHARF, Buddhist Modernism and the Rethoric of Meditative Experience, Numen 42 (1995), 228–83. Über die geringe Bedeutung der ,meditativen Erfahrung‘ im vormodernen Buddhismus; zur Kritik an Sharf siehe Stuart R. Sarbacker, Samādhi: The Numinous and Cessative in Indo-Tibetan Yoga, New York, 2005, 41: ,,Accepting that enlightenment is only significant when it is recognized by a community and that firsthand knowledge is secondary to the realities that meditation engenders obscures a whole spectrum of Buddhist conceptions of religious attainment“. 34 Die relevanten Sanskrit-Begriffe in der PD, die eine Form ,unmittelbarer Wahrnehmung‘ des Brahman abgrenzen gegenüber einem bloßen Wissen über das Brahman, sind vor allem: sākṣātkāra und aparokṣajñāna, ,unmittelbares Erkennen/Wahrnehmen‘; svayaṃprakāśa ,selbst erhellend/manifestierend‘ (eine Eigenschaft des Brahman); samādhi, yoga ,meditative Versenkung‘; svavicāra, ,ordnendes Nachdenken‘; anubhava ,Erfahrung‘; jñāna, bodha etc., ,Erkenntnis, Wissen‘.

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das Studium der geoffenbarten Schriften, metaphysisches, unterscheidendes Nachdenken und verschiedene kontemplative Praktiken. Diese Wege werden auf verschiedene Weise kombiniert. Beispielsweise – führt in einem Kapitel das Studium der heiligen Schriften auch ohne Meditation zur direkten Wahrnehmung des Absoluten35, – oder das ordnende Nachdenken, die introspektive Reflexion reicht aus, um unmittelbares Erkennen zu erlangen36, – in anderen Kapiteln muss das Studium der heiligen Sätze mit meditativen Praktiken ergänzt werden37, – in wieder anderen führt meditative Versenkung38 in das Absolute auch ohne metaphysische Untersuchungen zur Erkenntnis. Gemeinsam ist diesen Wegen das Ziel, die Erlösung zu Lebzeiten durch ein besonderes Wissen vom Absoluten zu erreichen. Die in der PD diskutierten Alternativen sind weniger Heilige Schrift oder eigene meditative Erfahrung, auch nicht Erkenntnis oder Meditation, sondern vielmehr eigenes Nachdenken oder eigene meditative Erfahrung39.

7 MEDITATIVE PRAKTIKEN IN DER PD In den modernen, reformierten Formen des nicht-dualistischen Vedānta (dem Neo-Vedānta) wird die Erfahrung des Absoluten in der Meditation als zentral dargestellt. In der PD dagegen gibt es wie oben erwähnt verschiedene Wege, wie das Absolute erkannt werden kann. Meditation ist ein Bestandteil dieser Wege, und es werden verschiedene Arten von Meditationspraktiken und Theorien dargestellt. Da das Absolute (das Brahman) Bewusstsein und Glückseligkeit ist, gibt es hier grundsätzlich drei Möglichkeiten: 35 PD 7, erläutert am Beispiel des 10. Mannes. 36 PD 6.15: aparokṣa-vidyāptau vicāro ’yaṃ samāpyate ,,Dieses ordnende Nachdenken reicht aus, um das unmittelbare Wissen zu erlangen“. 37 Nach PD 1.62 entsteht aus dem upaniṣadischen Satz erst nach der Vernichtung von angesammeltem Verdienst und Schuld durch meditative Versenkung (samādhi) die direkte Erkenntnis (aparok a bodha) des Brahman, ,wie die einer Frucht in der Hand‘. 38 In PD 11 ist das Brahman in der Meditation erfahrbar als die in der Aufhebung aller Unterschiede bestehende Glückseligkeit. Diese meditative Glückserfahrung ist nur eine Episode, und somit nicht die Erlösung; aber sie vermittelt die erlösende Erkenntnis. Telliyavaram Mahadevan Ponnambalam MAHADEVAN, The Philosophy of Advaita – With Special Reference to Bhāratītīrtha-Vidyāraṇya, Madras 1957, 269 irrt daher, wenn er über die PD schreibt: ,,Bhāratītīrtha gives to yoga a place next to knowledge as a means to release.“ In der PD sind Yoga und Nachdenken zwei Wege zur Erkenntnis. Die Erlösung wird in beiden Fällen durch Erkenntnis erlangt, beziehungsweise besteht in der Erkenntnis des Brahman; zum Beispiel PD 14.1: ,,Nun schildern wir die Glückseligkeit des Wissens, die der [erfährt], der die Brahma-Wonne durch Yoga [=Meditation], Unterscheidung bezüglich des Selbstes, oder Nachdenken über die Unwirklichkeit der Vielheit wahrnimmt.“ 39 Siehe zum Beispiel PD 9, das eine Form der Meditation (dhyāna) für die empfiehlt, deren Geist zu schwach ist, um das Brahman durch ordnendes Nachdenken (vicāra) zu erkennen.

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Meditation als konzentrierter Geisteszustand, in dem nur noch das Meditationsobjekt erscheint; – Meditation als ein Zustand, in dem alle Geistestätigkeit zum Stillstand kommt, und sich so das reine Bewusstsein zeigt; – Meditation als ein Zustand selbstvergessenen Glücks, das das Brahman selbst ist. Meditative Versenkung (samādhi) bezeichnet in der PD eine Form besonders intensiver Konzentration auf das Absolute, das Brahman. Zunächst nimmt der Geist den Zustand der ,Einspitzigkeit‘40 an. Der Strom der Gedanken richtet sich ohne Unterbrechung und ohne Zweifel auf das in den heiligen Schriften gelehrte Absolute, das das wahre Selbst ist41. Zur ,meditativen Versenkung‘ wird dieser Zustand dann, wenn nur noch der Meditationsgegenstand selbst, nämlich das Absolute, erscheint, der Meditierende aber kein Bewusstsein mehr hat von sich selbst als meditierendem oder von der Meditation42. Als handelndes und wahrnehmendes Individuum verschwindet er gleichsam und wird zeitweise eins mit dem Absoluten, der höchsten Wirklichkeit, die reines Bewusstsein ist. An einer anderen Stelle in der PD wird die meditative Versenkung als ,Stilllegung‘ (nirodha) des Gedankenstroms beschrieben. Nach einer Zeit der Konzentration auf das Absolute (dhyāna, brahmatattvopāsana), das man zu diesem Zeitpunkt nur indirekt aus den Schriften kennt, kommt das Denken zum Stillstand, der Geist wird leer von allen Inhalten bis schließlich nur das Absolute übrig bleibt, das das Bewusstsein selbst ist43. Neben dem so konzeptualisierten ,reinen Bewusstsein‘ spielt die Erfahrung höchsten Glücks in der meditativen Versenkung eine wichtige Rolle. ,Versenkung‘ entsteht nach dieser Methode nicht aus der Konzentration auf das Absolute, sondern aus dem angenehmen geistigen Zustand der Gleichgültigkeit44. –

40 aikāgrya, PD 7.105; dient dort der Beseitigung verkehrter Vorstellungen. Siehe Fußnote 50. 41 PD 1.54: […] arthe cetasaḥ sthāpitasya yat/ekatānatvam, etad dhi nididhyāsanam ucyate // ,,,Geistige Betrachtung‘ sagt man, wenn der auf [diesen] Gegenstand gerichtete Geist ein ununterbrochener Strom ist.” 42 PD 1.54: dhyātṛ-dhyāne parityajya, kramād dhyeyâika-gocaram/nivāta-dīpavac cittaṃ samādhir abhidhīyate // ,, Meditative Versenkung (samādhi) sagt man, wenn der Geist den Meditierer und das Meditieren aufgegeben hat, und dann nur noch auf das Meditationsobjekt gerichtet ist, wobei er einer Lampe im Windstillen gleicht.“ Meditation dient hier der Reinigung des Geistes von Verdienst, Schuld und Prägungen aus den Vergangenen Leben, so dass das Absolute unmittelbar wahrgenommen werden kann. Siehe unten Fussnote 49 und 60. 43 PD 9.126–127: nirguṇôpāsanaṃ pakvaṃ samādhiḥ syāc chanais, tataḥ/yaḥ samādhir nirodhâkhyaḥ, so ’nāyāsena labhyate // nirodha-lābhe puṇso ’ntar asaagaṃ vastu śiṣyate/punaḥ puno vāsite ’smin, vākyāj jāyeta tattvadhīḥ // ,,Die Meditation (upāsana) über das eigenschaftslose Brahman reift langsam zur meditativen Versenkung (samādhi). Dann erlangt man die Meditation, die ,,Anhalten des Denkens“ (nirodha) genannt wird, ohne Mühe. Wenn man das Denken angehalten hat, bleibt nur die innere, ungebundene Wirklichkeit [= das Selbst] übrig. Wenn dies fest verwurzelt ist, entsteht aus dem Satz [aus den heiligen Schriften, über den man meditiert, nämlich ,Ich bin das Brahman‘] die Erkenntnis der Wahrheit.“ 44 audāsīnya; PD 11.95.

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Man ist frei von Wünschen, von Verlangen oder Abneigungen. Das Glück, das man in so einem Zustand empfindet, ist das Absolute, das Brahman selbst, das ja seiend, bewusst und Glückseligkeit ist. Je mehr man in diesem Zustand das ,Ich vergisst‘, desto deutlicher empfindet man dieses Glück45. Wenn man durch YogaPraxis diesen Zustand zu völliger Selbstvergessenheit steigert, erfährt man höchstes Glück. Dieses Glück ist das Brahman, und es besteht in der Aufhebung aller dualistischen Begrenztheiten46. Das nicht-dualistische Bewusstsein, das Glückseligkeit ist, ist das Brahman, das Absolute.

8 FUNKTION DER MEDITATIVEN PRAKTIKEN Der Zustand der meditativen Versenkung (samādhi) ist nicht identisch mit dem Zustand der Erlösung. Denn im Gegensatz zur Erlöstheit ist die Erfahrung des Glücks in der Versenkung nur vorübergehend, und endet mit dem Erwachen aus der Meditation. Auch unterscheidet sich Meditation (dhyāna) von der Erlösung dadurch, dass man in der Versenkung schlecht in der Lage ist, seine Alltagspflichten zu erledigen. Im Gegensatz dazu besteht die Erlösung im Erwerb eines besonderen Wissens. Ein Lebend-Erlöster, der dieses Wissen besitzt, kann weiter in der Welt tätig sein und dort seine Pflichten erfüllen, selbst wenn es sich um die eines Königs handelt47. Meditation hat verschiedene sehr spezifische Funktionen in dem komplexen Geflecht kontemplativer und diskursiver Erlösungspraktiken in der PD: – Eine Funktion der Versenkung für den Erlösungsprozess besteht darin, dass sie von der in den geoffenbarten Schriften gelehrten Wahrheit des Nicht-Dualismus überzeugt48. – Eine weitere Funktion der meditativen Versenkung besteht darin, dass durch sie aus dem durch die Schrift vermittelten indirekten Wissen über das Absolute eine unmittelbare Erfahrung der Wahrheit wird, indem die Versenkung die mentalen Gewohnheiten und das angesammelte karman vernichtet49.

45 PD 11.98. 46 PD 11.100: na dvaitaṃ bhāsate nâpi nidrā tatrâsti yat sukham/sa brahmānanda […] ,,Es erscheint keine Dualität, und auch kein Schlaf; das Glück, das es dort gibt, ist die BrahmaWonne.“ 47 PD 9.87,114. 48 PD 11.119–120: ,,Zwar können Menschen nur selten lange Zeit in meditativer Versenkung (samādhi) verweilen. Aber auch wenn sie nur einen Augenblick andauert, gibt sie Gewissheit (niścāyayati) über die Brahma-Wonne. Wer hier gläubig und eifrig ist, gelangt in jedem Fall zur Gewissheit. Und wer einmal Gewissheit darüber erlangt hat, vertraut auch zu anderen Zeiten darauf.“ 49 PD 1.60–62: dharma-megham imaṃ prāhuḥ samādhiṃ yogavittamāḥ/[…] // amunā vāsanājāle niḥśeṣaṃ pravilāpite/sa-mūlônmūlite puṇya-pāpâkhye karma-saṃcaye // vākyam a-pratibaddhaṃ sat […]/[…] bodham aparokṣaṃ prasūyate ,,Diese meditative Versenkung nennen die Yoga-Experten [Patañjali] ,Dharma-Wolke‘. Wenn durch sie das Netz der Prägungen [aus den vergangenen Leben] zerstört wurde, und die Verdienst und Schuld genannte karman-An-

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Auch dient eine bestimmte Form von Meditation (aikāgrya) dazu, dass die unmittelbare Erfahrung des Brahman konstant wird, indem sie falsche Denkgewohnheiten beseitigt50. Die meditative Versenkung bewirkt nicht allein und unmittelbar die Erlösung. Aber durch sie wird das Wissen von der Einheit des eigenen Selbst mit dem Absoluten, das in der Regel aus der Unterweisung und eigenem Nachdenken über diese entsteht, konstant, zweifelsfrei und unmittelbar. –

9 MEDITATION, ,ORDNENDES NACHDENKEN‘ UND DAS WISSEN DES LEBEND-ERLÖSTEN IN DER PD Die Erfahrung des Absoluten in der Meditation, die im Neo-Vedānta oft als die entscheidende Erleuchtungserfahrung propagiert wird, ist in der PD nur ein Hilfsmittel, um die in den Upaniṣaden gelehrte Wahrheit zu erkennen. Empfohlen wird sie vor allem denen, denen die Begabung zur philosophischen Reflexion, dem ,ordnenden Nachdenken‘ fehlt51. Statt dessen präferiert die PD das ,ordnende Nachdenken‘, das heißt die Unterscheidung zwischen dem einen Absoluten und dem vielheitlichen Relativen52. Der Meditation und dem ,ordnenden Nachdenken‘ ist gemeinsam, dass man das negiert, was relativ, also negierbar ist. – In der Meditation geschieht diese Negation durch Zügelung der Gedanken und Stilllegung des Geistes. Dies kann wie gesagt nur vorübergehend gesche-

sammlung samt Wurzel ausradiert wurde, dann erzeugt der unbehinderte Satz [aus den Upaniṣaden] eine unmittelbare Wahrnehmung.“ Siehe auch unten Fußnote 60. 50 PD 7.103–104ab: bahu-janma-dṛḍhâbhyāsād dehâdiṣv ātma-dhīḥ kṣaṇāt/punaḥ punar udety evaṃ jagat-satya-tva-dhīr api // viparītā bhāvanêyam aikāgryāt sā nivartate/„Weil man die Vorstellung, dass der Körper das Selbst ist, viele Leben hindurch andauernd wiederholt hat, entsteht sie augenblicklich immer wieder; ebenso auch die Vorstellung, dass die Welt wahr ist: Das ist ,falsche Vorstellung‘. Sie verschwindet durch Einspitzigkeit.“ In PD 7.97–135 werden ,Hören‘, ,Denken‘ (hier: sa bhāvanā) und ,Meditieren‘ (hier: aikāgrya) zur Stabilisierung der Erkenntnis empfohlen. 51 Siehe PD 9.54. 52 vicāra ,ordnendes Nachdenken; introspektive Reflexion, philosophische Untersuchung‘. Wie erwähnt wird in der PD vor allem das Verhältnis von Reflexion, Wissen und Meditation diskutiert. Die heiligen Schriften als Wahrheitsquelle sind in der PD kein Diskussionsthema mehr; entweder weil sie (infolge der Begegnung mit dem Islam?) an Legitimationskraft verloren haben, oder im Gegenteil weil ihre Bedeutung (infolge der Vernichtung des Buddhismus in Indien?) nicht angezweifelt wird. Beispiel PD 6.11: ātmâbhāsasya jīvasya saṃsāro, nâtma-vastunaḥ/iti-bodho bhaved vidyā, labhyata asau vicāraṇāt // ,,Die Individualseele, die ein Schein-Selbst ist, wird wiedergeboren, nicht das wirkliche Selbst.‘ Diese Erkenntnis ist ,Wissen‘. Es wird durch ,ordnendes Nachdenken‘ (vicāra a) erworben.“ Viveka, ,Unterscheidung‘; zum Beispiel PD 8.54: buddhy-ādīnāṃ svarūpaṃ yo vivinakti, sa tattvavit // sa eva mukta ity evaṃ vedānteṣu viniścayaḥ // ,,Wer das Wesen des Erkenntnisorgans und so weiter [vom wahren Selbst] unterscheidet, der ist ein Kenner der Wahrheit, der ist erlöst. Das ist die Überzeugung im Vedānta.“

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hen, und man ist in diesem Zustand schlecht in der Lage, die Welt wahrzunehmen oder sich in ihr zu bewegen. – Durch ordnendes Nachdenken (vicāra) wird nicht die Wahrnehmung der Vielheit unterdrückt oder beseitigt, um das Absolute zum Vorschein kommen zu lassen; sondern nur der Seinsanspruch des Vielen wird aufgehoben. Damit erscheint die Welt dem Wissenden aber nicht mehr als etwas reales, sondern nur noch wie ein Traumbild oder eine Fata Morgana53. – Ziel beider Methoden ist nicht der Zustand meditativer Versenkung, sondern die Erlösung bereits in diesem Leben. Der Lebend-Erlöste in der PD ist nicht jemand, der sich ununterbrochen im Zustand weltvergessener meditativer Versenkung befindet, sondern jemand, der das unterscheidende Wissen besitzt. Er nimmt daher die Dinge der Welt weiterhin wahr, betrachtet sie aber als gleichgültige, belanglose Erscheinungen ohne Realität54. Dem Meditierenden erscheint nur noch das Absolute; dem Lebend-Erlösten erscheint nur noch das Absolute als real und als sein wahres Selbst. Er hat gleichsam ein ,doppeltes Bewusstsein‘: einerseits sieht er, dass nur das reine, ununterschiedene Bewusstsein wirklich ist, das ,Eine ohne ein Anderes‘ (eka evâdvitīya, zum Beispiel Chāṇḍogya-Upaniṣad 6), andererseits sieht er auch dieses Andere, die Vielheit, die Welt, die es in Wirklichkeit ja gar nicht gibt55. Aber der Lebend-Erlöste verwechselt das eine Absolute und das viele Relative nicht mehr miteinander; er hält das Viele nicht für das Absolute, also nicht für seiend, nicht für bewusst und auch nicht für wahres Glück. Und er hält das eine Absolute, das seiend, Bewusstsein und Glück ist, nicht mehr für vielheitlich.

53 PD 6.12–13: sadā vicārayet tasmāj jagaj-jīva-parātmanaḥ/jīva-bhāva-jagad-bhāva-bādhe svâtmâiva śiṣyate // nâpratītis tayoḥ bādhaḥ, kintu mithyātva-niścayaḥ/no cet suṣuptimūrcchâdau mucyetâyatnato janaḥ // ,,Daher soll man immer über die Welt, die Seele und das höchste Selbst nachdenken (vicāraye). Nach Negierung des Seins der Seele und des Seins der Welt bleibt einzig das eigene Selbst übrig. Die Negierung dieser beiden bedeutet nicht, dass sie nicht mehr wahrgenommen werden, sondern dass man von ihrer Unwirklichkeit überzeugt (mithyātva-niścaya) ist. Andernfalls würden die Leute ohne Anstrengung durch Tiefschlaf oder Ohnmach erlöst.“ 54 Dasgupta (Surendranath DASGUPTA, A History of Indian Philosophy I, Erstausgabe 1922, Delhi 1975, 439. http://www.gutenberg.org/etext/12956 [Stand: 29.05.2013]) dagegen macht in seiner Darstellung des Advaita keinen Unterschied zwischen dem Zustand meditativer Versenkung, in dem die Welt nicht mehr wahrgenommen wird, und dem Wissen, das die Welt sieht und als ontologisch minderwertig erkennt: ,,This comprehension of my self as the ultimate truth is the highest knowledge, for when this knowledge is once produced, our cognition of world-appearances will automatically cease.“ Ebenso Prabhavananda (Swami PRABHAVANANDA, Spiritual Heritage of India, Madras 1981, 284), der Lehrer von Aldous Huxley und Christopher Isherwood: ,,In the state of illumination, it is not experienced and it ceases to exist.“ Siehe auch RAMBACHAN, Advaita worldview (wie Anm. 3), 68. 55 Auch Robert K. C. FORMAN, Mysticism, mind, consciousness, Albany, N.Y. 1999, unterscheidet diese beiden Bewusstseinszustände in seiner Monographie über Mystik und Bewusstsein und nennt sie ,,Pure Consciousness Event“ und ,,Dualistic Mystical State“.

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10 DIE UNMITTELBARKEIT DER WAHRNEHMUNG DES ABSOLUTEN DURCH DEN LEBEND-ERLÖSTEN Damit gibt es also in der PD zwei wichtige Zugänge zum Absoluten: die ,meditative Versenkung‘ des Yogi (samādhi), und das dadurch oder durch ,ordnendes Nachdenken‘ erworbene Wissen des Lebend-Erlösten. Die ,meditative Versenkung‘ hat den Nachteil, dass man sich praktisch in einem Zustand des vorweggenommenen Todes befindet, zwar beim Absoluten, aber ohne Möglichkeit der Kommunikation mit der Welt, und damit eigentlich nicht einmal als Gegenstand der Verehrung brauchbar, und natürlich ein sehr schlechter Lehrer ist, der seine Schüler nicht einmal bemerkt. Aber auch das Wissen vom Absoluten, das der Lebend-Erlöste hat, ist problematisch. Insofern sich der Lebend-Erlöste noch oder wieder in der Welt befindet, und sein Wissen ein Wissen über das Absolute ist, zieht er das Absolute in die Welt, die Vielheit, die Begriffe und die Sprache. Sprachlich vermitteltes Wissen ist aber nicht mehr das des Absoluten selbst, sondern eher ein Netz von Begriffen und Konzepten, die das Absolute verhüllen. Die PD behauptet daher die Möglichkeiten einer Wahrnehmung des Absoluten in seiner Konkretheit (vyakti), die zwar nicht die meditative Versenkung ist, aber dennoch den Charakter von Unmittelbarkeit (aparok atva) besitzt. In gewisser Weise kann man also sagen, dass das Wissen erlöst, nicht die Erfahrung. Aber der Begriff des Wissens (vidyā, jñāna) bezeichnet in der PD nicht bloße Vorstellungen über die Wirklichkeit, die nur aus dem Studium der heiligen Schriften stammen; ,Wissen‘ für das auch synonym ,Sehen‘ verwendet wird, bezeichnet nicht das Wissen über etwas, sondern die persönliche direkte und unmittelbare Bekanntschaft mit etwas. Daher ist es nicht ganz falsch, wenn dem Neo-Vedānta nahe stehende Übersetzer an solchen Stellen das Verb für ,wissen‘ oder ,erkennen‘ oft mit ,experience‘ übersetzen. In Kapitel VII der PD beispielsweise durchläuft die Seele auf dem Erlösungsweg der Reihe nach verschieden Stufen56: zunächst indirekte Erkenntnis des Brahman (parok adhī; PD 7.33); dann dessen direkte Erkenntnis (aparok amati; PD 7.33), bevor die Sorgen vergehen und Befriedigung erlangt wird57. Hier ist Meditation nicht nötig, um das Absolute unmittelbar wahrnehmen zu können58. Sie wird zwar auch in diesem Kapitel empfohlen; dient aber hier nur dazu, dass die Wahrheitsschau dauerhaft wird, nicht von Zweifeln oder falschen Vorstellun-

56 PD 28 ff. 57 PD 7.31: asti kūṭastha ity-ādau parokṣaṃ vetti vārttayā/paścāt kūṭastha eva asmîty evaṃ vetti vicārataḥ // ,,Durch die Nachricht ‚Es gibt das Unveränderliche [= das Absolute]‘ erkennt man es anfangs indirekt. Danach erkennt man durch ordnendes Nachdenken [unmittelbar] ‚Ich bin das Unveränderliche.‘“ 58 Außer man übersetzt vicāra nicht als ,ordnendes Nachdenken‘, sondern als ,meditating‘, wie zum Beispiel Swahananda zu PD 7.69.

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gen unterbrochen59. Die geoffenbarten Schriften sind – wenn man richtig über sie nachdenkt – in der Lage, nicht nur Wissen über das Absolute zu vermitteln, sondern auch dessen unmittelbare Erfahrung60. Das Absolute, das das wahre eigene Selbst ist, erscheint dann so unmittelbar wie der eigene Körper61. Um zu zeigen, dass auch Sprache unmittelbare Wahrnehmungen vermitteln kann, verwendet PD 7 das (schon aus der Upadeśasāhasrī) bekannte Beispiel von den zehn Männern: Zehn Männer schwimmen über einen Fluss. Am Ufer angekommen, zählt einer nur neun überlebende Männer, weil er vergisst, sich selbst zu zählen. Er klagt, bis ihm jemand sagt, dass er selbst der Zehnte ist. Hier entsteht aus einer sprachlichen Mitteilung eine unmittelbare Wahrnehmung. Neben der sprachphilosophischen Erklärung, wie Sätze das unnennbare Absolute bezeichen können62, enthält dieses Kapitel auch eine feinstofflich-materialistische Theorie, wie das möglich ist63.

11 DIE KONSTITUIERUNG DER SAKRALITÄT VON PERSONEN DURCH KONZEPTE VON DER ERFAHRUNG DES ABSOLUTEN Die Möglichkeit unmittelbarer Erfahrungen ist in den Kulturwissenschaften umstritten. Die konstruktivistische Fraktion in dieser Debatte betont, dass es keine nicht sprachlich-kulturell vermittelte Erfahrungen gibt. Es gibt keine unmittelbare 59 PD 7.98: ahaṃ brahmêti vākyârtha-bodho yāvad dṛḍhī-bhavet/śamâdi-sahitaḥ tāvad abhyaset śravaṇâdikam // „Bis die Erkenntnis des Sinnes des Satzes ,Ich bin Brahman‘, stabil geworden ist, sollst man mit Seelenruhe usw. Hören usw. [Denken und Meditieren] praktizieren.“ 60 PD 7.58: ātmā brahmêti vākyârthe niḥśeṣeṇa vicārite/vyaktir ullikhyate yadvat daśamas tvam asîti ataḥ // ,,Wenn man die Bedeutung des Satzes „Das Selbst ist das Brahman.“ restlos durchdacht hat, dann wird [das Brahman] in seiner Individualität deutlich, wie bei „Du bist der Zehnte.“ 61 PD 7.20 (Zitat von Upadeśāsāhasrī, padya 4.5): dehâtma-jñānavad jñānaṃ ,,Wissen, [so sicher und gewiss] wie das Wissen vom eigenen Körper“. In Kapitel 1 ist das Ziel, das Absolute so direkt wahrzunehmen, wie eine Frucht in der Hand. PD 1.62: vākyam apratibaddhaṃ sat prāk parokṣâvabhāsite/karâmalakavad bodham aparokṣaṃ prasūyate // ,,Wenn [das Verständnis des] Satzes [durch die Reinigung der Seele mittels Meditation] nicht mehr behindert wird, erzeugt er eine Wahrnehmung, die unmittelbar ist wie die einer Frucht in der Hand, dessen, was zuvor nur indirekt erschien.“ Siehe auch Naiṣkarmyasiddhi 3.46 (Naiṣkarmyasiddhi: English Translation, hg. v. SUREŚVARA/S.S. RAGHAVACHAR, Mysore 1965). 62 Nämlich durch teilweise Metonymie (bhāgalak a a): Im Satz ,Das [Gott] bist Du.‘ bezeichnen Subjekt und Prädikat nicht einen Komplex (sa sarga) und nicht eine Attribution (viśi %a), sondern das eine unteilbare Absolute. Das ist möglich, indem sich ,das‘ nur noch auf die Glückseligkeit bezieht, nicht auf Allwissenheit und Allmacht, und ,du‘ nur noch auf das innere Bewusstsein, nicht das mit dem Innenorgan vermischte. ,Das bist Du‘ bezeichnet somit das Absolute, das dem Wesen nach Bewusstsein und Glückseligkeit ist (PD 7.70ff). 63 PD 7.90 ff.: Der Geist (v&tti) richtet sich in der direkten Wahrnehmung auf das Brahman, aber im Gegensatz zur Wahrnehmung anderer Gegenstände ist die Spiegelung des Bewusstseins im Geist hier nicht nötig. Sie wird eins mit dem Absoluten, das sich selbst erhellt. Siehe dazu auch Andrew O. FORT: Reflections on Reflections: Kūṭastha, Cidābhāsa and Vṛttis in the Pañcadaśi, Journal of Indian Phisolophy 28 (2000), 497–510.

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Wahrnehmung des Absoluten, keine mystische Erfahrung, sondern nur zum Beispiel eine hinduistische Erfahrung des Brahman64. Die ,realistische‘ Seite verteidigt die Möglichkeit von Erfahrungen, die nicht jeweils kulturspezifisch sind65 oder sogar die Erfahrbarkeit des Absoluten66. Aber ob ein Absolutes existiert, dass sich manchen Menschen zeigt, und somit erfahrbar ist, ist letztendlich wissenschaftlich nicht zu beantworten. Wie man diese Frage beantwortet, hängt eher von der eigenen religiösen Überzeugung ab. Wenn man behauptet, dass sich die zum Beispiel in der PD beschriebenen Formen der Erfahrungen und unmittelbaren Wahrnehmung in keiner Weise auf ein Transzendentes beziehen, sondern nur und vollständig kulturelle Konstruktionen sind, dann ist das eine religiöse Aussage über die Wahrheit der PD. Denn die PD selbst enthält wie gezeigt verschiedene Konzepte, die darauf beruhen, dass ein Absolutes existiert und erfahrbar oder direkt wahrnehmbar ist67. Der Begriff der ,Erfahrung‘, den ich hier verwende, ist kein metasprachlicher. Das heißt, ich verwende ihn nicht als Bestandteil einer Theorie, um die PD zu interpretieren. Eine solche Theorie ginge in etwa davon aus, dass wir bereits wüssten, was religiöse oder mystische Erfahrungen seien, und mit Hilfe dieses Wissens die verschiedenen Religionen verstehen könnten. Das ist aber nicht der Fall. Die ,Erfahrung‘ von der ich hier spreche, ist vielmehr ein ,objektsprachlicher Begriff‘, das heißt einer, der in der PD verwendet wird (beziehungsweise eine Gruppe verwandter Begriffe). Ziel sollte zunächst sein, die verschiedenenen Modelle vom Erfahren, Erleben, Erkennen, Wahrnehmen etc. des Absoluten in ihrer philosophie- und kulturgeschichtlichen Entwicklung zu rekonstruieren sowie ihre Funktion bei der Begründung von ,Heiligkeit‘. Zusammenfassend können wir Folgendes feststellen. Die PD enthält das Konzept einer höchsten, absoluten Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit kann einerseits nie Objekt einer Wahrnehmung sein und nicht mit Wörtern bezeichnet werden. 64 „There are NO pure (i.e. unmediated) experiences“ (Steven T. KATZ, Language, epistemology, and mysticism, Mysticism and philosophical analysis 22 (1978), 26). ,,[…] the Hindu mystic does not have an experience of which he then describes in the, to him, familiar language and symbols of Hinduism, but rather he has a Hindu experience, i.e. his experience is not an unmediated experience of x but is itself the, at least partially, pre-formed anticipated Hindu experience of Brahman“. 65 Zum Beispiel Robert K. C. FORMAN, The Problem of Pure Consciousness: Mysticism and Philosophy. Oxford 1997; Robert K. C. FORMAN, Mysticism, mind, consciousness, Albany, N.Y. 1999. 66 Thomas A. FORSTHOEFEL, Knowing beyond knowledge: epistemologies of religious experience in classical and modern Advaita. Aldershot, England; Burlington, VT, Ashgate 2002. 67 Ich denke, hier gilt was Peter DINZELBACHER, Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn 1994, 21 zu seiner Darstellung der christlichen Mystik geschrieben hat: ,,Eine Frage, die sich bei unserem Gegenstand […] aufdrängt, […] ist die nach einer über die historische hinausgehenden Interpretation. […] Dieses Problem berührt uns hier, als historisch Fragende, gar nicht, da wir überlieferte Tatsachen festzustellen haben, insoweit dies möglich ist. Wie wir diese Tatsachen dann interpretieren, hängt zur Gänze von unserem Weltbild ab.“

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Denn sie ist das Bewusstsein selbst in jedem Wahrnehmungsvorgang, und sie besitzt keine Unterschiede – weder in sich selbst noch zu anderem. Andererseits ist sie in gewisser Weise ,erfahrbar‘, nämlich in der Meditation und durch ,ordnendes Nachdenken‘ genannte introspektive Reflexion. Das ist möglich, da sie als das Bewusstsein des Meditierenden oder Nachdenkenden sich selbst unmittelbar zeigt, und zwar vor allem dann, wenn der Geist durch Meditation zur Ruhe gekommen und die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben ist, oder die Vielheit durch Nachdenken als unwirklich erkannt wurde. Dieses Paradoxon von einer Wirklichkeit, die zwar absolut transzendent ist, jenseits von Sprache und Denken, oder besser vor jedem Sprechen und Denken, aber dennoch von besonders befähigten Menschen ,erfahren‘ oder ,erkannt‘ werden kann, wird in der PD mit verschiedenen Theorien über die Erfahrbarkeit des Nicht-Erfahrbaren umkreist und es ist der Hintergrund, vor dem diejenigen, die dieses Wissen und diese Erfahrung besitzen, eine besondere Qualität zu haben scheinen, die man als ,Heiligkeit‘ bezeichnen kann.

HEILIGKEITSKONZEPTIONEN IM SPÄTKAISERZEITLICHEN CHINA Die Drachenkönige (longwang) im Spiegel zweier Werke der traditionellen Literatur Andreas Berndt

EINLEITUNG Eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Beijings ist der als Sommerpalast bekannte Yiheyuan1 頤和園 in der Nähe der im Norden gelegenen Berge. Dieser wurde während der letzten Kaiserdynastie angelegt, um der kaiserlichen Familie in der Hitze des Sommers eine kühle Residenz an einem künstlich angelegten See zu verschaffen. In der Mitte des Sees befindet sich eine kleine Insel mit einem ebenso kleinen, fast unscheinbaren Tempel. Eine Tafel am Eingang informiert über dessen Namen: Guangrun Lingyu Ci 光潤靈雨祠2 oder Temple of Timely Rains and Extensive Moisture wie die englische Übersetzung darunter aussagt. Man kann den Tempel entweder über eine Brücke, welche auf die Insel führt, oder über einen nahe gelegenen Bootsanleger erreichen. Betritt man dann sein ummauertes Gelände durch das Eingangsportal, so gelangt man zunächst auf einen kleinen, mit mehreren Bäumen bestandenen Hof, an dessen hinterer Mauer sich die eigentliche, mit gelben Dachziegeln3 gedeckte Tempelhalle befindet. Auch diese ist von eher bescheidener Größe und schlichter Ausstattung. In ihrem Innenraum befindet sich in zentraler Position eine Statue der verehrten Gottheit. Es handelt sich um einen Drachenkönig. Im Allgemeinen nennt man den Tempel daher auch nur longwangmiao 龍王廟, Tempel des Drachenkönigs. Dieser thront in herr1

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Die Transkription chinesischer Begriffe erfolgt im Wesentlichen nach dem heute üblichen System des Hanyu Pinyin 漢語拼音, wobei aus Gründen der Einfachheit auf die Tonzeichen verzichtet wurde. Für den Fall von Begriffen aus dem Sanskrit richtet sich die Schreibung dieser nach William Edward SOOTHILL/Lewis HODOUS, A Dictionary of Chinese Buddhist Terms. With Sanskrit and English Equivalents and a Sanskrit-Pali Index, Richmond 1995. Zu Tempeln in Beijing siehe Susan NAQUIN, Peking. Temples and City Life, 1400–1900, Berkeley 2000; zu diesem Tempel besonders 315. Der Fakt, dass es sich um gelbe Dachziegel handelt, ist bemerkenswert, da die Farbe Gelb nicht nur den Ackerboden symbolisiert (man denke nur an die gelbfarbenen Lössebenen Zentralchinas und den Gelben Fluss), sondern daher auch als Symbol des Kaisers diente. Gelbe Dachziegel waren somit in der Regel kaiserlichen Gebäuden vorbehalten. Sie mögen hier zur Anwendung gekommen sein, da sich der Tempel innerhalb einer der kaiserlichen Parkanlagen befindet.

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schaftlichem Ornat unter einem Baldachin. Davor befindet sich ein Tisch, wie er normalerweise für die Ablage von Opfergaben genutzt wird, der hier aber nur von einigen Blumensträußen geschmückt ist. Der Tempel wurde unter dem Qianlong乾隆 Kaiser im 18. Jahrhundert gebaut, um dem lokalen Drachenkönig für ein erhörtes Regengebet während einer Dürreperiode zu danken.

1 BEGRIFFSKLÄRUNG DRACHENKÖNIG Die Bezeichnung Drachenkönig beziehungsweise Drachenkönige ist eine Übersetzung des chinesischen Begriffs longwang 龍王4. Dieser konnte sowohl im Singular als auch im Plural verwendet werden und meinte je nach Kontext eine oder mehrere Gottheiten, konnte aber auch als Oberbegriff für eine ganze Kategorie von Gottheiten stehen, deren wichtigste Gemeinsamkeit ihr Bezug zu Wasser war. In dieser Hinsicht, könnte der Begriff longwang auch als eine Amtsbezeichnung innerhalb der himmlischen Bürokratie verstanden werden5. Häufig wurde ihre Funktion in dem formelhaften Ausdruck xing yun bu yu 興雲布雨 (Wolken versammeln und Regen verteilen) zusammengefasst. Tatsächlich ging ihre Funktion aber darüber hinaus und die Drachenkönige wurden nicht nur als Regengottheiten, sondern teilweise auch als Gottheiten von Gewässern, wie etwa Flüssen, Seen, Brunnen oder Meeren, verehrt. Im buddhistischen Kontext waren sie zudem in Unterwasserpalästen lebende Schutzgottheiten der heiligen Schriften sowie wichtiger buddhistischer Persönlichkeiten. Während der späten Kaiserzeit, welche die beiden Dynastien der Ming 明 (1368–1644) und Qing 清 (1644–1911) umfasst, war die Verehrung der Drachenkönige allgemein im chinesischen Kulturraum verbreitet. Historisch gesehen handelt es sich bei ihnen aber um keine originär „chinesische“ Gottheit, da sich in ihnen nicht nur schon seit dem chinesischen Altertum nachweisbare Drachenvorstellungen widerspiegeln, sondern auch indisch-buddhistische Einflüsse von nāgas beziehungsweise nāgarājas genannten Schlangengottheiten6, wie sie 4

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Die chinesische Semantik kennt keine Unterscheidung von Singular und Plural. Dies zeigt sich meist erst anhand des Kontexts, in dem ein Begriff verwendet wird beziehungsweise liegt im Ermessen des Übersetzers. In der Tat ist longwang eine relativ abstrakte Bezeichnung, hinter welcher sich Gottheiten verbergen, die mitunter durch individuelle Namen näher bezeichnet werden. So gibt es in mehreren Romanen die Gruppe der sihai longwang 四海龍王 (Drachenkönige der vier Meere), von denen jeder zusätzlich einen eigenen Namen trägt, etwa Ao Guang 敖廣 als Drachenkönig des Ostmeeres (donghai longwang 東海龍王). Andere Drachenkönige werden wiederum durch Ortsbezeichnungen näher bestimmt, zum Beispiel der Drachenkönig des Sees X, ähnlich dem Schema für eine Amtsbezeichnung der Art „Magistrat von Kreis y“. Einem analogen Schema folgen auch die Bezeichnungen für die Bodengottheit tudi 土地 beziehungsweise tudi gong 土地公 oder die Stadtgottheit chenghuang 城隍; Meir SHAHAR/Robert P. WELLER, Introduction, in: Unruly Gods. Divinity and Society in China, hg. v. Meir SHAHAR/Robert P. WELLER, Honolulu 1996, 1–36. Siehe Alice GETTY, The Gods of Northern Buddhism. Their History, Iconography and Progressive Evolution through the Northern Buddhist Countries. With a General Introduction on

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spätestens nach dem Ende der Han 漢-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) erkennbar sind. Diese kamen in mehreren buddhistischen Erzählungen und Legenden vor und fanden über die heutzutage als Seidenstraße bekannten Handelswege ihren Weg über Zentralasien bis in das Gebiet des chinesischen Kulturkreises7. Offenbar sah man gewisse Parallelen zwischen den chinesischen Drachen (long 龍) und den indischen nāgas, so dass man in Übersetzungen buddhistischer Werke, wie etwa der kanonischen Schriften, beide Begriffe gleichsetzte. Der Begriff longwang hingegen ist wohl ein Neologismus jener Zeit, um das Wort nāgarāja im Chinesischen widerzugeben. Tatsächlich sind es einige Sūtras des buddhistischen Kanons, in denen der Begriff longwang zuerst auftaucht. Wahrscheinlich findet er sich erstmals in der Übersetzung des Lotossūtras (Zhengfa Huajing 正法華經) durch Dharmarakṣa (Chinesisch Zhu Fahu 竺法護, ca. 230–316)8. Später erscheint die Figur des Drachenkönigs beziehungsweise der Drachenkönige auch außerhalb der buddhistischen Literatur. Die ältesten bekannten Erzählungen, in denen sie eine Rolle spielen, sind wohl das Zhenze dong 震澤洞 (Die Zhenze-Höhle), welches sich in der Songzeitlichen (960–1279) Sammlung Umfangreiche Aufzeichnungen der Taiping-Ära (Taiping guangji 太平廣記) findet, aber auf frühere Quellen zurückgeht9 und der Roman Die Biographie des Liu Yi10 (Liu Yi zhuan 柳毅傳) aus der Tang 唐-Dynastie (618–906)11. Spätestens in der späten chinesischen Kaiserzeit waren die Drachenkönige als Akteure vieler literarischer Werke allgemein etabliert und so finden sie sich auch in einigen der berühmtesten Stücke der chinesischen Literaturgeschichte, so etwa Die Reise nach dem Osten (Dongyouji 東遊記), ErzählunBuddhism Translated from the French of J. Deniker. Docteur ès Sciences. Illustrations from the Collections of Henry H. Getty, Oxford 1928, 171–173 und Götter und Mythen des indischen Subkontinents (Wörterbuch der Mythologie. I. Abteilung. Die Alten Kulturvölker V), hg. v. Heinz BECHERT/Hans Wilhelm HAUSSIG, Stuttgart 1984, 431–433. 7 Siehe Erik ZÜRCHER, The Buddhist Conquest of China. The Spread and Adaptation of Buddhism in Early Medieval China (Sinica Leidensia 11), 3. Aufl., Leiden 2007, 18–19. Wie Zürcher feststellt, lässt es sich nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren, wann die buddhistischen Lehren erstmals auch in China bekannt wurden. Die älteste chinesische Quelle, welche den Buddhismus erwähnt, lässt sich auf das Jahr 65 datieren, doch kann nicht ausgeschlossen werden, dass schon früher buddhistische Lehren ihren Weg nach China gefunden haben. Siehe auch Erik ZÜRCHER, Buddhism. Its Origin and Spread in Words, Maps and Pictures, Amsterdam 1962. 8 Andreas BERNDT, The Cult of the Longwang: Their Origin, Spread, and Regional Significance, in: Chinese and European Perspectives on the Study of Chinese Popular Religions, hg. v. Philip CLART, Taipei 2012, 74. Insgesamt bleibt diese Frage jedoch noch umstritten. 9 Die Erzählung findet sich schon im Liang sigong ji 梁四公記, zu Deutsch Die vier Herren der Liang-Dynastie – Übersetzung nach Monika MOTSCH, Die chinesische Erzählung. Vom Altertum bis zur Neuzeit (Geschichte der chinesischen Literatur 3), München 2003, 90. 10 Auch: Liu Yi chuan shu 柳毅傳書 (Liu Yi überbringt einen Brief). In diesem Roman spielt bereits der Drachenkönig des Jing-Flusses eine Rolle, auf den später noch einzugehen sein wird. 11 SHEN Meili 沈梅麗, Gudai xiaoshuo zhong longwang xingxiang leixinghua qianxi古代小説中龍王形象類型化淺析, Xiamen jiaoyu xueyuan xuebao 廈門教育學院 學報 Journal of Xiamen Educational College 6 (2004), 22.

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gen über die Investitur der Götter (Fengshen yanyi 封神演義), oder Die vollständige Biographie des Han Xiangzi (Han Xiangzi quanzhuan 韓湘子全傳). Zudem kann man feststellen, dass der Kult der Drachenkönige spätestens seit der Song 宋-Zeit eine Anerkennung seitens der kaiserlichen Bürokratie erfuhr, was sich beispielsweise in der Vergabe von offiziellen Titeln an Drachengottheiten, der Verleihung von Inschriften durch den Kaiser an verschiedene Tempel der Drachenkönige oder auch in der Durchführung von Opfern und Gebeten gegenüber diesen durch den Kaiser beziehungsweise seine Beamtenschaft niederschlug12.

2 FRAGESTELLUNG/VORBEMERKUNG Zwar ist der vorliegende Aufsatz Teil eines Sammelbandes, welcher insgesamt unter der Frage „Was ist sakral?“ steht, doch ist diese zu groß, um sie in der gebotenen Kürze mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit für einen ganzen Kulturkreis beantworten zu können, wie ihn China nicht nur in seinen geographischen Ausmaßen, sondern auch in seiner historischen Tiefe darstellt. Schon allein deswegen bedarf es einiger Konkretisierungen sowohl in Bezug auf den zu untersuchenden Gegenstand als auch die damit verbundenen Fragestellungen. Im Mittelpunkt des Aufsatzes stehen zwei Textauszüge aus unterschiedlichen Werken der spätkaiserzeitlichen Literatur. Anhand dieser wird exemplarisch der Frage nachgegangen, wo und wie sich in diesen Vorstellungen von dem, was man als sakral beziehungsweise heilig bezeichnen kann, widerspiegeln und welche Schlussfolgerungen man daraus hin Hinblick auf die oben genannte Frage ziehen kann. Die Beantwortung dieser Fragen steht allerdings unter dem Vorbehalt zweier wichtiger Einschränkungen: 1. Da es nicht die chinesische Religion, im Sinne einer in sich theologisch und institutionell geschlossenen Einheit gibt13, ist anzunehmen, dass es auch nicht das chinesische Konzept von Sakralität gibt. 2. Der Aufsatz nimmt zudem nur einen kleinen Ausschnitt eines überaus umfangreichen Repertoires schriftlicher Quellen in den Blick, welches für die Beantwortung der Frage „Was ist heilig?“ genutzt werden können. Dabei stünden nicht nur viele weitere schriftliche Dokumente, sondern auch eine große Zahl nicht-schriftlicher Quellen zur Verfügung, welche Beachtung verdienen. So könnten etwa Tempelanlagen, Bilder oder Statuen als materielle Quellen oder Rituale und regionale Gebräuche als nicht-materielle Quellen herangezogen werden. Je nach Quellenart jedoch ergeben sich unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Einzelbilder, welche ähnlich einem Puzzle erst zusammengesetzt werden müssten, um vielleicht ein Gesamtbild erken12 BERNDT, The Cult of the Longwang (wie Anm. 8), 75. 13 Ebenso wenig wie man einen monolithischen Begriff auf beispielsweise „das“ Christentum oder „den“ Islam anwenden kann.

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nen zu können. Dazu möchte diese Untersuchung einen Beitrag leisten. Zunächst sollen nun aber die beiden gewählten Texte in Kürze vorgestellt werden. 3 DIE TEXTE 3.1 Zum Genre Die hier untersuchten Beispieltexte entstammen beide der narrativen Literatur des spätkaiserzeitlichen China. Sie gehören damit zur Gattung der xiaoshuo 小説 („Kleines Gerede“, „Kleine Erzählungen“)14. Dieser Begriff wird häufig als „Roman“ übersetzt. Das Wort „Roman“ leitet sich vom altfranzösischen romanz ab und meint eine „in roman. Volkssprache (nicht in Latein) verfaßte Erzählung“15. In dieser Herleitung ähnelt der Begriff dem chinesischen suwen 俗文 („populäre Literatur“, „Volksliteratur“, „vulgäre Literatur“), welcher häufig der als höherwertig angesehenen gehobenen Literatur der Gelehrtenschicht gegenübergestellt wurde16. Suwen bildet eine Oberkategorie zu den xiaoshuo17: Der Begriff xiaoshuo taucht erstmalig im Werk Zhuangzi 莊子 (wörtlich: Meister Zhuang) des gleichnamigen frühdaoistischen Philosophen auf, wird aber erst in der Geschichte der Han (-Dynastie) (Hanshu 漢書), von Ban Gu 班固 (32–92) näher erläutert: Die Schule der xiaoshuo hat ihren Ursprung im Allgemeinen bei den niederen Beamten (baiguan 稗官). Das Gerede auf den Straßen, und das Gehörte in den Gassen, das, was man auf 14 Das Attribut „klein“ bezieht sich keineswegs auf den Umfang der xiaoshuo, der in einigen Fällen durchaus beträchtlich sein kann, sondern ist eher als wertender Begriff, im Sinne von „nichtig“, „unwichtig“, zu verstehen. Eberhard übersetzt den Begriff als „Novelle“: „Es wird darunter verstanden ein Schriftstück in gepflegtem Stil, in dem ein interessantes Thema behandelt wird.“ Wolfram EBERHARD, Die chinesische Novelle des 17.–19. Jahrhunderts. Eine soziologische Untersuchung (Artibus Asiae/Supplement, Supplement 9), Ascona 1948, 1. Der Begriff leitet sich wiederum vom Italienischen „novella“ ab, einem Diminutiv von novus (lateinisch „neu“) und bedeutet so viel wie „kleine Neuigkeit“, meint damit aber eine kurze Erzählung in Prosa beziehungsweise (seltener) in Versform. (Siehe Novelle, in: Brockhaus-Enzyklopädie 16 (Nos–Per), 1991, 24. 15 Roman, in: Brockhaus-Enzyklopädie 18 (Rad–Rüs und dritter Nachtrag), 1991, 508. Siehe auch: Roman, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 14, 1854–1961, 1152, http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?bookref=14,1152,47 (Stand: 07.11.2012): „[…] alt-franz. romans, in späterer nominativform romant, altengl. romant (hiervon romantisch), it. ro-manzo (hierzu veraltet romanzisch) bezeichnet eigentlich eine erzählung in der romanischen volkssprache im gegensatz zum latein, ursprünglich diese sprache selbst, wie mlat. romanus, romancium, romancia.“ 16 YANG Jialuo, 楊家駱, Zhongguo suwenxue 中國俗文學, Taibei 臺北 1995, 1: „suwenxue jiu shi tongsu de wenxue, ta yu dianya wenxue shi duite de mingcheng 俗文學就 是通俗的文學,牠與典雅文學是對特的名稱.“ (Vulgärliteratur, das ist die ge-meine, populäre Literatur; sie ist das Gegenteil der gehobenen Literatur.) Unter der ge-hobenen Literatur verstand man unter anderem die Werke der (offiziellen) Geschichts-schreibung, Philosophie, Lyrik. 17 Ebd., 2–3.

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Andreas Berndt den Wegen vernimmt und auf den Pfaden spricht, das alles ist es, aus dem sie geschaffen wurde18.

Die Gattung lässt sich in weitere Unterkategorien gliedern, von denen an dieser Stelle aber nur die hier relevanten zhiguai xiaoshuo 志怪小説 („Kleine Erzählungen über Außergewöhnliches“) und zhanghui xiaoshuo 章回小説 („Kleine Erzählungen in Abschnitten und Kapiteln“) Erwähnung finden sollen. Erstere stellen die älteste Form der xiaoshuo dar, wohingegen letztere für die Zeit der Ming- und Qing-Dynastie allgemeinhin als Höhepunkt der xiaoshuo-Literatur angesehen werden. Auf die vor allem in der späten Kaiserzeit populären zhanghui xiaoshuo (auch changpian xiaoshuo 長篇小説 [„Kleine Erzählungen von längerem Umfang“]) soll nur kurz eingegangen werden. Bei ihnen handelt es sich, wie der Name schon andeutet, um umfangreichere literarische Werke von sehr heterogenem Inhalt, welche entweder in der chinesischen Schriftsprache (wenyan 文言) der Beamtenelite oder bereits in der Umgangssprache (baihua 白話) abgefasst wurden19. Sie wurde aufgrund ihrer Länge in Abschnitte und Kapitel eingeteilt und entsprechen damit im Wesentlichen den Romanen der westlichen belletristischen Literatur. Die zhanghui xiaoshuo sind zumeist in Prosa geschrieben, wurden aber gerne auch um lyrische Teile bereichert, wobei diese in der Regel nicht handlungstragend sind, sondern eher der literarischen Ausgestaltung des Werkes dienen und gleichzeitig die hohe Bildung des Autors belegen sollen20. Unter dem Begriff zhiguai xiaoshuo versteht man novellenartige Geschichten von kurzer bis mittlerer Länge, welche über Personen, Phänomene und Ereignisse berichten, die im Allgemeinen als wahr dargestellt, aber als seltsam und außergewöhnlich angesehen werden21. Insofern ähneln sie zu einem gewissen Grad den 18 BAN Gu 班固, Hanshu 漢書, 1, yiwenzhi 藝文志 10. (Reprint: [Han 漢] BAN Gu 班固, Hanshu 漢書. Mit Kommentaren von Yan Shigu 顏師古. Beijing 北京 1962/1992, 1745): „xiaoshuojia zhe liu, gai chu yu baiguan. Jie tan xiang yu, dao ting tu shuo zhe zhi suo cao ye. 小說家者流,蓋出於稗官。街談巷語,道聽塗說者之所造也“ 19 Für einen kurzen Überblick zum chinesischen Roman siehe Fritz GRUNER/Eva MÜLLER, Roman, in: Lexikon der chinesischen Literatur, hg. v. Volker KLÖPSCH/Eva MÜLLER, München 2004, 259–261 sowie Eva MÜLLER, Xiaoshuo, in: Lexikon der chinesischen Literatur, hg. v. Volker KLÖPSCH/Eva MÜLLER, München 2004, 350–351. 20 Die Romanliteratur wurde trotz aller Beliebtheit, der sie sich vermutlich erfreute, als niederes literarisches Sujet betrachtet, wohingegen Lyrik schon seit dem Altertum als eine hohe Kunst angesehen wurde, deren Beherrschung von jedem Gelehrten und Beamten, der etwas auf sich hielt, vorausgesetzt wurde. Vgl. Helwig SCHMIDT-GLINTZER, Geschichte der chinesischen Literatur. Die 3000jährige Entwicklung der poetischen, erzählenden und philosophisch-religiösen Literatur Chinas von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bern 1990, 212. 21 „The term chih-kuai means something like ‚describing anomalies‘. Since the Ming Dynasty it has been used to designate a genre of tales and notices that focus on fantastic men, fantastic places, and fantastic events.“ – Kenneth DEWOSKIN, The Six Dynasties Chih-kuai and the Birth of Fiction, in: Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays. Revisions and Rewritings of Papers Originally Presented at the Princeton Conference on Chinese Narrative Theory Held at Princeton University on January 21 and 22, 1974, hg. v. Andrew H. PLAKS, Princeton, NJ u. a. 1977, 22. Zum Genrecharakter der zhiguai-Erzählungen siehe das zweite Kapitel „Anomaly Accounts in Early Medieval China: Genre and Texts“, in: Robert Ford

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Sagen und Legenden in der europäischen Literatur. Die historischen Ursprünge der zhiguai-Literatur können mit einiger Sicherheit in der historiographischen Literatur der Han-Dynastie gesehen werden. Über die Bedeutung der zhiguai im Kontext der chinesischen Literaturgeschichte, gerade auch für den Entstehungszeitraum des Genres im 3. bis 7. Jahrhundert, gehen die Meinungen allerdings stark auseinander. Während eine Forschungsrichtung (u. a. Kenneth deWoskin) in ihnen die Anfänge fiktionaler Literatur in China sieht22, wird dies von anderer Seite (u. a. Robert Ford Campany) vehement bestritten und vielmehr behauptet, dass die Autoren beziehungsweise Kompilatoren von zhiguai-Werken, diese Erzählungen keineswegs im Sinne eines conscious fictionalizing (Begriff von deWoskin23) betrieben hätten. Stattdessen würden diese Geschichten und Erzählungen in hohem Maße die religiösen Vorstellungen der Zeit widerspiegeln und können daher als eine wichtige religionshistorische Quelle herangezogen werden24. In seinem Werk Strange Writing wendet sich Campany ausdrücklich

CAMPANY, Strange Writing. Anomaly Accounts in Early Medieval China (SUNY Series in Chinese Philosophy and Culture), Albany, NY 1996, vor allem 21–32. Außerdem: Laura Hua WU, From Xiaoshuo to Fiction. Hu Yinglin’s Genre Study of Xiaoshuo, Harvard Journal of Asiatic Studies 55 (1995), 339–371 und Ming Dong GU, Chinese Theories of Fiction. A NonWestern Narrative System (SUNY Series in Chinese Philosophy and Culture), Albany, NY 2006, vor allem Kapitel 2 „The Nature of Chinese Fiction“. 22 So schreibt etwa DEWOSKIN: „The writing of many chih-kuai authors show a comfortable familiarity with the local culture, which prompts the notion that they were mediating intellectuals between the imported high culture of the Chin court and the indigenous southern ones to which they were bound by family ties. This then was an ideal time and these men were the ideal men for a revitalization (or rebarbarization) of the Chinese narrative tradition. The massive infusion of folk, possible oral, materials here – what might be called the substance of a subliterary genre of narrative – could have been the conception of a new literary genre, if one calls the chih-kuai the birth of fiction.“ (Kenneth DEWOSKIN, The Six Dynasties Chih-kuai and the Birth of Fiction, in: Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays. Revisions and Rewritings of Papers Originally Presented at the Princeton Conference on Chinese Narrative Theory Held at Princeton University on January 21 and 22, 1974, hg. v. Andrew H. PLAKS, Princeton, NJ u. a. 1977, 36.) Und weiter heißt es: „In short, writers were freed to indulge in the conscious fictionalizing that is the distinct feature of late Six Dynasties chih-kuai and the T’ang ch’uan-ch’i.“ – Ebd., 49. Das heißt, deWoskin setzt die Entstehung fiktionaler Literatur bevorzugt bei der zhiguai-Literatur der Sechs Dynastien an, obwohl diese Zuordnung stark davon abhängt, was man tatsächlich unter „fiktional“ versteht. (Vgl. ebd., 23.) Tatsächlich gibt es schon sehr viel ältere Spuren von Fiktion in der chinesischen Literatur, auch wenn dies von den jeweiligen Autoren nicht so intendiert war. (Ebd., 25): „The simplest definition of fiction – something made up or imagined – obliges us to consider the process by which a work came into existence, rather than its content, to be of germinal importance.“ DeWoskin zieht dabei eine Entwicklungslinie, welche von der historiographischen Literatur der HanZeit, über die zhiguai-Literatur der Sechs Dynastien und die chuanqi 傳奇 der Tang und Song bis hin zu den Romanen der Ming und Qing reicht, auf die später noch näher einzugehen ist. 23 Ebd., 49. 24 Vgl. Robert Ford CAMPANY, Ghosts Matter. The Culture of Ghosts in Six Dynasty Zhiguai, Chinese Literature: Essays, Articles, Reviews (CLEAR) 13 (1991), 15–34. Das heißt laut Campany haben zhiguai-Geschichten zunächst einmal einen Quellenwert für die Erforschung religionshistorischer Fragestellungen, da sie einerseits bestimmte religiöse Vorstellungen (in

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und mit überzeugenden Argumenten gegen die von deWoskin und anderen vertretene Meinung. Für ihn bedeuten die zhiguai-Erzählungen der Zeit der Sechs Dynastien (220–589) (aus mehreren Gründen) keineswegs ein conscious fictionalizing25, sondern „compilations of items drawn from older texts, combined with both oral and written reports of events ‚heard and seen‘ more recently“26. Weiterhin schreibt er: „these texts were purported to contain reports of actual events”27. In seinem Aufsatz History, Fiction and the Reading of Chinese Narrative28 betont Anthony C. Yu wiederum vor allem die Gemeinsamkeiten von historiographischer und fiktionaler Literatur, indem er ihren Zusammenhang als den von zwei Polen innerhalb der chinesischen (narrativen) Literatur sieht, deren Grundlage darin bestünde, dass beide auf (mündlich oder schriftlich überlieferter) Sprache beruhen, durch die sie Ereignisse schildern und interpretieren, die entweder als real oder als nicht-real angesehen wurden. Dabei müsse die Trennlinie von real und nicht-real beziehungsweise zwischen Historiographie und Fiktion als ein durchaus fließender Übergang betrachtet werden. Gemeinsamkeiten sieht Yu nicht nur auf inhaltlicher Ebene, etwa der Beachtung ähnlicher Themen, wie dem Übergang zwischen verschiedenen Kaiserdynastien29, sondern auch auf intentionaler Ebene, etwa der moralischen Belehrung, welche historiographische und fiktionale Werke ebenso verbindet, wie auch das Bestreben, aufgrund eines zyklischen Geschichtsverständnis, aus den Gegebenheiten der Vergangenheit Rückschlüsse auf gegenwärtige und zukünftige Ereignisse schließen zu können. Ungeachtet aber, ob man die zhiguai-Erzählungen nun als den Anfang der fiktionalen Literatur in China oder aber als Berichte über Gegebenheiten ansieht, welche als real geglaubt wurden, soll die Analyse der folgenden beiden Texte von der Überlegung ausgehen, dass jedes literarische wie auch künstlerische Werk stets auch einen gewissen Informationsgehalt über die Zeit beziehungsweise den Zeitraum seiner Entstehung aufweist30. Dabei ist zu beachten, dass manche literarischen Werke über einen sehr langen Zeitraum entstanden sein können, diese also mitunter nicht als Quelle für die Zeit ihrer ersten Veröffentlichung in Schriftform verwendet werden können, sondern vielmehr Gegebenheiten aus noch

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seinem Fall bezogen auf Geistervorstellungen) widerspiegeln, andererseits aber sogar aktiv an der Ausgestaltung dieser mitwirkten. Siehe Robert Ford CAMPANY, Strange Writing. Anomaly Accounts in Early Medieval China. (SUNY Series in Chinese Philosophy and Culture) Albany, NY 1996, 156–159. Ebd., 158. Ebd., 158. Anthony C. YU, History, Fiction and the Reading of Chinese Narrative, Chinese Literature: Essays, Articles, Reviews (CLEAR) 10 (1988), 1–19. Es sei vor allem auf Teil I des Aufsatzes (1–8) verwiesen. Insgesamt spielen historische Themen innerhalb der fiktionalen Literatur Chinas eine große Rolle. Siehe auch die Einschätzung Schmidt-Glintzers: „Die zhiguai-Texte als kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges gewähren uns nicht nur Einblicke in Sitten und Gebräuche, in Glaubensvorstellungen und lokale Mythen, sondern sie berichten uns auch von der materiellen Kultur jener Zeit.“ – Helwig SCHMIDT-GLINTZER, Geschichte der chinesischen Literatur (wie Anm. 20), 218.

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viel früheren Zeitperioden widerspiegeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn etwa in einem Roman – wie im Folgenden bei Die Reise nach dem Westen – in großer Zahl volkstümliche Erzählungen verarbeitet wurden, deren genaue Entstehungszeit sich nicht mehr oder nur noch vage ermitteln lässt.

3.2 Autoren und Inhalt 3.2.1 Die Reise nach dem Westen Das Buch Aufzeichnungen über die Reise nach dem Westen (Xiyouji 西遊記; im Folgenden Die Reise nach dem Westen)31 von Wu Cheng’en 吳承恩32 gehört zu den bedeutendsten Romanen (zhanghui xiaoshuo) der chinesischen Literaturgeschichte. Die älteste bekannte Druckausgabe stammt aus dem Jahr 1592. Es handelt von der Reise des Mönches Tang Seng 唐僧 und seiner Begleiter, dem Affenkönig Sun Wukong 孫悟空, dem schweinsköpfigen Zhu Bajie 豬八戒 sowie Sha Wujing 沙悟凈 (auch Sha Seng 沙僧) nach Indien, wo sie im Auftrag des Kaisers der Tang-Dynastie, Tang Taizong 唐太宗 (599–649, Regierung ab 626), buddhistische Schriften an dessen Hof holen sollen. Unterwegs erleben Tang Seng und seine Begleiter viele Abenteuer, welche sie vor allem durch die List und Stärke Sun Wukongs bestehen können. Die hier untersuchte Erzählung findet sich in den Kapiteln neun und zehn von Die Reise nach dem Westen und beschreibt die Vorgeschichte für die weitere Handlung des Romans33. Im Mittelpunkt stehen aber nicht die gerade genannten 31 Eine vollständige Übersetzung des Romans gibt es von Anthony C. YU, Cheng’en Wu, The Journey to the West. Translated and edited by Anthony C. YU, Chicago u. a. 1977–1983. Zudem gibt es mehrere Teilübersetzungen und Nacherzählungen in verschiedenen westlichen Sprachen. Eine ebenfalls vollständige Übersetzung findet sich unter: http://www.chine-informations.com/fichiers/jourwest.pdf (Stand: 29.05.13). 32 Die Reise nach dem Westen wird allgemeinhin dem Ming-zeitlichen Schriftsteller Wu Cheng’en (zi 字: Ruzhong 汝忠; hao 號: Sheyang Shanren 射陽山人) zugeschrieben. Seine Lebensdaten lassen sich nicht mehr genau festlegen. Wahrscheinlich wurde er 1506 in Huaian 淮安, Provinz Jingsu 江蘇, geboren, wo er auch um 1582 verstarb. Wu Cheng’en genoss zwar eine literarische Ausbildung, hatte aber keinen Erfolg bei den Provinzprüfungen in Nanjing 南京. Dennoch konnte er sich einen guten literarischen Ruf erarbeiten und war mehrere Jahre als angesehener Schriftsteller, Herausgeber und Kompilator in Nanjing und Huai’an tätig. Später lebte er auch einige Zeit in Beijing und verbrachte mehrere Jahre als Vizemagistrat in Changxing 長興, Provinz Zhejiang 浙江. Seine zahlreichen Werke blieben lange Zeit weitgehend unbeachtet. Erst die Zuschreibung der Autorenschaft für Die Reise nach dem Westen durch den berühmten Philologen Hu Shi 胡適 (welche bis heute aber zum Teil bezweifelt wird) machte ihn zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der chinesischen Literaturgeschichte. Vgl. LIU Ts’un-yan, WU Ch’eng-en, in: Dictionary of Ming Biography 1368–1644, hg. v. L. Carrington GOODRICH/Chao-ying FANG, New York/London 1976, 1479–1483. 33 Die Kapitelzählung ist an dieser Stelle etwas unübersichtlich. Zwar haben die verschiedenen Ausgaben Die Reise nach dem Westen in der Regel 100 Kapitel, jedoch fehlt in der ersten erhaltenen Ausgabe von 1592 ein Kapitel, welches in späteren Ausgaben enthalten ist. Daher ist

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Protagonisten, sondern vor allem der Drachenkönig des Jing-Flusses34, Jinghe longwang 涇河龍王 einerseits und ein Wahrsager aus der Hauptstadt Chang’an 長安 sowie Tang Taizong und sein Kanzler Wei Zheng 魏徵35 andererseits. Durch einen Zufall erfuhr der Drachenkönig des Jing-Flusses von dem Wahrsager, dessen Orakel einem Fischer stets verraten, wo sich in dem vom Drachenkönig beherrschten Fluss gerade die besten Fanggründe befinden. Erbost begibt sich der Drachenkönig zu dem Wahrsager und schließt eine Wette ab. Falls dieser es nicht schaffen sollte, die exakte Zeit und Menge für den Regen am Folgetag vorauszusagen, wolle der Drachenkönig ihn aus Chang’an vertreiben. Der Wahrsager geht auf die Abmachung ein und erstellt seine Vorhersage. Kurz darauf erhält der Drachenkönig aber einen Befehl des Jadekaisers, Yudi 玉帝, es genau in der vorhergesagten Weise regnen zu lassen. Der Drachenkönig sieht sich daher schon als Verlierer der Abmachung und manipuliert Zeit und Menge des Niederschlags. Dadurch hat er sich jedoch gegen die Ordnung des Himmels vergangen und soll hingerichtet werden. Verzweifelt begibt er sich zum Kaiser Tang Taizong und bittet um Gnade. Doch auch dieser kann letztendlich den Drachenkönig nicht retten. Zwar versucht er, Wei Zheng für den geplanten Zeitpunkt der Hinrichtung mit einem Brettspiel abzulenken, doch fällt dieser in einen plötzlichen Schlaf und nimmt dabei im Traum tatsächlich die Enthauptung des Drachenkönigs vor36. In der Folgezeit sucht der nun tote Drachenkönig den Kaiser als die Zugehörigkeit dieses Kapitels zur nicht mehr erhaltenen Originalversion des Romans umstritten und es ergeben sich außerdem Verschiebungen in der Nummerierung der einzelnen Kapitel. Siehe dazu: HUANG Suqiu, 黃肅秋, Lun Xiyouji de di jiu hui wenti 論西遊記的第九回問題, in: Xiyouji yanjiu lunwen ji 西遊記研究論文集, hg. v. Zuojia chubanshe bianji bu 作家出版社编辑部, Beijing 北京 1957, 172–177; Glen DUDBRIDGE, The Hundred-Chapter Hsi-yu chi and Its Early Versions, Asia Major, n.s. 14 (1969), 141–191 und Anthony C. YU, Narrative Structures and the Problem of Chapter Nine in the “Hsi-Yu Chi“, The Journal of Asian Studies 34 (1975), 295–311. 34 Der Jing-Fluss (chinesisch Jinghe 涇河) gehört zum hydrologischen System des Gelben Flusses (chinesisch Huanghe 黃河). Er ist circa 455 km lang und entspringt im heutigen Autonomen Gebiet Ningxia 寧夏. Von dort fließt er in südliche Richtung durch die Provinz Gansu 甘肅, um dann in der Provinz Shaanxi 陝西 nahe Xi’an 西安, dem früheren Chang’an, in den Wei-Fluss (chinesisch Weihe 渭河), einem Nebenfluss des Gelben Flusses, zu münden. 35 Wei Zheng (581–643) war ein enger Vertrauter des Kaisers Tang Taizong, dessen moralische Integrität immer wieder hervorgehoben wurde. Für eine kurze Biographie siehe: Herbert Allan GILES, A Chinese Biographical Dictionary. London, Shanghai 1898, 856–857. In Howard J. WECHSLER, T’ai-tsung (Reign 626–49) the Consolidator, in: Sui and T’ang China, 589–906. Part I (The Cambridge History of China 3), hg. v. Denis TWICHETT, Cambridge 1979, 197–198 heißt es zu ihm: „Wei Cheng’s function at court was that of the incorruptible, unrelenting conscience, a restraint on imperial power. He was a symbol of the deep mutual trust between ruler and minister and the frank exchange of blunt advice which came to characterize the political climate of T’ai-tsung’s court. His great reputation among scholars and officials of later ages surely derives from his role, so compatible with their own interests and values.“ Es kann vermutet werden, dass dieser Ruf Wei Zhengs dazu beigetragen hat, ihn später mit der Hinrichtung des sündigen Drachenkönigs in Verbindung zu bringen. 36 Träume als ein Weg zur Kommunikation und Mediation zwischen den Bereichen des Irdischen und des Transzendenten sind ein wichtiges Motiv innerhalb der chinesischen Literatur. Siehe dazu auch Judith T. ZEITLIN, Historian of the Strange. Pu Songling and the Chinese

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Dämon, gui 鬼, heim und verlangt Wiedergutmachung. Erst das Eingreifen des Bodhisattvas Guanyin 觀音 (Avalokiteśvara) vermag es, den Drachenkönig in die Unterwelt zu verbringen, und so den Kaiser vor weiteren Heimsuchungen zu bewahren. Im darauffolgenden Kapitel wird beschrieben, wie der Kaiser Tang Taizong in die Unterwelt reist. Der Drachenkönig hatte nämlich gegen ihn Anklage vor dem Yama-Fürst, dem Herren der Unterwelt, erhoben. Nach seiner Rückkehr ins Diesseits beschließt Tang Taizong, einen Mönch nach Indien zu schicken, um buddhistische Schriften zu holen, mit deren Hilfe der Kaiser Rituale durchführen möchte, um das Los der Verstobenen in der Unterwelt zu erleichtern. Alsdann entsendet er den Mönch Tang Seng, womit die eigentliche Reise nach dem Westen beginnt.

3.2.2 Luocha Haishi Die zweite Erzählung stammt aus den Niederschriften von Außergewöhnlichem aus dem Liao-Studio (Liaozhai zhiyi 聊齋志異)37 von Pu Songling 蒲松齡38, eine der bekanntesten Sammlungen von zhiguai-Erzählungen. Classical Tale, Stanford, Calif. 1993, 132–181 (= Kapitel 2 „Dreams“); Wolfram EBERHARD, Chinesische Träume und ihre Deutung (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 14), Mainz u. a. 1971 und Michael LACKNER, Der chinesische Traumwald. Traditionelle Theorien des Traumes und seiner Deutung im Spiegel der ming-zeitlichen Anthologie Meng-lin hsüan-chieh (Europäische Hochschulschriften 27), Frankfurt am Main u. a. 1985. 37 Das Liaozhai zhiyi wurde mehrfach übersetzt. Eine der ersten Übersetzungen stammt von Herbert Allan GILES, Strange Stories from a Chinese Studio, 2. Aufl., Shanghai u. a. 1908. Die Übersetzung ist in zwei Bänden inzwischen online abrufbar: http://archive.org/details/strangestoriesf01gilegoog und http://www.archive.org/details/strangestoriesf00gilegoog (Stand: 29.05.2013). Eine vollständige, insgesamt fünf Bände umfassende, deutsche Übersetzung stammt von Gottfried Rösel: PU Songling/Gottfried RÖSEL, (Übers.), Umgang mit Chrysanthemen. 81 Erzählungen der ersten vier Bücher aus der Sammlung Liao-dschai-dschi-yi. Zürich 1987; PU Songling/Gottfried RÖSEL, (Übers.), Zwei Leben im Traum. 67 Erzählungen der Bände fünf bis acht aus der Sammlung Liao-dschai-dschi-yi. Zürich 1989; PU Songling/Gottfried RÖSEL, (Übers.), Besuch bei den Seligen. 86 Erzählungen der Bände neun bis zwölf aus der Sammlung Liaodschai-dschi-yi. Zürich 1991; PU Songling/Gottfried RÖSEL, (Übers.), Kontakte mit Lebenden. 109 Erzählungen der letzten beiden Bücher sechzehn und siebzehn aus der Sammlung Liao-dschai dschi-yi; mit dem ausführlichen Überblick über die Sachthemen des Gesamtwerks, Zürich 1992; PU Songling/Gottfried RÖSEL, (Übers.), Schmetterlinge fliegen lassen. 158 Erzählungen der Bände dreizehn bis fünfzehn aus der Sammlung Liao-dschai-dschiyi, Zürich 1992. 38 Pu Songling (zi: Liuxian 留仙, Jianchen 劍臣; hao: Liuquan 柳泉, Liaozhai 聊齋) wurde 1640 in Zichuan 淄川, Provinz Shandong 山東, dem heutigen Zibo 淄博, geboren, wo er auch 1715 verstarb. Zeit seines Lebens hat er die Region, abgesehen von wenigen kürzeren Aufenthalten etwa in Jiangsu, wohl kaum verlassen. Im Jahr 1658 bestand er die niedrigste Stufe der Beamtenprüfungen. Er erhielt dadurch den Titel xiucai 秀才 („Lizentiat“), war damit aber noch nicht berechtigt, einen Beamtenposten zu übernehmen. Erst kurz vor seinem Tode konnte er eine kleinere Beamtenanstellung übernehmen. In den folgenden Prüfungs-

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Sie trägt den Titel Die rākṣasa und der Meeresmarkt (Luocha Haishi 羅刹海市) und behandelt im Kern ein sehr häufiges Motiv der chinesischen Märchen39. Im Mittelpunkt steht Ma Ji 馬驥, der Sohn eines Kaufmanns, der während einer Seereise in einen Sturm gerät und schließlich in einem fremden Land strandet. Es ist das Reich der rāk asa, dämonenhafter Wesen, welche nach chinesischer Ansicht im alten Indien lebten. Dieses erscheint Ma Ji äußerst fremd und ungewöhnlich. Er lebt eine Weile im rāk asa-Reich, wird aber nicht heimisch. Schließlich erfährt er von einem geheimnisvollen Meeresmarkt, auf dem sogar Gottheiten von überall her zusammenkommen und Handel treiben. Von Neugier gepackt macht sich Ma Ji auf die Reise dorthin. Hier erregt er aufgrund seines Aussehens die Aufmerksamkeit des zufällig vorbeireitenden Dritten Kronprinzen des Östlichen Ozeans und wird von diesem in den Unterwasserpalast seines Vaters, dem Drachenkönig, mitgenommen. Ma wird freundlich empfangen und schließlich mit einer Tochter des Drachenkönigs verheiratet, nachdem er durch seine musischen Begabungen die Gunst des Königs erworben hat. Mit seiner neuen Ehefrau lebt er nun einige Zeit in der zauberhaften Welt des Drachenkönigs. Dennoch kommen in Ma langsam Heimweh und die Sehnsucht nach seinen Eltern auf. So entschließt er sich nach Hause zurückzukehren, und die Eheleute nehmen schweren Herzens voneinander Abschied, wobei Ma noch von der Schwangerschaft seiner Frau erfährt. Beide bleiben sich auch nach Mas Heimkehr treu und nach drei Jahren kommen seine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu ihm. Seine Frau sieht er jedoch trotz aller Sehnsucht nicht wieder, selbst als diese zweimal in die Welt der Menschen kommt – einmal kurz nach der Beerdigung von Mas Mutter und ein zweites Mal, um ihre gemeinsame Tochter für eine zukünftige Ehe auszustatten.

stufen fiel er immer wieder durch, was aber weniger auf mangelhafte Begabung als vielmehr auf das starre Prüfungssystem zurückzuführen war. Er war daher gezwungen durch Anstellungen als Privatsekretär, Hauslehrer und Schriftsteller zu arbeiten, um so wenigstens ein bescheidenes Einkommen zu erzielen. Außerdem widmete er sich schon frühzeitig der Sammlung von zhiguai-Geschichten, welche er in seinem Werk Liaozhai zhiyi zusammenfasste. Pu Songling ließ sich dabei von den zhiguai-Sammlungen aus der Zeit der Sechs Dynastien, so etwa dem Soushenji 搜神記 (Aufzeichnungen über die Suche nach den Geistern) von Gan Bao 干寳 (4. Jahrhundert), und den Schriften von Su Shi 蘇軾 (1036–1101, auch Su Dongpo 蘇東坡) inspirieren. Er schloss das Liaozhai zhiyi eventuell 1679 ab, doch kursierten vorerst nur Abschriften des Manuskripts. Erst nach seinem Tod gab es eine gedruckte Ausgabe, wodurch Pu Songling zu postumer Berühmtheit gelangte. (Vgl. Chao-ying FANG, Pu Sung-ling, in: Eminent Chinese of the Ch’ing Period [1644–1912], hg. v. Arthur W. HUMMEL, Taipei 1991, 628–630). 39 Siehe Boris RIFTIN, Volksmärchen, in: Das große China-Lexikon. Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur, hg. v. Brunhild STAIGER/Stefan FRIEDRICH/Hans-Wilm SCHÜTTE, Darmstadt 2008, 827. Bei diesem, speziell im Zaubermärchen verbreiteten Motiv, geht es im Wesentlichen darum, dass ein Sterblicher Zugang zum Drachenkönig und schließlich dessen Tochter zur Frau erhält. Vgl. auch Wolfram EBERHARD, Typen chinesischer Volksmärchen (Folklore Fellows Communications 120 [=Vol. 50,1]), Helsinki 1937, 64–70, da es einige Parallelen zu seinem Motiv Nr. 39 („Der Drachenkönig erfüllt einen Wunsch“) gibt.

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4 ANALYSE40 4.1 Überlegung zur Methodik Der Begriff Sakralität hat seine Ursprünge im Lateinischen und ist von hoher Bedeutung für das christlich-abendländische Verständnis von Religion beziehungsweise Religionen41. Möchte man den Begriff aber an einen Gegenstand aus einem anderen sprachlichen und kulturellen Umfeld herantragen, so ist dies nicht ohne Weiteres möglich42. Zwei methodische Wege sind denkbar. Zum einen kann man versuchen, auf semantischer Ebene Begriffe zu finden, welche eine Entsprechung zum Ausgangsbegriff aufweisen. So kämen in Bezug auf Sakralität etwa die chinesischen Zeichen shen 神, sheng 聖 und ling 靈 in Betracht43. Sie drücken alle Konzepte aus, welche unseren Vorstellungen von Sakralität mehr oder weniger entsprechen. Man könnte sie also nutzten, um die Worte „Sakralität“ beziehungsweise „sakral“ zu übertragen. Anhand der verschiedenen Möglichkeiten kann man aber schon ersehen, dass eine hundertprozentige Übersetzung des Sakralitätsbegriffs auf diese Weise nicht möglich ist. Es ergeben sich vielmehr eine gewisse Schnittmenge von Übereinstimmungen aber auch Abweichungen zum westlichen Verständnis von Sakralität. Eine andere Möglichkeit zur Nutzung westlicher Begriffe für das Studium nicht-westlicher Kulturen ist es, auf einer narrativen Ebene Elemente zu suchen, in denen sich unserem Verständnis von Sakralität entsprechende Vorstellungen widerspiegeln. Dazu muss man sich über die Bedeutung des Ausgangsbegriffs aber einigermaßen im Klaren sein44, um dann schauen zu kön40 Die im weiteren Verlauf angeführten Zitate aus Die Reise nach dem Westen beziehungsweise aus Die rākṣasa und der Meeresmarkt beruhen auf eigenen Übersetzungen des Autors. Dabei wurden folgende Ausgaben der Originaltexte zugrunde gelegt: (Ming 明) WU Cheng’en, 吳承恩, Xiyouji 西遊記. Shang 上. Beijing 北京 1992, 112–135 für Die Reise nach dem Wesen und PU Songling 蒲松龄/ZHANG Youhe, 張友鶴 (Bearb.), Liaozhai zhiyi 聊齋誌異. Huijiao huizhu huiping ben 會校會注會評本. Bd. 2, Shanghai 上海 1978, 454–465 für Die rākṣasa und der Meeresmarkt. 41 Vgl. Söderbloms berühmtes Diktum: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre Religion kann ohne bestimmte Auffassung von Gott bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘.“ (Zitiert nach: Klaus HOCK, Einführung in die Religionswissenschaft, [Einführung Theologie], 3. Aufl., Darmstadt 2008, 62.) Für eine etymologische Betrachtung des Begriffspaares sakral/profan sowie dessen Entsprechungen in verschiedenen Sprachen (unter anderem Chinesisch und Japanisch) siehe Carsten COLPE, The Sacred and the Profane, in: The Encyclopedia of Religion 11, 1993, 512–517. 42 Zum Problem beziehungsweise zur Unmöglichkeit der Übertragbarkeit des Heiligkeitsbegriffs besonders in nicht-indogermanischen Sprachen siehe Ansgar PAUS, Heilig, das Heilige. I. Religionswissenschaftlich, in: Lexikon für Theologie und Kirche IV, 1995, 1267–1268, hier: 1267 und auch die recht ausführliche Diskussion zu möglichen Äquivalenten in verschiedenen Sprachen in COLPE, The Sacred and the Profane (wie Anm. 41), 512–517. 43 Siehe COLPE, The Sacred and the Profane (wie Anm. 41), 517. 44 Das vielleicht wichtigste Kriterium zur Unterscheidung von Sakralem und Profanen ist das der Distanz. Sakrales zeigt sich dadurch, dass es vom Bereich des Profanen abgetrennt ist. Die Abtrennung kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen, so etwa architektonisch (durch

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nen, ob, wie und in welchem Maß die durch diesen Begriff umschriebenen Phänomene in anderen Kulturen sichtbar werden. Während erstere Methode den Vorteil hat, dass man sich in die Zielkultur hineinbegeben und diese ein Stück weit aus sich heraus verstehen kann, bietet die zweite Möglichkeit den Vorteil, auch über Konzepte nachdenken zu können, welche in der Zielkultur nicht oder nur teilweise vorhanden sind. Da beide Vorgehensweisen in keinem Widerspruch zueinander stehen, kann man sie im günstigsten Fall miteinander kombinieren.

4.2 Mögliche Begriffe des Heiligen in der chinesischen Sprache Zunächst sollen nun dem westlichen Verständnis von Sakralität möglicherweise entsprechende chinesische Konzepte analysiert werden, und dazu die drei oben genannten Begriffe in Hinblick auf ihre Bedeutung und Etymologie näher untersucht werden. Sie sind alle geeignet, den westlichen Sakralitätsbegriff zu einem gewissen Grad auf Chinesisch widerzugeben. Keiner dieser Begriffe kann aber als exakte Übersetzung dienen, so dass alle drei in den Blick genommen werden müssen, um Überschneidungen untereinander und in Bezug auf den Begriff der Sakralität zu erkennen. Es sei dazu angemerkt, dass man grundsätzlich mit jedem chinesischen Zeichen jeweils mindestens einen Laut und eine Bedeutung verbinden kann. Die meisten Zeichen sind aber Kombinationen aus mehreren anderen Zeichen beziehungsweise Zeichenelementen, wobei eines davon, das sogenannte Radikal, als Grundelement einen ungefähren Hinweis auf die Bedeutung des Zeichen gibt, während ein zweites oftmals die lautliche Färbung des Zeichens beeinflusst45. Dieses Prinzip diente schon dem Shuowen jiezi46, dem ersten erhaltenen bestimmte bauliche Gegebenheiten), rituell (durch bestimmte Handlungen) oder zeitlich (durch die Festlegung bestimmter als heiliger geltender Zeiten). 45 Einen ausführlichen Überblick über die chinesische Sprache gibt beispielsweise John DEFRANCIS, The Chinese Language. Fact and Fantasy. Honolulu 1986 (inzwischen auch in deutscher Sprache unter dem Titel Die chinesische Sprache. Fakten und Mythen, Nettetal 2011 erschienen). Eine kürzere Übersicht bietet Viviane ALLETON, Schrift, in: Das große China-Lexikon. Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur, hg. v. Brunhild STAIGER/Stefan FRIEDRICH u. Hans-Wilm SCHÜTTE, Darmstadt 2008, 651–654. So gibt es zum Beispiel das Radikal mu 木, mit der Bedeutung „Baum/Holz“. Davon abgeleitet sind wiederum viele andere Zeichen, etwa für die Bezeichnungen einzelner Baumsorten oder aber von Gegenständen, wie Tische, Stühle, Häuser, welche aus Holz hergestellt werden können. Je abstrakter ein Begriff jedoch wird, desto schwieriger lässt sich dessen Bedeutung mit dem jeweiligen Radikal in Verbindung bringen. 46 Der Titel dieses Werks lässt sich nur schwer übersetzen, weswegen folgende Anmerkungen hilfreich sein können. Beim Shuowen jiezi handelt es sich um das älteste erhaltene umfassende Wörterbuch der chinesischen Schriftsprache. Es wurde von Xu Shen 許慎 (ca. 55– ca. 149) zur Zeit der Späten Han verfasst. Die Kompilation wurde im Jahr 100 fertiggestellt, jedoch erst 21 Jahre später dem Kaiser vorgelegt. Xu Shens hauptsächliche Motivation für das Verfassen des Shuowen jiezi war vermutlich politischen Ursprungs, da nach seiner Meinung eine gute Regierung nur auf der Basis eines umfassenden Verständnis der klassischen

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Zeichenlexikon der chinesischen Sprache, als Grundlage. Bis heute ist aber die Deutung des Ursprungs vieler Zeichen noch nicht eindeutig geklärt, so dass an dieser Stelle nur der Versuch einer Etymologie der Begriffe shen, sheng, und ling unternommen werden kann47. Der erste Begriff, shen 神, besteht aus dem Radikal shi 示 (hier 礻 geschrieben) und dem lautlichen Teil shen 申48. Das Radikal kommt in zahlreichen Begriffen vor, welche sich dem religiösen Bereich zuordnen lassen. Ursprünglich verweist es wohl auf die Himmelskörper von Sonne, Mond und Sternen, deren Beobachtung zur Vorhersage von Glück und Unglück sowie dem Wechsel der Jahreszeiten diente49. Das Radikal ist in diesem Fall aber erst später dem Zeichen beigefügt worden, so dass der lautliche Bestandteil shen 申 der hier eigentlich bedeutungstragende Teil ist. Dieser wiederum ist eine Schreibvariante von dian 电 beziehungsweise später 電. Dieses Zeichen bedeutet „Blitz“ und verweist Schriften realisiert werden konnte. Das gesamte Werk ist gemäß 540 Radikalen (bushou 部首) geordnet. Darüber hinaus gibt es eine Unterscheidung der Zeichen in wen 文 und zi 字. Bei wen handelt es sich um Zeichen, welche sich nicht weiter in kleinere Einheiten zerlegen lassen, wohingegen zi aus mehreren Zeichen zusammengesetzt sind. Daher können wen auch nur kommentiert (shuo 說) werden. Zi hingegen lassen sich analysieren (jie 解), also entsprechend ihrer Bestandteile erklären. Die hier verwendete Ausgabe des Shuowen jiezi enthält Überarbeitungen und Ergänzungen aus späterer Zeit, insbesondere durch Li Yangbing 李陽冰 (floruit 765–780) und Xu Xuan 徐鉉 (916–961). – Vgl. William G. BOLTZ, Shuo wen chieh tzu 說文解字, in: Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide (Early China Special Monograph Series 2), hg. v. Michael LOEWE, Berkeley, Calif. 1993, 429–442, besonders 429 und 431. 47 An dieser Stelle danke ich sehr herzlich Dr. Gao Yong’an 高永安 vom Konfuzius-Institut Leipzig für seine freundliche Unterstützung und die zahlreichen, wertvollen Hinweise, welche die folgenden Zeilen erst ermöglicht haben. 48 Laut Shuowen jiezi liegt der Ursprung des Zeichens shen 神 gleichermaßen bei shi 示 und shen 申, ohne dass zwischen bedeutungstragendem und phonetischem Teil unterschieden wird, wie es sonst bei anderen Einträgen gemacht wird. Laut Xu Shen dürften wohl beide Bestandteil des Zeichens gleichermaßen zu dessen Bedeutung beigetragen haben. Siehe shen 神, in: Shuowen jiezi 說文解字, 1, shang 上, shi bu 示部. (Reprint: [Han 漢] XU Shen 許慎, Shuowen jiezi 說文解字. Fu jian zi 附檢字. Beijing 北京 1963, 8) Das Zeichen gehört auch daher zur Kategorie sogenannter huiyi 會意 (Zeichen, bei denen mindestens ein Bestandteil sowohl phonetische als auch semantische Informationen beinhaltet; siehe William G. BOLTZ, Shuo wen chieh tzu 說文解字, in: Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide. [Early China Special Monograph Series, 2], hg. v. Michael LOEWE, Berkeley, Calif. 1993, 432.) Vgl. Hanzi yuanliu zidian 漢字源流字典, hg. v. GU Yankui 穀衍奎, Beijing 北京 2008, 954–955. 49 Shen 神 (wie Anm. 48). Der obere Teil des Zeichen er 二 ist laut Shuowen jiezi eine alte Variante für shang 上, „oben“, wohingegen die drei unteren Striche, welche dem Zeichen xiao 小 ähneln, als die drei am „Oben“, das heißt am Himmel, hängende Himmelskörper gedeutet werden. Nach einer anderen Deutung ist das Zeichen aus einem Piktogramm entstanden, welches heilige Steine darstellt, die im Altertum den Ort kultischer Handlungen markierten beziehungsweise selbst Objekte kultischer Verehrung waren. (CHENG Yuzhen, 稱裕禎, Zhongguo wenhua yaolüe中國文化要略. 2. Aufl., Beijing 北京 2005, 69.) Diese guanshi 冠石 genannten Steine bestehen aus drei Tragesteinen, welche eine Art Füße für einen oben aufgelegten vierten Deckstein bildeten und somit ein wenig manchen Dolmenformationen der europäischen Megalithkultur ähneln. Vgl. HANDIAN 漢典 Zdic.net, guanshi 冠石, http://www.zdic.net/cd/ci/9/ZdicE5Zdic86ZdicA081951.htm (Stand: 09.05.2013).

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somit auf eines der Naturphänomene, welche für die Menschen des Altertums nicht nur eine gewisse furchteinflößende Faszination ausstrahlten50, sondern auch nur schwer zu erklären waren und zudem offenbar mit dem Himmel in Verbindung stehen mussten. Daher war das Zeichen gut geeignet, um als übernatürlich51 empfundene Phänomene zum Ausdruck zu bringen. Durch den Zusatz von Radikalen konnte die Bedeutung von dian später konkreter gefasst werden. Ergänzt durch das Radikal yu 雨 (Regen) wurde es auf die Bedeutung „Blitz“ im Sinne des Naturphänomens festgelegt, wohingegen das Zeichen shen 神 in seiner Bedeutung „Geist“, „Gott[heit]“ etc. den Bereich des Transzendenten beschrieb. Das zweite Zeichen, sheng 聖, trägt das Radikal er 耳 (Ohr) und den phonetischen Teil cheng 呈. Die Definition von sheng, wie sie im Shuowen jiezi gegeben wird, bleibt vage, da hier nur das Zeichen tong 通 als Synonym angegeben wird. Tong kann so viel wie „etwas (geistig) durchdringen“ heißen, hat aber insgesamt ein recht breites Bedeutungsspektrum. Williams gibt folgende Interpretation: One, who, on hearing a sound knows the whole case; the highest degree of moral and intellectual powers; intuitively wise and good, and possessing universal knowledge; wisdom; to be wise; holy, sacred, and unattainable by common mortals; perfect; sage, i.e. Confucius; a tree of knowledge; in epitaphs a condescending and liberal prince52.

Im modernen Chinesisch wird sheng verwendet, um im christlichen Kontext den Namenszusatz „Heilige(r)“ beziehungsweise „Sankt“ wiederzugeben, etwa in der Bezeichnung Sheng Maliya 聖瑪利亞 für Sankt Maria. Das dritte Zeichen, ling, existierte ursprünglich in der Schreibweise , mit dem Radikal yu 玉 (Jade). Jedoch findet sich in der Qing-zeitlichen Ausgabe des Shuowen jiezi, dem Shuowen jiezi zhu 說文解字注53 von Duan Yucai 段玉裁 (1735–1815), ein Verweis auf die heute gebräuchliche Form 靈, mit dem Radikal wu 巫 (Schamane/Geistermedium). So heißt es bei ihm: 50 Vgl. HANDIAN 漢典 Zdic.net, shen 神, http://www.zdic.net/zd/zi/ZdicE7ZdicA5Zdic9E.htm (Stand: 07.11.2012). Hier zeigt sich im Übrigen sehr schön die Eigenschaft des tremendum et fascinans, welche für Rudolf Otto die Merkmale des Heiligen waren (siehe den Abschnitt „Das Heilige als Konzept der westlichen Religionsforschung“). 51 Siehe hierzu die Diskussion des Begriffs „supernatural“ bei Rania HUNTINGTON, The Supernatural, in: The Columbia History of Chinese Literature, hg. v. Victor H. MAIR, New York u. a. 2001, 110 und Mu-chou POO, In Search of Personal Welfare. A View of Ancient Chinese Religion, Albany 1998, 6, welche beide die Verwendung des Wortes ablehnen. Wesen und Phänomene, welche man allgemeinhin als „supernatural“ beziehungsweise „übernatürlich“ beschreiben würde, wurden in China durchaus als Teil der natürlichen Umwelt betrachtet und können daher nicht – wie die Begriffe implizieren – dieser übergeordnet oder getrennt von dieser sein. Leider fehlt es in der deutschen Sprache an einem geeigneten Begriff. Für das Englische schlägt Poo den Begriff „extra-human“ vor. 52 Samuel Wells WILLIAMS/Thomas Francis WADE, A Syllabic Dictionary of the Chinese Language. Arranged According to the Wu-Fang Yüan Yin. Tung Chou 1909, 697, 3. Siehe auch Hanzi yuanliu zidian 漢字源流字典, hg. v. GU Yankui, 穀衍奎, Beijing 北京 2008, 209. 53 Wörtlich: „Anmerkungen zum Shuowen jiezi“, welches neben dem Originaltext einige zusätzliche Informationen und Kommentare von Duan Yucai 段玉裁 enthält.

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Ling: Schamane/Geistermedium. Mittels Jade die Gottheiten in Anspruch nehmen. [Das Zeichen stammt ab] von yu 玉 und hat die Aussprache von ling 霝. (Die Aussprache richtet sich nach den Zeichen lang 朗 [im Anlaut] und ding 丁 [im Auslaut])54 Das Zeichen [in der Variante] ling 靈 richtet sich nach [dem Radikal] wu 巫55.

Der obere Teil des Zeichens, ling 霝, welcher zugleich auf die Aussprache hinweist, besteht aus dem Zeichen für Regen, yu, und dreimal dem Zeichen für Mund, kou 口56. In der Form 靈, kann das Zeichen als eine Beschwörung von Regen(tropfen) durch eine Art tanzenden Schamanen beziehungsweise durch das Opfer von Jade (in der Form ) interpretiert werden57. Aus der Fähigkeit Regen herbeizuzaubern, ergibt sich die heutige Bedeutung von ling als magische Kraft oder auch Wirkmächtigkeit. Die Fähigkeit ling zu sein, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer der entscheidenden Kategorien für die Beurteilung der Qualität einer Gottheit und ist in dieser Hinsicht dem westlichen Sakralitätskonzept in gewisser Weise ähnlich. So schreibt etwa Richard von Glahn: [T]he sacred was wedded to the ability to wield divine power in pursuit of human aspiration. Powers of miraculous intervention (ling) demonstrated the efficacy of the gods, the sacrifices employed to propitiate them, and the intercessors who mediated between the mundane and the divine58.

Ling ist daher ein wichtiges Kriterium, um etwas als göttliches Wesen anzuerkennen und diesem Verehrung und Opfergaben zukommen zu lassen. Dabei ist weitestgehend unerheblich, ob das betreffende Wesen als positiv oder negativ (zum Beispiel Geister oder Dämonen) bewertet wird. Aus den genannten Zeichen lassen sich Binome bilden. Dazu soll folgende Übersicht dienen: – shensheng 神聖: Der in adjektivischer Funktion schon in vorkaiserzeitlicher Zeit belegte Begriff kommt den westlichen Worten „heilig“ oder „sakral“ recht nahe und wird daher in Wörterbüchern des modernen Chinesisch als Übersetzung dieser angegeben. Er drückt aus, dass bestimmte Personen oder Dinge von besonderer Erhabenheit sind, Respekt verdienen und in keiner Weise abschätzig behandelt werden sollten. In substantivischer Bedeutung meint shensheng Personen oder Wesen, etwa den Kaiser oder Gottheiten, auf welche die genannten Eigenschaften zutreffen59. 54 Zu beachten: Die Aussprachehinweise richten sich nach den Gegebenheiten zur Zeit von Xu Xuans im 10. Jahrhundert. 55 Ling 靈, in: Shuowen jiezi 說文解字, 1, shang 上, yu bu 玉部. (Reprint: [Han 漢] XU Shen, 許慎, Shuowen jiezi 說文解字. Fu jian zi 附檢字, Beijing 北京 1963, 13). 56 Diese werden zuweilen auch als Regentropfen gedeutet. 57 Hanzi yuanliu zidian 漢字源流字典 (wie Anm. 52), 518–519. 58 Richard VON GLAHN, The Sinister Way. The Divine and the Demonic in Chinese Religious Culture, Berkeley, Calif. u. a. 2004, 5. 59 Vgl. shensheng 神聖, in: Hanyu da cidian 漢語大詞典, hg. v. Hanyu da cidian bianji weiyuanhui 漢語大詞典編輯委員會, Xianggang 香港 [Hong Kong] 1987, Bd. 7, 881 und shensheng 神聖. (Nr. 25211.324), in: Zhongwen da cidian 中文大辭典. The Encyclopedic Dictionary of the Chinese Language, hg. v. Zhongwen da cidian bianzuan weiyuanhui 中文大辭典編纂委員會, Taibei 臺北 1990, Bd. 6, 1416.

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shenling 神靈: Beide Teile dieses Binoms können als Nomen aufgefasst werden. Es handelt sich in erster Bedeutung um einen Terminus, welcher Wesen bezeichnet, die sowohl als shen als auch als ling zu charakterisieren sind. Damit wird der Begriff zu einer respektvollen Bezeichnung für Gottheiten oder göttliche Wesen. In einer anderen Bezeichnung sind shen und ling aber auch als je ein Synonym für die beiden Seelen hun 魂 und po 魄 aufzufassen, welche wiederum den yang- 陽 und yin- 陰 Aspekt der chinesischen Seelenvorstellung widerspiegeln60. – shengshen 聖神: Hierbei handelt es sich um eine Adjektiv-Nomen-Kombination. Shengshen meint besondere Personen oder Wesen (shen), welchen die herausragenden Qualitäten zukommen, die sich mit dem Begriff sheng verbinden. Aus der Han-Zeit ist der Begriff etwa als Bezeichnung für den Kaiser belegt, aus späterer Zeit (Song und Ming) auch als Ausdruck für die Weisen des Altertums. Darüber hinaus kann es auch eben diese besonderen Qualitäten meinen61. – shengling 聖靈: Auch dieser Begriff ist eine Adjektiv-Nomen-Kombination, welche aber erst aus der Zeit nach der Han-Dynastie belegt ist. Er meint die ling-Fähigkeit von Personen, welche als sheng charakterisiert werden können, also die besondere Wirkkraft von Herrschern oder den Weisen im konfuzianischen Kontext, kann sich aber auch auf die Seele eines Verstorbenen beziehen62. – lingshen 靈神: Quellen aus der gesamten chinesischen Kaiserzeit verwenden diesen Begriff als Synonym für shenling, da die beiden kombinierten Schriftzeichen als gleichwertig und damit vertauschbar angesehen wurden. In einer anderen nach-Han-zeitlichen Bedeutung kann lingshen auch den Geist oder die Seele eines Menschen meinen63. – lingsheng 靈聖: Der schon seit der Han-Zeit belegte Begriff kann einerseits als respektvolle Bezeichnung für göttliche Wesen in Buddhismus und Daoismus, andererseits aber auch als Ausdruck für deren Macht und besonderen Fähigkeiten verstanden werden64. Aus den hier in aller Kürze vorgestellten Begriffen, lassen sich einige Verbindungen zum westlichen Sakralitätsbegriff erkennen. So ergibt vor allem bei den –

60 Vgl. shenling 神靈, in: Hanyu da cidian 漢語大詞典 (wie Anm. 59), Bd. 7, 891 und shenling 神靈. (Nr. 25211.420), in: Zhongwen da cidian 中文大辭典 (wie Anm. 59), Bd. 6, 1420. 61 Vgl. shengshen 聖神, in: Hanyu da cidian 漢語大詞典 (wie Anm. 59), Bd. 8, 670 und shengshen 聖神. (Nr. 29727.173), in: Zhongwen da cidian 中文大辭典 (wie Anm. 59), Bd. 7, 911. 62 Vgl. shengling 聖靈, in: Hanyu da cidian 漢語大詞典 (wie Anm. 59), Bd. 8, 677 und shengling 聖靈. (Nr. 29727.335), in: Zhongwen da cidian 中文大辭典 (wie Anm. 59), Bd. 7, 916. 63 Vgl. lingshen 靈神, in: Hanyu da cidian 漢語大詞典 (wie Anm. 59), Bd. 11, 766. Zu diesem Begriff existiert kein Eintrag im Zhongwen da cidian. 64 Vgl. lingsheng 靈聖, in: Hanyu da cidian 漢語大詞典 (wie Anm. 59), Bd. 11, 759 und lingsheng 靈聖. (Nr. 43483.206), in: Zhongwen da cidian 中文大辭典 (wie Anm. 59), Bd. 9, 1551.

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Worten shen und sheng ein unverkennbarer Bezug zum Bereich des Transzendenten. Alle Begriffe verweisen auf Wesen, welche sich durch herausragende geistige, moralische oder übermenschliche Fähigkeiten in gewisser Weise von der profanen Welt absetzen. Dadurch wurden diese Wesen (oder Personen) Gegenstand von religiöser Verehrung sowie Ziel für Gebete und Bitten durch die Menschen des chinesischen Kaiserreiches (aber auch darüber hinaus). Dennoch lassen sich auch einige Unterschiede feststellen. So ist der Begriff ling zwar in seiner Relevanz für die Bewertung göttlicher Wesen durchaus dem westlichen Verständnis von Heiligkeit beziehungsweise Sakralität vergleichbar, ist aber im Gegensatz zu diesen Konzepten in keiner Weise an moralische Qualitäten gebunden. So kann der negative Einfluss von bösen Geistern ebenso als ling bezeichnet werden, wie die segensreiche Kraft von Gottheiten.

4.3 Das Heilige als Konzept der westlichen Religionsforschung Eine der frühesten Persönlichkeiten, welche den Versuch unternommen hat, das Heilige auf wissenschaftliche Weise zu beschreiben, war Rudolf Otto. Für ihn stellte das Heilige etwas dar, das er als mysterium tremendum et fascinans beschrieb. Dadurch bleibt seine Erklärung des Heiligen aber auf einer subjektiven Ebene verhaftet. Zwei weitere namhafte Forscher der Religionswissenschaften, Émile Durkheim und Mircea Eliade, sind – obwohl sie sich in wesentlichen Aspekten stark voneinander unterscheiden – wie viele andere auch davon ausgegangen, dass das Heilige auf einer Dichotomie von sakral und profan beruht. So versuchte Durkheim sich dem Thema aus einer streng soziologischen Perspektive heraus zu nähern und ging von einer ausschließlich gesellschaftlichen Bedingtheit für die Existenz des Heiligen aus. Eliade verschließt sich zwar dieser Auffassung nicht völlig, doch verfolgt er durchaus einige Ansätze Ottos weiter, indem er stärker auch die Notwendigkeit eines individuellen Vermögens, sich dem Heiligen zu öffnen, in den Fokus stellte. Dabei steht das Heilige für Eliade untrennbar mit dem Übernatürlichen in Verbindung, was laut Durkheim nicht der Fall sein muss65. Um nun eine grundsätzliche Verbindung zwischen beiden Forschungsrichtungen herzustellen, könnte man formulieren, dass dasjenige heilig ist, was nicht profan ist, Heiligkeit sich also durch eine Distanz ausdrückt. Die inzwischen klassische Unterscheidung von sakral und profan kommt auch im Bereich der chinabezogenen Religionsforschung häufig zur Anwendung. Paul R. Katz nutzt sie ebenso in seiner Beschreibung zur Anlage des Yongle gong 永樂宮, eines Tempels zu Ehren des daoistischen Unsterblichen Lü Dongbin

65 Vgl. William E. PADEN, Heilig und profan. I. Religionswissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 3, 2008, 1528–1530.

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呂洞賓66, wie auch Susan Naquin und Chün-fang Yü bei ihrer Studie über chinesische Pilgerorte kritisch auf dieses Konzept eingehen67. Die Nutzung einer derartig einfachen Unterscheidung bietet in der Tat gerade durch ihre Einfachheit den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sie auf sehr unterschiedliche historische und regionale Gegebenheiten anwendbar ist. Sofern man die Dichotomie von sakral und profan zunächst übernimmt, ohne sich auf eine bereits vorgegebene Definition festzulegen, besitzt diese ein hohes Maß an Flexibilität und kann je nach zu untersuchendem Gegenstand geformt und mit Inhalt gefüllt werden. Zudem kann man so zumindest teilweise vermeiden, dass die Verwendung der beiden Begriffe zu stark durch die religiös-kulturelle Bedingtheit der Sprache vorgeprägt ist, in der die Untersuchung vorgenommen wird. Jedoch müssen für den jeweiligen untersuchten Kontext klare Kriterien erstellt werden, wonach die Unterscheidung von sakral und profan erfolgen soll, da ansonsten die Gefahr der begrifflichen Unschärfe und somit einer gewissen Beliebigkeit des sakral-profan-Konzepts besteht. Bezogen auf die Untersuchung von religiösen Phänomenen des spätkaiserzeitlichen Chinas darf die Unterteilung von einer sakralen und einer profanen Ebene zudem nicht als eine starre Dichotomie verstanden werden. Anderenfalls ließe sie sich nicht auf die Situation übertragen, wie sie in den hier vorgestellten Texten vorzufinden ist. Dies zeigt sich beispielsweise in Hinblick auf den

66 Katz analysiert im ersten Kapitel „The Site – The Palace of Eternal Joy“ seines Buchs Images of the Immortal die Anlage des Yongle gong (von ihm übersetzt als „Palace of Eternal Joy“): „The Palace of Eternal Joy, like many sacred sites throughout the world, was separated from the nonsacred or profane space around it, in this case by an outer wall that stood around the site and an inner wall surrounding its temples. Again like most sacred sites, the palace came into being by means of a selection process, which in this case had to do with both its ideal natural and geomantic setting (in particular its proximity to mountains and water) and its location near the tomb of a famous individual who had been deified. The structure of the palace’s sacred space also seems to have conformed to principles of sacred geography in the sense of trying to reproduce accurately a cosmic prototype.“ Paul R. KATZ, Images of the Immortal. The Cult of Lü Dongbin at the Palace of Eternal Joy. Honolulu 1999, 47. Die vorangestellten Beschreibungen der Gesamtanlage lassen vermuten, dass man von einer abgestuften Sakralität ihrer einzelnen Elemente sprechen kann, welche auch durch die beiden Umfassungsmauern angedeutet wird und die stetig zunimmt, je weiter man auf dem zentralen Mittelweg der Anlage vorangeht. 67 Susan NAQUIN/Chün-fang YÜ, Pilgrims and Sacred Sites in China. Papers Originally Presented at a Conference Held at Bodega Bay, Calif., in January 1989 and Sponsored by the Joint Committee on Chinese Studies of the American Council of Learned Societies and the Social Science Research Council (Studies on China 15), Berkeley 1992, 4: „When we use the term sacred, we are keenly aware of its associated meaning of transcendent and its implied opposition to profane, terms derived from Western religious traditions. Such implications are natural in the three related religions that affirm the existence of a transcendent god, but cannot be extended to other cultures, including those of East Asia, where the religious object is not separated from but located within nature. As it is difficult to do without familiar terms, the reader should take note that we use sacred without these connotations.“ (Die Hervorhebungen entsprechen denen des Originaltexts.)

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Begriff des Göttlichen68, welcher im Allgemeinen dem Bereich des Sakralen zugeordnet wird. So schreibt Meir Shahar: The Western monotheistic experience of the divine has often been characterized by “fear and trembling”69. […] In Chinese religion, however, the divine and human realms are much closer than in the West, and they resemble each other much more, too. Thus, many Chinese deities are humorous: they display a sense of humor, and they themselves may be the object of jokes and pranks. However, their humor does not diminish their religious efficacy in the least70.

Und bei Richard von Glahn heißt es: But Chinese religion never produced a conception of the divine that stood apart from the cosmos, and the mundane world human beings inhabited was not governed by laws fashioned by a transcendent creator god. Thus the divine and the mundane remained organically connected, each subject to powers of change and transformation inherent in the physical universe. These “powers” were often represented as gods […]71.

Von Glahns Ausführungen weisen darauf hin, dass das Sakrale und das Profane in einem dynamischen Zusammenhang stehen. Wie sich zeigen wird, finden sich in den vorgestellten Geschichten zwar durchaus Belege für eine Trennung zwischen einer profanen und einer sakralen Ebene. Andererseits aber wird sich zeigen, dass es sich hierbei nur um eine graduelle Abstufung handelt. Im Folgenden wird die These vertreten, dass in der spätkaiserzeitlichen Literatur Chinas Sakralität zwar durchaus in einer Dichotomie von sakral und profan dargestellt wird, diese aber in einem System bürokratisch geordneter Hierarchien beständig wiederholt und somit zu einer relativen Größe wird. Die folgenden Überlegungen zum Verständnis der beiden Textbeispiele stützen sich in nicht unerheblichem Maße auf die Studie History and Magical Power in a Chinese Community von Steven Sangren72. Dieser hat ausgehend von Durkheims These der „sozialen Repräsentation“ für das Verständnis der Dynamiken 68 Hierbei handelt es sich um ein äußerst komplexes Thema, da der chinesische Pantheon von einer Vielzahl göttlicher Wesen bevölkert wird, wobei mehrere Arten dieser Wesen zu unterscheiden sind, man also nicht nur einfach von Gottheiten sprechen kann. Schon klassisch ist dabei die Aufteilung von Arthur P. Wolf in „Gods, Ghosts and Ancestors“, wie er sie in seinem gleichnamigen Aufsatz beschreibt (Arthur P. WOLF, Gods, Ghosts and Ancestors, in: Religion and Ritual in Chinese Society, hg. v. DERS., Taipei 1977, 131–182). Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Wesen, wie etwa die daoistischen xian 仙 („Unsterbliche“, „Transzendente“) oder die buddhistischen Buddhas (fo 佛) und Bodhisattvas (pusa 菩薩). Meir SHAHAR/Robert P. WELLER, Introduction, in: Unruly Gods (wie Anm. 5), 2–3. 69 Mit diesem Ausdruck bezieht sich Shahar auf Søren Kierkegaard. 70 Meir SHAHAR, Vernacular Fiction and the Transmission of God’s Cults in Late Imperial China, in: Unruly Gods. Divinity and Society in China, hg. v. Meir SHAHAR/Robert P. WELLER, Honolulu 1996, 202. 71 VON GLAHN, The Sinister Way (wie Anm. 58), 5. Und weiter heißt es: „[… T]he sacred was wedded to the ability to wield divine power in pursuit of human aspiration. Powers of miraculous intervention (ling) demonstrated the efficacy of the gods, the sacrifices employed to propitiate them, and the intercessors who mediated between the mundane and the divine.“ Siehe auch die Anmerkungen von Susan Naquin und Chün-fang Yu in Fußnote 67. 72 Paul Steven SANGREN, History and Magical Power in a Chinese Community. Stanford, Calif. 1987.

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zwischen religiösen Vorstellungen und sozialen Gegebenheiten das chinesische Konzept von yang und yin angewandt. Dahinter steht die Vorstellung zweier an sich gegenteiliger Ordnungsgruppen, zum Beispiel hell und dunkel, welche als Komplementäre aufzufassen sind und die sich in einem beständigen Wandel befinden. Damit werden sie zu kontextabhängigen relativen Größen. Wie sich im weiteren Verlauf des Aufsatzes zeigen wird, kann das, was in einer Situation als yang bezeichnet wird, in der nächsten Situation als yin kategorisiert werden und umgekehrt. Um nun Näheres über die Vorstellung des Sakralen in der spätkaiserzeitlichen Literatur zu erfahren, sollen drei Aspekte in den Mittelpunkt gerückt werden73. Es handelt sich um (1.) die Darstellung der Drachenkönige; (2.) die Trennung zwischen der Welt der Götter und der Menschen; (3.) die Bedeutung des Himmels tian 天 und der hierarchischen Ordnung.

4.4 Die Darstellung der Drachenkönige In beiden Geschichten werden die Drachenkönige zunächst als herrschaftliche Figuren dargestellt. Sie residieren in kostbaren Palästen von märchenhafter Ausstattung, welche auf dem Grund des Meeres beziehungsweise des Jing-Flusses liegen74. In Die Reise nach dem Westen wird der Palast des Drachenkönigs als Bergkristallpalast beschrieben. In Die rākṣasa und der Meeresmarkt findet sich folgende Beschreibung des Palasts: Plötzlich erblickte [Ma Ji] einen Palast, Schildkrötenpanzer waren die Balken und Karpfenschuppen dienten als Dachziegeln; die vier Wände erstrahlten in hellem Schein und der Glanz blendete das Auge. Im Palast gab es einen Jadebaum75 mit einem Umfang, dass man ihn gerade so umfassen konnte; seine Wurzel war kristallklar, so, wie weiß lackierte Keramik; in seiner Mitte gab es ein Herz von zartgelber Farbe; seine Äste waren so dünn wie Unterarme; seine Blätter waren wie von Jaspis und etwa so dick wie eine Münze, so klein und dicht, dass er einen dunklen Schatten warf. Oft saß [Ma Ji] mit seiner Frau darunter und sie sangen Lieder. Auf dem ganzen Baum öffneten sich Blüten; in ihrer Art ähnelten sie denen der Campaka- (zhan 薝) Pflanze76. Jedes Mal, wenn eines der Blütenblätter zu Boden fiel, ertönte ein klingendes Geräusch. Wenn man es aufhob und betrachtete, so sah es aus wie aus rotem Achat geschnitzt und hatte einen lieblichen Schein. Oft kam ein seltsamer Vogel und sang – mit einem Federkleid von goldener und jadegrüner Farbe und einem Schwanz der länger als sein Körper war – seine Stimme war so wehklagend wie eine Jadeflöte, dass es Einen im tiefsten Herzen berührte.

73 Auf weitere weniger wichtige Aspekte wurde aus Platzgründen verzichtet. 74 Diese werden auch als Wasserpräfektur, shuifu 水府, bezeichnet. 75 Der Begriff Jadebaum, yushu 玉樹, kann mehrere Bedeutungen haben. Im gegebenen Kontext ist wahrscheinlich tatsächlich ein Baum aus Jade gemeint. Es könnte aber auch eine literarische Umschreibung eines besonders schönen Baumes oder eines Sophorabaumes (Styphnolobium japonicum beziehungsweise Sophora japonica) sein. 76 Damit könnte die Magnolia champaca gemeint sein.

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Von hier aus regieren die Drachenkönige ihr jeweiliges Unterwasserreich. Dieses umfasst die Wasserwelt, deren Grenzen durch die Uferlinien bestimmt sind77. Die Untertanen sind alle Wassertiere, wie etwa die Fische des Jing-Flusses. Darüber hinaus verfügt der Drachenkönig als Herrscher seines Unterwasserpalastes ähnlich einem irdischen König oder Kaiser über einen kompletten stark ausdifferenzierten Hofstaat und eine königliche Familie78. In Die Reise nach dem Westen heißt es unter anderem: Neben ihm [das heißt dem Drachenkönig] erschienen die Drachensöhne und Drachenenkel, die Garnelenminister und Krebsgelehrten, die Heringskrieger, die Mandarinfischbeamten und die Karpfengouverneure und machten eine Eingabe.

Von diesen Äußerlichkeiten abgesehen, werden die beiden Drachenkönige aus den hier untersuchten Geschichten aber ziemlich unterschiedlich dargestellt. Der Drachenkönig aus Die rākṣasa und der Meeresmarkt bietet das Bild eines idealen Herrschers. Er ist respekteinflößend, aber auch freundlich, gütig, kultiviert und kunstsinnig. So lässt er Ma Ji, nachdem er ihn in aller Gastfreundschaft aufgenommen hat, ein Gedicht über den Meeresmarkt verfassen. Als ihm anschließend das Gedicht vorgetragen wird, heißt es: Der Drachenfürst war darüber voll des Lobes und sprach: „Mein Herr, ihr habt ein Talent, dessen Glanz für unser Wasserreich sehr viel bedeutet.“

In Die Reise nach dem Westen macht der Drachenkönig hingegen keinen solchen guten Eindruck. Um seine Ziele zu erreichen, schreckt er nicht einmal vor einem Verstoß gegen die himmlische Ordnung zurück, und selbst als sein Vergehen entdeckt wird, zeigt er keine Einsicht, sondern versucht sich auf unwürdige Weise aus der misslichen Situation herauszuwinden. Zwei Szenen sind dafür exemplarisch: Als der Drachenkönig von dem Wahrsager entlarvt wird und von der drohenden Enthauptung erfährt, fällt er sofort auf die Knie und bettelt unter Tränen um Rettung. Anschließend begibt er sich zum Kaiser Tang Taizong, wo sich eine ähnliche Situation abspielt: Plötzlich verwandelte sich der Drachenkönig in eine menschliche Gestalt, fiel auf die Knie und rief: „Eure Majestät, rettet mich, rettet mich!“ Da sprach Taizong: „Wer seid ihr, den wir retten sollen?“ Der Drachenkönig sagte: „Eure Majestät, ihr seid der wahre Drachen, ich aber bin nur ein sündiger Drache. Ich habe mich gegen die Ordnung des Himmels vergangen und nun soll der pflichtgetreue Beamte eurer Majestät, der Finanzminister Wei Zheng, meine Enthauptung vollstrecken. Daher kam ich hierher, um eure Hilfe zu erflehen und in der Hoffnung, dass eure Majestät mich erretten können.“

Betrachtet man die hier zitierten Szenen unter der Maßgabe Émile Durkheims, wonach das Religiöse innerhalb einer Gesellschaft selbst eine soziale Realität

77 Hier zeigt sich auch die Abtrennung von profaner (Land) und sakraler Welt (Unterwasserwelt) und die sich hieraus ergebende Distanz. 78 Interessanterweise fehlt nicht nur in den beiden ausgewählten Textbeispielen ein Hinweis auf eine Frau des Drachenkönigs, welche die Rolle der Königin einnehmen würde.

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besitze79, so spiegelt sich in den Vorstellungen des Sakralen die profane Lebenssituation einer Gesellschaft wider80. Davon ausgehend repräsentieren die Drachenkönige als Gottheiten Teile der chinesischen Gesellschaft, speziell der Oberschicht. Während sich die Darstellung des Drachenkönigs in Die rākṣasa und der Meeresmarkt als die eines mächtigen majestätisch-kultivierten Herrschers zusammenfassen lässt, trifft dies auf den Drachenkönig des Jing-Flusses in Die Reise nach dem Westen nur am Anfang zu. Sehr schnell zeigt dieser durchaus Schwächen und wird zunehmend zu einer negativen Figur und fast zur Karikatur einer Gottheit81. In seiner Darstellung erscheint er wie ein Lokalbeamter, der anstatt seine Amtsgeschäfte korrekt zu erledigen, lieber seine eigene Position ausnutzt, um sich und seiner Klientel (das heißt den Wasserbewohnern) Vorteile zu verschaffen, dann aber nicht bereit ist, die Konsequenzen seines Handelns zu ertragen. Der Autor der Die Reise nach dem Westen, Wu Cheng’en könnte damit auf ähnliche, ganz weltliche, Situationen angespielt haben. Robert P. Hymes stellt in seinem Buch Way and Byway fest, dass die chinesische Bürokratie von Missständen wie Bestechung, und Vetternwirtschaft geprägt war. Daher sei es gut vorstellbar, dass auch die himmlische Bürokratie in einer ähnlichen Weise gedacht wurde (und bis heute gedacht wird)82. 79 Fritz STOLZ, Grundzüge der Religionswissenschaft (UTB 1980), 3. Aufl., Göttingen 2001, 50; siehe auch Daniel L. PALS, Eight Theories of Religion, 2. Aufl., New York/Oxford 2006, 107–109. Steven Sangren kritisiert zwar Durkheims einfache Gleichsetzung von Religion und Gesellschaft, doch verwirft er sie nicht ganz, sondern nutzt sie, um seine eigenen Theorien darauf aufzubauen: „Although it is clear that in many respects Chinese do think of gods as resembling officials and emperors, what is not clear is the logic that explains why and in which context they do so.“ (Paul Steven SANGREN, History and Magical Power in a Chinese Community, Stanford, Calif. 1987, 127.) Ebenso äußert sich auch von Glahn in dieser Richtung kritisch, ohne jedoch dabei direkt auf Durkheim einzugehen: „China’s religious culture thus did not simply mirror the social order and its essential values. Yet religious beliefs and practices were integral to the consolidation, reproduction, and transformation of social relationships.“ VON GLAHN, The Sinister Way (wie Anm. 58), 264. 80 PALS, Eight Theories of Religion (wie Anm. 79), 85. 81 Das allein muss aber noch nicht bedeuten, dass ihm die Qualität des Heiligen fehle. So beklagt etwa Rudolf Otto, dass der Begriff des Heiligen leider fälschlicherweise häufig mit dem Guten in Relation gesetzt wird. Er schlägt daher für seine Diskussion um diesen Begriff einen Alternativbegriff, das Numinose, vor, welches er als das Heilige abzüglich seiner ethischen und rationalen Konnotationen verstanden haben möchte (Rudolf OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 2004, 5– 6). 82 Siehe Robert P. HYMES, Way and Byway. Taoism, Local Religion, and Models of Divinity in Sung and Modern China, Berkeley, Calif. 2002, 262–263: „[…R]eal Chinese bureaucracies, like real bureaucracies elsewhere, were riddled with personalism of every kind: nepotism, bribery, and the sorts of backdoor relations summed up in the common (though incomplete) understanding of the modern term kuan-hsi, literally “relationships,” but often translated as “connections.” When Sung gentlemen in Fu-chou or modern peasants seek personal ties to gods, or describe gods in personal terms, why should we suppose this means they see gods as other than bureaucrats?” (Robert P. HYMES, Personal Relations and Bureaucratic Hierarchy in Chinese Religion. Evidence from the Song Dynasty, in: Unruly Gods. Divinity and Society in China, hg. v. Meir SHAHAR/Robert P. WELLER, Honolulu 1996, 37–69.)

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Die Darstellung der Drachenkönige als majestätischen Herrscher einerseits und als betrügerischen Lokalbeamten andererseits stellt aber keinen Widerspruch in sich dar, wenn man bedenkt, dass auch im religiösen Kontext die Drachenkönige als durchaus ambivalente Gottheit wahrgenommen wurden. So galten sie einerseits als die Bringer von rechtzeitigem Regen und Bewahrer vor Flutkatastrophen, konnten andererseits aber auch genau das Gegenteil sein, nämlich dann, wenn das Ausbleiben des Regens schwere Dürren und Hungerkatastrophen bewirkte oder Überschwemmungen ganze Landstriche verwüsteten83. Ein weiterer Unterschied in der Darstellung beider Drachenkönige besteht darin, dass in Die Reise nach dem Westen, der Drachenkönig des Jing-Flusses klar in ein bürokratisch-hierarchisches System eingebunden ist, wohingegen der Drachenkönig in Die rākṣasa und der Meeresmarkt als autonomer Herrscher dargestellt wird. Hierin zeigen sich zwei Modelle, welche zur Beschreibung chinesischer (Volks-)Religion wie sie von Robert P. Hymes beschrieben werden. Im ersteren Fall handelt es sich um das bureaucratic model84, bei der die einzelnen Gottheiten Teil einer nested hierarchy85 sind und nur innerhalb dieser Hierarchie wirken. Dementsprechend soll der Drachenkönig des Jing-Flusses aufgrund eines Dekrets des Jadekaisers, welches in Einklang mit der himmlischen Ordnung erstellt wurde, Regen bringen86. Die Bewohner der Stadt Chang’an als menschliche Akteure spielen in diesem Fall nur eine marginale Rolle und es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Regenbefehl eventuell durch entsprechende Gebete der 83 Siehe dazu die Artikel von SHEN Meili, 沈梅麗, Gudai xiaoshuo zhong longwang xingxiang leixinghua qianxi 古代小説中龍王形象類型淺析, Xiamen jiaoyu xueyuan xuebao 廈門教育學院學報 Journal of Xiamen Educational College 6 (2004), 22–24 und WANG Sanqing, 王三慶, Sihai longwang zai minjian tongsu wenxue shang zhi diwei 四海龍王在民間通俗文學上之地位, in: Hanxue yanjiu 漢學研究 8, 1990, 327–346. Vgl. VON GLAHN, The Sinister Way (wie Anm. 58), 265, welcher die Ambiguität vieler chinesischer Gottheiten als eines ihrer besonderen Kennzeichen ansieht: „The gods of vernacular religion were in most instances multivalent, exhibiting both providential and demonic aspects.“ 84 HYMES, Way and Byway (wie Anm. 82), 262. Eine ausführliche Darstellung dieses Modells findet sich in Kapitel 7 (171–205). 85 Ebd., 261–262. 86 Vgl. hierzu auch die Studie von Prasenjit DUARA, Culture, Power, and the State. Rural North China, 1900–1942, Stanford, Calif. 1988, 31–32: Duara, der in dieser Studie die sozialen Machtgefüge auf lokaler Ebene im China der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht, geht dabei auch auf die Frage der Verwaltung von Wasserressourcen ein. Er stützt sich dabei unter anderem auf japanische Untersuchungen in Nordchina aus der Zeit der Besatzung durch die Japaner, etwa der Chūgoku nōson kankō chōsa 中國農村慣行調查 von 1940–1944. In einem aus genannter Untersuchung entnommenen Interview im Kreis Changli 昌黎 wird deutlich, dass nach allgemeiner Vorstellung, Wasser von Drachenkönigen (longwang) gegeben wird, welche ihrerseits dem Jadekaiser unterstehen: „Q[uestion]: Does rainwater have power? A[nswer]: Yes. Q: Who gives it power? A: Rain is created by the Jade Emperor’s sub-ordinate, Longwang. The rain contains Longwang’s power. Q: Why does Longwang make rain? A: Rain is the source of the ten thousand things. Without it man cannot live. In the end, he creates rain to save humanity. Q: When rain water has not yet touched the earth who does it belong to? A: Even though it was created at the command of the Jade emperor, since it was actually made by Longwang, it belongs to him.“

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Menschen erteilt wurde. Im zweiten Fall hingegen zeigt sich eine Spielart des personal models87. Dabei steht die persönliche Beziehung zwischen Menschen und Gottheiten im Mittelpunkt, die gerade nicht durch hierarchisch-bürokratisch geprägte Strukturen gekennzeichnet ist. In Abweichung zu Hymes Beispielen ist es im Fall von Die rākṣasa und der Meeresmarkt allerdings die Gottheit selber, welche eine Beziehung zu dem Menschen Ma Ji aufnimmt, wohingegen im Normalfall die Menschen in Form von Gebeten oder Gelübden versuchen, einen Kontakt zur Ebene der Gottheiten aufzubauen88.

4.5 Die Trennung zwischen der Welt der Götter und der Menschen Laut Mircea Eliade ist es gerade die Dichotomie von sakral und profan, welche den Kern von Religion ausmache. Heiliges definiere sich laut ihm vor allem in seiner Abgrenzung zum Nicht-Heiligen89: Was unseren Gegenstand betrifft, so wollen wir nicht bestreiten, daß es nützlich ist, das Phänomen Religion von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu behandeln. Aber zuerst und vor allem kommt es darauf an, es als solches, insofern es unauflösbar und eigenartig ist, zu betrachten. Das ist keine leichte Aufgabe. Denn man muß dazu das Phänomen Religion wenn nicht definieren, so doch umschreiben und es in das Ganze der geistigen Dinge einordnen. Und, wie Roger Caillois zu Beginn seines glänzenden kleinen Buchs L’homme et le sacré bemerkt: „Im Grunde ist das einzige, was man vom Sakralen allgemeingültig aussagen kann, schon in der Definition des Ausdrucks enthalten: nämlich, daß es dem Profanen entgegengesetzt ist. […]90

In den beiden hier untersuchten Geschichten finden sich deutliche Hinweise auf eine Trennung zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter91, die jeweils eine der beiden Ebenen des Profanen und des Sakralen repräsentieren. Die Trennlinie zwischen den beiden Ebenen des Menschlichen und des Göttlichen zeigt sich auf vielfältige Weise. So wird sie beispielsweise sehr plastisch durch die Uferlinie beziehungsweise die Wasseroberfläche gebildet, welche die Welt der Menschen am Land vom Wasserreich der Drachenkönige abtrennt92. 87 HYMES, Way and Byway (wie Anm. 82), 265–266. Auch: HYMES, Personal Relations (wie Anm. 82), 37–69. 88 Vgl. HYMES, Personal Relations (wie Anm. 82), 37–69. 89 Mircea ELIADE/Eva MOLDENHAUER, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen (Insel-Taschenbuch 2242), Frankfurt am Main 1998, 14: „Die erste Definition des Heiligen ist, dass es den Gegensatz zum Profanen bildet.“ Und weiter unten heißt es: „Der Mensch erhält Kenntnis vom Heiligen, weil diese sich manifestiert, weil es sich als etwas dem Profanen völlig Verschiedenes zeigt.“ Ähnliche Formulierungen ließen sich auch bei Émile Durkheim oder Nathan Söderblom finden. 90 Mircea ELIADE, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. Frankfurt am Main, Leipzig 1998, 14. 91 Siehe auch Rania HUNTINGTON, The Supernatural, in: The Columbia History of Chinese Literature, hg. v. Victor H. MAIR, New York [u. a.] 2001, 115. 92 Daneben existieren noch weitere Trennlinien: Die eine ist die Unterscheidung zwischen Himmel und Erde. Der Himmel ist der Sitz vieler Gottheiten und auch die Hinrichtung des Dra-

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Eine besonders eindrucksvolle Darstellung des Übergangs zwischen beiden Ebenen findet sich in Die rākṣasa und der Meeresmarkt: Damit übergab [man] Ma Ji ein Pferd und bat ihn, mit ihnen zu reiten. Dann verließen sie die Weststadt. Als sie ans Ufer der Insel kamen, sprangen alle auf ihren wiehernden Pferden ins Wasser. Ma Ji war ganz stumm vor Schreck, doch dann sah er, wie sich das Wasser in der Mitte teilte und sich an den Seiten wie eine Wand auftürmte. Plötzlich erblickte er einen Palast […].

Die Trennung, welche zwischen den Ebenen des Sakralen und des Profanen besteht, ist teilweise durchlässig. In Die Reise nach dem Westen ist es dem Drachenkönig des Jing-Flusses ohne Weiteres möglich, sich nach Chang’an zu begeben, um dort den Wahrsager aufzusuchen. In Die rākṣasa und der Meeresmarkt ist es für den Sohn des Drachenkönigs offenbar auch kein Problem, den Unterwasserpalast zu verlassen, um den Meeresmarkt zu besuchen. Schließlich begibt sich auch die Tochter des Drachenkönigs zweimal in die Welt der Menschen. Es ist ihr aber nicht möglich, für immer in der Welt der Sterblichen zu bleiben und als Ehefrau Ma Jis an dessen Seite zu leben. Als Ma sie darum bittet, muss sie ihm diesen Wunsch verwehren, indem sie deutlich auf die Trennung beider Sphären hinweist: Seine Frau sprach: „Die Wege der Unsterblichen und des Staubes [der Sterblichen] sind verschieden, man kann sie nicht voneinander abhängig machen. […]“

Für Ma Ji auf der anderen Seite scheint es gänzlich unmöglich, sich selbstständig zwischen beiden Ebenen zu bewegen. So wird er bei seinem Eintritt in die Unterwasserwelt vom Sohn des Drachenkönigs begleitet und auch beim Verlassen dieser Welt von seiner Ehefrau, der Tochter des Drachenkönigs, bis an die Grenze der Unterwasserwelt gebracht. Eine weitere Form des Übergangs zwischen sakraler und profaner Ebene findet sich in Die Reise nach dem Westen, wo dieser häufig durch Träume dargestellt wird93. Doch auch hier handelt es sich um eine Form des Übergangs, der zumindest von Seiten der Menschen, nicht willentlich begangen werden kann. Insgesamt gibt es drei Träume: Im ersten Traum erscheint der Drachenkönig des Jing-Flusses beim Kaiser Tang Taizong und bittet diesen, die Hinrichtung zu verhindern. chenkönigs fand offenbar hier statt. So wird nämlich berichtet, dass der Kopf des Drachenkönigs nach seiner Enthauptung von oben herab auf die Erde gefallen war. Interessant ist hier die Verwendung unterschiedlicher Begriffe für Himmel. Der Himmel als sakraler Ort wird in Die Reise nach dem Westen als tian bezeichnet. Meint man jedoch den Himmel beziehungsweise die Luft im physischen Sinne, so wird das Zeichen kong 空, seltener auch xu 虛 (in der Kombination 虛空) verwendet. Die zweite Trennlinie besteht im Tod, welcher auch einen Übergang zwischen dem Leben als Mensch in der diesseitigen Welt und dem Leben als Geist, shen, oder Dämon, gui, in der jenseitigen Welt darstellt, wie sich am Ende von Kapitel 10 im Roman Die Reise nach dem Westen zeigt, als Tang Taizong stirbt und seine im Folgekapitel beschriebene Reise durch die Unterwelt antritt. Ebenso wird auch der Drachenkönig nach seiner Hinrichtung letztlich in die Unterwelt verbracht. 93 Siehe: Rania HUNTINGTON, The Supernatural, in: The Columbia History of Chinese Literature, New York [u. a.] 2001, 112 und Judith T. ZEITLIN, Historian of the Strange. Pu Songling and the Chinese Classical Tale, hg. v. Victor H. MAIR, Stanford, Calif. 1993, 132–182.

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Der zweite Traum beinhaltet die Hinrichtung des Drachenkönigs durch Wei Zheng. Tang Taizong versuchte zwar Wei Zheng für die geplante Zeit der Hinrichtung durch ein Brettspiel abzulenken, um so die Enthauptung zu verhindern, doch schläft dieser dabei ein. Hinterher berichtet er dem Kaiser, was während seines Schlafes passiert war: Mein Herr; mein Leib befand sich zwar direkt vor euch, aber im Traum habe ich eure Majestät verlassen: Der Körper blieb vor euch, gegenüber des begonnenen Spiels [gemeint ist das Spielbrett], meine Augen waren geschlossen und ich war ohne Wahrnehmung; in meinem Traum aber verließ ich auf einer Nephritwolke eure Majestät, […]

Im dritten Traum schließlich wird Tang Taizong vom inzwischen getöteten Drachenkönig heimgesucht. Dieser wirft dem Kaiser vor, sein Wort gebrochen und die Hinrichtung nicht verhindert zu haben: Zur Zeit der zweiten Nachtwache vernahm er vor dem Palasttor plötzlich ein heulendes Geräusch und Taizong wurde noch mehr von Furcht erfüllt. Gerade zur Schlafenszeit als der Mond aufging, sah er wieder jenen Drachenkönig des Jing-Flusses, wie dieser in seinen Händen einen blutüberströmten abgeschlagenen Kopf hielt und laut ausrief: „Tang Taizong, gebt mir mein Leben zurück! Gebt mir mein Leben zurück! Gestern Nacht noch habt ihr vollmundig meine Rettung versprochen; wie kann dann am hellen Tage, entgegen der Ankündigung, dieser Finanzminister kommen und mich enthaupten? Kommt nur heraus, kommt nur heraus, wir wollen zur Residenz des Yama-Fürsten94 gehen und die Sache verhandeln!“ Er zog kräftig an Taizong und zeterte ohne Unterlass immer und immer wieder. Taizong jedoch konnte kein Wort hervorbringen und kämpfte, dass ihm der Schweiß über den Körper lief. Gerade aber als keine Lösung möglich schien, sah man, wie von Süden her duftende Wolken emporstiegen und bunter Nebel aufwallte. Da kam eine weibliche Vollkommene herbei, vollführte einen Streich mit einem Weidenzweig und jener kopflose Drache verschwand vor Trauer klagend Richtung Nordwesten.

Ähnlich wie schon in den Belegen aus Die rākṣasa und der Meeresmarkt wird auch hier deutlich, dass es eine Trennung zwischen dem göttlichen Bereich und der Welt der Menschen gibt, was natürlich an die Dichotomie von sakral und profan denken lässt. Außerdem zeigt sich, dass der Übergang zwischen diesen beiden Ebenen für Gottheiten leichter, für Menschen aber nicht ohne Weiteres möglich ist.

4.6 Die Bedeutung des Himmels und der hierarchischen Ordnung Neben der offensichtlichen Existenz einer göttlichen und einer menschlichen Ebene werden in den untersuchten Geschichten, besonders aber in Die Reise nach dem Westen, noch weitere Ebenen sichtbar. Als Wei Zheng das Dekret des Jadekaisers empfängt, welches ihn mit der Hinrichtung des Drachenkönigs beauftragt, wird die Situation folgendermaßen beschrieben:

94 Einer der Herrscher der Unterwelt; siehe William Edward SOOTHILL/Lewis, A. HODOUS, Dictionary of Chinese Buddhist Terms. With Sanskrit and English Equivalents and a Sanskrit-Pali Index, Richmond 1995, 452.

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Der Kanzler Wei Zheng befand sich in seinem Anwesen. Am Abend beobachtete er die Konstellationen der Sterne und gerade als er edlen Weihrauch verbrannte, ertönte aus dem neunten Himmel der Ruf eines Kranichs. Dann aber erschien ein vom Himmel gesandter Götterbote, der in seinen Händen ein goldenes Dekret des Jadekaisers hielt […]

Und weiter heißt es: Der Kanzler bedankte sich für die Güte des Himmels. Dann fastete er und nahm ein Bad; er probierte das Schwert der Weisheit und versenkte sich in seinen inneren Geist.

Das Ordnen der Kleidung, Verbrennen von Weihrauch, Fasten, die Reinigung des Körpers sowie Meditation lassen sich als Maßnahmen interpretieren, mit denen man sich auf rituelle Handlungen vorbereitet. Sie dienen dazu, die nun folgenden heiligen Akte vom profanen Alltag abzugrenzen und dadurch ihre Besonderheit hervorzuheben. Wenn derartige Handlungen den Empfang des Dekrets des Jadekaisers begleiten beziehungsweise vorbereiten, so bedeutet dies, dass auch dieses eine Handlung ist, der eine gewisse Form von Sakralität zukommt. Ähnlich wird aber auch zuvor der Empfang eines Dekrets des Jadekaisers durch den Drachenkönig beschrieben, in welchem dieser die Anweisung erhält, Regen zu senden: [Man hörte] es in der Luft: „Drachenkönig des Jing-Flusses, empfange nun ein Dekret!“ Alle erhoben den Kopf und schauten, wie ein Krieger in goldener Kleidung mit einem Dekret des Jadekaisers in der Hand geradewegs zur Wasserpräfektur kam. Voll Unruhe ordnete der Drachenkönig seine Kleider, setzte eine ernsthafte Mine auf, verbrannte Weihrauch und empfing so das Dekret. Der goldgekleidete Krieger kehrte in die Lüfte zurück. Der Drachenkönig bedankte sich ehrerbietig und öffnete den Brief […]

Offenbar gibt es eine Ebene, welche sowohl der Gottheit des Drachenkönigs als auch dem Menschen Wei Zheng übergeordnet ist. Diese wird „der Himmel“ tian genannt.95 Der Himmel steht für die himmlische Ordnung, gegen die der Drachenkönig des Jing-Flusses im weiteren Verlauf der Geschichte verstößt. Die Macht des Himmels manifestiert sich in der Gestalt des Jadekaisers, der gleichzeitig als Wahrer und Administrator der himmlischen Ordnung auftritt96. Wie sich zeigt, ist der Bereich des Göttlichen in mehrere Ebenen gegliedert. So wird an verschiedenen Stellen in Die Reise nach dem Westen wie auch in Die rākṣasa und der Meeresmarkt auf die Untertanen des Drachenkönigs hingewiesen, welche innerhalb des Bereichs des Göttlichen eine weitere Ebene bilden. Insgesamt bildet sich eine göttliche, bürokratisch geordnete Hierarchie97. An der Spitze steht der Jadekaiser als oberster Herrscher und Manifestation der 95 Zum Himmel siehe ELIADE, Die Religionen und das Heilige (wie Anm. 90), 65–68. Zum Zusammenhang von Ferne, Sakralität und Macht siehe ELIADE/MOLDENHAUER, Das Heilige und das Profane (wie Anm. 89), 108: Der ferne Gott besitzt zwar die höchste Sakralität, wird aber durch andere Gottheiten repräsentiert. Die Anrufung dieses Höchsten Gottes erfolgt nur in Ausnahmefällen, wenn andere Gottheiten versagt haben. 96 Zumindest zeigt es sich in der hier gewählten Geschichte so. Hier sei auch auf die Bedeutung der Figur des Buddhas verwiesen, welche in Die Reise nach dem Westen eine vergleichbare Rolle spielt. 97 Zur bürokratischen Hierarchie des chinesischen Pantheons siehe Philip C. BAITY, The Ranking of Gods in Chinese Folk Religion, Asian Folklore Studies 36 (1977), 75–84; Stephan

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himmlischen Ordnung, darunter der Drachenkönig als eine Art lokaler Beamter und darunter wiederum die Untertanen des Drachenkönigs als eine Art Amtsdiener. Man kann aber noch weiter gehen und auch die Menschen, zum Beispiel die Bevölkerung von Chang’an, in diese Hierarchie eingliedern, da auch sie letztlich der himmlischen Ordnung unterliegen. Sie sind gleichsam das Volk, welches durch die himmlische Bürokratie ebenso beherrscht und verwaltet wird, wie es auch durch den irdischen Apparat des chinesischen Kaiserreiches beherrscht und verwaltet wurde. Die Hierarchie hört aber auch bei der Ebene der Menschen nicht auf, sondern setzt sich – wenn man so will – spiegelverkehrt in der Unterwelt fort98.

5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG An dieser Stelle ist es nun notwendig, die bisher erzielten Ergebnisse noch einmal zu rekapitulieren und zu versuchen, daraus ein Fazit zu ziehen, welches auch der Frage des Sammelbandes „Was ist sakral?“ zumindest in einer gewissen Annäherung gerecht werden kann. Zunächst lässt sich feststellen, dass sich das stark durch den christlich-abendländischen Kulturkreis geprägte Konzept von Sakralität durchaus auch auf das spätkaiserzeitliche China übertragen lässt, sofern man es als eine rein theoretische Schablone begreift. Wie schon zu Beginn des Aufsatzes festgestellt wurde, äußert sich Sakralität, wenn man sie in ihrer einfachsten Form als eine Dichotomie von sakral und profan auffasst, als eine Distanzkategorie. Derartige Formen der Distanz lassen sich auch in den hier untersuchten Textbeispielen ausmachen. So findet sich beispielsweise die Distanz zwischen der Welt der Menschen an Land und den Unterwasserwelten der Drachenkönige; die Distanz, wie sie sich in den märchenhaften Beschreibungen der Unterwasserpaläste zeigt; die Distanz, welche die Welt der Gottheiten von der sogenannten Welt des Staubes trennt; die Distanz, welche sich in den Ritualen äußert, mit denen Wei Zheng und der Drachenkönig des Jing-Flusses die Dekrete des Jadekaisers empfangen oder auch die Distanz, durch welche bestimmte nicht-irdische Handlungen in den Bereich der Träume verlagert werden. An all diesen Beispielen zeigt sich die Unterscheidung zwischen einem sakralen und einem profanen Bereich. Darüber hinaus kann man die Formen, in denen sich Distanz ausdrückt, noch weiter differenzieren. Dies zeigt sich besonders bildhaft am Beispiel Die Reise nach dem Westen. Obwohl für diese Untersuchung nur ein Abschnitt aus den insgesamt einhundert Kapiteln des Werkes ausgewählt wurde, lässt sich doch schon

FEUCHTWANG, Popular Religion in China. The Imperial Metaphor. Richmond, Surrey 2001; HYMES, Way and Byway (wie Anm. 82), 171–205; HYMES, Personal Relations (wie Anm. 82), 37–69 sowie SHAHAR/WELLER, Introduction, in: Unruly Gods (wie Anm. 5), 1–36 (besonders 4–16). 98 Zwar spricht man teilweise auch im chinesischen Kontext von einer Hölle, doch wird diese anders als etwa im Christentum keineswegs mit dem Bereich des Bösen assoziiert.

Heiligkeitskonzeptionen im spätkaiserzeitlichen China

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eine komplexe hierarchische Gliederung der göttlichen Sphäre ausmachen, in die auch die Welt der Menschen einbezogen ist. Wie sich schon in den Ausführungen Meir Shahars, Richard von Glahns oder Susan Naquins und Chün-fang Yüs gezeigt hat, werden die Bereiche des Göttlichen und des Menschlichen im spätkaiserzeitlichen China weit weniger getrennt wahrgenommen als dies in anderen Kulturräumen der Fall sein mag. Dadurch soll die eben angesprochene Distanz keineswegs in Frage gestellt werden. Sie tritt hier lediglich in feineren Abstufungen auf und nicht in Form einer absoluten Trennung von sakral und profan. Betrachtet man die semantische Ebene, so muss man feststellen, dass der chinesische Wortschatz keine exakte Wiedergabe der Begriffe von Sakralität beziehungsweise Heiligkeit zulässt. Zwar lassen sich einige Vokabeln finden, etwa shen, sheng und ling sowie die Kombinationen aus diesen Schriftzeichen, welche sich zu einem gewissen Grad dem annähern, was man in westlichen Sprachen als „sakral“ oder „heilig“ bezeichnen kann. Dennoch spiegelt keiner der chinesischen Begriffe dieses Sakralitätskonzept deckungsgleich wieder, da selbst bei einem gewissen Maß an inhaltlicher Übereinstimmung, keines dieser Ausdrücke derartig bedeutungsvoll aufgeladen ist, wie es bei „heilig“ oder „profan“ der Fall ist. Auch das Wort shensheng, welches oftmals als (moderne) Übersetzung angegeben wird, muss als unzureichend angesehen werden. Um nun einen Ausgleich zwischen der beobachtbaren Existenz von Formen der Sakralität auf theoretischer Ebenen einerseits und einer fehlenden Konzeptualisierung auf semantischer Ebene andererseits herzustellen, lohnt es sich auf das Vorbild Steven Sangrens zurückzugreifen. Betrachtet man die weiter oben beschriebene hierarchische Ordnung, so lassen sich jede einzelne ihrer Stufen in die Kategorien von yang und yin einteilen99. Dies soll im nachfolgenden Schaubild illustriert werden.

99 Zum Konzept von yang und yin im Allgemeinen siehe zum Beispiel: Philip CLART, Die Religionen Chinas (UTB 3260), Göttingen 2009, 45–48; Marcel GRANET, Das chinesische Denken. Inhalt, Form, Charakter, Frankfurt am Main 1985, 86–109 und Ralf MORITZ, Die Philosophie im alten China, Berlin 1990, 16–17.

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Abb.: Kategorien von yang und yin.

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Heiligkeitskonzeptionen im spätkaiserzeitlichen China

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Es handelt sich um eine schematische Darstellung der bereits erwähnten hierarchischen Ordnung und zeigt eine dreifache Gliederung der Welt, in die der Götter, der Menschen und der Unterwelt. Zudem lassen sich im Bereich der Götter- und Unterwelt noch weitere Abstufungen erkennen. Alle Abstufungen sind jedoch in die himmlische Ordnung eingebunden und können nicht getrennt von dieser verstanden werden. In der Mitte des Schemas, dem Bereich der Menschen, ist der Raum, welcher sich je nach Kontext sowohl yang als auch yin zuordnen lässt. Dies ist zwar auch auf den anderen Ebenen möglich, jedoch nähert man sich im oberen und unteren Bereich des Schemas graduell immer eindeutiger einer der beiden Kategorien von yang beziehungsweise yin an. Die rechte Seite der Abbildung soll veranschaulichen, wie sich Sakralität in Relation zu zunehmender oder abnehmender Nähe zur profanen Welt der Menschen (also in geringerer oder größerer Distanz zu dieser) verhält100. Die Zuordnung der verschiedenen Hierarchiestufen erfolgt in Beachtung der jeweiligen anderen Stufen. Die Ebene der Menschen ist yin im Verhältnis zur yang-Ebene der Götter aber selbst yang in Hinblick auf die yin-Ebene der Unterwelt. Ebenso ist der Drachenkönig des Jing-Flusses vor seiner Hinrichtung yang gegenüber den Menschen aber yin gegenüber dem Jadekaiser. Daraus ergeben sich nun zwei Implikationen. Die erste erhält man, indem man yang mit sakral und yin mit profan gleichsetzt. So ergibt sich, dass der Drachenkönig im Vergleich zu den Menschen Sakralität besitzt, nicht aber gegenüber dem Jadekaiser. Daraus lässt sich eine Reihenfolge erkennen, an deren Spitze der Jadekaiser steht, gefolgt vom Drachenkönig, danach dessen Untertanen und schließlich den Menschen. Da jeder gegenüber den ihm untergeordneten Ebenen als yang und damit als sakral zu beschreiben ist, ergibt sich folglich eine Abfolge von verschiedenen Stufen der Sakralität. Sakralität wird somit zu einer relativen Größe oder anders gesagt, etwas kann mehr oder weniger sakral sein. Damit erscheinen die beiden Teile der Dichotomie von sakral und profan als zwei Pole einer Skala, auf der sich die Welt des spätkaiserzeitlichen Chinas einordnen lässt. Die Dichotomie löst sich somit teilweise auf und erlangt ein hohes Maß an Dynamik. Die zweite Implikation ergibt sich, wenn man nun auch diese Position der Unterwelt innerhalb dieses Systems in den Blick nimmt. In Entsprechung zur Logik von yang und yin muss diese, wie auch das Schaubild zeigt, der Welt der Menschen untergeordnet sein101. Aus der untersuchten Geschichte in Die Reise nach dem Westen, kann man erfahren, dass die Unterwelt analog zur göttlichen Ebene über eine hierarchische Ordnung verfügt. An der Spitze dieser Ordnung steht der Yama-Fürst als Herrscher der Unterwelt. Als der Drachenkönig durch die Hin-

100 In den Klammern auf der linken Seite sind jeweils Beispiele für Vertreter der jeweiligen Hierarchiestufen angegeben. Diese beziehen sich vor allem auf den untersuchten Abschnitt aus Die Reise nach dem Westen. Dennoch soll das Schema als repräsentativ für beide untersuchten Texte betrachtet werden. 101 Ein Begriff für die Unterwelt im Chinesischen lautet yinsi 陰司 oder yinfu 陰府 (in etwa: „yin-Büro“, „yin-Präfektur“; siehe auch die Wasserpräfektur, shuifu).

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richtung seinen göttlichen Status verliert, der an das Amt der Kontrolle des Regens und des Flusses und nicht an die Person des Drachenkönigs selbst geknüpft ist, wandelt er sich folglich von einer Gottheit, shen, in einen Dämon102 und wird somit Bestandteil der Unterwelt103. Wie oben gesagt, ist die Unterwelt yin gegenüber der Welt der Menschen, welche ihrerseits in diesem Fall yang ist. Folgt man dieser Argumentation, entsteht aber der Eindruck, dass die Menschenwelt im Verhältnis zur Unterwelt sakral sei, wohingegen letztere profan wäre. Dies erscheint aber befremdlich, da allgemeinhin das Heilige als das „ganze Andere“104 im Verhältnis zur profanen Welt des Diesseits gilt. Zudem widerspricht es der Tatsache, dass von Seiten der Menschen ein Umgang mit der Sphäre der Unterwelt gepflegt wird, der in Analogie zum Umgang mit den Göttern besteht. Die Menschen also beispielsweise Rituale und Opfer für die Bewohner der Unterwelt abhalten, und nicht umgekehrt. Es ist daher sinnvoller auch der Unterwelt einen sakralen Status zuzuordnen. In Die Reise nach dem Westen zeigt sich dies etwa in der Absicht Tang Taizongs, mit Hilfe buddhistischer Schriften Rituale für die Bewohner der Unterwelt durchzuführen. Die Logik lässt sich wiederherstellen, wenn man per se der menschlichen Ebene das Profane und dem Bereich des Himmels beziehungsweise der himmlischen Ordnung Sakralität zuschreibt105. Daraus folgt, dass auch der Unter102 Dieser Wandel wird auch auf semantischer Ebene deutlich: Wird der Drachenkönig des JingFlusses zunächst mehrfach als Drachengott, longshen 龍神, bezeichnet, ändert sich dies nach seiner Hinrichtung und er wird nun meist nur noch Dämon, gui, genannt. 103 Hier ergibt sich eine interessante Analogie zum Weberschen Bürokratieverständnis. Ebenso wie Autorität in einem bürokratischen System an ein bestimmtes Amt und nicht an eine Person geknüpft ist, so ist der göttliche Status innerhalb des hier beschriebenen Systems ebenfalls nicht an ein bestimmtes göttliches Individuum, sondern an dessen Position und Funktion in der göttlichen Hierarchie geknüpft und kann folglich auch verloren gehen. Der Begriff Drachenkönig muss – zumindest im Fall der Reise nach dem Westen – als ein göttlicher Amtstitel verstanden werden. Dem Titel kommt damit ein bestimmtes Maß an Sakralität zu, nicht aber dem Individuum, welches diesen trägt. Vgl. SHAHAR/WELLER, Introduction (wie Anm. 68), 4. 104 ELIADE/MOLDENHAUER, Das Heilige und das Profane (wie Anm. 89), 15. 105 Als ein Beleg kann die Tatsache angeführt werden, dass in Die rākṣasa und der Meeresmarkt die Welt der Menschen als chenshi 塵世 (Welt des Staubes) bezeichnet wird, welcher als ein metaphorischer Ausdruck für die profane/diesseitige Welt gebraucht wurde. Darüber hinaus existiert im Chinesischen mit dem Wort fan 凡 ein weiterer Begriff, welcher geeignet ist, das Profane zu beschreiben. Dieser wird etwa in dem Ming-zeitlichen Roman Die vollständige Biographie des Han Xiangzi von Yang Erzeng 樣爾曾 deutlich. In einer Abbildung zu Kapitel (hui 回) 30 heißt es: „Han Lin jin zheng sheng chao fan 韓林尽証聖超凡.“ In der englischen Übersetzung von Philip Clart lautet der Satz: „The Han and Lin families together realized the sacred and transcend the world.“ (YANG Erzeng/Philip CLART, The Story of Han Xiangzi. The Alchemical Adventures of a Daoist Immortal, Seattle und London 2007, 443.) Der Satz bezieht sich auf den Schluss der Geschichte, als Han Xiangzi den Zustand eines xian 仙 erreicht, was im Allgemeinen als „Unsterblicher“, „immortal“ oder „transcendent“ übersetzt wird. Damit sind gottähnliche Wesen gemeint, die ihre ursprüngliche menschliche Daseinsstufe bereits verlassen und eine höhere Seinsebene erreicht haben. In dem erwähnten Satz zeigt sich eine Dichotomie der Begriffe sheng und fan, welche durchaus als die von sakral und profan verstanden werden kann.

Heiligkeitskonzeptionen im spätkaiserzeitlichen China

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welt, welche ebenso Teil der himmlischen Ordnung ist und nicht Teil der Menschenwelt, Sakralität – gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen – zukommt. Diese negative Sakralität muss aufgrund der hierarchischen Struktur der Unterwelt und in Analogie zur Sakralität auf der Ebene der Götter ebenfalls als relative Größe in Abstufungen existieren, so dass man auch hier von einem höheren oder geringeren Maß an Sakralität ausgehen kann. Egal, ob man nun aber den Bereich des Göttlichen oder den Bereich der Unterwelt betrachtet, in beiden Fällen wird Sakralität (positiv oder negativ) als eine relative Größe gewissermaßen messbar. Wie hoch ihr Grad in jedem einzelnen Fall konkret ist, bemisst sich an der Nähe oder Distanz zum Bereich des Menschlichen. Er ist umso höher, je größer die Distanz zur Welt der Menschen wird. Interessanterweise sind es jedoch gerade die niederen Gottheiten beziehungsweise die Geister der verstorbenen Ahnen, welche im religiösen Leben des spätkaiserzeitlichen Chinas die hauptsächlichen Objekte der Verehrung waren, da es gerade die Nähe war, welches sie zu beliebten Ansprechpartnern der Menschen machte. Auch war es diese Nähe, durch welche sie am ehesten als fähig angesehen wurden, in die diesseitige, menschliche Welt einzugreifen. Der entsprechende Begriff hierfür lautete ling (magische Wirkkraft, Wirkmächtigkeit, efficacy). Anders gesagt, je sakraler etwas war, je größer also auch die Distanz zur Lebenswelt der Menschen war, desto mehr geriet dieses aus dem Blick der Menschen. Je eindeutiger sich also etwas einem der beiden Pole von sakral und profan beziehungsweise von yang und yin zuordnen ließ, desto weniger war es für die Menschen des spätkaiserzeitlichen Chinas fassbar. Vielleicht liegt darin aber auch der Grund, warum ein Konzept von Sakralität nie so stark ausgearbeitet wurde, wie es in anderen Teilen der Welt der Fall war.

EXKURSIONEN ZU DEN URSPRÜNGEN DES HEILIGEN Max Müllers Vergleichende Religionswissenschaft Roger Thiel

In allen Diskursen und Theorien über das Heilige wird dasselbe gefasst als das ‚Ganz Andere‘, Unzugängliche, Unheimliche und schließlich Undarstellbare. Paradoxerweise – weil bezogen auf den emotionalen Grund des Gefühls – drängt aber gerade dieses Undarstellbare zur Darstellung und bedarf dazu einer ‚materiellen Matrix‘, Medien, Zeichensystemen oder Symbolisierungen (Bildern, Texten, Architekturen), die auf seine Nichtdarstellbarkeit verweisen und die Kommunikation über diese ‚Pathosformel‘ verstatten. Gibt es also ein System, das einen privilegierten Zeichenfonds vorhält, mittels dessen das Heilige nicht repräsentiert wird (Sakralisierung), sondern in den quasi immediat, performativ die Spur des Heiligen eingesenkt ist? Und gibt es eine Kulturtechnik, die es erlaubt, jenseits jeder Resakralisierung oder Auratisierung das Heilige zu ‚entbergen‘? Ja, sagen die Philologen des 19. Jahrhunderts: der Zeichenfonds heißt Sprache und die Technik der Entbergung Etymologie. Einer der prominentesten dieser Philologen ist der Protagonist des vorliegenden Textes: Friedrich Max Müller oder einfach nur: Max Müller. Wer war Max Müller? Wenn man diese Frage mit einem Satz beantworten müsste, würde man sagen: Kein Geringerer als einer der ‚Erfinder‘ der Religionswissenschaft. Da man aber als Erfinder nicht geboren wird, braucht es doch mehr als einen Satz. Max Müller wird 1823 in Dessau geboren und hat einen berühmten Vater: Wilhelm Müller, den Dichter, den Heinrich Heine für einen der besten hielt, der die Griechenlieder, die Schöne Müllerin und die Winterreise schrieb und der starb, als Max drei Jahre alt war. Nach einem Studium der Philologien und der Philosophie veröffentlicht er 1844 mit nur 21 Jahren die indische Fabelsammlung Hitopadesha, die er aus dem Sanskrit übersetzt hatte. Nach seiner Dissertation im selben Jahr wechselt er für kurze Zeit nach Berlin. 1845 zieht ihn sein besonderes Interesse für den Rigveda – eine Sammlung der ältesten heiligen Sanskrit-Texte – nach Paris zu Eugène Burnouf, einem der besten Kenner dieser Texte, um von ihm zu lernen. Auf der Suche nach Geld für seine Editionspläne der Editio Princeps des Rigveda kommt Müller im Juni 1846 nach England – und wird hier bis zu seinem Tod 1900 bleiben. Im April 1847 gelingt es, die East India Company davon zu überzeugen, das Geld für die Edition des Rigveda bereitzustellen. Der erste Band erschien 1849 (Band 2, 3 und 4 erschienen 1854, 1856 und 1862).

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1847 geht Müller nach Oxford, übernimmt 1850 eine Vertretungsprofessur für Modern European Languages an der Taylor Institution und 1854 diese Stelle. Bereits 1851, in seiner ersten Vorlesungsreihe, gibt er zentrale theoretische und methodische Ausführungen zu Wert und Stellung der „Vergleichenden Philologie“, die er wie eine Naturwissenschaft begreift, und deren Ziel es ist, „qua vergleichender Analyse die Gesetze, die Natur und die Entwicklung der Sprache“1 zu entdecken. 1858 wird Müller Fellow des All Souls College, eine Position, die ihm ein ruhigeres Arbeiten ohne größere Verpflichtungen vergönnt, und 1868 wird für ihn eine Stelle geschaffen: der Chair of Comparative Philology. Drei große Meilensteine seiner publizistischen Arbeiten der Folgejahre müssen erwähnt werden: 1874 – dem Jahr, in dem die kritische Edition des Rigveda beendet wurde – hatte Müller die Idee zu einer Anthologie: Die heiligen Texte der großen Religionen sollten erscheinen und die 50 Bände erschienen in den Folgejahren unter dem Titel The Sacred Books of the East oder wie er es gelegentlich nannte, seine „Bibliotheca Sacra“. 1878 erscheinen seine Hibbert Lectures (On the Origin and Growth of Religion), 1888-92 die vier Bände seiner Gifford Lectures. In beiden Werken legt er seine Grundideen der Religionswissenschaft dar. Müller bewältigte diese riesige Publikationsmasse seiner letzten 25 Lebensjahre (mehr als hundert Bücher und Editionen), weil er seine Professur 1875 aufgab. Dieser kurze Abriss kann nur einen kleinen Einblick geben in das facettenreiche Leben einer Persönlichkeit, die Weltruhm genoss – ob als Mitglied beinah aller Akademien der Wissenschaft oder als Privy Councillor am Hof Königin Victorias oder als Namengeber der indischen Goethe-Institute, die bis heute Max Mueller Bhavan heißen. Umso erstaunlicher ist es, dass Müller bereits kurz nach seinem Tod 1900 dem Vergessen anheim fallen sollte – ein Schicksal, dass er im Übrigen mit vielen seiner ebenfalls berühmten Philologenkollegen, z.B. Hermann Usener – dem wohl berühmtesten Altphilologen, bei dem „über die Hälfte der um die Jahrhundertwende tätigen Philologen Deutschlands“2 studiert hatte – teilt. Von Müller geblieben seien lediglich „a few memorable phrases quoted in textbooks“3, schreibt Tomoko Masuzawa 1993, und auch seither hat sich das nur unwesentlich geändert4. Welche „memorable phrases“ sind das? Ich werde im Folgenden die zentralen dieser „phrases“ extrahieren und sie als Wegmarken von Müllers Exkursionen zu den Ursprüngen des Heiligen lesen. 1 2

3 4

Max Müller Papers, Bodleian Library Oxford, MS. Eng. d. 2353, Übersetzung des Autors. Roland KANY, Mnemonsyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, 68. Vgl. auch Renate SCHLESIER, Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt am Main 1994, 195–96. Tomoko MAZUZAWA, In Search of Dreamtime. The Quest for the Origin of Religion, Chicago and London 1993, 60. Vgl. als Ausnahmen die Edition von Jon R. STONE, The Essential Max Müller: On Language, Mythology, and Religion, NY 2002, und die umfängliche Darstellung von Leben und Werk Max Müllers durch Lourens P. VAN DEN BOSCH, Friedrich Max Müller. A Life Devoted to the Humanities, Leiden u. a. 2002.

Max Müllers Exkursionen zu den Ursprüngen des Heiligen

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I Müllers lebenslanges Projekt lässt sich mit einem seiner eigenen Ausdrücke ganz allgemein als „linguistische Archäologie“5 oder „linguistische Paläontologie“6 beschreiben, und so ist es denn auch wenig verwunderlich, dass zur Darstellung sprachlicher, mythologischer und religiöser Phänomene und Fragestellungen sein Werk durchzogen ist von Metaphern aus der Geologie – für die er sich nachgewiesenerweise auch als Disziplin überaus interessierte7 – und der Archäologie. Wenn die Sprache die „Autobiographie des menschlichen Geistes“8 ist, ist sie zugleich das Archiv der Geschichte „mit ihren staubigen und modernen Blättern“, und „sie ist uns ein eben so heiliger Band wie das Buch der Natur,“ schreibt Müller in seinem Text Vergleichende Mythologie von 18689. Sein Credo ist inspiriert von der Maxime, dass wir „um zu wissen, was der Mensch ist, zuvor wissen müssen, was der Mensch gewesen ist.“10 Die Sprache ist zwar ein unerschöpfliches Reservoir, das die ununterbrochene Kette der Geschichte menschlicher Konzeptionen von Objekten und Sinneseindrücke speichert; zudem ist sie aber auch im Laufe des Evolutionsprozesses (Babel-Syndrom) einer „Degeneration“ und „Bedeutungsvergessenheit“ ausgesetzt, die eben den reinen Ursprung in einer unverfälschten „Frühzeit menschlicher Religiosität“11 verstellen. Solcher „Wunsch nach Wiedergewinnung des Ursprungs“ wurde natürlich im 20. Jahrhundert kritisiert und als Rekonstruktionsphantasie decouvriert, die von der Vorstellung geleitet sei, dass „es eine Reinheit der anschaulichen Sprache am Ursprung der Sprache gegeben habe und daß das Etymon eines einfachen Sinnes noch immer, obwohl verdeckt, bestimmbar sei“12: „Ursprung ist das Ziel“: Dies ist der Satz, schreibt Renate Schlesier, „der die theoretischen Obsessionen des 19. Jahrhunderts lapidar zusammenfaßt“13:

5 6 7 8 9 10 11 12

13

Ebd., 145. Ebd., 200, 209 f., 268 f. Vgl. ebd., 210. Max Müller zitiert nach Hans G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997, 66. In: Max MÜLLER, Essays 2, Leipzig 1881, 5. Ebd., 4. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte (wie Anm. 8), 67. Jacques DERRIDA, Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text (1971), in: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, 205–258, hier: 206. Vgl. auch SCHLESIER, Kulte, Mythen und Gelehrte (wie Anm. 2), 158–59, mit Blick auf Jane Harrison, eine der ‚Cambridge Ritualists‘: „Auch Jane Harrison zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Ursprung etwas sei, das in jedem Fall rekonstruiert werden könne, und dass alles Spätere sich erst entschlüsseln lässt, wenn es auf seine Ursprünge zurückgeführt wird.“ SCHLESIER, Kulte, Mythen und Gelehrte (wie Anm. 2), 160. Der Satz stammt von Karl Kraus. Berühmt wurde er allerdings erst durch Walter Benjamin, der ihn als Motto seiner 14. These Über den Begriff der Geschichte voranstellte. Vgl. Walter BENJAMIN, Gesammelte Schriften 1, hg. von Rolf TIEDEMANN und Hermann SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt am Main 1972 ff., 701.

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Müllers Archäologie ist nicht nur eine Spurensuche nach dem ursprünglich Wahren auf dem Gebiet der Sprache; sein Interesse an Sprache ist nicht nur – technisch gesprochen – linguistisch, sondern vornehmlich philosophisch. Obwohl philologisch zentriert, stellt er seine vergleichenden Untersuchungen den Entdeckungen und „Entmythologisierungen“14 der Mythologie und der Entdeckung der (sprachlichen) Ursprünge von Mythen und Religion(en) zur Verfügung – und kann in dieser interdisziplinären Denk- und Arbeitsweise nach fast 100 Jahren erstmalig die Theologie kontextuell „zurückerobern“, nachdem sich die Philologie „durch das emanzipatorische Aufbegehren des damaligen Studenten Friedrich August Wolf 1777 von ihr befreit hatte“15. Die Entwicklung seiner Forschungsinteressen nahm ihren Ausgang bei der Sprache, vertiefte sich in der Mythologie, um schließlich bei der Religion anzukommen, oder, wie er selbst schematisch am Ende seiner Laufbahn in den Beiträgen zu einer wissenschaftlichen Mythologie (1897) resümierte, führte ihn sein Weg von der Wissenschaft der Sprache (vergleichende Philologie) zur Wissenschaft der Mythologie (vergleichende Mythologie), zur Religionswissenschaft (vergleichende Theologie), und schließlich zur Wissenschaft des Denkens (Philosophie)16. Und ganz beiläufig wurde so aus dem Philologen Müller der Erfinder der Religionswissenschaft, der auf diesem Weg die „Religionswissenschaft als eigenständige Disziplin […] etablieren und sie aus den Armen der Theologie befreien“17 konnte.

II 1851 – in dem Jahr also, in dem der junge Max Müller in Oxford seine erste Vorlesungsreihe über Vergleichende Philologie als deputy professor of Modern European Languages hielt – las der schon betagte Jacob Grimm in Berlin seine Akademierede Über den Ursprung der Sprache. In unnachahmlicher Weise schließt er darin die Rückverlagerung der Ursprache in ein „vermeintes Paradies“ als geradezu „verderblichen fehler“ aus; insgleichen hält er auch den „wahn eines göttlichen ursprungs der sprache [für] ganz beseitigt.“ Vielmehr schreibt er: Notwendig demnach sind drei, nicht bloß zwei staffeln der entwickelung menschlicher sprache anzusetzen, des schaffens, gleichsam wachsens und sich aufstellens der wurzeln und wörter, die andere des emporblühens einer vollendeten flexion, die dritte aber des triebs zum gedanken, […] und was im ersten zeitraum naiv geschah, im zweiten prachtvoll vorgebildet war, die verknüpfung der worte und strengen gedanken abermals mit hellerem bewußtsein bewerkstelligt wird.

14 Insofern nennt MASUZAWA, In Search of Dreamtime (wie Anm. 3), 74, ihn auch einen „demythographer“. 15 Antje WESSELS, Ursprungszauber. Zur Rezeption von Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Berlin/New York 2003, 91. 16 Vgl. Max MÜLLER, Beiträge zu einer wissenschaftlichen Mythologie 1, Leipzig 1898, V–VI. 17 WESSELS, Ursprungszauber (wie Anm. 15), 17; Antje Wessels bezieht das erstere Diktum auf Hermann Usener, was historisch nicht haltbar ist.

Max Müllers Exkursionen zu den Ursprüngen des Heiligen

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Die erste dieser drei „staffeln“ nennt Jacob Grimm „notwendig“ und „unsichtbar“, und er beschließt diesen Absatz folgendermaßen: Was die sprache göttliches an sich trägt, hat sie, weil in unsre natur und seele überhaupt göttliches gespreitet ist18.

1861 – also 10 Jahre später – unterschreibt Max Müller im ersten Band seiner Wissenschaft der Sprache Jacob Grimms Ablehnung eines göttlichen Ursprungs der Sprache zugunsten der Auffassung von der Sprache als „Werk des Menschen“19. Auch an Grimms Bemerkung über „wurzeln und wörter“ knüpft Müller nahtlos an: „In der Betrachtung der Natur und des Ursprungs der Wurzeln […] haben wir die äußersten Grenzen erreicht, bis zu denen uns induktive Schlüsse bei der Durchforschung der Geheimnisse menschlicher Rede führen können“20. Und was bei Grimm als „notwendig“ und „unsichtbar“ erschien, wird von Müller mit einem ganz anderen Vorzeichen versehen. Für ihn beibt als das „einzige unerklärbare Residuum das übrig, was wir Wurzeln nannten. Diese Wurzeln bildeten die wesentlichen Bestandteile aller Sprachen“21. Über deren Entdeckung gerät Müller ins Schwärmen: „Die Wurzeln mögen sehr trocken erscheinen, wenn man sie mit den Dichtungen Goethes vergleicht, und dennoch liegt wahrlich etwas Wunderbareres in einer Wurzel als in der Lyrik der ganzen Welt“22. Aber der Ton wird auch wieder sachlicher: „Was sind denn nun diese Wurzeln“23, fragt Müller und gibt ein vergleichendes Beispiel: Die arische Wurzel DA erscheint in sanskr. dâ-nam, lateinisch do-num, Gabe, als ein Substantiv; im lateinischen do, sanskr. da-dâ-mi, griech. di-do-mi, ich gebe, als Verbum. Aber die Wurzel DA wird niemals an und für sich gebraucht. […] Wurzeln sind also nicht, wie gewöhnlich behauptet wird, rein wissenschaftliche Abstraktionen24, sondern sie waren,

18 Jacob GRIMM, Über den Ursprung der Sprache, Frankfurt am Main 1985, 39–40. Vgl. dazu auch Wilhelm von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (1820), in: Wilhelm von Humboldt’s gesammelte Werke 3, Berlin 1843, 241–68, hier: 252: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch sein.“ 19 Max MÜLLER, Die Wissenschaft der Sprache 1, Leipzig 1892, 28. 20 Ebd., 452. 21 Ebd., 468. 22 Ebd., 469. 23 Ebd. 24 Der Verweis auf „rein wissenschaftliche Abstraktionen“ geht auf eine Definition August Friedrich Potts zurück, die er 1833 in seinen Etymologischen Forschungen auf dem Gebiete der Indo-Germanischen Sprachen, 147–148, so formuliert hatte: „Wurzeln sind die Stammesoberhäupter einer Wörterfamilie, die Einheit, die pyramidalische Spitze, in welche alle zu einer solchen Familie gehörigen Glieder auslaufen; [...] factisch kann es in der Sprache keine Wurzeln geben: was in ihr auch äußerlich als reine Wurzel sich darstellen möge, ist Wort oder Wortform, nicht Wurzel; denn Wurzel ist eben eine Abstraction von allen Wortclassen und deren Unterschieden, die Lichtsammlung aus ihnen ohne Strahlenbrechung [...].“ Eine Definition, die Theodor Benfey 1837 in seiner Rezension des Werkes in den Ergänzungsblättern zur Halleschen allgemeinen Literatur-Zeitung lakonisch so kommentierte: „Diese Erklärung scheint uns nicht ganz schlagend.“ Theodor BENFEY, Kleinere Schriften, ausgewählt und herausgegeben von Adalbert BEZZENBERGER, 2 Bände in

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Roger Thiel wenigstens äußerlich, mit den wirklichen Wörtern einer Sprache identisch. Was wir jetzt herauszufinden haben, ist dies: Welche innere geistige Phase entspricht diesen Wurzeln als den Keimen der menschlichen Rede25?

Müller sieht in seinen Erkundungen der Sprachursprünge, im Vergleichen verwandter Wörter und Wurzeln eine Art Erkenntnistheorie: Es liegt in der Sprache eine Art versteinerter Philosophie; wenn wir nach der ältesten Form des Wortes Name fragen, finden wir nâman im Sanskrit, nomen im Lateinischen, namô im Gothischen. Dieses nâman steht für gnâman, das im Lateinischen co-gnomen erhalten ist. Das g ist ebenso wie in natus, Sohn, für gnatus, weggefallen. Nâman und Namen sind daher von der Wurzel gnâ, wissen, abgeleitet, und bedeuten ursprünglich das, woran wir ein Ding erkennen26. Und wie erkennen wir Dinge? Wir nehmen Dinge mit unseren Sinnen wahr; […] Wir kennen ein Ding, wenn wir im Stande sind, es oder jeden Teil von ihm unter allgemeinere Ideen zu bringen. Wir sagen dann, dass wir nicht nur eine Perception, eine Sinneswahrnehmung, sondern eine Konception, einen allgemeinen Begriff von dem Gegenstande haben. Die Thatsachen der Natur werden von unseren Sinnen wahrgenommen; die Gedanken der Natur, um einen Ausdruck Oerstedts zu gebrauchen, können nur durch unsere Vernunft begriffen werden. Der erste Schritt nun zu dieser wirklichen Erkenntnis, ein Schritt, der obgleich scheinbar klein, doch den Menschen für immer von allen anderen Tieren scheidet, besteht darin, ein Ding zu benennen oder ein Ding erkennbar zu machen. Alles Benennen ist Klassifikation, Einordnen des Individuellen unter das Allgemeine, und alles, was wir entweder empirisch oder wissenschaftlich kennen, kennen wir nur mit Hülfe unserer allgemeinen Ideen. […] Der Mensch hat Empfindung, Wahrnehmungsvermögen, Gedächtnis, Verstand und Vernunft, und seine Vernunft ist es, die ihn zu allgemeinen Ideen befähigt27.

In diesen beiden langen Zitaten sind drei der zentralen Kernparameter enggeführt, die Müller beständig seinen vergleichenden sprachwissenschaftlichen, mythologiekritischen und religionswissenschaftlichen Arbeiten zugrunde legt: 1. als conditio sine qua non figuriert die Sinneswahrnehmung, die eine „Perception der Dinge“ und der „Thatsachen der Natur“ verstattet; 2. ist es mittels des Vermögens der Vernunft eine Konception, die uns das begriffliche Einordnen des Individuellen unter das Allgemeine erlaubt und 3. wird die so bewerkstelligte „wirkliche Erkenntnis“ im Benennen, sprich: in Namen, niedergelegt.

1 Band, Hildesheim/New York, Zweite Abtheilung, 28. Benfey selbst hat diese wahrhaft ‚elementaren Elementen‘, diese ‚Gründungsfiguren‘ der Etymologie und Vergleichenden Sprachwissenschaft und deren mögliche Fiktionalität in großer Ausführlichkeit und Akribie immer wieder umkreist und kritisch beleuchtet. Vgl. ebd., 28–31. In den Göttingischen Gelehrten Anzeigen von 1862 kommt er noch einmal – und noch detaillierter – auf die Wurzelfrage zu sprechen, wieder anlässlich der Rezension eines weiteren Bandes von Potts Etymologischen Forschungen, der ein Jahr zuvor erschienen war. Seine Einlassungen haben folgendes Pott-Zitat zum Zentrum: „‚Wurzeln sind ferner nur ein Eingebildetes, eine Abstraction; factisch kann es in der Sprache keine Wurzeln geben.‘“ Ebd. 43. Vgl. zum Wurzelkontext ferner ebd., 36–45. 25 MÜLLER, Die Wissenschaft der Sprache 1 (wie Anm. 19), 469. 26 Ebd., 494. 27 Ebd., 494–95.

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III Damit komme ich zur ersten der oben genannten „memorable phrases“: Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu – Nichts ist in der Vernunft, was nicht vorher in den Sinnen war – heißt sein Motto, dass er permanent zitiert und auslegt, so in seinen Hibbert Lectures (On the Origin and Growth of Religion, 1878), Gifford Lectures (Natural Religion, 1888) und den Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (1861), um nur einige zu nennen. Dies Motto stammt nicht von ihm und auch nicht von Herder oder Humboldt28 – die man als Urheber vermuten könnte –, sondern (vermutlich) von John Locke29. Müller geht in seinen Variationen über dieses Thema noch einen Schritt weiter und parallelisiert die Sinne direkt mit der Sprache („nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in lingua“)30. Mittels dieses „Erkenntnisprocesses“ kann man Gott nicht etwa direkt erkennen; wäre das möglich, wäre der „Begriff des Göttlichen“ aufgehoben und er wäre lediglich ein „phänomenales Objekt, ein Idol, wenn Sie wollen ein Fetisch, ein Totem, aber nicht das, was wir unter Gott verstehen“31. Indirekt und mittelbar gibt es diese ‚Erkenntnis‘ aber schon. Müller erklärt das folgendermaßen: Sobald wir aber einsehen, dass der Begriff des Phänomenalen ohne den korrelativen Begriff des Noumenalen unmöglich ist, mit anderen Worten, dass es keine Erscheinung gibt, ohne Etwas, was erscheint, was hinter der Erscheinung durch, in und für sich ist oder existiert, sobald wir gelernt haben, das Unsichtbare im Sichtbaren, das Ewige im Zeitlichen, das Unendliche im Endlichen, die Allgegenwart Gottes in der Natur und im Menschen zu erkennen, können wir auch verstehen, was Fichte meinte, wenn er Religion die höchste Erkenntnis nannte. Denn die Religion im eigentlichen Sinne ist es, welche uns die Augen öffnet, und uns das Noumenale im Phänomenalen, das Übernatürliche im Natürlichen sehen lässt und dadurch die verschleierte Natur in eine fortwährende Entschleierung und Offenbarung des Göttlichen wandelt. Jede Religion kann ein Bestreben genannt werden, diesem Gefühle von der wirklichen Gegenwart des Göttlichen in der Natur und im Menschen Ausdruck zu geben. Von den Philosophen wurde dieses Gefühl bisweilen sensus numinis genannt, und wenn nach Aristoteles die Alten sagten, dass Alles, was uns durch die Augen, das Gehör oder einen anderen Sinn erscheine, voller Götter sei, so meinten sie dasselbe wie wir, nämlich dass wir durch die Erkenntnis des Endlichen das Unendliche, durch die Erkenntnis der Natur Gott erkennen, und durch die Erkenntnis unserer selbst zur Erkenntnis des höchsten Selbst gelangen, jenes Selbst, welches Dichter und Propheten mit mannigfachen Namen genannt haben, welches aber seinem eigentlichen Wesen nach über allen Namen ist und sein muss, in

28 In der Sprachursprungstheorie Wilhelm von Humboldts – Humboldt ist für Müller ein beständiger Referenzpunkt wie auch Jacob Grimm und August Friedrich Pott – von 1824/26 heißt es: „In die Bildung und den Gebrauch der Sprache geht notwendig die ganze Art der subjektiven Wahrnehmung der Gegenstände über. Denn das Wort entsteht ja aus dieser Wahrnehmung, und ist nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes.“ Wilhelm von HUMBOLDT, Natur der Sprache überhaupt (1824–1826), in: Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, hg. v. Hans Helmut CHRISTMANN, Darmstadt 1997, 19–45, hier: 32. 29 Vgl. Max MÜLLER, Natürliche Religion, Leipzig 1890, 67. 30 Ebd., 67–68. 31 Ebd., 68.

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Roger Thiel gewissem Sinne das Unerkannte und doch die Quelle all unserer Erkenntnis im wahrsten Sinne dieses Wortes32.

Am deutlichsten und reinsten haben dies nun die ältesten „Dichter und Propheten“, die des Rigveda, festgehalten. In seinen Hibbert Lectures On Origin and Growth of Religion schreibt Müller: Hier ist die große Lehre, die uns der Veda lehrt! All unsere Gedanken, selbst die anscheinend abstraktesten, haben ihren natürlichen Grund in dem, was täglich durch unsre Sinne greift. Nihil in fide nisi quod ante fuerit in sensu33.

In der langen Passage, die ich soeben aus Müllers Text Natürliche Religion aus den Gifford Lectures zitiert habe, gibt es zwei Termini, die besonders hervorgehoben werden sollen: 1. das Noumenale als das dem Phänomenalen „korrelative“ Prinzip und 2. der sensus numinis, ein „Gefühle von der wirklichen Gegenwart des Göttlichen in der Natur“, wie Müller sagt. Bevor ich allerdings vertiefter darauf – und also auf die Religionsentstehung – eingehe, werde ich Müllers eigenem, oben genanntem Schema folgen und seine Theorie der Mythengenese (Mythopoiesis) und der Mythenkritik skizzieren. Im Kontext von Müllers ‚Arbeit am Mythos‘ sind es gleich zwei der genannten „memorable phrases“ – und vielleicht die überhaupt prominentesten „phrases“ –, die plausibel gemacht werden sollen, weil sie es waren, die zu Missverständnissen und/oder Verkürzungen von Seiten der Rezeption geführt und Müller zum Skandalon gestempelt haben.

IV In ihrem Buch Ursprungszauber. Zur Rezeption von Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung aus dem Jahre 2003 schreibt die Altphilologin Antje Wessels: Denn die in die Formel „aus nomina wurden numina“ gebrachte Behauptung, dass der Mythos aus einem Missverstehen sprachlicher Zeichen entstanden sei, blendete die Existenz eines mythosspezifischen Wahrheitsbegriffs aus – letztlich wurde alles auf Naturereignisse, also auf einen mythosunabhängigen Objektkreis bezogen – und führte statt dessen zu einer Pathologisierung des Mythischen. Am explizitesten zum Ausdruck kommt dies in Müllers Definition des Mythos als einer Sprachkrankheit, „disease of language“, die an Creuzers These erinnert, dass Mythen lediglich missverstandene Symbole seien34.

Obwohl Müller die Formel ‚aus nomina (also Namen) wurden numina (also Dämonen, Geister, Götter etc.)‘ zitiert35, konfirmiert und versucht, ihre Konsis32 Ebd., 68–69. 33 Max MÜLLER, The Hibbert Lectures (1878), in: Collected Works 9, London and Bombay 1898, 239, Übersetzung des Autors. 34 WESSELS, Ursprungszauber (wie Anm. 15), 18. 35 Max MÜLLER, Semitischer Monotheismus, in: Essays 1, Leipzig 1879, 342–43: „So lange man sich noch bewusst war, dass alle diese Namen nur Attribute derselben göttlichen Macht waren, gab es keinen Polytheismus, obwohl jeder neue Name das Schauen Gottes unklarer machen musste. Zuerst waren diese Namen für Gott, gleich Fetischen und Bildern, nur eben

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tenz zu beweisen36, stammt auch diese Gnome nicht von Müller selbst, sondern von seinem Lehrer Eugène Burnouf37. Warum a) ein „mythosspezifischer Wahrheitsbegriff“38 ausgeblendet wird (und was dieser sei) und warum b) Naturereignisse einem „mythosunabhängigen Objektkreis“ angehören und es c) zu einer Pathologisierung des Mythischen39 durch die Rede vom Mythos als einer „Erkrankung der Sprache“ komme, wird nicht gesagt – genauer gesagt: in diesem Kontext zwar niedergeschrieben („dass der Mythos aus einem Missverstehen sprachlicher Zeichen entstanden sei“), aber offenbar nicht beherzigt. Müller selbst hatte im ersten Band der Wissenschaft der Sprache der insinuierten Pathologisierungstendenz zugearbeitet, wenn er schreibt: „Vieles von dem, was wir jetzt Mythologie nennen, war in Wahrheit eine Krankheit oder ein leidender Zustand (πάθος, Pathos) der Sprache“40. Wie das aber gemeint ist, wird sogleich angeschlossen: Mythos bedeutet Wort, aber ein Wort, das zunächst nur Name oder Attribut, später eine substanziellere Existenz hat annehmen dürfen. Viele von den griechischen, römischen, indischen und andern heidnischen Göttern sind nichts als poetische Namen, die nach und nach eine von ihren ersten Erfindern gar nicht in Betracht gezogene göttliche Persönlichkeit annehmen durften. […] Das Fatum, oder Schicksal, bedeutete ursprünglich etwas Gesagtes, und ehe es eine Macht wurde, größer als Jupiter selbst, bedeutete Fatum das von Jupiter einmal Ausgesprochene, das nun nicht mehr geändert werden konnte, sogar von Jupiter selber nicht41.

Kurz: Mythologie ist eine „disease of language“, und das heißt: „the misunderstanding of fundamental metaphors, the principal factor in the rise of mythology“42. Der Philologe Friedrich Nietzsche, dessen Projekt der Entzauberung der sprachlich verfassten Metaphysik samt ihrer rhetorischen, unbewussten und miss-

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Versuche eine Idee auszudrücken oder darzustellen, für die sich keine entsprechende Darstellung finden lässt. Aber das Eidolon oder Bild wurde zum Idol, das Nomen oder der Name zum Numen oder Dämon, sobald man ihre ursprüngliche Bedeutung aus den Augen ließ. Hätten die Griechen nie vergessen, dass Zeus nur ein Name oder ein Symbol der Gottheit war, so hätten sie Gott eben so gut bei diesem Namen, als bei jedem anderen nennen können.“ MÜLLER, Natürliche Religion (wie Anm. 29), 367: „Man hat oft gesagt, numina seien nomina (sic!). War unsere Beweisführung bis jetzt richtig, so werden wir diese Behauptung nicht nur acceptieren, sondern ihre wahre Bedeutung nun erst recht verstehen.“ Vgl. Tomoko MASUZAWA, Our Master’s Voice: F. Max Müller after a Hundred Years of Solitude, MTSR 15 (2003), 305–28, hier: 314; STONE, The Essential Max Müller (wie Anm. 4), 20; Joseph M. KITAGAWA and John S. STRONG, Friedrich Max Müller and the Comparative Study of Religion, in: Nineteenth Century Religious Thought in the West (vol. 3), hg. v. Ninia SMART u. a., Cambridge 1985, 179–213, hier: 183. Wessels beruft sich hier lediglich auf Walter BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, Les études classiques aux XIXe et XXe siècles: Leur place dans l’histoire des idées. Entretiens sur l’antiquité classique 26 (1980), 159–99, hier: 165–69. Hier gilt Ernst CASSIRER, The Myth of State, Zürich/München 1949, 24 ff., als Gewährsmann. MÜLLER, Die Wissenschaft der Sprache 1 (wie Anm. 19), 10. Ebd. VAN DEN BOSCH, Friedrich Max Müller (wie Anm. 4), 163.

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verstehenden Strategien galt, war von den Texten Max Müllers begeistert, ja sie figurierten gar als Quellen43. In der Encyclopädie der klassischen Philologie notiert er: M. Müller „comparative Mythologie“ in den Essays. Die vergl. Mythologie hat constatirt, dass die Namen von Gottheiten ursprünglich Prädikate sind: nun aber hat ein Objekt meist eine Anzahl von Prädikaten, u. so giebt es in den Urperioden eine Mehrzahl von Namen, die einem Objekte zukommen: also Synonyme. Nun aber sind viele dieser Namen wieder gebräuchlich für andre Objekte, es giebt demnach auch viel Homonyme. Die Erde wird zB. urvî (die Weite), prithvî (die Breite), mahî (die Große) genannt: das sind Synonyme. Urvi bedeutet aber auch den Fluß, Prithvi Himmel u. Dämmerung, Mahi die Kuh und die Sprache. Daher werden Erde, Fluß, Himmel, Dämmerung, Kuh und Sprache Homonyme. Daher, wenn die Metaphern vergessen sind, große Verdunkelung der Mythen44.

V Dies ist Nietzsches Kurzfassung von Müllers dreiphasigem sprachgeschichtlichen System. Die erste Phase könnte man als die Phase der Begriffsbildung der nötigsten von den Sinneseindrücken vermittelten Vorstellungen bezeichnen, bei der es sich also um die „Einzelvorstellung konkreter Gegenstände“45 als den „unvermeidlichen Affectionen des Sprachgeistes“46 handelt, die Müller in den Vorlesungen zur Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft (1874) von den vermeidlichen unterscheidet. Marcel Detienne hat in unnachahmlicher Weise die Mythopoiesis und Müllers Mythenkritik geschildert und dieser ersten Phase zwei-erlei angesehen: „Im Aufgang seiner Geschichte hatte der Mensch die Fähigkeit, Wörter auszusprechen“, schreibt er, „in denen sich direkt ein substantieller Teil der von seinen Sinnen wahrgenommenen Gegenständen ausdrückte. Die Dinge riefen in ihm Laute hervor, die sich zu Wurzeln materialisierten und phonetische Grundtypen erzeugten, aus denen sich das Sprachganze bildete“47. Schon in dieser Phase – und das ist Detienne mitnichten entgangen – sind zwar spontane Wort- und Begriffsbildungen überwältigender oder immer wiederkehrender Sinneseindrücke möglich (direkt); diese unterliegen aber bereits einer subjektiven und willkürlichen Selektion und also Konstruktion (substantieller Teil), sind also stets schon „eine Verfälschung der Wirklichkeit“48, bei der durch

43 Vgl. Benedetta ZAVATTA, Die in der Sprache versteckte Mythologie und ihre Folgen fürs Denken. Einige Quellen von Nietzsche: Max Müller, Gustav Gerber und Ludwig Noiré, Nietzsche-Studien 38 (2009), 269–98. 44 Friedrich NIETZSCHE, Encyclopädie der klassischen Philologie, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe (KGA), hg. von Giorgio COLLI und Mazzino MONTINARI, Berlin und New York 1967 ff., KGA II.3, 410. 45 ZAVATTA, Die in der Sprache versteckte Mythologie (wie Anm. 43), 292. 46 Max MÜLLER, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, Straßburg 1874, 51. 47 Marcel DETIENNE, Die skandalöse Mythologie, in: Das Heilige – seine Spur in der Moderne, hg. v. Dietmar KAMPER und Christoph WULF, Frankfurt am Main 1987, 13–34, hier: 22. 48 ZAVATTA, Die in der Sprache versteckte Mythologie (wie Anm. 43), 284.

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„natürliche Auswahl“ oder „natürliche Elimination“ aus dem unglaublichen Fundus der Eindrücke „nur die stärksten, die brauchbarsten“ konzipiert werden, schreibt Müller in Darwinscher Manier49. Nietzsche war von dieser Erkenntnis fasziniert, und er fasste sie in einem Notat 1884/5 wie folgt ab: „[U]ngeheure Zeiträume hindurch galt auf Erden ein Ding als gleich und zusammenfallend mit einem einzigen Merkmale, zum Beispiel einer bestimmten Farbe“50. Und kurz darauf: „Die längste Verwechslung aber ist die daß das Prädikat-Zeichen mit dem Ding selber als gleich gesetzt wird“51 Und zur synekdochalen Begriffsbildung und also Zufälligkeit und Willkürlichkeit des Benennens hält er in seinen Vorlesungen zur Rhetorik im Müller-Ton fest: „Die Sprache drückt niemals etwas vollständig aus, sondern hebt überall nur das am meisten hervorstechende Merkmal hervor“52. Müller ist mit seinen Überlegungen also nicht nur eine Quelle für Nietzsches Sprachdenken, sondern ebenso Impulsgeber für die moderne Sprachwissenschaft (Saussure), die dann endgültig von der Vorstellung vom Namen als Ausdruck für das Wesen des Dinges Abschied nimmt. In der ersten Phase war mit Blick auf die Wort-, Wurzel-, und Begriffsbildung alles noch verhältnismäßig ‚paradiesisch‘, was die vergleichende Sprach- und Mythologieforschung, besonders seit der Entdeckung des gemeinsamen indoeuropäischen Sprachursprungs, veranlasste, diese als „Ziel“ ihrer Exkursionen ins Visier zu nehmen. Bereits in der zweiten oder Übergangsphase – die auch die Phase des Geistes genannt wird – beginnen die „sprachlich evozierten Entitäten […] allmählich ein unabhängiges Dasein [zu erlangen], als Gottheiten, die zusammen mit den Menschen in der Welt wirkten“53. Dies ist aber, so Müller, keine Laune dichterischer Phantasie, sondern folge einer inneren Notwendigkeit der Sprache54. Die Sprache selbst ist es, die uns verführt und uns aus dem Paradies vertreibt: Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander, untheilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag55.

Dieser markante Satz stammt nicht von Müller, sondern wiederum von seinem ‚Schüler‘ Nietzsche. Dieses Stadium, das den Beginn der Mythopoiesis markiert –

49 MÜLLER, Die Wissenschaft der Sprache 1 (wie Anm. 19), 290–91. 50 Friedrich NIETZSCHE, Nachlass 1884/85, in: Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hg. von Giorgio COLLI und Mazzino MONTINARI, Berlin und New York 1980, KSA 11, 613–14. 51 Ebd., 14. 52 NIETZSCHE, KGA II.4, 445. 53 ZAVATTA, Die in der Sprache versteckte Mythologie (wie Anm. 43), 285. 54 Vgl. MÜLLER, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft (wie Anm. 46), 316. Vgl. ebd., 332: Es springe instantan ins Auge, dass Sprachen mit grammatischen Genera unbeseelte Wesen als mit persönlichen Attributen versehene Götter und also mit Namen erscheinen lassen. 55 NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches II (Der Wanderer und sein Schatten 11), KSA 2, 547.

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und Müller spricht von einem unbesiegbaren natürlichen ‚Trieb‘ des menschlichen Geistes56 – kommentiert Marcel Detienne so: Doch der menschliche Geist durfte nicht lange ‚den Vorstellungen seiner Vernunft artikulierten Ausdruck geben‘. Seit die Menschheit nicht mehr ‚echot‘, schleicht sich eine Krankheit in die Sprache ein. Diese wird zum Opfer der von den Wörtern hervorgebrachten Vorspiegelungen57.

Verantwortlich dafür ist der Metaphernbildungsprozess, der ein „unbewußtes Produkt der Sprache ist“58, eine „Ohnmacht der Sprache“59, der zwar durch die Übertragung der von den auf die subjektive Wirklichkeit bezogenen Zeichen auf die Welt des ‚Objektiven‘ die narrative Ausgestaltung des Mythos verstattet, zugleich aber den weiteren Verlauf des Missverstehens der nomina als numina, dem Verlust der semantischen Transparenz, dem völligen Abstraktwerden der Begriffe und Namen und dem Vergessen ihrer ursprünglichen Bedeutung zuarbeiten, die schließlich die End- oder dritte Phase des Prozesses markieren60: Solange die Menschheit für die ursprüngliche Bedeutung der Wörter empfänglich bleibt, werden Begriffe wie ‚Nacht, Tag, Morgen, Abend‘ als mächtige, mit Willen und Sexualität begabte Wesen aufgefasst, ohne dass der physische Charakter der von den von diesen Wörtern bezeichneten Naturphänomene aus den Augen verloren wird. Wenn aber der ursprüngliche Sinn der Namen, die eine spontan schöpferische Sprache mächtigen Wesen beigelegt hat, einmal verschwunden ist, treten mythische Gestalten in Erscheinung. Die Namen der Naturkräfte verwandeln sich in Eigennamen. ‚Zeus lässt es regnen‘ entsteht aus dem Ausdruck ‚der Himmel regnet‘. Die Sprache hat ihre Durchsichtigkeit verloren: der etymologische Sinn des Wortes ‚Zeus‘: ‚glänzender Himmel‘ verliert sich im Dunkel. Ein fatales Vergessen61.

Die Krankheit der Sprache, heißt das, „kann nur durch eine rigorose Sprachanalyse geheilt werden, die den metaphorischen Ursprung der Begriffe aufdeckt und ihren unkritischen Gebrauch verhindert“62. Deshalb ist das vorrangige Interesse von Müllers Sprachanalyse „die semantische Entschlüsselung der zu numina verzerrten nomina und deren Deutung als bestimmte Personifikationen von Naturphänomenen“63. Aber was bedeutet das?

VI Am Beginn des zweiten Teils seiner Philosophie der symbolischen Formen von 1925 (Das mythische Denken) schreibt Ernst Cassirer: „In der Tat wird die vergleichende Mythenforschung wie die vergleichende Religionsgeschichte immer wieder auf Tatsachen hingeführt, die die Gleichung numina = nomina von den 56 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. MÜLLER, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft (wie Anm. 46), 51. DETIENNE, Die skandalöse Mythologie (wie Anm. 47), 23. Ebd., 22. MÜLLER, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft (wie Anm. 46), 78. Vgl. auch WESSELS, Ursprungszauber (wie Anm. 15), 23. DETIENNE, Die skandalöse Mythologie (wie Anm. 47), 23. ZAVATTA, Die in der Sprache versteckte Mythologie (wie Anm. 43), 293. WESSELS, Ursprungszauber (wie Anm. 15), 23.

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verschiedensten Seiten her zu bestätigen scheinen“64. Cassirers Hauptaugenmerk gilt aber nicht etwa Max Müller, wie man nach dem bisher Gesagten annehmen könnte, sondern dem Hauptwerk des bereits genannten Hermann Usener, dessen 1896 – also 4 Jahre vor Müllers Tod – erschienenen Götternamen, die den Untertitel Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung tragen. Dies deshalb, weil auch sein eigenes Projekt geleitet ist von der Darstellung der Sedimentation von religiösen Vorstellungen in begrifflicher Logik. Und so schreibt Cassirer: In einer ganz neuen Tiefe und Fruchtbarkeit ist der Gedanke, der dieser Gleichsetzung zugrunde liegt, von Usener durchgeführt worden. Die Analyse und Kritik der Götternamen wird hier als das geistige Werkszeug erwiesen, das, richtig gebraucht, imstande ist, das Verständnis des Prozesses der religiösen Begriffsbildung zu erschließen. Damit eröffnet sich der Ausblick auf eine allgemeine Bedeutungslehre, in der Sprachliches und Mythisches untrennbar vereint und korrelativ aufeinander bezogen ist65.

Bei allen Differenzen zwischen Müller und Usener sind doch die Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten überwiegend66, so dass man zu dem Schluss kommen muss, dass auch im Falle Useners Müller bahnbrechende Vorarbeit geleistet hat – was man bis in die Wort- und Bildwahl Useners hinein verfolgen kann67. Usener war ein brillanter Stilist, und er verpackte sein ebenfalls dreistufiges Entwicklungsmodell, das ich kurz skizzieren möchte, in anschauliche ‚Bilder‘. Auf der untersten Stufe seiner Taxonomie stehen die sogenannten Augenblicksgötter – also Prägungen eines Götternamens der durch „sinnliche eindrücke“ hergestellten „geistigen erregung“68. In der zweiten Stufe ist schon ein Reflexions- oder Abstraktionsvorgang am Werk, der nicht die Spontaneität eines nur einmal auftretenden Ereignisses festhält, sondern in einer gewissen Gesetzmäßigkeit (Wiederholung) das Wirken einer göttlichen Ursache konzipiert: So entstehen die für einen bestimmten Bereich zuständigen Sondergötter. Wenn in der dritten Stufe die progressive begriffliche Abstraktionsleistung – ein beständiges Fortschreiten vom Besonderen zum Allgemeinen69 – noch mehr zunimmt, entsteht nicht etwa mehr Transparenz, sondern das Gegenteil: Wie bei Müller durch die Metaphorisierung und Mythologisierung die ‚Krankheit der Sprache‘ als Vergessen der ursprünglichen Semantik provoziert wird, so wird bei Usener „der

64 Ernst CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1994, 29. 65 Ebd. 66 Vgl. WESSELS, Ursprungszauber (wie Anm. 15), 23–29. 67 Vgl. Hermann USENER, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, 4: „das wort als bezeichnung eines dings ist ursprünglich blos praedicat […]“; ders.: Mythologie (1904), in: Vorträge und Aufsätze, hg. von Albrecht DIETERICH, Leipzig und Berlin 1907, 37–65, hier: 58: „Die beiden Hauptvorgänge allen mythischen Vorstellens sind Beseelung (Personifikation) und Verbildlichung (Metapher).“ 68 USENER, Götternamen (wie Anm. 67), 3. 69 Was mit Blick auf die Abstraktionsleistung zutrifft; zugleich wird dieser Prozess aber mit Blick auf die Namen- und also Begriffsbildung von einer gegenläufigen Bewegung sekundiert.

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alte Begriff verdunkelt“70, wenn durch „lautliche Veränderungen oder das Absterben der entsprechenden Wortstämme der Zusammenhang mit dem lebendigen Wortschatz verloren geht“71. Der persönliche Gott, der somit geboren ist, ist verantwortlich für die „monotheistische steigerung“72 und die letztliche Verwandlung der göttlichen Vorstellung vom Eigen- zum Gattungsnamen, von Göttern zu Gott. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Müller und Usener eingehen, sondern lediglich bei Useners Begriff des Augenblicksgotts verweilen, um an ihm zu demonstrieren, wie sich in ihm „geistige erregung“ qua „sinnliche eindrücke“ materialisiert.

VII In seiner ebenfalls 1925, in den Studien der Bibliothek Warburg erschienenen Studie Sprache und Mythos – Ein Beitrag zum Problem der Götternamen liefert Cassirer nicht nur eine komprimierte Fassung seiner Philosophie der symbolischen Formen, sondern liest auch Müller und Usener zusammen. Auffällig ist, dass er immer wieder das „mythisch-religiöse Urphänomen“ umkreist, „das Usener durch den Ausdruck des ‚Augenblicksgottes‘ festzuhalten versucht hat“73. Wenn das Ich in „höchster Energie“ durch den „Trieb zur Konzentration“ alle „Kräfte auf einen Punkt“ fixiert, liege eine „Vorbedingung für alles mythische Denken und alles mythische Gestalten“ vor; wenn das äußere Sein nicht einfach betrachtet und angeschaut wird, sondern wenn es den Menschen jählings und unvermittelt, im Affekt der Furcht oder Hoffnung, im Affekt des Schreckens oder des befriedigten und gelösten Wunsches überfällt, dann springt gewissermaßen der Funke über: die Spannung löst sich, indem die subjektive Erregung sich objektiviert, indem sie als Gott oder Dämon vor den Menschen hintritt74.

Wenn auch der Augenblicksgott seinem Ursprung nach eine „Geburt des Moments“ ist; wenn er seine Entstehung einer ganz konkreten und individuellen, in gleicher Art nie wiederkehrenden Lebenslage verdankt, so gewinnt er doch einen Bestand, der ihn über diesen zufälligen Anlaß seiner Entstehung weit hinaushebt. […] In der Gestalt des Augenblicksgottes wird nicht nur die Erinnerung an das, was er den Menschen anfänglich bedeutete und war, an die Lösung und Erlösung von einer Furcht, an die Erfüllung eines Wunsches und einer Hoffnung festgehalten, sondern sie beharrt und bleibt, lange nachdem diese Erscheinung verblasst, und zuletzt ganz verschwunden ist. […] Auch das Wort ist, wie der Gott oder Dämon, den Menschen kein Geschöpf, das er sich selbst erschaffen hat, sondern es tritt ihm als ein an sich Seiendes und an sich Bedeutsames, als ein objektiv Reales gegenüber75.

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USENER, Götternamen (wie Anm. 67), 312. WESSELS, Ursprungszauber (wie Anm. 15), 24. USENER, Götternamen (wie Anm. 67), 338. Ernst CASSIRER, Sprache und Mythos – Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, in: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, 71–158, hier: 103. 74 Ebd. 75 Ebd.

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Erstaunlich sind die analogen, parallelen Charakteristika, die sich zwischen der 1. Phase im Sprach- und Mythenbildungsprozess Müllers und Nietzsches einerseits und den Augenblicksgöttern Useners andererseits erkennen lassen: Waren es dort für das Subjekt „das am meisten hervorstechende Merkmal“, gleichsam „nur die stärksten und brauchbarsten eindrücke“ und „unvermeidlichen Affectionen“, die den Auslöser und die Prägekraft zur Wortbildung auslösten, so sind es hier „jählings und unvermittelt“ die Affekte des Schreckens und der Furcht, die die „subjektive Erregung“ sich objektivieren lassen. Unter der Leitfrage, ob es noch eine Ur- oder dieser 1. Stufe vorausliegende Bewusstseinsstufe gäbe, kommt Cassirer 30 Seiten weiter in seiner Lektüre noch einmal auf die Augenblicksgötter zurück und rückt ihre Erscheinungsweise und die daran gekoppelte Wahrnehmungsqualität in ein anderes Register ein. Cassirer schreibt: Denn der Augenblicksgott ist bei all seiner Flüchtigkeit doch immer schon eine individuelle, eine persönliche Gestalt, während hier das Heilige, das Göttliche, das was den Menschen mit einer plötzlichen Regung des Schreckens wie der Verehrung überfällt, noch einen durchaus unpersönlichen, einen sozusagen ‚anonymen‘ Charakter hat. Aber in diesem noch Namenlosen ist nun erst der Hintergrund gegeben, von dem allmählich bestimmte Dämonen- und Göttergestalten mit bestimmten Namen sich ablösen können. Wenn der ‚Augenblicksgott‘ die erste aktuelle Bildung ist, in der das mythisch-religiöse Bewusstsein sich lebendig und schöpferisch erweist, so liegt doch dieser Aktualität gewissermaßen die allgemeine Potentialität der mythisch-religiösen Empfindung zugrunde. In der Scheidung einer Welt des ‚Heiligen‘ und einer Welt des ‚Profanen‘ überhaupt ist erst die Voraussetzung für die Bildung einzelner bestimmter Göttergestalten geschaffen76.

VIII Damit führt Cassirer die Kategorie in den Diskurs der religiösen Begriffs- und Namensbildungen ein, die 1917 das Hauptwerk77 des Marburger Theologen Rudolf Otto zu Weltruhm78 führen sollte: das Heilige. Mit seiner Formel „numina = nomina“ ging es „um die Identifikation zwischen dem Heiligen als der Substanz mythischer Vorstellungen einerseits und der Benennung als wichtiger Funktion der Sprache andererseits“79. Mit dieser Gleichsetzung, schreibt Stefan Willer,

76 Ebd., 134–5. 77 Rudolf OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 2004. 78 Dieser hat allerdings im Laufe von knapp 100 Jahren eine Wandlung erfahren; heute stemmt sich die breite Mehrheit der kritischen Exegeten gegen seine zumindest zweifelhafte Methodik, Epithetawucherung und Einfühlungsprosa, deren Ablehnungsgipfel in Giorgio Agambens Homo sacer (2004) zu sehen ist, der Otto als Endpunkt einer Auseinandersetzung mit Religion und dem Heiligen sieht und ihm Verwässerung und Verundeutlichung eines ehedem trennschärferen Diskurses vorwirft. 79 Stefan WILLER, „numina = nomina“. Zur Lehre von den Götternamen um 1900, in: Namen. Benennung–Verehrung–Wirkung. Positionen der europäischen Moderne, hg. v. Tatjana PETZER u. a., Berlin 2009, 17–30, hier: 17.

192

Roger Thiel

„referierte Cassirer auf das Numinose als religionsphilosophische Kategorie“, die Otto ins Zentrum des genannten Werkes gestellt hatte: Dem lateinischen Doppelsinn von numen als ‚Wille‘ und ‚Wink‘ folgend, siedelte Otto das als numinos verstandene Heilige an der Grenze zwischen Wesenhaftigkeit und Zeichenhaftigkeit an, indem er es etwa im ‚Reflex des numinosen Objektgefühls im Selbstgefühl‘ oder in den ‚Ausdrucksmitteln des Numinosen‘ untersuchte80.

Das Heilige sei nicht nur eine religionsphilosophische Kategorie, sondern eine, so Otto, „Kategorie rein a priori“81. Und dies, obwohl sie eine Kategorie aus den zusammengesetzten Momenten des Rationalen und des Irrationalen ist – wie ja der Untertitel des Buches von Otto nahelegt (Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen). Auch ist diese Kategorie keineswegs „logisch notwendig“82 – was beweist, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Analyse des religiös Irrationalen durchaus darauf abzielen [konnte], die Zurechnungsfähigkeit der Irrationalität als einer eigenständigen Erkenntnisweise darzulegen83.

Dem Numinosen, dem ‚Ganz Anderen‘ – dessen Erscheinungsweisen und deren Analogien Otto in vielfältigen „Momenten“ nachgeht – eignet noch eine weitere Oppositionsbestimmung: die der „Kontrastharmonie“ des „Mysterium tremendum et fascinans“ (also des „Schauervollen, der schlechthinnigen Unnahbarkeit“ und der Verlockung, der Attraktion), die Otto als „das seltsamste und beachtlichste Vorkommnis überhaupt in der Religionsgeschichte“ apostrophierte84 und die Sigmund Freud in seiner Studie von 1919 „Gefühlsambivalenz“85 nannte und sie als vom Unheimlichen verursachte Bestimmung herausstellte. Auch Otto koppelt sie in signifikanter Weise an das Unheimliche, ja mehr noch: „von diesem irgend wann einmal in erster Regung durchgebrochenen Gefühle eines ‚Unheimlichen‘, das fremd und neu in den Gemütern der Urmenschheit auftauchte, ist alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen“86; es sei dies ein „aus keinem andern Gefühle abgeleitetes […] qualitativ einzigartiges originales Gefühl, ein Urgefühl“87, das auch nicht mit der Geburt der Religion aus der Urangst zu verwechseln sei, wie von Vico über Durkheim, Frazer, Blumenberg bis Odo Marquardt und Gunnar Heinsohn quer durch die unterschiedlichsten Disziplinen immer wie-

80 Ebd. Die Im Zitat angeführten Zitate sind Kapitelüberschriften in OTTO, Das Heilige (wie Anm. 77), 8, 79. 81 OTTO, Das Heilige (wie Anm. 77), 137. 82 Ebd., 165. Irrational deshalb, weil alle Begriffe, mit denen er das Phänomen des Heiligen einkreist (mysterium, tremendum, mirum, numinos etc.) seinem eignen Religionsverständnis widersprechen, denn: „Als das ‚ganz Andere‘ entzieht es sich aller Sagbarkeit.“, 76. 83 WILLER, „numina = nomina“ (wie Anm. 79), 28. 84 OTTO, Das Heilige (wie Anm. 77), 42. 85 Vgl. Renate SCHLESIER, Das Heilige, das Unheimliche, das Unmenschliche, in: Das Heilige – seine Spur in der Moderne (wie Anm. 47), 99–113, hier: 107. 86 OTTO, Das Heilige (wie Anm. 77), 16. 87 Ebd., 59–60.

Max Müllers Exkursionen zu den Ursprüngen des Heiligen

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der angenommen wurde und wird88. An all diesen Erregungsqualitäten des Numinosen und Heiligen sind unzweifelhafte Allusionen auf und Allianzen mit dem Erhabenen abzulesen. Schon Otto hatte dies nicht übersehen89. Wo aber er diese ästhetische Kategorie mit Kant und dessen Dritter Kritik begreift und „das Gefühl des Erhabenen durch Ähnlichkeit dem des Numinosen eng“90 angelegt sein lässt, wäre eine Engführung mit einer Form des Erhabenen zu sehen, die zeitlich wesentlich früher angesiedelt ist und deren Kern nicht wie bei Kant auf Widerstand und vernunftgeleitete Bemeisterung und schließliche Überwindung dieses ‚Gefühls‘, sondern gerade die Überwältigung ist, die von ihm ausgeht. Die Rede ist hier von der Schrift Περὶ ὕψους (Peri hypsous) des (Pseudo-)Longinos, die aus der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts stammt91. Wenn Max Müller mit seinen szientifischen und mikrologischen Wurzel-Bohrungen nach der Wahrheit des Entstehens von Mythos und Religion und Hermann Usener mit seinen logischen Begriffsbildungsforschungen mit dem gleichen philologischen Instrumentarium der Etymologie hinter die Matrix des Heiligen nicht mehr zurückkönnen: haben sie dann tatsächlich mittels der linguistischen Klassifikation als verlässlichem Schlüssel, wie Müller 1871 formuliert, den „Ursprung und die Entwickelung der Religion“ entdeckt, oder betreiben ihre „Andachten zum Unbedeutenden“ eine „Auratisierung der philologischen Einzelheit“ und haben somit „in mancherlei Hinsicht mit Sakralität und Resakralisierung zu tun“92, wie Stefan Willer fragt? Zur Beantwortung dieser Frage müsste ich die Richtung wechseln – was ich mir für eine andere Gelegenheit aufspare.

88 Vgl. Christoph JAMME, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt am Main 1991, 88 ff. 89 OTTO, Das Heilige (wie Anm. 77), 56 ff. 90 Ebd., 57. 91 Vgl. dazu Winfried MENNINGHAUS, Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen, POETICA 23 (1991), 1–19. 92 WILLER, „numina = nomina“ (wie Anm. 79), 29.

FARBTAFELN



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B E I T R ÄG E Z U R H AG I O G R A P H I E

Herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1439–6491

Dieter R. Bauer / Klaus Herbers (Hg.) Hagiographie im Kontext Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung 2000. XXVIII, 288 S. mit 2 Abb. und 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-07399-8 Anke Krüger Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert 2001. 398 S., geb. ISBN 978-3-515-07789-7 Martin Heinzelmann / Klaus Herbers / Dieter R. Bauer (Hg.) Mirakel im Mittelalter Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen 2002. 492 S., kt. ISBN 978-3-515-08061-3 Charles Mériaux Gallia irradiata Saints et sanctuaires dans le nord de la Gaule du haut Moyen Âge 2006. 428 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08353-9 Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriele Signori (Hg.) Patriotische Heilige Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne 2007. 405 S., kt. ISBN 978-3-515-08904-3 Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks (Hg.) Sakralität zwischen Antike und Neuzeit 2007. 294 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08903-6 Uta Kleine Gesta, Fama, Scripta

Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis 2007. XVI, 481 S. mit 6 Abb. und 6 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08468-0 8. Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Hedwig Röckelein / Felicitas Schmieder (Hg.) Heilige – Liturgie – Raum 2010. 293 S. mit 35 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09604-1 9. Christofer Zwanzig Gründungsmythen fränkischer Klöster im Früh- und Hochmittelalter 2010. 539 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09731-4 10. Sofia Meyer Der heilige Vinzenz von Zaragoza Studien zur Präsenz eines Märtyrers zwischen Spätantike und Hochmittelalter 2012. 383 S., kt. ISBN 978-3-515-09068-1 11. Waltraud Pulz (Hg.) Zwischen Himmel und Erde Körperliche Zeichen der Heiligkeit 2012. 227 S. mit 28 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10283-4 12. Daniel Nuß Die hagiographischen Werke Hildeberts von Lavardin, Baudris von Bourgueil und Marbods von Rennes Heiligkeit im Zeichen der Kirchenreform und der Réécriture 2013. 257 S., kt. ISBN 978-3-515-10338-1 13. Andrea Beck / Andreas Berndt (Hg.) Sakralität und Sakralisierung Perspektiven des Heiligen 2013. 210 S. mit 2 Abb. und 20 Farbtaf., kt. ISBN 978-3-515-10624-5

Das Heilige ist allgegenwärtig. Es zeigt sich in konkreten Formen wie etwa heiligen Schriften, Sakralbauten oder auch Personen, ist aber zuweilen schwer fassbar, wenn es zum Beispiel auf Namen, Handlungen oder spirituelle Erfahrungen bezogen wird. Dabei können die Manifestationen, in welchen Heiliges zu Tage tritt, äußerst vielfältig sein, und so vereint dieser Band Beiträge verschiedenster Disziplinen und deckt eine große Zeitspanne ab: von kirchlichen Bodenmosaiken des Nahen Ostens aus dem 6. Jahrhundert bis

hin zu den methodischen Überlegungen Max Müllers über die Ursprünge des Heiligen. Der geographische Rahmen erstreckt sich über das abendländische Europa hinaus auf das christlich-arabische Spanien des Mittelalters, auf Ägypten sowie auf die fernöstlichen Länder Indien und China. Sakralität erweist sich jeweils nicht als eine konstante Größe, sondern muss als Prozess verstanden werden, in dem das Heilige stets bestätigt oder neu definiert werden muss.

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ISBN 978-3-515-10624-5

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