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German Pages 396 Year 2014
Tatiana Golova Räume kollektiver Identität
Materialitäten Hg. von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser | Band 16
Tatiana Golova (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind politische Soziologie und Raumsoziologie.
Tatiana Golova
Räume kollektiver Identität Raumproduktion in der »linken Szene« in Berlin
Dissertation an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, 2009
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Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung | 9 1.
Kollektive Identität als Prozess in sozialen Bewegungen | 21
1.1 1.2 1.3 1.4
Konzepte der Identität: kollektive und individuelle Ebene | 23 Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene | 47 Die linke Szene als „social movement community“ | 63 Abschließende Bemerkungen | 81
2.
Räume und kollektive Identität | 85 Gesellschaftszentriertes Raumkonzept | 86 Räume und Strukturierung | 104 Die Kontextualität des Handelns | 118
2.1 2.2 2.3 2.4
Räumliche Organisation der Prozesse kollektiver Identität: Ein Entwurf | 136
3.
Feldforschung | 151
4.
4.1 4.2 4.3
Umkämpfter Raum einer linken Kneipe | 173 Die emotional-körperliche Raumsynthese | 176 Eine linke Kneipe wird gemacht | 198 Abschließende Bemerkungen | 221
5.
Szeneläden als Ressourcen kollektiver Identität | 223
5.1 Räume eines Kneipenabends und eines Kollektivplenums | 224 5.2 Szenekneipe als „Anschlussort“ | 254 5.3 Abschließende Bemerkungen | 280
6.
„Wir“ gegen „Sie“: Symbolische Räume der linken Szene | 283 „Freiräume“ als Freiheitsbehälter? | 285
6.1 6.2 Demonstration als episodischer politischer Raum | 301 6.3 Abschließende Bemerkungen | 346 Schlussfolgerungen | 349 Anhang
Transkriptionshinweise | 365 Informationen zu Interviews | 366 Literatur | 371
Danksagung
Ich bedanke mich herzlich bei allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, bei den Mitgliedern des Kollektivs, in dessen Rahmen ich einen wichtigen Teil der empirischen Studie durchführen konnte, sowie bei allen Menschen aus der „linken Szene“, die bei der Durchführung des Forschungsprojekts wohlwollend geholfen haben. Ohne sie wären dieses Buch und die ihr zugrunde liegende Dissertation auf mehr als eine Weise nicht denkbar gewesen. Mein herzlicher Dank gilt weiterhin denjenigen, die mich auf verschiedenen Etappen dieses langen Weges – sei es durch anregende Kritik, durch sorgfältige Korrektur der Dissertation oder durch unerschütterliches Vertrauen in den guten Ausgang des Unternehmens – unterstützt haben. Namentlich erwähnen möchte ich Andrea Andersen, Tatjana Baraulina, Elena Bogdanova, Daniela Brandt, Caroline Jaenisch, Raj Kollmorgen, Gregor Lämmel, Gernot Rogier, Mikhail Sokolov, Tatjana Zimenkova, Jürgen Zöllner. Bei den Betreuern meiner Promotion, Prof. Dr. Heiko Schrader und Prof. Dr. Eckhard Dittrich von der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg, bedanke ich mich für viele wertvolle Denkanstöße, für ihre konstruktive Kritik und vor allem für ihre Geduld. Weiterhin sei allen gedankt, die im Rahmen der von Prof. Dr. Fritz Schütze und Dr. Thomas Reim geführten Forschungswerkstatt am Institut für Soziologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg engagiert meine Interviewtexte besprochen und mehrmals für ein soziologisches „Coming Home“ gesorgt haben. Die Stipendien der Landesgraduiertenförderung Sachsen-Anhalt und des Akademischen Auslandsamtes der Universität Bielefeld haben meine Promotion über weite Strecken finanziell unterstützt und dadurch erst ermöglicht.
Einleitung
Im Herbst 1996 kam ich im Rahmen eines russisch-deutschen Austauschprojekts für einige Monate nach Berlin. Ich machte ein Praktikum bei einer antifaschistischen Zeitung und wohnte in einer Hausgemeinschaft in Kreuzberg, die Anfang der 1980er Jahre gegründet worden war. In dieser Zeit lernte ich etwas kennen, das ich aus Russland in dieser Form nicht kannte: Es gab Leute, deren Alltag von ihrer politischen Identifikation als Linksradikale und Antifaschisten geprägt war; und es gab eine breit gefächerte Infrastruktur wie Wohnprojekte, Infoläden, Kneipen u.Ä., mit denen dieser Alltag verbunden war. Politik hatte damit eine deutliche alltägliche, körperliche und räumliche Komponente. Ich fand mich plötzlich in einer mir fremden Kultur wieder – eine Erfahrung, von der ich während des Studiums gelesen hatte und die mich faszinierte. Einige Jahre später fing ich an, mich als Soziologin für räumliche Phänomene, speziell im Kontext sozialer Bewegungen, zu interessieren. Mir wurde klar, dass die Berliner „linke Szene“ mit ihrer starken diskursiven Orientierung auf das Alltagsleben und die für sie damit verbundenen Orte ein interessantes Objekt für meine Forschungen zu Räumen und sozialen Bewegungen darstellen würde. Was mit einer Idee anfing, wurde nach und nach zu einem konkreten theoretischen und methodischen Entwurf eines Forschungsprojekts. Den theoretischen Ausgangspunkt dieses Projektes bildete die Vorstellung von multiplen, in der gesellschaftlichen Praxis produzierten Räumen (vgl. Lefebvre 1991). Sie sind, wie diese Praxis selbst, von Machtverhältnissen geprägt. Mehr noch, soziale Phänomene können beim Platzieren in Räumen so zueinander in Verhältnis gesetzt werden, dass neue soziale Effekte entstehen: „Die räumliche Organisation der Gesellschaft ist ein unerlässliches Element der Produktion des Sozialen, und nicht nur sein Pro-
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dukt.“ (Massey 1994: 4, Übersetzung T.G.) Das Räumliche wird demnach von politischen Auseinandersetzungen beeinflusst und bildet zugleich eines ihrer wichtigen Element (ebd.). Das betrifft auch die sozialen Bewegungen als Bereich des Politischen. In der Bewegungsforschung wurde dem Räumlichen bisher allerdings nur unzureichend Rechnung getragen, was zum Teil mit der in den Sozialwissenschaften lange Zeit dominanten Wahrnehmung des Raums als statisch, also im Gegensatz zu einer Bewegung stehend, zu tun hat. Die Idee einer sozialen Bewegung als eines kollektiven Akteurs bezieht sich auf die für moderne, industrialisierte Gesellschaften typische Vorstellung vom sozialen Wandel als einer linearen Fortbewegung – eine Vorstellung, der die Überwindung des Raums immanent ist und die mit der analytischen Überwindung des Räumlichen einhergeht (vgl. Melucci 1996: 29, 49, Massey 1999: 280f.). Die sich in spätmodernen Gesellschaften vollziehende Veränderung der „Verräumlichung“ sozialer Beziehungen macht jedoch die Entwicklung und die umfassende Integration anderer, gesellschaftszentrierter Raumkonzepte in verschiedenen Wissensbereichen nötig, so auch in der Soziologie sozialer Bewegungen. Bis in die 1990er Jahre konnten nicht nur die räumlichen Aspekte sozialer Bewegungen, sondern auch die soziologische Raumforschung im Ganzen als vernachlässigt charakterisiert werden. Seitdem hat allerdings eine qualitativ bemerkenswerte, vor allem theoretische Entwicklung stattgefunden (als wichtige Schritte für die deutschsprachige Diskussion sind Giddens 1997, Läpple 1991b, Löw 2001 zu erwähnen). Ich gehe davon aus, dass es der produktivste Umgang mit der Raumproblematik ist, zu prüfen, wie die anderen Wissensbereiche und Fragestellungen für sie sensibilisiert werden können und inwieweit das deren Erklärungspotenzial bereichern kann. Ich selbst befasse mich in diesem Sinne mit der Produktion kollektiver Identitäten, also geteilter Wir-Definitionen, in sozialen Bewegungen. Das konkrete Forschungsinteresse des Buches ist es, unter Rückgriff auf die Konzepte der Bewegungs- und Raumsoziologie einen theoretischen Entwurf zu formulieren, mit dem räumliche Mechanismen in Prozessen der Wir-Konstitution erfasst werden können; mit seiner Hilfe soll zudem ein konkretes Fallbeispiel bearbeitet werden. Da ich die passende Sprache für die Beschreibung der Fragestellung eigentlich erst im Laufe der Arbeit gefunden habe, muss ich die Ergebnisse an dieser Stelle teilweise schon vorweg nehmen.
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Eine grundlegende Annahme ist, dass die Frage nach der Rolle von Räumen für nicht primär territorial definierte Bewegungsidentitäten einen Sinn ergibt. Das setzt ein bestimmtes, sich vom Primordialismus abgrenzendes Verständnis der kollektiven Identität und der Räume voraus. Ich gehe davon aus, dass die kollektive Identität u.a. im Alltagshandeln der Bewegungsakteure produziert wird und dieses Alltagshandeln wiederum raumbezogen verläuft und für die Produktion der Räume relevant ist. Es geht jedoch nicht darum, eine Schnittmenge zwischen der Identität und dem Raum über das Handeln mechanisch zu behaupten, sondern darum, unter dieser Prämisse nach konkreten Verbindungen zu suchen. Die „linke Szene“ in Berlin – so die zweite Annahme – liefert einen geeigneten Gegenstand für die empirische Untersuchung dieser Problemstellung, denn bei ihr ist die für die Neuen Sozialen Bewegungen typische Verbindung des subkulturell eingefärbten Alltags, des sozialen Netzwerks sowie des explizit politischen, kollektiven Handelns besonders stark ausgeprägt. Dieses interessante Feld wurde bisher von Sozialwissenschaftlerinnen1 faktisch nicht bearbeitet. Unter der „linken Szene“ verstehe ich ein lokales Netzwerk von Individuen und Gruppen, die sich selbst als Teil dieser Szene und als Akteure linksradikaler Politik verstehen. Für sie ist die Ausrichtung auf die Politik „in der ersten Person“ und im Alltag, auf außerparlamentarische, basisdemokratische Formen der Organisierung und des politischen Handelns typisch. Die bekannteste Strömung der „linken Szene“, die sie ideologisch stark geprägt hat, ist die der Autonomen, auch wenn sie inzwischen nur eine der gängigen Selbstidentifikationen darstellt (Haunss 2008).2
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Im Rahmen dieser Arbeit werden männliche und weibliche Formen der Berufsbezeichnungen u.Ä. gleichwertig verwendet. So sind unter „Leserinnen“ oder „Leser“ gleichermaßen alle lesenden Menschen ohne Differenzierung nach der geschlechtlichen Identifikation subsumiert. Die Schreibweisen mit großem „I“ (wie „SoziologInnen“) halte ich dagegen für schlecht lesbar. Die Schreibweise von Zitaten aus Arbeiten und Materialien anderer Autoren wird unverändert übernommen.
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Zur Begriffsverwendung: Mit „radikalen Linken“ sind im Folgenden nur diejenigen sich als linksradikal verstehenden Akteure gemeint, auf die die genannten Merkmale von ideologischer Ausrichtung und Organisations- und Handlungsformen zutreffen – im Unterschied z.B. zu stalinistischen Organisationen. Der Begriff „linke Szene“ ist damit weitgehend identisch, setzt den Akzent aber auf
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An dieser Stelle möchte ich einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Diskussion zur antiautoritären Linken und zur Rolle der Räume bei sozialen Bewegungen geben. Die „autonome“ radikale Linke kann sich nicht über einen Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit beklagen, die jedoch größtenteils von den Publikationen der Ämter für Verfassungsschutz und von Massenmedien ausgeht. Die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes ist – entsprechend der identitätsstiftenden Aufgabe dieser Ämter, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu beobachten – sehr selektiv und die Darstellung ist durch das Bild des „gewaltbereiten linksextremistischen Potenzials“ (Bundesministerium des Innern 2008: 137) geprägt.3 Die Situation in der sozialwissenschaftlichen Diskussion (speziell auch in der Bewegungssoziologie4) unterscheidet sich dahingehend, dass die Autonomen
das Gesamtnetzwerk, für dessen Teilnehmer die Selbstidentifikation als „radikale Linke“ bzw. der Anspruch, „linksradikale Politik zu machen“, typisch ist. Die „Autonomen“ sind eine für diese Teilnehmerinnen mögliche, heute im Vergleich zu den 1980er und 1990er Jahren weniger dominante Identifikation. Die Herangehensweise der Arbeit an die Definition der „radikalen Linken“ kann durch meine Antwort auf die mehrmals in Kolloquien an die präsentierten Teilergebnisse herangetragene Frage „Was ist daran links?“ charakterisiert werden: „Linke“ ist hier keine von der Forscherin geschaffene Definition, sondern ein zentraler Relevanzpunkt des Handelns der individuellen Akteure und der interaktiven Herstellung und Aufrechterhaltung des „Wir“. 3
Das in Verfassungsschutzberichten gezeichnete Bild stellt keineswegs eine durchgehende „Schwarzmalerei“ dar, sondern mutet manchmal eher idyllisch an – beispielsweise: „Führungsstrukturen oder Hierarchien sind der Bewegung fremd.“ (Bundesministerium des Innern 2008: 138); „Autonomes Selbstverständnis ist bestimmt von der Vorstellung eines freien, selbstbestimmten Lebens innerhalb ‚herrschaftsfreier Räume‘ (‚Autonomie‘).“ (ebd.: 137)
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Die weitgehende Abstinenz der deutschen Bewegungssoziologie gegenüber den Autonomen ist möglicherweise durch eine traditionell sympathisierende Einstellung dieser Forscher gegenüber ihren Objekten (klassisch sind es die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, NSB) zu erklären, die angesichts des mitunter gewalttätigen Handlungsrepertoires der Autonomen schwer zu vertreten wäre. Dafür spricht indirekt auch, dass der radikalen Rechten der Bewegungscharakter lange abgesprochen wurde, was durch die analytische Dominanz des NSBBildes in der deutschen Soziologie bedingt war.
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bisher nur wenig Beachtung fanden. Die Betonung der Gewaltthematik ist dagegen kaum zu übersehen – wie schon die Publikationstitel zeigen: „Autonome: Die Gewaltbereitschaft als verbindendes Lebensgefühl“ (Brumlik 1989); „Die Autonomen. Portrait einer linksextremistischen Subkultur“ (Pfahl-Traughber 1998)5; „Gewaltdiskurse und Gewalthandeln militanter Szenen“ (Mletzko 2001). Auch der empirisch eher fragwürdige Versuch einer umfassenden Darstellung durch Schwarzmeier (2001) bleibt allzu sehr auf die Gewalterlebnisse und die entsprechende Selbstdarstellung zentriert. Es sind auch differenziertere Artikel zur Militanzfrage zu finden (vgl. Paris 1991 zur Vermummung bei Demonstrationen, Anders 2006 zum symbolischen Kampf um den Gewaltbegriff). Bis vor einigen Jahren stimmte dennoch, dass die als Primärquellen zu verstehenden Bücher die besten und thematisch breiten Einblicke in Lebensweisen, Strukturen und das Politikverständnis der Autonomen boten: A.G. Grauwacke (2003), HKS 13 (1999), Kongreßlesebuch-Gruppe (1995), Geronimo (1990), Geronimo (1997). Als eine Grauzonen-Publikation ist das Buch „Die Autonomen“ (Schultze/Gross 1997) zu bezeichnen, dessen Autor und Autorin sich jahrelang in der autonomen Bewegung bzw. der autonomen Frauenbewegung engagierten und das Insider-Wissen in eine politikwissenschaftliche Diplomarbeit bzw. später in das Buch einfließen ließen. Die Autonomen werden hier als ein Ergebnis der Krise der fordistischen Gesellschaft in Deutschland und „eine Art Entmischungsprodukt“ (ebd.: 38) sozialer Bewegungen, quasi ihr militanter Teilbereich, gesehen. Das Buch hat einen systematischen und (auf dem Stand der Mitte der 1990er Jahre) umfassenden Charakter. Seine Stärke liegt vor allem im historischen und thematischen Überblick. Die bewusste Einordnung als politisches Anliegen prägt die Publikation dennoch nachhaltig, auch angesichts der Ausdrucksweise (exemplarisch: „Trotzdem hatte der Häuserkampf einiges bewirkt: Vielen war in der Revolte klar geworden, was für einem System sie gegenüberstanden“, ebd.: 159). Schultze und Gross weisen auf die Bedeutung von „negativen Sozialräumen“ (wie „Standorte von AKW, WAA und Endlagerstätten für Atommüll, Flughafenprojekte oder Militäreinrichtungen“), an
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Armin Pfahl-Traughber war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, was auf die personelle Überschneidung dieser Diskursfelder hinweist.
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denen „die geballte räumliche Gewalt von ökonomischer, technokratischer und administrativer Staatsmacht sichtbar“ werde, für die Entwicklung der Autonomen hin: „Die Orte wurden stets auch exemplarisch-symbolisch genutzt, um die Unmenschlichkeit des herrschenden Systems aufzuzeigen und anzuprangern.“ (ebd.: 17) Dennoch bieten der Autor und die Autorin kein weitergehendes theoretisches Konzept, das dies unter räumlichen und identitären Gesichtspunkten systematisieren würde, und die meisten genannten Ereignisse (außer Anti-Atom-Protesten) liegen in der Entwicklungsphase der Autonomen in den 1980er Jahren. Die 2004 als Buch erschienene Dissertation von Sebastian Haunss „Identität in Bewegung: Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung“ (Haunss 2004) ist ein erster Schritt, die genannten Defizite der sozialwissenschaftlichen Diskussion zur radikalen Linken auszugleichen. Haunss untersucht die Konstruktion kollektiver Identitäten bei den Autonomen, indem er mit Mitteln der Mikro-Diskursanalyse Debatten in der wichtigen Berliner Szenezeitschrift interim analysiert. Das Buch liefert allerdings auch einen ausführlichen und gut zu lesenden Überblick zur Geschichte und den Themen, Strategien und Organisationsformen der Autonomen (Haunss 2004: 107ff.), auf den ich zurückgreife. Der Autor will „nach den (sozialen und geografischen) Orten“ fragen, „an denen kollektive Identitäten in der Verknüpfung von Überzeugungen, Strategien und Alltagspraxen hergestellt, verhandelt und verändert werden“ (ebd.: 17), und diese Orte als „Szenen“ einfangen. Dieser Grundgedanke steht der Idee meines Projektes nahe. Dieses Unterfangen kann jedoch nicht – und hier grenzt sich das vorliegende Buch von Haunss ab – ausschließlich mit Mitteln der Diskursanalyse realisiert werden. Sowohl die Untersuchung der Alltagspraxis als auch der „geografischen Orte“ erfordern eine breitere methodische Palette, vor allem die teilnehmende Beobachtung. So spielen die materiell-geografischen Räume in Haunss’ zentralem empirischen Kapitel zu Prozessen kollektiver Identität bei den Autonomen (Haunss 2004: 131ff.) keine nennenswerte Rolle. Die von ihm u.a. untersuchten Diskussionen der Szeneangehörigen über die normative Lebensweise sind zweifellos für deren tatsächliche Lebensweise relevant, und zwar in doppelter Hinsicht: als eine identitäre Rahmensetzung und als ein legitimer Bestandteil des „richtigen Lebens“. Trotzdem können auf diese Weise nur Teilaspekte des Prozesses der Wir-Konstitution im Alltag erfasst werden.
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Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die von den Autonomen geprägte radikale Linke bisher keine große Aufmerksamkeit in der sozialwissenschaftlichen Diskussion gefunden hat, was womöglich auch durch den eher geschlossenen Charakter dieses Forschungsfeldes zu erklären ist. Diese Vernachlässigung stimmt auch für den Themenkomplex der Räume. Die Hausbesetzer-Bewegung Anfang der 1980er Jahre bildet nur bedingt eine Ausnahme, da sie maßgebend unter dem Gesichtspunkt der Jugendrevolte behandelt wurde (vgl. Brandes/Schön 1981, Haller 1981). Allerdings zeigt schon der flüchtige Blick in die Primärquellen oder ein kurzer Ausflug in die Lebenswelten der Menschen aus der „Szene“, dass die „Freiräume“ wie Szenekneipen, Infoläden, Hausprojekte, aber auch die den feindlichen Institutionen und Akteuren zugeschriebenen Orte für das Selbstverständnis und den Alltag der radikalen Linken von großer Bedeutung sind. Das hat zweifellos auch damit zu tun, dass der Übergang zwischen dem Bewegungs- und Szenecharakter in ihrem Fall fließend ist (Haunss 2004: 197). Deswegen bildet sie ein gutes Objekt für die Suche nach Mechanismen, welche die Produktion einer geteilten Wir-Definition (d.h. einer kollektiven Identität) in einer Bewegung und die Räume als alltagsrelevante Phänomene verbinden. Auch die Rolle der Räume für die Entwicklung der kollektiven Identität und für das kollektive Handeln insgesamt wurde in der Soziologie sozialer Bewegungen bisher nur unzureichend wahrgenommen. Die Räume wurden in erster Linie als unproblematische Hintergründe und nicht als wesentliche Aspekte der konfliktorientierten Politik behandelt (Sewell 2001: 51f.). Obwohl eine Vielzahl empirischer Fallstudien bei der Beschreibung einzelner Protestereignisse und der Erklärung konkreter Abläufe auch den räumlichen Kontext des Geschehens erwähnt, bleiben diese Überlegungen episodisch und wenig reflektiert. Die genuin räumlichen Aspekte von, den Alltag der Bewegungsaktivistinnen prägenden, submerged networks (Melucci 1989) und Protestepisoden wurden bisher m.E. wenig beachtet. Es gibt neuerdings jedoch auch Versuche, eine systematischere theoretische Betrachtung von räumlichen Aspekten des kollektiven Handelns einzuleiten (vgl. Tilly 2000, Sewell 2001, Martin/Miller 2003). Zu dieser Entwicklung möchte ich mit meiner Publikation beitragen. Die vorliegende Studie setzt sich dementsprechend zwei Ziele: Erstens soll durch die Verknüpfung der bewegungssoziologischen und der raumsoziologischen Konzepte ein theoretischer Vorschlag formuliert werden, wie
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die räumlichen Aspekte von Prozessen kollektiver Identität erfasst werden können. Zweitens sollen mit seiner Hilfe die konkreten Prozesse der WirKonstruktion in der Berliner „linken Szene“ unter spezieller Fokussierung auf die Räume untersucht werden. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf eine vollständige Rekonstruktion dieser Prozesse. Stattdessen sollen auf diese Art und Weise die gefundenen Konzepte und Herangehensweisen in der Praxis getestet werden. Die „linke Szene“ dient allerdings nicht als ein austauschbarer Gegenstand in der Art eines empirischen Spielfeldes. Die Ausmaße und Formen der „Verräumlichung“ konkreter politischer Identitäten variieren und können für den jeweiligen Fall nur empirisch festgestellt werden (Massey 1995). In der „linken Szene“ Berlins sehe ich eine für diese Untersuchung besonders geeignete Vergemeinschaftungsform, einerseits aufgrund der ausgeprägten Rolle des Alltagslebens als Bereich der WirKonstitution, andererseits aufgrund des „autonomen“ Konzepts der politischen Subjektivität als Zusammenspiel von Individualität und Kollektivität. Den theoretischen Hintergrund des Buches liefert der Strukturierungsansatz in der Variante von Giddens (1997). Dessen Grundideen werden als sensitizing devices (Giddens 1991: 213) genutzt, um sich der Frage der Verräumlichung kollektiver Identität anzunähern. Die Konstitution der geteilten Wir-Definition „radikale Linke“ wird demnach einerseits von interagierenden Akteuren geführt, andererseits bildet sie als ein Zusammenhang symbolischer Strukturen einen rekursiv genutzten Bezugsrahmen des Handelns. Dieses Verständnis entspricht dem konstruktivistischen Konzept der kollektiven Identität in sozialen Bewegungen (u.a. Melucci 1996), mit dessen Hilfe ihre konkreten Eigenschaften herausgearbeitet werden. Die „räumliche“ Seite der Fragestellung wird unter Rückgriff auf das gesellschaftszentrierte Raumkonzept konkretisiert, das auf der Idee der Raumproduktion durch die Menschen im Handeln, auch im Alltagshandeln, basiert (vgl. Lefebvre 1991). Die Bewegungsforschung und die Raumsoziologie sollen, metaphorisch ausgedrückt, zu einem fruchtbaren Dialog gebracht werden. Die Fragestellung wurde während der Arbeit an der Studie konkretisiert. Ursprünglich hieß das Thema „Raumbezug von Milieus – am Beispiel der ‚linken Szene‘ in Berlin“. Nach dem Erscheinen des Buches von Ronald Hitzler und Kollegen „Leben in Szenen“ (Hitzler et al. 2001) konnte der Begriff „Milieu“ jedoch mit dem von ihnen definierten, passenderen Begriff „Szene“ ersetzt werden. Zudem wurde die Fragestellung durch eine
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explizite Fokussierung auf die Produktion von Identitäten in der „linken Szene“ präzisiert, wobei die Frage nach der Definition des „Wir“ oder entsprechender individueller Identitäten von Anfang an als wichtiger Aspekt der Beziehungen im Milieu bzw. in der Szene erachtet wurden. Um die Arbeit übersichtlicher zu gestalten, konzentrierte ich mich auf die Prozesse der kollektiven Identität in Abgrenzung zur Produktion der individuellen Zugehörigkeiten. So wurde die Frage nach den räumlichen Aspekten der im Alltag verankerten Prozesse der Wir-Konstitution, also nach der räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität, formuliert. Für die Wahl der empirischen Vorgehensweise war das Streben ausschlaggebend, auch die Produktion des sozialen Interaktionsgefüges der „linken Szene“ auf nichtsprachlichen Wegen zu beachten, um die räumlichen Aspekte des symbolischen Gesamtzusammenhangs der Handlungsformen „ins Rampenlicht“ zu holen (vgl. Soeffner 2000: 170). Die symbolische Konstitution des linksradikalen „Wir“ und seiner Varianten erforderte wiederum den Einsatz von textanalytischen Verfahren. So entschied ich mich für eine Variante der Alltagsethnografie, in deren Rahmen Beobachtung mit textorientierten Methoden kombiniert wird. Dieses Vorgehen wird im dritten Kapitel detailliert dargestellt. Wie bereits ausgeführt, ist dieses Buch von dem Forschungsinteresse geleitet, ein integratives Konzept für die Erforschung der Rolle von Räumen in „nicht-territorialen“ Identitäten zu finden und empirisch auszuprobieren. Dieser Fragestellung und der oben geschilderten Logik entspricht der Aufbau der Publikation. Ich formuliere zunächst einen theoretischen Entwurf und stelle seine methodische Umsetzung dar, um dann seine empirische Anwendbarkeit zu zeigen. Im ersten Kapitel befasse ich mich mit Konzepten der kollektiven Identität in der Bewegungsforschung, wobei ich zuerst eine Differenzierung zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene der Identität ansetze. Gerade für eine wissenschaftliche Untersuchung ist es wichtig zu klären, ob die Frage lautet, wie die Individuen zu Linksradikalen werden oder wie die radikale Linke sich organisiert. Wie ich zeigen werde, sind dies zwei verschiedene Fragestellungen. Mein ursprüngliches Vorhaben, mich mit der Verbindung beider Ebenen zu befassen und beide Konzepte zu nutzen, habe ich verworfen, nachdem die theoretische Struktur unübersichtlich zu werden drohte. Im Zuge dieses „Richtungswechsels“ änderte sich auch die Rolle der von mir gemachten
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Interviews, so dass sie für die Endfassung eine eher unterstützende Rolle spielten. Nach der Fokussierung auf die kollektive Identität konkretisiere ich dieses Konzept nach dem konstruktivistischen Ansatz von Melucci und anderen und zeige, dass die sich selbst so bezeichnende „linke Szene“ auch ohne Anführungszeichen als Szene betrachtet und als konkrete Form eines Bewegungsmilieus untersucht werden kann. Die Rolle des Alltagshandelns in Prozessen der Identität, d.h. der symbolischen Produktion der kollektiven Identifikation als „radikale Linke“, bekräftigt das Interesse an den räumlichen Aspekten dieser Prozesse. Im zweiten Kapitel wird das gesellschaftszentrierte Raumkonzept vorgestellt, das von der sozialen Produktion von Räumen ausgeht. Außerdem befasse ich mich mit dem Strukturierungsansatz nach Giddens, der eine kohärente Verbindung beider Diskussionsstränge (zur kollektiven Identität und zu den Räumen) erlaubt. Mit dem Konzept des sozialen Geschehens nach Goffman wird nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein methodisches Werkzeug eingeführt. Der theoretische Teil des Buches wird abgeschlossen, indem die Ergebnisse der beiden ersten Kapitel im Rahmen eines Entwurfs zur räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität in Bewegungsmilieus synthetisiert und mit machttheoretischen Überlegungen verknüpft werden. Im dritten Kapitel wird die Feldforschung vorgestellt, die als eine ethnografische Studie mit dem Schwerpunkt auf „beobachtender Teilnahme“ konzipiert wurde. Auch die ergänzenden Methoden der leitfadengestützten Interviews und der Analyse von Bewegungstexten sowie die Frage ihrer Kombination werden behandelt. Im vierten Kapitel befasse ich mich mit dem räumlichen Phänomen einer Kneipe der „linken Szene“. Solche Treffpunkte sind besonders wichtig für die Szene, die eine relativ labile, auf eine intensive Interaktion ausgerichtete Vergemeinschaftungsform darstellt. Die Konstitution einer „linken Kneipe“ wird auf der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung sowohl in der kurzfristigen, als auch in der langfristigen Perspektive untersucht. Die emotional-körperlichen Produktionen der multiplen Räume und des „Wir“ stehen bei der Betrachtung des außerordentlichen Ereignisses einer polizeilichen Räumung im Mittelpunkt. Im Prozess der langfristigen KollektivNeugründung wurde das Konzept der „Szenekneipe“ ausgehandelt, das im zweiten Teil des Kapitels rekonstruiert wird. Im fünften Kapitel wechselt
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der Blick von der Produktion einer „linken Kneipe“ zu ihrer Rolle als Ressource in Prozessen kollektiver Identität. Zunächst gehe ich mit Hilfe des Begriffs des sozialen Geschehens auf die Räume eines Kneipenabends und eines Plenums ein, in deren Rahmen die Gemeinsamkeiten kommunikativ produziert werden. Im darauf folgenden Abschnitt widme ich mich auf Grundlage der Interviewauswertung den institutionalisierten Bedeutungen der Szenekneipe als „Anschlussort“ und „Wohnzimmer“. Im sechsten, den empirischen Teil abschließenden Kapitel befasse ich mich mit den symbolischen Räumen der „linken Szene“. Zunächst stelle ich mittels der Analyse von Mobilisierungstexten das „Freiräume“-Konzept vor, um das sich ein explizit raumbezogener ideologischer Diskurs der „linken Szene“ dreht. Im zweiten Schritt wechsle ich unter besonderer Berücksichtigung der räumlichen Anordnungen und Konzepte zur Analyse der demonstrativen Aktionen, die von den Akteuren der „linken Szene“ organisiert und getragen werden. In den Schlussfolgerungen werden die Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert; besonderer Wert wird auf die Frage von Nutzen und Grenzen einer „verräumlichten“ empirischen Betrachtung kollektiver Identität in sozialen Bewegungen gelegt.
1. Kollektive Identität als Prozess in sozialen Bewegungen
Die Forschung zu sozialen Bewegungen entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten zu einem etablierten Feld innerhalb der Sozialwissenschaften, mit einer Fülle von Ansätzen und Konzepten, die von der Soziologie über die Sozialpsychologie bis zur Anthropologie reichen (Snow et al. 2004, Nash 2005, della Porta/Diani 2006). Diese Vielfalt der Studien gibt zum Teil die historische und aktuelle Vielfalt sozialer Bewegungen wieder. Für die Bewegungen ist ständige Veränderung und Vergänglichkeit charakteristisch. Sie können metaphorisch nicht nur als Nomaden (Melucci 1989), sondern auch als kollektive Fremde, als „potenziell Wandernde“ der späten Moderne beschrieben werden, die heute kommen und morgen bleiben (vgl. Simmel 1992). Sie mögen zwar „sesshaft“ und ihre kulturellen Alternativen zu Facetten pluralistischer Lebensstile geworden sein (Roth 2001), dennoch „befähigen diese Bewegungen die Gesellschaft, jene größeren Fragen zu erkennen und sich zu stellen, die das menschliche Leben in zeitgenössischen komplexen Gesellschaften insgesamt betreffen“ (Melucci 1999: 130); sie haben eine kritische Sonderstellung innerhalb des weiten Spektrums der Lebensstile. Die sozialen Bewegungen als Institutionen der „potenziell Wandernden“ bleiben, auch wenn eine konkrete Bewegung bzw. Kampagne (beispielsweise globalisierungskritische Proteste gegen das G8-Treffen in Heiligendamm 2007) mit dem Abflauen der Mobilisierung von der Oberfläche verschwindet. Für eine gewisse Kontinuität dieses vielfältigen Forschungsbereichs sorgen u.a. einige Grundkonzepte, die sich als rote Fäden durch einzelne Studien und Disziplinen ziehen. „Kollektive Identität“ als geteiltes Wir-
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Verständnis gehört zweifellos in diese Reihe. Während der Begriff früher vor allem mit dem „europäischen“ Paradigma der Neuen Sozialen Bewegungen (u.a. Touraine 1981, Brand et al. 1983, Melucci 1989) oder mit identitätsorientierten Bewegungen wie der Schwulen- oder Frauenbewegung assoziiert wurde, gewinnt er seit den 1990er Jahren auch darüber hinaus als Forschungsinstrumentarium an Popularität. Diese Tendenz wurde besonders durch die in den letzten Jahren unternommenen Versuche deutlich, die Konkurrenz der Ansätze durch theoretisch und methodisch integrative Forschungsrahmen zu ersetzen (vgl. McAdam et al. 2001, Klandermans 2002). Die breite Nutzung und Akzeptanz des Begriffs der kollektiven Identität soll nicht über die mit ihm verbundenen Probleme hinweg täuschen: sein mitunter vager Charakter, weit auseinander liegende Interpretationen und zunehmende Überdehnung, d.h. dieselben Momente, die auch zu seinem Erfolg beigetragen haben dürften. Bevor das Konzept der kollektiven Identität als ein Grundstein zur Untersuchung der Raumbezüge der „linken Szene“ genutzt werden kann, müssen wenigstens einige dieser Unklarheiten ausgeräumt werden. Damit befasse ich mich im ersten Teil des Kapitels, wobei der Schwerpunkt auf dem Verhältnis zwischen kollektiven und individuellen Ebenen der Identität liegt. Die beiden Ebenen mussten analytisch getrennt werden, um meine Fragestellung formulieren zu können: Welche Rolle spielt die (Re-)Produktion sozialer Räume in der Wir-Konstruktion in Bewegungsnetzwerken – am Beispiel der „linken Szene“? Im nächsten Schritt gehe ich genauer auf das konstruktivistische Konzept der kollektiven Identität ein, wie es vor allem durch den italienischen Soziologen Alberto Melucci (1989, 1996) geprägt wurde. Sein Verständnis der Identitätsprozesse in sozialen Bewegungen steht im Einklang mit dem allgemeinen Strukturierungsansatz, an dem sich auch die raumsoziologischen Überlegungen im nächsten Kapitel orientieren. Die interaktive Wir-Definition zeichnet das Bild der sozialen Welt und die Rolle der Akteure darin: Was stört uns, was wollen wir ändern, was können wir erreichen, wie machen wir das? Die entsprechenden „Sinnmaschinen“ (Willems 1996: 444) generieren nicht nur den subjektiven Sinn des Handelns für die Individuen, sondern betreffen auch den kollektiven Handlungszusammenhang. Solche Sinnkonstrukte können mit Hilfe des Framing-Ansatzes untersucht werden.
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Die Konstruktion der Wir-Definition erfolgt durch Interaktionen in einer Gemeinschaft – beziehungsweise die Gemeinschaft entsteht in Prozessen der Wir-Konstruktion. Mit den Eigenschaften dieser social movement community oder des Bewegungsnetzwerks werde ich mich im letzten Unterkapitel befassen. Wie ich zeigen werde, weisen diese Eigenschaften auf die Notwendigkeit einer analytischen „Verräumlichung“ der Identitätsprozesse hin, die bisher in der Soziologie sozialer Bewegungen kaum unternommen wurde.
1.1 K ONZEPTE
DER I DENTITÄT : KOLLEKTIVE UND INDIVIDUELLE
E BENE
Der Begriff der Identität bzw. der kollektiven Identität hat in der Bewegungsforschung seit über zwanzig Jahren Hochkonjunktur. Das Konzept der kollektiven Identität wird für verschiedene Dimensionen der Bewegungsrealität und auf diversen Analyseebenen verwendet und dabei auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert (Stryker et al. 2000, Poletta/Jasper 2001, Hunt/Benford 2004). Diese breite Anwendung geht allerdings, wie schon oben angemerkt, mit einer Reihe von Problemen einher. Das Konzept der kollektiven Identität wird dadurch verwässert und büßt an Erklärungskraft ein. Eines der Ursachen dafür besteht in der manchmal fehlenden Abgrenzung der Analyseebenen. Beispielsweise greifen Scott A. Hunt und Robert D. Benford (2004) in ihrem Übersichtsartikel zu kollektiver Identität und Partizipation auf die Definition von Polletta und Jasper (2001: 285) zurück und interpretieren die kollektive Identität als „an individual’s cognitive, moral, and emotional connection with a broader community, category, practice, or institution. It is a perception of a shared status or relation, which may be imagined rather than experienced directly, and it is distinct from personal identities, although it may form part of a personal identity.“ (Hunt/Benford 2004: 440)
Sie verorten dieses Konzept somit scheinbar eher auf der individuellen Ebene. Weiter im Text weisen die Autoren jedoch explizit darauf hin, dass kollektive Identität kein individuelles Attribut, sondern vielmehr eine kultu-
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relle Repräsentation sei (ebd.: 447). Ein Großteil der Bewegungsliteratur behandelt kollektive Identität als ein wenigstens zum Teil supraindividuelles Phänomen bzw. als einen ebensolchen Prozess und konzentriert sich auf seine Konstruktion, d.h. darauf, wie das „Wir“ entsteht (ebd.: 441; vgl. z.B. Taylor/Whittier 1992). Wenn das Konzept vage und schwer operationalisierbar zu sein scheint, geht das vermutlich zum Teil auf die Tendenz mancher Beiträge zurück, die individuelle und die kulturelle Ebene der Analyse zu vermischen (Gamson 1992a: 60). Die Widersprüche der Identitätskonzepte in der Bewegungsforschung resultieren nach Bert Klandermans aus der Tendenz, das Konzept der Identität auf unterschiedliche Phänomene und auf verschiedene Analyseebenen anzuwenden, ohne sich dieser verschiedenen Ebenen bewusst zu sein (Klandermans 2002: 889, vgl. Klandermans 1997b: 205ff.). Ein möglicher Ausweg besteht darin, die jeweilige Reichweite der Identitätskonzepte klarer einzugrenzen. Klandermans unterscheidet in „The Social Psychology of Protest“ zwischen der sozialen Konstruktion und der Aneignung von Collective-ActionFrames (Klandermans 1997b: 145) als zwei nebeneinander liegenden Aspekten der Politisierung potenzieller Teilnehmer. Dabei bezieht sich der erste auf die Herausbildung und die Verbreitung von kollektiven Überzeugungen in einer Gemeinschaft, der zweite auf deren (partielle) Übernahme durch ein Individuum (145; vgl. ebd.: 206f.). Ähnlich formuliert der Autor an einer anderen Stelle die Forderung, die kollektive Identität einer Gruppe und die soziale Identität eines Individuums als zwei parallel bestehende Phänomene zu betrachten. Кollektive Identität betrifft ihm zufolge Kognitionen, die von Mitgliedern einer Gruppe geteilt werden, während sich soziale Identität mit Kognitionen eines einzigen Individuums bezüglich seiner Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen befasst (Klandermans 1997a: 47). Dies seien Konzepte auf verschiedenen Analyseebenen: Kollektive Identität stelle ein Merkmal einer Gruppe, soziale Identität ein Merkmal eines Individuums dar (ebd., ders. 2002: 890). Im Forschungsprozess sind sie auseinander zu halten; sie sind jedoch eng miteinander verbunden und letztendlich „zwei Seiten einer Münze“ (Klandermans 1997a: 49).1
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Seine eigenen Arbeiten wie „The Social Psychology of Protest“ (1997b) verortet Klandermans größtenteils auf der individuellen Analyseebene. In späteren Pub-
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Diese Unterscheidung zwischen der kollektiven und der individuellen (sozialen) Identität möchte ich aufgreifen, da die beiden Konzepte auf jeweils verschiedene Fragen gerichtet sind. Auf das vorliegende Thema bezogen können sie wie folgt formuliert werden: Wie wird das „Wir“ der antiautoritären radikalen Linken bzw. der „linken Szene“ konstruiert und aufrechterhalten?2 Und wie wird das Selbstkonzept „Ich, ein Linksradikaler“ eines einzelnen Beteiligten der „linken Szene“ konstruiert? Die Konzepte von sozialer und kollektiver Identität, so die Annahme, eignen sich gut dazu, die Unterscheidung individueller und kollektiver Analyseebenen festzuhalten: die soziale Identität eines Gruppenmitglieds bzw. eines Bewegungsangehörigen und die kollektive Identität einer Bewegung. Im Folgenden wird diese Annahme anhand dieser beiden Konzepte erläutert. Soziale Identität und kollektive Identität Der Begriff der sozialen Identität bezieht sich auf die Verortung von Individuen im sozialen Gefüge. Es geht um Individuen als Vertreter einer konkreten Gruppe, als Trägerinnen von konkreten Eigenschaften, oder, im Allgemeinen, um die Bestimmung, wer man selbst ist und mit wem man es zu tun hat – respektive um eine ähnliche Bestimmung durch die jeweiligen „Anderen“ (Jenkins 1996: 4f.). Dabei bilden Ähnlichkeit und Unterscheidung zwei Grundprinzipien der Identitätsprozesse (vgl. ebd., Simon/Mummendey 1997). So geht die (meist auf nur wenige Attribute beschränkte) Ähnlichkeit mit manchen Personen mit der Unterscheidung von anderen Personen einher. In einem Diskussionsstrang, u.a. bei Goffman (1959, 1968), bezieht sich der Begriff der sozialen Identität auf die „von außen“, d.h. von Interaktionspartnern, aufgestellten Erwartungen bezüglich der Gruppenzugehörigkeit und entsprechender Eigenschaften einer Person: „Social and personal
likationen wie Klandermans (2004) sowie Simon/Klandermans (2001) wird der Terminus „collective identity“ als Ersatz für „social identity“ genutzt, weil letzterer einen nicht-sozialen Charakter anderer Identitätsformen implizieren könne. Aufgrund dieser übertriebenen Befürchtungen geht die begriffliche Klarheit verloren. 2
Vgl. Melucci (1988: 332): „How a collective actor is formed and maintains itself.“
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identity are part, first of all, of other persons’ concerns and definitions regarding the individual whose identity is in question.“ (Goffman 1968: 129) Soziale Identität wird mit der subjektiven Ich-Identität nach Erikson kontrastiert. Diese Lesart erscheint für die mich interessierende Frage nach der identitären Verbindung von Individuum und Gruppe weniger geeignet. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings der Begriff von impression management, der sich auf die Aktivitäten des Individuums zur Steuerung des Eindrucks bei den Anderen bezieht und hiermit den performativen Charakter der Identität betont (vgl. Jenkins 1996: 22). Einen weiteren wichtigen Hinweis finden wir bei Giddens (1984a). Er behandelt soziale Identitäten vor allem in Bezug auf soziale Positionen, im Hinblick auf die mit ihnen jeweils verbundenen Rechte, Pflichten, und Praktiken (ebd.: 83ff., 282). Diese einseitige Anbindung an das Statuskonzept (vgl. Linton 1936) geht zwar mit einer weitgehenden Ausblendung des Aspekts der Selbstwahrnehmung einher. Die Hinweise auf die normativen Aspekte sozialer Identitäten und auf deren Verknüpfung mit Praktiken sind jedoch durchaus wertvoll. Die sozialpsychologisch geprägte Theorie der sozialen Identität von Henry Tajfel und Kollegen (Tajfel 1982a, 1982b, Tajfel/Turner 1986) steht der Identitätstheorie der strukturalistischen Variante des symbolischen Interaktionismus sehr nahe (Stets/Burke 2000, nach dies. 2003: 133).3 Im Unterschied zur soziologischen Version der Identitätstheorie fokussiert sie die Aufmerksamkeit allerdings auf die Gruppenzugehörigkeit statt auf die Rollenidentität (Stets/Burke 2003: 144f.). Das macht sie für meine Forschung besonders interessant; deswegen gehe ich genauer darauf ein. Diese Theorie der sozialen Identität wurde zu einer Theorie der Selbstkategorisierung (Turner et al. 1987) weiterentwickelt; ihre Grundpositionen behalten jedoch auch weiterhin Gültigkeit, so dass man von einem social identity approach sprechen kann. Die Grundlage des Ansatzes ist interaktionistisch; dabei werden die Gruppen- und Intergruppen-Phänomene von der individuellen Seite betrachtet. Die Betonung wird nicht auf die einzigartige personale Identität gelegt, sondern auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. Kategorie. Soziale Identität wird als Teil des Selbstkonzepts eines Individuums verstanden, der sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ablei-
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Eine andere Auffassung dieses Verhältnisses ist in Hogg et al. (1995) enthalten.
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tet, mit der diese Mitgliedschaft besetzt ist (Tajfel 1982b: 102). Soziale Gruppen werden kognitiv definiert, d.h. durch die Selbstwahrnehmung von Menschen, die die gleiche evaluative self-definition (soziale Identität) teilen (vgl. Tajfel/Turner 1986: 15, Hogg 2005). Ein Individuum gehört mehreren Gruppen an. Die Eigenschaft einer Identität, in einem konkreten Kontext in den Vordergrund zu treten und zur Grundlage der Wahrnehmung, des Selbstbildes und damit des Verhaltens zu werden, wird als Salienz4 beschrieben. Eine saliente Identität ist keine bloße Reaktion auf die wahrgenommene Situation, sondern der Menschen kann um seine eigene Identität und die der anderen mit ihnen verhandeln und konkurrieren (Hogg 2005: 140). Eine zentrale Stellung in Prozessen der sozialen Identität nimmt die Depersonalisierung von Wahrnehmung und Verhalten ein, die durch die Selbstkategorisierung zustande kommt: Menschen nehmen sich selbst durch die Attribute der In-Group und die Anderen durch das Bild der entsprechenden Out-Group wahr (Turner et al. 1987). Die Selbstkategorisierung verläuft orientiert an einem Prototyp – einer komplexen Vorstellung von idealen Mitgliedern der In-Group, ihren Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen (Hogg 2005: 138f.). Die Inhalte des Prototyps werden vom so genannten Metakontrastprinzip bestimmt: Die Ähnlichkeiten mit anderen In-Group-Mitgliedern werden betont und die Unterschiede heruntergespielt; bezüglich der Mitglieder der Out-Group verhält es sich umgekehrt. Die Prototypen sind hiermit grundsätzlich relational ausgerichtet. Zudem haben die Prototypen einen normativen Charakter: Sie beschreiben die soziale Realität und die Akteure nicht nur, sondern schreiben auch eine entsprechende Verhaltenweise vor. Die Identifikation mit der In-Group bildet dabei eine Grundlage des konformen Verhaltens der Mitglieder (z.B. Abrams/Hogg 1990). Die Prototypen können als (geteilte) individuelle kognitive Repräsentationen gruppenspezifischer Verhaltensnormen verstanden werden (Turner 1991, nach Hogg 2005: 143). Die wichtigsten Motivationen im Prozess der sozialen Identität sind das Streben der Menschen, ihre Unsicherheit über die soziale Welt und ihren eigenen Platz darin zu reduzieren (uncertainty reduction, Hogg 2005: 141) und ihre Selbstaufwertung zu betreiben. Wie schon angedeutet, basiert eine soziale Identität auf der Unterscheidung bzw. auf dem wertenden Ver-
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Vgl. die Überlegungen zum Thema Salienz bei Stryker (1980).
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gleich: Die Eigengruppe wird favorisiert, die relevante Fremdgruppe abgewertet, und auf diese Weise wird das individuelle Selbstwertgefühl positiv beeinflusst. Wenn der Vergleich mit der Fremdgruppe negativ ausfällt, sind einige Verhaltensstrategien als Antwort möglich; eine davon ist das gemeinsame Handeln mit dem Ziel, die Verhältnisse zu ändern. Die Anwendung einer Strategie hängt von der jeweiligen Situation ab, beispielsweise davon, ob die Grenzen der eigenen Gruppe dem Individuum durchlässig genug erscheinen, um ihm die individuelle soziale Mobilität zu erlauben. Dieser Gedanke wurde auch auf die sozialen Bewegungen angewandt, meist auf diejenigen, die Interessen einer bestimmten Minderheit vertreten (s.u.). Ich gehe davon aus, dass dieser sozialpsychologische Ansatz bzw. seine Elemente auch auf andersgeartete Bewegungen erfolgreich angewandt werden können, nämlich auf solche Bewegungen, in denen die Bewegungsnetzwerke selbst eine primäre Identifikationsgruppe bilden. Im Folgenden wird daher soziale Identität immer im Sinne des dargestellten Social-Identity-Ansatzes verstanden. Das Konzept kollektiver Identität wird an dieser Stelle nur kursorisch dargestellt, da ich im nächsten Abschnitt („Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene“) detailliert darauf eingehe. Für die Soziologie sozialer Bewegungen sind bei Weitem nicht alle wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursstränge in Bezug auf den Begriff der Identität relevant. Die Abgrenzung findet weniger gegenüber identity politics (bei denen es sich um eine kritische Politisierung bestehender Kategorien wie beispielsweise „Frauen“ handelt) statt, sondern vor allem gegenüber essentialistischen, d.h. primordialistischen und strukturalistischen Ansätzen (Snow 2001). Die Identitätsdiskussion in der aktuellen Bewegungsforschung ist hingegen von Ideen des sozialen Konstruktivismus dominiert.5 Die Anfänge ihrer Entwicklung sind in dem Diskurs um die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen zu sehen; inzwischen hat sie sich allerdings davon emanzipiert. Zu den wichtigsten Figuren der konstruktivistischen Bewegungsforschung gehört Alberto Melucci (1988, 1989, 1996). Kollektive Identität versteht er als eine interaktive und geteilte Definition, die von verschiedenen Individuen produziert wird und die Orientierungen des gemeinsamen
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Manchmal nimmt auch die konstruktivistische Identitätsdiskussion essentialistische Züge an, wenn die kollektive Identität verdinglicht und zum neuen „Wesen“ einer Bewegung erklärt wird (Poletta/Jaspers 2001).
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Handelns sowie das Feld von Gelegenheiten und Einschränkungen, unter denen das Handeln stattfindet, betrifft (Melucci 1988: 342, 67ff.). Der interaktive und geteilte Charakter setzt voraus, dass die Identität als ein Prozess der Identität verstanden wird und durch das wiederholte Aktivieren der Beziehungen zwischen Individuen konstruiert und ausgehandelt werden muss (ebd.). Die Idee der interaktiven Konstruktion und Aufrechterhaltung eines kollektiven Akteurs als Handlungssystem ist für diesen Ansatz zentral (vgl. Melucci 1999: 116f.). Die prozessbetonte Herangehensweise impliziert, dass kollektive Akteure nicht als Personen betrachtet werden können; deswegen setzt Melucci (1988) „collective“ actors in Anführungszeichen. Sie sollten nicht missinterpretiert werden, „as if collective actors existed in themselves as unified onthological essences“ (Melucci 1996: 69). Einige Teilnehmer der aktuellen Diskussion sehen in der kollektiven Identität eher eine Eigenschaft der Akteure statt einen Prozess, ohne allerdings auf die Untersuchung der Konstruktionsprozesse verzichten zu wollen (Snow 2001). Diese Differenzen gehen zum Teil auf sprachliche Dissense zurück und sind eher von geringer Bedeutung. Der kognitive Aspekt der kollektiven Identität schließt die Definition der Ziele und der Mittel des gemeinsamen Handelns ein. Dazu gehört zweifellos die kognitive Definition des kollektiven Akteurs als ein existentes, reales „Wir“. Analytisch ergänzt (und praktisch erschaffen) wird die kognitive Komponente der Identität durch das Netzwerk aktiver Beziehungen zwischen den Akteuren und durch ihre emotionalen Investitionen. Dabei ist zu beachten, dass die kollektive Identität in zweifacher Hinsicht einen relationalen Charakter hat: Erstens beinhalten kognitive Definitionen die Bilder von „Anderen“, wobei eigene Merkmale in Abgrenzung zu diesen definiert werden; zweitens werden sie u.a. in Interaktionen mit als „Andere“ bzw. „Gegner“ definierten Akteuren produziert. Kompatibilität der Konzepte Es konnte gezeigt werden, dass die beiden Perspektiven – die Theorie der sozialen Identität und der konstruktivistische Identitätsansatz der Bewegungsforschung – zwar auf unterschiedlichen Analyseebenen arbeiten, sich aber mit ähnlichen, sich überschneidenden Phänomenen befassen. In der Vergangenheit haben sie allerdings weitgehend eine Parallelexistenz ge-
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führt, ohne sich wesentlich gegenseitig zu befruchten. Die Gründe dafür sind vielfältig: disziplinäre Grenzen (Psychologie versus Soziologie); methodologische bzw. methodische Unterschiede (die Entwicklung der Theorie der sozialen Identität basierte empirisch auf psychologischen Experimenten, die des Identitätsansatzes in der Bewegungssoziologie – beispielsweise bei Melucci und Kollegen – hingegen auf der Feldforschung, vgl. Melucci 1989: 235ff.); verschiedene Analyseebenen (individuelle versus kollektive Ebene); und letztendlich die Schwierigkeit, diese Ebenen auf eine überzeugende Art und Weise miteinander zu verbinden (vgl. Klandermans/De Weerd 2000: 68f.). Ein weiterer Unterschied, der sich allerdings nicht unbedingt als Hindernis erweisen muss, ist, dass es sich beim SocialIdentity-Ansatz um eine allgemeine Theorie sozialer Gruppen handelt, die Soziologie sozialer Bewegungen sich dagegen speziell mit dem kollektiven Handeln für oder gegen soziale Veränderungen befasst. In der Bewegungssoziologie wird die kollektive Identität zudem oft ähnlich definiert wie die soziale Identität in der Sozialpsychologie. Dieser Umstand ist für sich genommen nicht dramatisch, führt jedoch in manchen Fällen zu konzeptionellen Problemen. Eine solche wenig gelungene Differenzierung der Begriffe ist bei David Snow (2001) zu finden: Soziale Identitäten seien Identitäten, die den anderen zugeschrieben werden, um sie im sozialen Raum als Angehörige weiter gefasster Kategorien oder Träger bestimmter etablierter Rollen zu verorten. Kollektive Identität sei dagegen nicht auf die Anderen, sondern auf sich selbst bezogen, und zwar auf einen „shared and interactive sense of ‚we-ness‘ and ‚collective agency‘“; dieser sei verankert in „real or imagined shared attributes and experiences among those who comprise the collectivity and in relation or contrast to one or more actual or imagined sets of ‚others‘“ (ebd.: 4). Während gegen die letzte Definition sicherlich nichts einzuwenden ist, wird das Konzept der sozialen Identität durch die Beschränkung auf die Zuschreibung gegenüber den Anderen zu eng betrachtet. Den genannten Unterschieden stehen allerdings auch wesentliche Parallelen gegenüber. Die beiden Diskussionsstränge betonen die für Identitätsprozesse zentrale Rolle der Verhältnisse zwischen Gruppen bzw. den relationalen Charakter von Identitätsinhalten. Dass das Selbstbild generell auf das Bild der Gegengruppe bezogen sei, unterscheidet die beiden Ansätze von der soziologischen interaktionistischen Identitätstheorie (vgl. Hogg et al. 1995: 264). Darüber hinaus beschäftigen sich beide Ansätze damit, was
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den Menschen hinsichtlich ihrer Selbstkonzepte als Angehörige einer Gruppe gemeinsam ist. In ihrer Stoßrichtung weichen sie jedoch voneinander ab: Während der Ansatz der sozialen Identität nach Interaktionen von Individuen als Mitglieder (verschiedener) Gruppen fragt, beschäftigt sich der Ansatz der kollektiven Identität mit der Konstitution des kollektiven Akteurs als Voraussetzung kollektiven Handelns. Trotzdem: Genauso wie der erste sich mit geteilten Bildern und Vorbildern der Gruppenangehörigen beschäftigt, befasst sich der zweite mitunter mit einem Teil der Selbstwahrnehmung von Individuen (was manchmal mit den oben dargestellten Komplikationen einhergeht). Auf das Verhältnis beider „Identitätsebenen“ im Kontext der Bewegungsforschung gehe ich im Folgenden detaillierter ein, da die Unterscheidung der Konzepte sozialer und kollektiver Identität dieses Verhältnis noch nicht ausreichend präzisieren kann. Bei Melucci heißt es: „The tendency of an individual to become involved in collective action is tied to the differential capacity to define an identity, that is, to the access to resources that enable him to participate in the process of identity building.“ (Melucci 1988: 343) Im Rahmen des zitierten Artikels soll dies in erster Linie als Hinweis auf die Identität als eine notwendige Bedingung des kollektiven Handelns gelesen werden. Jedoch wird auch deutlich, dass das geteilte, subjektiv erlebbare „Wir“ (the shared sense of We-ness), mit dem sich Einzelne identifizieren, wiederum eine kollektive Leistung von Individuen ist. Hier wird die Frage nach der Identitätsbildung auf der individuellen Ebene von Melucci als eine Frage nach der individuellen Beteiligung an der Bildung kollektiver Identität formuliert. Ich möchte diese Frage aufgreifen und mit der folgenden ergänzen: Was passiert dabei mit der individuellen Identität? Indem Individuen sich in einer Bewegung engagieren, am kollektiven Handeln und an der Konstruktion kollektiver Identität teilnehmen, identifizieren sie sich mit den relevanten sozialen Gruppen und Bewegungsakteuren und werden zu Teilnehmerinnen der Bewegung bzw. ihrer Mobilisierungsstrukturen. Wie hängt die Konstruktion individueller Identitäten der Bewegungsteilnehmer und kollektiver Identitäten der Bewegung zusammen? Festzuhalten ist, dass ich hier nicht wieder die von Klandermans übernommene Differenzierung zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene der Identität in Frage stellen will. Im Gegenteil, erst sie macht diese Frage sinnvoll. Die Bedeutung dieser Fragestellung geht auf das Interesse an der Verbindung zwi-
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schen der kollektiven und der individuellen Ebene der Identitätsprozesse (und an der räumlichen Organisation dieser Verbindung) zurück. Diese ist wiederum notwendig, um das Identitätskonzept zu präzisieren und für die Feldforschung tauglich zu machen. „Soziale Identität“ in der Bewegungsforschung Die Übersicht der Literatur wird von der oben formulierten Frage nach der Verbindung der individuellen und der kollektiven Ebene der Identität geleitet und lediglich auf Konzepte fokussiert, die für diese Verbindung am wichtigsten erscheinen. Die ausdrücklich sozialpsychologisch geprägten Beiträge zur Bewegungsforschung, bei denen das Konzept der sozialen Identität explizit zum Einsatz kommt, sind nicht besonders zahlreich. Lange Zeit existierten beide Bereiche aus den oben dargestellten Gründen eher voneinander isoliert; erst seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ändert sich diese Situation (Klandermans/De Weerd 2000: 68f., Stürmer/Simon 2004: 265). Anfang der 1980er Jahre diagnostizierte Klandermans eine lang anhaltende „Blindheit“ des Ressource-Mobilization-Ansatzes gegenüber sozialpsychologischen Fragestellungen (Klandermans 1984: 583f.; vgl. Gamson 1992a). Seitdem trugen u.a. seine Arbeiten wesentlich dazu bei, sozialpsychologischen Analysen einen neuen Platz in der Bewegungsforschung zu verschaffen. Die Theorie der sozialen Identität sollte vor allem bei der klassischen Aufgabe helfen, den Übergang von der Unzufriedenheit zum Protest zu erklären. Wie Michael Hogg feststellt, zielt ihre Anwendung in Bewegungsstudien auf Fragen der Partizipation – mit dem Grundgedanken, dass die subjektive Anbindung an eine Gruppe die Motivation zur Teilnahme am Handeln zugunsten der Gruppe erhöhen kann (Hogg 2005: 147f.; vgl. Klandermans 2002: 889). Mit dem Begriff der Gruppenidentifikation (group identification) bezieht sich Klandermans (2002) auf die affektive Komponente der sozialen Identität, die das Ausmaß der emotionalen Bindung an eine Gruppe (commitment to the group) repräsentiert.6 Als Verhaltenselement bzw. empiri-
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Zwei weitere Komponenten seien die kognitive, die die Prozesse sozialer Kategorisierung bezeichnet, und die bewertende, die die Position der eigenen Gruppe relativ zur Position anderer beurteilt (vgl. dazu u.a. Tajfel 1982a: 2).
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scher Indikator der Gruppenidentifikation kann die Mitgliedschaft in identitären Vereinigungen betrachtet werden, da sie die Selbstwahrnehmung der Personen und speziell deren Verhältnis zu Gruppen mit unfreiwilliger Mitgliedschaft (involuntary groups, z.B. „Ältere“) wiedergibt und beeinflusst. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Mitgliedschaft in Bewegungsorganisationen zwar einen leicht messbaren und hiermit besonders für quantitative empirische Untersuchungen vorteilhaften Indikator der praktischen Bindung an eine Gruppe darstellt, jedoch kaum einen universellen. Speziell für Bewegungsnetzwerke ohne ausgeprägte formalisierte Strukturen wie die „linke Szene“ ist sie weniger geeignet. Die Betonung der Verhaltenskomponente bei der Gruppenbindung ist dennoch wichtig und soll im Folgenden aufgegriffen werden. Die Gruppenidentifikation verbindet die kollektive mit der sozialen Identität (Klandermans 1997a). Einerseits bildet sie ein Gegenstück zur kollektiven Identität auf der individuellen Ebene: Keine Gruppe ist möglich ohne Individuen, die sich zu dem entsprechenden „Wir“ in ihrem Denken und Handeln bekennen. Gleichzeitig stellt sie einen Grundstein für deren soziale Identität als Gruppenmitglieder dar. Klandermans spricht von einer „Herausbildung idiosynkratischer Neuauflagen“ (ebd.: 47) kollektiver Überzeugungen auf der individuellen Ebene. Zu einer Gruppe dazu zu gehören heißt u.a., ihre Überzeugungen zu teilen (Klandermans 1997b: 159f.). Aufgrund der prinzipiellen Multiplizität von Gruppenzugehörigkeiten ist die Salienz einer sozialen Kategorie bzw. einer Gruppe eine notwendige Bedingung der Mobilisierung „ihrer“ Bewegung. Diese Überlegung kann durch die Frage illustriert werden, mit wem sich eine Arbeiterin solidarisieren sollte: Mit anderen Frauen bzw. der Frauenbewegung oder eher mit anderen Arbeitern bzw. der Arbeiterbewegung (Klandermans 2002: 891)?7 Laut den Vertreterinnen der Selbstkategorisierungstheorie ist die Antwort auf solche Fragen kontextbedingt (Turner et al. 1994). Die Argumentation von Klandermans möchte ich mit einem Verweis auf die accessibility*fit-These (Oakes 1987) ergänzen: Die Salienz einer Kategorie werde durch ihre Zugänglichkeit für beteiligte Individuen (accessibility) und die Passung, den Realitätsbezug (fit) im jeweiligen Kontext beeinflusst. Dabei
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In der Realität ist oft eine kombinierte Variante feststellbar, die zwei oder mehrere in Frage kommende Identitäten ansprechen und damit effizienter mobilisieren soll.
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sei sie kein rein (individual)psychologischer Prozess, sondern habe durchaus einen interaktiven Charakter.8 Wie im zweiten Kapitel vermutet und im empirischen Teil des Buches belegt wird, dienen auch die räumlichen Kontexte und die interaktiven Prozesse der Raumkonstruktion der Bestimmung von situationsspezifisch passenden Identitäten. Die Grundidee bei der Anwendung des Social-Identity-Ansatzes in der Bewegungsforschung besagt, dass die Bereitschaft von Individuen, sich für eine In-Group mittels kollektiver Aktionen zu engagieren, von der intensiven Identifikation mit der jeweiligen Gruppe und vor allem den sie vertretenden Organisationen positiv beeinflusst wird (beispielsweise zeigten das Stürmer et al. 2003 für die US-amerikanische Fat-Acceptance-Bewegung). Dies soll die Logik der individuellen Teilnahmebereitschaft auf der Grundlage der Kosten-Nutzen-Abwägung ergänzen, die auf dem Rational-ChoiceAnsatz basiert. Die zentrale Aussage ist sicherlich nicht überraschend, bekommt jedoch eine sozialpsychologische Begründung und konnte in einigen Feldstudien überprüft werden. Die Überlegungen zur Salienz der Identität, die betonen, dass diese kontextbedingt ist und sich auf die InGroup/Out-Group-Relation bezieht (vgl. Kelly/Breininger 1996), scheinen fruchtbar für die Analyse der Mobilisierung und der Identitätsprozesse zu sein. Auch zur Klärung struktureller Kontextelemente, die die Wahrscheinlichkeit kollektiver Verhaltensstrategie im Vergleich zu individualistischen bestimmen, konnten die Vertreterinnen dieses Ansatzes einen Beitrag leisten (als Beispiel einer Feldstudie siehe Mummendey et al. 1999). Einige Fragen und Kritikpunkte sollen an dieser Stelle angesprochen werden: Die Anwendung des Social-Identity-Ansatzes bezog sich bisher in erster Linie auf Bewegungen, die die Interessen einer schon durch eine gemeinsame Lage und existierende Bezeichnungen „vorkategorisierten“ Gruppe – wie etwa Frauen – vertreten sollen. Es müsste noch geprüft werden, ob diese Thesen auch für andere, nicht auf die Repräsentation bzw. das Reframing einer identitären Gruppe gerichtete Bewegungstypen zutreffen. Bei einigen Arbeiten bleibt außerdem unklar, wie die Gruppen (Bewegungsorganisation oder In-Group) konstruiert werden und wie die ausschlaggebende Gruppenidentifikation zustande kommt. Das Verhältnis zwischen der sozialen Identität von Bewegungsteilnehmerinnen und der
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Auch Turner et al. (1994) benutzen die Kategorien Passung und Zugänglichkeit.
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kollektiven Identität der Bewegung wurde bisher m.E. nicht genügend geklärt. Einen interessanten Ansatzpunkt bilden Überlegungen zur prinzipiellen Multiplizität der Gruppenzugehörigkeiten eines Individuums und zur Salienz einer bestimmten Identität. Sie ergänzen die Perspektive kollektiver Identität, die tendenziell auf eine Bewegung fokussiert ist, auch wenn die vielschichtigen Identifikationsmöglichkeiten in deren Rahmen anerkannt werden. An dieser Stelle lassen sich die sozial-räumlichen Handlungskontexte als Ressourcen der Identität analytisch integrieren und zugleich die Konstruktion von Räumen mit der individuellen und kollektiven Identitätsproduktion verbinden, wie es im nächsten Kapitel gemacht wird. Der vergleichende, wertende Charakter der Selbstkategorisierung (beispielsweise „Wir/Antifas“ gegenüber „Euch/Bullen“) scheint gerade für die „linke Szene“ gut zu passen. Einen weiteren produktiven Hinweis finden wir bei Klandermans: Die kollektiven Überzeugungen werden bei einzelnen Individuen, so könnte man formulieren, neu produziert. Bei der Selbstkategorisierung – also wenn ein Individuum sich als Mitglied einer Gruppe identifiziert – bezieht es sich auf normative Vorstellungen von ihren Mitgliedern. Diesen Gedanken werde ich aufgreifen, indem ich Prototypen von Mitgliedern als Teil der Wir-Definition betrachte. Zunächst werde ich erneut auf die Frage der Verbindung zwischen Individuen und Kollektiven in sozialen Bewegungen eingehen, wie sie in der Bewegungsforschung im Hinblick auf die Partizipation behandelt wurde. Partizipation in der Bewegungsforschung Die Heterogenität der Bewegungsforschung drückt sich u.a. darin aus, dass die Themen der individuellen Partizipation eine unterschiedliche Gewichtung und Ausformung in den einzelnen Ansätzen und Entwicklungsphasen besitzen. Eine umfassende Übersicht neuerer Ansätze der Bewegungssoziologie im Hinblick auf das Thema Partizipation zu erstellen wäre zu aufwendig und für meine Untersuchung nicht zielführend. Mit den Worten von Hunt und Benford (2004: 438): „Participation has been extensively studied in a variety of forms, including conversion, recruitment, participation/nonparticipation, mobilization, rebellion, protest,
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activism, commitment, weak/strong support, volunteerism, biographical consequences, as well as commitment and solidarity.“
Stattdessen sollen einige konkrete sozialpsychologisch geprägte Diskursstränge genannt werden, die sich der formulierten Frage nach dem Zusammenhang zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene der Gruppenidentität nähern. Dazu gehören in erster Linie die Publikationen, die sich mit Partizipation im Hinblick auf die Identität möglicher Teilnehmer befassen. Es sind u.a. die zuvor erwähnten sozialpsychologisch geprägten Arbeiten, die den Social-Identity-Ansatz anwenden. Nach einer Klassifikation von Klandermans (2004) ist eine andere Herangehensweise an die Partizipationsproblematik für den Ressource-Mobilization-Ansatz und die Theorie des politischen Prozesses typisch (Stichwort „instrumentelle Rationalität“, d.h. die Teilnahme wird als Versuch von den Kosten-Nutzen kalkulierenden Akteuren, die sozialen oder politischen Umstände zu ändern, betrachtet). Ansonsten handelt es sich um Ansätze, die sich mit der Motivation im Hinblick auf kulturelle Aspekte, Narrative, Bedeutungen, Emotionen und moralische Überlegungen befassen (Stichwort „Ideologie“).9 Folgende konkrete Themenkomplexe der Bewegungssoziologie, die für die Verbindung der individuellen und der kollektiven Ebene der Identität relevant sind und hiermit einen – möglicherweise latenten – sozialpsychologischen Charakter haben (vgl. Gamson 1992a: 55), lassen sich herausarbeiten: • Commitment (Gruppenbindung) der Individuen und der Zusammenhang zwischen dem Commitment und der kollektiven Identität (siehe das nächste Unterkapitel) • Biografische Auswirkungen der Beteiligung (McAdam 1988a, 1989; Whalen/Flacks 1989, Andrews 1991, Whittier 1995, Miethe/Roth 2000, kritisch Passy/Giugni 2000) • Transformation von Identitäten (Taylor/Whittier 1992, Poletta/Jasper 2001)
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Obwohl diese Klassifikation sich gut zur ersten Orientierung eignet, erweist sie sich an einigen Stellen als zu starr: So würde ich den Framing-Ansatz (den Klandermans tendenziell der dritten Gruppe zurechnet) als durchaus relevant für den oben genannten Aspekt der Partizipation im Hinblick auf die Identität der Teilnehmerinnen betrachten.
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Identity correspondence: Dieses Problem bezieht sich auf die Frage, wie personale und kollektive Identitäten miteinander verbunden werden (Snow/McAdam 2000, Snow 2001).
Da das Problem der identity correspondence zentral für die vorliegende Frage ist, werde ich auf sie genauer eingehen. Wie William A. Gamson (1992a: 60) anmerkt, steht jede soziale Bewegung vor der Aufgabe, die Verbindung zwischen personalen Identitäten potenzieller Teilnehmerinnen und der kollektiven Identität, dem „Wir“, zu schaffen. Sie wird dadurch erfüllt, dass die individuellen Identitäten von Anhängern erweitert werden, so dass sie eine relevante kollektive Identität als Teil ihrer Selbstdefinition einschließen. Konkret wird diese Verbindung, so Snow (2001), durch zwei grundlegende Prozesse geschaffen: Identitätskonstruktion und Identitätsanpassung. Letzteres sei ausreichend, wenn ein Individuum im Rahmen einer Bewegung die Chance bekomme, seine persönliche Identität zu leben. Angesichts der Multiplizität von Identitäten kann die Identity-Correspondence-Frage folgendermaßen umformuliert werden: Welche kollektiven Identitäten korrespondieren in einem konkreten Fall mit welchen personalen (Hunt/Benford 2004: 445)? Wichtiger noch als dieser Aspekt scheint mir jedoch zu sein, dass die Verknüpfung von „Ich“ und „Wir“ als zentraler Aspekt der Mobilisierung gesehen werden kann (vgl. Gamson 1992a). Die Vorstellung, dass die kollektive Identität in die jeweilige personale Identität integriert werden soll, finde ich dagegen zu ungenau: Diese ist vielmehr auf der kollektiven Ebene der Analyse angesiedelt. Dementsprechend handelt es sich eher darum, dass verschiedene Elemente bzw. Inhalte der kollektiven Identität (z.B. geteilte Kognitionen oder Frames, von denen weiter unten die Rede sein wird) von Individuen adaptiert und auf diese Weise zum Generieren ihrer Eigen-Identitäten benutzt werden. Diese Individuen werden zu den Trägern der kollektiven Identität, sind aber gleichzeitig auch diejenigen, die sie interaktiv produzieren. Wenn auch die Idee der identity correspondence das Problem der Verbindung der individuellen und der kollektiven Ebene der Identität explizit betont, bietet sie noch keine hinreichende Lösung. Dafür lässt sich der Framing-Ansatz einsetzen, mit dem ich mich im Folgenden genauer befassen werde. Mit seiner Hilfe können einzelne kognitive Elemente der Wir-Definition erfasst werden, die von den Akteuren in ihrer sinnkonstituierenden Praxis, u.a. bei der Konstruktion ihrer jeweiligen Identitäten, eingesetzt werden.
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Framing-Ansatz Der Framing-Ansatz der Bewegungsforschung wurde von den amerikanischen Soziologen David A. Snow, Robert D. Benford und ihren Kollegen mit dem Ziel eingeführt, eine Brücke zwischen mobilisierungszentrierten und sozialpsychologischen Ansätzen zu schlagen (Snow et al. 1986). Mit dem Begriff frame alignment benannten sie „the linkage of individual and SMO [Social Movement Organization, T.G.] interpretive orientations, such that some set of individual interests, values and beliefs and SMO activities, goals, and ideology are congruent and complementary“ (ebd.: 624). Der Begriff bezieht sich auf die Mobilisierung potenzieller Teilnehmerinnen. Mit der Erweiterung der Sicht auf das Framing wurden diese Frame-Alignment-Prozesse unter der Bezeichnung strategic processes als lediglich einer von drei zentralen Prozesskomplexen identifiziert, mit denen Frames entwickelt, generiert und ausgearbeitet werden (neben interaktiv-diskursiven und kompetitiven Prozessen, Benford/Snow 2000). Der Frame-Begriff wurde bei Goffman entliehen und bezeichnet Interpretationsschemata, die der Organisation von Erfahrungen dienen, indem sie den Individuen erlauben, für Ereignisse und die eigene Anteilnahme daran Situationsdefinitionen aufzustellen (Goffman 1977a: 19).10 Unter Framing werden bestimmte Aktivitäten von Bewegungsakteuren11 verstanden: „They frame, or assign
10 Von Goffmans „Frame Analysis“ wurde im Framing-Ansatz der Bewegungsforschung vor allem die Idee des Framings/der Frames als Interpretationsrahmen selbst übernommen. Das hat sicherlich u.a. mit dem spezifischen Stil des Buches zu tun. Vgl. in der Rezension von W.A..Gamson (1975: 607): „Frame Analysis is an excellent beginning but it is a vastly incomplete conceptual apparatus.“ So konzentrieren sich Snow und Kollegen auf die „primären Rahmen“ (primary frameworks), die Individuen die Lokalisierung, Wahrnehmung, Identifikation und Benennung konkreter Vorkommnisse erlauben, und zwar auf ihre Produktion (und weniger auf die Funktionsweise in Interaktionen). Goffman dagegen befasst sich größtenteils mit Transformationen solcher Interpretationsrahmen während der Interaktionen (z.B. keying). In ihren späteren Arbeiten entwickelten Snow et al. das Konzept allerdings weiter und befassten sich u.a. mit Reframing. 11 In späteren Arbeiten ist nicht nur von Bewegungsorganisationen als Subjekten der Framing-Prozesse die Rede, sondern auch von Aktivistinnen und Teilneh-
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meaning to and interpret, relevant events and conditions in ways that are intended to mobilize potential adherents and constituents, to garner bystander support, and to demobilize antagonists.“ (Snow/Benford 1988: 198) Die daraus resultierenden Collective-Action-Frames sind stärker aktionsund konfliktorientiert als alltägliche Interpretationsschemata (Snow 2004: 385). Die Collective-Action-Frames stellen nicht nur individuelle kognitive Strukturen dar, sondern können auch als Eigenschaften von Organisationen und Kollektiven untersucht werden; sie befinden sich nicht nur „in den Köpfen“, sondern auch in den Texten von Flyern, Broschüren u.Ä., auf die sich verschiedene Individuen beziehen (ebd.: 387, 405). Nach Snow und McAdam (2000: 53f.) stellen die Framing-Prozesse einen zentralen Mechanismus der Verbindung individueller und kollektiver Identitäten12 dar – wenn auch sicherlich nicht den einzigen (vgl. Benford/Snow 2000: 632). Snow und McAdam selbst benennen die Teilnahme an kollektiven Aktionen, u.a. in Kombination mit Framing-Prozessen, als den zweiten Mechanismus. Der Framing-Ansatz kann, entsprechend dem Anspruch seiner Vertreter, zur Lösung des oben eingeführten Identity-Correspondence-Problems beitragen. Mit der Frage, wie die Verbindung zwischen der Identitätskonstruktion und den Framing-Prozessen konkret konzeptualisiert werden kann, beschäftigten sich als erste Hunt et al. (1994). Ihre Annahme war, dass Identitätskonstruktion allen Framing-Aktivitäten inhärent ist: „Not only do framing processes link individuals and groups ideologically but they proffer, buttress, and embellish identities that range from collaborative to conflictual.“ (ebd.: 185) Es handelt sich dabei nicht um gesonderte, sondern um allgemein wirkende Framing-Mechanismen, die in diesem Fall jedoch auf bestimmte Bereiche (framing tasks) fokussiert sind – nämlich auf solche Frames, die Bewegungsakteure selbst, ihre Antagonisten und das Publikum als drei identity fields betreffen, deren Verhältnis charakterisieren und die Vorgehensweise entsprechend spezifizieren. Diese Herangehensweise setzt ein
mern sowie von anderen Akteuren wie „Publikum“ und Antagonisten (z.B. Snow 2004). 12 Dies bedeutet, dass die Framing-Aktivitäten für die Konstruktion kollektiver Identitäten als eine grundlegende Variante der Identitätsarbeit, mit der die Übereinstimmung der Identitäten erreicht wird, zentral sind.
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interaktionistisches bzw. konstruktivistisches Verständnis der Identität voraus. Kollektive Identität wird dabei als ein Zusammenhang relevanter Eigenschaften interpretiert, die von Bewegungsakteuren selbst- und fremdzugeschrieben werden (ebd.: 190). Die Konstruktion der drei grundlegenden Identitätsfelder (Protagonisten, Antagonisten und Publikum) wird u.a. bei der Lösung allgemeiner Framing-Aufgaben (core framing tasks) vollzogen: Beim diagnostischen Framing werden das Problem und seine Ursachen bzw. Verursacher identifiziert (Snow/Benford 1988). U.a. werden sowohl die Antagonisten als auch (implizit) die Protagonisten der Bewegung charakterisiert. Im prognostischen Framing werden Strategien und Taktiken zur Lösung der identifizierten Probleme gesucht. Bei der Formulierung der Vorstellungen von effektiven oder möglichen Vorgehensweisen spielen nicht nur Bewegungsidentitäten, sondern auch zugeschriebene Eigenschaften der Gegner (z.B. Institutionen der sozialen Kontrolle) und des Publikums (z.B. Massenmedien) eine wesentliche Rolle. Das Motivationsframing begründet die Notwendigkeit der kollektiven Aktion und liefert die Teilnahmemotive. Die gemachten Unterscheidungen verschiedener Framing-Bereiche sind analytischer Natur. Ihr Zusammenspiel wird im Falle der Konstruktion von protagonist identity fields besonders deutlich, indem Akteure ihre Organisationsstrukturen und Ansichten innerhalb des Kontextes des kollektiven Handelns, d.h. in Bezug auf andere Gruppen verorten („Wir“ versus „Sie“) (Hunt et al. 1994). Diese Grenzziehungen, die unter dem Begriff boundary framing zusammengefasst werden können, sind ein zentraler Aspekt von Prozessen kollektiver Identität auch in der „linken Szene“, wie im empirischen Teil gezeigt wird (vgl. Taylor/Whittier 1992). Die Eigenschaften einer Bewegung, ihrer Organisationen, ihrer Verbündeten sowie individueller Teilnehmer und der Mobilisierungsbasis, also denjenigen, die als Befürworter der Bewegungsziele gesehen werden, werden definiert (vgl. „Prototyp“ im Social-Identity-Ansatz). Dabei werden ihnen sowohl ein gemeinsames Problembewusstsein als auch bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Wenn beispielsweise Dank an alle gerichtet wird, die „mit uns protestiert, organisiert und blockiert haben“, und weiter geschrieben wird, „Nur durch die gemeinsame Aktion und den vielfältigen Widerstand waren die Proteste so erfolgreich und eine tatsächliche Störung
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des G8-Treffens möglich!“13, so werden die Protagonisten als aktiv, handlungsfähig, verschieden und doch zur gemeinsamen politischen Aktion fähig dargestellt. Konkrete Techniken solcher interpretativen Arbeit sind identity talks der Bewegungsaktivistinnen, zu denen nicht nur argumentative Auseinandersetzungen, sondern auch das Erzählen von Geschichten und die Produktion von Texten gehört (vgl. Gamson 1992b, Benford/Snow 2000: 632, Poletta 2006). An einem Beispiel möchte ich kurz illustrieren, was unter Framing zu verstehen ist. In der Berliner Szenezeitschrift interim (Nr. 555, 29.8.2002) wurde nach einem Brandanschlag auf einige Kleinbusse des LufthansaKonzerns im Zusammenhang mit Beteiligung der Lufthansa an Abschiebungen ein Bekennerschreiben abgedruckt, aus dem ich im Folgenden einen Auszug wiedergebe: 14 „der dauerhafte aufenrhalt als illegalisierte verlangt die alltägliche bereitschaft und ausdauer mit diesen bedingungen zu leben. Wir verstehen unsere aktion hier und heute als einen wichtigen bestandteil antirassistischer praxis innerhalb der linksradikalen bewegung,die ebenfalls die alltägliche bereitschaft und ausdauer besitzen muss ,um wirklich sand im getriebe der abschiebemaschinerie zu sein.wir fordern alle auf sich auch weiterhin gedanken zu machen (und diese dann auch umzusetzen!) wie man legale und illegale im flüchtlingskampf unterstützen kann.jede und jeder auf seine art: ob friedlich oder militant – wichtig ist der widerstand.“
Probleme: Die Abschiebepolitik wird als Problem diagnostiziert (und in weiteren Teilen des Textes mit dem Kapitalismus, Neoliberalismus, Imperialismus und der globalen Ungerechtigkeit in Verbindung gebracht). Die Illegalisierung der Einwanderer wird als ein weiteres Problem angesprochen. Protagonisten: (1) „Wir“ als Verfasser des Schreibens, als Subjekte der „aktion hier und heute“, die sich an (2) die linksradikale Bewegung wen-
13 „G8-2007: Danke. Thank You. Gracias“ (von „Antifaschistische Linke Berlin“), http://www.antifa.de/cms/content/view/567/72/ vom 20.6.2007. 14 Die Masse kleiner Tippfehler hat eine eigene stilistische Aussagekraft, indem sie den Eindruck der Spontaneität vermittelt. Hier und im weiteren Text wird beim Zitieren die Schreibweise des Originals übernommen.
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den. Zu diesem Feld gehören außerdem (3) die legalen und illegalen Flüchtlinge. Gemeinsam mit diesen ist nicht die eigene Lage, sondern die Vorgehensweise, der alltägliche Widerstand (hier wird dezent an den Diskurs von Migrantinnen als neue revolutionäre Subjekte angeknüpft). Zu Protagonisten können „alle“ gehören, die sich engagieren (siehe Motivation). Antagonisten werden in diesem Ausschnitt nicht konkret dargestellt (an anderen Stellen wird u.a. auf die Lufthansa als Mittäterin und Profiteurin der Abschiebungen hingewiesen). Im Bild der „Abschiebemaschinerie“ wird das komplexe System der Abschiebepolitik allerdings zu einem nichtanthropomorphen Subjekt verdichtet. Motivation: Die Aufforderung an die Lesenden, sich einzubringen, wird damit begründet, dass die antirassistische Praxis massiv sein soll, um erfolgreich zu sein. Die Anforderungen an potenzielle Mitstreitende werden einerseits inklusiv und andererseits exklusiv formuliert: „jede und jeder“ kann/sollte sich „auf seine art“ einbringen; die antirassistische Praxis soll jedoch alltäglich sein und erfordert Ausdauer. Die Perspektive des Erfolgs wird in Aussicht gestellt, was motivierend wirkt. Ziele und Vorgehensweise: Interessanterweise wird unter dem Erfolg eher der Kampf als solcher, das Stören der Abschiebemaschinerie, vorgestellt, nicht ein dadurch zu erreichender Zustand (wie z.B. das Ende der Abschiebepraxis). Die zentrale Strategie ist „antirassistische Praxis innerhalb der linksradikalen Bewegung“. Gerade im Hinblick auf die Vorgehensweise werden einige in der „linken Szene“ weit verbreitete Figuren eingebracht: So soll die eigene Praxis von alltäglicher Bereitschaft und Ausdauer geprägt sein („alltäglicher Widerstand“). Auf diese Weise kann sie zur Blockade der Abschiebemaschinerie („Sand im Getriebe der Macht“) werden. „[O]b friedlich oder militant – wichtig ist der widerstand“ bezieht sich auf die Befürwortung von Militanz und die Ablehnung der dominanten Unterscheidung in gute/gewaltfreie und böse/gewaltsame Protestformen. Die eigene antirassistische Praxis soll der Unterstützung des Flüchtlingskampfes dienen, wird also zusätzlich durch den Frame „Solidarität“ begründet. Dieser Frame lässt die Grenzen des autonomen Ansatzes der subjektivistischen Politik überschreiten – wir kämpfen für uns und ausgehend von unserer Situation, nicht für wie auch immer geprägte revolutionäre Subjekte. Dies macht den Unterschied zwischen der Situation von Linksradikalen und illegalisierten Flüchtlingen überwindbar.
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In dieser relativ kleinen Textsequenz treffen wir komprimiert auf einige Deutungsmuster, was bei einem Bekennerschreiben als erklärendem Genre nicht anders zu erwarten ist. Es wird deutlich, dass einzelne Textelemente in unterschiedlichen Funktionen auftreten können, etwa zur Motivation und zur Darstellung der Vorgehensweise. Im Text kommen u.a. einige weit verbreitete diskursive Bausteine zum Einsatz. Militanz als Teil des vielfältigen antirassistischen Widerstandes verweist beispielsweise auf den Bewegungsmilitanz-Frame, den Sebastian Haunss im Rahmen der ausführlichen Analyse der Militanzdebatten in der interim (Haunss 2004: 169ff.) ausgearbeitet hat. Das trifft auch für den damit verbundenen verdeckten Avantgarde-Anspruch, ein „wichtiger“ Bestandteil antirassistischer Praxis zu sein, zu. Die Deutungsmuster werden wiederum im Rahmen des Textes in einen konkreten Zusammenhang zueinander und zu dem Anlass, zur „aktion hier und heute“ gebracht. So wird deren orientierungs- und sinngebende Rolle für das Handeln bekräftigt. An diesem Beispiel wird deutlich, wie der Zusammenhang der Deutungsrahmen und der Sinnpraxis mit Hilfe des Framing-Ansatzes der Bewegungsforschung analysiert werden kann. Anwendung des Framing-Ansatzes Es stellt sich nun die allgemeine Frage, was der Framing-Ansatz zur Untersuchung der kollektiven Identität beitragen kann und welche Probleme seine Anwendung möglicherweise mit sich bringt. Er stellt m.E. vor allem ein Instrumentarium zur Untersuchung von Identitätsprozessen zur Verfügung. Damit gehen zwei Vorteile einher: Zunächst können kollektive Identitäten als Produkte der dialektischen Verbindung von Deutungsprozessen und kognitiven Strukturen erklärt werden, entsprechend dem rekursiven Verhältnis zwischen Framing-Prozessen und Frames (vgl. Hunt et al. 1994: 192). Das bietet auch eine Lösung des analytischen Dilemmas, ob die kollektive Identität als ein Prozess oder als ein Ergebnis zu betrachten ist – und zwar im Sinne des Strukturierungsansatzes (diese Annahme wird im folgenden Unterkapitel weiter entwickelt). In diesem Zusammenhang sei noch angemerkt, dass Frames in der Literatur oft als statische kognitive Strukturen dargestellt wurden und dementsprechend die Konstruktionsprozesse aus dem Blickfeld gerieten. Erst seit Mitte der 1990er Jahre nimmt die Anzahl der Studien, die eine dynamische Betrachtung in Vordergrund stellen, deut-
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lich zu (Benford 1997: 415ff., Benford/Snow 2000: 614, della Porta/Diani 2006: 86). Der zweite Vorteil ergibt sich daraus, dass das Konzept der drei identity fields erlaubt, nicht nur die Bilder von Bewegungsakteuren selbst, sondern auch die wahrgenommenen Eigenschaften anderer Akteure des gesellschaftlich-politischen Kontextes als wichtige Faktoren der Dynamik von kollektivem Handeln zu berücksichtigen (Hunt et al. 1994; vgl. Rucht 1995). Hier sollte man jedoch den Unterschied zwischen den bewegungsspezifischen Bildern von Kontrahenten und der Framing-Tätigkeit von realen Kontrahenten bedenken. Dass an Framing- bzw. CounterframingProzessen nicht nur die Bewegungsakteure selbst, sondern auch andere betroffene Individuen und Gruppen beteiligt sind, haben Studien gezeigt (Hunt/Benford 2004: 447f.). So wird „der 1. Mai“ in Kreuzberg von mehreren Akteuren – diversen linken Gruppen, Polizei, Parteien, Presse – im Rahmen verschiedener Diskursfelder umspielt, in denen sich „radikale Linke“, „autonome Linke“, „Sympathisanten“, „Autonome“, „MLer“15, „Krawalltouristen“, „erlebnisorientierte Jugendliche“, „die Kreuzberger“, „doofe und dufte Berliner“ und „Chaoten“ bewegen (vgl. Rucht 2003). Diesen Vorteilen des Framing-Ansatzes steht allerdings ein wesentlicher Nachteil gegenüber: Die diesbezügliche Literatur konzentriert sich weitgehend auf den kognitiven Aspekt der Identität (Goodwin et al. 2004: 415). Das Konzept der kollektiven Identität schließt jedoch auch deren Konstruktion durch emotionale Investitionen bzw. die emotionale Bindung an eine Gemeinschaft mit ein (z.B. Melucci 1988, 1989, 1996, Poletta/Jasper 2001, Hunt/Benford 2004). Die geteilte symbolische Sinnwelt allein reicht nicht zur Mobilisierung. Es stellt sich die Frage, ob und wie die emotionalen Aspekte der Identitätsprozesse unter Verwendung des FramingAnsatzes aufgefasst werden können. Obwohl Benford (1997) in seinem kritischen Essay eine allgemeine positive Antwort darauf gibt, bleibt er konkrete Umsetzungsvorschläge schuldig. James M. Jasper weist dagegen mit einem ironischen Unterton auf die grundlegende emotionale Komponente des Motivationsframings hin: „‚Motivational framing‘, which seems to be emotions even though the term makes them sound like something else, is rarely discussed, although it is apparently what gets people to actually do something.“ (Jasper 1998: 413) Das kognitive Element alleine führe
15 Marxistisch-leninistisch orientierte Organisationen bzw. ihre Mitglieder.
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demnach nicht zum Handeln. In Anlehnung an Gamson benennt Jasper die besondere Rolle, die injustice frames, in denen die Ungerechtigkeit bestehender Verhältnisse festgehalten wird (Gamson 1992b), bei der Mobilisierung spielen: „In an injustice frame, the passion for justice is fueled by anger over existing injustice.“ (Jasper 1998: 414)16 Moralische Emotionen (Stolz, Scham, Mitleid, Würde u.Ä.) sind besonders eng an kognitive Prozesse gekoppelt, was ihre Untersuchung durch die Rekonstruktion von Narrativen und Diskursen der Bewegungsnetzwerke begünstigt (Goodwin et al. 2004: 422f.). Man kann sich der Annahme von Goodwin et al. (2004) anschließen, dass unterschiedliche Typen von Emotionen mit Hilfe derselben Konzepte analysiert werden können, die bei der Analyse kognitiver und moralischer Vorstellungen zum Einsatz kommen. Das würde u.a. bedeuten, dass die von Bewegungsakteuren produzierten Frames auf ihre emotionalen Aspekte geprüft werden müssen. Dem möchte ich hinzufügen, dass auch die Framing-Prozesse – d.h. nicht nur die Frames als ihre rekursiv aufrufbaren Ergebnisse – emotionale Komponenten haben und auf diese untersucht werden können. Im empirischen Teil gehe ich auf die Konstruktion von Szeneräumen in emotional aufgeladenen Situationen ein, wobei offensichtlich wird, dass diese Prozesse nicht rein diskursiv ablaufen. Einige weitere Kritikpunkte am Framing-Ansatz wurden von della Porta und Diani (2006: 85ff.) zusammengetragen. Neben der schon genannten statischen Betrachtungsweise und der Vernachlässigung emotionaler Komponenten von aktionsrelevanten interpretativen Prozessen werden von ihnen folgende Aspekte genannt: Probleme mit der systematischen Analyse der Zusammenhänge zwischen symbolischer Produktion der Bewegungsorganisationen und ihren Mobilisierungserfolgen sowie ein unklares Erklärungspotenzial des Framing-Ansatzes im Verhältnis z.B. zu politischen Gelegenheitsstrukturen, bezogen auf die Erfolge der Bewegung. Für die Frage nach dem Framing der (kollektiven) Identität oder die allgemeinere Frage nach dem Zusammenhang zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene in Identitätsprozessen in Bewegungen sind diese Kritikpunkte jedoch zweitrangig.
16 Auch eine vordergründig abstrakt-moralische, und nicht affektive, Interpretation der Ungerechtigkeit ist vorstellbar, wie in der Parole „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“.
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Unter Berücksichtigung der Kritik ebenso wie der Vorteile komme ich zu dem Schluss, dass der Framing-Ansatz in der Bewegungsforschung nicht nur die Problematik der Verbindung individueller und kollektiver Identitäten anspricht, sondern ein Instrumentarium zur Untersuchung dieser Verbindung und der Konstruktion kollektiver Identität bieten kann. Das Verhältnis zwischen den Collective-Action-Frames und der kollektiven Identität sollte jedoch präzisiert werden, wenn beide Konzepte parallel Verwendung finden sollen. Im Rahmen des oben befürworteten Identity-FieldsModells von Hunt et al. (1994) wird die Identität einer Gruppe, d.h. der Zusammenhang ihrer selbst zugeschriebenen Charakteristika, als ein Produkt des dialektischen Zusammenspiels von interpretativen Prozessen und Interpretationsstrukturen (Framing-Prozessen und Frames) verstanden. Diese Prozesse sollen dabei nicht nur die Identitäten, sondern beispielsweise auch die Interpretation von Mobilisierungsbedingungen und von anderen Aspekten sozialer Welt betreffen. Dies bedeutet, dass die Identitäten nur einen Ausschnitt der mobilisierungsrelevanten symbolischen Sinnwelt einer Bewegung bilden. Allerdings kann von einem anderen Standpunkt aus argumentiert werden, dass die Konstitution und Reproduktion kollektiver Identitäten sich nicht in Interpretationsprozessen und interpretativen Strukturen erschöpft. Beide Auffassungen sind berechtigt, eine Positionierung jedoch für ein schlüssiges Konzeptgerüst notwendig. Sie wird im nächsten Abschnitt vorgenommen, nachdem das Konzept der kollektiven Identität eingehender dargestellt wurde. Fazit In diesem Unterkapitel beschäftigte ich mich mit dem Verhältnis der kollektiven und der individuellen Ebene der Wir-Identität. Das Konzept sozialer Identität zielt auf die individuelle Ebene und führt zu der Frage, wie Individuen sich im Rahmen der Beteiligung an Aktivitäten der „linken Szene“ als Linksradikale begreifen und von anderen als solche begriffen werden. Die Idee der kollektiven Identität zielt dagegen auf die Frage, wie „linke Szene“ als eine Kollektivität konstruiert und reproduziert wird. Beide Ansätze fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Aspekte des interaktiven Prozesses der Identität, der eine komplexe Verbindung zwischen einzelnen Individuen und dem kollektiven Handlungszusammenhang eines Bewegungsnetzwerks schafft. Der Schwerpunkt der vorliegen-
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den Untersuchung wird auf die kollektive Identität gelegt. Von diesem Standpunkt aus wird auch die individuelle Ebene der Identität in die Analyse mit einbezogen: Individuen sind primäre Träger des Wir-Bewusstseins und anderer Elemente der kollektiven Identität; ohne die mitunter affektive Identifikation individueller Teilnehmerinnen kann es kein kollektives Handeln und keine Bewegung geben, sie sind die Akteure der Identitätskonstruktion. Mein Forschungsinteresse ist darauf gerichtet, wie Bewegungsnetzwerke produziert und reproduziert werden und wie Räume in diesen Prozess durch das Handeln der Akteure einbezogen sind. Diese Frage kann mit Hilfe des Konzepts der kollektiven Identität untersucht werden. Im nächsten Teil werde ich dementsprechend seine einzelnen Dimensionen herausarbeiten. Der Framing-Ansatz eignet sich trotz einiger Kritikpunkte gut als Instrument zur Untersuchung der Identitätsprozesse in der „linken Szene“. Das Konzept des Prototyps des Social-Identity-Ansatzes, einer komplexen Vorstellung von Mitgliedern der In-Group, werde ich als Teil der kollektiven Identität behandeln. Dies eignet sich speziell für die „linke Szene“ gut, da diese auf eine „Politik in der ersten Person“ orientiert ist und die eigene Lebensweise als eine politische Angelegenheit betrachtet.
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Im letzten Unterkapitel habe ich zwischen der kollektiven und der individuellen Ebene der Gruppenidentität unterschieden und u.a. das Konzept der kollektiven Identität vorgestellt. Mit seiner Hilfe soll die Frage untersucht werden, wie die „linke Szene“ als ein kollektiver Akteur bzw. ein kollektiver Handlungszusammenhang produziert und aufrechterhalten wird. Im folgenden Abschnitt werde ich einige Elemente dieses Konzepts detaillierter erläutern. Zuerst wird die Vorstellung von Prozessen kollektiver Identität genauer erklärt. Dann wird ein Versuch unternommen, das Verhältnis der Identitäts- und Framing-Konzepte zu klären. Im nächsten Schritt zeige ich, dass das Konzept der kollektiven Identität zur Untersuchung der Identitätsprozesse in der „linken Szene“ gut geeignet ist. Abschließend gehe ich erneut auf die Verbindung der individuellen und der kollektiven Ebene von Identitätsprozessen ein.
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Die Prozesshaftigkeit der kollektiven Identität Die kollektive Identität wurde eingangs nach Alberto Melucci (1988, 1996) als eine geteilte und interaktive Definition beschrieben, die von mehreren Individuen oder Gruppen produziert wird und Orientierungen des kollektiven Handelns sowie das Feld von potenziellen Gelegenheiten und Beschränkungen, unter denen dieses stattfinden soll, betrifft. Die so definierte Identität hat einen klaren prozessualen Charakter, sie wird durch kontinuierliche Beziehungen zwischen den Akteuren konstruiert und ausgehandelt (Melucci 1996: 67).17 Der Prozess der Identitätskonstruktion erfordert einen fortwährenden Einsatz und muss stetig aktiviert werden, um kollektives Handeln zu ermöglichen (ebd.). Die Existenz eines kollektiven Akteurs darf von Forscherinnen nicht vorausgesetzt, sondern muss zum primären Gegenstand der Forschung gemacht werden. Die Leitfrage dabei ist, wie Individuen und Gruppen „make sense of their action“18 (Melucci 1996: 70). Eine weitere Abgrenzung ist notwendig: Die kollektive Identität soll nicht als ein „Ding“ betrachtet werden, vielmehr soll der Begriff als ein analytisches Werkzeug dienen, mit dessen Hilfe bestimmte Forschungsfragen erschlossen werden können. In meinem Fall geht es um die Frage, wie die Kollektivität „radikale Linke“ hergestellt und aufrechterhalten wird. Der Prozess der kollektiven Identität hat eine kognitive Komponente. Die Ziele des Handelns, die Strategien und Taktiken sowie das Feld sozialer Beziehungen, die Gelegenheiten und Einschränkungen für das Handeln darstellen, werden mit Mitteln einer mehr oder weniger gruppenspezifischen Sprache definiert und eng mit Ritualen, Praktiken und kulturellen Artefakten verbunden. Als Beispiel solcher Artefakte kann ein schwarzer Kapuzenpullover oder eine schwarze Outdoor-Jacke dienen, die bei einer Demonstration der (angedrohten) „Vermummung“ bzw. dem Sich-Unkenntlich-Machen dienen kann und hiermit die staatliche Repression, eigene systemfeindliche Absichten und Stärke (Stichwort „Militanz“) andeutet
17 Vgl. an anderer Stelle: „By ‚interactive and shared‘ I mean that these elements are constructed and negotiated through a recurrent process of activation of the relations that bind actors together.“ (Melucci 1996: 70) 18 Mit anderen Worten, wie sie ihr Aktionssystem „sinnhaft aufbauen“. Der explizite Bezug auf Schütz (1960, Erstausgabe 1932) ist bei Melucci (1996) an dieser Stelle nicht enthalten.
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– aber nicht zuletzt auch die Konformität im Sinne der Zugehörigkeit zur „linken Szene“. Die „Vermummung“ stellt nicht nur eine Praktik der Szene dar, sondern gehört zweifellos zu ihren angestammten Ritualen (vgl. zu Demonstrationen Unterkapitel 6.2). Allerdings wurde ihr Charakter stark von der Einführung des sogenannten Vermummungsverbots bei Versammlungen19 im Jahr 1985 beeinflusst, was ein Beispiel für das komplexe Zusammenspiel zwischen der Struktur politischer Gelegenheiten und der Identitätsprozesse liefert (vgl. Paris 1991, Haunss 2004: 125f.). Die Definitionen von Elementen des kollektiven Handelns bilden kein kohärentes und einheitliches System, sondern können variieren oder gar einander widersprechen (Melucci 1996: 70f.). Die Variabilität kognitiver Elemente geht auf den interaktiven Charakter der Identitätsprozesse zurück. Sie verlaufen im Netzwerk aktiver Beziehungen zwischen Akteuren, die miteinander kommunizieren, interagieren, einander beeinflussen, ihre Positionen aushandeln und Entscheidungen treffen. Über die konkrete Form dieser Netzwerke im Fall der „linken Szene“ schreibe ich mehr im folgenden Unterkapitel. Darüber hinaus hat die Konstruktionstätigkeit auch einen emotionalen Aspekt. Das emotionale Engagement erlaubt einem Individuum, sich als Teil eines „Wir“ zu fühlen und Solidarität mit anderen Teilnehmerinnen zu entwickeln. Der subjektiv erfahrbare Sinn des kollektiven Handelns kann daher nicht auf das Kognitive oder auf das Rationale im Sinne der Kosten-Nutzen-Kalkulation reduziert werden. Bei der Konstruktion der kollektiven Identität der „radikalen Linken“ handelt es sich nicht um eine rein diskursive Tätigkeit von einigen wenigen Strategen, sondern um einen Prozess, der in die Beziehungen und Interaktionen von vielen Individuen eingebettet ist und sowohl eine kognitive als auch eine emotionale Komponente hat. Emotionen wie Wut, Sehnsucht, Freude oder das Gefühl der Befreiung werden auch zu Gegenständen der Framing-Prozesse, u.a. als Elemente der politischen Strategie. Ein Beispiel findet sich in einer Diskus-
19 „Es ist auch verboten, 1. an derartigen Veranstaltungen in einer Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern, teilzunehmen oder den Weg zu derartigen Veranstaltungen in einer solchen Aufmachung zurückzulegen. 2. bei derartigen Veranstaltungen oder auf dem Weg dorthin Gegenstände mit sich zu führen, die geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind, die Feststellung der Identität zu verhindern.“ (§ 17a Abs. 2 VersG)
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sion zu einem grundlegenden Autonomen-Text. In den „AutonomieThesen“ von 1981 liest man: „vielleicht ist freiheit nur der kurze moment, wo der pflasterstein in die hand genommen wird, bis zum zeitpunkt wo er auftrifft, d.h. der moment der veränderung, der grenzüberschreitung, der bewegung.“ (radikal, Nr. 97/1981) In einem weiteren Diskussionsbeitrag heißt es dazu kritisch: „Revolution und Freiheit sind Prozesse, und keine Steinwürfe!“ (radikal, Nr. 98/1981) Und über zehn Jahre später konstatiert ein Buch zum Autonomie-Kongress in Berlin: „Das spielerische Moment der Selbstveränderung – das des Erlebens der Freiheit beim Fluch des Pflastersteins – ist allein zu kurz gegriffen. Das Leben steht leider nicht nur aus einer Aneinanderreihung solcher Momente der Freiheit, sondern der politische Alltag hat viel mit den Mühen der Ebene zu tun.“ (KongreßlesebuchGruppe 1995: 280)
Der existentialistischen Auffassung eines kurzfristigen, unmittelbaren und intensiven Freiheitserlebnisses durch die eigene Aktion wird die langfristige bzw. langwierige Perspektive des politischen Alltags entgegengesetzt.20 Das Motivationsframing erfasst auf diese Weise sowohl einen kurzfristigen Aspekt des „Spaßes“ als auch einen langfristigen Aspekt der „Arbeit“, die nicht im Widerspruch stehen, sondern einander ergänzen. Die Betonung des prozessualen Charakters der Identität wirft die Frage auf, inwieweit überhaupt von Identität als einer mehr oder weniger feststehenden Gruppendefinition die Rede sein kann. Der Begriff der „Identität“ impliziert notwendigerweise eine gewisse Kontinuität des Subjektes trotz seiner Veränderungen im Laufe der Zeit und im Rahmen der Anpassung an das sich wandelnde Umfeld. Allerdings: „[W]hat appears as a given reality, something more or less permanent, is always the result […] of an active process which is not immediately visible.“ (Melucci 1996: 72) Den Widerspruch zwischen der dynamischen und der statischen Dimension des Konzepts versucht Melucci zu lösen, indem er die Identität im Kontext des kollektiven Handelns betrachtet – als eine selbstreflexive Fähigkeit des kollektiven Akteurs, die Wirkungen der Handlungen zu erkennen und sich selbst zuzuschreiben. Im kollektiven Handeln werden symbolische Orien-
20 Die entsprechenden Alternativen des Freiraum-Diskurses werden im sechsten Kapitel besprochen.
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tierungen und Sinn produziert, die von den Akteuren als Realität anerkannt werden. Die Akteure entwickeln die Vorstellung von der Kausalität dieses Handelns und der eigenen Zugehörigkeit zum kollektiven Subjekt. Die kollektive Identität erlaubt sozialen Akteuren, als ein einheitliches Subjekt zu handeln; das ist allerdings nur möglich, weil sie den Prozess der Identitätskonstruktion schon zu einem (vorläufigen) Ergebnis gebracht haben. In diesem Prozess werden verschiedene schon existierende Identitätsangebote aufgegriffen und angepasst (ebd.: 72f.). Diese Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen dem Prozess der Identitätskonstruktion und seinen (stets unfertigen und trotzdem wirksamen) Ergebnissen erinnert stark an die Grundannahme des Strukturierungsansatzes von Anthony Giddens (1984, dt. 1997), auf den ich mich auch bei der Konzeptualisierung des Raumbezugs des Handelns im zweiten Kapitel beziehe. Er zielt auf die Überwindung des Dualismus zwischen Struktur und Handeln: Die Strukturen sozialer Systeme, zu denen auch die Handlungsregeln gehören, existieren nicht außerhalb des Handelns. Sie werden vielmehr von Akteuren im Prozess des Handelns nicht-mechanisch reproduziert bzw. organisieren es rekursiv; damit sind sie zugleich ihr Medium und ihr Resultat. Die Prozesse der kollektiven Identität können sich, so Melucci, in mehr oder weniger stabilen Definitionen der Identität sowie in mehr oder weniger dauerhaften Organisationsstrukturen, Systemen von Regeln (inklusive Mitgliedschaftsanforderungen) und in Führungsverhältnissen (Melucci 1996: 72ff.) kristallisieren. Auf solche Strukturen greifen die Akteure beim konkreten Definieren von Zielen und Mitteln des kollektiven Handelns und des Aktionsfeldes zurück (ebd.). Die Prozesse der Identität nehmen die Form eines Feldes an, eines komplexen Systems von Beziehungen und Repräsentationen. Die darin engagierten Akteure können zu jedem Zeitpunkt Rechenschaft über das Feld ablegen, in Form einer einheitlichen, abgrenzenden und statischen Definition des „Wir“ (ebd.: 76). Meluccis Überlegungen überschneiden sich an diesem Punkt mit der Idee der Reflexivität des Handelns, wie sie von Giddens (1997) formuliert wurde: Der Fluss der Aktivitäten der Akteure wird zwar im Alltag zum großen Teil auf der Ebene des praktischen Bewusstseins vollzogen. Die Akteure sind aber in der Regel fähig, eine Erklärung für ihr Handeln abzugeben, wenn sie danach gefragt werden (ebd.: 55f.). An dieser Stelle möchte ich nicht dem kollektiven Akteur eine Analogie des individuellen Bewusstseins zusprechen. Es geht vielmehr darum, dass die kollektive
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Identität zu einer Bezugsgröße der Reflexivität der beteiligten Individuen wird. Ein Zitat aus einem von mir gemachten Interview mit Simone illustriert diesen Vorgang am konkreten Beispiel: Die vierte Person, die hier_ die hier im Haus wohnt_ äh in der WG, Stefan, der (.) den würde ich_ der kommt halt überhaupt nicht aus dieser Kultur, gehört zum Beispiel auch zu den Im-Stehen-Pinklern ☺ das gehört halt auch zu dieser Kultur ☺ dass es klar ist, dass Männer im Sitzen pinkeln ☺ so, und auch warum. Einfach weil_ weil man da nicht so oft putzen muss. Und wenn sie täglich putzen, dann können sie von mir aus auch Stehen pinkeln, so. [☺ lacht]
Simone nennt eine Praktik auf der privaten und körperlichen Ebene, die sie als einen Marker der Zugehörigkeit zur linken Kultur betrachtet, zu der ihr Mitbewohner Stefan nicht gehöre. Simone positioniert sich zudem als Insiderin, die eine im Rahmen dieser Kultur legitime Interpretation dieser Praktik kennt und benennen kann: „weil man da nicht so oft putzen muss.“ In dieser Sequenz reproduziert sie diskursiv die geschlechterspezifischen Pflichten der körperlichen Selbstdisziplinierung. Ihre Interpretation hat allerdings nichts mit der feministischen Kritik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu tun, nach der die Frauen die Last der Reproduktionsarbeit tragen. Es geht stattdessen um das Optimieren des Zusammenwohnens in Bezug auf die Zeitkosten (auch in anderen Interviews kam dies als ein Vorteil der kollektiven Wohnformen zum Ausdruck). Trotzdem macht diese Interpretation für Simone eine Verbindung mit der linken Kultur aus, in dem Sinne kann sie von der Forscherin nicht als „nicht links“ abgetan werden. Als Zwischenbilanz kann festgehalten werden: Der prozessuale Charakter der kollektiven Identität impliziert, dass die Kontinuität des kollektiven Akteurs kontinuierlich hergestellt werden muss (Melucci 1996: insb. 71ff.). Meine Forschungsfrage knüpft an die erwähnte, dem Begriff der Identität immanente Vorstellung von der Kontinuität der kollektiven Einheit an: Wie wird die Transzendenz der kollektiven Identität in der Zeit durch den Bezug auf den Raum erreicht? Genauer formuliert: Ob und wie wird eine gewisse Kontinuität der kollektiven Identität der radikalen Linken durch den Bezug der Konstruktionstätigkeiten auf die Räume erreicht? Im folgenden Kapitel werde ich näher auf diese Frage eingehen. Das Konzept der kollektiven Identität von Melucci bleibt dafür in mancherlei Hinsicht zu abstrakt. Außerdem bildet sein Versuch, dynamische und statische Dimensionen der
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Identität zu synchronisieren, nicht nur die Stärke seiner Theorie, sondern sorgt zugleich für ein sprachliches Problem, dessen sich der Autor bewusst ist: Die eigentlich prozessuale Identität wird mit einem „statischen“ Begriff benannt. Um diese Irritationen zu vermeiden, werde ich im Rahmen der Studie zwischen „Prozessen kollektiver Identität“ und „Identität“ als einer von Akteuren konstruierten Definition unterscheiden. Nachdem das Konzept kollektiver Identität eingehender dargestellt wurde, muss das Verhältnis zwischen den Collective-Action-Frames und der kollektiven Identität präzisiert werden, damit beide Ansätze parallel Verwendung finden können. Ein wichtiger Grundbaustein stimmt bei beiden Konzepten überein: Die Aufmerksamkeit gilt erstens den symbolischen Konstruktionsprozessen und zweitens deren Ergebnissen, auch wenn jeweils unterschiedliche Akzente gesetzt werden.21 Während der FramingAnsatz sich allerdings mit der Sinnkonstruktion im Hinblick auf Mobilisierungsprozesse befasst, fokussiert Melucci die Aufmerksamkeit auf die Produktion eines kollektiven Akteurs, eines kollektiven Handlungzusammenhangs. Es wurde bereits dargestellt, wie die Vertreter des Framing-Ansatzes die Rolle des Framings in der Identitätsbildung sehen: Die Framing-Mechanismen seien in diesem Fall auf bestimmte Bereiche (framing tasks) fokussiert, nämlich auf solche Frames, die Bewegungsakteure, ihre Antagonisten und das Publikum charakterisieren und dementsprechend deren Verhältnis zueinander und die Vorgehensweisen spezifizieren. Identity framing ist hiermit ein Teilbereich der allgemeineren Framing-Prozesse. Im Hinblick auf die Identitätsprozesse bietet sich allerdings ein anderes Bild: Das Framing-Konzept kann nur einen Aspekt der Identitätsbildung erfassen – die Herausbildung und die Reproduktion der Interpretationsrahmen. Aber auch zum kognitiven Aspekt der Identitätsprozesse gehören nicht nur die an Sinnstrukturen orientierte Interpretationstätigkeit der Akteure, sondern ebenso ihre komplexe, emotionale und praktische Einbindung in den Handlungsfluss. Am Ende des ersten Unterkapitels wurde die Frage formuliert, wie das Verhältnis der symbolischen Sinnwelt einer Bewegung (die als Zusammenhang interpretativer Rahmen untersucht werden kann) und der kollektiven Identität aussieht. Wie zu sehen ist, überschneiden sich die Konzepte des
21 So kritisierte Snow (2001) die in seinen Augen einseitige Betonung der Prozessualität bei Melucci.
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Framings und des Prozesses kollektiver Identität deutlich. Es handelt sich dabei um analytische Konstrukte, die es der Forscherin ermöglichen, eine komplexe symbolische Produktion (in) einer Kollektivität unter verschiedenen, jedoch ähnlichen Blickwinkeln zu betrachten. Da diese Konzepte in erster Linie das Verstehen und das Erklären empirischer Phänomene ermöglichen sollen, gehe ich mit ihnen pragmatisch um: Das Konzept der Prozesse kollektiver Identität spielt eine zentrale Rolle. Ich fokussiere meine Aufmerksamkeit auf diejenigen Aspekte der symbolischen Sinnwelt eines Bewegungsnetzwerks, welche das „Wir“ (im Verhältnis zu den Verbündeten, zu den Gegnern und dem Publikum, also relational) definieren, wozu die Definition der Ziele, der Mittel und des Kontextes des gemeinsamen Handelns gehört. Konkrete Elemente dieser geteilten Definition können als Frames aufgefasst werden, die Prozesse ihrer Konstruktion als Framing. Zugleich muss in der empirischen Untersuchung berücksichtigt werden, dass die Konstitution kollektiver Identität nicht nur die Dimension der interpretativen Tätigkeit, sondern auch die des kollektiven Handelns umfasst. Die „linke Szene“ und das bewegungsorientierte Identitätskonzept Bei einer empirischen Forschung muss jedes analytische Konzept der Frage standhalten, ob es angemessen ist, d.h. wie die Möglichkeiten seiner Anwendung im konkreten Fall aussehen. Diese Frage ist hier an das oben dargestellte Konzept der kollektiven Identität in sozialen Bewegungen nach Melucci zu richten: Passt es zur Untersuchung der Identitätsprozesse in der „linken Szene“? Den Schlüssel zur Antwort auf diese Frage sehe ich in dem explizit analytischen Charakter der Kategorien bei Melucci, u.a. der Kategorie der sozialen Bewegung. In ihnen sind die von Wissenschaftlern konstruierten Forschungsgegenstände zu sehen, nicht die empirischen Verallgemeinerungen.22 Eine analytische Kategorie entspricht nicht der empiri-
22 Dies erinnert an den Idealtyp bei Max Weber (1968), eine ideale Konstruktion, die vom Forscher durch die auf eine oder mehrere Eigenschaften einer Erscheinung fokussierte Abstraktion gebildet und als Vergleichsmaßstab bei einer empirischen Untersuchung eingesetzt werden soll. Den Aspekt des Vergleichs, wie er von Weber selbst für den „Geist des Kapitalismus“ umgesetzt wird, verfolgt
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schen Komplexität des Handelns (Melucci 1996: 20ff.). Das bedeutet, dass jede konkrete Form des kollektiven Handelns mehrere analytische Bedeutungen hat, da es sich dabei um einen komplexen und heterogenen Prozess handelt (ebd.: 37f.). Das kollektive Handeln definiert Melucci (ebd.: 20) als ein Bündel sozialer Praktiken, das folgende Charakteristika aufweist: • Mehrere Individuen oder Gruppen beteiligen sich gleichzeitig daran. • Es zeigt eine gewisse Kontinuität morphologischer Eigenschaften in Zeit und Raum. • Es bezieht ein Feld von sozialen Beziehungen ein. • Die Beteiligten sind fähig, ihren Aktivitäten einen subjektiven Sinn zu verleihen. Einzelne Formen des kollektiven Handelns können danach unterschieden werden, auf welches gesellschaftliche Teilsystem sie sich beziehen: ein System, das die Produktion der Ressourcen gewährleistet; eines, in dem die Entscheidungen zu ihrer Verteilung getroffen werden (politisches System); eines, in dem der Austausch und die Verteilung der Ressourcen geregelt werden (Organisationssystem); und das System der Reproduktion im Alltagsleben, die Lebenswelt (ebd.: 25ff.). Darüber hinaus können die Formen des kollektiven Handelns, wiederum auf der analytischen Ebene, nach ihren Orientierungen differenziert werden, und zwar entlang dreier Dimensionen: • Ob es sich um eine Ansammlung atomisierter Individuen handelt oder um solidarisches Handeln (d.h., ob die Beteiligten sich gegenseitig als Angehörige derselben Gruppe anerkennen). • Ob sie auf den Konflikt oder auf den Konsens orientiert sind. • Ob sie die Grenzen der Verträglichkeit eines Systems sozialer Beziehungen überschreiten oder auf die Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Ordnung ausgerichtet sind (ebd.: 23ff.).
Melucci hier nicht. Er teilt die Einschätzung, dass die unterschiedlichen Gesichtspunkte die Bildung verschiedener Begriffe begünstigen (vgl. Weber 1968: 68). Dennoch betont er die Rolle diverser theoretischer Rahmen bei der Konstruktion der Objekte, die schon durch einzelne Begriffe oder deren Elemente mit ins Spiel gebracht werden, beispielsweise „kollektives Verhalten“ versus „kollektives Handeln“ (Melucci 1996: 20).
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Der Begriff der sozialen Bewegung bezeichnet innerhalb dieser Koordinaten eine bestimmte Form des kollektiven Handelns, welche die Solidarität von Akteuren impliziert, konfliktorientiert und auf das Überschreiten von Kompatibilitätsgrenzen eines Systems ausgerichtet ist (ebd.: 28ff.). Als Beispiele weiterer idealtypischer Formen des kollektiven Handelns innerhalb des genannten Koordinatensystems können die Konkurrenz zwischen den Gruppen, die Devianz oder die individuelle Mobilität genannt werden. Das Konzept der kollektiven Identität wurde von Melucci primär für soziale Bewegungen entwickelt. Dementsprechend stellt sich die Frage, inwieweit dieses Konzept helfen kann, das empirische Phänomen „linke Szene“ zu verstehen. Ich werde an dieser Stelle nicht diskutieren, ob die Autonomen eine der „linken Szene“ entsprechende Bewegung sind (vgl. Haunss 2004) oder ob es sich bei dieser „Szene“ um eine Basis mehrerer Bewegungen (Hausbesetzerinnen, Antifa u.Ä.) oder um ein Bewegungsnetzwerk als eine eigenständige, zum Teil latente Form des kollektiven Handelns handelt. Stattdessen gehe ich davon aus, dass das Konzept der Prozesse kollektiver Identität dann sinnvoll eingesetzt werden kann, wenn beim konkreten empirischen kollektiven Phänomen die Merkmale des kollektiven Handelns und speziell die drei genannten Bewegungscharakteristika entdeckt werden können. In diesem Fall macht es Sinn, die Frage nach der Konstruktion des Wir, auch speziell nach der Rolle der (Re-)Produktion von Räumen in diesem Prozess, zu stellen. Das stimmt m.E. für die „linke Szene“: Hier ist die Solidarität, die Orientierung auf den Konflikt und die Überschreitung der Systemtoleranz deutlich. Die antisystemische Ausrichtung gehört (neben dem Anspruch subjektivistischer Politik und der Ablehnung traditioneller institutioneller Formen politischer Organisierung) zu den Grundlagen der geteilten Überzeugungen (Haunss 2004: 108). In Identitätsprozessen werden die Ziele und Mittel des Handelns sowie das Feld der Gelegenheiten und Beschränkungen immer wieder neu und zum Teil widersprüchlich definiert. Konkrete kognitive Elemente dieser Definition können als Frames aufgefasst werden (wobei der interaktive Prozess der Sinngebung auch eine emotionale Komponente hat, wie es empirisch insbesondere in 4.1 und 6.2 aufgezeigt wird). Frames beziehen sich u.a. auf die Protagonisten der Bewegung, ihre Antagonisten und das Publikum. Die Interpretationen der sozialen Welt und das kollektive Selbstbild, das WirBewusstsein, sind aufs Engste miteinander verwoben. Die interaktive Selbstdefinition eines Akteurs des gesellschaftlichen Wandels ist ohne eine
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gesamtgesellschaftliche Diagnose und Vision nicht möglich. Wiederum kann erst die Selbstpositionierung in dieser konstruierten sozialen Welt, welche die Grenzziehungen gegenüber den „Anderen“ impliziert (vgl. boundary framing), die geteilte symbolische Sinnwelt zur Grundlage des solidarischen Handelns machen. Die grundlegende Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wird in der „linken Szene“ mit der Ablehnung konkreter sozialer und politischer Gruppen kombiniert, mitunter aufgrund deren „bürgerlicher“ Lebensstile. Interessanterweise geht es bei diesen Antagonisten auf der Ebene der Lebensweise nicht um die Oberschichten, die eher im abstrakten Sinne als „Herrschende“ oder „Profiteure“ thematisiert werden, sondern um die Mittelschichten, je nach der zugeschriebenen Kapitalstruktur „Spießer“ oder „Yuppies“ (auf „Yuppies“ als diskursive Figur der Konstitution von Szeneräumen komme ich im empirischen Teil zurück). Es handelt sich damit um Lebensentwürfe, die zumindest im Hinblick auf einzelne Elemente der eigenen Kapitalstruktur auch einem großen Teil der Szeneangehörigen prinzipiell zugänglich sind. Die Abgrenzung von diesen ist zur Entwicklung der eigenen Identität notwendig und wird gleichzeitig zu einer vergleichsweise billigen Ressource der Identitätskonstruktion. Die Veränderung der eigenen Lebensweise (kollektive Wohnformen, Beteiligung an politischen Gruppen u.Ä.) erfordert zwar eine wesentliche Umstellung und große Zeitinvestitionen. Als politische Forderung ist konkrete Utopie jedoch (im Vergleich beispielsweise zu einer „proletarischen Revolution“ bei Marx/Engels 1999, Erstausgabe 1848) relativ leicht umzusetzen und lässt sich immer wieder neu thematisieren, zumal Diskussionen wiederum Teil der normativen Lebensweise der Szeneangehörigen sind. Diese Bescheidenheit ist angesichts der angestrebten radikalen, auch gesamtgesellschaftlichen Veränderungen dennoch relativ (vgl. Roth/Rucht 2008: 14f.). Abschließend möchte ich anmerken, dass Mobilisierung gewöhnlich als ein notwendiges Merkmal einer Bewegung betrachtet wird, was sicherlich auch bei der Betrachtung der „linken Szene“ berücksichtigt werden sollte. Genauer gehe ich auf das Verhältnis von Mobilisierungswellen und Bewegungsnetzwerken im nächsten Unterkapitel ein. Zuerst möchte ich die Frage nach der Verbindung individueller und kollektiver Identitätsebenen wieder aufgreifen und mich mit Effekten der Prozesse kollektiver Identität auf individuelle Bewegungsteilnehmer beschäftigen.
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Kollektive Identität und Commitment Die Prozesse kollektiver Identität implizieren die Entwicklung der subjektiven Zugehörigkeit von Individuen zu einer Gemeinschaft. Bei Commitment geht es um die subjektive Bindung an eine Gruppe, die mit der Festlegung auf ein bestimmtes Verhaltensmuster einhergeht – hier in Bezug auf die Bewegungsaktivitäten. In diesem Kontext möchte ich nicht gesondert die Verhaltensdimension (vgl. Becker 1960) oder die affektive Dimension von Commitment betonen, sondern deren Zusammenspiel – wohl wissend, dass dieser Zusammenhang nicht linear, sondern von vielen Faktoren vermittelt ist (vgl. Klandermans 1997b: 34). Nach Kanter (1972) bezeichnet Commitment die Bindung eines Individuums an Anforderungen seiner sozialen Beziehungen, die von ihm als Ausdruck seiner Persönlichkeit begriffen werden. In diesem Sinne kann nicht nur von einer Selbstverpflichtung gegenüber der Gruppe, sondern auch von einer Selbst-Bindung an die Gruppe gesprochen werden, die zugleich affektive, kognitive und moralische Züge hat. Das bewegungskonforme Verhalten wird nicht als eine Reaktion auf einen äußeren Zwang, sondern als eine freiwillige bzw. selbstverständliche Handlungsoption empfunden (ebd.). Bei einem „commited“ Individuum wurde erfolgreich eine Verbindung zwischen seinen Vorstellungen und subjektiven Interessen einerseits und denen der Bewegung andererseits erschaffen (vgl. Zurcher/Snow 1981: 458). Ein konsistenter Befund empirischer Studien ist, dass kollektive Identitäten die Entwicklung von Commitment und damit eine langfristige Teilnahme begünstigen (Diani 2004: 341f., Hunt/Benford 2004: 448). Aufgrund von fehlenden „harten“ Sanktionsmöglichkeiten der Bewegungsstrukturen gegenüber Individuen und Teilgruppen wird der drohenden Fragmentierung durch eine aufwendige Identitätsarbeit entgegengewirkt (Rucht 2002b: 331). Für eine dauerhafte Teilnahme spielt die Einbindung einer Person in die Aktivistinnen-Netzwerke eine vermittelnde Rolle. Deren Einfluss auf die Partizipation wird in neueren Studien allerdings nicht mehr ausschließlich positiv gesehen, wie es beispielsweise bei McAdams klassischer Studie zum „Mississippi Freedom Summer Project“ im Jahr 1964
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noch der Fall war (McAdam 1988a, 1988b).23 Stattdessen wird er differenzierter und mit einer größeren Aufmerksamkeit gegenüber sozialpsychologischen Aspekten der Teilnahme betrachtet (z.B. McAdam/Paulsen 1993, Kitts 2000, Passy/Giugni 2000). Bedeutsam ist, dass die sozialpsychologischen Studien zum Einfluss von Commitment auf die Partizipation den Arbeiten zur Gruppenidentifikation, die sich direkt auf den Social-IdentityAnsatz beziehen, u.a. hinsichtlich der Operationalisierung der beiden Begriffe nahe stehen. Ich gehe davon aus, dass das Konzept von Commitment als verhaltensrelevante, kognitive und emotionale Bindung von Individuen an die Bewegungsnetzwerke auch bei der Untersuchung der Konstitution und Reproduktion einer kollektiven Identität eingesetzt werden kann. Das Commitment kann dabei als ein Effekt der erfolgreichen Wir-Konstruktion (wie ich in Kapitel 4 zum „Umkämpften Raum einer linken Kneipe“ aufzeige) oder aber als eine Bedingung der Teilnahme an Prozessen der kollektiven Identität interpretiert werden. In diesem Kontext soll an die für die Neuen Sozialen Bewegungen typische Orientierung auf die Befriedigung von Bedürfnissen der Teilnehmerinnen erinnert werden, die auch von Autonomen und weiteren Strömungen der radikalen Linken geteilt wird: „Partizipation an kollektivem Handeln wird für das Individuum als wertlos betrachtet, sofern es nicht einen direkten Beitrag zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse leistet.“ (Melucci 1999: 123) In Prozessen kollektiver Identität als Prozessen der Sinnproduktion werden allerdings auch Modelle dieser Bedürfnisse und legitime Wege zu ihrer Befriedigung formuliert, die u.a. in Prototypen der „richtigen“ Bewegungsteilnehmerinnen festgehalten werden („Linksradikale“, „Antifas“ etc.). Diese für das Commitment relevanten Prototypen betreffen das Alltagsleben und die Lebensführung von Akteuren und rahmen die diskursive Reflexivität ihres Handelns. Im Resümee des Buches komme ich auf das Commitment im Hinblick auf die räumliche Organisation kollektiver Identität zurück. Im Folgenden wird zunächst der Gedanke des Prototyps als einer besonderen begrifflichen Brücke zwischen der kollektiven und der individuellen Seite der Identitätsprozesse weiter entwickelt.
23 McAdam kam zu dem Schluss, dass existierende persönliche Kontakte zu Bewegungsteilnehmern eine ausschlaggebende Rolle für die eigene Teilnahme eines Individuums spielten.
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Prozess der Identität: „Wir“ und Individuen Für die individuelle Identität „Linksradikale“/„Linksradikaler“ wurde am Anfang dieses Kapitels der Begriff der sozialen Identität eingeführt. Allerdings können Prozesse der kollektiven Identität (die Entwicklung und die Aufrechterhaltung einer geteilten Definition der Gruppe, eines „Wir“) auch im Hinblick auf die Entwicklung individueller, sozialer Identitäten betrachtet werden. Das kollektive Handeln ist ein Produkt sozialer Beziehungen, die auch in der Entwicklung individueller sozialer Identitäten eine wesentliche Rolle spielen. Es ist ohne Individuen nicht denkbar. Der Prozess der Identität kann als Prozess begriffen werden, durch welchen die Individuen sich als Angehörige einer Bewegung bzw. einer Gruppe begreifen, von anderen als solche begriffen werden und eine Bindung an dieses „Wir“ entwickeln (della Porta/Diani 2006: 91). Er hat sowohl eine kognitive als auch eine emotionale Komponente: Es geht nicht nur um den geteilten Sinn als eine Interpretation des eigenen Handelns, sondern auch um den Sinn als dessen subjektive Bedeutung. „People feel a bond with others not because they share the same interests, but because they need that bond in order to make sense of what they are doing.“ (Melucci 1996: 74) Die kognitiven Elemente der kollektiven Identität sind nicht nur in Publikationen, Flugblättern, Liedtexten u.Ä. enthalten, sondern werden auch von Individuen angeeignet. Zu solchen interpretativen Zusammenhängen gehören die Vorstellungen von der Konfliktsituation (worum geht es, was ist das Problem?), von Zielen und Mitteln der Auseinandersetzungen – und explizit von „Uns“: Wer sind „Wir“, wie sieht die eigene Gruppe und wie ihre einzelnen Vertreter aus? Ich möchte hier erneut auf die Verbindung der kollektiven und der individuellen Ebene hinweisen und hervorheben, dass die Definition der eigenen Gruppe die Prototypen der Gruppenmitglieder, die einen Ankerpunkt individueller sozialer Identitäten und deren interaktiver Bestätigung bzw. Anzweifelung bilden, mit einschließt. Entsprechend der vorgestellten Theorie der sozialen Identität haben die Prototypen – komplexe Bilder der idealen In-Group-Mitglieder – einen normativen Charakter. Das bedeutet, dass sie eine Grundlage für das konforme Verhalten der Bewegungsteilnehmer und ihrer Identifikation mit entsprechenden Gruppen liefern. Diese Frames betreffen ihre Charaktereigenschaften, das allgemeine Verhalten im Alltag und in konkreten Situationen wie bei demonstrativen Aktionen, die Lebensweise, die emotionale Bindung an die
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Gruppe etc. Die entsprechenden Vorstellungen sind relational; die Abgrenzung von „Denen“ ist ein zentrales Element der Definition von „Uns“. Diese Muster werden dank der Orientierung Einzelner an Prototypen bzw. dank deren Benutzung zur diskursiven Reflexion des Handelns weiter getragen. Die Reproduktion der Identifikationspraktiken geschieht nicht mechanisch, sondern hat ein Transformationspotenzial. Das Zusammenspiel der individuellen und der kollektiven Identitätsebenen ist komplex und kann nicht ausschließlich auf der Ebene der Kognitionen analysiert werden. Davon geht auch Sebastian Haunss (2004) aus, der das Konzept von Taylor und Whittier (1992) zur Differenzierung der Identitätsprozesse in seiner Untersuchung der kollektiven Identität bei den Autonomen nutzt. Die Konstruktion der kollektiven Identität, so Taylor und Whittier, hat drei analytische Dimensionen: Grenzziehungen (boundaries), Bewusstseinsbildung (consciousness) und Aushandlungsprozesse (negotiation).24 Durch die Grenzziehungen wird die Gruppe der Aktivisten von ihrer Umgebung in der sozialen Welt unterschieden und in diesem Zuge auch definiert. Mittels sozialer, psychologischer und materieller Strukturen werden die Unterschiede zu den „Anderen“, speziell zu den dominanten Gruppen, konstruiert und so die sozialen Territorien markiert (vgl. boundary framing). Die Grenzmarkierungen sind essentiell für die Entwicklung der kollektiven Identität, da sie die Ähnlichkeiten der Gruppenmitglieder betonen und deren Interaktionen mit Außenstehenden formen. Taylor und Whittier (1992) nennen geografische Grenzmarkierungen als eine mögliche Variante. Diesen Gedanken werde ich später weiter entwickeln; allerdings muss ich ihrer Interpretation räumlicher Grenzen als im geringen Maße symbolisch konstruiert widersprechen. Nicht nur die territorialen Grenzen, sondern auch der Charakter räumlicher Konstruktionen kann den Grenzziehungen dienen. Die Bewusstseinbildung bezieht sich auf die interpretativen Rahmen, die aus den Bemühungen einer Herausforderergruppe hervorgehen, ihre Interessen zu formulieren und zu realisieren. Die Herausbildung des Bewusstseins ist ein kontinuierlicher Vorgang, der im Erfolgsfall eng mit der Alltagskultur verwoben ist. Als Aushandlungsprozesse werden vielfältige
24 Dabei beziehen sich Taylor und Whittier auf drei Aspekte der Identität, die sie in der Literatur zu sozialen Bewegungen hervorgehoben sehen: die Definition eines „Wir“ als einer Gruppe; die Entwicklung des Bewusstseins; die direkte Oppositionsstellung zur herrschenden Ordnung.
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Symbole und Alltagshandlungen bezeichnet, mit denen eine dominierte Gruppe sich gegen die existierenden Machtverhältnisse widersetzt und diese zu ändern versucht, beispielsweise die Umdeutung der Kategorie „Frau“ durch die radikalen Feministinnen. Haunss modifiziert das Konzept von Taylor und Whittier, indem er lediglich die Dimensionen der Grenzziehung und der Bewusstseinsbildung aufgreift. Als drittes, nicht bzw. nicht nur kognitives Element der Konstruktionsprozesse schlägt er die Auseinandersetzungen um die Lebensweise vor. Die entsprechenden Frames bezeichnet er als Commitment-Frames und versteht darunter „diejenigen kollektiv geteilten Vorstellungen und Rahmungskonzepte, in denen auf einer grundlegenden Ebene Konzepte politischen Handelns mit alltäglichen Praxen und subkulturellen Vorlieben und Stilen verbunden werden“ (Haunss 2004: 76). Sie verbinden die Ebene des Alltagslebens und des bewegungspolitischen Handelns (ebd.). Der Versuch von Haunss, das Alltagshandeln mit Framing-Prozessen konzeptionell zu verbinden, ist auf jeden Fall interessant und bestätigt indirekt die Richtung meiner Forschung. Einige Kritikpunkte sind jedoch schwerwiegend. Erstens wird der Commitment-Begriff kurzerhand „umfunktioniert“ und verliert seine eigenständige analytische Bedeutung. Zweitens – und das ist mit dieser Verlagerung von Commitment zu Commitment-Frames verbunden – wird Haunss seinem Verständnis der Lebensweise als nicht allein kognitives Element der Identitätsprozesse methodisch nicht gerecht, indem er nur die Diskurse in Szenezeitschriften analysiert. Im Besonderen erlaubt diese Herangehensweise keine adäquate Analyse der räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität, da die Materialität des sozialen Lebens so nicht berücksichtigt werden kann. Drittens wirkt die Trennung der „Grenzziehungen“ und des „Bewusstseins“ von der „Lebensweise“ nicht schlüssig: Die Grenzziehungsprozesse und entsprechende Frames betreffen durchaus das Alltagshandeln und die Lebensweisen von Bewegungsakteuren. Meine oben dargestellte Herangehensweise an die Verbindung des Alltagshandelns und der Identitätsprozesse erscheint mir daher schlüssiger. Fazit In diesem Abschnitt wurde das am Anfang des Kapitels aufgegriffene Konzept der Prozesse kollektiver Identität detaillierter dargestellt. Es lässt sich m.E. fruchtbar auf die Untersuchung der Identitätskonstruktion in der „lin-
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ken Szene“ anwenden. Die interaktive Gruppendefinition betrifft die Ziele und Mittel des Handelns sowie das Feld der Gelegenheiten und Einschränkungen, aber auch die expliziten Vorstellungen von der Wir-Gruppe, von Eigenschaften, Verhaltensmustern und Lebensweisen ihrer Mitglieder. Diese werden relational oder antagonistisch zu Bildern der „Außenstehenden“ oder der „Gegner“ formuliert. Der interaktive und geteilte Charakter dieser Definition bedeutet, dass sie in Interaktionen von Individuen und in deren Verhalten stets (re-)produziert und ausgehandelt wird. Dies impliziert, dass die Wir-Definition keine homogene, widerspruchsfreie symbolische Struktur ist und dass sie den Teilnehmerinnen eine Vielfalt von Identifikationsmöglichkeiten anbietet. Der konkrete Zusammenhang sozialer Beziehungen, in dem diese Konstruktionsprozesse stattfinden, sind die Bewegungsnetzwerke. Im nächsten Schritt werde ich daher die „linke Szene“ als einen solchen Zusammenhang charakterisieren.
1.3 D IE LINKE S ZENE ALS „ SOCIAL MOVEMENT COMMUNITY “ Der Begriff „linke Szene“ wurde, genauso wie der Szenebegriff im Allgemeinen, in den wissenschaftlichen Gebrauch aus der Alltagssprache übernommen.25 Es handelt sich um eine Selbstbezeichnung, eine der verbreiteten Wir-Identifikationen, die in den Varianten „linke Szene“ oder einfach „Szene“ sowohl in der mündlichen als auch in der schriftlichen Kommunikation von Szeneangehörigen anzutreffen ist. So heißt es in einem von einigen Szene-Protagonisten verfassten Buch zur Geschichte der Autonomen,
25 Schon Mitte der 1970er Jahre schrieben Gerdes und Wolffersdorff-Ehlert (1974) über die Drogensubkultur unter deren Selbstbezeichnung „Scene“. Auch in der deutschsprachigen Bewegungssoziologie wurde der Szenebegriff aus dem alltäglichen Sprachgebrauch übernommen, eher am Rande benutzt und nicht genau definiert (vgl. Brand et al. 1983). In der jugendsoziologischen Studie von Eckert et al. (2000: 310ff.) wird der Begriff der Szene, auch der linken „Polit-Szene“, als Bezeichnung für vorhandene Gruppierungen in Anlehnung an ihre Selbstbezeichnung verwendet. Wenn auch auf diese Weise auf die existierenden WirIdentitäten zurückgegriffen wird, wird „Szene“ nicht genauer definiert. Es wird lediglich auf den ihr eigenen Charakter eines kulturellen Systems hingewiesen.
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im Glossar „Autonomendeutsch als Fremdsprache“ unter dem Eintrag „Szene“: „Die Leute, die ähnlich aussehen, denken, fühlen wie wir. Mehr Leute als → unsere Zusammenhänge.“ (A.G. Grauwacke 2003: 405) Es wurden inzwischen auch einige Versuche unternommen, ein wissenschaftliches Szenekonzept als Ergänzung oder Ersatz für das Konzept der Jugendkulturen, der Subkulturen oder der Milieus herauszuarbeiten. Im folgenden Abschnitt wird die Möglichkeit geprüft, die „linke Szene“ mithilfe dieser Ansätze genauer zu definieren und auf diesem Wege die Vorstellung von Bewegungsnetzwerken als Stätten der Identitätsproduktion zu spezifizieren. Szenen bei Schulze Gerhard Schulze (1992) erklärte Szenen zum grundlegenden Phänomen der Erlebnisgesellschaft. Schulze benutzte den Begriff „Szene“, um Kollektivitätserfahrungen im Erlebniskonsum zu analysieren (ebd.: 460). „Eine Szene ist ein Netzwerk von Publika, das aus drei Arten der Ähnlichkeit entsteht: partielle Identität von Personen, von Orten und von Inhalten. Eine Szene hat ihr Stammpublikum, ihre festen Lokalitäten und ihr typisches Erlebnisangebot.“ (ebd.: 463) Als Beispiele der Szenen nach Schulze wären Hochkulturszene, Neue Kulturszene oder Kneipenszene zu nennen. Der Begriff der Szene setzt lokale Publika voraus – Personenkollektive, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenkommen und ein Erlebnisangebot konsumieren. Erst in der Szene werden Publika soziologisch bedeutsam, denn so kommt es zur „Häufung ähnlicher Publikumserfahrungen“ (ebd.: 463), d.h. in der Szene werden ähnliche Kollektiverlebnisse gebündelt (ebd.: 466). So werden in Szenen alltagsästhetische Schemata – kollektive Grundmuster des Erlebens – „immer wieder kollektiv homogenisiert und stabilisiert“ (ebd.: 466f.). In Publika werden diese Schemata durch die Beteiligten öffentlich anschaulich gemacht. Welche Zeichen dazu gehören, wird gemeinsam definiert. In Szenen wird die Prozedur, bei der immer neue Erlebnisangebote einem bestimmten alltagsästhetischen Schema zugeordnet werden, immer wieder ausgeführt. Dementsprechend groß ist ihre Rolle in der Entstehung von Erlebensmustern. Darüber hinaus fördern Szenen die Binnenkommunikation und die Herausbildung von Konventionen über Existenzformen durch ihre öffentliche Sichtbarkeit – beides zentrale Elemente eines Milieus (Schulze 1992: 468). So sieht Schulze eine weitere soziologische Bedeutung von Szenen in
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der Entwicklung von sozialen Milieus. In Szenen können soziale Milieus zudem „für sich selbst und für andere anschaulich werden“. Erfahrbare Regelmäßigkeiten werden zu einem stabilen Strukturbild der kollektiven Gliederung der Gesellschaft verarbeitet (ebd.). Davon betroffen sind allerdings nur diejenigen Milieus, die sich aktiv an Szenen beteiligen, vor allem das Selbstverwirklichungsmilieu. Es verfügt über eine eigene Szene – die Neue Kulturszene26 – und ist auch in einigen anderen Szenen stark vertreten (ebd.: 491ff.). Die Szenenbildung, die Inszenierung des Milieus auf dem großstädtischen Erlebnismarkt, wird zu einem Mechanismus der kulturellen Dominanz. Kritisch muss dem hinzugefügt werden, dass Schulze entgegen seinem Anspruch das Entstehen von Szenen nicht genau erläutert; er verweist z.B. nur allgemein darauf, dass die ästhetische Schematisierung einer Szene kollektiv erarbeitet wird (ebd.: 465). Weiterhin richtet sich der Autor bei der Darstellung von Funktionsweise und Statuszusammenhängen der Szene einseitig auf das Modell der Marktwirtschaft aus. Speziell die starre Unterteilung in „Anbieter“ und „Nachfrager“ stößt m.E. im Fall der „linken Szene“ an ihre Grenzen, beispielsweise bei der Reduktion von Szeneangehörigen auf Konsumentinnen, die lediglich mit ihrem Verhalten über die von anderen produzierten Angebote abstimmen können. Positiv kann dagegen hervorgehoben werden, dass das Thema der internen Hierarchien in einer Szene dadurch angesprochen wird. Die empirische Erforschung von Szenen, so Schulze, bedarf einer regionalen oder kommunalen Konzentration, weil Szenen in der Vernetzung lokaler Publika bestehen (ebd.: 469f.). Schulze selbst untersuchte Szenen in Nürnberg. Als Gegenstand kamen prinzipiell alle lokalen Publika in Betracht: in Kneipen, Diskotheken, Kinos, Schwimmbädern, Theatern, Stadtteilzentren etc. Seine Forschung war quantitativ ausgerichtet: Es ging um die Ermittlung statistischer Kohärenz von Besuchern und das anschließende Beantworten der Frage, ob ihr auch typische Verhaltensstile, Erlebnismuster und Erlebnisangebote entsprachen. Diese Vorgehensweise ermöglichte
26 Zu diesem kohärenten Netz lokaler Publika gehören Erlebnisangebote wie kleines Theater, Kabarett, Tanztheater, Jazz u.Ä. Trotz einer Affinität zur Hochkulturszene hat die Neue Kulturszene eine andere Ausrichtung: Sie orientiert sich auf das Neue und eine Aufführungskultur der Zwanglosigkeit bzw. Spontaneität (in Abgrenzung zur „Spießigkeit“ der Hochkulturszene).
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einen Überblick über die Verteilung der Szenen und der Szenegängerinnen sowie das Erfassen von Informationen über mögliche Überschneidungen zwischen den Gruppen. Sie ist jedoch wenig geeignet, eher geschlossene Szenen wie die „linke Szene“ zu untersuchen, denn der Feldzugang kann durch eine solche Vorgehensweise nicht gewährleistet werden. Logisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass Schulze sich nicht mit solchen Szenen beschäftigt. Es lässt sich feststellen, dass der Ansatz von Schulze weder methodisch noch inhaltlich als Instrument zur Untersuchung der „linken Szene“ geeignet ist. Er ebnete jedoch den Weg für einen weitergreifenden Ansatz, der viele der dargestellten Mängel überwinden konnte und im Folgenden dargestellt wird. Szenekonzept nach Hitzler und Kollegen Roland Hitzler und Kollegen (Hitzler et al. 2001) entwickelten im Hinblick auf Themen der Jugend- und speziell der Subkulturforschung ein Szenekonzept, das in der deutschsprachigen Soziologie inzwischen große Beachtung gefunden hat. Sie bedienen sich explizit u.a. des jugendlichen Sprachgebrauchs mit dem Ziel, einen adäquaten Begriff für die Vergemeinschaftungsformen der individualisierten Gesellschaft zu finden (ebd.: 19f.). Szenen werden idealtypisierend definiert als „[t]hematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln“ (ebd.: 20). Als Beispiele beschreiben die Autoren in ihrem Buch u.a. die Techno-Szene, Skater, die Schwarze Szene, Daily Soap-Fans, Konsolenspieler und die Antifa-Szene. Im Folgenden gehe ich auf einzelne Elemente des Szenekonzepts ein: 1. „Thematisch fokussiert“ bedeutet, dass die Aktivitäten der Szenegänger auf ein zentrales „Issue“ ausgerichtet sind: ein Musikstil, eine Sportart, spezielle Konsumgegenstände, eine politische Idee, eine bestimmte Weltsicht etc. Auf diesen thematischen Rahmen beziehen sich Gemeinsamkeiten von Einstellungen und Handlungsweisen der Mitglieder (ebd.: 20f.). Wie ich schon erwähnte, sind in Bewegungsstrukturen und für individuelle Teilnehmer multiple Identifikationsebenen, teilweise mit variierenden Schwerpunkten, möglich.
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2. Szenen haben kommunikativen und interaktiven Charakter. Für eine Szene ist die kommunikative Erzeugung gemeinsamer Interessen (bzw. bestimmter Formen der kollektiven Selbststilisierung) durch die Mitglieder zentral. Die letztgenannten inszenieren ihre eigene Zugehörigkeit und konstituieren dabei zugleich („sozusagen ‚beiläufig‘“) die Szene (ebd.: 21). Auch wenn die Autoren hier keinen expliziten Bezug auf den Strukturierungsansatz nehmen, sind die Ähnlichkeiten mit Überlegungen von Giddens (1984) nicht zu übersehen. 3. Szenen ermöglichen aufgrund ihrer je typischen Symbole, Rituale, Verhaltensweisen die Zuordnung von Beteiligten zu Kategorien, d.h. deren soziale Verortung. Dies passiert dadurch, dass sie für Szenegänger und Außenstehende an Orten, an denen Kommunikation und Interaktion stattfinden, sichtbar werden. Dabei setzen sich Akteure selbst „in Szene“ (Hitzler et al. 2001: 22). 4. Szenen sind Teilzeit-Gesellungsformen. Auch wenn die Szenen unterschiedliche existentielle Reichweiten haben, ist ihnen gemeinsam, dass sie kaum (alle) Lebensbereiche und -situationen abdecken bzw. sie übergreifende Verbindlichkeiten beanspruchen (ebd.: 21).27 Hier möchte ich kritisch anmerken, dass die Teilzeit-These in dieser wenig differenzierten Form für die „linke Szene“ nicht anwendbar ist. Vielmehr wird in Diskursen und in konformen Verhaltensmustern ein Anspruch formuliert, das Leben mit all seinen Bereichen nach der szeneimmanenten Logik des „politischen Lebens“ und der „politischen Arbeit“ zu gestalten, wie weiter unten gezeigt wird. Auch Hitzler und Kollegen schreiben in ihrem Porträt der Antifa-Szene: Die „‚politische Brille‘ transformiert alle Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen des Alltags in ‚Chiffren‘ politischer Hintergrundstrukturen“ (ebd.: 153), „[a]lle Aspekte des Lebens […] sollen auch zur politischen Weiterbildung, zur Ausbildung einer autonomen Identität beitragen“ (ebd.: 154), Antifas „lehnen die Trennung von Szene- und Privatleben explizit ab“ (ebd.: 155). Natürlich variiert das Engagement auch unter den Angehörigen der „linken Szene“. Wir finden auch hier diejenigen, deren Aktivität eher sporadisch ist und sich beispielsweise auf die gelegentliche Teilnahme an Demonstratio-
27 Vgl. die von Hitzler an anderer Stelle (Hitzler 1999) vertretene These von der Lebenswelt eines individualisierten Menschen als einem Zusammenhang von Partial-Lebenswelten.
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nen und das Lesen von Szenepublikationen beschränkt. Die normative Intensität des Engagements ist dennoch hoch. Dementsprechend kann nicht generell von der „linken Szene“ als einer Teilzeit-Gesellungsform ausgegangen werden. Im Allgemeinen kann die Vermutung formuliert werden, dass die geforderte Intensität des Engagements vom Charakter des jeweiligen Themas einer Szene und seiner diskursiven Formulierung abhängt. Anzumerken ist, dass Hitzler und Kollegen später durchaus von Unterschieden in der „Reichweite“ der Handlungsreglements der Szene ausgehen (ebd.: 34).28 Weiterhin sollten die szeneinternen Differenzen im Engagement, denen das Autorenkollektiv an einer anderen Stelle große Beachtung schenkt (ebd.: 27f.), auch in Bezug auf die Teilzeit-These stärker beachtet werden. 5. Die eigene Kultur einer Szene, die sich in einem geteilten Wissen von den „richtigen“ Verhaltensmustern, Attributen, Attitüden manifestiert, wird nicht nur beim Zusammentreffen von Gleichgesinnten (re-)produziert, sondern auch auf der Ebene der persönlichen, individuellen Erfahrung (ebd.: 22f.). Menschen aus der Hardcore-Szene hören auch alleine Hardcore, und Breakdancer üben ihre „Moves“, die sie später auch für ihre Inszenierung vor Anderen einsetzen können. Eine autonome Antifaschistin kann z.B. zuhause antifaschistische Zeitschriften oder Nachschlagewerke zur radikalen Rechten lesen. Die Szene konstituiert sich allerdings erst in der Kommunikation darüber bzw. in der darauf basierenden Interaktion (ebd.: 23). So wird das von der Antifaschistin Gelesene erst für die Konstruktion kollektiver Identität wirksam, wenn sie in Interaktion mit anderen darauf (ob gezielt oder nicht) Bezug nimmt wird. 6. Das die Szene begründende Wir-Bewusstsein ist in zweierlei Hinsicht labil. Erstens konstituiert es sich ausschließlich aufgrund des Glaubens an eine gemeinsame Idee und der interaktiven Bestätigung ihrer Existenz durch bestimmte Kommunikationsformen und/oder Verhaltensweisen. Die zuverlässigere Basis des Wir-Bewusstseins, beispielsweise vorherige gemeinsame Standes- und Lebenslagen-Interessen, fehlt. Dieser These möchte ich entgegensetzen, dass auch das Kollektivbewusstsein von Berufs- und Standesgruppen, denen objektive soziostrukturelle
28 Möglicherweise würde ihre begriffliche Berücksichtigung der Individualisierungsannahme zuwiderlaufen.
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Elemente zugrunde liegen, nicht automatisch aus diesen hervorgeht, sondern erst durch Kommunikation und Verhaltensweisen konstituiert werden muss (Bourdieu 1992). Außerdem können Aussagen über das (Nicht-)Vorhandensein von vorherigen gemeinsamen Interessen (z.B. durch die gemeinsame Klassen- oder Lebenslage) bei Szenegängerinnen in jedem konkreten Fall erst auf einer empirischen Basis getroffen werden. Speziell das Protestmilieu der Neuen Sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik wurde beispielsweise von Eder (2000: 96ff.) als der Mittelschicht zugehörig beschrieben, was das Phänomen eines „Kleinbürgerradikalismus“ mitbegründen sollte. Eine solche objektive gemeinsame Basis kann bei der „linken Szene“ darüber hinaus in einer bestimmten Lebensphase vermutet werden. Die zweite Seite der Labilität von Szenen sehen Hitzler und Kollegen darin, dass ihr Wir-Bewusstsein „notwendig sequentialisiert in eine Abfolge von Latenzen und Aktualitäten“ ist. Die Szenen konstituierten sich nämlich nur im expressiven Vollzug der Zugehörigkeit durch ihre Mitglieder, und dieser sei ein Teilzeit-Phänomen (Hitzler et al. 2001: 24). Die letztgenannte Annahme wurde oben schon kritisiert. Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass eine Abfolge von Latenzen und Aktualitäten für die alltägliche, interaktive (Re-)Produktion sozialer Ordnungen im Allgemeinen charakteristisch ist (Goffman 1977b). Die Labilitätsthese stützen die Autoren u.a. darauf, dass „kaum szeneeigene Sanktionsinstanzen bzw. -mechanismen zur Verhinderung von Einoder Austritten“ existieren (Hitzler et al. 2001: 23). Anhand der zahlreichen Literatur zu Commitment lässt sich bezweifeln, dass eine freiwillige Selbstbindung notwendigerweise labil im Sinne von unbeständig ist. Die Szenen sind labiler als z.B. formelle Organisationen, jedoch sind ihre Regeln und Strukturen im Handeln der Akteure reproduzierbar. 7. Die verlässlichen Treffpunkte kompensieren die Labilität der Szene: „Szenen brauchen Treffpunkte.“ (ebd.: 217) An diesen Treffpunkten und zu bestimmten Zeiten „manifestiert und reproduziert sich nicht nur die Kultur der Szene, sondern eben auch das subjektive Zugehörigkeitsgefühl des ‚Mitglieds‘“ (ebd.: 24). An Treffpunkten finden Interaktionen unter Szenegängern und infolgedessen die Entwicklung und die Aktualisierung der Wir-Gefühle statt. Treffpunkte sind nicht unbedingt für die jeweilige Szene und von ihr geschaffen und ausgestattet; Szene-
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gängerinnen können sich auch einen anderweitig genutzten Raum aneignen. Vom raumsoziologischen Standpunkt aus kann diese Aussage erweitert werden: Nicht nur Treffpunkte als Orte, sondern auch die Strukturen der szenespezifischen interaktiven Raumproduktion an diesen Orten können das Wir-Bewusstsein der Szene stabilisieren. Im zweiten und fünften Kapitel werde ich die raum-zeitliche Beschaffenheit der Treffpunkte unter dem Stichwort „soziales Geschehen“ (social occasion) genauer diskutieren. 8. Szenen sind vororganisierte Erfahrungsräume. Vororganisiert und ein essentielles Element des Szene-Lebens sind nicht nur Treff(zeit)punkte, sondern auch Events. Mit Event ist „eine vororganisierte Veranstaltung“ gemeint, „bei der unterschiedliche Unterhaltungsangebote nach szenetypischen ästhetischen Kriterien kompiliert oder synthetisiert werden, wodurch idealerweise ein interaktives Spektakel zustande kommt, das in der Regel mit dem Anspruch einhergeht, den Teilnehmern ein ‚totales‘ Erlebnis zu bieten“ (ebd.: 26). Im Rahmen eines Events wird das Wir-Gefühl aktualisiert, hergestellt und intensiviert. Besonders wichtig sind Events für das überlokale Wir-Bewusstsein (ebd.: 217). Als Beispiele aus der „linken Szene“ wären hier mehrtägige Protestereignisse zu nennen, etwa Antifa-Sommercamps oder auch – szeneübergreifend – Anti-Castor-Proteste. Die von Hitzler und Kollegen genannten Demonstrationen sind für Berlin nicht im Allgemeinen als außerordentliche Ereignisse zu betrachten, meist finden in jedem Monat mehrere statt. 9. Szenen sind Netzwerke von Gruppen. Jedes Szenemitglied ist in eine oder mehrere Gruppierungen eingebunden, die eine Dimension der internen Differenzierung der Szene bilden. Die Kommunikation verdichtet sich innerhalb dieser Gruppen und ist im Gegensatz dazu zwischen den Gruppen vergleichsweise niedrig (ebd.: 25). Bei der „linken Szene“ handelt es sich dabei um nicht-formalisierte Bezugsgruppen, um Wohngruppen, um Kneipenkollektive oder „Politgruppen“. Eine multiple Zugehörigkeit ist für ihre Angehörigen charakteristisch (s.u. zum Netzwerkcharakter der „linken Szene“ als social movement community). 10. Eine weitere Dimension der internen Differenzierung bildet die Unterscheidung von Szeneangehörigen nach dem Grad ihrer Involviertheit in Organisationselite, Friends & Heavy-User und Normale Szenegänger (ebd.: 27f.). Die Organisationselite bilden langjährige Mitglieder. Sie verfügen über ein umfangreiches Szenewissen und übernehmen groß-
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teils die Organisationsaufgaben bei Erlebnisangeboten, u.a. bei Szeneevents und Treffpunkten. Sie sind relativ privilegiert und nutzen die kommerziellen Chancen ihrer organisatorischen Tätigkeit. Unter Beachtung der Existenz unterschiedlicher Gruppierungen in einer Szene kann angenommen werden, dass es parallel mehrere OrganisationselitenNetzwerke gibt. 11. Szenegänger repräsentieren die Szene maßgeblich mit typischen Aktivitäten, Einstellungen, Motiven und Lebensstilen, sie bilden ihren Kern. Die Grenzen zwischen dem Szenekern und Szene-Publika sind allerdings eher fließend (ebd.: 213ff.). Szenegänger verfügen über spezifische Kompetenzen, die langfristig und zum Teil mühsam erworben werden, beispielsweise explizite Wissensformen, künstlerisches Ausdrucksvermögen oder körperliches Geschick. Die erkennbare Identifikation mit szenischer Kultur, die Inszenierung von Zugehörigkeit, verläuft mittels einer „authentischen“ Stilisierung des eigenen Verhaltens und der Erscheinung – Outfit, Musik u.Ä. (ebd.: 35, 215f.). Die subjektive Identifikation mit der Szene ist stark und setzt, so Hitzler und Kollegen, aufgrund der Diffusität ihrer Sinnangebote eine kreative und originelle individuelle Aneignung voraus. Im Leben von Szenegängern ist das Szeneengagement dominant. Es fungiert als ein subjektives Organisationsprinzip: Die Lebensbereiche werden mit Blick auf die Konsequenzen für das Engagement platziert und gestaltet (ebd.: 216f.).29 12. Szenen sind dynamisch. Die einzige kulturelle Stabilität der Szenen besteht im Wechsel von Trends und Moden (ebd.: 29). Mit Verweis speziell auf Schulze (1992) gehen die Autoren davon aus, dass freizeitkulturelle Angebote erlebenswerte Ereignisse darstellen müssen, um auf dem „Markt“ zu bestehen. Der dynamische Charakter eines Szenegeschehens geht auf die Versuche der Organisationselite zurück, solche erlebenswerten Ereignisse anzubieten, die sowohl speziell genug sind als auch einer normalen Szenegängerin zugänglich bleiben.
29 Die Autoren weisen an dieser Stelle darauf hin, dass dies nicht bedeuten solle, dass Szeneengagement notwendigerweise den größten Zeitaufwand erfordere. Ohne dem zu widersprechen, möchte ich anmerken, dass die Wirkungsbreite der Szenezugehörigkeit durch ihre strukturierende Wirkung offensichtlich die Grenzen einer Teilzeit-Nische überschreitet.
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13. Szenen sind die neuen und individualisierungstypischen Gesellungsformen, die sich zu den überkommenen systemintegrativen Strukturen „querlegen“ (Hitzler et al. 2001: 30). Ihre vergemeinschaftende Kraft basiert nicht (essentiell) auf gemeinsamen Lebenslagen oder auf dem geteilten Interesse an einer gemeinsamen „Sache“, sondern an der Faszination der Teilhaber für ein „Thema“. Die Pluralisierung der Lebenslagen führt dazu, dass die Sinnorientierungen sich zunehmend unabhängig von Lebenslagen herausbilden müssen. Dementsprechend werden Szenen zu immer wichtigeren Institutionen, in denen „Identitäten, Kompetenzen und Relevanzhierarchien aufgebaut und interaktiv stabilisiert werden“ (ebd.). Ohne die identitätsstiftende Funktion von Szenen in Frage stellen zu wollen, möchte ich hier darauf hinweisen, dass die sozialen Ungleichheiten auch in der individualisierten Gesellschaft die Identitätsbildung wirksam beeinflussen (Keupp et al. 1999). Eine gemeinsame „Sache“ wie der Kampf für eine andere/bessere Gesellschaft kann durchaus ein verbindendes Thema sein, wie man bei der „linken Szene“ sehen kann. Die gemeinsamen Interessen werden jedoch in der Tat nicht „geäußert“, sondern müssen in Prozessen kollektiver Identität erst formuliert werden. Die von Hitzler und Kollegen (u.a. 2001) vorgeschlagene empirische Herangehensweise unterscheidet sich stark von derjenigen bei Schulze (1992): Statt statistischer Erhebungen (Umfragen) soll der Schwerpunkt auf der soziologischen Lebensweltanalyse mittels der lebensweltlichen Ethnografie (vgl. Honer 1993) liegen, was von den Autoren im zitierten Buch nicht durchgehend realisiert wird. Gemeinsam bleibt beiden Ansätzen jedoch das Interesse an der Kartografie der Szenen, an ihrer vergleichenden Darstellung in Bezug auf Erlebnis-Elemente. Da ich mich im Wesentlichen an der Vorgehensweise der lebensweltlichen Ethnografie orientiere, stelle ich sie im methodischen Teil genauer vor. Die Anwendbarkeit des Konzepts von Hitzler und Kollegen für die „linke Szene“ An dieser Stelle möchte ich auf die Frage eingehen, was für die Anwendung dieses Szenekonzepts in meiner Studie spricht und welche Kritikpunkte dabei beachtet werden sollen. Ob die Szenen individualisierungs-
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typische Vergemeinschaftungsformen darstellen (vgl. Punkt 13 oben), ist für meine Fragestellung irrelevant. Wichtiger ist die oben formulierte Kritik an folgenden Elementen des Szenekonzepts: die thematische Fokussierung der Szene auf ein Thema (vgl. Punkt 1), der Teilzeit-Charakter des Szeneengagements (vgl. Punkt 4) und die Labilität der Szene (vgl. Punkt 6). Diese Kritik zielt jedoch im Wesentlichen auf die verwendeten kategorischen Formulierungen, zumal das Szenekonzept von Hitzler und Kollegen als ein Idealtypus vorgeschlagen wird. Verändert man die Single-Issue-These in Richtung eines vielschichtigen Themenkomplexes, passt sie durchaus für die „linke Szene“, in der unterschiedliche politische Themen (Antifaschismus, soziale Kämpfe, Antirassismus, Freiräume u.Ä.) mit dem gemeinsamen Anspruch verbunden werden, linke Politik zu machen. Zugleich kann von verschiedenen thematisch fokussierten Subszenen mit ihren jeweiligen Kernen und Organisationseliten die Rede sein. Im Rahmen jeder sozialen Bewegung sind mehrere kollektive Identitäten verschiedener Reichweite zu finden (Hunt/Benford 2004: 445). Die weiteren Elemente des Szenenkonzepts erlauben es, sich der „linken Szene“ analytisch zu nähern: der kommunikative und interaktive Charakter der Szene – sie ist ein wenig formalisiertes Netzwerk, im Unterschied z.B. zu einer Partei (vgl. Punkt 2); die Verortung im sozialen Raum durch das Wahrnehmbar-Werden – die Szene wird beispielsweise bei Demonstrationen oder beim „Abhängen“ ihrer Angehörigen vor Szenekneipen sichtbar (vgl. Punkt 3); die eigene Kultur der Szene, die auch jenseits der Interaktionen mit anderen Szenegängern gelebt werden kann – z.B. durch das Lesen einschlägiger Publikationen (vgl. Punkt 5); die Treffpunkte, an denen sowohl die Kultur der Szene als auch die subjektive Zugehörigkeit der Mitglieder (re-)produziert werden – Infoläden, Szenekneipen (vgl. Punkt 7); die Szene-Events als weitere Elemente von Erfahrungsräumen – größere, überregional mobilisierte Demonstrationen, Feste von Hausprojekten, mehrtägige Protestcamps (vgl. Punkt 8); die Organisation der Mitglieder in Gruppen – sowohl in klar eingegrenzten politischen Gruppen, die einen Namen haben, als auch in kleineren sogenannten Bezugsgruppen (vgl. Punkt 9); die hierarchisierte Differenzierung der Szeneangehörigen nach dem Grad ihrer Involviertheit – von der organisierenden und mobilisierenden Szeneelite, die u.a. die materiellen Ressourcen verwaltet, bis zu „Newcomern“ oder Menschen, die nur selten an politischen Aktivitäten teilnehmen (vgl. Punkt 10); die Szenegängerinnen als zentrale „Trä-
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gerinnen“ der Szene, die sich mit ihr identifizieren und über spezifische Kompetenzen wie das Know-how der politischen Arbeit oder die korrekte Selbstpräsentation durch Outfit und Verhalten verfügen (vgl. Punkt 11); der dynamische Charakter der Szene – die Bilanz zwischen dem Distinktionsgewinn und der Zugänglichkeit z.B. der demonstrativen Aktionen muss sorgfältig hergestellt werden und kann auch scheitern (vgl. Punkt 12). Die methodische Ausrichtung des Ansatzes auf die qualitative Feldforschung passt gut für die Untersuchung des eher geschlossenen Feldes linker Netzwerke. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der Ansatz von Hitzler und Kollegen sich in wesentlichen Aspekten dafür eignet, die „linke Szene“ in Berlin begrifflich zu fassen. Deswegen wird im weiteren Verlauf des Buches von der linken Szene ohne Anführungszeichen die Rede sein. Linke Szene kann dementsprechend wie folgt definiert werden: ein soziales Netzwerk, dessen Teilnehmer sich durch Handlungs-, Denk- und Erlebensmuster auszeichnen, die von ihnen als linksradikal bzw. links interpretiert werden und als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem linksradikalen „Wir“. Das „Issue“ der Szene ist linke Politik. Für die linke Szene ist eine anarchistisch-kommunistische, antiautoritäre Weltsicht charakteristisch, die mit informellen Organisationsstrukturen und der Ausrichtung auf außerparlamentarische Politikformen verbunden wird. Die gemeinsamen Handlungsund Denkmuster werden an typischen Orten zu typischen Zeiten interaktiv stabilisiert und entwickelt. Das Szenekonzept von Hitzler und Kollegen wurde schon von Sebastian Haunss (2004) bei der Untersuchung von Prozessen kollektiver Identität in der Schwulenbewegung und bei den Autonomen – also u.a. auf die linke Szene – angewandt. Mit dem Konzept der Szene sollen nach Haunss „Orte“ eingefangen werden, „an denen sich Lebenspraxen und Framing-Prozesse miteinander verknüpfen“ (ebd.: 79). Dieser Einschätzung der Rolle von Szenen in Prozessen kollektiver Identität stimme ich zu. Allerdings fokussiert Haunss seine Arbeit auf die diskursiven Prozesse, die er mittels der Mikro-Diskursanalyse von Texten aus Bewegungszeitschriften untersucht. Er argumentiert, dass alltägliche Lebenspraxen immer wieder zum Gegenstand diskursiver Aushandlungsprozesse werden. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass eine Auseinandersetzung mit Alltagspraxen ausschließlich mit Hilfe der Diskursanalyse defizitär ist. Die Möglichkeiten des Szenekonzepts können m.E. nur dann auch tatsächlich genutzt werden, wenn die für diese Vergemeinschaftungsform charakteristischen Mechanismen des Iden-
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titätsaufbaus im Alltag – und zwar unter Berücksichtigung der für das Alltagshandeln relevanten Räume – untersucht werden. Das ist mittels teilnehmender Beobachtung, kombiniert mit anderen Methoden wie Interviews und Textanalyse, möglich. Indem das Konzept der linken Szene die Framing-Prozesse mit dem Alltagshandeln verbindet, lenkt es die Aufmerksamkeit u.a. auf die räumliche Organisation von Prozessen kollektiver Identität. Diesen Fragen ist das nächste Kapitel gewidmet. Sicherlich kann nicht alles in der Funktionsweise der linken Szene mit dem Konzept der Szene eingefangen werden. Ihr „Thema“ hat dafür einen zu starken Einfluss: Es geht darum, linke Politik zu machen. Dementsprechend muss diese Szene zugleich als eine politische Aggregierung, ein Bewegungsmilieu betrachtet werden. Deswegen sehe ich in der Berliner linken Szene den konkreten Fall einer social movement community, die hier die Form einer Szene hat. Daher werde ich genauer auf die Rolle von social movement communities eingehen, wie sie bisher in der Literatur zu sozialen Bewegungen betrachtet wurden. Die linke Szene als „social movement community“ In der Bewegungssoziologie werden nicht nur Organisationen, sondern auch Aktivistennetzwerke als wichtige Mobilisierungsstrukturen erachtet. In englischsprachigen Arbeiten werden sie mitunter als social movement communities (vgl. Buechler 1990) oder als movement areas (vgl. Melucci 1989: 60) bezeichnet. Den deutschen Bezeichnungen „Protestmilieus“ oder „Bewegungsmilieus“ fehlt m.E. die begriffliche Präzision: Der Begriff „Milieu“ hat in der aktuellen deutschsprachigen Diskussion eine sozialstrukturelle Konnotation. Wenn es wie bei Roland Roth (1994a, 1994b) explizit um Netzwerke von Bewegungsakteuren geht, kann diese Konnotation eher zu einer begrifflichen Verwirrung führen als sie zu vermeiden helfen. Ich selbst benutzte in der Anfangsphase meiner Forschung für die linke Szene den Begriff „Jugendmilieu“ bzw. „Milieu“. Später ließ ich ihn zugunsten des Szenekonzepts fallen, weil mein Verständnis der linken Szene dem Szenekonzept im Laufe der empirischen Forschung faktisch näher kam. Den Begriff social movement community führte Buechler (1990) zur Bezeichnung eines informell organisierten Netzwerks von politisierten Individuen (Bewegungsaktivisten) ein, und zwar als eine analytische Er-
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gänzung zum formalisierten Sektor der Bewegungsorganisationen (social movement organizations). Die Teilnahme an einer Bewegung beschränkt sich nicht auf die Mitgliedschaft in Organisationen, sondern impliziert auch die Teilnahme an der (Re-)Produktion eines dichten Netzes des informellen sozialen Austausches: Menschen gehen aus, sie sind mit verschiedenen Gruppen verbunden, besuchen bestimmte Treffpunkte, Cafés und Buchläden etc. (Diani 2004: 348). Der ergänzende Charakter des CommunityBegriffs gegenüber den Organisationen ist inzwischen überholt und passt auf jeden Fall nicht zur linken Szene. Bevor ich das erläutere, möchte ich eine kurze Erklärung zum Netzwerk-Begriff geben. In der Soziologie sozialer Bewegungen wurden schon seit langer Zeit u.a. sub- und gegenkulturelle Netzwerke studiert (Diani 2002: 173f.). Die systematischen empirischen Analysen der Bewegungsnetzwerke spielen seit Ende der 1990er Jahre zunehmend eine Rolle. Wie Mario Diani (2002, 2003) feststellt, befassen sich die meisten dieser Beiträge mit der Mobilisierung der Anhänger und der individuellen Teilnahme, gefolgt von Studien zu den Beziehungen zwischen einzelnen Bewegungsorganisationen und Untersuchungen zum Einfluss existierender (lokaler) sozialer Netzwerke auf die Dynamik des kollektiven Handelns. Insgesamt lässt sich ein Trend von einer eher metaphorischen zu einer inhaltlichen Nutzung von Netzwerkkonzepten feststellen, auch wenn viele Beiträge noch erhebliche theoretische Ungenauigkeiten aufweisen (McAdam/Paulsen 1993; Diani 2003; Passy 2003). In der deutschen Soziologie sozialer Bewegungen wird der Netzwerk-Begriff immer noch eher als Metapher verwendet (Haas/Mützel 2008), wobei es auch Ausnahmen gibt (beispielsweise eine Studie zum bürgerschaftlichen Engagement von Höfer et al. 2006). Im Rahmen meiner Studie beziehe ich mich auf Netzwerke nicht im Sinne eines konkreten Analysewerkzeugs (Netzwerkanalyse), sondern benutze den Begriff des Netzwerks eher allgemein, als Hinweis auf die große Bedeutung von sozialen Beziehungen unter den Szene-Akteuren. Mich interessiert dabei primär der Raumbezug der Szene als einer Gesamtinteraktion (vgl. Jansen 1999: 60). Netzwerke von Individuen bilden das Rückgrat der linken Szene als social movement community, wobei die Verbindungen zwischen den Teilnehmerinnen vielfältig sind und sich sowohl auf die gemeinsame Teilnahme an Kampagnen und Zusammenhängen als auch auf geteilte Lebensstile beziehen können (vgl. Diani 2003: 9). Auf einer
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anderen analytischen Ebene können auch Gruppen als Knoten komplexer Bewegungsnetzwerke betrachtet werden. Melucci (1989, 1996) sieht in Netzwerken eine essentielle Organisationsform sozialer Bewegungen seit den 1980er Jahren: „‚[M]ovement areas‘ […] take the form of networks composed of a multiplicity of groups that are dispersed, fragmented and submerged in everyday life, and which act as cultural laboratories.“ (1989: 60) In solchen Gruppen werden Informationen, Reflexionen und symbolische Ressourcen produziert (ebd.: 69). Ein Großteil der Ressourcen wird für die Konstruktion und Unterstützung der intragruppalen Solidarität30 verwendet. Durch das Netzwerk von verschiedenartigen Gruppen zirkulieren Informationen, Individuen und Verhaltensmuster, wodurch ein gewisser Grad an Homogenität in der Bewegung erreicht wird (Melucci 1996: 113f.). Insgesamt ist die Partizipation in diesen Netzwerken, so della Porta und Diani (2006: 131f.), hochgradig individualistisch gestaltet. Für die Teilnehmerinnen ist politischer Aktivismus eher eine Frage des Lebensstils und der Selbstverwirklichung, der Ausdruck einer ausgeprägten kulturellen und politischen Orientierung, als eine Anbindung an ein konkretes politisches Projekt und entsprechende Organisationen. Die von Bewegungsnetzwerken angebotene Möglichkeit, entsprechend der angestrebten Identität zu handeln, ist ein wichtiger Stimulus zur Teilnahme an politischen Aktivitäten (Friedman/McAdam 1992). Die wohl wichtigste Eigenschaft dieser Netzwerke besteht darin, dass sie einzelne Mobilisierungswellen überdauern und latent die Bewegung(en) weiter tragen können, im besten Fall zu einer weiteren Mobilisierungsphase und über sie hinaus (Melucci 1989, Taylor/Whittier 1992, Staggenborg 1998). Die Versuche, eine alternative Lebensweise zu praktizieren, sind demnach keine Rest- oder Begleiterscheinungen der Mobilisierung, sondern eine ihrer Bedingungen. Durch die symbolische Produktion im Alltag nutzen die latenten Netzwerke das Konflikt- und Widerstandspotenzial, das im Alltagsleben enthalten ist (Melucci 1989, 1996). Bei der linken Szene in Berlin haben wir es m.E. mit einer Art social movement community zu tun, die weitgehend unabhängig von einzelnen,
30 Solidarität definiert Melucci an anderer Stelle als die Fähigkeit von Akteuren, andere als Angehörige der eigenen sozialen Gruppierung anzuerkennen und von ihnen gleichfalls als solche anerkannt zu werden (Melucci 1996: 23).
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thematisch durchaus unterschiedlich ausfallenden Mobilisierungswellen existiert. Ihre ursprüngliche Entwicklung liegt am Ende der 1970er bis zum Anfang der 1980er Jahre, während der Mobilisierungswellen der Antiatomund Hausbesetzerbewegung, die u.a. eine Basis für die ideologisch dem italienischen Operaismus nahe stehenden Autonomen bildeten. Deren explizite Ausrichtung auf die „Politik in der ersten Person“, auf die Selbstbestimmung und den alltäglichen Widerstand gegen das „Unterdrückungssystem“ (vgl. Kongreßlesebuch-Gruppe 1995), verstärkte vermutlich zusätzlich die oben beschriebene Tendenz zur Politisierung des Alltagslebens. Die kollektive Identität in der linken Szene ist weder eine Gegebenheit noch eine Leistung einzelner, isoliert betrachteter Akteure. Stattdessen wird sie von ihnen durch einen intensiven Austausch im Rahmen von mehreren, stärker formalisierten oder spontanen und kurzlebigen Gruppen, Assoziationen und Versammlungen produziert. Das unterstreicht die Rolle der öffentlichen und weniger öffentlich zugänglichen Treffpunkte wie Szenekneipen, Infoläden oder Wohnprojekte, die eine sozial-räumliche Gestaltung dieser Netzwerke erlauben. Die Deutungen und Geschichten, die in der linken Szene als network of meanings (White 1992: 67) produziert werden und wiederum die Szenenetzwerke schaffen, werden auch mit Treffpunkten und weiteren Orten der Szene verknüpft, wie am Schluss des theoretischen Teils dieses Buches argumentiert wird. Freiräume und Räume „Unser Widerstand gegen die herrschende Politik braucht eine soziale Basis. Wir brauchen Hausprojekte, Wagenburgen, kollektiv organisierte unkommerzielle Treffpunkte, soziale Zentren, auch und gerade in der Stadtmitte! Wir brauchen Räume, die ein herrschaftsfreies Leben zumindest vorstellbar machen. Mit den gesellschaftlichen und eigenen Widersprüchen konfrontiert zu werden, zu versuchen, die politischen Utopien im Mikrokosmos umzusetzen, ist für uns ein unersetzliches Element linker Politik. Wir lassen uns nicht vereinnahmen. Es geht uns um die Abwicklung von Herrschaft im Grossen wie im Kleinen, um eine linke Politik als permanenten gelebten Alltag. Es geht uns um den Kampf gegen eine Herrschaft, die so sehr als Normalität erscheint, dass sie eine Alternative kaum noch vorstellbar macht. Es geht uns um die solidarische Aneignung von Räumen, die Schaffung von Zusammenhängen, um die Ausweitung von FreiRäumen.“ (Flugblatt zur Demonstration „keine ruhe für [die] mitte“ am 22.2.2003 in Berlin)
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Diesem in einem Flugblatt, d.h. aus der Bewegung heraus, formulierten Freiräume-Konzept31 stehen recht ähnliche „Freiräume“ in wissenschaftlichen Diskussionen über die Bewegungen gegenüber. Wie Francesca Poletta (1999) zeigte, hielt diese Begrifflichkeit – allerdings ohne konsistent definiert zu werden und teilweise unter leicht abweichenden Namen – seit den 1970er Jahren Einzug in die Bewegungsforschung: „For all these writers, free spaces and their analogues refer to small-scale settings within a community or movement that are removed from the direct control of dominant groups, are voluntarily participated in, and generate the cultural challenge that precedes or accompanies political mobilization.“ (ebd.: 1)
Diese Freiräume sind Bereiche, die von den Bewegungsnetzwerken geschaffen und zur Identitätsproduktion und eigenen Reproduktion genutzt werden. Welche Rolle spielen Räume für die „Freiräume“, speziell der linken Szene? Die räumlichen Aspekte der Freiräume wurden bisher in den Diskussionen der Bewegungsforschung überwiegend metaphorisch oder beiläufig behandelt bzw. nicht theoretisch reflektiert, auch wenn die Autorinnen damit u.a. Treffpunkte, Organisationsräume, Buchläden, Kneipen, Cafés u.Ä. meinten (Tilly 2000, Sewell 2001). Die Schutzfunktion der Freiräume (oder safe spaces) hat allerdings klar einen räumlichen Charakter: Es geht um das Nutzen oder Erschaffen von Lücken in (staatlichen) Kontrollund Machtsystemen, die in modernen Gesellschaften zu einem Großteil territorial organisiert sind (ebd.). Gerade deswegen sind „sichere Räume“ in ihren vielfältigen Formen unerlässlich für die Entwicklung von Protestzusammenhängen. Der eigene Entwurf einer Gegenmacht soll als Kontrolle über die Räume realisiert werden, als Fähigkeit, die eigene Kontrolle gegenüber derjenigen, die durch andere bzw. feindliche Akteure ausgeübt wird, durchzusetzen. Die Freiräume werden auch in der symbolischen Praxis der linken Szene explizit räumlich gedacht, als Verbindung des politisierten Alltags mit räumlichen Ansprüchen. Das bekräftigt die Frage nach dem Raumbezug von Identitätskonstruktionen in der linken Szene als social movement community.
31 Im sechsten Kapitel befasse ich mich detailliert mit diesem wichtigen Bereich der Szenediskurse.
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Die soziologische Diskussion der räumlichen Aspekte von Bewegungspolitik im Allgemeinen ist der Diskussion über Freiräume in der linken Szene recht ähnlich: Es gibt eine Vielzahl empirischer Arbeiten, meist Fallstudien, die bei Beschreibungen einzelner Episoden des kollektiven Handelns auch die Orte des Geschehens darstellen oder wenigstens beiläufig auf die räumlichen Faktoren der Protestdynamik eingehen. Allerdings gibt es nur wenig systematische, theoretisch anspruchsvolle Versuche; räumliche Überlegungen bleiben größtenteils episodisch (Tilly 2000, Sewell 2001, Martin/Miller 2003). Die Soziologie sozialer Bewegungen behandelte den Raum meistens als einen unproblematischen Hintergrund und nicht als einen wesentlichen Aspekt der konfliktorientierten Politik, der explizit konzeptualisiert und systematisch untersucht werden sollte (Sewell 2001: 51f.). Mit der Feststellung dieses Mangels gingen jedoch auch Bemühungen der genannten Autoren einher, ihn zu beheben und eine systematischere theoretische Betrachtung von räumlichen Aspekten des kollektiven Handelns und der sozialen Bewegungen einzuleiten. Zu dieser Entwicklung möchte ich mit dem vorliegenden Buch beitragen. Die Theoretisierung des Raums ist eine notwendige Bedingung dieser Versuche (Sewell 2001). Dementsprechend befasse ich mich im nächsten Schritt mit dem Konzept des sozialen Raums. Vorweg nehmen möchte ich das Argument, dass das Alltagshandeln, welches die Grundlage von Prozessen der kollektiven Identität in der linken Szene darstellt, als räumlich organisiert begriffen wird, auch in seinem symbolischen Aspekt. Ich gehe davon aus, dass Prozesse kollektiver Identität räumliche Aspekte und Relevanz aufweisen und dass die dementsprechende theoretische Sensibilisierung ein besseres Verständnis dieser Prozesse und der Funktionsweise der Szene mit sich bringen kann. Fazit Die linke Szene in Berlin bildet eine Art social movement community. Die Prozesse der kollektiven Identität, der symbolischen Produktion eines kollektiven Handlungszusammenhangs, verlaufen hier primär im Alltagsleben. Die konkrete Form der von mir untersuchten Bewegungsnetzwerke kann mit Hilfe des Szenebegriffs nach der Definition von Hitzler und Kollegen erfasst werden. Einige Aspekte dieses Konzepts können auf die linke Szene
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jedoch nur abgewandelt angewandt werden, da die Besonderheiten des Bewegungsmilieus berücksichtigt werden müssen. Der Einsatz des Szenekonzepts bietet eine Möglichkeit, auf die einzelnen Eigenschaften dieser Netzwerke einzugehen, beispielsweise auf ihren interaktiven Charakter. Die kommunikative Herstellung des Wir-Bewusstseins aufgrund des geteilten Glaubens an einen Komplex politischer Ideen und an die Notwendigkeit, linke Politik zu machen, geht mit einer gewissen Labilität einher. Die Instabilität kann durch Verlässlichkeit der Treffpunkte kompensiert werden, die eine solche interaktive Entwicklung und Reproduktion der Wir-Definition inklusive der expressiven Solidarität von Szeneangehörigen unterstützen. Es ist jedoch m.E. nicht ausreichend, auf die Rolle von „Treffpunkten“, „sicheren Räumen“ oder „Freiräumen“ in Prozessen kollektiver Identität allgemein hinzuweisen; vielmehr kommt es darauf an, diese analytisch zu begründen. Dies werde ich im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit mit Hilfe der im nächsten Kapitel eingeführten Begriffe unternehmen. Es steht zu vermuten, dass die gemeinsamen Verhaltens- und Denkmuster von Szeneangehörigen im Alltagshandeln (re-)produziert werden. Diese Annahme erlaubt, die Frage nach der räumlichen Organisation der Identitätsprozesse zu stellen – vorausgesetzt, das Alltaghandeln wird als raumrelevant betrachtet. Mit dieser zweiten Annahme befasse ich mich eingehend im nächsten Kapitel.
1.4 ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Wie kommt die linke Szene als Kollektivität zustande? Um diese Frage so zu formulieren, dass der analytische Umgang mit ihr leichter wird, benutzte ich das Konzept der Identität. Das Konzept wurde in der Bewegungsforschung breit, aber leider zum Teil beliebig und dadurch nicht immer produktiv eingesetzt. Ein Teil dieser Schwierigkeiten kann darauf zurückgeführt werden, dass die analytische Unterscheidung zwischen der kollektiven und der individuellen Ebene der Identität oft außer Acht gelassen wird. Geht es darum, wie die Menschen (nicht) „Linksradikale“ werden und bleiben, oder darum, wie das kollektive „linksradikale“ Handeln (nicht) zustande kommt? Dies sind zwei unterschiedliche Fragestellungen. Der ersten kann mit dem sozialpsychologischen Konzept der sozialen Identität begegnet werden; der zweiten mit dem Konzept der kollektiven Identität aus der
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Bewegungsforschung. Entsprechend meines Forschungsinteresses konzentriere ich mich im weiteren Verlauf auf die kollektive Identität. Diese wird konstruktivistisch verstanden, als eine kollektive Selbstdefinition, die fortwährend in Interaktionen und Beziehungen von Individuen und Gruppen produziert wird. Dementsprechend tritt der Begriff der Prozesse kollektiver Identität in den Vordergrund. Die kollektive Identität als geteiltes Selbstbild der Gruppe beinhaltet die Vorstellungen von den Zielen und den Mitteln des Handelns sowie von den begünstigenden und beschränkenden Kontextelementen der sozialen Welt. Diese Interpretationen schließen komplexe Vorstellungen von Bewegungsteilnehmern, ihren Eigenschaften, Handlungsmustern und Lebensweisen – d.h. die gruppenspezifischen Prototypen – mit ein (hier greife ich auf die Theorie der sozialen Identität zurück). Die Prototypen haben einen normativen Charakter. Die Entwicklung einer individuellen Gruppenbindung (Commitment) impliziert die Anerkennung der sinnhaft konstruierten Wirklichkeit als der Wirklichkeit und die Entwicklung nicht nur eines diskursiven, sondern auch eines praktischen Bewusstseins, d.h. des praktischen Wissens, „wie man sich in der Bewegung bewegt“. Die entsprechenden Verhaltens-, Denk- und Erlebensmuster werden durch Bewegungsteilnehmerinnen in ihrem Alltagshandeln rekursiv (jedoch nicht mechanisch) reproduziert, so wie es auch mit anderen interpretativen Strukturen geschieht, die die symbolische Sinnwelt einer Bewegung konstituieren. Die einzelnen kognitiven Elemente des kollektiven Bewusstseins können mithilfe des bewegungssoziologischen Frames-Konzepts analysiert werden, wobei die Framing-Prozesse nicht nur kognitive, sondern auch emotionale und interaktive Aspekte haben. Die Definition der eigenen Gruppe hat entsprechend dem Identity-FieldsKonzept einen relationalen Charakter. „Wir“ kann nur in Relation – und zwar in einer implizit wertenden Relation – zu anderen Gruppen reflektiert werden, was in Grenzziehungsprozessen (vgl. boundary framing) geschieht. Erst die reflexive Selbstpositionierung in der konstruierten sozialen Welt, welche die Grenzziehungen gegenüber den „Anderen“ impliziert, kann die geteilte symbolische Sinnwelt zur Grundlage des solidarischen Handelns machen. Eine besondere Rolle in Prozessen kollektiver Identität haben social movement communities oder Bewegungsnetzwerke. Im Rahmen dieser submerged networks (Melucci 1989) findet die symbolische Produktion im Alltag statt: Die Deutungsmuster werden interaktiv ausgehandelt, die mit
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ihnen verbundenen Praktiken und Lebensweisen können erlebt und gelebt werden. Die Berliner linke Szene stellt ein Bewegungsnetzwerk dar, aus dem einzelne, thematisch unterschiedlich fokussierte Mobilisierungswellen hervorgehen. Das entsprechende themenübergreifende „Wir“ ist „Linksradikale“. Die „Szene“ ist dabei nicht nur eine Selbstbenennung: Das jugendsoziologische Konzept der Szene von Hitzler und Kollegen hilft, so meine Annahme, die grundlegenden Eigenschaften der linken Szene zu erfassen. Deswegen wird dieser Begriff im Weiteren ohne Anführungszeichen verwendet. Entsprechend der Labilität der Szene als einer Vergemeinschaftungsform, ihrem kommunikativen Charakter, kommt Treffpunkten eine besondere stabilisierende Rolle zu. Nicht nur Treffpunkte als Orte, sondern auch die interaktiv produzierten Räume an diesen Orten, in die bestimmte Bedeutungen integriert werden, unterstützen das Wir-Bewusstsein der Szene. Die sozial-räumlichen Handlungskontexte (und Handlungsergebnisse) beeinflussen die Salienz bestimmter Identitäten eines Individuums und lassen beispielsweise die linksradikale Selbstidentifikation in den Vordergrund treten. Die Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene spielen sich zu einem wesentlichen Teil auf der Ebene von Alltagshandeln und Alltagsinteraktionen ab. Da diese raumbezogen verlaufen – und „Räume“ offensichtlich im Bewusstsein der linken Szene vertreten sind – ist die Frage nach dem spezifisch räumlichen Bezug der Identitätsprozesse berechtigt und sogar zwingend, auch wenn sie bisher in der wissenschaftlichen Diskussion nur wenig Beachtung fand. Inwieweit und wie wird eine gewisse Kontinuität des „Wir“ der radikalen Linken durch den Bezug der Konstruktionstätigkeiten auf die Räume erreicht? Im Folgenden beschäftige ich mich mit den theoretischen Grundlagen dieser Frage, um die Identitätsdiskurse der Bewegungssoziologie um räumliche Aspekte zu ergänzen.
2. Räume und kollektive Identität
Das Alltagsleben spielt in Prozessen kollektiver Identität in der linken Szene, wie sie im ersten Kapitel konzipiert wurde, eine herausragende Rolle: In den Bewegungsnetzwerken der Szene ist die symbolische Produktion des linksradikalen „Wir“, der geteilten Gruppendefinition, an die Lebensweise und das Alltagshandeln der interagierenden Akteure gebunden. Die gemeinsamen Handlungs- und Denkmuster werden an typischen Orten zu typischen Zeiten entwickelt, stabilisiert und modifiziert. Dieser Bezug der symbolisch-diskursiven Prozesse auf das Alltagshandeln und Alltagsinteraktionen begründet die Frage, ob und wie räumliche Phänomene dabei eine Rolle spielen – die Annahme vorausgesetzt, dass das Handeln und die Interaktionen raumbezogen verlaufen.1 Diese Herangehensweise erfordert ein gesellschaftszentriertes Raumkonzept, das eingangs in Anlehnung an die vor allem deutschsprachige Raumsoziologie erfasst wird. Im Anschluss daran wird die Idee der Raumproduktion im Handeln und ihr Gegenpart – die Idee des Raumbezugs des Handelns – unter Rückgriff auf den Strukturierungsansatz und Arbeiten von Erving Goffman konkretisiert. Im letzten Schritt der Argumentation wird die theoretische Diskussion der Prozesse kollektiver Identität in sozialen Bewegungen und der Verräumlichung des Handelns zu einem Entwurf zur räumlichen Organisation von Prozessen
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Weitere Argumente zur Untersuchung des Raumbezugs der linken Szene sind in der Tatsache zu finden, dass die Räume eine große Rolle in Szenediskursen (also auf der kognitiven Ebene der Identität) spielen und konkrete räumliche Objekte (Hausprojekte u.Ä.) Gegenstand kollektiver Mobilisierungen sind. Darüber hinaus sind bestimmte räumliche Phänomene im Alltagsleben der Aktivistinnen von Bedeutung.
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kollektiver Identität verdichtet. Dieser Entwurf soll im empirischen Teil des Buches im Rahmen einer Fallstudie auf die Probe gestellt werden, um herauszufinden, wie er zur Untersuchung der Identitätsprozesse in den Bewegungsmilieus beitragen kann.
2.1 G ESELLSCHAFTSZENTRIERTES R AUMKONZEPT Die Frage nach der räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität wird erst durch eine nicht-naturalisierende Raumauffassung ermöglicht. Deswegen setze ich mich zunächst mit dem Raum als soziologischer Kategorie auseinander. Diese basiert auf einer Kritik der traditionellen, zum Teil implizit verwendeten Raumbegriffe der Sozialwissenschaften, die im ersten Teil formuliert wird. Anschließend werden wesentliche Elemente des soziologischen Raumkonzepts betrachtet. Die Räume sind nicht nur relational, sondern werden von in sozialen Beziehungen positionierten Akteuren produziert. Auf die einzelnen Aspekte der Raumproduktion gehe ich abschließend ein. (Stadt-)Soziologie: Gesellschaft statt Raum Der Raum gehörte lange Zeit zu den vernachlässigten Begriffen der Soziologie. Seit den 1980er und vor allem 1990er Jahren entwickelte sich allerdings in der englisch- sowie in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft eine lebhafte Diskussion um das Raumkonzept (auf manche ihrer bedeutsamen Beiträge werde ich zurückgreifen). Trotzdem wurde das Räumliche jahrzehntelang aus dem Kompetenzbereich der Soziologie stillschweigend ausgeklammert und höchstens als ein das soziale Leben einschließender „Behälter“ bzw. eine materielle Umwelt geduldet. Der Raum war in erster Linie durch seine Abwesenheit definiert; so brauchten Soziologinnen ihr fehlendes Interesse nicht zu begründen. Auch in der Stadtsoziologie war und ist bis heute paradoxerweise eine Naturauffassung des Raums verbreitet, die das Räumliche als etwas rein Materielles bzw. Territoriales begreift und es vom Sozialen trennt. Dementsprechend dürftig sieht es in dieser Disziplin mit gesellschaftszentrierten Raumtheorien aus. Eine mangelhafte Konzeptualisierung des Räumlichen stellt m.E. auch eine der Ursachen für die permanente Suche der Stadtso-
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ziologie nach dem eigenen Gegenstand dar. Exemplarisch für die in der Stadtsoziologie lange Zeit dominierende Position wird an dieser Stelle die Argumentation von Peter Saunders (1987) erläutert (vgl. die ausführliche Kritik bei Löw 2001: 44ff.). Er setzt sich in seiner „Soziologie der Stadt“ mit dieser Suche nach dem „Städtischen“ auseinander und kritisiert dessen bisherige Konzeptualisierungen. Diese Versuche seien fehlgeschlagen, so Saunders, weil „sie eine Theorie spezifisch gesellschaftlicher Prozesse mit einer Analyse räumlicher Formen zu vereinen versuchen“ (ebd.: 17). Nach Saunders sollen die Fragen nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Raum und nach bestimmten gesellschaftlichen Prozessen, die nicht „auf bestimmte räumliche Gegebenheiten beschränkt werden können“ (ebd.), getrennt werden. Die Stadtsoziologie sollte also nicht (mehr) durch eine eigenständige Thematisierung der räumlichen Formen definiert werden. Er schlägt eine nichträumliche Stadtsoziologie vor2 (1987: 242ff.), die damit nur aufgrund der Konvention „städtisch“ genannt werden kann. Saunders’ Unzufriedenheit mit den Missständen der Stadtsoziologie ist nachvollziehbar. Seine Kritik ist jedoch m.E. aufgrund seiner reduktionistischen Auffassung des Räumlichen nur begrenzt relevant. Die Art und Weise der Beschäftigung mit dem Raum kritisierend, lehnt er in der Konsequenz die Suche nach dem räumlichen Gegenstand der Stadtsoziologie generell ab und schüttet so, metaphorisch ausgedrückt, das Kind mit dem Bade aus. Seine Argumentation setzt die verdinglichte Auffassung des Raums als einer dem Sozialen gegensätzlichen, geografischen Realität voraus. Saunders’ Grundgedanke liegt anscheinend im Trend der soziologistischen Doktrin. Allerdings ist der Soziologismus, der einen ideologischen bzw. programmatischen Rahmen für die Entwicklung der Soziologie zu einer eigenständigen Disziplin lieferte, in dieser Frage nicht so eindeutig. Der programmatische Aufruf Durkheims – Soziales durch Soziales zu erklären – führt nicht zwangsläufig zu der Begrenzung des Gegenstandsgebietes der Soziologie.3 Im Gegenteil: Bei Durkheim wird das Soziale brei-
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Diese knüpft an das Konzept der kollektiven Konsumtion von Castells (1977) an.
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Zu bedenken ist auch, dass Durkheim sich dabei in erster Linie gegen den zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreiteten psychologischen Reduktionismus
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ter aufgefasst. Die (u.a.) räumlich organisierten Formen des kollektiven Daseins, z.B. die festen Hausbauformen, werden als gefestigte Handlungsweisen verstanden (Durkheim 1980).4 Dadurch wird das Räumliche in das Interessensgebiet der Soziologie einbezogen, und zwar als ein Ergebnis der normativen Handlungsweisen. Die kognitive Organisation des Raums geht auf die Organisation der Gesellschaft zurück (Durkheim 1984: 592). Die soziologische Bedeutsamkeit des Raums wird damit nicht durch die soziale Relevanz des Raums „an sich“ begründet, sondern durch die räumliche Relevanz der Gesellschaft, welche die räumlichen Strukturen produziert. Diesem Grundgedanken schließe ich mich an; der Raumbezug von Handlungen geht auf die Raumproduktion im Laufe des Handelns zurück. Allerdings sind die Räume keine „toten“ Abbilder des sozialen Lebens, stattdessen entwickeln sich auf der Grundlage der Platzierungen sozialer Phänomene im Raum neue, genuin räumliche soziale Effekte (Massey 1994: 4). Kritik des Behälter-Raum-Konzepts Der Wandel der Raumvorstellungen in der Soziologie ist noch lange nicht umfassend vollzogen. Auch wenn „Raumsoziologie“ inzwischen die Liste der Bindestrichsoziologien erweitern durfte und sich die Gegentendenz – bis hin zur Ablehnung des Spatial Turns – bereits abzeichnet (vgl. Lippuner/Lossau 2004), blieb die allgemeine theoretische Integration des Raums bisher aus – trotz der raumtheoretischen Arbeiten von Läpple (1991b), Löw (2001) und Schroer (2006a). Es geht jedoch weniger darum, eine neue Raumtheorie zu schreiben, sondern eher darum, die gesellschaftszentrierte Raumauffassung in viele Bereiche der theoretischen und empirischen Forschung zu integrieren. Die Neuorientierung der Forschung auf die wechselseitigen produktiven Beziehungen der Gesellschaft und der Räume würde erlauben, die schon existierenden soziologischen Ansätze – soweit es im konkreten Fall möglich ist – zu modifizieren und zu bereichern. Das vorlie-
wandte. Er war bestrebt, der Soziologie zu einer vollständigen Emanzipation von der Psychologie zu verhelfen. 4
Die Beschäftigung der Sozialmorphologie mit dem Raum führte Maurice Halbwachs, ein Schüler Durkheims und Verfechter von dessen soziologischer Methode, weiter. Er untersuchte u.a. die räumlichen Bezugsrahmen des kollektiven Gedächtnisses (Halbwachs 1991).
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gende Buch soll auf diese Weise zum besseren Verständnis von Prozessen kollektiver Identität in sozialen Bewegungen beitragen. Ich beginne mit der Kritik an tradierten sozialwissenschaftlichen Raumvorstellungen, da die neueren Ansätze auf dieser Kritik aufbauen (vgl. Läpple 1991b, Löw 2001). Zuerst werden die einzelnen Einwände dargestellt, um dann nach ihrem gemeinsamen Kern zu fragen. Seit Mitte der 1970er Jahre erschienen in Deutschland einige Arbeiten, welche die Ausblendung der räumlichen Verhältnisse in der soziologischen Theorie bedauerten (und mit deren Erscheinen sich diese Lücke zu schließen begann). So stellte Elisabeth Konau (1977: 4) fest, dass räumliche Verhältnisse „nicht zentral […] für das Problembewusstsein der Soziologie“ zu sein scheinen (vgl. die Diagnose der „Raumblindheit“ durch Läpple 1991b: 163). Zum dominanten raumfernen Konzept des sozialen Handelns ist eine entsozialisierte, d.h. eine verdinglichte Auffassung des Raums komplementär. Diese verdinglichte Vorstellung ist intuitiv klar, weil im common sense verwurzelt, ich versuche trotzdem, sie zu beschreiben: Der Raum umfasst das Reich der Materie, der Raum ist die Ausdehnung, im Raum befinden sich und bewegen sich die Menschen sowie die Gegenstände, und letztendlich bewegt sich unser Lebensraum Erde im Weltraum. Zu sein bedeutet unabdingbar, irgendwo zu sein, an einem Ort im Raum. Diese klassische, naturzentrierte Raumauffassung sollte aber von Soziologinnen nicht als „natürlich“ angenommen werden, zumal die den neuen, heterogenen und verinselten Raumerfahrungen entsprechenden Raumvorstellungen im Alltag zunehmend die Vorstellung, „im Raum zu leben“, ergänzen (vgl. Löw 2001: 82ff.). Sie gibt keinen „Raum wie er ist“ wieder, sondern stellt vielmehr ein Konzept des Raums dar. Einen wichtigen, inzwischen breit rezipierten Beitrag zu ihrer Kritik leistete Dieter Läpple (1991a, 1991b): Die alltäglichen Vorstellungen vom Raum seien großteils durch ein bestimmtes physikalisches Raumkonzept kolonialisiert, und zwar durch die Raumauffassung der klassischen Physik: Der Raum existiere an sich, als ein leerer und homogener Raum, der mit Körpern gefüllt wird. In Anlehnung an Einstein bezeichnet Läpple dies als Behälter-Raum-Konzept („Raum als ‚Behälter‘ aller körperlicher Objekte“, Einstein 1980: XV). Die Vorstellung von einem unendlich ausgedehnten, homogenen, allumfassenden Raum geht auf den „absoluten Raum“ Newtons zurück. Eine wichtige Eigenschaft dieses Konzepts ist darin zu sehen, dass der Raum und die
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Körper entkoppelt werden. Es wird angenommen, dass der Raum vor den materiellen Objekten existiere. Eine dazu konkurrierende Raumauffassung innerhalb der Physik stellt, so Läpple (1991a) weiter, der relationale Ordnungsraum dar. Der Raum wird als die relationale Ordnung körperlicher Objekte begriffen. Er stellt dementsprechend bloß eine durch die Materie bestimmte Raumstruktur dar. Nicht die per se existierenden Positionen werden von einzelnen Objekten besetzt, sondern die Verhältnisse der Objekte bilden die Struktur des Raums. Der „Behälter-Raum“ konnte sich zunächst gegen den relationalen Ordnungsraum in der Physik durchsetzen und fand von dort aus den Eingang in die Gesellschaftswissenschaften (Läpple 1991b: 190f.). Zentrales Kennzeichen seiner zum Teil sehr unterschiedlichen Verwendung ist die Auffassung des Raums als des gegebenen „Behälters“ für gesellschaftliche oder gesellschaftsrelevante Inhalte (Menschen und Dinge). Das Behälter-Raum-Konzept stimmt mit der im 17. und 18. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung von der Gesellschaft als atomisierte Welt überein (Läpple 1991a: 38f.). Diese Übereinstimmung ist heute noch aktuell. Eine solche Raumauffassung, insbesondere die Idee des absoluten Raums, begründet die Entkopplung der Gesellschaft vom Raum: Der Raum an sich ist auch gegenüber der Gesellschaft ein Raum an sich. So bleibt der Blick auf die sozialen Prozesse als raumrelevant und -produktiv versperrt. Nicht die Übernahme des relativistischen Raumkonzepts aus der Physik sollte daher das Ziel der soziologischen Raumforschung sein, sondern die Entwicklung eines gesellschaftszentrierten Konzepts (ebd.: 30). Anzumerken ist, dass die Ablösung des anthropozentrischen Raumbegriffs der traditionellen Gesellschaft durch das naturzentrierte, physikalische Raumkonzept – die Läpple (1991b: 201ff.) als eine neuzeitliche Revolution der Denkart bezeichnet – sicherlich nicht vollständig war. Obwohl die dominierende, euklidisch geschulte Alltagsvorstellung, „im Raum“ zu sein, mit dem „Behälter-Raum“ übereinstimmt, existiert die topologische Wahrnehmung in seinem Schatten. Für meine Überlegungen ist der lang anhaltende Primat des „Behälter-Raums“ in den Gesellschaftswissenschaften jedoch wichtiger. Die Notwendigkeit, dieses Konzept zu überwinden, wird in letzten Jahren verstärkt wahrgenommen. Das reflektiert vermutlich, so Martina Löw (2001), den Wandel der gesellschaftlichen räumlichen Praxis und der existierenden Raumvorstellungen: Das Handeln ist zwar „nach wie vor mit der Vorstellung, im einheitlichen, homogenen Raum zu leben, ge-
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prägt“, diese kann „aber nicht länger als einzige Raumvorstellung unterstellt werden“ (ebd.: 101, Hervorhebung im Original). In verinselten Räumen der kindlichen Sozialisation, im Cyberspace u.Ä. wird parallel dazu die Erfahrung etabliert, auf stets unterschiedliche, nicht als eine Kontinuität zu denkende Räume Bezug zu nehmen (ebd.: 85ff.). Die nachholende Entwicklung sozialwissenschaftlicher Raumkonzepte fängt mit der kritischen Auseinandersetzung mit überlieferten Vorstellungen an. Kritik des Territorialitätsprinzips Die Idee einer raumsoziologischen Forschung wurde von manchen historischen und aktuellen Versuchen, Räume (genauer: Territorien) und Gesellschaften in ideologischem Gedankengut zu verbinden, nachhaltig diskreditiert. Besonders trifft dies auf die Expansionspolitik des Nationalsozialismus zu. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die sozialdarwinistische und geodeterministische Nord-Süd-Gegenüberstellung der Neuen Rechten, rechte regionalistische Strömungen und geopolitische Überlegungen zum „Lebensraum“ von Karl Haushofer (u.a. 1936).5 Damit
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Die Lehre vom „Lebensraum“ des Geografen Haushofer fand ihr literarisches Gegenstück vor allem in Hans Grimms Roman „Volk ohne Raum” (Grimm 1926), dessen Titel schnell zum Schlagwort avancierte. Sowohl wissenschaftliche als auch literarische „Lebensraum“-Strömungen begründeten die nationalsozialistische Expansionspolitik wesentlich mit, wie Heike Wolter (2003) zeigt. Diese Ideologie propagierte, dass das deutsche Volk einen größeren, ihm gebührenden Lebensraum brauche. Der Raum bildete somit einen eigenständigen Bezugspunkt der nationalsozialistischen Ideologie. Dafür spricht auch die Existenz einer weiteren Methode der „Lebensraumerweiterung“, die in der Vorkriegszeit breit beworben wurde, aber gegenüber der kriegerischen Expansion eine unbestritten marginale Rolle spielte – die Lebensraumgewinnung im landwirtschaftlichen Bereich im Rahmen des „Blut-und-Boden“-Programms (vgl. Amenda 2005). Die symbolische Verbindung der Territorialität und der Gesellschaft (genauer: des Volkskörpers) kann dementsprechend in ihrer Funktion der Ausübung von symbolischer Macht analysiert werden. Im Rahmen meiner Argumentation ist es interessant, dass auch die „Lebensraum“-Lehre das BehälterRaum-Konzept beinhaltet: So wird die Gesellschaft als in einem Raum befindlich gedacht, ohne dessen Ausdehnung sie nicht bestehen kann. Ist der Behälter
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soll nicht ausgedrückt werden, dass gemeinde- oder stadtsoziologische Konzepte mit rechtem Gedankengut gleichzusetzen sind. Eine unkritische Bezugnahme auf die durch die politische bzw. staatliche Macht festgelegten territorialen Einheiten ist für diese Konzepte jedoch charakteristisch. Durch diese räumliche bzw. territoriale Anbindung wird ihre Analyse faktisch „enträumlicht“. Schon Mitte der 1970er Jahre warfen Peter Atteslander und Bernd Hamm (1974) der damaligen deutschen Gemeindesoziologie vor, dass die meisten Autoren die Gemeinde bzw. die Stadt nicht als Erkenntnisobjekt, sondern als Paradigma verwendeten und damit die Grenzen des Forschungsfeldes a priori festsetzten. Dies resultiere aus der Tatsache, dass die Forschungen nach dem Lokalitätsprinzip organisiert würden. Die Siedlungseinheiten (z.B. Berlin, Berlin-Mitte etc.) würden als Gesellschaftseinheiten betrachtet. Der dadurch zustande kommende „Raumbezug“ sei kein Ergebnis der Forschung, sondern eine apriorische Annahme. Daraus leite sich ab, dass der Gegenstand der Stadtsoziologie alles umfassen solle, was in den Städten stattfindet. In der modernen Gesellschaft bedeutet dies praktisch eine Gleichsetzung mit dem gesamtsoziologischen Gegenstand. Dabei wird auch die Rolle des Räumlichen für die Organisation sozialen Lebens übersehen. „Jeder Reduktionsversuch, menschliches Leben nach dem Lokalitätsprinzip der Gemeinde zu fixieren, erleidet Schiffbruch“ (ebd.: 13) – diesem Urteil von Atteslander und Hamm stimme ich zu. Ihre Kritik möchte ich um einen Aspekt erweitern. Indem Soziologen und andere Stadtforscher sich an den Verwaltungseinheiten orientieren, übernehmen sie unreflektiert die von der symbolischen Macht staatlicher Strukturen legitimierte Sichtweise: Sie benutzen die staatlich durchgesetzten Lokalitäts- bzw. Territorialitätskategorien als Forschungsinstrumente und erklären sie damit faktisch zu „natürlichen“ Organisationsprinzipien des sozialen Lebens (vgl. Werlen 2000: 260). Diese „Komplizenschaft mit der bestehenden Ordnung ist eine ihr selbst nicht bewusste Form des Konformismus“ (Bourdieu 1991c: 487). James C. Scott begreift in seinem Buch mit dem eingängigen Titel „Seeing Like a State“ (Scott 1998) die Einführung der modernen, unifizierenden Lokalitätskategorien als Element eines tendenziell autoritären Modernisierungsprojekts: Durch die Reduktion der
zu klein geworden, muss ein neuer Raum gewonnen werden (vgl. Werlen 1997: 330f.).
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komplexen Realität auf unifizierte, standardisierte, vereinfachende Schemata soll diese für die staatlichen Akteure durchschaubar und „zugunsten der Menschen“, so der Anspruch, verwaltbar gemacht werden (Scott 1998: 76ff.). Französische Départements liefern ein gutes Beispiel dafür. Das soll nicht heißen, dass diese territorialen Einheiten für das soziale Handeln vollkommen irrelevant wären; beispielsweise hat der Wohnbezirk für seine Bewohner oft auch eine subjektive Bedeutung und dient als ein Identifikationssymbol. Weiterhin können diese anfänglich erdachten Kategorien gerade deswegen den Alltag der Menschen organisieren, weil die staatlich erschaffenen oder sanktionierten Institutionen, die den Alltag zu strukturieren vermögen, sich an diesen orientieren (ebd.: 82f.; vgl. Anderson 1991: 169). Ihre Relevanz sollte dennoch in ihrer Wirkungsweise und ihren Grenzen ein Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung sein, und nicht der Ausgangspunkt. Zu diesem Schluss kommt auch einer der Pioniere der Wohnmilieuforschung in der BRD, Dieter Keim: „Eine Beschränkung der sozial rekonstruierten Milieus auf Stadtteile, der Gebiete mit Verwaltungsgrenzen, erscheint nicht sinnvoll, ja verfälschend.“ (Keim 1997: 397) Diese Kritik trifft allerdings auch für sein eigenes frühes Werk zu (Becker/Keim 1977). Daraus wird die oben angesprochene Parallele zu den politisch rechts verorteten Raumtheorien klar: die stadtsoziologische Forschung beteiligt sich an der Ausübung der symbolischen Gewalt staatlicher Strukturen, und zwar auf eine Weise, die ihr heuristisches Potenzial nicht erhöht. Die Raumauffassung nach dem Territorialitätsprinzip dominiert immer noch die stadt- und regionalsoziologische Forschung, so dass dies in den meisten Fällen zu einer „Raumblindheit“ der Forschenden führt (Löw 2001: 53). An dieser Stelle möchte ich die dargestellte Kritik zusammenfassen. Die jenseits der neuen Raumsoziologie dominierende Raumauffassung verhindert eine Beschäftigung mit räumlichen Phänomenen in der soziologischen Forschung. Das Behälter-Raum-Konzept wird insbesondere in der Stadtsoziologie konkret als Territorialitätsprinzip realisiert: Die Stadt befinde sich im Raum bzw. sei vom Raum umgeben. So wie die Gesellschaft oder ihre Teile sich im Raum befinden, definiert man diesen (stillschweigend) als außerhalb eigener Forschungsinteressen liegend. Dies ist wiederum an die Vorstellung vom ausschließlich materiellen Charakter der Räume gekoppelt. Im Folgenden werde ich auf einige Beiträge eingehen, die einer solchen „Ent-Sozialisierung“ des Raumkonzepts entgegenwirken. Sie
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erlauben, eine Grundlage für die Untersuchung der räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität zu finden. Relationale Raumauffassung Das alternative sozialwissenschaftliche Raumkonzept lässt sich bezogen auf die oben genannten Kritikpunkte darstellen. Den Ausgangspunkt bildet die Abkehr vom Konzept des Behälter-Raums hin zur Vorstellung von einem relationalen Raum, der erst durch das Verhältnis der Objekte definiert werden kann (Läpple 1991a). Michel Foucault stellt fest: „Der Raum, in dem wir leben […] ist selber auch ein heterogener Raum. Anders gesagt: wir leben nicht in einer Leere, innerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann. […] Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.“ (Foucault 1991: 67) Die Heterogenität ist eine unabdingbare Qualität des Raums (Massey 1999). Ein relationales Raumkonzept benutzt auch Pierre Bourdieu, und zwar nicht nur für den sozialen Raum, in dem Menschen als soziale Akteure lokalisiert sind und der als ein Nebeneinander von einander ausschließenden sozialen Positionen entsprechend der Kapitalverteilung strukturiert ist. Auch der physische Raum sei relational strukturiert: „Der soziale Raum weist die Tendenz auf, sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen.“ (Bourdieu 1991a: 30) Dies meint, dass im angeeigneten physischen Raum die soziale Teilung objektiviert wird: „In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und nicht die Hierarchien und sozialen Distanzen zum Ausdruck bringt.“ (ebd.: 26) Der zentrale Mechanismus der Raumstrukturierung ist die Raumaneignung entsprechend dem durch die Kapitalverteilung bestimmten Aneignungsvermögen von Akteuren (ebd.: 30). Die im physischen Raum eingeschriebenen sozialen Unterschiede vermitteln allerdings den Eindruck, „natürlich“ (im doppelten Sinne des Wortes) zu sein. Darin besteht ein spezifischer Gewinn der Realisierung hierarchischer Ordnungsstrukturen in angeeigneten physischen Räumen. Sie werden zu „natürlichen“, da „objektiven“ Strukturen der Wahrnehmung und Beurteilung. Dank dem Naturalisierungseffekt vollzieht sich die symbolische Gewalt hier subtil, da sie nicht als Gewalt wahrgenommen wird
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(ebd.: 27). Bourdieu (1979) analysierte eine solche räumliche Organisation symbolischer Strukturen am Beispiel des traditionellen kabylischen Hauses. Die innere Organisation des Hauses ist an die Geschlechterteilung gebunden, wobei die Kategorie weiblich mit Natur, Dunkelheit, niedriger Position u.Ä., männlich dagegen mit (Tages-)Licht, Höherem, Kultur u.Ä. verbunden ist. Anzumerken ist, dass die in Gegenständen oder Raumbereichen objektivierten Bedeutungen nach Bourdieu erst durch den Rückgriff auf entsprechend organisierte Praktiken (z.B. genderspezifische Arbeitsteilung) expliziert werden können. Bourdieus Überlegungen betonen etwas einseitig die Spiegelung der sozialen Strukturen im angeeigneten Raum (Schroer 2006b). Ich möchte hervorheben, dass Räume und räumliche Strukturen dementsprechend keine bloßen Projektionen sozialer Verhältnisse sind, sondern eine Rolle in der Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung spielen, und zwar sowohl in Bezug auf die spezifischen symbolischen „Naturalisierungsgewinne“ als auch als Einsätze in Auseinandersetzungen um spezifische Raumprofite, etwa die Nähe zu erwünschten Dingen oder Personen (vgl. Bourdieu 1991a: 31). Für meine Fragestellung ist die symbolische Strukturierung der Räume entsprechend der kognitiven Komponente kollektiver Identität, d.h. der symbolischen Sinnwelt der Szene, besonders wichtig. Einen weiteren wichtigen Punkt stellen symbolische Auseinandersetzungen um diese relationalen Strukturen dar, die im Abschnitt zur „Räumlichen Organisation der Prozesse kollektiver Identität“ detailliert diskutiert werden. Sozial produzierter Raum Bourdieus Raumkonzept hat trotz der genannten fruchtbaren Aspekte einen Nachteil: Er benutzt den Begriff der Aneignung des Raums. Dies widerspricht seiner These, der physische Raum existiere nicht „an sich“, sondern sei sozial konstruiert und markiert (Bourdieu 1991a: 28). Denkt man die Idee der relationalen Raumstruktur zu Ende, sollte der Aneignungsgedanke verworfen werden. Der marxistisch geprägte Begriff der Aneignung geht, so Löw (2001), von einem vorgegebenen Charakter des materiellen Raums aus und setzt diesem die soziale Tätigkeit der Aneignung entgegen, führt also die absolutistische Auffassung des Raums als „Natur“ weiter. Eine Alternative zum Begriff der Raumaneignung bietet die Raumproduktion. Der französische Sozialwissenschaftler Henri Lefebvre formulierte die
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folgende Grundannahme: „(Social) space is a (social) product.“ (Lefebvre 1991: 26)6 Die Produktion verläuft nicht nur durch spezifische oder gar gezielte, offensichtlich „raumbezogene“ Handlungen, beispielsweise durch den Kauf eines Grundstücks oder eine Baumaßnahme. Vielmehr bedeutet es, dass soziales Handeln, auch das repetitive Alltagshandeln, unter dem Gesichtspunkt seiner räumlichen Situiertheit, Aspekte und Relevanz zu betrachten ist. Die Produktion ist nicht als momentaner Akt, sondern als ein Prozess zu verstehen (ebd.: 34). Der Raum wird durch soziale Prozesse geschaffen. Im Prozess des Handelns werden in Räumen symbolische Strukturen verkörpert und bekommen dadurch ein anderes Potenzial, Menschen auch auf der körperlichen Ebene zu beeinflussen; der Raum wird in den Bereich der Sinnkonstruktion mit einbezogen. Zusammenfassend ist ein gesellschaftlicher Raum ein gesellschaftlich produzierter Raum und ein in die gesellschaftliche Praxis eingebetteter Raum. Individuelles raumrelevantes Handeln greift auf die kollektiven Verhaltens- und Deutungsmuster zurück und trägt u.a. durch seine räumliche Organisation zu ihrer (Re-)Produktion bei. Der Raum ist nicht als eine außen liegende Determinante oder ein zu negierender Behälter, sondern vielmehr als ein Element der sozialen Welt interessant. Nach Martina Löw (2001: 158f.) müssen zwei Elemente der Raumkonstitution im Handeln analytisch differenziert werden: Spacing und Syntheseleistung. Als Spacing wird das von Akteuren vollzogene Platzieren ihrer selbst, anderen Menschen und sozialen Gütern bezeichnet, beispielsweise der Bau eines Hauses, das Gehen zur Bushaltestelle, das Kleben eines Pla-
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Lefebvre benutzt selbst den Begriff des angeeigneten (appropriated) Raums, und zwar als Gegensatz zum dominierten bzw. dominanten (dominated and dominant) Raum (Lefebvre 1991: 164ff.). Der letztgenannte wird als geschlossen, entleert und abstrakt, als von der Praxis und der Technologie transformiert, als Ergebnis einer Planung begriffen. Dagegen soll der vorkapitalistische angeeignete Raum von Menschen und Gruppen ihren Bedürfnissen angepasst und ortsgebunden gewesen sein. Die durch eine ländliche Gegend gebaute, den Raum wie ein riesiges Messer durchschneidende Autobahn wird von Lefevbre den traditionellen Behausungen (Bauernhäusern, Iglus) entgegengesetzt. Der antikapitalistische Gedanke schlägt hier in eine romantisierende Verklärung der Tradition um. Die Idee der räumlichen Hierarchien kann allerdings durchaus fruchtbar eingesetzt werden, wie ich weiter unten zeige.
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kats an die Wand. Dazu gehört auch das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Menschen und Dingen als solche erkennbar zu machen (z.B. ein Schild an der Ortseinfahrt). Platzieren geschieht notwendigerweise in Relation zu anderen Platzierungen. Unter Syntheseleistung wird das Zusammenfassen und Verknüpfen von Gütern und Menschen zu Räumen, und zwar über Wahrnehmungs-, Vorstellungsoder Erinnerungsprozesse, verstanden. Ein Raum als ein konkretes Ganzes wird aus diversen Elementen synthetisiert. Im Prozess des alltäglichen Handelns verlaufen die beiden Prozesse gleichzeitig. Während ein Mensch z.B. die Straße entlang läuft, bewegt er sich in Relation zu anderen Menschen und zu Gebäuden (Spacing) und gleichzeitig fasst er über Wahrnehmung und vielleicht auch Erinnerung sich selbst, andere Menschen, Gebäude, die Fahrbahn, Bäume etc. zu seiner Straße zusammen. Die Syntheseleistung ist, so Löw (2001: 159), allerdings auch ohne Spacing möglich, z.B. in der Kunst oder im von einem Architekten angefertigten Computermodell. Diese Herangehensweise erlaubt, die Konstruktion multipler und unterschiedlicher Räume an einem Ort zu denken. Das ist notwendig, um sich mit der Konstruktion von gruppenspezifischen, „linksradikalen“ Räumen in der Stadt zu befassen, ohne vom realitätsfremden Bild der „linksradikalen Hochburgen“ als abgekapselte Territorien missgeleitet zu werden. Die Idee der Produktion multipler Räume an einem Ort erfordert die Unterscheidung zwischen den Begriffen Ort und Raum, die im nächsten Abschnitt begründet wird. Orte und Räume Das Verhältnis von Orten und Räumen – von zwei verwandten, jedoch nicht identischen Begrifflichkeiten – soll an dieser Stelle noch geklärt werden. Die Unterscheidung zwischen Orten und Räumen ermöglicht, die beiden Begriffe ergänzend statt synonym zu benutzen, wie es beispielsweise Ipsen tut, indem er Ort als „eine abgrenzbare und damit erfahrbare Einheit des Raums“ versteht (Ipsen 2002: 235). Im Rahmen meines Projekts spielt das relationale Raumkonzept eine zentrale Rolle, Ort ist dagegen eher ein Hilfsbegriff. Ich vertrete folgende Position: Der Begriff Ort spricht etwas Konkretes, Begrenztes, Einmaliges, Territoriales an. Ein Ort ist „ein mit einem Namen bezeichneter (kleiner) Teil der Erdoberfläche“ (Einstein 1980: XIV). Der Raum hingegen ist relational und zielt auf die Verknüp-
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fung von Elementen ab, wobei auch die Eigenschaften seiner Elemente (Menschen und Objekte) zweifellos wichtig sind. Martina Löw (2001: 198ff.), auf deren Raumkonzept ich mich beziehe, unterscheidet zwischen den beiden Begriffen in diesem Sinne. Sie hebt den Aspekt der Singularität eines Ortes hervor, der als ein territorialer Begriff ein entterritorialisiertes, relationales Raumkonzept ergänzen soll. Orte sind Resultate der Raumbildung. Sie entstehen durch Platzierungen, sind mit diesen jedoch nicht identisch, da sie nicht mit dem Objekt verschwinden, sondern über eine gewisse Zeitspanne hinweg auch ohne das Objekt bzw. nur durch die symbolische Wirkung der Platzierung erhalten bleiben. Nachdem bspw. die Ruine des während der Unruhen am 1.5.1987 abgebrannten Supermarkts „Bolle“ in Kreuzberg schon abgerissen worden war, bestand dieser Ort weiterhin und wurde dann neu mit dem Gebäude eines islamischen Kulturzentrums bebaut. Die Orte, an denen platziert werden kann, sind eine Voraussetzung des Spacings (ebd.: 198). Auch die Synthese wird von Menschen, ausgehend von einem bestimmten Ort, durchgeführt (ebd.: 202f.). Am gleichen Ort können verschiedene Räume produziert werden, und – diesen Aspekt möchte ich betonen – Gruppen und Individuen können Auseinandersetzungen um die Konstruktion bestimmter Räume an Orten führen. Wenn z.B. Besucher eines Festes in der Friedrichshainer Rigaer Straße an einem Sommerabend direkt auf der Straße (oder zum Teil auf der Fahrbahn) vor den Veranstaltungsräumen eines Hausprojekts sitzen und stehen, konstruieren sie an diesem Ort ihren Raum, indem sie die räumliche Anordnung einer Party auf die Straße ausdehnen. Die Anwohner der anliegenden Häuser sind in den Prozess der Konstitution dieses Raums nicht eingeschlossen und wünschen sich vermutlich eine andere Nutzung dieses Ortes zur späten Stunde. Das kann wiederum dazu führen, dass sie sich in die Raumproduktion durch das Einschalten der Polizei einmischen. Die Konflikte mit der Polizei, einschließlich einer Räumung der Straße durch die Beamten, können sich auch verfestigen und die Grenzen einer einmaligen Angelegenheit überschreiten.7 Mit Orten, vor allem mit stabilen Orten, können Symbole, kognitive Figuren und Emotionen verbunden werden. So werden sie in die Prozesse der Identitätsproduktion eingegliedert (wobei, wie schon oben angemerkt, nicht
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Vgl. „Vorfälle auf dem Dorfplatz – Chronik“, http://liebig14.blogsport.de/2010/ 08/02/vorfaelle-auf-dem-dorfplatz-chronik, Stand: 2.12.2010.
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sie selbst die Bedeutungen erzeugen oder tragen). Orte sind als einmalige, materielle und zugleich symbolische Lokalisierungen zu verstehen. Menschen können mit denselben Lokalisierungen verschiedene, gruppenspezifische Bedeutungen und Gefühle – senses of place – verbinden (Rose 1995: 97). Die relationalen Räume werden an Orten produziert. Michel de Certeau (1988) unterscheidet zwischen „Raum“ (espace) und „Ort“ (lieu): Ein Ort ist „eine momentane Konstellation von festen Punkten“ (ebd.: 218), ein statisches Gebilde. Jedes dieser Elemente befindet sich in einem eigenen und abgetrennten Bereich, den es definiert (vgl. das Entstehen der Orte durch Platzierungen bei Löw 2001). Der Raum ist dagegen ein „Ort, mit dem man etwas macht“, ein Geflecht beweglicher Elemente (de Certeau 1988: 218). An diesem Konzept ist für mich weniger der relationale Charakter der Orte interessant (das würde die Differenz zum oben festgelegten Raumbegriff verwischen), sondern der handlungsorientierte Charakter der Räume. So wird die geometrisch festgelegte Straße beispielsweise durch die Fußgänger in einen Raum verwandelt. Ein Beispiel aus meiner Feldforschung: Obwohl die Friedrichshainer Kneipe „Stube“ mittags nicht für Besucher geöffnet hatte, war dieser Ort als einmalige Konfiguration bestimmter Elemente (Tür, Tresen, Küche, politische Plakate an den Wänden, Flyer auf dem Tresen, Alkohol- und Limonadenflaschen im Regal etc.) da, aber nicht der Raum einer LinkeSzene-Kneipe.8 Die Erschaffung von Räumen an Orten passiert durch und im Handeln, meist im Alltagshandeln und bei einem konkreten sozialen Geschehen.9 Nicht nur die materielle, sondern auch eine symbolische Komponente kann präsent sein, beispielsweise in der Erinnerung. Aber der Raum der Szenekneipe wird erst von Menschen und in Interaktionen erschaffen. Die den Raumelementen zugeschriebenen Bedeutungen werden erst in mit ihnen verbundenen Praktiken wirksam, d.h. wenn die Menschen sich auf diese Bedeutungen tatsächlich beziehen (Bourdieu 1979). In dem oben genannten Beispiel wird der Ort „Stube“ erst zu einer „linken Kneipe“, wenn die hinter dem Tresen stehenden Mitglieder des Betreiberinnenkollektivs und die davor stehenden Besucherinnen auf eine institutionalisierte
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Hier und weiter wird eine Kneipe der „linken Szene“ als eine „Linke-SzeneKneipe“ bezeichnet.
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Der Begriff des sozialen Geschehens wird im Abschnitt „Die Kontextualität des Handelns“ eingeführt.
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Art und Weise interagieren, wenn eine besondere Verknüpfung der Anwesenden mit den materiellen Elementen erschaffen wird. Das Sinnbild des Ortes kann diese Konstitution unterstützen. Die Unterscheidung zwischen Orten und Räumen sollte nicht dahingehend interpretiert werden, dass das Raumkonzept auf das Abstrakte hinausläuft, während ein Ort konkret sei. In der konkreten Kneipe, an einem konkreten Abend werden räumliche Strukturen einer Linke-Szene-Kneipe bzw. linken Kneipe realisiert und zugleich reproduziert. Gleichwohl kann auch die „Stube“ als ein konkreter institutionalisierter Raum untersucht werden – was an die Idee der räumlichen Strukturierung heranführt, die weiter unter präzisiert wird. Gesellschaftlicher Raum Die Vorstellung vom gesellschaftlichen Raum10 bezieht sich auf die Verhältnisse zwischen sozialen Prozessen und dem physikalischen Raum, wobei der letztere von sozial produzierten Relationen gestaltet wird. „Der Raum“ meint damit in erster Linie soziale Prozesse der Raumproduktion und ihre mehr oder weniger provisorischen Ergebnisse in unterschiedlichen Aspekten. Diese machen es möglich, dass wir analog dazu auch analytisch unterschiedliche „Subräume“ definieren können. Die unterschiedlichen Aspekte sollen im Folgenden in Anlehnung an einige Beiträge der deutschsprachigen Soziologie benannt werden. Sowohl Läpple (1991a, 1991b) als auch Peter Atteslander und Bernd Hamm (1974; vgl. Hamm 1982) gehen bei ihren Auseinandersetzungen mit dem Raumbegriff von Verhältnissen zwischen der Gesellschaft und dem Raum aus. Dieter Läpple (1991a: 41) bezieht sich auf den französischen Marxismus und stellt die aus den jeweiligen historischen gesellschaftlichen Verhältnissen resultierenden raumstrukturierenden Tendenzen in den Mittelpunkt. Er bezeichnet diese als Matrix-Raum.
10 Ich benutze hier diesen Begriff (siehe Läpple 1991a), um Verwechslungen mit dem „sozialen Raum“ von Bourdieu (der Raum der Relationen zwischen den sozialen Positionen, Bourdieu 1999) zu vermeiden.
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Der Matrix-Raum hat folgende Struktur (ebd.: 42f.): Das materiell-physische Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse Es ist die materielle Erscheinungsform des gesellschaftlichen Raums. Dazu gehören menschliche Artefakte, materielle Nutzungsstrukturen der Natur sowie Menschen in ihrer körperlich-leiblichen Materialität. Die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsmuster bzw. die gesellschaftliche Praxis der das Raumsubstrat produzierenden, aneignenden und nutzenden Menschen Diese Praxis wird durch Sozialstruktur, Machtverhältnisse, lokale Identitäten u.Ä. geprägt. Das institutionalisierte und normative Regulationssystem Es vermittelt zwischen dem materiellen Substrat und der gesellschaftlichen Praxis seiner Produktion. Dazu gehören Eigentumsformen, Machtbeziehungen, Rechtsnormen, Planungsrichtlinien und soziale Normen, die den Umgang mit dem materiell-physischen Substrat kodifizieren. Das mit dem materiellen Substrat verbundene räumliche Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem Die raumstrukturierenden Artefakte sind auch Symbolträger. Sie können gedeutet werden, d.h. im Prozess der Raumaneignung bekommen sie einen für Individuen subjektiv erfahrbaren und sozial konstruierten Sinn. Sie repräsentieren ihre eigenen „Gebrauchsanweisungen“ und strukturieren damit das räumliche Verhalten der Akteure.
Die vier analytisch differenzierten Elemente werden miteinander in Beziehung gesetzt und bilden den Herstellungs-, Verwendungs- und Aneignungszusammenhang des materiellen Substrats. Dieser Zusammenhang wird bei Läpple als gesellschaftlicher Raum verstanden, der seinen gesellschaftlichen Charakter erst im Kontext der Praxis sozialer Akteure, „die in ihm leben, ihn nutzen und ihn reproduzieren“, entfaltet (ebd.: 43). Der wichtigste Kritikpunkt ist, dass die genuin sozialräumlichen Effekte auf die sozialen Prozesse – jenseits der Reproduktion der gesellschaftlichen Räume selbst – in diesem Konzept ungenügend konzeptualisiert werden. Eine ganz ähnliche Differenzierung von grundlegenden Raumdimensionen ist in einer früheren Publikation zu finden. Peter Atteslander und Bernd Hamm (1974; vgl. Hamm 1982) bieten einen sozialökologisch geprägten Ansatz und konzipieren die Verhältnisse zwischen dem Raum und
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der Gesellschaft als ein Raum-Verhalten-System (Atteslander/Hamm 1974: 26ff.). Die charakteristische Eigenschaft dieses Systems ist die Raumaneignung, welche konkret durch folgende Subsysteme realisiert wird: 1. Das morphologische Subsystem Es bezieht sich auf das materielle Substrat einer Gesellschaft (vgl. die oben erwähnte Sozialmorphologie von Durkheim 1984); damit befasst sich in erster Linie die Sozialökologie. Die physische Umwelt umfasst auch die Leiblichkeit der Menschen (Hamm 1982: 27). 2. Das institutionelle Subsystem Dessen Elemente sind soziale Institutionen im Sinne der Interaktionstheorie: akzeptierte Verhaltensmuster, Entscheidungsstrukturen, soziale Normen, die soziale Kontrolle etc. Der ganze Bereich der sozialwissenschaftlichen Theorie ist hier relevant, und zwar unter der Perspektive des Raumbezuges (Atteslander/Hamm 1974: 29). 3. Das semiotische Subsystem Es wird von Zeichenkonfigurationen bzw. wahrnehmbaren Bedeutungseinheiten gebildet, die kognitiv erfasst werden und Verhalten in sozialen Situationen mit prägen (Atteslander/Hamm 1974: 29f.). Es geht um die sich im Raum-Verhalten-System abspielenden kognitiven Prozesse. Den Raumelementen wird eine Bedeutung zugeschrieben, die von Menschen wahrgenommen und von der ihr Verhalten beeinflusst wird. Die drei Elemente des Raum-Verhalten-Systems – materielles Substrat, Institutionen und Zeichenkonfigurationen – stehen „in einem nur analytisch trennbaren Abhängigkeitsverhältnis zueinander“ (Hamm 1982: 28). Die beiden aufgeführten Strukturen nach Läpple und Atteslander/ Hamm sind in ihren Elementen fast gleich: materielles Substrat, gesellschaftliche Praxis bzw. Institutionen, symbolische Systeme. Läpple differenziert das Regulationssystem allerdings als eine eigenständige Dimension aus. Er geht zudem nicht länger vom sich passiv verhaltenden Menschen aus: „[S]eine Schlüsselkategorie ist die Handlungskompetenz der Menschen“ (Löw 2001: 56). In den Mittelpunkt des soziologischen Interesses wird von den genannten Autoren nicht der materiell-physische Raum, sondern die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Räumlichen und dem sozialen Handeln gestellt, wobei diese Beziehungen selbst einen genuin sozialen Charakter haben. Die Frage, inwieweit und auf welche Art und
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Weise die sozialen Systeme durch diese Beziehungen beeinflusst werden, kann als die Frage nach deren Raumbezogenheit formuliert werden: „Nicht eine Siedlungseinheit ist Erkenntnisobjekt wie in der Gemeindesoziologie, sondern die Raumbezogenheit der Gesellschaft“ (Atteslander/Hamm 1974: 16). Ursprünglich habe ich auf den Begriff des Raumbezugs zurückgegriffen, inzwischen benutze ich den am Ende dieses Kapitels eingeführten Ausdruck räumliche Organisation. Damit möchte ich mich vom Begriff der Raumaneignung und der entsprechenden Auffassung des Sozialen und des Räumlichen als getrennte Realitäten distanzieren. Die Differenzierung verschiedener Aspekte der Räume und ihrer Produktion (materiell-physischer, praktisch-institutioneller und symbolischer) ergänzt das relationale und soziale Raumkonzept. Fazit Das gesellschaftszentrierte Raumkonzept wurde in der Soziologie in Auseinandersetzung mit den für lange Zeit vorherrschenden Behälter-RaumVorstellungen entwickelt, und seine Präsentation in diesem Buch folgte derselben Logik. Hierfür bezog ich mich auf die Arbeiten von Dieter Läpple, Martina Löw und anderen. Die wesentlichen Dimensionen dieses Konzepts sind: Die Räume haben einen relationalen, keinen absoluten Charakter. Es sind relationale Anordnungen von Lebewesen und Gütern, die in der gesellschaftlichen Praxis, u.a. im Alltagshandeln, produziert werden. Als Aspekte dieses Prozesses werden Spacing und Synthese differenziert. In Räumen bzw. bei ihrer Produktion können außerdem analytisch materiellphysische, praktisch-institutionelle und symbolische Komponenten unterschieden werden. Ich gehe davon aus, dass gerade die letzte Unterteilung nützlich zur Untersuchung der Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene ist. Die Konstruktion kollektiver Identität, die zunächst als Prozess auf der symbolischen Ebene zu verstehen ist, kann als Prozess der Konstitution von Räumen interpretiert werden, für die ein spezifisches Zusammenspiel der symbolischen, interaktionellen und materiellen Faktoren charakteristisch ist. Aber auch die Konstitution der Räume kann ein Feld sein, in dem das „Wir“ einer Gruppe in Interaktionen produziert und aufrechterhalten wird. Diese Annahme entwickle ich am Schluss des Kapitels weiter.
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Das dargestellte gesellschaftszentrierte Raumkonzept, mit dessen Hilfe die Verbindung zwischen der kollektiven Identität in der linken Szene und den Räumen gedacht werden kann, bedarf noch einiger Ergänzungen. Wie am Anfang der Arbeit argumentiert, geschieht die Konstruktion der Wir-Identität primär im Alltagsleben der Akteure. Aus diesem Grund ist die Bedeutung des Alltagshandelns auch für die räumlichen Phänomene in der Identitätskonstruktion so groß. Dementsprechend wird an dieser Stelle die Idee des Raumbezugs des Handelns verdeutlicht und konkretisiert. Nach dem gesellschaftszentrierten Raumkonzept werden die räumlichen Anordnungen in ihren symbolischen, materiellen und interaktiven Aspekten von Menschen produziert, und zwar auch im Alltagshandeln. Dies steht nicht im Widerspruch zur Frage des Raumbezugs des Handelns, da ich mich auf den Strukturierungsansatz beziehe, um das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Alltagshandeln und den Räumen (die dabei nicht wie zwei getrennte Realitäten einander entgegengesetzt werden sollen) zu konzeptualisieren. Auch der Gedanke eines Prozesses kollektiver Identität steht, wie schon im ersten Kapitel festgestellt, der Grundidee des Strukturierungsansatzes von Anthony Giddens nahe, „die Konstruktion des gesellschaftlichen Lebens als Produktion durch aktive Subjekte zu begreifen“ (Giddens 1984b: 146). Nach dem Konzept der Dualität von Struktur sind die Strukturmomente sozialer Systeme „sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren“ (Giddens 1997: 77). Die linke Szene kann unter Verwendung des Strukturierungsansatzes untersucht werden, denn nach Giddens kann „jedes Interaktionssystem, von einer zufälligen Begegnung bis zu einer komplexen gesellschaftlichen Organisation, strukturell analysiert werden“ (Giddens 1984b: 144). Die geteilte Definition der Wir-Gruppe kann dabei als Element der Strukturen der linken Szene betrachtet werden. Da demnach vieles für die Verwendung des Strukturierungsgedankens auch für die Räume im Kontext des Handelns spricht, werde ich diesen Ansatz in Giddens’ Variante kritisch präsentieren. Der Schwerpunkt wird auf die räumlichen Begriffe gelegt, denen Giddens große Aufmerksamkeit schenkt.
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Räumliche Konzepte bei Giddens Giddens (1979, 1995a, 1997) betrachtet Raum- und Zeitproblematik in einem Zusammenhang. Diese Problematik gehört nach Giddens (1997: 161) nicht zu einem spezifischen Teilgebiet der Sozialwissenschaft, sondern zum Kernbereich der Sozialtheorien, auch wenn sie lange Zeit vernachlässigt worden sei. Die zentrale Dimension des Problems der Ordnung sieht er in der Frage, wie soziale Systeme weite Spannen von Raum und Zeit überbrücken, mit anderen Worten, sich über Raum und Zeit hinweg zu erstrecken vermögen (1997: 40, 161; vgl. 1995a: 24).11 Mit dieser Fragestellung sind schon zwei Ebenen genannt, auf denen räumliche Phänomene bei Giddens eine Rolle spielen: Bei der ersten geht es um das konkrete Hier-und-Jetzt einer Interaktion. Das Handeln ist jeweils raum-zeitlich situiert, es findet an einem konkreten Ort und zu einem konkreten Zeitpunkt statt. Geht man von dieser Prämisse aus, wird man zwangsläufig – auf der zweiten Ebene – vor die Frage gestellt, wie die sozialen Beziehungen die Grenzen des Konkreten bzw. der konkreten Interaktion (in Bezug auf Zeit) überdauern und (in Bezug auf Raum) überschreiten. Die Frage der Reproduzierbarkeit und des Bestands des sozialen Lebens erhält so notwendigerweise einen raum-zeitlichen Aspekt. Primär auf der ersten Ebene sind u.a. die Begriffe Schauplatz12 (locale), Regionalisierung (regionalization) und Anwesenheits-Verfügbarkeit (presence-availability) anzusiedeln, auf der zweiten die der Raum-Zeit-Ausdehnung13 (time-space distanciation) und der Machtbehälter (power containers). Statt einer detaillierten Auflistung aller Raum und Zeit betreffenden
11 Mit dieser Formulierung grenzt er sich von der Auffassung des Problems der Ordnung bei Parsons ab (vgl. Giddens 1997: 88). 12 Die Übersetzung von locale als „Ort“ in der deutschen Ausgabe der „Konstitution der Gesellschaft“ (Giddens 1997) ist m.E. nicht ganz adäquat. Giddens führt ihn nämlich in Abgrenzung zum Begriff place („Ort“, in Giddens 1997 als „Platz“ übersetzt) ein, um die Idee der Kontextualität des Handelns zu betonen (Werlen 1997: 168). Ich greife auf die u.a. von Werlen benutzte Variante „Schauplatz“ zurück. 13 Diese Übersetzungsvariante ist dem Werk „Die Konstitution der Gesellschaft“ (Giddens 1997) entliehen; in „Konsequenzen der Moderne“ (Giddens 1995a) ist teilweise von der „raumzeitlichen Abstandsvergrößerung“ die Rede.
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Konzepte bei Giddens zu geben (eine solche Übersicht ist – mit Ausnahme der Begriffe der Entbettung und der Rückbettung14 aus „Кonsequenzen der Moderne“ – bei Urry 1991 zu finden), möchte ich mich auf das Verhältnis zwischen dem Handeln und den Räumen bzw. den sozialen Systemen und den Räumen konzentrieren. Dafür müssen zuerst zentrale Konzepte des Strukturierungsansatzes vorgestellt werden. Unter einem sozialen System versteht Giddens ein Geflecht von in Interaktionen (re-)produzierten Beziehungen zwischen Menschen, die als regelmäßige soziale Praktiken organisiert werden (Giddens 1997). Zu diesen Systemen gehören beispielsweise soziale Kollektive. Die Reproduzierbarkeit und die (nicht-mechanisch verstandene) Stabilität der Systeme gehen auf Strukturen zurück. Die Systeme weisen Strukturmomente, also institutionalisierte Aspekte, auf. Diese sind sowohl ein Medium als auch ein Resultat der Praxis. Laut dem Prinzip der Dualität von Struktur sollen das Handeln und die Strukturmomente nicht als einander entgegengesetzt, sondern als in einem kontinuierlichen Prozess erschaffen, reproduziert und transformiert gedacht werden. Das Konzept der Struktur im engeren Sinne bezieht sich auf Regeln und Ressourcen, die rekursiv in Institutionen eingelagert sind. Die Dualität von Struktur bedeutet, dass „die Regeln und Ressourcen, die in die Produktion und Reproduktion sozialen Handelns einbezogen sind, gleichzeitig die Mittel der Systemreproduktion darstellen“ (ebd.: 70). Kraft der Dualität von Struktur findet die Strukturierung, d.h. das Strukturieren sozialer Beziehungen über Raum und Zeit hinweg, statt (ebd.: 432).15 Dieses „über Raum und Zeit hinweg“ weist auf die Stellung des Raums in Giddens’ Ansatz hin. Raum ist nicht auf der strukturellen Ebene angesiedelt, sondern wird diesem gegenübergestellt: „Struktur als rekursiv organisierte Menge von Regeln und Ressourcen ist außerhalb von Raum und Zeit, außer in ihren Realisierungen und ihrer Koordination als Erinnerungsspuren, und ist durch eine ‚Abwesenheit des Subjekts‘ charakterisiert“ (Giddens 1997: 77). Diese Aussage hat nach Meinung von Löw (2001: 37) nur dann Sinn, wenn Raum als ein konkreter Ort interpretiert wird. Zudem
14 Die Begriffe Entbettung/Rückbettung beziehen sich auf das Zusammenspiel der beiden oben genannten Ebenen. 15 „The structuring of social relations across time and space, in virtue of the duality of structure.“ (Giddens 1984a: 376)
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sehe ich hier die Gleichsetzung von Zeit mit einer begrenzten Zeitspanne. Diese Beobachtung stimmt mit der Interpretation des Problems der Ordnung bei Giddens überein. Außerdem gleichen Raum und Zeit im oben angeführten Zitat den äußeren, objektivistischen Dimensionen, anhand derer die Kontinuität und die raum-zeitliche Ausdehnung der Gesellschaften gemessen werden kann (vgl. Giddens 1997: 316). Gegen diese Interpretation scheint die Aussage zu sprechen, dass die „Organisation von Raum und Zeit, wie diese für soziales Handeln relevant werden (raum-zeitliche Konstitution von Wegen und Regionen)“ (ebd.), einen Teil von autoritativen Ressourcen ausmacht – d.h. von nicht-materiellen Ressourcen, die sich aus der Herrschaft von Akteuren über andere Akteure ergeben. Es bleibt in Giddens’ Ausführungen zu Ressourcen jedoch leider ungeklärt, wie die Kontrolle über Raum und Zeit genau funktioniert und wie diese Ressource nicht nur konkret das Handeln strukturiert, sondern wie sie selbst im Handeln strukturiert wird. Auch an anderen Stellen betrachtet Giddens, wenn es beispielsweise um den „Machtbehälter“ Schule geht, vor allem die strukturierende Wirkung der Organisation von Wegen und Regionen. Dadurch scheint die raum-zeitliche Organisation dem Handeln bzw. dem Handelnden eher aufgesetzt zu sein: „Zeit und Raum werden als essentielle Elemente des Handlungskontextes gesehen, aber als solche lenken oder strukturieren sie die Handlungen von außen.“ (Urry 1991: 160, Übersetzung T.G.) Die programmatische Dualität der Struktur wird von Giddens in Bezug auf den Raum nicht realisiert, es handelt sich vielmehr um einen Dualismus. Dieses Problem kann m.E. erst gelöst werden, wenn die räumlichen Strukturen als eine Form gesellschaftlicher Strukturen und in Verbindung mit dem Handeln, genauer: als durch das Handeln produziert, konzeptualisiert werden. Handeln und Regionalisierung Es wurde aufgezeigt, dass der eigentliche Clou des Strukturierungsansatzes, die Idee der Dualität der Struktur und des Handelns, von Giddens nicht auf den Raum angewandt wird. Er beschäftigt sich hingegen ausführlich mit der raum-zeitlichen Kontextualität des Handelns. Da dieses Thema für die Untersuchung der im Alltag ablaufenden Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene von besonderem Interesse ist, stelle ich diese Ausführungen im Folgenden dar. Das Handeln wird bei Giddens als notwendig räum-
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lich und zeitlich situiert gesehen, was auf die Körperlichkeit menschlicher Akteure zurückzuführen ist. Genauer: Das Handeln passiert im konkreten Raum und in der konkreten Zeit. Um diese Kontextualität des Handelns zu erfassen, bezieht sich Giddens auf die Zeitgeografie von Thorsten Hägerstrand (u.a. 1970) und ergänzt sie mit einigen weiteren Begriffen wie „Schauplatz“ oder „Regionalisierung“. Hägerstrands Zeitgeografie geht von einem routinisierten Charakter des Alltagslebens und der Körperlichkeit menschlicher Akteure aus – beides Punkte, die hervorragend zu Giddens’ Ansatz passen. Dieser pragmatische Aspekt erklärt möglicherweise, warum Giddens lediglich Hägerstrands Zeitgeografie rezipiert, während er andere potenziell interessante geografische Diskussionen in seinen Werken, wie Urry (1991) und Löw (2001) feststellten, nicht beachtet. Hägerstrand fokussiert sich darauf, wie das Handeln durch die physischen Eigenschaften des Körpers und des Kontextes eingeschränkt wird. Zu diesen Zwängen gehören z.B. die Unteilbarkeit und der physische Charakter des menschlichen Körpers sowie die Tatsache, dass die Bewegung in der Zeit ebenfalls eine Bewegung im Raum ist (nach Giddens 1997: 162f.). Diese Faktoren beeinflussen die Interaktionsgefüge, die von Individuen auf ihren täglichen, wöchentlichen, monatlichen und lebenslangen Wegen erschaffen werden. Individuen bewegen sich durch den Zeit-Raum, treffen einander an „Stationen“ und bilden dabei „Aktivitätsbündel“. Die Wege und die intentionale Tätigkeit der Menschen zur Ausführung von „Entwürfen“ (projects) unterliegen Zwängen, die aus den oben genannten zeitgeografischen Faktoren resultieren. Giddens kritisiert bei Hägerstrand ein naives Konzept des Akteurs, den gegebenen Charakter von „Stationen“ bzw. „Regionen“, die einseitige Fokussierung auf den Aspekt des Zwangs (was die Eröffnung von Möglichkeiten durch Strukturen ausblendet) und schließlich eine nur rudimentäre Machttheorie (ebd.: 168f.). Die Idee der Bewegung von Lebenswegen durch die institutionalisierten Bezugsrahmen von Interaktionen, die verschiedene Formen räumlicher Abgrenzung aufweisen, ist für sein eigenes Konzept der Regionalisierung dennoch zentral (vgl. ebd.: 167). Um Hägerstrands Konzept für die Theorie der Strukturierung nutzen zu können, ersetzt Giddens den Begriff „Ort“ (place) durch den Begriff „Schauplatz“ (locale). Statt der materiellen Beschaffenheit soll die Nutzung, die Rolle der Raumbereiche als Kontexte des Handelns in den Vordergrund gerückt werden: An Schauplätzen wird der Raum als Bezugsrahmen der Interaktion
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verfügbar gemacht, während dieser Bezugsrahmen für die Spezifizierung der Kontextualität des Raums verantwortlich ist (ebd.: 170). Die Idee der Kontextualität der Interaktion, bei deren Ausarbeitung Giddens sich auf das Werk von Goffman stützt, ist für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Raum und Handeln sehr wichtig. Der Kontext („jene Raum-Zeit-‚Segmente‘ oder Raum-Zeit-‚Ausschnitte‘, in denen Zusammenkünfte stattfinden“, Giddens 1997: 123) stellt nicht nur eine physische Umwelt dar, in der sich die Interaktion abspielt. Die Handelnden stützen sich bei der Konstitution von Kommunikation auf Aspekte des Kontextes; sie „inkorporieren routinemäßig räumliche und zeitliche Eigenschaften von Begegnungen in Prozessen der Sinnkonstitution“ (ebd.: 82; vgl. Giddens 1979: 207). Das bedeutet, dass die Kontextualität, u.a. auch die räumlichen Elemente des Kontextes,16 für die reflexive Steuerung des Verhaltens und für die soziale Reproduktion im besonderen Maße konstitutiv ist. Trotzdem bleibt leider unerforscht, wie diese Kontexte nicht nur mobilisiert, sondern auch im Handeln erschaffen und institutionalisiert werden (vgl. Urry 1991: 172). Die Schauplätze (die es in verschiedensten Größenordnungen gibt, von einem Zimmer bis hin zu den von Nationalstaaten beanspruchten Territorien) sind, so Giddens, regionalisiert. Der Begriff der Regionalisierung bezieht sich auf die Aufteilung von Raum und Zeit in Zonen im Verhältnis zu bestimmten, routinisierten Praktiken (Giddens 1997: 171). So sind beispielsweise Zimmer in einem Einfamilienhaus sowohl im Raum als auch in der Zeit in Zonen unterteilt, wenn etwa die Zimmer im Erdgeschoss meist zu Tagesstunden genutzt werden.17 Die Regionalisierungen unterscheiden sich nach der Form der Grenzen (die mit symbolischen oder physischen
16 Der Kontext umfasst: a) Raum-Zeit-Grenzen von Interaktionssequenzen, üblicherweise mit symbolischen oder physikalischen Markierungen; b) die Kopräsenz von Akteuren, die die Wahrnehmbarkeit von sprachlichen und anderen Kommunikationsmitteln erlaubt; c) die Beachtung und den reflexiven Gebrauch dieser Phänomene, um den Interaktionsstrom zu beeinflussen oder zu kontrollieren (Giddens 1997: 336). Demnach gehört eine Vielzahl von Elementen zum Kontext, die mit der raum-zeitlichen Anwesenheit der Akteure verbunden sind. 17 Interessanterweise spezifiziert Giddens diese Unterteilung nicht in Bezug auf soziale Milieus, deren Vertreter sich ein Einfamilienhaus leisten können oder würden (Giddens 1997: 171ff.).
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Markierungen versehen sind), dem Charakter, der Dauer und der Spannweite, und sie variieren in verschiedenen Gesellschaften. Wichtig ist, dass es sich um eine Regionalisierung von Schauplätzen handelt: „Soziologisch relevant wird Raum für Giddens als gesellschaftliche Regionalisierung konkreter Orte.“ (Löw 2001: 42) Ein Aspekt des Charakters der Regionalisierung bildet das Ausmaß der Anwesenheits-Verfügbarkeit in einer Kultur (presence-availability), d.h. in welchem Ausmaß und auf welche Weise Akteure „zusammenkommen“ können (Giddens 1997: 175). „Regionen definieren sich über die Möglichkeit des sozialen Beisammenseins.“ (Löw 2001: 41) Die interne Regionalisierung eines Einfamilienhauses, seine Aufteilung in isolierte Zimmer und diese verbindende „Pufferzonen“ aus Korridoren, erlaubt beispielsweise, dass parallele Interaktionen einander nicht stören.18 So wird das Beisammensein nicht nur ermöglicht, sondern auch Verfügbarkeitsbeschränkungen unterworfen (vgl. Giddens 1979: 207). Die Privatheit wird durch diese Regionalisierung gefördert. Der dominante Modus der Regionalisierung änderte sich in der Moderne dank der Konvergenz von Raum und Zeit und aufgrund der Trennung der Kommunikationsmittel von denen des Transports, was die Möglichkeiten zur Interaktion zwischen räumlich „nichtanwesenden“ Personen begünstigt.19 Am nächsten kommt Giddens der Idee des Raum-Erschaffens im Handeln in seinen Überlegungen zu vorder- und rückseitigen Regionen, da er die Dialektik des Verbergens und der Zurschaustellung als eine Leistung der Subjekte konzipiert. Die Akteure verwenden sie für die Organisation der Handlungskontextualität und für die Aufrechterhaltung der Seinsgewissheit (Giddens 1997: 177). Giddens bezieht sich dabei auf Goffman
18 In Anlehnung an Goffman kann hinzugefügt werden, dass diese Regionalisierung den Teilnehmerinnen der jeweiligen Interaktionen vor allem erlauben kann, die Anderen und ihre Interaktionen im eigenen Handeln zu ignorieren und auf diese Weise ihre eigene Seinsgewissheit aufrecht zu erhalten – auch dann, wenn z.B. Geräusche durch die dünnen Wände dringen und peinliche Situationen drohen. 19 Diese Phänomene hängen mit der Erweiterung der raum-zeitlichen Ausdehnung sozialer Systeme zusammen. Die Idee der Transformation der räumlichen Verhältnisse als Element der Moderne vertieft Giddens in „Konsequenzen der Moderne“ (1995a).
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(1959), betont jedoch in Abgrenzung zu diesem, dass die Unterscheidung zwischen vorder- und rückseitigen Regionen nicht mit der zwischen Verbergen und Zurschaustellen zusammen fällt. Vielmehr handelt es sich Giddens zufolge um zwei Achsen der Regionalisierung, die ihre Wirkung in einem komplexen Zusammenspiel zwischen Deutung, Normen und Macht entfaltet. Die Gewissheit in der Interaktion könnte demnach nicht hergestellt werden, wenn die Vorderregionen nur Fassade wären.20 Rückseitige Regionen bilden ihrerseits häufig eine Ressource der Distanzierung von „offiziellen“ Deutungsmustern und einer gewissen Wiedererlangung der Autonomie für Handelnde. Durch die Lockerung der Verhaltensnormen (z.B. das Erlauben von Körpergeräuschen) tragen manche dieser Regionen auch zu einem spezifischen Gewinn an Vertrautheit und Seinsgewissheit bei. Die Regionalisierung kann, so Giddens, auch über weite Raum-ZeitSpannen beobachtet werden. So finden sich unter städtischen Gebieten sowohl Vorzeigeregionen als auch „Schandmale“: Armengegenden, Industriegebiete u.Ä. Auch wenn Giddens auf den Wandel des Stadtzentrums von der ersten in die zweite Kategorie hinweist (inzwischen kann man in vielen Fällen „und zurück zum Vorzeigegebiet“ hinzufügen), ist seine Darstellung hier weniger überzeugend als für die Situationen der Kopräsenz. Die Position von Giddens zu Handeln und Raum lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Handeln als routinisierte Praktiken findet in jeweils spezifischen räumlichen (raum-zeitlichen) Kontexten statt. Die Aufteilung von Raum und Zeit in diese Kontexte wird mit dem Begriff der Regionalisierung angesprochen. Dass die Regionalisierung die Leistung der Akteure ist, analysiert Giddens dennoch nur sehr eingeschränkt. Der Raum wird als genutzt und aufgeteilt, aber auf irgendeine Weise vom Akteur vorgefunden und nicht im Handeln produziert dargestellt. Diese Auffassung steht zunächst im Widerspruch zum gesellschaftszentrierten Raumkonzept; sie kann jedoch mit seiner Hilfe, wie im Abschnitt zur „Kontextualität des Handelns“ gezeigt wird, modifiziert werden.
20 Giddens scheint hier von einer vereinfachten Interpretation von Goffman auszugehen.
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„Machtbehälter“ versus relationaler Raum Im letzten Abschnitt wurde deutlich, dass Giddens das Handeln als raumzeitlich situiert versteht. Regionalisierung bedeutet eine Aufteilung von Raum-Zeit im Verhältnis zu routinisierten Praktiken. Allerdings verhält es sich in Giddens’ Ausführungen eher umgekehrt: Die Praktiken teilen den Raum nicht auf, sondern finden in bestimmten Regionen des Raums statt. Auch wenn Giddens die Organisation des Raums und der Zeit als gesellschaftlich und kulturell veränderbar ansieht, ist ihm zufolge die Regionalisierung dem Handelnden vorgegeben. Das impliziert, dass der Raum bezogen auf das Handeln in erster Linie „vor-regionalisiert“ erscheint. Die Schauplätze werden als existierende Kontexte, nicht jedoch als Produkte des Handelns gesehen. Aushandlungs- und Konfliktprozesse um die Räume können auf diese Weise nicht konzipiert werden. Diese Konflikte haben auch mit emotionalen Aspekten des Handelns zu tun – die Menschen fühlen sich manchen Räumen sehr verbunden und sind bereit, sie nicht bloß im Alltag mehr oder weniger gezielt auszuhandeln, sondern setzen sich für sie immer wieder auch explizit politisch ein. Gerade die linke Szene liefert viele Beispiele hierfür, wie ich im empirischen Teil zeigen werde. Die subjektiv-emotionalen Bedeutungen räumlicher Formen gehen darauf zurück, dass die letztgenannten für den Beobachter eine Fülle von Deutungen haben (Urry 1991: 173). Auch die Prozesse kollektiver Identität in der Szene verlaufen nicht alleine auf der kognitiven Ebene, das Framing hat vielmehr eine emotionale Komponente. Mit Giddens ist es nicht möglich, die Auseinandersetzungen von verschiedenen Gruppen und Individuen um die Konstitution ihrer jeweiligen Räume auf dem gleichen Grund und Boden zu denken. Das trifft auch insgesamt für die parallele Existenz von multiplen Räumen zu, die (in ihrem materiellen Aspekt) gleiche Objekte einschließen (vgl. Löw 2001: 43, 231).21 Markus Schroer (2006a: 130) vertritt eine andere Position. Bei der
21 Im Rahmen der Ausführungen zum multiplen Charakter der Positionierungen menschlicher Akteure in sozialen Beziehungen ordnet Giddens (1997: 38, 138ff.) diese Multiplizität in drei Ebenen von Zeitlichkeit. Diese erachtet er als zentral für die Strukturierungstheorie: 1) die Positionierung von Akteuren in Situationen der Kopräsenz; 2) die Positionierung in Regionen der täglichen RaumZeit-Wege (durée der Alltagserfahrung), die sich für jedes Individuum auch als
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von ihm besprochenen Stelle aus der „Konstitution der Gesellschaft“ (Giddens 1997: 124) handelt es sich jedoch nicht um eine Darstellung von Giddens’ Theorie selbst, sondern um eine Ausführung zu Goffmans Interaktionsbegriffen (speziell zum sozialen Geschehen). Die oben gemachte Ausdifferenzierung des symbolischen, des physisch-materiellen und des praktisch-institutionellen Aspekts der Räume erlaubt es, die Auseinandersetzungen um die Konstruktion der Räume entsprechend der jeweils eigenen symbolischen Sinnwelt einer Gruppe zu konzeptualisieren, wie es am Schluss des theoretischen Teils dieser Studie gemacht wird. Auch wenn multiple hierarchische Räume „auf einem Stück Erde“ mit Giddens nicht gedacht werden können, bedeutet dies nicht, dass der Autor die Macht in seinen Analysen zum Raum ganz vernachlässigt. Er führt den Begriff der Machtbehälter (power container) ein. Als Beispiel eines Machtbehälters analysiert Giddens die moderne Schule, die er in Ablehnung der klassischen Zeitgeografie nicht auf eine „Station“ der täglichen Wege von Individuen im Sinne einer black box reduziert sehen möchte. Die Schule betrachtet er als „‚Behälter‘, in dem disziplinierende Macht generiert wird“ (Giddens 1997: 188). Die räumliche und zeitliche Abgeschlossenheit des Schullebens macht eine genaue Koordination der Bewegungen involvierter Akteure, u.a. mittels des Stundenplans, möglich. Die Schule ist demnach auch intern regionalisiert, mit Klassenzimmern als weiteren Machtbehältern. Als größere Machtbehälter betrachtet Giddens Städte in den klassen-
Positionierung innerhalb des Lebenszyklus darstellt; 3) der Gesamtrahmen sozialer Positionierung, der als Verflechtung dieser Formen der Positionierung mit jener innerhalb von longue durée von Institutionen konstituiert wird. Die parallelen „räumlichen“ Positionierungen sind vor allem auf der zweiten Ebene denkbar, da eine Positionierung auf individuellen Raum-Zeit-Pfaden gleichzeitig eine Positionierung mit Bezug auf die weitere Regionalisierung gesellschaftlicher Totalitäten sein soll, wie das Zuhause, der Arbeitsplatz, die Stadt etc. Das Potenzial dieser Differenzierung wird von Giddens allerdings nicht ausgeschöpft. Eine Erschaffung räumlicher Strukturen durch die Bewegung von (auch im Sinne der Bewegung handelnden) Individuen durch die institutionalisierten Regionen und Schauplätze (eine Art Spacing) wird von ihm nicht in Betracht gezogen. Mit dem Spacing mittels der (gegenseitigen) Positionierung der Körper befasst er sich in Bezug auf Situationen der Kopräsenz.
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gegliederten Gesellschaften der Vormoderne, die später in dieser Funktion durch Nationalstaaten abgelöst werden (Giddens 1997: 250f.). Das Machbehälter-Konzept hat – entgegen der Meinung von z.B. Löw (2001) – nicht viel mit dem oben kritisierten Behälter-Raum-Konzept gemeinsam. Trotzdem sind diese Ausführungen nicht unproblematisch: Die Betonung der Macht in Kombination mit der partiellen Unfähigkeit, verschiedene Räume auf dem gleichen Grund und Boden zu konzeptualisieren, führt dazu, dass der Blick einseitig auf die Reproduktion der Herrschaftsstrukturen gelenkt wird. Martina Löw (2001: 231ff.) gibt in Bezug auf den Raum die von Giddens (1997: 353ff.) unternommene „Nachanalyse“ der bekannten Studie von Willis (1979) zu Verhaltensstrategien von Arbeiterjugendlichen (Lads) in der Schule wieder. An diesem Beispiel zeigt sie überzeugend die Vorteile des relationalen und handlungsorientierten Raumkonzepts bei der Analyse der Machtverhältnisse gegenüber dem Konzept des Machtbehälters. So können die institutionalisierten räumlichen Anordnungen der Schule nicht nur das Handeln strukturieren, sondern auch in der alltäglichen Raumkonstitution umkämpft sein und teilweise außer Kraft gesetzt werden. Schroer (2006a: 129) hat Recht mit dem Argument, dass der Behälter-Raum im Sinne eines vorgegebenen, beliebig mit Objekten aufzufüllenden Behälters bei Giddens keine dominierende Raumauffassung sei. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass der sozialen Konstruktion des Raums von Giddens leider nicht hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Räumliche Strukturen Während der Raum in Bezug auf das Handeln bei Giddens größtenteils als gegebener und konkreter Kontext konzipiert wird, ist er in Bezug auf die Struktur vor allem als Faktor relevant, der von Systemen mit Hilfe von Strukturen überschritten werden soll. Auch dem „entleerten“ Raum in „Konsequenzen der Moderne“ (1995a) liegt die Idee des Konkreten und seiner Überschreitung zugrunde. Die Entleerung setzt den ursprünglichen, an den Ort gebundenen bzw. mit ihm identischen Zustand des Raums voraus, und letztendlich werden die Praktiken wieder eingebettet, also an das Lokale gebunden. Nicht diese lokale raum-zeitliche Kontextualität des Handelns sehe ich als problematisch, sondern deren Verhältnis zu den Strukturen. Zwar wird die Organisation von Raum und Zeit (konkret: von
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Regionen und Wegen) als Teil autoritativer Ressourcen (und hiermit der Strukturen einer Gesellschaft) gedacht, wobei das Konzept des „Behälter-Raums“ von großer Bedeutung ist. Deren Konstitution, Aufrechterhaltung und Transformation im Handeln wird jedoch, dem Prinzip der Dualität von Struktur zuwider, nicht systematisch untersucht. Insgesamt wird der Konstitution und der Reproduktion der Räume zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Den genannten Mängeln in räumlichen Fragen stehen jedoch einige bedeutsame Vorzüge des Ansatzes im Allgemeinen gegenüber. In erster Linie handelt es sich dabei um den Gedanken der Strukturierung bzw. der Dualität der Struktur als Medium und als Resultat der Praxis. Dieser Gedanke steht, wie ich oben schon betont habe, dem Konzept der Prozesse kollektiver Identität nahe. Auch von Giddens’ Überlegungen zu Räumen möchte ich einige positiv hervorheben: Erstens ist die Idee der Kontextualität des Handelns bzw. seiner raum-zeitlichen Situierung bedeutsam. Der räumliche Kontext ist nicht nur etwas, „worin“ sich die Interaktion abspielt, sondern wird vielmehr von Akteuren aktiv bei der Konstitution des Sinns und des Verhaltens benutzt. Mit der Frage, wie diese Eigenschaft der Räume als Ressourcen des Sinns und des Handelns konkret begrifflich erfasst werden kann, beschäftige ich mich im nächsten Unterkapitel. Zweitens zielt die Idee der Regionalisierung, der Aufteilung von Raum und Zeit in Zonen im Verhältnis zu den Praktiken, in Richtung des relationalen Charakters des Raums, auch wenn dies sicherlich nicht weit genug geht. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir sinnvoll, den Strukturierungsansatz nach Giddens mit dem relationalen und handlungszentrierten Raumkonzept zu kombinieren. Diese Kombination würde erlauben, die Vorteile des Strukturierungsansatzes für die Untersuchung der räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität zu benutzen. Deswegen werde ich im nächsten Schritt die Idee der räumlichen Strukturen, die von Martina Löw als Ergänzung zum Strukturierungsansatz vorgeschlagen wurde, vorstellen. Ich folge Löws Annahme, dass räumliche Strukturen als Form von gesellschaftlichen Strukturen betrachtet werden können (Löw 2001: 166ff.). Dabei stützen sich Löws Ausführungen auf Giddens’ Interpretation: Strukturen sollen gemäß dem Prinzip der Dualität von Struktur im Zusammenhang mit dem Handeln betrachtet werden, und zwar als rekursiv in Institutionen eingelagerte Regeln und Ressourcen, die das Handeln gleichzeitig
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ermöglichen und eingrenzen. Eine ausschlaggebende Änderung Löws gegenüber Giddens’ Position ist, dass die „Strukturen nicht […] als unabhängig von Zeit und Raum, sondern als losgelöst von Ort und Zeitpunkt“ (ebd.: 168) zu verstehen sind. Dann können unter diesem Begriff nicht nur ökonomische, politische Strukturen u.Ä. gefasst werden, sondern auch räumliche und zeitliche. Ihr Zusammenwirken bildet die gesellschaftliche Struktur. Beispielsweise manifestiert sich die gesellschaftliche Struktur privat versus öffentlich in verschiedenen isolierbaren und rekursiv reproduzierbaren Strukturen, u.a. in räumlichen: in der Gestaltung von Häusern, in der Konzeption des Wohnzimmers als eines nach Absprache zugänglichen privaten Raums etc. Man kann von räumlichen Strukturen sprechen, „wenn die Konstitution von Räumen, das heißt entweder die Anordnung von Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von Gütern bzw. Menschen zu Räumen (das Wiedererkennen, Verknüpfen und Erspüren von (An)-Ordnungen), in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist, welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert sind“ (ebd.: 171, Hervorhebung im Original). Ein Teilaspekt der Dualität von Handeln und Struktur stellt damit die Dualität von Raum dar. Die räumlichen und anderen Strukturen ermöglichen das raumkonstituierende Handeln, welches diese Strukturen wiederum reproduziert. Gesellschaftlich organisiert wird diese Reproduktion über Institutionen. Im Handeln realisieren sich parallel verschiedenartige Strukturen. In der Konstitution von Räumen realisieren sich z.B. auch die ökonomischen oder rechtlichen Strukturen (Löw 2001: 172). Beispielsweise regelt das Eigentums- oder Mietrecht u.a. die Zugangskontrolle zum Inneren von Häusern und damit die Produktion von räumlichen Grenzen und materiellen wie autoritativen Ressourcen. In einem Mehrfamilienhaus werden so die gemeinschaftlich genutzten Bereiche (Treppenhäuser und Hof) von privaten Wohnungen abgegrenzt. Die Dominanz des Eigentumsrechts, an das auch das Mietrecht anknüpft, macht ein unbefugtes Eindringen in die Wohnräume Anderer potenziell zum Hausfriedensbruch.22
22 „Wer in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, oder wer, wenn er ohne Befugnis darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht ent-
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Mich interessiert in erster Linie die Frage, wie die räumlichen Strukturen die Reproduktion von anderen beeinflussen. So ist der Hausfriedensbruch-Diskurs im gerade erwähnten Beispiel nicht der einzig mögliche. Einen wichtigen Legitimationsdiskurs der Hausbesetzungen, die Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre in Westberlin und Westdeutschland stattfanden, stellte die Instandbesetzung dar, der Anspruch der Verteidigung der allgemeinen Interessen am Wohnraum gegenüber den privaten Interessen der Immobilienspekulantinnen. Der programmatische Slogan lautete „Instandbesetzen statt Kaputtbesitzen“ leerstehender Häuser. Die Hausbesetzung hat gerade deshalb ein Politisierungspotenzial, weil hier nicht nur räumliche, sondern auch rechtliche und ökonomische Strukturen im Handeln der Akteure sowie grundlegende Elemente der Sinnkonstitution in der kapitalistischen Gesellschaft angezweifelt werden. „In einer Gesellschaft, die auf Privateigentum gründet, muß diese scheinbar so selbstverständliche, einfache Form der Aneignung, die sich um Eigentumstitel nicht schert, eine unbotmäßige Form des Widerstandes gegen eben jene Verhältnisse sein.“ (Roth 1981: 37) Ich beschäftige mich damit, wie die Gesamtheit der identitätsrelevanten (also die Vorstellungen von Zielen und Mitteln des Handelns, von seinem gesellschaftlichen Kontext, von der Szene und ihren Angehörigen betreffenden) Sinnstrukturen der linken Szene bei ihrer (Re-)Produktion im Handeln von räumlichen Strukturen beeinflusst wird. Ich möchte die Argumentation von Löw um zwei wesentliche Momente erweitern: Erstens trägt m.E. die raum-zeitliche Kontextualität des Handelns – d.h. dass die Menschen auf die Kontextelemente in ihrem strategischen Verhalten, u.a. bei der Sinnkonstitution, zurückgreifen – wesentlich zur (Re-)Produktion räumlicher und anderer Strukturen bei. Um die Kontextualität des Handelns dementsprechend zu konzeptualisieren, greife ich im nächsten Unterkapitel auf Goffmans Begriff des sozialen Geschehens zurück. Zweitens wird in Anlehnung an Giddens die Organisation von Raum und Zeit in Bezug zu Praktiken – die raum-zeitlichen Kontexte – als eine Komponente autoritativer Ressourcen gesehen. Die Verbindung der Kontextualität des Handelns und der Macht ist, wie ich im abschließenden Unterkapitel zeigen werde,
fernt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ (§ 123 Abs. 1 StGB)
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ein fruchtbarer Gedanke. Daher wird die Idee der raum-zeitlichen Kontexte im nächsten Schritt von mir präzisiert. Fazit Giddens’ Strukturierungstheorie liefert einen theoretischen Hintergrund für die Untersuchung von Prozessen kollektiver Identität in der linken Szene als Interaktionssystem. Für die kollektive Identität, wie sie im ersten Kapitel dargestellt wurde, ist eine Dualität von Struktur und Handeln charakteristisch. So sind die geteilten Frames (beispielsweise „Polizei als staatliche Repressionsmaschine“) sowohl ein Medium als auch ein Ergebnis der Interaktionen unter Szeneangehörigen sowie zwischen ihnen und diskursiv als Feinde definierten Akteuren (in diesem Beispiel Polizisten). Angesichts der großen Aufmerksamkeit, die Giddens der Frage der Räume schenkt, habe ich seine Überlegungen kritisch betrachtet. Leider musste ich feststellen, dass sie – trotz einiger positiver Momente hinsichtlich der raum-zeitlichen Kontextualität des Handelns – die Hoffnungen nicht erfüllten. Gerade in Bezug auf die Räume wird die Strukturierungsidee nicht umgesetzt, und das dahinterstehende Raumkonzept kann kaum als gesellschaftszentriert bezeichnet werden. Diese Mängel können jedoch durch die Kombination mit dem gesellschaftszentrierten Raumkonzept und mit Löws Idee der räumlichen Strukturierung und der Dualität von Raum als Teilaspekt der Dualität von Struktur größtenteils überwunden werden. Die räumlichen Strukturen ermöglichen, in Institutionen eingelagert, raumkonstituierendes Handeln, in dem sie zugleich reproduziert und transformiert werden. Bevor einige Annahmen zur Wirkungsweise dieser Prozesse bei der Produktion, Aufrechterhaltung und Transformation kollektiver Wir-Definitionen gemacht werden, soll im nächsten Schritt die Kontextualität des Handelns genauer betrachtet werden.
2.3 D IE K ONTEXTUALITÄT
DES
H ANDELNS
Die Kontextualität des Handelns muss bei der Beschäftigung mit der verräumlichten Strukturierung und der (Re-)Produktion kollektiver Identität berücksichtigt werden. Auf diese Annahme habe ich schon oben hingewiesen, als ich Giddens’ Strukturierungsansatz und seine Weiterentwicklung in
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Bezug auf räumliche Strukturen durch Löw besprochen habe. Positiv fiel dabei die Betrachtung räumlicher Elemente des Kontextes als Ressourcen des Handelns auf, die von Akteuren aktiv bei der Sinnkonstitution benutzt werden: „A setting is not just a spatial parameter, and physical environment, in which interaction ‚occurs‘: it is these elements mobilised as part of the interaction. Features of the setting of interaction, including its spatial and physical aspects […] are routinely drawn upon by social actors in the sustaining of communication.“ (Giddens 1979: 207)
In Kombination mit dem gesellschaftszentrierten Raumkonzept, das Räume nicht auf eine materielle Komponente reduziert, kann man die räumliche Anordnung folgerichtig als Bestandteil der Interaktion denken (vgl. Giddens 1979: 83), ohne das Handeln und die Räume als zwei getrennte Realitäten zu begreifen. Im Folgenden werde ich mich genauer mit der Kontextualität des Handelns als ein Element von Strukturierungsprozessen befassen. Da unmittelbare Interaktionen eine herausragende Rolle in der Produktion und Aufrechterhaltung von geteilten Handlungs- und Erlebensmustern der linken Szene spielen, werde ich mich vorrangig mit Situationen der Kopräsenz beschäftigen. Ich suche nach einem Interaktionsbegriff, der den Raumbezug des Handelns gut erfassen kann. Er soll ebenfalls dafür geeignet sein, die räumlichen Einflüsse jenseits der Kopräsenz zu begreifen. Eine weitere Forderung an diesen Begriff ist, nicht nur die strukturierende Wirkung der räumlichen Strukturen auf das Handeln, sondern auch die Konstitution von Räumen im Handeln zu erfassen. Ich orientiere mich dementsprechend an dem oben eingeführten relationalen, handlungszentrierten Raumbegriff. Außerdem soll es möglich sein, die Kontextualität entsprechend der Idee der aktiven Nutzung von Kontextelementen durch Akteure statt der determinierenden Wirkung so zu denken, dass eine Konstitution von mehreren Räumen auf dem gleichen Grund und Boden möglich erscheint. Es soll gezeigt werden, dass die räumlichen Kontexte des Handelns für die Konstitution und Reproduktion kollektiver Identität unter den Aspekten der Sinngebung und der Regelhaftigkeit relevant sind.
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Die Angemessenheit des Handelns Die Kontextualität des Handelns dient Akteuren als Ressource der Verhaltenssteuerung. Dabei sind die Praktiken, in Terminus von Giddens, regionalisiert. In gleichen bzw. ähnlichen Regionen finden mehrere Interaktionen unter Teilnahme von verschiedenen Akteuren statt, beispielsweise in einer Kneipe am Abend zwischen den Gästen an einem Tisch, zwischen den Gästen aus unterschiedlichen Gruppen, zwischen den Gästen und der Tresenkraft etc. Die erwähnten Interaktionen haben einige gemeinsame Züge – besonders wenn wir sie mit den Interaktionen zur selben Tageszeit im Reisezentrum eines Bahnhofs vergleichen oder auch mit einer Versammlung des Kneipenkollektives im selben Raum einige Stunden früher. Die jeweiligen Verhaltensweisen unterscheiden sich voneinander, obwohl sie immer noch einige Gemeinsamkeiten aufweisen, vor allem das Befolgen der allgemeinen Benimmregeln (wobei die Beispiele auch einige Abweichungen zulassen, z.B. laufen statt gehen, laut rufen, die körperlichen Distanzen von Anderen missachten). Dieser Vergleich führt deutlich vor Augen, dass verschiedene Handlungsweisen dieselben Kontexte einbeziehen können und dass die Regeln des Handelns mit spezifischen Raum-Zeit-Bereichen verknüpft sind. Die jeweiligen Handlungen aus anderen Arrangements müssen nicht „an sich“ falsch vollzogen sein, um nicht akzeptiert zu werden. So könnte ein Mensch versuchen, sich im Reisezentrum der Bahn ein Bier zu bestellen. Obwohl seine Worte und Gesten dabei möglicherweise durchaus richtig artikuliert sind, kann sein Handeln nur erfolgreich sein, wenn seine Intention nicht das Biertrinken, sondern ein Krisenexperiment (vgl. Garfinkel 1967) oder eine Modulation der Interaktion als Scherz (vgl. Goffman 1977a) ist. Sein Verhalten würde als nicht richtig empfunden, weil es nicht angemessen wäre. Dieses gedankliche Experiment macht deutlich, dass die Richtigkeit des Handelns kontextspezifisch ist. Eine kontextgebundene bzw. -spezifische Dimension der Regeln kann als Angemessenheit des Handelns angesprochen werden. „Eine Verhaltensregel kann als Handlungsorientierung definiert werden. Die Handlung wird nicht empfohlen, weil sie angenehm, einfach oder wirkungsvoll ist, sondern weil sie angemessen oder richtig ist.“ (Goffman 1971: 55) Die Angemessenheit wird, so die Annahme, in Relation u.a. zu räumlichen Anordnungen bestimmt. Das bedeutet, dass die Akteure sich in den jeweiligen konkreten
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raum-zeitlichen Kontexten angemessen verhalten müssen. Mit anderen Worten: Die Angemessenheit ist ein Bestandteil der Regeln. Regeln, Ressourcen und Bezugsrahmen Regeln betrachte ich – in Anlehnung u.a. an Giddens (1997) und Wittgenstein (1984) – als Verfahren, die in der Ausführung und Reproduktion sozialer Praktiken angewandt werden. Die Kenntnis der Regeln kommt im praktischen Bewusstsein zum Ausdruck, nicht in der Kenntnis ihrer diskursiven Formulierungen, die lediglich kodifizierte Interpretationen darstellen (Giddens 1997: 74). Die Regeln sind zuallererst Produktionstechniken, deren Beherrschung eine notwendige Bedingung des richtigen Handelns ist (dafür sind allerdings auch Ressourcen notwendig). Die Regeln haben sowohl eine konstitutive als auch eine normative Komponente, denn sie ermöglichen das Handeln und geben das richtige Verhalten vor. Im vorigen Abschnitt wurde schon erwähnt, dass Ressourcen nach Giddens einen integralen Bestandteil der Strukturen bilden und dass die raumzeitliche Konstitution von Wegen und Regionen den autoritativen Ressourcen zugeordnet wird. Die Verbindung von Regeln mit Ressourcen erscheint mir für die raum-zeitliche Kontextualität des Handelns wichtig. Die unterschiedlichen Kontexte bieten eine Ressource für jeweils besondere Handlungen und Verhaltensmuster. Das betrifft nicht nur materiell-physische Elemente; so bedarf es z.B. mehr als nur einer Autowerkstatt mit ihrer speziellen Ausstattung, um einen Automotor zu reparieren. Vielfältiges Wissen und die damit verbundenen Machtsysteme spielen in diesem Kontext eine Rolle, u.a. das praktische Wissen, wie man repariert, dessen staatliche Legitimierung im Zuge einer Automechanikerausbildung oder der symbolische Wert des „Traumberufs“ eines Angestellten. Es verhält sich nicht so, dass das Individuum einfach die auf bestimmte Handlungsmuster abgestimmten materiellen Ressourcen des Handelns vorgegeben bekommt und passiv auf sie reagiert. Die Bezugsrahmen des Handelns sind ein Teil einer feineren sozialen Mechanik. Die Akteure verfahren im Alltag meist routinemäßig, trotzdem sind ihre Vorgehensweisen nicht automatisiert. Das praktische Wissen impliziert u.a. das Wissen, wie man mit den materiellen Elementen des Kontextes umgeht bzw. was man im jeweiligen Hier (genauer: Hier-und-Jetzt) macht: „In Interaktionszusammenhängen […] schließt die reflexive Handlungssteuerung charakteristi-
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scherweise und wiederum routinemäßig die Kontrolle des Bezugsrahmens dieser Interaktion ein.“ (Giddens 1997: 54) Die bestimmten materiellen Bedingungen werden von den Akteuren aktiv, wenn auch zu einem großen Teil routiniert, als Bezugsrahmen des Handelns genutzt. Die „praktische Erkennbarkeit“ konkreter Orte oder Räume – letztere verstanden als Anordnungen von Menschen und Gütern, die sich an Orten realisieren – bedeutet ihre Institutionalisierung. Das bedeutet, dass die Anordnung über das eigene Handeln der Akteure hinaus wirksam bleibt (vgl. Löw 2001: 164). Die Erkennbarkeit der räumlichen Anordnungen – gleichgültig, ob eher auf ihre relationale Struktur oder auf ihre Realisierung an einem konkreten Ort bezogen – geht auf die symbolische Komponente der Räume im Zusammenhang mit der Handlungs-Komponente zurück, wie im Abschnitt zum „Gesellschaftszentrierten Raumkonzept“ argumentiert wird. Die Räume tragen Bedeutungen, die ihnen von Akteuren zugeschrieben werden, sie haben eine symbolische Komponente. Schon die Synthese von materiellen Objekten in räumliche Anordnungen, die als Ergänzung zur Platzierung die Konstitution von Räumen ausmacht, ist vor allem eine symbolische Aktivität, die über Prozesse der Erinnerung, Wahrnehmung und Vorstellung stattfindet. Im Handeln wird der Sinn des Raums, auf der Ebene des praktischen oder des diskursiven Bewusstseins, erschlossen und genutzt, wobei die beiden Seiten empirisch verschmelzen. An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass die symbolische Komponente sich nicht in den unmittelbar handlungsrelevanten Bedeutungen der konkreten Kontexte (im oben erwähnten Beispiel eine Kneipe oder ein Reisezentrum) erschöpft. Gerade bei der Untersuchung der Identitätsprozesse in der linken Szene ist die Annahme fruchtbar, dass mehrere Sinnebenen, auch abstraktere, beispielsweise politische Ideen, oder aber biografische Erlebnisse, mit Räumen verknüpft werden können. Die räumliche (bzw. raum-zeitliche) Kontextualität kann auf diese Weise die Reichweite der unmittelbaren Umgebung überschreiten. Die Anordnung einer LinkeSzene-Kneipe wird nicht nur über einen konkreten Gastraum und einen konkreten Zeitpunkt hinaus reproduziert. Diese Anordnung impliziert, neben bestimmten Platzierungen (Tresenkraft bleibt hinter dem Tresen, aber der spontane Wechsel auf die andere Seite des Tresens ist möglich), die Bezugnahme auf „Yuppie-Bars“, auf kommunistische bzw. anarchistische Symbolik, auf Hausbesetzungen, auf den Freiräume-Diskurs, auf die drohende Gentrifizierung des eigenen „Kiezes“ etc. Die Bedeutungen „der-
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selben“ Räume können variieren, genauer: auf dem gleichen Grund und Boden können unterschiedliche Räume aufgebaut werden. Kurz gefasst sind die räumlichen Bezugsrahmen des Handelns keineswegs rein materielle Ressourcen. Vielmehr beziehen die Akteure sich rekursiv auf den institutionalisierten (strukturellen) Zusammenhang des materiellen, des symbolischen und des praktischen Aspekts eines Raums. Gleichzeitig verbinden sie diese Aspekte in ihrem Handeln aufs Neue miteinander. „Region“ versus „soziales Geschehen“ Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass die räumlichen Bezugsrahmen des Alltagshandelns raum-zeitlich aufgefasst werden sollten und dass nicht die einzelnen Handlungen bzw. Sequenzen des Handelns eines Individuums, sondern komplexere, größtenteils interaktive Zusammenhänge raumkonstitutiv sind. Um dies bei der Konzeptualisierung der raum-zeitlichen Kontextualität zu berücksichtigen, werde ich im Folgenden zwei Begriffe von Erving Goffman aufgreifen: Frames (frames)23 und soziales Geschehen (social occasion). Die Auffassung der Regionalisierung nach Giddens ermöglicht es sich vorzustellen, wie ein kontinuierlicher Fluss des Handelns eine interne relationale Ordnung in Bezug auf verschiedene räumliche Kontexte bekommt. Die materielle Kontinuität der Strukturierung wird durch die Überschneidung einzelner Raum-Zeit-Wege von Individuen mit einzelnen institutionellen, raum-zeitlich lokalisierten Entwürfen ständig artikuliert (Pred 1983: 46). Dagegen bleiben die Konstitution und die Eigenschaften konkreter raum-zeitlicher Sequenzen vernachlässigt. Dies widerspricht der erkannten Notwendigkeit, empirisch zu untersuchen, wie die „Reproduktion der besonderen kulturellen, ökonomischen und politischen Institutionen in Raum und Zeit mit den räumlich und zeitlich spezifischen Handlungen, Wissensformen und Biographien bestimmter Individuen verknüpft sind“ (Pred 1983: 46, Übersetzung zitiert nach Giddens 1997: 426). Die Konstitution
23 Um Irritationen zu vermeiden, wird die in der Bewegungssoziologie etablierte und im ersten Kapitel schon eingeführte Übertragung von frame als „Frame“ durchgehend gebraucht, auch wenn in der mikrosoziologischen Diskussion eher die Variante „Rahmen“ üblich ist.
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und Reproduktion von Menschen und Institutionen verläuft, so die entsprechende Annahme, in konkreten raum-zeitlich situierten Praktiken, und diese Mechanismen sollten genau untersucht werden (Pred 1983: 46). Dem möchte ich hinzufügen, dass das Phänomen der Situierung auch jenseits des jeweils Konkreten erfasst werden kann und soll. Ohne die relationale Differenzierung der raum-zeitlichen Kontexte des Handelns aus den Augen zu verlieren, muss man ihre Eigenschaften explizieren. Dafür möchte ich den Begriff des sozialen Geschehens verwenden. Einführend sollen noch einige Worte zu Goffmans Verständnis der Kontextualität des Handelns gesagt werden.24 Goffman analysiert die Routinen des Alltagslebens und fokussiert dabei sein Forschungsinteresse auf Face-ToFace-Interaktionen. Er versucht jedoch nicht, das soziale Leben auf die unmittelbaren Interaktionen zu reduzieren. Im Gegenteil, er wehrt sich gegen Vorwürfe dieser Art (u.a. Goffman 1997: 246f.) und weist an mehreren Stellen darauf hin, dass es Inhalte der Interaktionen gibt, welche außerhalb der Situation der Kopräsenz liegen. Nach Goffman verlaufen soziale Interaktionen in sozialen Situationen, unter den Bedingungen der wahrnehmbaren Kopräsenz (Goffman 1997: 235). Die Situation wird als ein beliebiger physischer Schauplatz verstanden. Wer ihn betritt, findet sich in unmittelbarer Anwesenheit von einer oder mehreren weiteren Personen wieder (Goffman 1977b: 301; vgl. ders. 1966: 17). Genauso stimmt allerdings, dass eine soziale Situation entsteht, sobald zwei Personen in „Interaktionsreichweite“ kommen und es gegenseitige Aufmerksamkeit gibt (Goffman 1966). Die Zusammenkünfte (gatherings) können sehr unverbindlich sein und lediglich gegenseitige „höfliche Gleichgültigkeit“ erfordern, wie im Vorbeigehen auf der Straße oder beim Warten auf einen Bus. Es sollte zwischen dem situational und situated in Interaktionen unterschieden werden. Das Situative an einer Interaktion kann nur in einer Versammlung unter Bedingungen der Kopräsenz passieren („what could only occur in face-to-face assemblies“, Goffman 1997: 247), wohingegen das
24 Giddens (1997: 141f.) bezieht sich in der „Konstitution der Gesellschaft“ auf Goffmans Frames-Konzept in einem ähnlichen Zusammenhang. Leider greift er später bei seinen Überlegungen zur Regionalisierung (ebd.: 161ff.) nicht auf diese Ausführungen zurück.
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Situierte nicht auf die Umstände der Kopräsenz zurückzuführen ist (ebd.).25 Eine Gerichtssitzung beispielsweise ist situativ organisiert. Das betrifft die Verteilung der Teilnehmer, die Ordnung des Redewechsels etc. Dies schöpft die – freilich auf Situationen der Kopräsenz angewiesene – Praxis der Gesetzesanwendung jedoch nicht aus: Das verhängte Strafmaß und sein Einfluss auf das Leben des Verurteilten ist aus den im Gerichtssaal ablaufenden Interaktionen allein bzw. aus den auf die Kopräsenz zurückzuführenden Elementen nicht abzulesen. Das Situative stellt den eigentlichen Gegenstand von Goffmans Studien dar, und der räumliche Bezug der Interaktionen betrifft ganz klar ihr situatives Element. Den Schwerpunkt bildet hier die allgemeine Organisation der Zusammenkünfte, nicht die spezifischen Handlungsregeln. Das sollte jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass die situativen Elemente bei Goffman ausschließlich allgemeingültigen Charakter haben und nicht in Bezug auf spezifische Handlungsregeln analysiert werden könnten. So thematisiert er das Verhältnis zwischen der Interaktionsordnung einerseits und anderen Formen sozialer Ordnung (d.h. soziale Strukturen) andererseits und bezeichnet dieses als lose Koppelung (loose coupling, Goffman 1997: 252f.). Beispielsweise zeigt er, dass die Geschlechtertrennung im Alltag durch die situativen Mittel der spezifischen räumlichen Organisation mit artikuliert wird, z.B. durch getrennte Toiletten in öffentlichen Gebäuden und die sich in Bezug darauf ergebende raum-zeitliche Ordnung der Kopräsenz und der Abwesenheit (Goffman 1977b). Die raum-zeitlichen Kontexte funktionieren als Bezugsrahmen der Interaktion, d.h. sie werden von Individuen bei der Verhaltenssteuerung bzw. bei der Produktion konkreter Interaktionen benutzt. Dabei beeinflussen institutionelle Formen und Strukturen diese Produktion und werden wiederum von situativen Effekten beeinflusst. Der bestimmte Bezugsrahmen der Interaktion kann mit dem Begriff des sozialen Geschehens erfasst werden.
25 Die Unterscheidung Anwesenheit/Abwesenheit bei Giddens ähnelt der Unterscheidung situativ/situiert bei Goffman, was angesichts des Einflusses des letzteren auf Giddens nicht wundert. Die beiden Autoren fragen u.a. danach, wie etwas, das in einer Situation „da“ ist, mit dem zu tun hat, was die Grenzen von diesem „da“ überschreitet, (unabhängig davon, ob das Wort „Strukturen“ dabei genutzt wird oder nicht). Jedoch sind die Begriffspaare nicht identisch.
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Soziales Geschehen Unter einem sozialen Geschehen26 (social occasion) versteht Goffman (1966: 18, 1971: 159) eine größere soziale Angelegenheit, eine Veranstaltung oder ein Ereignis, eingegrenzt in Bezug auf Handlungsort und -zeit und typischerweise mit einer besonderen Ausstattung. Beispiele für ein soziales Geschehens liefern eine Party, ein Arbeitstag in einem Büro oder der Kassenbereich eines Supermarktes kurz vor Ladenschluss. Ein soziales Geschehen liefert einen strukturellen sozialen Kontext (structuring social context), in dem sich viele Situationen und Zusammenkünfte bilden, auflösen und umformen. Mit anderen Worten: Es gibt den Tenor für das an, was in seinem Verlauf geschieht. Dabei wird ein Verhaltensmuster27 als angemessen und häufig formell festgelegt akzeptiert. Die Angemessenheit des
26 Ins Deutsche lässt sich der Begriff social occasion leider nicht einwandfrei übersetzen. Die Übersetzungsvarianten wären „soziales Ereignis“ wie in Goffman (1971: 159), „sozialer Anlass“ wie bei Willems (1996) oder Golova (2006: 168) oder „soziales Geschehen“. Ich ziehe die letzte Variante vor, da diese am wenigsten von der unerwünschten Konnotation des Außenordentlichen betroffen ist. Der Begriff „soziales Geschehen“ weist einfach darauf hin, dass etwas Bestimmtes, aber im Allgemeinfall nichts Besonderes, geschieht (vgl. to occur). 27 Goffman bezieht sich mit dem Begriff standing behavior pattern (konstantes Verhaltensmuster) explizit auf Roger Barker (vgl. Barker et al. 1978), den Gründer einer Schule der ökologischen Psychologie. Barkers Begriff behavior setting erfasst (wie Goffmans social occasion) die synthetische Einheit einer Verhaltenweise und einer Ort-Zeit-Konstellation. In der Interpretation dieser Begriffe ergeben sich allerdings wesentliche Unterschiede. Aufgrund dieser werden Goffmans Überlegungen von mir bevorzugt. Der bedeutendste Nachteil des Konzepts von Barker ist, dass es deterministisch ausfällt. Es vernachlässigt generative Momente sozialer Situationen und ist auf das reaktive Verhalten der Akteure in materiellen räumlichen Umwelten statt auf deren aktives und reflexives Handeln ausgerichtet (vgl. Kaminski 1986). In Anlehnung an Goffman kann man dagegen vom Aufbau eines Geschehens als Leistung der Akteure bzw. von der Möglichkeit verschiedener Geschehen und entsprechender räumlicher Anordnungen an einem Ort sprechen. Dieses aktive Handeln der Akteure ist nichtsdestoweniger auf die situationsübergreifenden Regeln angewiesen (Goffman 1997: 239; vgl. weiter unten zu Frames).
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Handelns in der konkreten Interaktion wird daran überprüft, im Rahmen welchen Geschehens sie stattfindet. Auch wenn einzelne Teilnehmer durchaus unterschiedliche Rollen erfüllen können, so teilen sie dennoch idealtypisch eine Vorstellung über das Geschehen. Soziales Geschehen kann mehr oder weniger stark formalisiert werden (Goffman 1966: 18f.). Für formalisierte Geschehen wie beispielsweise eine Bestattung gilt, dass Anfang und Ende klar definiert und eine bestimmte emotionale Struktur und detaillierte Verhaltensmuster, deren Einhaltung streng überwacht wird, vorhanden sind. Solche Geschehen verfügen zudem über einen bestimmten, vordefinierten Ablauf. Darüber hinaus gibt es auch informelle Geschehen, die eher diffuse Rahmen in Bezug auf Verhaltensnormen, zeitliche und räumliche Grenzen, Rollenverteilung und Ablauf bieten. Ein Beispiel hierfür ist ein Nachmittag im Park.28 Eine weitere Unterscheidung kann zwischen solchen Geschehen getroffen werden, deren Zweck – gewöhnlich Unterhaltung oder Spaß – in ihnen selbst gesehen wird und solchen, die als „ernsthaft“ gelten und offiziell einem weiteren Zweck dienen. So gilt eine Demonstration in erster Linie als eine politische Ausdrucksform, auch wenn die demnach irrelevanten Gespräche unter den Teilnehmerinnen Aspekte der Unterhaltung und Kontaktpflege deutlich machen. Letztendlich kann man, so Goffman (ebd.), zwischen den regelmäßigen (wie eine wöchentliche Arbeitsbesprechung im Büro) und den einmaligen Geschehnissen (wie eine spontane Feier) unterscheiden. Soziale Geschehen können nicht auf „größere Zusammenkünfte“ reduziert werden, weil die daran partizipierenden Menschen erstens nicht unbedingt alle einander wahrnehmen und damit auch nicht zu ein und derselben Zusammenkunft gehören. Zweitens, und das ist für meine Forschungszwecke wichtiger, hat dieser Begriff eine besondere Qualität: Er erlaubt, die Verbindung zwischen den Regeln des Handelns und den raum-zeitlichen
28 In „Interaction Order“ (1997, Erstveröffentlichung 1983) ist bei Goffman speziell von dem feierlichen Anlass (celebrative social occasion) als Interaktionseinheit die Rede (Goffman 1997: 244). Hiermit vertieft er die in „Behavior in Public Places“ gemachte Anmerkung, Barkers Terminus behavior setting könne für weniger formalisierte soziale Anlässe ausreichen (Goffman 1966: 19). Barkers Konzept entspricht jedoch nicht meinen Anforderungen (siehe Fußnote 27 dieses Kapitels). Goffmans frühe, breitere Interpretation von social occasions wird hier vorgezogen.
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Grenzen/Bereichen zu erfassen. Im Unterschied zur Region bei Giddens liegt hier der Schwerpunkt nicht in der relationalen Ordnung der Regionen, sondern in der qualitativen Eigenheit der Einheiten und der materiellen „Ausstattung“ der Praktiken. Das Konzept des sozialen Geschehens erfasst erfolgreich die Verbindung zwischen den Regeln des Handelns und dessen Bezugsrahmen. Diese Verbindung bildet den Teil des praktischen Wissens der Akteure und trägt so zur Reproduktion der Regeln und des diskursiven Wissens bei. Die Verhaltensregeln in Situationen und Zusammenkünften gehen großteils auf die sie einbeziehenden sozialen Geschehen zurück (Goffman 1966: 20, 194). Die Angemessenheit des Handelns wurde oben den Regeln zugeordnet. Das soziale Geschehen kann m.E. als diejenige Interaktionseinheit betrachtet werden, an der sich die Angemessenheit des Verhaltens von Akteuren im Wesentlichen orientiert. Wie schon festgehalten, sind die Regeln des Handelns ihrem Charakter nach nicht nur normativ, sondern auch generativ. Auch die raum-zeitlichen Ausstattungen sozialer Geschehen funktionieren als Ressourcen der Produktion richtiger Verhaltensweisen und als Orientierungen zur Sanktionierung der Fehltritte, wobei Letzteres sicherlich vom Formalisierungsgrad und der jeweiligen Rolle der Beteiligten abhängt. Die Akteure kennen die jeweilige Kombination von räumlichen und zeitlichen Elementen als eine den bestimmten Handlungsweisen entsprechende Einheit und können sie im konkreten Fall erkennen. Das gehört zu ihrer Kompetenz als soziale Akteure, zu ihrer Fähigkeit, im jeweiligen Hier-undJetzt angemessen zu handeln. Die räumliche Organisation funktioniert also als Bezugsrahmen des Handelns, und dies nicht nur im Sinne einer Orientierungshilfe auf der Ebene der Intentionen, sondern auch als eine Komponente des praktischen Wissens. Abschließend möchte ich auf zwei für das Raumverständnis relevante Momente hinweisen. Erstens bezeichnet Goffman soziales Geschehen als „bounded in regard to place and time“ (Goffman 1966: 18). Es erscheint wichtig zu betonen, dass, obwohl ein soziales Geschehen tatsächlich an einem konkreten Ort (oder, wie eine Demonstration, an vielen Orten) realisiert wird, seine strukturierenden Eigenschaften dennoch mit institutionalisierten Räumen zu tun haben (die im ersten Unterkapitel gemachte Unterscheidung zwischen den Konzepten Ort und Raum ist hier zentral). Die sozialen Geschehen der jeweiligen Art wie Arbeitsbesprechungen, Abschlusspartys, Zweitliga-Fußballspiele, Bestattungen, U-Bahn-Stationen zu
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morgendlichen Stoßzeiten werden, so ist anzunehmen, im Bereich einer Kultur ähnliche Züge haben, u.a. hinsichtlich ihrer jeweiligen, an diversen konkreten Orten realisierbaren relationalen Raumordnung (dazu mehr im nächsten Abschnitt). Zweitens erwähnt Goffman ausdrücklich die Möglichkeit, dass derselbe physische Raum einen Handlungsort für mehrere parallel stattfindende soziale Geschehen bieten kann: „[M]ultiple social realities can occur in the same place. Once a social situation is referred back to the social occasion that sets the tone for the gathering in it, we must admit the possibility that the same physical space may be caught within the domain of two different social occasions. The social situation then may be the scene of potential or actual conflict between the sets of regulations that ought to govern.“ (Goffman 1966: 20)
So geschieht es z.B., wenn Badeurlauber an einem Kurort die gelockerten Verhaltensweisen auf alle Bereiche, u.a. auf Geschäfte, auszubreiten versuchen. Die Einheimischen bemühen sich im Gegenzug, an solchen Orten einen normalen „Verhaltenstonus“ aufrechtzuerhalten (z.B. durch Schilder „Kein Eintritt in Badesachen!“ oder böse Blicke). Ein weiteres Beispiel liefert ein Handwerker, der sich in einer Universitätsbibliothek auch zu Öffnungszeiten mit Kollegen laut unterhalten, Schmutz produzieren und weitere in einer Bibliothek „unpassende“, bei Reparaturarbeiten jedoch durchaus akzeptierte Verhaltensweisen ausüben kann (ebd.: 20f.). Es handelt sich bei dieser Art situativer Überlappungen von mehreren sozialen Geschehen m.E. nicht nur um das Aushandeln der Realität insgesamt (also um die bei Goffmann 1977a formulierte Frage „Was geht hier vor?“), sondern speziell um das Aushandeln der jeweiligen Räume als Teilaspekte der Realität. Der institutionalisierte Raum einer Bibliothek wird durch die Tätigkeit des Handwerkers in Frage gestellt, was die Beteiligten zu einem interaktiven Umspielen des „Ausnahmezustandes“ nötigt, z.B. durch die eher symbolisch wirksame Absperrung des betroffenen Bereichs. Dementsprechend werde ich auch nicht von demselben physischen Raum sprechen, der zur Arena konkurrierender Geschehnisse wird, sondern vom Aufbau konkurrierender, sich überlappender gesellschaftlicher Räume als Elemente verschiedener sozialer Realitäten. Die Untersuchung über das Verhalten von Lads in der Schule wurde schon im letzten Unterkapitel
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herangezogen: Die Jugendlichen bauten durch das ständige In-BewegungBleiben und das beliebige Verlassen des Schulgebäudes einen mit dem schulischen Raum konkurrierenden Raum der Straße auf (Löw 2001: 244). Das subversive Potenzial ihres Handelns ist nicht alleine darauf zurückzuführen, dass sie einen institutionalisierten Raum untergruben, sondern darauf, dass sie auf diese Weise die entsprechende Realität des Schulunterrichts zurückdrängten. Zusammengefasst: Der Aufbau eines bestimmten sozialen Geschehens samt angemessener Handlungsweise, die womöglich auch die anderen Anwesenden betrifft, geschieht u.a. als Aufbau entsprechender sozialer Räume und kann als Akt generativer Macht interpretiert werden.29 Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich mich genauer damit befassen. Zunächst werde ich noch auf die Frage eingehen, warum diese Macht notwendigerweise eine symbolische Dimension aufweist. Frame des Geschehens Das soziale Geschehen dient, wie oben argumentiert wurde, als ein wichtiges Maß bei der Beurteilung der Angemessenheit des Handelns. Der raumzeitliche Kontext des Geschehens spielt somit bei der Bestimmung, ob eine jeweilige Handlung richtig oder falsch ist, eine Rolle (die je nach Art des Geschehens, u.a. je nach dem Formalisierungsgrad, variiert). Um eine institutionalisierte Verbindung von Handlungsweisen mit Settings in einem Geschehen zu präzisieren, schlage ich vor, auf den von Goffman benutzten Begriff des Frames zurückzugreifen. Die These ist, dass ein soziales Geschehen u.a. dank des Frames dieses Geschehens reproduziert wird.30
29 Dass Goffmans Soziologie entgegen mancher früher Interpretationen keineswegs „machtblind“ ist, zeigte schon Mary Rogers (1980). 30 Giddens (1997: 141) bezieht sich ohne einen konkreten Verweis auf die „Frame Analysis“ (Goffman 1977a) auf Goffmans Konzept der Frames, um die in Begegnungen einbegriffenen Regeln in Bezugsrahmen oder „Rahmen“ gebündelt zu betrachten. Diese versteht er als „Regelgefüge, die zur Konstitution und Regulierung von Tätigkeiten dienen, indem sie diese als ganz bestimmte Tätigkeiten kennzeichnen“ (ebd.). Damit bewegt er sich auf den ersten Blick in eine ähnliche Richtung wie meine Überlegungen. Allerdings betrachtet Giddens alle Frames implizit als Geschehensframes, die der praktischen Beantwortung der Frage „Was geht hier vor?“ dienen. Weiterhin baut er die raum-zeitliche Kon-
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Die Ausgangspunkte für die beiden Konzepte sind recht ähnlich. Die Menschen, die sich in einer Situation befinden, stehen laut Goffman vor der Frage: „Was geht hier eigentlich vor?“ Die Antwort auf diese ausdrückliche oder (öfter) stillschweigende Frage ergibt sich daraus, wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen (Goffman 1977a: 16). Die Definition der Situation wird von den Teilnehmerinnen nicht frei erschaffen (deswegen ist deren auf Definitionsvorgehen zurückgehende Macht recht beschränkt), sondern unter Bezugnahme auf die nicht von ihnen persönlich erschaffenen Schemata produziert. Diese Frames dienen der Organisation der Erfahrung und der Interaktion und sind im Bewusstsein und im Handeln vorhanden (ebd.: 22, 274). Die Menschen handeln in einer Situation entsprechend ihren Definitionen der Situation. So sind die Frames „nicht bloß eine Sache des Bewusstseins“ (ebd.: 274). Hier muss man anmerken, dass die Schemata zur Wahrnehmung der Interaktionen bzw. Ereignisse und die Schemata zu deren Produktion, die von Menschen benutzt werden, bei Goffman prinzipiell dieselben sind (vgl. Giddens 1988: 262, Eberle 1991: 194). Das Konzept der Frames erlaubt so, das praktische Bewusstsein mit dem diskursiven analytisch zu verbinden, was für die Untersuchung von Identitätsprozessen günstig ist. Auf dem rekursiven Charakter des Framings basieren die vielfältigen und immer vorhandenen Möglichkeiten, das Geschehen zu transformieren. In der „Frame Analysis“ befasst sich Goffman hauptsächlich mit solchen Transformationen, die einen alltäglichen, im primären Frame erfassten Vorgang beispielsweise mühelos in einen Scherz oder ein Experiment verwandeln lassen. Die oben angesprochene Möglichkeit des parallelen Aufbaus konkurrierender Realitäten und entsprechender Räume bezieht sich gerade auf die Flexibilität des Framings durch verschiedene – oder auch durch ein und denselben – Interaktionsteilnehmer, die ihr Verhalten zwar auf den Frame ihres Gegenübers im Allgemeinfall einstellen können, jedoch nicht zwangsläufig müssen. Während Frames vorgegebene und stabile
textualität des Handelns nicht systematisch in diese Betrachtung ein. Damit werden zwei oben eingeführte, für meine Argumentation wichtige Gelegenheiten nicht aufgegriffen: 1) die Verbindung des diskursiven und praktischen Bewusstseins durch die Verknüpfung des Frames eines sozialen Geschehens mit weiteren Interpretationsschemata zu detaillieren; 2) die gesellschaftlichen Räume als tragende Elemente solcher Vorgänge zu sehen.
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Sinnstrukturen sind, ist das Framing als eine erlebende und handelnde Umsetzung von Sinn anforderungsreich, anfällig und riskant (Willems 1996: 443). Wie unten deutlich wird, ist dieser Gedanke für die mich interessierende Frage der verräumlichten (Re-)Produktion kollektiver Identität nützlich. Eine große Bedeutung kommt dabei weniger der Transformation eines Frames, sondern mehr dem Wechsel und der Konkurrenz zwischen verschiedenen primären Frames zu. Die primären Frames geben der wahrzunehmenden Realität eine Gestalt. Das bedeutet, dass es für Menschen keine davor liegende „ungerahmte“ erkennbare, sinnvolle Realität gibt (Goffman 1977a: 31). Sie erkennen, „was hier vorgeht“, und handeln dementsprechend, was in den meisten Fällen als Leistung des praktischen Bewusstseins verläuft: Die richtige Antwort auf die Frage, was hier vorgeht, besteht im richtigen Handeln. Alle sozialen Frames,31 die an Ereignisse unter Beteiligung des orientieren, menschlichen Handelns gerichtet sind, sind auf die eine oder andere Weise mit Regeln verbunden (ebd.: 34). Die Angemessenheit des Handelns bezieht sich auf den Frame eines bestimmten Geschehens inklusive seiner raum-zeitlichen Kontextelemente. Hier ist die Frage der Verankerung des Handelns relevant (ebd.: 274ff.): Wie sind Vorgänge, die sich „innerhalb“ eines Frames abspielen, mit der Alltagswelt mit ihren verschiedenen, u.a. materiellen Facetten verzahnt? Die gerahmten Vorgänge, darunter kollektiv organisierte soziale Aktivitäten, so Goffman, werden vom Fluss der Ereignisse durch bestimmte konventionelle Grenzzeichen abgesetzt, d.h. durch zeitliche und räumliche Klammern (ebd.: 278f.; vgl. ders. 1959). Das Verhältnis der Grenzzeichen zu Vorgängen beschreibt Goffman als paradox, denn sie gehören „weder zum eigentlichen Inhalt der Tätigkeit noch zur Welt außerhalb, sondern sowohl zum Innen wie zum Außen“ (Goffman 1977a: 279).32 Inwieweit dieses Verhältnis tatsächlich paradox ist, bleibt für meine Argumentation
31 Hier und weiter rede ich von „sozialen“ Frames, nicht von „natürlichen“, die rein physikalische Ereignisse zum Gegenstand haben (Goffman 1977a: 31f.). 32 Die für die Frage der Klammern relevante Unterscheidung zwischen „sozialen“ und „inneren“ Ereignissen, wie zwischen einem Philharmonieabend und einem Konzert (Goffman 1977a: 289), scheint mir nicht produktiv zu sein. So wird nämlich eine Hierarchie der Aktivitäten festgelegt, für die keine allgemeine Gültigkeit behauptet werden kann.
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unbedeutend. Wichtig dagegen ist die Annahme, dass die konventionellen Grenzen einer Tätigkeit zu einem weiteren Teil ihres Frames werden (ebd.: 276). Die Rolle des raum-zeitlichen Einklammerns wird umso offensichtlicher, wenn die entsprechende Tätigkeit eher instabil im Hinblick auf ihre Definition ist, beispielsweise beim Umgang von männlichen Ärzten mit den nackten weiblichen Körpern von Patientinnen (ebd.: 282; vgl. Emerson 1970). Diesen Gedanken greife ich im empirischen Teil auf, wenn ich die identitätsfördernde Funktion von Räumen bei solchen Aktivitäten analysiere, deren Interpretation als „linksradikal“ bzw. „politisch“ angreifbar ist und die auch als Unterhaltung charakterisiert werden können. Kurz gefasst werden im Frame eines sozialen Geschehens Handlungsweisen und raum-zeitliche Kontexte verbunden. Auf dieser Verbindung basiert die raumbezogene Reproduktion des angemessenen Handelns im konkreten Fall der Interaktion. Die raum-zeitlichen Kontexte werde ich im Folgenden allerdings nicht wie Goffman mit Orten verbinden, sondern eher relational auffassen, wobei die institutionalisierten Raumordnungen an konkreten und bestimmten Orten realisiert werden. Außerdem bietet das Konzept des Frames eines sozialen Geschehens für meine Forschung eine Möglichkeit, die symbolische Ebene räumlicher Anordnungen als Ressource des Handelns und speziell der Produktion kollektiver Identität im Handeln zu erfassen. Dies basiert darauf, dass in Framing-Prozessen die Interpretationsschemata auf vielfältige Weise miteinander kombiniert werden und die Frames der sozialen Geschehen mit weiteren Frames, auch ideologisch ausgerichteten, verknüpft werden können. So werden beispielsweise für eine Demonstration als soziales Geschehen gewisse Anforderungen an die Zusammensetzung der Teilnehmer, ihre Verhaltensweisen, die Art und Weise der Fortbewegung, die Route, die zeitliche Gestaltung, die musikalische und sonstige Beschallung (Redebeiträge, Sprechchöre), die visuelle Gestaltung (Plakate, Transparente, Fahnen), Interaktionen am Rande (Flugblätter- und Flyerverteilung) und weitere Organisationselemente gestellt, wie es im Kapitel zu symbolischen Räumen der linken Szene gezeigt wird. Diese Elemente werden mit bestimmten, ihrerseits von Frames geprägten politischen Inhalten verbunden, die mit den genannten visuellen und akustischen Mitteln interaktiv in Szene gesetzt werden. Die Vielfalt dieser Elemente trägt dazu bei, dass keine „Demo“ wie die andere ist. Demonstration als soziales Geschehen ist keineswegs ein Monolith, vielmehr haben die Akteure Spielräume und die Macht, sie mit ihrem Handeln zu erschaffen,
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zu gestalten oder auch zu gefährden. Ihr praktisches und diskursives Wissen, das „Wie“ des Demonstrierens, steht ihnen gegebenenfalls als eine Ressource zur Verfügung. Das trifft auch für die eher abstrakt ausgerichteten, ideologischen Frames zu, deren Beteiligung zuerst als eine Besonderheit der linken Szene im Vergleich zum oben angeführten Beispiel der Lads an der Schule angenommen werden kann. Die Verbindung der räumlichen Anordnungen mit den für die Wir-Definition relevanten Interpretationsschemata kann, so die Annahme, eine Leistung von Akteuren bei dem Framing des Handelns sein oder aber von ihnen in Interaktionen zu einer eigenständigen Interpretationsregel entwickelt und stabilisiert werden. Eine Symbolik kann sich durch den Raum unmittelbar an den Körper richten, und zwar nicht nur durch monumentale Gebäude (vgl. Bourdieu 1991a: 28), sondern auch auf eine subtilere und interaktive Art, so wie im Rahmen von Demonstrationen und anderen Aktionen. Auf die identitätsstiftende Rolle solcher Aktionen im Allgemeinen wurde in der Soziologie sozialer Bewegungen schon öfter hingewiesen. Ich will jedoch direkt auf die Konstitution der Räume als relationale Anordnungen blicken, zu denen nicht nur Sachen, sondern auch Menschen gehören. Ich nehme an, dass gerade im Prozess der gemeinsamen Konstitution von Räumen die Individuen unter Einsatz ihres eigenen Körpers auch abstraktere Vorstellungen erlebbar machen. Statt davon auszugehen, dass politische Inhalte in der verräumlichten Form der kollektiven Aktionen zum Ausdruck kommen, folge ich der am Schluss dieses Kapitels im Sinne des Strukturierungsansatzes entwickelten Annahme, dass das Wir-Bewusstsein hier eine räumliche Existenz bekommt und dadurch auf eine besondere Weise produziert wird. Ich möchte noch anmerken, dass die kollektiven Aktionen zwar die offensichtlichsten Anlässe sind, bei denen diese verräumlichte Identitätskonstitution abläuft, jedoch nicht die einzigen. Die kollektive Identität wird in der linken Szene, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, großteils im Alltagsleben produziert. Auch bei anderen Alltagsräumen kann dementsprechend eine genuin räumliche Produktion der Identität vermutet werden – und für solche uneindeutigen bzw. instabilen Situationen eignen sich Goffmans Konzepte des sozialen Geschehens und des Framings besonders gut.
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Fazit Die Begriffe des sozialen Geschehens und des Frames erlauben es, räumliche Anordnungen als die von Akteuren im Prozess des Handelns aktiv genutzten Ressourcen zu begreifen. Sie erfassen die institutionalisierte Verbindung von Praktiken und Handlungsabläufen mit den jeweiligen Kontexten und ergänzen so die oben dargestellte Idee der internen relationalen Organisation des Flusses des Handelns. Die räumlichen und zeitlichen Klammern, die konventionellen Grenzzeichen, ermöglichen nicht nur, die gerahmten Vorgänge zu definieren und abzugrenzen, sondern auch, sie mit der Umwelt zu verzahnen. Die auf die raum-zeitlichen Elemente bezogene Angemessenheit der Handlungsweisen geht in die Regeln ein. Deren raumbezogene Reproduktion verläuft weder automatisch bzw. von Kontexten determiniert noch auf explizierte Regeln orientiert. Stattdessen handelt es sich um einen meist auf praktischem Wissen begründeten Prozess, in dem die Teilnehmer konkurrierende Realitäten und entsprechende Räume in Szene setzen können. Anzumerken ist noch, dass die Grenze zwischen dem praktischen und diskursiven Bewusstsein fließend und in beide Richtungen durchlässig ist. Mit institutionalisierten räumlichen Anordnungen können nämlich weitere Bedeutungen verbunden werden, nicht nur die „Praxisanleitungen“ für konkrete soziale Anlässe bzw. für ihre im Vordergrund stehenden zentralen Tätigkeiten. Das macht die Idee der raum-zeitlichen Kontextualität des Handelns zu einem wertvollen Werkzeug bei der Untersuchung von Prozessen kollektiver Identität in der linken Szene. Das Wir-Bewusstsein wird durch Bewegungsakteure bei der Konstitution der Räume, die großteils im Alltag und im Rahmen verschiedener sozialer Geschehen stattfindet, auf eine besondere Weise produziert. Die angepasste Anwendung von Goffmans Konzepten ermöglicht zudem, die Konstitution der Räume als einen institutionalisierten, aber dennoch fragilen Prozess mit vielen möglichen Ausgängen und Varianten zu denken. Dass diese Denkweise unseren Blick, wie schon oben erwähnt, auf die Frage der Macht lenkt, werde ich im nächsten Schritt zeigen.
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2.4 R ÄUMLICHE O RGANISATION DER P ROZESSE KOLLEKTIVER I DENTITÄT : E IN E NTWURF In diesem letzten Abschnitt des theoretischen Teils werden die bisher eingeführten Konzepte in einen Zusammenhang gebracht und auf diese Weise ein Vorschlag formuliert, wie die Prozesse kollektiver Identität in Bewegungsmilieus – hier in der Berliner linken Szene – unter räumlichen Aspekten betrachtet werden können. Zunächst möchte ich jedoch zeigen, dass es bei dieser Betrachtung u.a. um die Untersuchung von Macht geht, und zwar sowohl um die Macht als Fähigkeit, eine eigene Identität zu formulieren und eigene Räume zu erschaffen als auch um die Fähigkeit, die eigenen räumlichen Konstruktionen gegenüber denen der Anderen durchzusetzen. Machtverhältnisse in Räumen Die Idee der multiplen Räume auf dem gleichen Grund und Boden, die oben eingeführt wurde, ist fest mit der Idee der Machtverhältnisse verbunden (Allen 2003: 159ff.). John Allen bezieht sich bei seinen Überlegungen zu diesem Thema auf das Werk des französischen Autors Henry Lefebvre, vor allem auf die in „The Production of Space“ (Lefebvre 1991, Erstveröffentlichung 1974) gemachte Unterscheidung zwischen den Repräsentationen des Raums (representations of space) und den Räumen der Repräsentation (representational spaces).33 Während die Repräsentationen des Raums einen dominanten, kognitiv entwickelten Raum der Wissenschaftler, Planerinnen etc. bezeichnen (conceived space), beziehen sich die Räume der Repräsentation auf die komplexen symbolischen Räume der Nutzer, die ihre erlebten und gelebten Räume darstellen. Diese Aspekte gehören, zusammen mit der räumlichen Praxis, zur Konstitution des Raums. Obwohl ihre konkrete Beziehung historisch unterschiedlich ausfällt (ebd.: 46), sind ihr Herrschaft und Spannung immanent.34 Die Räume der Repräsentation mit ihren Symbolen und Bildern sind dominiert und verborgen, gleichzeitig
33 Als dritten Aspekt der Raumproduktion nennt Lefebvre (1991: 33, 38f.) die räumliche Praxis (spatial practices). 34 Dieser Aspekt wurde vermutlich von Lefebvres Verhältnis zu den Situationisten beeinflusst (vgl. Kofman/Lebas 1996: 11).
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tragen sie ein Widerstandspotenzial, die vorherrschenden gedachten Räume zu unterlaufen. Allen entwickelt darauf bezogen eigene Gedanken zu Machtverhältnissen und Räumen, die mit dem Beispiel der Londoner City illustriert wird. Die City wird für gewöhnlich als ein Raum der Finanzwelt gesehen, der von schnellen, geschäftigen Bewegungen und Aktivitäten der Broker und Finanzanalytikerinnen, nicht nur innerhalb von Gebäuden, sondern auch auf der Straße geprägt ist. Die Banker prägen diesen Raum, agieren aber inmitten von anderen Gruppen, deren Anwesenheit sie maskieren. Sie trennt soziale Distanz, aber nicht physische Entfernung (Allen 2003: 162). Diese anderen Gruppen, vor allem verschiedene Servicekräfte, befinden sich in der City zahlreich und alltäglich, und trotzdem werden sie routinemäßig aus der Wahrnehmung und Erinnerung verdrängt. Diese Verdrängung wird durch die räumliche Annäherung nicht ausgeglichen, sondern bildet eher eine Reaktion darauf. „Tatsächlich steht einem nichts ferner und ist nichts weniger tolerierbar als Menschen, die sozial fern stehen, aber mit denen man in räumlichen Kontakt kommt.“ (Bourdieu 1991a: 32) Die räumliche Exklusion hat in diesem Fall, so Allen, nicht mit geschlossenen Türen oder – wie bei gated communities als einem Fall der extremen Wohnsegregation – mit abgeriegelten homogenen Stadtbereichen zu tun. Sie bezieht sich vielmehr auf die Darstellung von Räumen als homogen, auf die Fähigkeit, andere Gruppen, die in diesem Raum für gewöhnlich da sind, aus der Wahrnehmung verschwinden zu lassen.35 Die Macht der Bankerinnen wird bezogen auf die City räumlich als Fähigkeit verwirklicht, den Eindruck „ihrer“, d.h. homogener Räume der Finanzwelt entstehen zu lassen (Allen 2003: 164). Monumentale Räume der Finanzwelt lassen Gefühle der Zugehörigkeit entstehen, und das weniger durch die physikalische Qualitäten massiver Bankgebäude oder durch solche Gegensätze wie Innen/Außen. Der Raum wird eher dadurch bestimmt, was hier stattfinden darf bzw. nicht darf (vgl. Lefebvre 1991: 220ff.). Inklusion und Exklusion haben in diesem Fall nicht mit geschlossenen Türen, sondern mit dem Anerkennen nur bestimmter Gruppen als anwesend und dazugehörig zu tun (Allen 2003: 163).
35 Hier wird eine Diskrepanz zwischen dem Spacing und der Synthese deutlich. Die sich körperlich platzierenden Servicekräfte werden aus der räumlichen Synthesen anderer Akteure ausgeschlossen.
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Allerdings können sich auch die „ausgeschlossenen“ Anwesenden ihre eigenen Räume innerhalb der vorherrschenden Raumordnung aneignen. Servicekräfte können innerhalb von repräsentativen Gebäuden ihre eigenen Räume haben, in denen sie Radio hören oder sich ungezwungen unterhalten können. Das zum Lächeln auffordernde Smiley auf der Küchentür eines Fünf-Sterne-Hotels ist nur an diejenigen gerichtet, die die Küche Richtung Gästeräume verlassen – nicht an diejenigen, die in die dem Personal vorbehaltene Küche zurückkommen. Die Macht der abstrakten Räume, die Differenz zu überdecken, ist nie völlig effektiv (Allen 2003: 164; vgl. Lefebvre 1991: 382). So wird der gleiche Grund und Boden zur Arena verschiedener, von Machtverhältnissen und Widersprüchen geprägter Räume: „The idea of spatial contradictions, where the manner in which space is routinely used by one social group may actually subvert or disrupt the dominant or controlling rhythm, […] conveys the sense in which the same place may actually play host to a variety of cross-cutting social spaces.“ (Allen 2003: 161)
Als Kritik an Lefebvre betont Allen (2003: 168ff.), dass nicht nur Herrschaft, sondern auch andere Varianten der Machtverhältnisse in sozialen Räumen wirksam werden. So wird in und durch die Räume der City nicht nur Herrschaft und als Gegenpart Widerstand ausgeübt, sondern auch eine verlockende Vision der atemberaubenden Mobilität von Geldern und Menschen als ein Sinnbild der Moderne angeboten. Die multiplen Varianten der Macht sind hier nicht als vorgeformte Vorlagen zu verstehen, die sich auf der Erdoberfläche niederschlagen und Behältnisse für soziale Gruppen bilden (ebd.: 171). Die vielfältigen Machtverhältnisse gehen stattdessen auf die Beschaffenheit der Orte selbst zurück, wie sie durch Praktiken und Rhythmen verschiedener, sie bevölkernder Gruppen konstituiert werden: „[I]t is from the specific relational ties, the interplay of forces that lie behind the comings and goings of those present, that power takes its diverse modal expressions.“ (ebd.: 172) Diese Verhältnisse sind auch durch physikalisch abwesende bzw. auf Distanz wirkende Akteure und Institutionen beeinflusst (ebd.: 180f.). Es „deutet alles darauf hin, daß das Wesentliche des vor Ort zu Erlebenden und zu Sehenden, d. h. die erstaunlichsten Einblicke und überraschendsten Erfahrungen, ihren Kern ganz woanders haben“ (Bourdieu 1997a: 159). Unter Bezugnahme auf Giddens (1997) kann man diese strukturalistische Aussage etwas abschwächen, denn die vor Ort
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erkennbaren Strukturen konstituieren sich nicht nur an diesem konkreten Ort. Die verräumlichten Machtverhältnisse oder, was mich mehr interessiert, die machterfüllten Räume an einem Ort können vielfältig sein, sind jedoch nicht omnipräsent (vgl. Allen 2003: 178f.). In diesem Punkt stimme ich John Allen zu. Ich gehe jedoch davon aus, dass diese nicht nur an solchen eher offensichtlichen Orten der Macht wie der Londoner City zu finden sind, an denen Allen sie sucht. Die Idee der räumlichen Machtverhältnisse, auch im Sinne der Dominanz von gruppenspezifischen Räumen, ist m.E. nicht nur für solche extremen Fälle potenziell fruchtbar. Um sie darüber hinaus produktiv einzusetzen, muss man sich zuerst vom Bild des kapitalistisch-staatlich kolonialisierten Alltags, so wie Lefebvre es nutzt (vgl. Löw et al. 2007: 52), als Ausgangspunkt der Überlegungen lösen bzw. es um die Vorstellung der Pluralität der verräumlichten Konflikte und Machtverhältnisse in modernen Gesellschaften ergänzen. Die Szenen der Konflikte und der Macht liegen vielleicht nicht überall und zu jeder Zeit vor, sind jedoch an verschiedenen Orten und im Rahmen verschiedener Räume zu finden. Mit dieser Art von Szenen der Macht beschäftigt sich die vorliegende Studie, unabhängig davon, ob es sich um alltägliche oder weniger alltägliche Auseinandersetzungen handelt, die z.B. an der Straßenecke vor einer Szenekneipe, bei einer Demonstration oder bei einer polizeilichen Räumung stattfinden. Statt von der Aneignung des Raums zu sprechen, schlage ich im Einklang mit dem oben vorgestellten gesellschaftlichen Raumkonzept vor, von der Fähigkeit zur Konstitution eigener Räume zu reden. Diese Fähigkeit ist nicht selbstverständlich und hat auf verschiedene Art und Weise mit Macht zu tun. Macht soll dabei nicht alleine auf den Zwang reduziert werden; sie ist „ganz entschieden Ermöglichung und Zwang zugleich“ (Giddens 1997: 229). Die Macht ist der Fähigkeit zu handeln, einen Unterschied in der Welt herzustellen, immanent. Das schließt die Beeinflussung der von anderen Akteuren entfalteten Kräfte mit ein (ebd.: 65ff.). Macht im Sinne des umgestaltenden Vermögens ist logisch der Subjektivität, der reflexiven Steuerung des Verhaltens, vorausgesetzt. Die Konstitution der kollektiven Subjektivität in Identitätsprozessen kann, so nehme ich an, in Hinblick auf die Macht betrachtet werden. Eigene Räume, auf deren Verbindung mit Macht ich später eingehe, können hierbei Räume nach eigenen Vorstellungen sein, die dabei mehr oder weniger parallele Existenzen verschiedener Gruppen erlauben (im
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Sinne der urbanen Pluralität), oder auch die Räume, aus denen die anderen Gruppen hinausgedrängt oder in denen sie auf eine unvorteilhafte Weise integriert werden. Wie bereits erwähnt, hat Martina Löw (2001: 231) gezeigt, wie ein Konflikt zwischen männlichen Schülern und der Lehrerschaft um die Raumkonstitution an einer Schule ausgetragen wurde. Während die Schüler durch das In-Bewegung-Bleiben versuchten, ihren Straßenraum auch in der Schule aufzubauen, versuchte die Lehrerschaft dagegen, die spezifische räumliche Anordnung der Institution Schule durchzusetzen. Dazu sollen die sich als subkulturelle Akteure gebenden Lads in den Schulräumen anwesend sein und sich als die einer strengen Verhaltensordnung und mehrfachen Hierarchien unterworfenen Schüler verhalten. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es essentiell sein kann, die eigenen Räume anstelle der Räume von anderen durchzusetzen. Die Räume verschiedener Gruppen sind nicht immer (vielleicht sogar nur ausnahmsweise) wirkliche Parallelräume, die sich kaum berühren. Die jeweiligen Anderen können in die eigene Raumkonstruktion einer Gruppe in bestimmten Positionen, die nicht immer zu ihrem lang- oder kurzfristigen Vorteil sind, ihnen gefallen oder von ihnen aktiv aufgesucht werden, mit einbezogen werden. Gerade das ist dennoch für Macht als Verhältnis charakteristisch (die wiederum nicht auf Zwang reduziert werden sollte). Es soll nicht der Eindruck entstehen, es gehe nur um eine Konkurrenz der Gruppen um die Konstruktion ausschließlich ihnen vorbehaltener Räume mittels territorialer Exklusion. Aus den bisherigen Ausführungen sollte klar geworden sein, dass auch da, wo keine „Behälter“ im Sinne abgeriegelter Territorien vorzufinden sind,36 Macht im Sinne des Herrschafts- oder
36 Zudem sind auch geschlossene gated communities im Endeffekt nicht hermetisch abgeriegelt und nicht ganz in Bezug auf die zugelassenen Gruppen und deren Verhaltensnormen homogenisiert (vgl. Allen 2003: 173). Ein noch besseres Beispiel sind große Einkaufszentren, wo von den Verhaltensstilen der Besucher bis zur Lufttemperatur Vieles kontrolliert wird, so dass sie schon oft im Zuge der Diskussion über den untergehenden öffentlichen Raum kritisiert wurden (vgl. Rada 1997: 107ff.). Diese „Konsumtempel“ leben jedoch davon, dass viele Leute dort hingehen und auf vielfältige Weise konsumieren. Weiterhin bilden sich in angeblich unifizierten Shoppingmalls lokal durchaus unterschiedliche Verhaltensmuster aus, z.B. die von „abhängenden“, aber nicht konsumierenden Cliquen Jugendlicher.
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Autoritätsverhältnisses im Spiel sein kann. Das Behälter-Raum-Konzept sollte daher als eine mögliche Wunschvorstellung der Akteure ein Gegenstand der Forschung sein, bietet jedoch keine zentrale analytische Orientierung. So bezieht sich die Überschrift dieses Abschnitts – „Machtverhältnisse in Räumen“ – nicht auf die Macht als „Ding“, das sich in einem Raum „drin“ befindet, sondern auf Auseinandersetzungen und Machtverhältnisse als Aspekte der Raumkonstitution. Den sozialen Beziehungen, in denen Räume konstituiert werden, sind Machtverhältnisse und Sinnkonstruktionen inhärent. Deswegen müssen auch Räume als von Macht und Sinn geprägt betrachtet werden (Massey 1994: 3). In der folgenden Argumentation sollen Raum, Macht und Sinngebung zusammen gebracht werden. Das ist speziell für die Untersuchung von Prozessen der kollektiven Sinnkonstitution (also auch von Prozessen der kollektiven Identität) in der linken Szene von Bedeutung, deren politisches Handeln wesentlich auf die „kognitive Subversion“ (Bourdieu 1990: 104) gerichtet ist. Symbolische Macht durch den Raum Bei der Durchsetzung einer räumlichen Anordnung geht es stets um die Durchsetzung einer bestimmten Ordnung, bestimmter Normen des Verhaltens – was ist hier (und jetzt) möglich. Es handelt sich nicht nur um die Machtspiele „hier und jetzt“ (statt „dort und dann“), sondern auch darum, dass die einer Antwort auf die Frage „Was geht hier vor?“ entsprechende Definition des Hier-und-Jetzt einen Gegenstand der Machtverhältnisse bildet. Detailliert bin ich auf die Konstruktion räumlicher Ordnungen als eines grundlegenden Teils der sozial wirksamen Realität im Unterkapitel zur „Kontextualität des Handelns“ eingegangen. Ich gehe davon aus, dass die räumliche Macht notwendigerweise einen symbolischen Aspekt hat – im Sinne der räumlich realisierten symbolischen Macht, wie Bourdieu sie versteht. Die Hierarchieverhältnisse werden in Räumen objektiviert und durch den damit einhergehenden Naturalisierungseffekt verschleiert. Sie werden zu quasi-objektiven („natürlichen“) Strukturen der Wahrnehmung und Beurteilung (Bourdieu 1991a: 26ff.). Bourdieu konzentriert sich in Bezug auf Räume vor allem auf die fortwährende Reproduktion der Ungleichheit wie z.B. in den französischen Banlieus (Bourdieu 1997a). Allerdings ist es, wie Schroer (2006b: 120f.) anmerkt, nicht festgelegt, dass sich das Soziale so direkt im angeeigneten
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physischen Raum niederschlägt wie von Bourdieu angenommen. Die relationale Platzierung von Phänomenen innerhalb des Raums als dynamische, gleichzeitige Anordnung kann neue soziale Effekte hervorrufen. Die räumliche Organisation der Gesellschaft ist nicht nur ein Produkt des sozialen Lebens, sondern auch ein unerlässliches Element seiner Produktion (Massey 1994: 4). Ich möchte vor allem betonen, dass hierarchische Verhältnisse nicht im Raum stehen bleiben. Sie können vor Ort geändert und umkämpft werden. „Spaces are contested precisely because they concretize the fundamental and recurring, but otherwise unexamined, ideological and social frameworks that structure practice.“ (Low/Lawrence-Zuniga 2003: 18) Symbolische Macht in den Räumen ist weder ein Ding noch ein Zustand, sondern ein Verhältnis und eine Fähigkeit, die immer wieder erneut von Akteuren auf die eine oder andere Weise unter Rückgriff auf Strukturen und in Interaktionen produziert wird. Für die Untersuchung der Identitätsprozesse ist besonders relevant, dass die Vorstellungen der Akteure von der Gesellschaft und der eigenen Position in ihr das raumkonstituierende Handeln und die symbolischen Räume prägen. Die eigenen mentalen Strukturen und Präferenzsysteme werden in die „Objektivität“ räumlicher Strukturen eingeschrieben und lassen die Bewegung so vom Naturalisierungseffekt profitieren (vgl. Bourdieu 1991a). So werden sie auch anderen Gruppen an jeweiligen Orten angeboten bzw. aufgedrängt, denn auch sie können bzw. müssen in ihren Raumkonstitutionen damit auf die eine oder andere Weise umgehen (oder werden in die fremdbestimmten Räume integriert bzw. von diesen zurückgedrängt). Ein spontanes Camp im Berliner Lustgarten, errichtet aus Protest gegen die gewaltsame Räumung des antirassistischen Grenzcamps in Köln im Sommer 2003, nutzte beispielsweise eine Stätte des inszenierten PreußenRevivals zwischen Berliner Dom und Altem Museum, eine touristische Attraktion der „neuen alten deutschen Hauptstadt“, um eine gegen Rassismus und polizeiliche Repression gerichtete Politik in Szene zu setzen. Die dort errichteten Zelte waren nicht zum Wohnen gedacht; trotzdem deuteten sie durch ihre symbolische Wirkung, zusammen mit Transparenten (wie „No border No nation // Stop Deportation“ oder „Gegen Staatsgewalt“), die Wiese um. Diese Nutzung des Ortes war weder sanktioniert noch überhaupt als möglich vorgesehen, und die Akteure rechneten am Anfang mit einer schnellen (und möglicherweise brutalen) Räumung. Sie blieb jedoch aus. Die Menschen saßen in Gruppen, diskutierten, erzählten einander von Er-
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eignissen in Köln, bewegten sich zwischen den Grüppchen, neue Leute kamen dazu, manche gingen, eine Gruppe bereitete Essen zu und Flugblätter wurden an die Passantinnen verteilt. Der im Lustgarten rekonstruierte Raum eines Protestcamps vereinte mehrere inhaltliche Dimensionen der Identität (Antirassismus und Antirepressionsarbeit, Spontaneität und Illegalität des Handelns), und gerade die Raumkonstruktion funktionierte als kollektives politisches Handeln. Der Protestraum überlagerte den tagsüber gewöhnlich der touristischen Unterhaltung vorbehaltenen Raum – einen Raum von Menschen, die sich in größeren Gruppen relativ schnell, einer Reiseführerin folgend, zwischen preußischen Monumenten fortbewegen und nur selten bzw. nur in kleinen Grüppchen ohne Interaktion über deren Grenzen hinaus im Lustgarten verweilen. Eine unangemeldete Demonstration vom Alexanderplatz entlang der Karl-Liebknecht-Straße zum ausgemachten Camp-Ort, dem Lustgarten, blockierte für eine Weile den sonst regen Autoverkehr und zwang die Autofahrer, ihre Fahrt anzuhalten oder eine andere Strecke zu nehmen. Die Macht in den Räumen wird jedoch nicht nur als Macht „über“ die räumliche Konstitution der Anderen bzw. deren Integration in eigene Räume, sondern auch als produktive Macht, als Fähigkeit zur Produktion eigener Räume und dadurch zur raumbezogener Identitätskonstruktion realisiert. Auch dies wurde am Beispiel des Protestcamps im Lustgarten deutlich. Auf diesen Aspekt der Macht in Räumen weist wiederum Allen (2003) hin. Er schlägt vor, sich auf Hannah Arendts Überlegungen zum öffentlichen Raum bzw. zum politischen Handeln zu orientieren (Arendt 1992). Die Macht geht für Arendt auf zielgerichtetes gemeinsames Handeln zurück und existiert, solange dieses Handeln existiert. Der öffentliche Raum ist hier nicht topologisch gemeint, sondern entsteht dort, wo und wann auch immer Menschen eine Öffentlichkeit schaffen und eine gemeinsame Diskussion in Netzwerken zum Erreichen eines gemeinsamen Ziels führen. Ich sehe keinen Sinn darin, meine Forschung direkt an Arendts Überlegungen zum politischen Handeln auszurichten. Die Soziologie sozialer Bewegungen bietet hierfür empirisch besser umsetzbare Konzepte. Den Gedanken der produktiven Macht des kollektiven Handelns, das sich gegebenenfalls auch in der Konstitution der Räume realisiert, möchte ich jedoch als Hintergrund meiner Forschung benutzen. Dementsprechend soll die Untersuchung der Raumkonstitution im Fall der radikalen Linken nicht von der Logik kapitalistisch-staatliche Herrschaft versus antikapitalistischer, anti-
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staatlicher Widerstand bestimmt werden. Die antikapitalistische und antistaatliche Ausrichtung bildet den Inhalt von Prozessen kollektiver Identität (und zwar nicht den einzigen), liefert aber noch nicht ihre adäquate Beschreibung. Räume des Widerstandes sollen nicht als „jenseits“ der Macht, der Herrschaft und der Hegemonie liegend betrachtet werden, sondern als vielschichtiges Zusammenspiel aller Aspekte (Moore 1997: 92). Es handelt sich dabei nicht um gegen die Auswirkungen der Herrschaftsverhältnisse schützende Behälter (auch wenn sie von Akteuren, wie die Analyse der Freiräume-Diskurse in Kapitel 6 zeigt, zum Teil so imaginiert werden). Stattdessen werde ich sie im analytischen Kontext des kollektiven Handelns und der Prozesse kollektiver Identität untersuchen. Das Erreichen der Subjektivität im Rahmen eines kollektiven Handlungszusammenhangs kann, wenn die emotional und kognitiv geteilte Definition eines kollektiven Akteurs von Individuen und Gruppen in einem Netz sozialer Beziehungen produziert wird und gemeinsames Handeln ermöglicht, als produktive Macht, als umgestaltendes Vermögen angesehen werden. Macht, Raum und Identität befinden sich, so Massey (1995: 284f.), im Verhältnis der gegenseitigen Konstruktion – Menschen produzieren ihre Räume in Prozessen der Konstruktion ihrer verschiedenen Identitäten (vgl. McDowell 1997: 2). Ich werde mich allerdings nicht mit Räumen der vielfältigen individuellen Identitäten befassen, sondern mit der verräumlichten Konstruktion eines Gefüges verwandter Wir-Identitäten mit dem gemeinsamen Orientierungspol „radikale Linke“ in einem Bewegungsmilieu. In Bezug darauf wird die These formuliert: Die produktive Macht, eine Gruppenidentität, ein „Wir“ zu erschaffen, wird mitunter als eine Fähigkeit zur Konstitution eigener Räume realisiert. Einen genaueren Entwurf zur Verbindung der Identitätsprozesse und Konstitution von Räumen biete ich im nächsten Abschnitt an. Verdichtung der Theoriediskussion um Identität und Räume: Ein Entwurf Als Abschluss der theoretischen Überlegungen sollen die bisher dargestellten Konzepte in einen Zusammenhang gebracht werden. Die Prozesse kollektiver Identität, so die Grundannahme, finden im Bewegungsnetzwerk der linken Szene zu einem großen Teil im Alltagsleben statt. Das Alltagshandeln, so die zweite Annahme, ist u.a. raumkonstituierend und wird von Akteuren wiederum unter Rückgriff auf institutionalisierte Räume und
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räumliche Strukturen vollzogen. Folglich wurde die Forschungsfrage formuliert, wie die Produktion und Kontinuität kollektiver Identität durch den Bezug der Konstruktionstätigkeiten auf die Räume erreicht wird. Bisher wurde diese Forschungsrichtung in der Bewegungsforschung vernachlässigt. Nachdem einige Konzepte zur Raumthematik allgemein diskutiert wurden, möchte ich diese Frage nun detaillierter behandeln. Die kollektive Identität wird, in Anlehnung an Melucci (1996), als geteilte Wir-Definition verstanden, die von mehreren Individuen oder Gruppen interaktiv produziert wird und die Ziele und Formen des gemeinsamen Handelns sowie das Feld von potenziellen Gelegenheiten und Beschränkungen, unter denen es stattfinden soll, betrifft. Sie schließt u.a. die Vorstellungen von der Wir-Gruppe (der linksradikalen Bewegung bzw. der linken Szene) sowie von Eigenschaften und Verhaltensweisen ihrer Mitglieder (den Linken) ein, die in Abgrenzung zu Antagonisten (staatlichen Organen, „Yuppies“ etc.) oder dem Publikum (bürgerliche Medien) definiert werden. Diese Definition hat für Akteure nicht nur eine kognitive, sondern auch eine emotionale Bedeutung und wirkt sich auf ihr Handeln aus. Der Prozess der Identitätskonstruktion wird als Prozess kollektiver Identität bezeichnet. Da es bei Prozessen kollektiver Identität um die Produktion des Sinns geht, rückt die symbolische Komponente der Räume zuerst in den Vordergrund. Dazu gehören Zeichen und Symbole, die den Raumelementen und den räumlichen Anordnungen zugeschrieben, von Menschen wahrgenommen und als Handlungsressourcen genutzt werden. Räume haben sowohl kognitive als auch emotionale Konnotationen. Auch die Synthese von Elementen (Objekten und Menschen) zu räumlichen Anordnungen ist in erster Linie eine symbolische Leistung, welche über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse abläuft, auch wenn sie im Alltag von der Tätigkeit des Positionierens, u.a. Sich-Positionierens gegenüber anderen, nicht empirisch zu trennen ist (Löw 2001). Die Rolle der symbolischen Raumkonstitution darf allerdings nicht überschätzt werden. So warnte Henri Lefebvre (1991) vor dem „Fetischismus der Worte“, der Illusion, der soziale Raum sei eine bloße Verkörperung der Gedanken und als solcher zu untersuchen. Wie oben erwähnt werden die den einzelnen Elementen symbolischer Anordnungen zugeschriebenen Bedeutungen, z.B. als „männlich“ im Gegensatz zu „weiblich“ identifizierte Hausbereiche, erst in mit ihnen verbundenen Praktiken wirksam (Bourdieu 1979). Man kann auch sagen,
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dass die Bedeutsamkeit räumlicher Vorstellungen je nachdem, inwieweit sie in den Prozess der Strukturierung sozialer Systeme (hier: der Strukturierung der linken Szene) integriert werden, variiert. Sie gehen in die räumlichen Strukturen ein, d.h. in Regeln und Ressourcen, welche die Konstitution von Räumen (Positionierungen und Synthese) absichern und rekursiv in Institutionen eingelagert sind. Solange dieser Umstand nicht aus dem Blick gerät, kann man durchaus betonen, dass die räumlichen symbolischen Elemente einen Teil der Vorstellungen der Szene von der sozialen Welt und ihrer eigenen Rolle darin ausmachen. Dementsprechend können wir eine Überschneidung der geteilten und interaktiven Definition der linken Szene – ihre kollektive Identität – und ihrer symbolischen Räume annehmen. Einzelne Raumelemente und ihre Zusammenhänge werden mit Bedeutungen beladen, die die Gruppe, ihre Zielsetzungen, Formen des kollektiven Handelns und Kontextelemente definieren. Zu beachten ist, dass die Bedeutungen nicht unmittelbar in physische Räume und Objekte eingebracht werden, sondern in Diskursen der Szene mit diesen verbunden und von den Akteuren im konkreten Fall aktualisiert werden. Die kollektive Identität in der linken Szene ist relational aufgebaut. Zentral für sie ist die Vorstellung der radikalen Opposition zur kapitalistischen gesellschaftlichen Ordnung und zu ihren so genannten Profiteuren, unter denen von Szeneakteuren der Staat und der Repressionsapparat, Konzerne, wirtschaftliche und politische Eliten, deutsche Nationalisten, Militaristen, Konservative – kurz, „die Herrschenden“ – verstanden werden. Im Rahmen einzelner Mobilisierungskampagnen und verschiedener Szenesegmente werden, wie schon im ersten Kapitel angedeutet, konkrete Themen angesprochen, wie soziale Proteste, Antisexismus, Freiräume, AntiAtom etc. So entstehen verschiedene Schichten der Identifikation, die miteinander kombiniert werden und manchmal zu einer eigenständigen Ausrichtung verschmelzen können, etwa wenn der Antifaschismus und die allgemeine antikapitalistisch-revolutionäre Position einen „revolutionären Antifaschismus“ bilden. Diesem in diagnostischen Frames formulierten problematischen Zustand der Gesellschaft werden eigene Gesellschaftsund Lebensentwürfe explizit entgegengesetzt: die Ablehnung des „Konsumterrors“ und der bürgerlichen Lebensweise, das unentlohnte politische Engagement, kollektives Arbeiten und Wohnen, als herrschaftsfrei bzw. herrschaftskritisch gedachte Lebens- und Organisationsformen etc.
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Diese relationalen Inhalte kollektiver Identität, die in entsprechenden Interpretationsrahmen festgehalten sind, werden, so die Annahme, mit konkreten räumlichen Elementen und ihren Anordnungen verbunden. Räume werden demnach u.a. in den symbolischen Identitätsprozessen produziert. Der relationale Charakter der Räume bezieht sich nicht nur auf das gleichzeitige Nebeneinander ihrer physischen, nicht aufeinander reduzierbaren Elemente, sondern dieses Nebeneinander geht teilweise auf die relationalen Vorstellungen kollektiver Identität der linken Szene zurück. So werden beispielsweise bestimmte städtische Räume, etwa einzelne Straßenzüge, mit der „Häuserszene“, mit Hausprojekten, mit einer antibürgerlich interpretierten Lebensweise und Ästhetik, mit dem Freiraum-Gedanken, mit Konflikten mit Nazis oder der Polizei usw. verknüpft. Genauer ausgedrückt: Die einzelnen Objekte und Bedeutungen werden zu solchen Räumen erst synthetisiert. Die „Naturalisierung“ symbolischer Ordnungen, der oben erwähnte Umstand also, dass diese sich gerade durch die räumliche Sichtbarkeit dem kritischen Blick entziehen, ist auch für die Räume der Szene anzunehmen. Da das Streben nach der Reflexion des Alltagslebens und nach der Bekämpfung seiner hierarchischen Strukturen einen Teil der Identität ausmacht, stellt sich die Frage, wie das Verhältnis zwischen dem diskursiven und praktischen Bewusstsein in diesem konkreten Fall funktioniert. Auf der Ebene der Kontextualität des Handelns kann die symbolische Komponente mit dem Begriff des Frames eines sozialen Geschehens erfasst werden. Nicht für die einzelnen Handlungen bzw. Interaktionen, sondern für den breiteren, sinngebenden Bezugsrahmen eines Geschehens gelten die raum-zeitlichen Kontexte. Sie werden von Akteuren nicht bloß genutzt, sondern entsprechend räumlicher Strukturen mobilisiert und letztlich reproduziert und transformiert. Der Frame eines sozialen Geschehens wie z.B. der Demonstration oder des Abends in einer Szenekneipe kann – so eine weitere Annahme – mit anderen Interpretationsschemata verknüpft werden, die die kollektive Identität der Szene ausmachen. So wird beispielsweise in einem „Antifa-Café“ das Geld für die politische Arbeit im In- oder Ausland oder für Anwaltskosten für die von staatlicher Repression Betroffenen gesammelt, z.B. durch eine gemeinschaftlich zubereitete „Vokü“,37 die für
37 Die „Vokü“ bzw. „Volxküche“/„Volksküche“ wird im Kapitel „Szeneläden als Ressourcen kollektiver Identität“ beschrieben.
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einen Unkostenbeitrag verkauft wird, so dass kein Mensch ausgeschlossen werden soll. Dabei geht es nicht nur um konkrete Szenekneipen, sondern um die institutionelle raum-zeitliche Anordnung eines Abends in der LinkeSzene-Kneipe, die an verschiedenen konkreten Orten realisiert wird. Für die Szenen ist die kommunikative Produktion und Aufrechterhaltung kollektiver Identität an typischen Treffpunkten und zu typischen Zeiten zentral, da sie eine gewisse Labilität der Szene kompensiert. Diese „typische Orte und typische Zeiten“-These von Hitzler et al. (2001) kann m.E. dahingehend geändert werden, dass es sich um typische soziale Geschehen mit einem großen Interaktionspotenzial handelt. Sie spielen in Prozessen kollektiver Identität eine organisierende Rolle, in ihnen werden die gemeinsamen Denk- und Verhaltensmuster gelebt und interaktiv stabilisiert bzw. transformiert. Die institutionalisierten Räume werden, so meine Annahme, in diese Prozesse miteinbezogen. Es geht nicht um Kontexte als Behälter bzw. Umstände, in denen „drin“ das Handeln und die Interaktionen stattfinden; vielmehr werden sie von Akteuren aktiv und konkurrierend in Prozesse der Sinnkonstitution einbezogen. Dieser Prozess verläuft weder von räumlichen noch von anderen Strukturen determiniert. Diese sollen im Sinne der Strukturierungstheorie dem Handeln nicht entgegengesetzt, sondern davon lediglich analytisch differenziert werden. Dementsprechend möchte ich die zentrale Frage dieser Studie in Begriffen des Strukturierungsansatzes, vor allem nach Giddens, formulieren. Erstens kann der Prozess der Identität im Einklang mit der Theorie von Melucci im Sinne der Strukturierungstheorie gedacht werden: Kollektive Identität schließt u.a. symbolische Strukturen ein, die in das Handeln eingeschrieben sind und rekursiv reproduziert werden. So können wir von einer Dualität der Identität reden. Kollektive Identität ist ein Zusammenhang bestimmter Sinnstrukturen der Szene (die Szene selbst stellt keine Struktur, sondern ein soziales System dar). Der Prozess der Identität kann als ein Strukturierungsprozess interpretiert werden. Zweitens gehe ich unter Bezugnahme auf Löw von der Existenz räumlicher Strukturen aus. Es gibt räumliche Strukturen – also Regeln und Ressourcen – der Szene bzw. solche, die im sozialen System der Szene wirksam sind. Das bedeutet, dass sie das Handeln strukturieren und während der Konstitution von Räumen durch das Handeln reproduziert und transformiert werden. Sowohl identitäre als auch räumliche Strukturen der Szene sind rekursiv mit dem Prozess bzw. dem Fluss des Alltagshandelns verbunden. Das be-
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deutet, dass es sich um unterschiedliche analytische Aspekte des Handelns, nicht um voneinander empirisch abgegrenzte Handlungsmengen handelt. Ein Beispiel: Eine Szenekneipe kann als ein „verlängertes Wohnzimmer“ eines bestimmten Szenesegments funktionieren und charakterisiert werden. Wir treffen auf eine bestimmte Ausprägung der Struktur Öffentlich versus Privat in einem öffentlich zugänglichen Raum, dessen Zugänglichkeit jedoch sanktioniert wird. Eine persönliche Bekanntschaft mit Anwesenden oder eine Einladung sind nicht unbedingt nötig, wie bei einem „echten“ Wohnzimmer, dafür aber ein gewisses Authentizitätsdisplay. Welche Komponente dieses Display aufweist, gehört wiederum zur Definition der Gruppe, d.h. der Identität, und speziell zum Prototyp eines Szenemitglieds. Dieser öffentliche Raum ist gruppenspezifisch. Räumliche Strukturen strukturieren (rekursiv) das Handeln, in dem auch identitäre Strukturen rekursiv (re-)produziert werden. Deswegen stelle ich die Frage, wie die Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene räumlich organisiert sind. Ich rede von der räumlichen Organisation und nicht von der räumlichen Strukturierung, um den nebulösen Ausdruck „Strukturierung der Strukturierung“ zu vermeiden. Dieser ist zudem auch irreführend, denn es handelt sich bei der räumlichen und identitären Strukturierung nicht um getrennte Prozesse, sondern um analytisch getrennte Aspekte der Strukturierung des sozialen Systems der Szene. Der Begriff der Organisation, wie er hier und weiter verwendet wird, soll auf einen räumlich geordneten Charakter der Strukturierung hinweisen (und nicht auf die Organisation als ein Typ des Kollektivs). Ich gehe auch nicht davon aus, dass sich die Räume als Subjekte organisieren. Das Handeln ist den Menschen vorbehalten, nicht den Räumen. Die Räume sind selbst ein Produkt des Handelns von Akteuren in sozialen Beziehungen, genauso wie die räumlichen Strukturen und die kollektiven Identitäten. Sie alle sind dennoch keine statischen Abbilder sozialer Beziehungen, sondern entwickeln eigene, nicht determinierte Effekte auf das Handeln.
3. Feldforschung
Bei der Konstruktion einer geteilten Wir-Definition geht es um die Herausbildung, Aufrechterhaltung und Transformation von Interpretationsschemata, die Ziele, Mittel und Kontext des kollektiven Handelns betreffen. Es handelt sich also einerseits um diskursive Prozesse. Andererseits haben sie einen deutlich interaktiven Charakter und sind auf die intensive Kommunikation in einem Bewegungsmilieu angewiesen. Die geteilten Handlungs-, Denk- und Erlebensmuster werden von Angehörigen der linken Szene in ihrem Alltag ausgehandelt und stabilisiert. Zudem hat die Konstitution und Reproduktion eines „Wir“ eine emotionale Komponente. Folglich können die Prozesse kollektiver Identität nicht ausschließlich mit Mitteln der Diskursanalyse adäquat erfasst werden. Wie schon im ersten Kapitel angemerkt, gehe ich davon aus, dass das analytische Potenzial des Szenekonzepts erst ausgereizt wird, wenn die für diese Vergemeinschaftungsform typischen Mechanismen der Identitätsproduktion im Alltag untersucht werden, und zwar unter der Berücksichtigung der räumlichen Anordnungen. Nicht nur die symbolische, sondern auch die materielle und die praktischinstitutionelle Dimension der Räume sollen hierbei beachtet werden. Ausgehend von diesen Überlegungen wurden in der Feldforschung mehrere Methoden kombiniert. Lebensweltliche Ethnografie Bei der Feldforschung orientierte ich mich u.a. an dem Konzept der soziologischen Lebensweltanalyse mittels der lebensweltlichen Ethnografie, die von Anne Honer in der phänomenologischen Tradition entwickelt wurde (Honer 1993). Die lebensweltliche Ethnografie ist ein methodenplurales,
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triangulatives ethnografisches Forschungskonzept (Honer 1993, Hitzler 1999). Als Ethnografie verknüpft es praktische Teilnehmer-Erfahrungen mit feldrelevanten Daten aller Art. Honer charakterisiert die lebensweltliche Ethnografie als Versuch, „die Welt gleichsam durch die Augen eines idealen Typs (irgend-)einer Normalität hindurchsehend zu rekonstruieren“ (Honer 1993: 41), d.h., kleine soziale Lebens-Welten verstehend zu beschreiben (ebd.: 33). In modernen Gesellschaften seien allerdings keine umfassenden, sondern nur noch „thematisch begrenzte, zweckgerichtete, subkultur-, milieu- und gruppenspezifische, also sozusagen relative Normalitäten“ mit ihren jeweiligen Relevanzen empirisch fassbar (ebd.: 41); diese werden von individuellen Akteuren zu jeweils eigenen Lebenswelten zusammengesetzt (Hitzler 1999). Als konkreter Fall einer solchen relativen Normalität kann auch eine Szene betrachtet werden, so wie der Begriff von Hitzler und Kollegen definiert wurde und von mir verwendet wird. Wenn auch die genannten Autoren die komplexe Methode der lebensweltlichen Ethnografie in ihrem Buch „Leben in Szenen“ nicht umsetzen (vgl. Hitzler et al. 2001),1 so sind beide Konzepte, wie Pfadenhauer (2005) bezüglich der Ethnografie von Szenen zeigt, ohne weiteres kombinierbar. Die lebensweltliche Ethnografie als eine Variante der ethnografischen Sozialforschung lässt den subjektiven Bedeutungen und Sinnkonstitutionen der Akteure besondere Aufmerksamkeit zukommen. Dies entspricht einerseits meinem Forschungsinteresse an Prozessen der kollektiven Sinnkonstitution in der linken Szene, genauer: der geteilten Wir-Definition als Teil dieser Prozesse. Auf der anderen Seite interessieren mich nicht nur die entsprechenden Sinnelemente, sondern auch die weiteren Seiten des Prozesses kollektiver Identität, d.h., wie die Menschen diese Wir-Definitionen in ihrem Handeln produzieren. Beispielsweise definiert nicht nur der bei einem Gruppenplenum besprochene Inhalt eines Flugblatts die Ziele und Mittel des gemeinsamen Handelns, sondern auch die Art und Weise, wie die Diskussion dieses Textes abläuft, wie die Entscheidungen zu seiner Annahme und Änderung getroffen werden (z.B. durch ein im Sinne der Szene „korrektes“ Konsens- oder „funktionales“ Mehrheitsprinzip), wie die konkreten Aufgaben verteilt werden etc. Der Vorteil der Beobachtung für die Untersuchung der kollektiven Identitäten liegt gerade darin, sich diesen
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Diesem methodischen Anspruch kommen in der Jugendkulturforschung z.B. Eckert et al. (2000) viel näher, ohne ihn jedoch in dieser Form zu stellen.
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Prozessen in ihrer Komplexität zu nähern, „diese Weltsichten als […] gelebte Praxis zu erkennen“ (Amann/Hirschauer 1997: 24). Die räumlichen Anordnungen werden als Teil dieser gelebten Identitätspraxis verstanden. Dementsprechend interessieren mich nicht die symbolischen oder physischen Komponenten der Räume an sich, sondern vielmehr deren Verknüpfung in der institutionalisierten Praxis, in der sie wiederum auch als Ressource der Wir-Definitionen auftreten. Das Soziologische der Methode ist damit verbunden, dass der soziologische Ethnograf – im Unterschied zu einem Ethnologen – sich der Fremdheit des Bekannten und Vertrauten mitten im Alltag erst bewusst werden muss, und zwar durch eine gewollte, artifizielle Einstellungsänderung (Honer 1993: 37; vgl. Amann/Hirschauer 1997: 11f.). Im Laufe der Forschung habe ich erfahren, dass für mich inmitten des Szenealltags genug Unbekanntes anzutreffen ist – in dem Sinne, dass die Kultur kaum zusätzlich befremdet werden muss. Die Herausforderung, anstelle des alltäglichen „Komisch Findens“ einer Verhaltensweise die wissenschaftlich-distanzierte Neugier auf Welten zu praktizieren, in denen dieses Verhalten womöglich nicht auffallend ist, wurde dadurch nur aktueller. Dieser reflexiven Distanzierung dienten begriffliche Mittel wie der im theoretischen Teil aufgezeigte, gesellschaftszentrierte Raumbegriff, das Konzept des sozialen Geschehens nach Goffman oder das Framing-Konzept. Da die lebensweltliche Ethnografie auf die Entdeckung des subjektiven Wissens der Akteure orientiert ist, muss sie damit umgehen, dass dieses Wissen der Forscherin nicht „wirklich“ direkt zugänglich ist (Honer 1993: 40). Um dies zu kompensieren, wird besonderer Wert darauf gelegt, dass der Forscher mit der entsprechenden Welt hochgradig vertraut wird: „Idealerweise, indem er an dem infrage stehenden sozialen Geschehen praktisch teilnimmt, indem er so etwas wie eine temporäre Mitgliedschaft erwirbt.“ (ebd.) Die kontrollierte Reflexion eigener, subjektiver Erfahrungen erlaubt, eine besondere Qualität von Daten zu erreichen (ebd.: 43). Deswegen ist die grundlegende Methode der lebensweltlichen Ethnografie eine beobachtende Teilnahme: in das Feld hineinzugehen, sich in möglichst Vieles involvieren, das jeweils in verschiedenen Rollen Übliche mit-tun, und dabei die Anderen, aber auch sich selbst (beim Teilnehmen sowie beim Beobachten) beobachten. So sollen Praktiken erschlossen und Beobachtungs- sowie Erfahrungsdaten gesammelt werden (Honer 1993, Hitzler 1999). Die beobachtende Teilnahme – als Variante der teilnehmenden Beobachtung – geht
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über die Grenzen der „normalen“ Teilnahme hinaus. Sie unterscheidet davon das über die typische Pragmatik eines reinen Teilnehmens hinausgehende Interesse am kulturellen Kontext und die immer wieder herzustellende reflexive Distanz (ebd.). Andere explorativ-interpretativen Methoden wie Interviews oder Textanalysen oder auch das Beobachten von Tätigkeiten der anderen Teilnehmenden gelten angesichts der programmatischen Reflexion eigener Erfahrungen keineswegs als obsolet, sondern sind sinnvoll und notwendig, zumal auch das der Gewinnung der „Innensicht“ einer Teilnehmerin dienende existenzielle Engagement in der Praxis nur eingeschränkt möglich ist (Honer 1993: 44f.). Auf diese Problematik und meine Eigenschaften als „Forschungswerkzeug“ werde ich unten eingehen. Die Orientierung auf die beobachtende Teilnahme erwies sich als produktiv, insbesondere in Hinblick auf die Emotionalität der Räume- und der Wir-Konstitution. Mein persönliches Engagement entsprach dem zentralen Modus der Integration von Szeneangehörigen – „Mit-Machen“, „Aufgaben übernehmen“, „Sich Einmischen“ – und wurde auch von den Kollektivmitgliedern später als Grundlage meiner Anerkennung als Teil des Kollektivs bestätigt. Die ethnografische Orientierung der Forschung war der linken Szene als Forschungsgegenstand adäquat, auch wenn sie notwendigerweise mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden war. Positionierung Da meine persönliche Teilnahme am sozialen Leben im Feld – entsprechend dem Programm der lebensweltlichen Ethnografie – ein wesentlicher Weg der Entwicklung von Wissen über die Identitätsprozesse war, ist es notwendig, die persönlichen Eigenschaften bzw. Zuschreibungen zu reflektieren, die meine soziale Beziehungen im Feld beeinflussten: Alter, Geschlecht, Herkunft. Positiv in Bezug auf die Passung ins Milieu ist mein Alter zur Zeit der zentralen Feldforschungsphase (2000-2003) hervorzuheben – mit Anfang bis Mitte Zwanzig gehörte ich zu der weit verbreiteten Altersgruppe der Szeneangehörigen und zudem zu einer, in der gelegentliches inkompetentes Auftreten („ins Fettnäpfchen treten“) akzeptabel ist. Das Alter ermöglichte, mich in anonymen Situationen unauffällig zu bewegen und auch im Kneipenkollektiv nicht in dieser Hinsicht aufzufallen. Auf der anderen Seite rief die Tatsache, dass ich mit Anfang 20 promovierte,
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bei mehr als einer Gelegenheit das Staunen hervor, so dass ich in der Folge nur noch undifferenziert von einer Abschlussarbeit sprach und eher andere Details (Fach, Universität, Zugang zum Thema) nannte, um den Eindruck von Diffusität zu vermeiden. Die Rolle der Geschlechtszuschreibungen war in erster Linie für den Zugang zum Kneipenkollektiv relevant, da in diesem mehr Männer als Frauen aktiv waren und ich als Frau dieses Ungleichgewicht verringern konnte, was für die Mitglieder positiv besetzt war. Meine ausländische Herkunft (für Fremde am Akzent erkennbar) war ein weiteres für den Aufbau der Kontakte günstiges Merkmal. Erstens ist die tatsächliche Dominanz der „weißen, deutschen Deutschen“ ein typischer Punkt der Selbstkritik in der linken Szene, und die Teilnahme von Ausländerinnen wird begrüßt (vgl. Weiß 1999). Zweitens ist es relational zu erklären – die Ablehnung einer Ausländerin durch die Deutschen wäre vor diesem Hintergrund diskreditierbar, was die Selbstidentifikation der entsprechenden Akteure als „radikale Linke“ angreifbar gemacht hätte. Neben den genannten Eigenschaften, in denen überspitzt ein Gegensatz zum Stereotypen eines älteren, deutschen, männlichen Professors gesehen werden kann, spielten meine spezifischen Kompetenzen und Kontakte beim Aufbau der Forschungsbeziehungen eine Rolle. Aufgrund meiner antifaschistischen Tätigkeit in Russland kannte ich mich mit rechtsradikalen Tendenzen dort aus und konnte diese Kompetenzen im Feld demonstrieren, insbesondere als ich beim Aufbauen der Kontakte zu dem mich interessierenden Kneipenkollektiv einen öffentlichen Vortrag zur extremen Rechten in Russland hielt. Außerdem konnte ich auf die damit verbundenen Bekanntschaften für das Vermitteln von Kontakten (z.B. zu Interviewpartnerinnen) zurückgreifen. In Bezug auf die Anpassung ist noch anzumerken, dass ich mir schnell bestimmte Kleidung wie Kapuzenpullover, Schlag- und Arbeitshosen und andere Artefakte wie Zigaretten der „richtigen“ Marke zulegte, um mich dem „herrschenden Geschmack“ anzupassen. Dies ist jedoch nicht als eine passive Spiegelung oder Nachahmung zu interpretieren, denn der Forscher ist weder ein „Mann ohne Eigenschaften“ (Amann/Hirschauer 1997: 25) noch tabula rasa. Es handelt sich vielmehr um eine durch mitgebrachte und erworbene Kompetenzen und soziales wie kulturelles Kapital beeinflusste Leistung, d.h. um einen aktiven Prozess des reflektierenden Erlernens der Alltagskultur als Teil des Forschungsprozesses.
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Dieser Prozess verlief nicht reibungslos, und keine Ethnografin ist ein „wandelndes Wunder an Einfühlungsvermögen, Takt, Geduld und Kosmopolitismus“ (Geertz 1983: 298). Dennoch können auch „Fehlschläge beim Feldzugang, Auflaufen auf Mitteilungswiderstände, Mißlingen von Verstehensversuchen“ diagnostisch genutzt werden (Amann/Hirschauer 1997: 19f.). So habe ich nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten gelernt, welche überragende Rolle das persönliche Vertrauen in den sozialen Netzwerken der Szene spielt, und dass Vertrauen in Form einer konkreten Empfehlung durch die sogenannten Türöffner begrenzt delegierbar ist – und auch, dass solche Vertrauensempfehlungen vor allem in nicht-formalisierten Situationen mit einem niedrigen Diskreditierungspotential (persönliche Gespräche, Partys/Kneipenabende u.Ä., im Unterschied z.B. zu Gruppentreffen) wirksam sind. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass ich als ein „menschliches Forschungsinstrument“ (Amann/Hirschauer 1997: 25) über bestimmte Eigenschaften und über kulturelles und soziales Kapital verfügte, das ich beim Aufbau der Forschungsbeziehungen einsetzte bzw. das diese Beziehungen – meist vorteilhaft – beeinflusst hat. Zugang zum Feld Die linke Szene erwies sich als ein geschlossenes Feld (vgl. Eckert et al. 2000: 31f. zu den Autonomen, Hitzler et al. 2001: 150 zur Antifa-Szene). Im Laufe der Forschung habe ich nach Erklärungen dafür gesucht. In Bezug auf die Prozesse kollektiver Identität und speziell den Aspekt der Solidarität kann dies durch die Dominanz des persönlichen Vertrauensmodus erklärt werden. Im Abschnitt zur „Emotional-körperlichen Raumsynthese“ gehe ich auf die Bildung des Vertrauens unter Akteuren auf Grundlage von gemeinsamen Erfahrungen ein. Ein weiterer Faktor ist das explizite Misstrauen gegenüber (aus)forschenden Fremden, das für viele Bewegungsgruppen charakteristisch ist (vgl. Lichterman 2001: 125). In erster Linie zielt das auf die observierende Tätigkeit von Geheimdiensten, von denen „Spitzel“ bzw. „V-Leute“ in linken Initiativen und Gruppen eingesetzt werden. Als ein Beispiel aus dem Untersuchungszeitraum kann die jahrelange Bespitzelung der Teilnehmer des Berliner Sozialforums genannt werden (Berg 2006, Hutter 2007). Als direkt diskreditierend für Sozialwissenschaftlerinnen ist die Praxis der Verfassungsschutzämter anzusehen, für die Bespitzelung linker Strukturen Studenten über eine Tarnfirma anzuwerben, und zwar
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unter der Vorgabe, es handele sich um das Sammeln der Daten für ein Forschungsprojekt (vgl. Kleffner 2002, Rogaschewski 2002, Cziesche 2003). Am Anfang der Feldforschung, bei einem Treffen, auf dem ich mich und mein Interesse offen vorgestellt hatte, brachte mir ein junger Mann ironisch-kritisch entgegen: „Und wer wird das lesen, was du schreibst?“ In der Situation habe ich die Frage nicht verstanden (im Unterschied zur ablehnenden Haltung des Gegenübers); erst später konnte ich sie im Kontext der Spitzel-Diskurse einordnen. Die Sozialwissenschaften werden allerdings auch selbst zum Gegenstand der Ablehnung, z.B. wenn ihnen eine „Psychologisierung“ von rassistischer Gewalt und die Vernachlässigung ihrer politischen und gesellschaftlichen Dimensionen vorgeworfen werden. Diese Ablehnung stellt einen besonderen Fall der wahrgenommenen Konkurrenz von Deutungssystemen dar. Die linksradikalen Akteure erheben Anspruch auf ein gültiges Erklärungsmodell der Gesellschaft, das zugleich eine Grundlage für die geteilte Wir-Definition der radikalen Linken und die individuellen Zugehörigkeiten liefert. Die am Studieren der radikalen Linken interessierten Soziologinnen können in diesem Sinne nicht nur als eine „Deutungskonkurrenz“ auftreten, sondern auch die diskursive Selbstbestimmung bedrohen. Der Blick auf den in der Einleitung dargestellten Stand der Forschung macht deutlich, dass die Ängste vor der einseitigen Repräsentation in wissenschaftlichen Diskursen nicht unbegründet sind. Meine Teilnahme am Szeneleben ging weit genug, um die Bereiche zu erkennen, zu denen ich nicht ohne Weiteres Zugang für die beobachtende Teilnahme finden konnte und auch nicht wollte, wie z.B. militante Aktionen. Die Felderfahrung hatte somit auch in diesem Sinne den Aspekt der Marginalitätserfahrung. Die Problematik der unterstellten potentiellen Illoyalität des Ethnografen als Fremder ist für die ethnografische Forschung im Allgemeinen charakteristisch (Amann/Hirschauer 1997: 26). Angesichts der oben dargestellten Sensibilität gegenüber „Spitzeln“ hat sie für die linke Szene eine besondere Relevanz. Das erforderte einen sensiblen Umgang mit der offenen versus der verdeckten Beobachtung. Neben den im Vordergrund stehenden ethischen hatte dies auch pragmatische Gründe, bezogen auf die mit der verdeckten Beobachtung verbundene schwerwiegende Diskreditierbarkeit. Bei der Teilnahme an explizit öffentlichen Situationen wie Demonstrationen oder Informationsveranstaltungen habe ich meine Forscherinnenrolle nicht exponiert. Bei der beobachtenden Teilnahme an der
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Arbeit eines Kulturprojekts habe ich jedoch meine Absichten als Forscherin von Anfang an klar dargestellt. Viele meiner Bekannten in der linken Szene fanden mein Projekt interessant und unterstützenswert und waren bereit, Kontakte zu potentiellen Interviewpartnerinnen aus ihrem Bekanntenkreis zu vermitteln oder selbst ein Interview zu geben (diese Möglichkeit habe ich allerdings nur selten genutzt). Dies ist wiederum zunächst durch das schon vorhandene persönliche Vertrauen zu erklären. Die für die linke Szene identitätsstiftende Tendenz zur Diskussion eigener Praktiken und Entwicklungen konnte auf diese Weise genutzt werden. Das Vertrauen ist im Forschungskontext als Eigenschaft der Forschungsbeziehungen zu verstehen, so dass sein Erwerben keine einmalige Überschreitung einer Grenze, sondern ein graduelles Erarbeiten darstellt. Das wurde insbesondere während einer längeren, auf das Kneipenkollektiv und einen Konflikt mit dem Hauseigentümer fokussierten Beobachtungsphase deutlich. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die für den Aufbau des Vertrauens unter Angehörigen der linken Szene typischen Mechanismen – persönliche Empfehlungen und gemeinsames Engagement – sich auch in der Forschungssituation als wirksam erwiesen haben. Durchführung Den langfristigen Fokus der beobachtenden Teilnahme bildete das Kollektiv einer Linke-Szene-Kneipe – der ich zwecks Anonymisierung in dieser Studie den fiktiven Namen „Stube“ gebe – vor dem Hintergrund eines Konflikts zwischen dem Eigentümer des Hauses, in dem sich das genannte Kulturprojekt befand, auf der einen und dem Haus-, d.h. Wohn- und Kulturprojekt auf der anderen Seite. Der Beobachtungszeitraum dauerte von März 2002 bis Oktober 2003. Um die Anonymisierung aller beteiligten Menschen zu gewährleisten, werde ich im Folgenden die Überschriften von Mobilisierungstexten aus dem erwähnten Konflikt nicht erwähnen und persönliche Informationen wie Namen verfremden. Dennoch hat jede Anonymisierung ihre Grenzen: Je mehr Kompetenzen eine Leserin in der jeweiligen sozialen Welt hat, desto größer sind ihre Chancen, durch die von uns Sozialwissenschaftlerinnen errichtete Schutzmauer durchzublicken. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass die empirische Darstellung des Kulturprojekts sich ausschließlich auf den erwähnten Zeitraum
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bezieht und daher keine Rückschlüsse auf irgendein konkretes aktuelles Kultur- oder Hausprojekt erlaubt. Ich hatte die ausdrückliche Erlaubnis des Kollektivs, meine wissenschaftlichen Forschungen zu machen und darüber zu schreiben, das Unkenntlichmachen der einzelnen Menschen vorausgesetzt. Mein Interesse galt der vergleichenden Darstellung von Identitätsprozessen auf Grundlage der teilnehmenden Beobachtung und der Analyse von Mobilisierungstexten. Im genannten Konflikt sah ich die Möglichkeit, die Auseinandersetzungen um die Szeneräume (oder, theoretisch genauer formuliert, die Produktion von Räumen in Auseinandersetzungen) nicht nur auf der Grundlage von Texten, sondern auch mit genuinen Mitteln der ethnografischen Forschung zu rekonstruieren. Das entsprechende Interesse am Hausprojekt und dem Konflikt war zunächst breit angelegt – mit anderen Worten: mich interessierte „alles“, wobei ich am Anfang auch keine differenzierten Fragen stellen konnte. So habe ich erst im Laufe der Beobachtung den Unterschied zwischen dem Außenbild einer „Hauskneipe“ (also einer überwiegend von den Einwohnerinnen des Hauses getragenen Kneipe) und dem faktisch viel komplizierteren Verhältnis zwischen Hausbewohnerinnen, Kollektivmitgliedern, „dem Hausprojekt“ und „dem Kollektiv“ gelernt, wie es im weiteren Verlauf diskutiert wird. Dabei engagierte ich mich beobachtend in der Arbeit des Kneipenkollektivs: Es entsprach dem theoretisch begründeten Interesse an öffentlichen Treffpunkten der Szene als einer auf intensive Kommunikation ausgerichteten Vergemeinschaftungsform. Weiterhin war es ein für die langfristige Teilnahme relativ gut zugängliches und geeignetes Projekt. Durch mein Engagement und eine Akzeptanz als Mitglied des Kollektivs war ich „nah dran“ am Verlauf des genannten Konfliktes – auch im wörtlichen Sinne. Am Anfang meiner Beobachtung im Frühjahr 2002 hatte die Kollektivkneipe an einigen Tagen der Woche geöffnet, wobei jeder dieser Tage von einer eigenen Gruppe gestaltet wurde. Ich nahm an der Arbeit einer solchen Gruppe teil: Ich plante die Veranstaltungen mit, besuchte die Plena,2 kochte, stand hinter dem Tresen, arbeitete am Einlass bei Veranstaltungen u.Ä. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, sowohl die Prozesse innerhalb des Kollektivs als auch das abendliche Geschehen in der Kneipe, aber auch den Konflikt zwischen dem
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Hier und weiter benutze ich die in der linken Szene übliche Pluralform „Plena“ statt „Plenen“.
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Hausprojekt und dem Hauseigentümer, von dem auch die Kneipe, u.a. durch den zeitweiligen Verlust der Räumlichkeiten, betroffen war, zu beobachten. Dieser Konflikt nahm mit Räumungen und (Wieder-)Besetzungen im Rahmen einer Gegenmobilisierung mitunter dramatische Züge an. Die beobachtende Teilnahme kombinierte die situativen Rollen der Forscherin und des Kollektivmitglieds, deren jeweilige Kombinationen sich in einem raum-zeitlichen Rhythmus abwechselten. Bei Gruppenplena, Kneipenabenden, gemeinsamer Protestteilnahme dominierte die situative Rolle des Kollektivmitglieds, d.h. entsprechende Verhaltensweisen (wenn ich auch das Handeln von anderen und mein eigenes zu reflektieren versuchte und die methodisch erforderliche Neugier pflegte). Diesbezüglich kann nicht nur von der fortgesetzten Gleichörtlichkeit von Beobachter und sozialen Abläufen (Amann/Hirschauer 1997: 22) als einer Eigenschaft der ethnografischen Forschung die Rede sein, sondern auch von der fortgesetzten Partizipation von Beobachtern an Räumen, also von der geteilten Räumlichkeit. Beim Verfassen der Protokolle und Memos, der Auswertung, den Vorträgen in Kolloquien u.Ä. dominierte wiederum eindeutig die Rolle und die Perspektive der Wissenschaftlerin. So waren die konkreten raumzeitlichen Kontexte und deren periodischer Wechsel für meine Positionierung von Bedeutung. Die periodische räumliche Distanzierung vom Geschehen im Feld (bzw. Sich-Entfernen von den jeweiligen Räumen) bedeutet für die Forscherin eine gewisse Freiheit, ähnlich derjenigen, die laut Goffman dem Personal von Zwangsanstalten im Unterschied zu deren Insassen zusteht – die Freiheit zum Verlassen von bestimmten normativen Kontexten (vgl. Goffman 1961). Forschungstechnisch bietet dies eine Gelegenheit zur analytischen Distanzierung. Außerdem handelt es sich um eine raum-zeitliche Situierung der vergleichsweise großen sozialen Beweglichkeit des Ethnografen als Simmels Fremder, mit der auch die oben angesprochenen Loyalitätszweifel einhergehen (vgl. Simmel 1992, Amann/ Hirschauer 1997: 26). Dennoch bedeutet die teilnehmende Feldforschung gerade, sich dem Geschehen im Feld – solange man da ist – auszusetzen und sich zu so verhalten, als könnte man nicht gehen, auch wenn es de facto anders ist (Goffman 1989: 125). Neben dem raum-zeitlichen Pendeln boten die meinem theoretischen Interesse geschuldeten Konzepte eine wichtige Methode der Distanzierung. Das oben erwähnte Konzept des sozialen Geschehens nach Goffman wurde von mir als analytisches Werkzeug beim Erarbeiten des Beobachtungsleit-
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fadens, bei der Auswertung sowie bei der Darstellung der Ergebnisse verwendet. Seine Anwendung erlaubt u.a., die Konstitution verschiedener Räume an einem Ort zu erfassen, und zwar im Rahmen eines „Gruppenplenums“ und eines „Abends in der Szenekneipe“, wie im fünften Kapitel analysiert wird. Auch eine Demonstration wird von mir als ein spezifisches soziales Geschehen analysiert, obwohl die Darstellung in diesem Fall nicht nach einzelnen Elementen aufgebaut wird. Das Konzept des sozialen Geschehens erlaubt eine Entfremdung und eine künstliche Differenzierung des Blicks auf die beobachteten Abläufe, wobei es gleichzeitig diese Trennung analytisch zu überwinden versucht, indem von einem Geschehen als Sinneinheit ausgegangen wird. Eine besondere Bedeutung kommt bei der Auswertung der Daten dementsprechend dem Aushandeln und der Durchsetzung der Definition der Situation durch die Akteure zu: Wie wird die Situation räumlich und zeitlich gestaltet (z.B. durch Aufstellen der Sessel in einem Kreis für ein Plenum), werden durch bestimmte Verhaltensweisen verschiedene Geschehen in Frage gestellt (z.B. durch Biertrinken bei Demonstrationen) etc. Die Beobachtungsprotokolle bildeten die empirischen Daten, auf denen die Interpretationen basierten. Die ausführlichen Protokolle wurden möglichst zeitnah nach der Beobachtung (am selben oder nächsten Tag) am Computer erstellt. Zu beachten ist, dass die Konstruktion der Wirklichkeit schon beim Erleben und Wahrnehmen und später beim Aufschreiben des Protokolls stattfindet. Die Selektivität der bewussten Wahrnehmung betrachte ich dennoch als einen normalen Umstand der – auch wissenschaftlichen – Erkenntnisgewinnung, der berücksichtigt und genutzt werden muss, statt (zwangsläufig vergeblich) zu versuchen, „alles“ zu dokumentieren (vgl. Silverman 1993: 37). Dementsprechend wurde versucht, die bei der Auswertung von Beobachtungs- und anderen Daten und in Hinblick auf die Fragestellung der Studie formulierten bzw. korrigierten Fragen in einer Art theoretical sampling zum Fokussieren der Aufmerksamkeit bei den Episoden des Ins-Feld-Gehens zu benutzen. Beispiele dieser Fragen sind: „Wie werden Informationen zwischen den Gruppen weitergegeben?“, „Gibt es so etwas wie formelle/informelle Wege?“, „Wer genau macht das?“ oder „Laufen wirklich vergleichsweise wenig Leute bei einer ‚Demo‘ (Demonstration) vor und hinter dem ‚Lauti‘ (Lautsprecherwagen)? Warum?“. Der Beobachtungsleitfaden wurde dementsprechend immer wieder erneuert und bewusst selektiv eingesetzt. Das Erlebte bzw. Beobachtete wurde von mir
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beim Protokollieren zunächst fließend aufgeschrieben, abschließend noch einmal durchgegangen und ergänzt. Zur Systematisierung wandte ich einen Protokollleitfaden an, der an den jeweiligen Beobachtungsleitfaden angelehnt war und auch Rahmendaten der Situationen einschloss. Parallel wurden Memos zu einzelnen thematischen Aspekten oder mich interessierenden Fragen verfasst, welche die Grenzen einer Situation überschritten. So wurde parallel zu einer chronologischen Systematisierung eine thematische bzw. theoriegeleitete eingesetzt. Das Schreiben von Feldnotizen direkt in der Beobachtungssituation kam aus mehreren Gründen nicht in Frage. Zunächst hätte dies der gewählten Rolle der Teilnehmerin widersprochen und die damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten eingeschränkt. Zudem wäre dies ein grober Verstoß gegen die szenetypischen Verhaltensregeln gewesen – und zwar ein direkt diskreditierender, denn es hätte mich in den meisten Situationen (vielleicht mit Ausnahme von Informationsveranstaltungen) eindeutig als eine Beobachterin positioniert, wobei Beobachter Gefahr laufen, für „Zivis“ (Zivilbeamte der Polizei) gehalten zu werden. Das Fotografieren konnte situationsabhängig eingesetzt werden: Bei Versammlungen in geschlossenen Räumen, auch in den Kneipen der linken Szene, ist es stark tabuisiert, so dass ich darauf verzichtet habe. Bei öffentlichen Anlässen wie Demonstrationen ist das Fotografieren dagegen in Maßen toleriert, und zwar solange die Bilder oder Videos machende Person nicht als ein feindlicher Akteur (Polizist oder Anti-Antifa-Fotograf) identifiziert wird, was von Rufen „Kameramann – Arschloch!“ bzw. einem Rauswurf markiert wird. Insbesondere in den letzten Jahren, mit der Verbreitung der digitalen Fototechnik, ist die Anzahl der Schnappschüsse machenden Demonstranten wahrnehmbar gewachsen. Ich profitierte von dieser Lockerung – je nach meiner jeweiligen episodischen Rolle – beim Fotografieren sowie von der Offenheit der Straßen für verschiedene Handlungen und Nutzungen (von der auch die demonstrativen Aktionen profitieren). Die Möglichkeit, die Zuverlässigkeit der Beobachtung mittels einer systematischen Beteiligung mehrerer Personen zu erhöhen, hatte ich nicht. Nur sporadisch konnte ich den Effekt des „frischen Blicks“ nutzen, wenn meine Freunde „von außerhalb der Szene“ zu bestimmten Anlässen wie Partys oder Demonstrationen mitkamen und wir uns über diese Einblicke austauschten. Eine wichtige Möglichkeit der „kommunikativen Validierung“ (Flick 1995: 245f.) boten die Besprechungen meiner Rekonstruktionen mit
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denjenigen Menschen im Feld, mit denen schon längere und von Vertrauen geprägte Kontakte bestanden. Dies half, andere Perspektiven und Informationen der kompetenten Akteure bezüglich Abläufen und Geschehnissen kennen zu lernen, ohne jedoch die Anpassung meiner Perspektive als Ziel zu setzen (vgl. Honer 1993: 59). Meine ethnografische Feldforschung war theoretisch ausgerichtet, d.h. von dem Ziel geprägt, theoretische Werkzeuge zu finden, mit denen die spezifischen räumlichen Aspekte von Prozessen kollektiver Identität in Bewegungsmilieus erfasst werden können, und diese Konzepte in der Feldpraxis zu testen. Eine entsprechende Bilanz wird am Schluss des Buches gezogen. An dieser Stelle ist es wichtiger, darauf hinzuweisen, dass die theoretischen Konzepte im Rahmen des Projekts als Werkzeuge eingesetzt wurden. Das bedeutet, dass sie kein Selbstzweck sind, sondern uns besser verstehen lassen sollen, wie ein „Wir“ durch die Bewegungsangehörigen entwickelt, aufrechterhalten und transformiert wird. Wiederum sind solche analytischen Werkzeuge unabdingbar, um sich als Wissenschaftler dem sozialen Leben zu nähern. Der theoriegeleitete Charakter des Projekts bedeutete, dass die Konzepte von Anfang an explizit bei der Feldforschung eingesetzt wurden. Diese Vorgehensweise widerspricht keineswegs der Logik der ethnografischen Feldforschung, sondern ist eher ein Gütemerkmal im Sinne des soziologischen „Coming Home“ als Gegensatz zum „Going Native“ (Amann/Hirschauer 1997: 37). Allerdings sollen die Konzepte im Laufe der Forschung auf ihre Erklärungsfähigkeit getestet und dementsprechend angepasst, weiter entwickelt oder ersetzt werden. Auf diese Weise kann die theoriegeleitete teilnehmende Beobachtung zur Weiterentwicklung unserer theoretischen „Werkzeugkästen“ beitragen, wie es speziell in der Forschung zu sozialen Bewegungen öfter der Fall war (vgl. Lichterman 2001). Die lebensweltliche Ethnografie ist ein hybrider Ansatz, für den eine Integration verschiedener Methoden und hiermit eine „implizite Triangulation“ charakteristisch ist (Flick 2004: 53f.). Mit der Darstellung des triangulativen Vorgehens werde ich das methodische Kapitel abschließen. Zunächst werde ich auf die angewandten Mittel der Frame-Analyse von Bewegungstexten und der Interviews eingehen.
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Frames und Framing Der Framing-Ansatz der Soziologie sozialer Bewegungen (Snow et al. 1986, Benford/Snow 2000) wird genutzt, um die konkreten „Bausteine“ der geteilten Wir-Definition und der entsprechenden Vorstellungen von der sozialen Welt, also die Ergebnisse symbolischer Konstruktionsprozesse, zu erfassen.3 Dies habe ich vor allem bei der Auswertung von Originaltexten (z.B. Mobilisierungstexte zu Demonstrationen und Flugblätter) um den schon erwähnten Konflikt zwischen einem Hausprojekt und dem Eigentümer der entsprechenden Immobilie angewandt und so den „Freiräume“Frame in seinen verschiedenen Aspekten mittels qualitativer Textanalyse rekonstruiert. Dabei wurden die Texte analysiert, die von den betroffenen Projekten und im Rahmen der thematisch und zeitlich angrenzenden Freiräume-Mobilisierungen von Kampagnen-Bündnissen zwischen Juli 2001 und Juni 2003 herausgegeben wurden. Dies eröffnete die Möglichkeit der Triangulation im Hinblick auf die Prozesse der Raumkonstitution durch die Szeneakteure, da ich auch eine teilnehmende Beobachtung während dieses Konflikts machte. Insgesamt gehörten 37 Texte zum Kernbereich des Korpus; weiterhin wurden einige Interviewpassagen und einige aktuellere oder ältere Texte analysiert. Die Auswertungsperspektive wurde in zweifacher Hinsicht fokussiert. Ich orientierte mich an den im ersten Kapitel herausgearbeiteten Dimensionen der Framing-Tätigkeiten (framing tasks), also auf die Konstruktion der: • Akteure – Protagonisten („Wir“), Antagonisten („Sie“), Publikum („Andere“) • Ziele des kollektiven Handelns – bestehende Probleme, Lösungen, Reaktionen • Mittel – Strategien und Taktiken des Handelns • Kontextelemente – fördernde und sich negativ auswirkende Faktoren • Motivationen – Beweggründe zu handeln. Außerdem ging es um Raumkonzepte und -bilder, die nicht als „Abbildung“ von Szeneräumen, sondern als Teil von deren symbolischer Produktion interpretiert wurden. Eine besondere Aufmerksamkeit galt der Kategorie
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Das Verhältnis der Konzepte kollektiver Identität und Frames wurde im Unterkapitel „Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene“ geklärt.
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„Freiraum/Freiräume“, die allerdings nicht a priori mit dem Frame „Freiräume“ gleichgesetzt wurde, sondern zunächst eine Kategorie beim primären Kodieren der Daten darstellte. Die Auswertung war an das Verfahren der Grounded Theory angelehnt (Strauss/Corbin 1996) und erfolgte unter Benutzung der Software MAXQDA. Nach dem primären Kodieren wurde die Kategorie „Freiräume“ im Sinne des axialen Kodierens (ebd.: 75ff.) mit Subkategorien wie „Ressource der Politik“, „Behälter/Ort für anderes Leben“, „Hausprojekte“ oder „Bedrohung durch Umstrukturierung“ verbunden. In einer anderen Auswertungsdimension wurden ihre Relationen mit Kategorien rekonstruiert, die Akteure, Ziele u.Ä. betrafen. Es wurde abwechselnd induktives und deduktives Vorgehen angewandt. Das Produkt der Auswertung bildete die Rekonstruktion des komplexen Frames „Freiräume“; diese wurden als Ziel, Formen und Ressource der Politik und auf verschiedenen räumlichen Ebenen definiert. Die konkreten Auswertungstechniken werden durch den FramingAnsatz nicht vorgegeben, es ist sowohl qualitatives als auch quantitatives Vorgehen möglich. Leider explizieren die qualitativ vorgehenden Autorinnen kaum ihre Verfahren (Benford 1997: 412; als Gegenbeispiel siehe Johnston 1995). Deswegen griff ich bei der Analyse neben der schon erwähnten grundlagentheoretischen Perspektive auf die aus der Interpretation qualitativer Interviews bekannten Techniken zurück, berücksichtigte dabei aber, dass es sich in diesem Fall nicht um die Sprechsituation des narrativen Interviews handelte und die Interaktivität des Textes eine andere konkrete Form hatte. Die spezifischen Sprechsituationen der zu analysierenden Bewegungstexte, die bis auf wenige Ausnahmen an die Szeneanhängerinnen gerichtet waren, sowie ihre pragmatische Ausrichtung als Mobilisierungstexte wurden berücksichtigt (vgl. Johnston 1995, 2002). Die weiteren Kontextinformationen betrafen die Entwicklung des Konflikts und wurden aufgrund der im Rahmen der Feldforschung gesammelten Daten, der Publikationen und Kommentare auf dem Nachrichtenportal Indymedia sowie der Publikationen in Berliner Tageszeitungen zusammen getragen. Für die Analyse der Mobilisierungstexte sind die Kontextinformationen z.B. zu Verbreitungsformen der Texte wichtig (Auslegen der gedruckten Exemplare in Szenekneipen, Infoläden, WG-Küchen; weniger verbreitetes Abdrucken in den Zeitschriften Stressfaktor und interim; elektronisches Publizieren). Die Frame-Analyse als Spielart der soziologischen Diskursanalyse richtet ihr Interesse jedoch primär darauf, welche Inhalte in welcher
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Form in Texten produziert und transportiert werden – als Teilaspekt der Frage nach der kollektiven Ebene der Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Keller 1997). Für die linke Szene stellen diese symbolischen Auseinandersetzungen eine wichtige Politikform dar (vgl. Bourdieu 1990), deren Erfolg in Mobilisierungskontexten von Szeneakteuren u.a. an der Quantität der Beteiligung (Anzahl der Personen, breites Spektrum der beteiligten Gruppen) und auch an ihren Formen gemessen wird. Im sechsten Kapitel wird untersucht, welche inhaltlich raumbezogenen Identitätsangebote von einer Gruppe der Akteure an die weiteren Szene-Protagonisten formuliert wurden. Auf diese Weise stellt die auf die sprachliche Ebene der Wir-Konstitution orientierte Frame-Analyse eine wichtige Ergänzung zur Technik der beobachtenden Teilnahme dar. Interviews Insgesamt wurden zehn längere, leitfadengestützte Interviews durchgeführt, die allesamt aufgenommen wurden, im Unterschied zu vielen kleineren und größeren Gesprächen im Feld, die in den Beobachtungsprotokollen rekonstruiert und von mir nicht als Interviews, sondern als ein Teil der Beobachtung betrachtet wurden. Das erste Interview fand im September 2000, das letzte im Februar 2005 statt. Die Interviewten kamen aus verschiedenen Bereichen und Generationen der Szene, von „Altautonomen“ bis zur „Häuserszene“ oder zu „FrauenLesben“ (kurze Charakterisierungen der einzelnen Interviewpartnerinnen sind im Anhang enthalten). Auch zwei Mitglieder des Kneipenkollektivs – ich nenne sie Ernie und Karl – waren bereit, mir längere, leitfadengestützte Interviews zu geben. Bei Karl schloss das Interview eine ausführliche einführende biografisch-narrative Phase ein. Das Sampling wurde an die Prinzipien des theoretischen Samplings angelehnt durchgeführt (vgl. Strauss/Corbin 1996: 148ff.), wobei nicht nur die Auswertung von schon gemachten Interviews, sondern auch weitere in der Feldforschung gewonnene Erkenntnisse eine Rolle spielten. Ich legte u.a. Wert darauf, Szeneangehörige mit einem unterschiedlichen Grad von Involviertheit zu interviewen, mit einem besonderen Gewicht auf „normalen Szenegängern“. Neben meinem Erkenntnisinteresse hatte auch die praktische Frage der Zugänglichkeit Einfluss auf das Sample. Das „Schneeball“System erwies sich als eine dem oben geschilderten persönlichen Vertrauensmodus der Szene adäquate Herangehensweise, erforderte jedoch Zeit
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und setzte Begrenzungen, wie weit weg ich mich von meinen Ausgangskontakten bewegen konnte. Genauso wie der Zugang zum Feld sich nicht als ein einmaliges Überqueren einer Grenze denken lässt, erschöpfte sich die Aufgabe der Vertrauensherstellung nicht in der Interviewzusage, zumal das aktive Management persönlicher Informationen eine wichtige Handlungskompetenz in Szenenetzwerken darstellt. Dementsprechend versuchte ich, das Vertrauen aktiv herzustellen, z.B. über den Ort des Interviews. Für gewöhnlich schlug ich, als Alternative zum Wohnort des Interviewpartners, meine Wohngemeinschaft vor. Erstens wollte ich hiermit ein Zeichen der Bereitschaft zur Preisgabe persönlicher Informationen meinerseits geben, wovon ich eine reziproke Verstärkung des Vertrauens erhoffte. Zweitens sollte es gerade den in Wohnprojekten lebenden Menschen eine größere Privatsphäre beim Interview erlauben (vgl. Glinka 2003: 135f.). Die Interviews wurden leitfadengestützt durchgeführt. In den meisten Fällen wurde ein kombiniertes Verfahren mit einem einführenden biografisch-narrativen Teil angewandt (Simone, Stefan, Karl, Eva, Nina, Lisa, Markus; ein Überblick befindet sich im Anhang). Die Bevorzugung von leitfadengestützten gegenüber rein biografisch-narrativen Interviews war in erster Linie darin begründet, eine thematische Fokussierung auf verschiedene Arten von Räumen im Leben der Akteure zu erreichen. Diese werden in „normalen“ autobiografischen Erzählungen wenig thematisiert, sondern bedürfen einer thematischen Fokussierung des Interviews oder seiner Abschnitte (Schulze 1997). Auf der anderen Seite wurde vom biografischen Eingangserzählen eine gesteigerte Offenheit gegenüber den Relevanzstrukturen der Erzählerin und ein besserer Zugang zu ihren subjektiven Erfahrungen bzw. deren Rekonstruktionen erhofft (als Alternative zur Lebensgeschichte fragte ich in zwei weiteren Fällen eingangs nach dem Umzug nach Berlin). Es wurde allerdings schnell klar, dass die Auswertung von solchen kombinierten Daten einen sehr großen zeitlichen Aufwand bedeutet. Vom Anfang an war es nicht die biografische Ich-Identität, deren mögliche Raumbezüge mich interessierten (vgl. zur biografischen Relevanz von Raumerfahrungen Glinka 1997 sowie Herlyn 1990 und weitere Beiträge in Bertels 1990), sondern eine prozesshafte Verbindung zwischen Individuum und Gruppe (Gamson 1992a). Dabei kann die Verbindung je nach Blickwinkel als soziale oder als kollektive Identität gedacht werden. Mit dem Fokussieren der Forschungsfrage auf die kommunikative Herstellung des linksradikalen „Wir“ verlor die räumliche Konstruktion von
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individuellen Zugehörigkeiten (bzw. sozialen „Ich, ein Linksradikaler“Identitäten) – und damit auch die entsprechenden Daten in den Interviews – an Bedeutung.4 Dennoch können auch die Bausteine kollektiver Identitäten, d.h. konkrete Vorstellungen von gesellschaftlichen Missständen, von Zielen, Strategien und Taktiken der Auseinandersetzung mit ihnen, von Eigenschaften der radikalen Linken als einer politischen Kraft und von kämpfenden Individuen, auf der Grundlage von Interviews mit Bewegungsaktivistinnen analysiert werden (vgl. Blee/Taylor 2002). Konkret spielten für den Aufbau des Buches vor allem die institutionalisierten Bedeutungen von Linke-Szene-Kneipen eine Rolle, was der Fokussierung auf dieses sozialräumliche Phänomen entsprach. Die Auswertung der Interviews erbrachte auch vielfältige andere Erkenntnisse über die Funktionsweise der linken Szene und die subjektive Konstruktion der individuellen Zugehörigkeit, die immer wieder für die Argumentation herangezogen wurden. Beim Zusammenstellen des Leitfadens waren entsprechend dem Forschungsinteresse zwei Themenbereiche zentral: Erstens die jeweiligen individuellen Bezüge zum Linksradikalismus und zur linken Szene, einschließlich der Wahrnehmung von gesellschaftlichen Realitäten und Erfahrungen in politischen Zusammenhängen; zweitens die Raumbezüge der Erfahrungen, und zwar sowohl die räumlichen Aspekte des Alltagshandelns als auch das Erleben von städtischen Räumen und Orten.5 Beim Formulieren der Fragen orientierte ich mich auf die soziologische und sozialgeografische Literatur zu diesen Themen (speziell Lynch 1968, Gerlach/Apolinarski 1997).6 Mit dem Fortschreiten der Forschung wurde der Leitfaden präzisiert. Er wurde flexibel gehandhabt und bestand aus mehreren Themen, die der Orientierung dienten sollten und deren Anwendung auch von ihrer Relevanz in vorausgegangenen Interviewteilen abhing. Im Laufe des Inter-
4
Mit raum-zeitlichen Ordnungen sozialer Identität habe ich mich bereits in einem anderen Text befasst (Golova 2006).
5
Das bedeutet, dass ich mich explizit nicht ausschließlich für die Erfahrungen mit „Szeneräumen“ (Projekten) interessiert habe und davon ausgegangen bin, dass die Szeneräume für die individuelle Anbindung an die Szene nicht relevant sein müssen.
6
Bei der Arbeit am Leitfaden musste ich feststellen, dass die Aktionsraumforschung vor allem mit standardisierten Fragebögen arbeitete (exemplarisch Dangschat et al. 1982).
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views sollten ausführliche, frei gestaltete Antworten der Interviewpartnerinnen erreicht werden. Gleichzeitig sollte es den Interviewten möglich sein, andere, nicht vorgesehene Themen anzusprechen. Die zentralen Fragenkomplexe des Leitfadens lauteten: • Alltägliche Handlungsräume • Subjektive Verortung • Szeneorte • Lebensweise/Alltag • Eigene linke/linksradikale Identität • Szene(n) • Persönliche Erfahrungen in Projekten. Die Auswertung von transkribierten Interviews wird im Rahmen der lebensweltlichen Ethnografie entlang der Richtlinien der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik in ihrer wissenssoziologischen Variante durchgeführt (Honer 1993, Hitzler/Honer 1997, Hitzler 1999, Soeffner 2000). Jeder einzelner Fall wurde aufgrund der angenommenen Pluralität von Perspektiven als eine (in ihrer Beschaffenheit noch aufzudeckende und in Interaktion hergestellte) Struktur betrachtet, statt nach Inhalten „gebrochen“ analysiert zu werden, um auch die Prozesse der nicht-intentionalen Sinnstiftung durch den Akteur samt ihren jeweiligen Relevanzen zu berücksichtigen. Zudem wurde – orientiert am Verfahren der Grounded Theory – fallübergreifendes Kodieren durchgeführt, um einige konkrete und auf Räume bezogene Frames als Elemente kollektiver Identität bzw. individueller Sinnstiftungen zu rekonstruieren. Wie oben festgehalten, verloren die Interviews aufgrund der Präzisierung der Forschungsfrage und entsprechend dem Aufbau der Arbeit einen Teil ihrer Bedeutung. Trotzdem möchte ich hier einige Überlegungen zur Rekonstruktion räumlicher Anordnungen bei der Auswertung von Interviews vorstellen. Das Interview stellt zuerst eine interaktive Situation dar, zu dessen Bezugsrahmen die Rollen des Interviewten und der Interviewerin und eine bestimmte räumliche Anordnung gehört, die von ihnen aufgebaut bzw. realisiert wird. Meine Aufmerksamkeit gehörte aber in erster Linie der Frage, wie die Räume aus dem bei dieser Interaktion produzierten Text rekonstruiert werden können. Einige wesentliche Elemente des gesellschaftszentrierten Raumkonzepts konnten fruchtbar eingesetzt werden: Dazu zählen der relationale Charakter der räumlichen Anordnungen (das
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korrespondiert mit dem relationalen Charakter kollektiver Identität), Spacing und Synthese als Dimensionen der Raumproduktion sowie die Unterscheidung der symbolischen, materiellen und praktisch-institutionellen Komponenten der Räume. Ich gehe davon aus, dass im Interview nicht nur die wahrnehmend-kognitive Synthese von Menschen und Objekten zu Räumen, sondern auch das Spacing, d.h. das Platzieren von Objekten, anderen Menschen und sich selbst stattfindet. Hier unterscheidet sich meine Sichtweise von Löws Auffassung (Löw 2001: 158ff.). Sie sieht beispielsweise in der entwerfenden Tätigkeit von Architekten ausschließlich die Abstraktionsleistung der Synthese, d.h. das Zusammenfassen von Menschen und Gütern zu Räumen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse, die nicht gleich in anschließende Spacings mündeten. Ich gehe davon aus, dass nicht nur Synthese-Aspekte in Interviews hervortreten, sondern durchaus auch das Positionieren im Spiel ist – allerdings ist diese im Rahmen der Textproduktion auf die symbolischen Aspekte der Räume, d.h. auf die Sinnkonstitution beschränkt, ohne mit dem nichtimaginären physischen Platzieren einherzugehen. Die Besonderheiten der Produktion des Interviewtextes bedeuten u.a., dass die Raumkonstitution auf der Textebene eine symbolische, aber keine materielle Komponente hat und ohne Körpereinsatz passiert. Die alltägliche Raumkonstitution der Interviewten kann nicht direkt aus den Texten rekonstruiert werden, aber ihre symbolische Komponente bzw. dahinter stehende Sinnstrukturen wirken bei der Erzählung. In Interviewtexten werden demnach nicht nur emotionale Anbindungen zum Ausdruck gebracht, sondern auch komplexere räumliche Anordnungen geschaffen, in denen beispielsweise zwischen „vertrauten“ und „fremden“ Gegenden unterschieden wird und eigene Handlungsräume und emotionale Verortungen mit diesen verbunden werden. Die Interviewten positionieren sich selbst u.a. im räumlichen Sinne gegenüber ihren Bekannten, ihren (z.B. Autonome, linke Leute, Szene), anderen (türkische community) und feindlichen (z.B. Polizei, Nazis) Gruppen und Institutionen. Ich ging von der Annahme aus, dass in Interviews konkrete Orte und Räume von der Interviewten wie von der Interviewerin konstruiert werden, und zwar unter Rückgriff auf die räumlichen und symbolischen Strukturen. Daher können Räume und räumliche Strukturen mittels der darauf fokussierten Auswertung der Interviewtexte rekonstruiert werden. Die Konstruktion der eigenen Identität im Interview sollte nicht mit den Prozessen der
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kollektiven Identität verwechselt werden, deren räumliche Organisation im Fokus meiner Studie liegt. Dennoch ging ich davon aus, dass bei der Analyse der Interviews u.a. die räumlichen und symbolischen Strukturen der linken Szene in ihrer konkreten Nutzung sowie die institutionalisierten Szeneräume rekonstruiert werden können (die Aspekte der aktiven bzw. transformativen (Re-)Produktion dieser Sinnstrukturen im Rahmen eines Interviews werden an dieser Stelle nicht ausgeführt, da sie für meine Fragestellung nicht relevant sind). Die Auswertung von Interviews bietet demnach eine sinnvolle methodische Komponente meiner als lebensweltliche Ethnografie gestalteten Feldforschung. Triangulation Wie ich dargestellt habe, wurden im Rahmen meiner Forschung mehrere Methoden kombiniert, was für ethnografische Forschungen typisch ist. Wenn ein methodenplurales Konzept der Feldforschung angewandt wird, stellt sich die Frage nach Möglichkeiten der Kombination von Ergebnissen verschiedener Methoden, besonders wenn wir den grundsätzlich konstruierten, methodeninduzierten Charakter der Erkenntnisse beachten. Dies bedeutet, dass wir nicht von der Anwendung verschiedener Methoden auf „ein und denselben“ Gegenstand mit direkt vergleichbaren Ergebnissen ausgehen können, sondern jeweils spezifische Modi der Gegenstandskonstituierung berücksichtigen müssen. In diese Richtung zielt die konstruktivistische Kritik an der für das triangulative Vorgehen grundlegenden Arbeit von Norman Denzin (1970; vgl. Flick 2004: 17ff.). Der hier angemessene Begriff der Konvergenz beinhaltet, dass sich „Erkenntnisse ineinander fügen, sich ergänzen, auf einer Ebene liegen, aber nicht kongruent sein müssen“ (Lamnek 1995: 252). Die systematische Perspektiven-Triangulation erlaubt wiederum, die Stärken der jeweiligen Methoden und dahinterstehenden Forschungsperspektiven zu ergänzen sowie ihre Grenzen aufzuzeigen (Flick 2004: 21). So wurde in meiner Studie die in der Bewegungssoziologie inzwischen klassische Methode der Frame-Analyse von Bewegungstexten eingesetzt. Die Frame-Analyse zielt auf die kollektive Ebene der Wirklichkeitskonstruktion und die „Bausteine“ kollektiver Identität als einer geteilten Wir-Definition. So wurde das komplexe „Freiräume“-Frame aus Mobilisierungstexten rekonstruiert. Allerdings interessierten mich nicht nur solche Sinnstrukturen,
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sondern auch andere Seiten des Prozesses der Wir-Konstitution, also wie Akteure die Weltsichten und Wir-Verständnisse im (alltagspraktischen) Handeln – d.h. die „gelebte Praxis“ (Amann/Hirschauer 1997: 24) der kollektiven Identität, als deren strukturierendes Element ich die räumlichen Anordnungen verstehe – produzieren und reproduzieren. Der Einsatz der teilnehmenden Beobachtung zielte gerade auf die gelebte – und verräumlichte – Praxis der Wir-Identitäten und erlaubte, die Erkenntnisse aus der Analyse von Bewegungstexten und Interviews zu ergänzen. Eine weitere Dimension der Triangulation in meiner Studie bezog sich nicht auf die Methoden, sondern auf die Theorien, auch wenn sie nicht mit der „theoretischen“ Triangulation nach Denzin, also mit der Verwendung verschiedener theoretischer Perspektiven auf einen Gegenstandsbereich (Denzin 1970: 303) verwechselt werden soll. Stattdessen handelt es sich um eine theoriegeleitete Triangulation unter Bezugnahme auf den Strukturierungsansatz und den Grundgedanken der Dualität von Struktur und Handeln. So wird im vierten Kapitel („Umkämpfter Raum einer linken Kneipe“) untersucht, wie eine „linke Kneipe“ als räumliche Institution von Akteuren im Rahmen eines Konfliktes gemacht wird. Das entspricht der Konzentration der Aufmerksamkeit auf den Herstellungsprozess von Räumen als Ergebnis und Voraussetzung des Handlungsverlaufs. Die nach dem Strukturierungsansatz komplementäre Herangehensweise blickt dagegen auf die Räume und ihre Einbettung in die gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen (Löw/Sturm 2005: 42ff.). Sie wird im fünften Kapitel („Szeneläden als Ressourcen kollektiver Identität“) umgesetzt. Am Anfang von Kapitel 4 wird diese kombinierte Vorgehensweise genauer erläutert. Der Strukturierungsansatz wurde vom sensitizing device (Giddens 1991: 213) zu einem gestaltenden Prinzip der Forschung und der Darstellung der Ergebnisse. Die Triangulation, also die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven bei der Beantwortung von Forschungsfragen (Flick 2004: 12), erlaubte in meiner Studie die Erweiterung von Erkenntnismöglichkeiten. In der Einleitung wurde das Ziel expliziert, eine theoretisch begründete, auf Räume orientierte Herangehensweise an die Prozesse kollektiver Identität in sozialen Bewegungen an einem konkreten Fallbeispiel auszuprobieren. Das triangulative Vorgehen bedeutete, dieses Ziel auf verschiedenen Wegen zu verfolgen und dabei über die von einzelnen Methoden gesetzten Grenzen hinauszublicken.
4. Umkämpfter Raum einer linken Kneipe
Am Schluss des theoretischen Teils habe ich – unter Rückgriff auf den Strukturierungsansatz von Anthony Giddens (1997) und seine Ergänzung in Bezug auf räumliche Strukturen durch Martina Löw (2001) – die Forschungsfrage formuliert, wie Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene räumlich organisiert sind. Ich ging davon aus, dass räumliche und identitäre Strukturierungen zwei nur analytisch trennbare Dimensionen der Strukturierung des sozialen Systems der linken Szene darstellen. Die Umsetzung dieses Ansatzes in der Forschungspraxis bedarf allerdings noch einer methodologischen Reflexion. Ich möchte hierfür zunächst eine Empfehlung von Martina Löw und Gabriele Sturm betrachten. Löw und Sturm schlagen angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Räume vor, bei der theoretischen und empirischen Analyse von einer doppelten Konstruiertheit der Räume auszugehen, was soziologisch als Dualität von Struktur und Handeln nach Giddens dargestellt werden kann (Löw/ Sturm 2005: 42ff.). Die entsprechenden Perspektiven auf die räumlichen Phänomene sind nicht als hierarchisch geordnet zu verstehen. Der praktische Forschungsprozess, so argumentieren die Autorinnen, soll jedoch gemäß dem Forschungszweck der einen oder der anderen Zugriffsweise folgen und die räumlichen Phänomene aus der Perspektive der Strukturen oder aus der Perspektive der Strukturierung analysieren. Die erste Herangehensweise blickt auf die Räume und ihre Einbettung (als Determinante) in die gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen. Die zweite fokussiert die Aufmerksamkeit auf den Herstellungsprozess von Räumen als Ergebnis und Voraussetzung des Handlungsverlaufs. Meine Forschungsfrage erlaubt es, eine der beiden genannten Perspektiven zu wählen, und eine Fokussierung erscheint mir sinnvoll. Ich gehe
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jedoch davon aus, dass beide Perspektiven auch abwechselnd eingenommen werden und sich auf diese Weise fruchtbar ergänzen können. Dementsprechend möchte ich ein räumliches Phänomen – die Linke-Szene-Kneipe – von beiden Seiten abwechselnd betrachten. Im nächsten Kapitel werde ich untersuchen, wie die institutionalisierten Räume eines Kneipenabends oder einer Kollektivversammlung die interaktive Konstruktion der WirIdentität unterstützen. Weiterhin befasse ich mich mit der Bedeutung einer linken Kneipe als Anschlussort und Wohnzimmer, die ihre Rolle als Identitätsressource bestätigen. In diesem Kapitel beschäftige ich mich hingegen damit, wie eine LinkeSzene-Kneipe von Szeneakteuren unter konflikthaften Bedingungen als eine räumliche Institution entwickelt und dabei ihre politische Bedeutung bzw. ihr politischer Charakter erschaffen wird. In diesem Sinne kann nicht nur von einer Kneipe der linken Szene, sondern auch von einer linken Kneipe die Rede sein. Dies betrachte ich zunächst in einer eher kurzfristigen Perspektive bei der Untersuchung eines Protests gegen eine Räumung („Emotional-körperliche Raumsynthese“). Im zweiten Unterkapitel („Eine linke Kneipe wird gemacht“) untersuche ich, wie in diesem Fall das Kneipenkollektiv und gleichzeitig eine linke Kneipe erschaffen wurde. Die symbolischen Aspekte einer solchen Raumproduktion sind zentral, bedingt durch die Referenz auf die „Linke“, die ich als eine Kategorie der symbolischen Organisation der sozialen Welt durch die Akteure sehe. „Radikale Linke“ bzw. „Linke“ (was von Szeneakteuren als Teil des eigenen politischen Anspruchs, die „wahre Linke“ zu sein, synonym verwendet wird) ist diejenige Wir-Identifikation, auf die sich die Prozesse der Identität in der Szene fokussieren. Die Produktion eines linken Raums ist dennoch kein rein symbolischer Prozess, sondern betrifft ebenso materiell-physische sowie praktische Komponenten der Räume. So werde ich mich in diesem Kapitel mit der komplexen materiellen und symbolischen Produktion einer linken Kneipe im Handeln befassen, wobei nicht nur das routinisierte Alltagshandeln dargestellt wird. Die in diesem Rahmen produzierten schriftlichen Mobilisierungstexte wie Flugblätter, Demonstrationsaufrufe u.Ä. sind für die Analyse der Framing-Prozesse in der linken Szene unerlässlich, und mit ihnen werde ich mich später ausführlich beschäftigen. In diesem Kapitel werde ich dagegen auf die Ebene der Identitätspraxis „hinter“ diesen schriftlichen Texten blicken.
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Zunächst möchte ich erklären, warum mich gerade die Szenekneipe interessiert. Wie im ersten Kapitel bereits differenziert ausgearbeitet, ist die kommunikative und interaktive Produktion der Gemeinsamkeiten für die Szene als Vergemeinschaftungsform charakteristisch. Diese findet an typischen Treffpunkten und zu typischen Zeiten statt. Die Stabilität dieser Treffpunkte, so Hitzler et al. (2001), kompensiert eine gewisse Instabilität des sozialen Gebildes der Szene. Diese Annahme stimmt auch für die linke Szene. Das gesellschaftszentrierte Raumkonzept erlaubt es, diese Vorstellung zu erweitern und davon auszugehen, dass nicht die Orte, sondern die Räume dabei eine bedeutendere Rolle spielen. Die institutionalisierten Raumanordnungen werden in die Prozesse kollektiver Identität einbezogen. Da bestimmte Kneipen eindeutig die Rolle solcher Treffpunkte haben, werde ich mit ihrer Darstellung beginnen. Ich beziehe mich dabei in erster Linie auf den Fall eines von mir zu Zwecken der Anonymisierung als „Stube“ bezeichneten Kulturprojekts in Berlin-Friedrichshain, das im Erdgeschoss eines ehemals besetzten Hauses1 lag und an dem ich 2002 bis 2003 über ein Jahr lang im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung beteiligt war. Für dieses Fallbeispiel lassen sich die Daten aus der Auswertung von Plakaten, Flyern und weiteren Texte mit denen der teilnehmenden Beobachtung kombinieren. Ich erhoffe mir davon vor allem, die Enge der ausschließlichen Fixierung auf die Texte bei der Analyse der Framing-Prozesse zu überwinden. Der akute Konflikt zwischen den Bewohnerinnen des Hausprojekts (und sekundär den Betreibern des Kulturprojekts) auf der einen und dem Hauseigentümer auf der anderen Seite förderte eine aktive Textproduktion und Diskussionen. Anzumerken ist noch, dass ich nicht darauf ziele, eine ethnografische Beschreibung dieser konkreten Szenekneipe zu leisten. Vielmehr strebe ich an, den institutionalisierten Raum „linke Kneipe“ im Hinblick auf seine Konstitution und seine Rolle in der Identitätskonstruktion zu untersuchen, indem ich mithilfe des im theoretischen Teil formulierten Entwurfs an einen konkreten Fall
1
Das Haus wurde ursprünglich während der Ostberliner Besetzungswelle Ende der 1980er bis Anfang der 1990er besetzt und kurz darauf legalisiert, d.h. es wurden Mietverträge abgeschlossen. Der beschriebene Konflikt zwischen dem Hausprojekt und dem Eigentümer der Immobilie entwickelte sich erst Jahre später, nach einem Eigentümerwechsel. Im Zuge des Konflikts hat der Eigentümer Räumungsklagen für Teile des Hauses gewonnen.
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herangehe. So soll die Tauglichkeit dieses Konzepts in der Forschungspraxis überprüft werden.
4.1 D IE
EMOTIONAL - KÖRPERLICHE
R AUMSYNTHESE
Die Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene finden, so lautet die eingangs gemachte Annahme, größtenteils im Alltagsleben der Szeneangehörigen statt. Dies diente als Argument für die verstärkte Berücksichtigung der räumlichen Organisation kollektiver Identität bei der Untersuchung sozialer Bewegungen. Ohne dieses Argument in Frage zu stellen, möchte ich mich in diesem Abschnitt mit Ereignissen befassen, die im untersuchten Zeitraum und auch heute noch nicht alltäglich, sondern eher kurzfristig und außergewöhnlich sind, in diesem Falle z.B. die polizeiliche Räumung eines Projekts und der dagegen gerichtete Protest. Im Laufe der Forschung wurde die Bedeutung solcher Protestereignisse für die verräumlichte Konstruktion der linksradikalen Identität deutlich. Auch wenn es bei der direkten Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizistinnen nicht immer um die Räume (jenseits der Räume der Konfrontation selbst) ging, so wurde die körperlich erlebte direkte Auseinandersetzung in diesem Fall zu einem Mechanismus der Raumkonstruktion. Die Bedrohung durch diese Art von Repression wurde von den Akteuren, wie ich zeigen werde, als Ressource der Konstruktion der Wir-Identität und der linken Räume verarbeitet. Der emotionale Wert der Räume Wie wird der Wert einer linken Kneipe erstellt? Diese Frage dient dazu, mich den Prozessen der Raumkonstitution zu nähern, die nach Löw (2001) die Aspekte der relationalen Platzierung von Gegenständen und Markierungen (Spacing) einerseits und deren Zusammenfassung zu Einheiten durch Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung (Synthese) andererseits aufweisen. Die Synthese eines linken Raums findet in der Praxis, so nehme ich an, u.a. dadurch statt, dass ihm als Einheit ein bestimmter Wert zugeschrieben wird. Dies kann auf einem diskursiven Weg passieren; so wurde die „Stube“ beispielsweise positiv als ein Ort der Subversion, als ein Freiraum oder als ein linkes kulturell-politisches Projekt charakterisiert. Diese einzelnen Frames werden zu Deutungsklammern, die eine Ansammlung von
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Objekten und Menschen zu einer bedeutungsvollen Einheit zusammenfassen. Die Bedeutung bezieht sich allerdings nicht nur auf den subjektiv erfassten und restlos in Wörter abstrahierbaren Sinn, sondern auch auf Sinn als Handlungsorientierung. Das Framing kann nicht, wie im ersten Kapitel u.a. unter Berufung auf James M. Jasper (1998) angenommen wurde, als rein kognitiver Prozess aufgefasst werden, sondern besitzt auch eine emotionale Komponente. Bei der Wertzuschreibung als Weg der Raumkonstitution handelte es sich im Fall der „Stube“ um einen eindeutig emotional eingefärbten Vorgang und um einen subjektiv erlebbaren, dennoch geteilten Wert. Die Daten der teilnehmenden Beobachtung und die Reflexion meiner eigenen Teilnahme zeigen, dass ein starkes Gefühl des Bedauerns über den Verlust des Kneipenprojekts vorhanden war. Dass die „Stube“ zum Objekt dieses Gefühls wurde, erschuf sie – an der emotional intensiven Schwelle zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung – als einen Raum. Dazu noch eine methodische Anmerkung: Der kulturell orientierte Ansatz, der die Emotionen nicht auf das Körperliche, auf die Physiologie des Körpers bzw. des Gehirns reduziert, bietet den Schlüssel zu ihrer Integration in die Erklärungen der Bewegungsdynamiken (Goodwin et al. 2004: 414). Die Emotionen sollen, ähnlich wie kognitive Vorstellungen und moralische Überzeugungen, im Spannungsfeld zwischen individueller Verkörperung und kollektiv akzeptierten Emotionen als Teil der Kultur untersucht werden. Das bedeutet nicht, sie wiederum auf pure kulturelle Konstruktionen zu reduzieren und ihre physiologische Komponente zu verleugnen. Sie sollen lediglich als gleichzeitig von Konventionen und Individualität geprägt gesehen werden (ebd.). Für mich heißt dies, dass die erlebten Emotionen nicht nur für die Konstitution individueller sozialer Identitäten der Szeneangehörigen und/oder Kollektivmitglieder relevant sind, sondern auch für die Gruppe, und zwar als ein Aspekt der Konstruktion des „Wir“ und des konkreten Raums dieses „Wir“ der „Stube“. Die Notwendigkeit, Emotionen in die Erklärung der Identitätsproduktion zu integrieren, wurde mir beim Lesen der Feldnotizen bewusst, in denen ich sehr oft die (vor allem verbalisierten) emotionalen Ausdrücke von anderen und meine eigenen Empfindungen festgehalten habe. Entsprechend der kulturalistischen Herangehensweise möchte ich auf den emotionalen Austausch und auf meine eigenen, dokumentierten Empfindungen eingehen. Die Reflexion meiner Emotionen war methodisch gesehen der einzige Weg, „in den Kopf“ eines Kollektivmitglieds zu blicken, und ich erhebe
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keinen Anspruch darauf, dass diese Emotionen repräsentativ waren. Entsprechend meiner Ausrichtung auf die lebensweltliche Ethnografie habe ich über eine lange Zeit an der Arbeit des Kollektivs teilgenommen, wobei mein Handeln entgegen der ursprünglichen Absichten zu einer Grundlage der emotionalen Bindung wurde (vgl. unten zur Emotionalität als Erkenntnisinstrument). Allerdings sollten auch meine Empfindungen erst in Worte gefasst werden, um diese festzuhalten und später hier kommunizierbar zu machen. Ein Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll: Es sind drei Tage seit der Räumung. Ich bin zu einem Plenum ins Hausprojekt gegangen. […] Nach dem Plenum gehen einige Leute – ich auch – nach unten, um die Zerstörungen anzusehen, die der Eigentümer und die von ihm engagierten Bauarbeiter auch gestern noch angerichtet haben. […] Ich stehe in der Stube und es ist einfach unfassbar – es ist alles kaputt! Der Kühlschrank umgeworfen auf dem Boden, das Regal ist weg, der Tresen ist kaputt, Müll und Dreck bedecken den Boden, Plakate sind ab- bzw. angerissen (aber die, die nicht abgerissen sind, wirken angesichts des verfremdeten Raums noch seltsamer). Die ganzen Möbel aus der Küche sind weg, Geschirr liegt in einem Haufen auf dem Boden. Die Kloschüssel auf der Toilette ist zerschlagen. Es ist kaputt, es ist ein ganz anderes Licht – die Verkleidung wurde von den Fenstern entfernt. Es tut einfach total weh, es anzusehen! Auch jetzt, wo ich das schreibe, kommen mir die Tränen in die Augen. Es macht mich traurig, mich daran zu erinnern. Und wenn ich daran denke, wie ich im zerschlagenen Raum stehe, so war es nicht nur Traurigkeit, sondern auch das Gefühl des Unfassbaren. Ich fotografiere die Stube, um die Zerstörung zu dokumentieren. Es ist noch jemand mit der Kamera da, von „Krassen Zeiten“2, und sonst ein paar Leute, zum Teil aus dem Haus. Wir tauschen Kommentare aus wie Kopfschütteln, irritiertes (und nicht besonders lustiges) Lachen, „Oh Scheiße!“, „Kaputtes Arschloch“, „Der ist ja einfach krank.“3
2
„Krasse Zeiten“ war ein „Gegenöffentlichkeit“-Projekt, das Demonstrationen und andere für die linke Szene relevante politische Ereignisse in Berlin visuell dokumentierte und im Internet veröffentlichte (http://www.krasse-zeiten.de, später http://www.krasse-zeiten.org, Stand: 17.6.2007). Es ist heute nicht mehr aufzurufen.
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Ich gebe hier und weiter die sogenannten Kraftausdrücke als Mittel des emotionalen Ausdrucks unverfremdet wieder.
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Das Gefühl der Trauer um den Verlust wurde in dieser Situation sehr wichtig, und die „Stube“ wurde zusätzlich emotional eingefärbt und schon nach ihrer Zerstörung somit als ein wichtiger Raum aufgewertet und „zementiert“. Interessant ist, dass meine Handlung, die Zerstörungsspuren zu fotografieren, bei einer späteren Durchsicht der Daten vor allem als ein Weg erschien, mit diesem Gefühl umzugehen (angesichts von zwei vollen Filmen, die für die angestrebte Dokumentation für Forschungszwecke eindeutig überflüssig waren). Die Rolle der Emotionen auch für mein eigenes Verhalten war hier enorm. Im zitierten Abschnitt wird deutlich, dass die Emotionen nicht nur individuell empfunden wurden, sondern zu Elementen und Gegenständen der Interaktion gehörten. Das Vorgehen des Hauseigentümers wurde von den Anwesenden im Konsens als irrationaler, aggressiver Zerstörungswahn kategorisiert, seine Emotionen als illegitim angesehen. Die Abweichung von der Rationalität konnte durch das irritierte Lachen gemeinsam verarbeitet werden. Die Anwesenden konstruierten ihre Zusammengehörigkeit durch übereinstimmende emotional-moralische Einschätzungen. Die Zerstörung des Raums der „Stube“4 wurde interaktiv verarbeitet, und diese Verarbeitung wurde an sich zu einem Mittel der Wir-Konstruktion. Noch deutlicher ist eine solche Wirkungsweise zu sehen, wenn statt einer eher situativen Betroffenheitsgemeinschaft eine situationsübergreifende kollektive Bindung vorliegt. Die Nachricht von der bevorstehenden Räumung von Teilen des Hauses, einschließlich der „Stube“, im Frühjahr 2003 wurde ungefähr drei Wochen zuvor verbreitet. Beim Plenum des Kollektivs, das am Tag darauf stattfand und bei dem die meisten Kollektivmitglieder davon erfuhren, war die Stimmung sehr bedrückt. Es entstanden immer wieder lange Pausen nach den Fragen und es kam im Endeffekt kein richtiges Gespräch zustande. Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass zwischen individuell erlebten Emotionen und institutionalisierten Vorlagen (wie emotionalen Displays) unterschieden werden soll. Die letztgenannten gehören zu den normativen Vorstellungen von Gruppenmitgliedern (Prototypen) und bilden damit die Handlungsorientierung für diejenigen, die dazu gehören (wollen) und über deren Zugehörigkeit in einer bestimmten Situation geurteilt wird:
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An dieser Stelle ist der im ersten Kapitel angenommene Unterschied zwischen den Begriffen „Raum“ und „Ort“ augenfällig: Der Ort war noch da, dennoch waren die physischen Elemente des Raums weg.
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Was darf ein Linker/eine Besetzerin/eine Freundin des Hauses empfinden? Oder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: Ist diese Person nun ein Linker/eine Besetzerin/eine Freundin des Hauses oder „komisch“? Dies lässt sich am Beispiel eines Textes zu „persönlichen Gedanken nach der Räumung“ verdeutlichen, der elektronisch veröffentlicht wurde.5 Dieser Text ist subjektiv gehalten, da er neben der Darstellung der Abläufe, u.a. der Zerstörung der Räume und den Schikanen des vom Eigentümer aufgestellten Wachschutzes, von den Gefühlen der schreibenden Person handelt. Es wird beschrieben, wie bei der Begehung des Hauses die Wut wächst, wenn immer neue Zerstörungen zum Vorschein kommen. Allerdings werden die Gefühle durch die durchgehende Verwendung des Pronomens man depersonalisiert: Man sähe es mit eigenen Augen, man selbst habe hier vor kurzem gesessen etc. Das kann im Sinne der Normalisierung der Erlebnisse interpretiert werden. Emotionen wie Trauer und Wut werden legitimiert – die eigene Wut im Gegensatz zum irrationalen Wüten des Eigentümers, dem der Spaß am Kaputthauen der Einrichtung zugeschrieben wird. Die Notwendigkeit einer Legitimierung wird durch die Online-Kommentare anderer Nutzer deutlich, die kritisch von Opferhaltung bzw. Mitleidsgetue schreiben oder die Bereitschaft, Gefühle zu benennen, die in der Szene als uncool stigmatisiert sind, lobend hervorheben. Dass Trauer mit der Position von Schwäche verbunden wird, stimmt mit dem in Militanz-Frames (vgl. Haunss 2004: 169ff.) festgehaltenen Ideal der eigenen Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit überein, das als Coolness-Display in das Alltagsverhalten übertragen wird (vgl. Unterkapitel 5.1). Es gab keine öffentlichen Tränen um das geräumte Hausprojekt oder um die „Stube“ und somit keine Tränen als Elemente der interaktiven Prozesse kollektiver Identität. Das Zeigen der Wut dagegen, als einer Emotion, die nach außen gerichtet und aggressiv ist, gehört zu den Verhaltensstandards als Reaktion auf bestimmte Situationen und Informationen und hiermit zum Prototyp des Szeneangehörigen (vgl. Jasper 1998: 407).6 Dies war auch bei der (weiter unten analysierten) unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Polizei bei der Räumung im Frühjahr 2003 zu beobachten, als ge-
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Auf eine Quellenangabe wird zwecks Anonymisierung verzichtet.
6
Auch die Comic-Figuren, die in der Szene auf Aufklebern, T-Shirts u.Ä. verwendet werden, haben zum Teil wütende Gesichter (wie z.B. Akira aus einem Manga-Comic auf einem Smash-Fascism-T-Shirt).
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panzerte Polizisten die vor dem Hauseingang stehenden Menschen zurückdrängten und viele wütende Ausrufe ernteten. Dass die Emotionsausdrücke auch eine kollektive Seite beinhalten, bezieht sich nicht nur auf die Prototypen von Szeneangehörigen als Elemente der geteilten Wir-Vorstellungen (die zudem beim Aufbau sozialer Identitäten benutzt werden), sondern auch auf das emotionale Framing. Die Missstände und die Antagonistinnen werden sowohl kognitiv definiert als auch mit bestimmten Gefühlen belegt, so dass die Motivation zur Protestbeteiligung verstärkt wird. Bei der Demonstration nach der Räumung hieß es auf einem großen Transparent: „Aus Wut wird Mut // Aus Trauer Power!“ Die reaktive Emotion der Wut (auf „die Bullen“/„den Eigentümer“, wegen „der Räumung“) soll programmatisch in eine langfristige positive Einstellung, den Mut (zum Kampf), umgewandelt werden. Ebenso soll auch die Trauer in eine zu aktiver Handlung befähigende Kraft transformiert werden. Diese angestrebte Dynamik ist von einer Mobilisierungslogik geprägt, die verlangt, dass die individuellen Emotionen der Mobilisierung für die gemeinsame Sache unterliegen sollen. Sie werden zur Motivation genutzt und umgewandelt – und dabei aufgehoben. Ihre Definition erfolgt in Hinsicht auf ihre Funktion, die Szene zu stärken. Es wäre trotzdem kurzsichtig, von einer einseitigen Instrumentalisierung individueller Empfindungen für kollektive Zwecke zu reden. Der vorgeschlagene Weg erlaubt den Individuen, ihren eigenen negativen Emotionen einen anderen Sinn zu geben und sie so zu verarbeiten. Eine andere potenziell hierarchische Differenz wird in Bezug auf die emotionalen Ausdrücke dennoch deutlich: Während im mündlichen Austausch die Emotionen wie Wut oder Trauer (in Form von zum Teil mimisch untermauerten Kommentaren wie „beschissene Situation“, „voll traurig“, „Wut im Bauch“, „Megascheiße“, „blöde Arschlöcher“ u.Ä.) durchaus artikuliert werden, weichen sie in schriftlichen Mobilisierungstexten einer eher sachlich orientierten Darstellung. Angesichts dieses Unterschieds kann angenommen werden, dass vor allem die mündliche Kommunikation für das Management der Emotionen in der linken Szene relevant ist. Beim emotionalen Framing wird der Wert eines eigenen Raums (hier: des Komplexes des Hausprojekts und der „Stube“, wobei die Unterschiede zwischen den beiden angesichts der gemeinsamen Bedrohung von außen nivelliert werden) kommunikativ erzeugt und zur Motivation des solidarischen Handelns benutzt, d.h. in die Prozesse kollektiver Identität einbezogen. Die Zerstörung der Projekträume kann von
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den Akteuren durch den intensiven emotionalen Bezug als Anlass verarbeitet werden, den Raum als etwas Einheitliches und Wertvolles zu erfassen. Beim Blick auf die emotionale Wertzuschreibung wird deutlich, dass die Raumkonstitution nicht nur in Routinen stattfindet. So war die (Teil-)Räumung eines Hausprojekts 2003 für die Szene ein eher außergewöhnliches Ereignis. Im nächsten Abschnitt werde ich genauer auf die individuellen Einsätze bei der Konstitution des Wertes eines Raums und hiermit des Raums selbst eingehen. Risiko als Kapital Der langjährige Mobilisierungsspruch der Kampagnen für den Erhalt der Wohn- bzw. Kulturprojekte in der Berliner Köpenicker Straße 137 („Køpi“ bzw. „Köpi“) heißt „Køpi bleibt Risikokapital!“. Dieser Spruch verweist in erster Linie auf die Risiken, mit denen die Versuche der kapitalistischen Verwertung des Hauses bzw. des Grundstücks in einer „lukrativen Lage“ am Spreeufer behaftet sein sollen. Der Begriff des Risikokapitals kann dennoch auch in einem weiteren Sinne für die linke „Häusermobilisierung“ verwendet werden, und zwar zur Beschreibung eines speziellen Mechanismus der emotionalisierten Wertzuschreibung und Raumkonstitution. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt festgehalten, haben die Emotionen eine körperliche Komponente. Der risikobehaftete Einsatz des eigenen Körpers wird, so meine These, zu einem Weg, auf dem der emotionale Wert eines Raums konstruiert und dieser dadurch zu einer bedeutungsvollen Einheit synthetisiert wird. Die derzeitige politische Situation in Berlin ist nicht so, dass die häufigsten Formen des Engagements in der linken Szene mit erheblichen Risiken für die Unversehrtheit, für die Freiheit oder für das Leben verbunden wären (im Unterschied beispielsweise zu Bürgerrechtsaktivisten im Süden der USA in den 1960er Jahren, vgl. McAdam 1988a). Trotzdem setzen sich die Akteure in manchen Situationen nicht nur der polizeilichen Repression und der strafrechtlichen Verfolgung (wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruchs etc.) aus, sondern auch dem Risiko einer Verletzung. Dies war auch bei der Teilräumung der von mir untersuchten Projekte im Frühjahr 2003 der Fall, als sich ca. 150 Hausbewohnerinnen und Unterstützer in den frühen Morgenstunden vor den Hauseingang stellten, um eine Barriere zwischen dem Eingang und den Polizeikräften zu bilden. Indem
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diese Akteure sich vor dem Haus aufstellten, erschufen sie nicht nur einen situativen (und trotzdem institutionalisierten) Protestraum, sondern auch den Wert des Raums des Hausprojekts, um den es hierbei ging, und produzierten diesen Raum selbst. Um die Rolle der körperlichen Einsätze bei dieser wertbezogenen Raumsynthese zu klären, möchte ich auf die Ereignisse vor der Räumung eingehen. In den Plan der Hausbewohner zum Widerstand gegen die Räumung wurden die Mitglieder des Kneipenkollektivs drei Tage zuvor eingeweiht. Er sah vor, dass sich die anwesenden Menschen in Ketten zusammengeschlossen vor den Eingang stellen sollten. Falls genügend Leute (ab 50 Personen) dem Mobilisierungsaufruf folgen würden, sollte sich ein Teil auch in die Durchfahrt sowie ein weiterer Teil davor stellen. Somit würden sie, in ein langes Banner eingewickelt, eine Art „Tropfen“ bilden. Für den Fall, dass sich weniger als 50, aber mehr als 30 Leute beteiligen würden, sollte man sich in engen Reihen in die Hauseinfahrt nach dem Modell eines „Korkens“ stellen. Dies sollte es der Polizei erschweren, die Verteidiger wegzudrängen und in das Haus zu kommen. Dieser Plan sollte bis zuletzt geheim gehalten werden und wurde auch dem Kollektiv sehr kurzfristig mitgeteilt. Interessanterweise wurde die Planung nicht durch ein im Haus wohnendes Kollektivmitglied bekannt gemacht, sondern durch eine andere Person (auf diese Weise sollte ein Loyalitätskonflikt der parallel im Hausprojekt und im Kollektiv engagierten Menschen entschärft werden). Die Skepsis unter den Kollektivmitgliedern bezüglich dieses Plans war groß, obwohl sie in der Anwesenheit der Hausprojekt-Vertreterin nicht verbal zum Ausdruck gebracht wurde. Stattdessen gingen alle nach der Besprechung zum Haus zurück, um weiter „Barris“ (Barrikaden) zu bauen; die Kollektivmitglieder tauschten sich dabei nur in Kleingruppen über den Plan aus. Die Räumung wurde seit ihrer Bekanntgabe im Kollektiv als eine beschlossene Sache wahrgenommen, die vollzogen werden, aber in Hinblick auf die schon einmal geschehene Wiederbesetzung nicht unbedingt endgültig sein würde, mit der jedoch auf jeden Fall umgegangen werden musste. Die Idee war, die Kosten der Räumung, inklusive der Zeitkosten, in die Höhe zu treiben, d.h. die Räumung möglichst aufwendig zu gestalten und in die Länge zu ziehen. Das Bauen von Barrikaden an Eingängen und Fenstern diente diesem Zweck. Auch die Idee, einen menschlichen „Tropfen“
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bzw. „Korken“ zu bilden, ist in diesem Kontext zu sehen. Die Kritik im Kollektiv bezog sich auf die übertriebenen körperlichen Risiken des Plans: Peter sagt, er hat gar kein’ Bock, sich in eine Hofeinfahrt hinzustellen und sich da von den Bullen vermöbeln zu lassen. Wenn es niemand sehen kann, werden sie doch so richtig schön zulangen. Andrea meint zustimmend, ja, da können sie doch machen was sie wollen. Peter: „Das ist doch ein totaler Quatsch, dieser Plan. Es sei denn, Haus kriegt wirklich fuffzig Leute zusammen. Aber das kriegen sie nie. Sich gegen die Wände schmieren zu lassen!“7
Die Gefahr, brutal zusammengeschlagen zu werden, wird in diesem Gespräch als ein Faktor konstruiert, der real ist und bei der Planung beachtet bzw. minimiert werden soll. Die Analyse der Argumentation zeigt die zugrunde liegende antagonistische Vorstellung von „denen“ – Polizisten – als Schläger, die nur auf eine Gelegenheit warten, Menschen wie „uns“ zusammenzuschlagen. Ihnen eine Gelegenheit dazu zu geben, wird als Planungsschwäche und Ignoranz gedeutet. Hier findet die Konstitution der gemeinsamen Sicht auf die Situation und das eigene Handeln auf einer alltäglichen sprachlichen Ebene statt. Wie unten gezeigt wird, ist das in Bezug auf die risikobehaftete Körperlichkeit nicht immer der Fall. In der Nacht vor der Räumung fand ein vom Hausprojekt organisiertes Aktionsplenum in der „Stube“ statt, zu dem die Menschen in kleinen Gruppen von einem Treffpunkt geschleust wurden, an dem auch eine Mahnwache gegen die Räumung stattfand. Auf diesem Plenum sollte der Plan mit dem „Tropfen“ bzw. „Korken“ bekannt gegeben werden. Um kurz nach eins waren vier Leute vom Kollektiv der „Stube“ (Peter, Andrea, Malte und ich) anwesend. Es waren sehr wenige Leute da (unter 20), die meisten kannte ich nicht. In der Diskussion nach Vorstellung des Plans vertraten wir die Position, dass die Idee des „Tropfens“ bzw. „Korkens“ angesichts der zu hohen Gefahr für die Leute nicht akzeptabel sei. Gemäß der ursprüngli-
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Das Gespräch wurde, wie andere zitierte Gespräche im Feld, nach Erinnerung beim Verfassen der Beobachtungsprotokolle rekonstruiert. Ich kann deswegen nicht garantieren, die Ausdrucksweise so wortgetreu festgehalten zu haben, wie es beim Transkribieren von Interviews möglich ist. Die Inhalte der jeweiligen Beiträge konnte ich jedoch detailliert genug wiedergeben, um sie für meine Zwecke sinnvoll auswerten zu können.
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chen Absprache, der „Korken“ funktioniere erst ab 30 Leuten, und angesichts der wenigen anwesenden Menschen solle auf diese Taktik verzichtet werden. Mit 20 Leuten in einer Hofeinfahrt zu stehen, wo es keiner von draußen sehen würde, sei Quatsch. Es würde den Polizisten nur die Gelegenheit geben, uns richtig schlimm zu verprügeln. Hingegen sei es unserer Ansicht nach ausreichend, sich in Ketten vor das Haus zu stellen. Wir sind zu viert und treten entschlossen auf (ich diskutiere mit), und ich habe den Eindruck, Leute – ohne Projekthintergrund – nehmen die Kritik ernst. Ich sehe im Hintergrund, wie Alex, eine Frau vom Haus, die vor dem Eingang steht, verschwindet. Ein paar Minuten später ist sie wieder da – mit dem „großen Meister“. Er setzt sich in die Runde. Ich, Andrea und Peter tauschen ironische Blicke aus – ich schmunzele, jetzt holen wir mal den Chef, wenn es mal nicht so läuft wie wir wollen. Der „große Meister“ sagt: „Unser Ziel ist es, dem staatlichen Gewaltapparat unseren entschlossenen Widerstand zu zeigen!“ Ich glaube, ich höre nicht richtig – so eine Phrasendrescherei! Die Stimmung verändert sich schlagartig. Diejenigen Menschen, die vorhin relativ offen unseren Argumenten gegenüber waren, sehen ihn an und halten kurz inne; es entsteht eine Pause, wo niemand was sagt – im Unterschied zur einem regen Austausch davor.
Ab diesem Zeitpunkt wendete sich das Blatt und von den Anwesenden wurde an dem Plan keine Kritik mehr geduldet. Schließlich verließen wir zu viert um ca. drei Uhr nachts das Plenum, nachdem Peter offen dem „großen Meister“ vorgeworfen hatte, dieser würde die kollektiven Beschlüsse um die Erfüllung seiner eigenen Pläne willen ignorieren und die Leute „verheizen“. Die Bezeichnung als „der große Meister“ wurde u.a. im Kneipenkollektiv verwendet und reflektiert zunächst ironisch die Position dieser Person in der internen Haushierarchie. In der beschriebenen Situation zeigte er sich vor allem als der große Meister der Diskussion. Die Autorität speiste sich unter den Umständen der offiziell herrschaftsfreien Kommunikation eines Plenums, bei dem alle das gleiche Recht zu sprechen haben sollten, nicht aus der persönlichen Autorität des Sprechenden, sondern aus der Autorität der politischen Ziele (vgl. zur Konstruktion der Machtverhältnisse in Strukturen der alternativen Szene Sofsky/Paris 1991). Indem der Gegenstand der Auseinandersetzungen (Mittel gegen Ziele des Handelns) ausgetauscht wurde, wurde der Kritik an den Mitteln die Legitimation entzogen. Denn wer würde es wagen, dem Grundsatz, man müsse gegen die Staats-
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gewalt sein, zu widersprechen? Auf diese Weise wurden die zuvor in die Diskussion eingebrachten körperlichen Einsätze der Teilnehmer den Zielen des Protests untergeordnet. An dieser Stelle soll meine eigene Situation inmitten dieser Geschehnisse reflektiert werden, denn ich war offensichtlich eine aktive Teilnehmerin und keine reine Beobachterin. Wie schon bei der Darstellung der Methoden festgestellt, ist die fortgesetzte Partizipation von Beobachtern an den Räumen der interessierenden sozialen Abläufe für die ethnografische Forschung typisch. Wir sind keine abstrakten Erkenntnissubjekte, sondern in unserer Körperlichkeit vor Ort anwesend und beteiligen uns zwangsläufig an Prozessen der Raumkonstitution. Trotzdem sind verschiedene Formen der Teilnahme möglich, und zwar auch für diejenigen, die nur teilnehmen, ohne für wissenschaftliche Zwecke zu beobachten. Bei Situationen wie der beschriebenen Räumung besteht nicht nur das Risiko, polizeilicher Gewalt ausgesetzt zu sein, sondern es muss auch mit Festnahmen und Anklagen (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, versuchte Gefangenenbefreiung, Landfriedensbruch etc.) gerechnet werden. Ich begriff meine Situation als die einer Ausländerin mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis und wollte mich keinen rechtlichen Risiken aussetzen. Zudem wollte ich in diesem Zusammenhang vermeiden, dass die Polizei von meinem Forschungsprojekt erfuhr, um mir Unannehmlichkeiten zu ersparen, falls die Beamten versuchen sollten, Zugriff auf meine Daten zu bekommen. Der Schutz der Anonymität von Menschen, mit denen ich im Feld in Kontakt stand, hatte für mich eine klare Priorität. Das konkrete Risiko, dass meine Daten in die falschen Hände geraten würden, habe ich als eher gering eingestuft. Alle Feldnotizen wurden streng anonym geführt. Letztendlich war ich auch nicht bereit, mich erpressen zu lassen (um meine Aufenthaltserlaubnis musste ich mir als Ehefrau eines Bundesbürgers keine ernsthaften Sorgen machen). Den möglichen Konflikt wollte ich dennoch umgehen und meldete mich beim Vorbereitungsplenum, als nach Leuten gefragt wurde, die eine rechtlich risikofreie Aufgabe übernehmen wollten.8
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Hier sieht man, dass die Unterschiede in der persönlichen Situation und die Risikobereitschaft potenzieller Protestteilnehmer institutionalisiert reflektiert und hiermit anerkannt wurden, so dass ein Mensch eine von mehreren kollektiv akzeptierten Varianten auswählen konnte. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass die eigenen körperlichen Investitionen wirklich ebensolche sind.
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Trotzdem befand ich mich am frühen Morgen unter denjenigen Menschen, die vor dem Hauseingang standen, als der Polizeieinsatz begann. Ich dachte: Wenn ich mich nicht davor stelle, werde ich einfach nicht wissen, wie es ist. Meine Vorstellung von der beobachtenden Teilnahme deckte sich mit Goffmans Empfehlungen: „By participant observation, I mean a technique […] of getting data […] by subjecting yourself, your own body and your own personality and your own social situation, to the set of contingencies that play upon a set of individuals so that you can physically and ecologically penetrate their circle of response to their social situation […] or whatever.“ (Goffman 1989: 125)
Die teilnehmende Forschung ist eine Arbeit, die auch den Einsatz des eigenen Körpers verlangt. Der Körper wird zum Erkennen und zur Empathie „getunt“, indem man sich dem, was kommt, aussetzt und sich so verhält, als könnte man nicht gehen, auch wenn es de facto anders ist (ebd.). An diesem Morgen ergaben sich für mich verschiedene Möglichkeiten, mit der Bedrohungssituation umzugehen, denen ich mich anschließen konnte. Nun hatte ich als Soziologin eine von ihnen gewählt und so gehandelt, wie ich auch als Kollektivmitglied ohne Forschungsinteresse hätte handeln können. Zugleich reflektierte ich mein Verhalten im Hinblick auf meine Forschungsfragen. Ich nehme an, dass ich ohne diese Erfahrung das, was ich über den emotionalen Wert der Räume schreibe, nicht hätte formulieren können. Meinen Körper setzte ich im Rahmen des existenziellen Engagements als „Erkenntniswerkzeug“ ein (entsprechend der im methodischen Kapitel geschilderten Prinzipien der beobachtenden Teilnahme). Wenn ich davon schreibe, dass die eingegangenen individuellen Risiken den Wert der Räume und so die Räume selbst miterschaffen, dann eher im Sinne eines Resultats des Handelns und nicht seiner Zweckorientierung. Dieser mit Kosten verbundene Aktivismus kann nicht im Sinne einer Kostenkalkulation erklärt werden. Entscheidet man sich dafür, sich vor das Haus zu stellen, bedeutet dies die Bereitschaft, sowohl eine Festnahme als auch eine Verletzung zu riskieren. Diese Bereitschaft, den eigenen Körper einzusetzen, indem man sich unmittelbar vor Beginn des Räumungseinsatzes vor gepanzerte Polizisten stellt, ist eine unmittelbare Erfahrung. Ohne die Berücksichtigung solcher unmittelbaren, u.a. körperlichen Erlebnisse greift die Analyse kollektiver Identität in der linken Szene zwangsläufig zu
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kurz. Die Darstellungen der Plakate, Flugblätter und anderer Texte, überhaupt sprachlicher oder schriftlichter Ausdrucksformen, bilden nur einen Teil der Lebens- bzw. Sinnwelt der Beteiligten, was von Forschern berücksichtigt werden sollte. Die Erfahrungen der unmittelbaren Auseinandersetzungen können nicht alleine in der Sprache der Plakate oder Flugblätter erfasst werden. Die Rede vom entschlossenen Widerstand gegen den staatlichen Gewaltapparat kann komisch bis realitätsfern klingen. Ketten bilden ist für die Beteiligten nicht komisch. Die interaktive Konstitution der Räume im Handeln ist eine Form bzw. eine Komponente der unmittelbaren Erfahrungen und der Produktion kollektiver Identität. So wurde von den Beteiligten am Morgen der Räumung ein Protestraum konstituiert. Mit einem weiteren Zitat aus dem Beobachtungsprotokoll möchte ich diese Perspektive der unmittelbaren Erfahrung deutlich machen. Wir stehen davor. Es sind vielleicht 100 Leute da, und noch welche in der Einfahrt (ich sehe so an die 15 Leute), die Ketten werden gebildet. Über dem Eingang schläft ein Hippie in der Hängematte. Wir stehen ungefähr in der dritten Reihe. Es ist das Gefühl der Erwartung, gleich geht’s los, ich bin aufgeregt. Jemand ruft plötzlich „Mehr Sozi! Mehr Rente! Weg mit der Polente!“, die Leute stimmen ein. Dann sehe ich den Grund: Die Bullen in Kampfmontur,9 u.a. in Helmen und Handschuhen, rücken an und stellen sich auf der Seite auf. Es setzen Pfiffe und Buh-Rufe ein, dann laute Sprechchöre: „Haut ab! Haut ab!“ Ich rufe auch „Haut ab! Haut ab!“ Dann flaut der Lärm ab, es passiert noch nichts. Die Leute stehen nun anders, direkt vor dem Haus eine kleinere Gruppe in kurzen Ketten, zu der auch ich gehöre. Dann geht eine weitere Lärmwelle los: „Wir bleiben alle, wir bleiben alle!“ Die Durchsage der Polizei startet und wird sofort mit der steigenden Lautstärke (Buh und Pfiffe) entgegnet. Ich verstehe nur „Richtung …straße“ und „in Gewahrsam genommen“. Dann wird es wieder leiser. Dann kommen sie näher, langsam. „Haut ab“-Rufe
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Interessant ist hier die Sprachwahl: Ich habe es damals so aufgeschrieben, wie ich es empfand. Nach dem Verfassen habe ich festgestellt, dass ich mit „Bullen“ eindeutig die Sprache der Szeneangehörigen übernommen habe. Das entsprach der dargestellten Situation und zeigt, dass man doch nicht immer die eigene Rolle reflektieren kann bzw. Zeit dazu hat – und vor allem, welche nachhaltige Wirkung direkte Auseinandersetzungen mit der Polizei auf die Wahrnehmung der sozialen Welt haben können.
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gehen wieder los, immer schneller! Die Bullen zerren, schubsen, versuchen Leute rauszuziehen, wir versuchen, die Ketten zu halten und dort stehen zu bleiben – klappt nicht. Wir werden zurückgedrängt, auf die Seite. Die Bullen setzen keine Schlagstöcke ein. Wir stehen schon quer auf der Straße, neu in Ketten formiert, neben mir sind andere Leute, die ich zum Teil kenne. Ich kann nur sehen, was vor mir und unmittelbar um mich herum ist. Die Leute schreien immer wieder Parolen. Es kommt eine neue Durchsage. Die Bullen rücken wieder an, schubsen und drängeln. Die Leute skandieren weiter und schreien. Die Reihe vor mir, in der auch einer von der „Stube“ steht, bricht unter dem Druck auseinander bzw. wird auseinander gerissen. Plötzlich bin ich in der ersten Reihe und ich habe Angst. Vor mir direkt ein Bulle, ein junger Mann mit hellen Augen, um ein Kopf größer als ich. Er tritt mir gegen das Schienbein und versucht, mich ins Gesicht zu schlagen. Ich sehe sein Gesicht durchs Visier ganz deutlich. Just in dem Augenblick, als seine Faust auf mein Kinn trifft, rutsche ich aus und falle nach hinten, werde von Leuten, die direkt hinter mir stehen, aufgefangen, sie helfen mir wieder auf die Beine. Sein Schlag hat mich nur spürbar gestreift – was wäre, wenn ich nicht ausgerutscht wäre?! Ich hatte einfach Glück. Das denke ich (wütend) erst später, direkt vor Ort hatte ich wohl keine Zeit.
Bei diesem Protestereignis handelt es sich um Räume auf zwei Ebenen: Zuerst um den Raum des Hausprojekts, der von der Räumung durch die Polizei bedroht ist und zu dessen Schutz die Beteiligten sich vor das Haus stellen. Sich schützend davor zu stellen kann in der „militärischen“ Logik der Verteidigung sinnlos sein. In diesem Fall dauerte es keine halbe Stunde, die Unterstützerinnen des Projektes vom Haus zur nächsten Straßenecke abzudrängen und die Straße abzuriegeln. Für die Konstitution der kollektiven Identität und des Wir-Gefühls der Beteiligten ist dies dennoch durchaus relevant. Diese Konstitution der Wir-Identität passiert u.a. im Rahmen des schon erwähnten Raums des Protests. An ihm sind viele Akteure beteiligt – neben den Hausunterstützerinnen aus der linken und „befreundeten“ Szenen wie die der Punks gehören auch die Polizisten als Kontrahenten zweifellos dazu. Der Antagonismus zwischen „Uns“ und „Denen“ (der Polizei bzw. dem Staat) vollzieht sich als Konflikt mit klar räumlich getrennten Fronten, deren Beteiligte einander unversöhnlich gegenüber stehen (diese Variante ist nicht die einzig mögliche, wie in Kapitel 6 bei der Analyse von Demonstrationen gezeigt wird). Die emotional-körperlich eingefärbten Räume beziehen sich auf die bei den Akteuren schon bestehenden Vorstellungen
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des Konflikts zwischen „Uns“ und „Denen“, machen diese Vorstellungen körperlich erlebbar und reproduzieren sie auf diese Weise. Sie sind in diesem Sinne keine Zwischenstationen, sondern ein eigenständiger Mechanismus der Identitätsproduktion. Die Ketten, die durch das gegenseitige Einhaken der Ellenbogen mit den Nachbarn links und rechts gebildet werden, sind ein Mittel, die Widerstandsfähigkeit der eigenen Reihen zu erhöhen, die Einzelnen bis zu einem bestimmten Maße zu schützen und ein Mittel, die Solidarität herzustellen. So bilden Menschen mit ihren Körpern einen einheitlichen Raum, sie halten, buchstäblich und symbolisch zugleich, zusammen. Die Positionierung von sich selbst als Spacing und Synthese zu einem Raum fallen hier deutlich zusammen (was, wohlgemerkt, eigentlich für das Alltagshandeln typisch ist). Die Raumsynthese bekommt einen deutlichen identitären Aspekt, indem ein solidarisches und gegen „Sie“ gerichtetes „Wir“ eine gedankliche Klammer für den Protestraum bildet. Die farbliche Einheit der Polizisten in grünen Uniformen bildet eine weitere Methode zur Wahrnehmung der eigenen (nicht-grünen) farblichen Einheit im Rahmen des zweigeteilten Raums. Das hier räumlich zu erlebende Ideal der Wir-Einheit wird nicht nur in Mobilisierungstexten wie Flugblättern formuliert, sondern auch in Liedern. Neben den aktuellen politischen Bands werden auch eingängige Klassiker wie „If the kids are united (they will never be divided)“ der Punkrock-Band „Sham 69“ aus dem Jahr 1978 als Teil der – vergleichsweise neuen – subkulturellen musikalischen Tradition mobilisiert (vgl. Eyerman/Jamison 1998). Das Handeln der Polizisten bei der beschriebenen Räumung war explizit darauf gerichtet, diesen einheitlichen Raum der Protestierenden als solchen zu zerstören bzw. von dem konkreten Ort (der Hofeinfahrt) weg zu verlagern. Das Transparent funktionierte im Endeffekt auch als eine rein symbolische Klammer zur Erstellung der Einheit. Es wurde sofort von den Polizisten aufgeschnitten, so dass diese Einheit zerstört wurde; die Leute gesellten sich daraufhin zu den anderen vor dem Haus stehenden Menschen. Dieses körperliche und räumliche Erlebnis der Nähe ist nicht erotisch, dennoch in einem anderen Sinne geteilt und auf einander bezogen. Dies hängt mit der oben genannten Bereitschaft der Akteure zusammen, sich für „die Sache“ dem Schmerz auszusetzen. Richard Sennett kritisiert in „Fleisch und Stein“ die taktil armen, neutralen Räume der modernen Städte
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und schreibt als Gegenentwurf: „[D]er den Schmerz anerkennende Körper ist bereit, ein gesellschaftlicher Körper zu werden, empfindlich für den Schmerz einer anderen Person, für Schmerzen, die auf der Straße präsent sind.“ (Sennett 1997: 464) Ohne den latent kulturkritischen und religiös eingefärbten Pathos von Sennett übernehmen zu wollen, möchte ich diesen Gedanken als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen aufgreifen. Interessant ist vor allem die Verbindung der Körper und der Räume, speziell in Bezug auf Schmerzerlebnisse. Die Protestierenden werden bei der Konstitution der risikoreichen Protesträume nicht zu einem kollektiven Körper, davon könnte man nur metaphorisch sprechen. Aber ihre Körperlichkeit bei Protestereignissen ist kollektiv in dem Sinne, dass sie geteilt wird. Wenn es bei den Prozessen kollektiver Identität um eine geteilte und interaktive Definition der Gruppe geht, so nicht nur auf der diskursiven Ebene der Vorstellungen von den Zielen und Mitteln des Handelns, sondern auch auf der Ebene der diskursiv gerahmten und leiblichen Erlebnisse. Die geteilte und verwirklichte Absicht, sich für eine Sache einzusetzen, indem man sich (wahrscheinlichen) Schmerzen aussetzt, wird bei der Konstitution des Protestraums realisiert. Die Gemeinschaft, das „Wir“, befindet sich nicht im Raum, sondern wird in den räumlichen Auseinandersetzungen geschaffen. Eine weitere diskursive Rahmung findet im Nachhinein statt. Ähnlich dem emotionalen Framing im Allgemeinen passiert dies wiederum vor allem in Gesprächen, im Erzählen von Erlebtem – seien es persönliche Erlebnisse oder etwas, das anderen passiert sein soll – oder im Äußern von eher bewertenden Aussagen. In der linken Szene existieren keine ausgearbeiteten Diskurse, die dem neurechten oder dem christlichen Kult des körperlichen Leidens als Selbstzerstörung bzw. Selbstaufopferung ähnlich wären. Die Bereitschaft, die körperliche Unversehrtheit einzusetzen, wird vielmehr in der alltäglichen Kommunikation gerahmt. Die Ebenen der abstrakt-diskursiven Darstellung und der persönlichen Erlebnisse sind dennoch nicht als zwei getrennte Welten zu betrachten, sondern spielen zusammen. Auf dem Plakat „Berlin? ‚Wir dreschen keine Phrasen‘“ aus einer die Hauptstadtwerbung parodierenden Serie ist ein Einsatzkommando der Polizei zu sehen, das mit gezogenen Schlagstöcken die Betrachter zu überfallen scheint (abgebildet in HKS 13 1999). Es geht um die Kritik der Sicherheitspolitik und des Leitbildes der sauberen Hauptstadt, und dennoch spricht das Bild die Erfahrungen vieler Betrachterinnen an, die in der Realität bereits solche Einsätze erlebt haben.
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Die kommunikative Herstellung der Gemeinsamkeiten ist typisch für eine Szene insgesamt, wie es im ersten Kapitel in Anlehnung an Hitzler et al. (2001) festgestellt wurde. Das stimmt auch für die Aufarbeitung bestimmter Ereignisse. Nach der Räumung wurden Meinungen über die „boxenden Bullen“ ausgetauscht oder von blutenden Nasen, die man gesehen habe, erzählt. So wurde von einem zum anderen empört die Geschichte weitergereicht, dass der Stoff des Transparents sofort aufgeschnitten worden sei, obwohl sich doch direkt dahinter die Leute befunden hätten. „Sie“ hatten es in Kauf genommen, dass jemand verletzt wurde! Die Einschätzungen der Abläufe fielen dabei auseinander: Peter sagte beim Austausch der Erlebnisse unter einigen Kollektivmitgliedern, sein Eindruck sei gewesen, dass die „Bullen“ doch nicht so brutal vorgegangen wären; sie hätten z.B. keine Knüppel eingesetzt und sich „ziemlich zurückgehalten“. Trotzdem wurde auf diese Weise ein Konsens erstellt: So setzen gerade Peters Worte die Anforderungen an die Polizisten recht niedrig. Es ist demnach schon etwas Positives, wenn die Polizisten nur boxen, statt mit Schlagstöcken auf die Menschen einzuschlagen. Dieselben diskursiven „Bausteine“, Einschätzungen und kurzen Geschichten wurden weitererzählt und meist mit Reaktionen aus dem ähnlich begrenzten Repertoire wie Kopfschütteln sowie emotionalen Einschätzungen (wie „Arschlöcher“ u.Ä.) quittiert. Das Bild der polizeilichen Brutalität, die den Teilnehmern u.a. in ihrer Körperlichkeit drohte, wurde immer wieder geschildert. Die positiv emotional belegte Kommunikation war vor allem der Austausch beim Wiedersehen von Freunden: „Na, allet klar?“, sagt Mario zu mir, als wir uns kurz nach dem Wegdrängen auf der nächsten Straßenkreuzung sehen. „Ja, selber?“
Macht die räumliche Entfernung oder die Umstände die verbale Kommunikation unmöglich, wird einander beispielsweise mit einem Kopfnicken gezeigt, man habe sich gesehen. Die risikoreiche Situation der Räumung wird zu einem Gegenstand, an dem der Zusammenhalt der enger zusammenhängenden Gruppe wie der des Kneipenkollektivs kommunikativ abgesichert wird. Im Unterschied zur kommunikativen Gattung des Klatsches (Bergmann 1987) wird hier nicht das private Wissen über abwesende Freunde ausgetauscht. Diese Form der Kommunikation ist nicht öffentlich
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geächtet, und es handelt sich nicht um eine „indiskrete Diskretion“ (die an anderen Stellen für die Szene von immenser Bedeutung ist). Die Hauptfunktion dieses Austausches auf der kollektiven Ebene ist stattdessen darin zu sehen, dass die gemeinsame Sicht der Dinge und der geteilte Erlebnishorizont konstituiert werden, denn in der thematisierten Situation selbst war diese diskursive, interaktive Rahmung im Gespräch nicht möglich. Interessant ist, dass die kurzen Gespräche über das Vorgehen der Polizei nicht nur mit persönlichen Bekannten geführt wurden, sondern auch mit anderen Anwesenden, die „vom Sehen“ bekannt waren oder aber ein bestimmtes Display (Aussehen und Verhalten) aufwiesen, das eine Gemeinsamkeit vermuten ließ. Dies stützt die Annahme, dass diese Kommunikation über den Ablauf der Räumung vor allem der Absicherung des Zusammenhalts diente. Das beschränkte sich allerdings auf die Situation unmittelbar nach der ersten Phase der Räumung, als sich nach dem Abdrängen der Unterstützerinnen weg vom Haus bis zur nächsten Straßenecke viele Menschen an diesem Ort aufhielten. Die gemeinsame Anwesenheit an einem Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt wird von den Akteuren in ihrem Handeln (also auf der Ebene des praktischen Bewusstseins) als eine relevante Gemeinsamkeit interpretiert. Wahrscheinlich stand man mit diesen Leuten gerade vor dem Haus, der Polizei gegenüber; auf jeden Fall sind sie hier, um zu dieser doch sehr frühen Stunde gegen die Räumung zu protestieren. Die passende situative Einbettung der Kommunikation ist demnach genauso wichtig für die weitere Herstellung der Gemeinsamkeit im Gespräch wie das Ausführen des richtigen Displays. Einen praktischen Vertrauensvorschuss (man verlässt sich darauf, dass das Gegenüber auf eine akzeptable Weise reagiert) sehe ich auch in der Praxis, dass manche Informationen zum weiteren Vorgehen (z.B. dass gleich eine Spontandemo losgeht) an solche, als „unsere“ eingeschätzten Leute weiter gereicht werden. Dabei wird leise gesprochen, so dass die Diskretion als eine Bedingung des differenzierten (genauer formuliert: die Menschen in „Uns“ und „die Anderen“ differenzierenden) Vertrauens erfüllt wird. Die gemeinsame Teilnahme an risikoreichen Aktivitäten – speziell an solchen, die mit möglichen Schmerzerfahrungen verbunden sind – fördert das Vertrauen und die Solidarität unter den Beteiligten. Das Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können, kann in Zukunft als Ressource des kollektiven Handelns fungieren. Wie intensiv dieser Effekt ist, hängt auch von der vorherigen Qualität der Beziehungen zwischen den jeweiligen Akteuren ab:
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von der Verstärkung des „Sich vom Sehen Kennen“ (das ein Individuum davor bewahrt, als Fremdkörper angesehen zu werden) bis zur Intensivierung der emotionalen Bindungen unter Mitgliedern einer Kleingruppe. Im Hinblick auf die Herstellung der Solidarität durch die risikoreichen Aktionen möchte ich Sennett (1997) widersprechen: Solidarität durch die Erfahrung des gelebten Schmerzes bezieht sich nicht auf „alle“, und seine Anerkennung bietet keinen Weg des toleranten Umgangs mit der Andersartigkeit. Stattdessen handelt es sich um den Aufbau eines das antagonistische Weltbild (re-)produzierenden Konfliktraums, in dem die Solidarität sich nur auf diejenigen positiv bezieht, die den eigenen Schmerz teilten, und negativ auf die Feinde, die den Schmerz verursachten und mit denen eine direkte Auseinandersetzung stattfand. Der letzte Punkt bedarf eines Kommentars, denn hier kann man sehen, wie die rechtlichen Normen die Dynamik eines konkreten Konfliktraums auf der Straße beeinflussen. Die Polizisten sind auch „nur“ Menschen und setzen ihre Körper ebenfalls ein. Dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied zu den Protestierenden: Die Körper der Polizisten sind durch eine Spezialausrüstung geschützt. Diese Ungleichheit ist rechtlich gerahmt, denn Vorrichtungen, die einen Demonstranten vor manchen Schmerzerlebnissen schützen würden (wie Arm- bzw. Schienbeinschoner und Mundschutz), werden als passive Bewaffnung ausgelegt und sind dementsprechend bei Demonstrationen und anderen Versammlungen unter freiem Himmel verboten.10 Was bei der Ausübung von Sportarten wie Boxen zum Teil Pflicht ist, wird bei Protestereignissen als unangemessenes Handeln definiert und durch Vorkontrollen bzw. durch die abschreckende Wirkung der Sanktionen mehr oder weniger erfolgreich ausgeschlossen.11 Diese Ungleichheit in
10 „Es ist verboten, bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel, Aufzügen oder sonstigen öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel oder auf dem Weg dorthin Schutzwaffen oder Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren, mit sich zu führen.“ (§ 17a Abs. 1 VersG) 11 Es bleiben jedoch einige nicht eindeutig interpretierbaren Gegenstände, etwa Handschuhe, die manchmal als Teil des Checker/Checkerin-Displays gut sichtbar in die Gesäßtasche gesteckt getragen werden (vgl. zu diesem Display Kapitel 5). Diese werden nicht nur als gewisser Schutz vor mechanischen Einwir-
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Bezug auf den Schutz macht die Protestteilnehmer empfindlicher gegenüber Einwirkungen von direkter körperlicher Gewalt und führt zu einem offensichtlichen Nachteil bei der Auseinandersetzung auf der Straße, der durch eine „massenhafte Militanz“, d.h. durch den vollen körperlichen Einsatz und die Bereitschaft zu direkten Aktionen vieler Protestierender, ausgeglichen werden kann. Dies war bei der oben dargestellten Räumung ganz klar nicht der Fall. Der antagonistische Raum der direkten Auseinandersetzung Wir contra Polizei konnte so nicht auf Dauer aufrechterhalten werden, sondern wurde vom Gegenstand dieser Auseinandersetzung, dem Haus, wegverlagert und aufgelöst. Dank ihrer emotionalen Intensität sind diese Erlebnisse dennoch identitätsstiftende Gelegenheiten. Schon im theoretischen Teil wurde auf die Bedeutung des routinisierten Alltagshandelns für die Raumkonstitution hingewiesen. Nun wird deutlich, dass nicht nur die Routine für die Raumkonstitution wichtig ist, sondern auch außerordentliche Ereignisse. Die angesprochene Macht, ein „Wir“ in der Konstitution eines Konfliktraums zu erschaffen, erfordert nicht, dass dieser Raum am konkreten Ort von Bestand ist. Im zweiten Kapitel habe ich in Anlehnung u.a. an Bourdieu (1991a) angenommen, dass die Realisation einer eigenen symbolischen Ordnung einer Gruppe in räumlichen Anordnungen dank dem sogenannten Naturalisierungseffekt spezifische Gewinne bringt – d.h. dank dem Umstand, dass die verräumlichten symbolischen Ordnungen den Körper direkt ansprechen. Weiterhin habe ich angenommen, dass hierbei Räume entsprechend dem gesellschaftszentrierten Konzept breiter gedacht werden sollten, als Bourdieu es tut. Nicht nur die gebauten räumlichen Anordnungen bringen die spezifischen Identitätsgewinne, sondern auch die komplexen episodischen Räume, die die Akteure unter dem Einsatz ihrer Körper aufbauen. Einen solchen Gewinn sehe ich im Zusammenhang mit der Räumung im Frühjahr 2003. Auch wenn die Akteure die angekündigte Räumung von Anfang an als etwas behandelten, das zunächst durchaus vollzogen wird (wie die teilnehmende Beobachtung zeigte), konnten sie es im körperlich-
kungen, sondern auch als Schutz vor Repressionsmaßnahmen (z.B. Hinterlassen von Fingerabdrücken) thematisiert. Springerstiefel bieten einen gewissen Schutz für die Knöchel, schränken aber die Bewegungsfähigkeit ein und gehören nicht zu einem „zweckgebundenen“ Checker/Checkerin-Display, sondern zu einem subkulturellen, vom Punk geprägten Stil.
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emotionalen Framing-Prozess als Ressource der Konstruktion der bedrohten Räume und eigener Wir-Identitäten verarbeiten. Das geteilte Erlebnis der eigenen „Power“ und Entschlossenheit ist ein weiteres und ein wichtigeres Maß des Erfolgs, als es das Erreichen der proklamierten Ziele – wie die Verteidigung des Hauses – hätte bieten können. Ein negatives Vergleichsbeispiel bietet die Mobilisierung bei der Räumung im Herbst 2002, deren Verlauf von vielen Beteiligten aus dem Hausprojekt und aus dem Kneipenkollektiv negativ beurteilt wurde. Die Kritik bezog sich u.a. auf das Verhalten mehrerer Anwesender, denen vorgeworfen wurde, ausgiebig Alkohol konsumiert zu haben. Dies verstieß gegen die Verhaltensnormen bei Aktionen, auf die sogar auf dem Mobilisierungsflyer hingewiesen wurde: „Nebenbei: Kein Alk, keine Drogen auf politischen Veranstaltungen!“ Bei der (im Untersuchungszeitraum) ersten Räumung im Jahr 2002 wurde der Konfliktraum Wir contra Polizei nicht aufgebaut: Die Straße war von der Polizei schon lange vor dem für die Ankunft des Gerichtsvollziehers angesetzten Zeitpunkt (6 Uhr früh) geräumt und abgesperrt. Die potenziellen Protestierenden standen an der nächsten Straßenecke in kleinen Gruppen, unter denen sich die „Greiftrupps“ der Polizei immer wieder bewegen konnten, was lediglich zu meist verbalen Protesten und zum Teil – zumindest auf Seite der Protestierenden aufgeregten – Diskussionen mit einzelnen Beamten führte. Klare Fronten wurden trotz der Absperrung nicht gebildet. Die Erfahrungen wurden von den Aktivisten am selben Morgen und im Nachhinein als negativ charakterisiert, da sie frustrierend und peinlich sowie von der eigenen Unfähigkeit, dem Geschehen etwas entgegensetzen zu können, geprägt gewesen seien. Die Erfahrung der genausowenig verhinderten zweiten Räumung einige Monate später wurde ganz anders wahrgenommen und diskursiv verarbeitet. Dies stützt die Annahme, dass die Konstitution eines solidarischen Wir-contra-Polizei-Protestraums ein eigenständiges Erfolgserlebnis darstellt, auch wenn dieser emotional zum Teil durch das reaktive Gefühl der Wut geprägt war. Es gibt zweifellos auch weitere Modi, direkte und körperlich-emotional eingefärbte Auseinandersetzungen mit den Gegnern (wie der Polizei oder Neonazis) zu führen, die auf das positive Erlebnis der eigenen Stärke und Handlungsfähigkeit ausgerichtet sind. Abschließend möchte ich anmerken, dass der Raum eines Hausprojekts als Objekt von Auseinandersetzungen mit der Polizei austauschbar ist. Die Erfahrungen der Solidarität und der emotional-körperliche Einsatz sind sicher auch dann im Spiel, wenn es um
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andere Inhalte geht, beispielsweise um den Antifaschismus, wie bei Protesten gegen eine Demonstration von Rechtsradikalen. Die von der Solidarität und zugleich vom Antagonismus geprägten Protesträume haben nicht unbedingt Szeneprojekte als Fokus. Die Multiplizität der identitätsrelevanten Raumanordnungen lässt sich bei einem solchen Fall besonders gut beobachten, ist jedoch auch für andere Protestepisoden typisch. Fazit Die emotionale Produktion des Wertes eines Raums und seine so stattfindende Synthese zu einem einheitlichen und wertvollen Objekt der Auseinandersetzung fand bei den Protesten gegen die Teilräumung des Hausprojekts und der „Stube“ unter dem Einsatz der eigenen körperlichen Unversehrtheit der Unterstützerinnen statt. Die Bereitschaft, sich nicht nur rechtlichen Risiken, sondern auch Verletzungen und Schmerzen auszusetzen, ist ein wichtiges Element des emotionalen Framings. Diese Bereitschaft wird als geteilte Körperlichkeit vor allem im mündlichen Austausch zwischen den Akteuren diskursiv gerahmt, vor allem in Bezug auf die erwartete oder erfahrene Gewaltanwendung durch die Polizei. Die Konstruktion des Wertes der „Freiräume“ und des konkreten Raums eines bzw. zweier Projekte (die Differenzierung der beiden verlor durch die äußere Bedrohung an Bedeutung) fand konkret u.a. dann statt, wenn der antagonistische Konfliktraum Wir contra Polizei aufgebaut wurde. Die Protestierenden stellten sich, in Ketten zusammenhaltend, vor das Haus und bildeten eine verräumlichte Wir-Einheit, und zwar auf der körperlichen und symbolischen Ebene zugleich. Der Zusammenhalt im Angesicht der Bedrohung konnte direkt erlebt werden. Während die Polizisten zunächst am Aufbau des Protestraums vor dem Hausprojekt beteiligt waren (ohne sie wäre dieser gar nicht denkbar), war ihr Handeln darauf ausgerichtet, ihn von diesem Ort weg zu verlagern bzw. aufzulösen. Obwohl ihnen dies schnell gelang und dieser Konfliktraum nicht von Dauer war, konnte bei seiner Konstitution das antagonistische Weltbild nicht nur neu produziert, sondern auch emotional intensiv und körperlich erlebt werden. Der Aufbau der symbolisch bedeutsamen räumlichen Anordnungen bietet zweifellos eine Ebene, auf der die Körperlichkeit und die Emotionalität einer Gruppendefinition untersucht werden kann. Die unmittelbaren, körperlich „eingefärbten“ und hiermit notwendigerweise räumlichen Erfahrungen bilden einen wichtigen Teil
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der Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene. Durch das Erschaffen des (in Bezug auf das „Wir“) einheitlichen und (in Bezug auf „Sie“) antagonistischen Wir-contra-Polizei-Konfliktraums wurde die Wir-Identität der Beteiligten auf mehreren Ebenen, von der Bezugsgruppe bis zur „linken Szene“, gefördert. Das kollektive Handeln fand als gemeinsame Raumkonstitution statt – bei der es diesmal wiederum um den Raum eines Hausbzw. Kulturprojekts ging.
4.2 E INE
LINKE
K NEIPE
WIRD GEMACHT
Im letzten Abschnitt bin ich der Frage nachgegangen, wie die nichtalltägliche körperlich-emotionale Produktion der linken Räume unter außergewöhnlichen Bedingungen einer Räumung funktioniert. Es wurde klar, dass solche Erfahrungen, trotz ihrer kurzen Dauer, bleibende Wirkungen auf die Prozesse kollektiver Identität haben. In diesem Teil möchte ich mich hingegen darauf konzentrieren, wie die alltägliche und langfristige Konstruktion des linken Charakters eines Kulturprojekts bzw. einer Kneipe möglich ist. Denn dies ist nicht nur für die Mitglieder des Kollektivs relevant, die daran maßgeblich beteiligt sind. Auch für die anderen Nutzerinnen und Besucher bildet eine solche Kneipe, wie ich später zeigen werde, eine wichtige Identitätsressource. Kein Kollektiv als Ausgangssituation Wie schon oben erwähnt, ergab sich für mich im Rahmen des Kollektivs der Kneipe „Stube“ eine spannende Möglichkeit, seltene Prozesse der Raumkonstruktion zu beobachten. Selten daher, da ich das Glück hatte, an dem Versuch, eine linke Kneipe neu aufzubauen, teilhaben zu können. Ich habe mich in diesen Prozess aktiv und zeitintensiv eingebracht. Das Mitmachen war nicht nur eine Voraussetzung meiner Anwesenheit, es entsprach außerdem meiner methodischen Ausrichtung auf die lebensweltliche Ethnografie, die eine reflektierte Aneignung des szenespezifischen Alltagswissens erfordert. Durch meine Anwesenheit in der „Stube“ beteiligte ich mich schon am jeweiligen Raum und war ein Teil davon. Weiterhin gehörte ich zu den Mitgliedern des Kollektivs, die sich explizit mit den symbolischen Aspek-
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ten dieser Räume und ihrem politischen Charakter auseinander setzten. Diese Tätigkeit kann als das Erschaffen eines „linken Ortes“ und zugleich als das Konstruieren eines „Wir“ bzw. einer Palette von Wir-Identitäten auf mehreren Ebenen (vom „Wir“ eines Kollektivs bis zum allgemeineren linksradikalen „Wir“) interpretiert werden. Im Folgenden werde ich diese vielseitigen Abläufe mit Betonung auf den jeweils dominierenden Aspekt darstellen. Als ich im März 2002 zu den Betreiberinnen der „Stube“ stieß, waren es einige Gruppen, die unabhängig voneinander – wenn auch mit Überschneidungen auf der personalen Ebene –einzelne Tage in der Woche die Kneipe öffneten. Es gab Montags-, Dienstags-, Mittwochs-, Freitags- und Sonntagsgruppen. Eine institutionalisierte, regelmäßig genutzte gemeinsame Struktur zum Kommunizieren und Treffen von Entscheidungen gab es dabei nicht, so dass man kaum von einem organisierten Kollektiv reden konnte. Den Informationsfluss und -austausch gab es auf der Ebene persönlicher Beziehungen und Bekanntschaften: Wer kannte wen, wer besuchte wen, wer war mit wem liiert und wer redete mit wem – all das bestimmte die Kommunikation. Eine wichtige Gelegenheit war natürlich, die Kneipe auch an anderen Tagen zu besuchen, d.h. die Rollen (und die Tresenseite) zu tauschen. Ich möchte auf drei hierarchische Aspekte dieser Kommunikationsstruktur hinweisen. Sie haben mit dem Verhältnis zwischen den Bewohnerinnen des Hausprojekts, in dessen Erdgeschoss sich die Kneipe befand, und dessen Strukturen einerseits und den „Kneipenmacherinnen“ andererseits zu tun. Einige der letztgenannten wohnten selbst im Hausprojekt. Erstens hatten diese Menschen Zugang zu den innerhalb des Hauses zirkulierenden Informationen bezüglich des Konflikts mit dem Hauseigentümer – Informationen, die für die Kneipe von großer Bedeutung waren, da auch sie von der Räumung bedroht war. Als potenzielle Verbreiter dieser Informationen hatten diese Menschen einen Vorteil bzw. eine höhere Stellung gegenüber den Mitgliedern des Quasi-Kollektivs ohne intensive Verbindungen zu den Hausbewohnern (wie im Abschnitt zur „Emotionalkörperlichen Raumsynthese“ gezeigt wurde, ging diese Position mit einer spezifischen Identitätsspannung einher). Zweitens hatten die Gruppen mit mehreren Hausbewohnerinnen (speziell eine Gruppe, die zu mehr als der Hälfte aus diesen bestand) einen Vorteil bezogen auf den Zugang zu Informationen auch aus anderen Gruppen. Drittens wurden die relevanten Ent-
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scheidungen in außergewöhnlichen Situationen – auch wenn sie die „Stube“ betrafen – vom Hausprojekt getroffen und konnten auch in Abwesenheit der Kneipenstrukturen beschlossen werden, so dass man hier von einer Hierarchie der Projekte sprechen kann (auf diesen Aspekt und seine Dynamik komme ich später zurück). Das Verhältnis zwischen dem Hausprojekt und der Kneipe wurde auf diese Weise zu einem wesentlichen Faktor ihrer räumlichen Entwicklung. Das Fehlen einer eigenständigen Organisationsstruktur schlug sich in dieser Frühphase insbesondere auch in fehlenden institutionalisierten Räumen des Austausches unter den Kollektivmitgliedern nieder (ein solcher Raum des Kollektivplenums, der in einer späteren Phase des Projekts tatsächlich etabliert wurde, wird im Kapitel „Szeneläden als Ressourcen kollektiver Identität“ dargestellt). Die fragmentarische Struktur mit mehreren Gruppen wurde durch die wiederkehrende raum-zeitliche Trennung aufrechterhalten, wobei jede Gruppe ihren angestammten Platz im zirkulären Rhythmus des „Fahrplans“ hatte. Es fehlte der gesellschaftliche Raum eines „Wir“ des Kollektivs, d.h. ein Raum, in dessen Rahmen (bzw. bei seiner rekursiven Konstitution) ein „Wir“ erschaffen werden konnte. Diese Situation änderte sich im Laufe des nächsten Jahres. Sich neu erfinden Eine Ressource dieser Veränderung stellte vor allem die Bedrohung durch die Räumung dar. Deswegen sollte sie nicht nur als eine Gefahr für den bestehenden Raum bzw. „Freiraum“ interpretiert werden, so wie es u.a. in Mobilisierungstexten hieß. Stattdessen sollte in ihr in erster Linie ein Faktor gesehen werden, der von den Akteuren des Hausprojekts und – das stellt meinen Schwerpunkt dar – des Kulturprojekts als Ressource für Identitätsprozesse und bei der Konstitution linker Räume verarbeitet wurde. Dies betrifft zuerst die Inhalte der Wir-Definition, d.h. die einzelnen Interpretationen und Frames, welche die Bilder von „Uns“ und den Antagonisten, den Zielen, den Mitteln und dem Kontext des gemeinsamen Handelns umfassen. Beachtet man jedoch den geteilten und interaktiven Charakter kollektiver Identität, so muss auch der alltägliche Umgang mit der Räumung und ihre aktuellen Auswirkungen auf den Alltag der Beteiligten beachtet werden. Während der erste Aspekt vor allem mit Hilfe der Textanalyse untersucht wurde, war die teilnehmende Beobachtung das Haupt-
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werkzeug für die Untersuchung des Alltags. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass beide Aspekte nur analytisch, nicht empirisch streng getrennt werden können. Insbesondere setzten sich die Akteure auch in alltäglichen Gesprächen mit den Bedeutungen und Vorstellungen von sich und der Kneipe auseinander. Die Räumung der Erdgeschossräume des Hausprojekts, in dem sich die „Stube“ befand, wurde zunächst für das Frühjahr 2002 angesetzt. Im Zuge der Verhandlungen mit dem Bezirksamt Friedrichshain und dem Berliner Senat wurde sie jedoch kurzfristig für einige Monate ausgesetzt, nachdem dem Hausprojekt ein Ersatzobjekt – ein Haus eines anderen Eigentümers – zum perspektivischen Umzug angeboten wurde und das Projekt einen Rahmenvertrag (kurz vor der geplanten Räumung) dafür unterschrieben hatte. Diese Lösung wurde jedoch nicht realisiert. Im Mobilisierungsflugblatt des Hausprojekts hieß es zum Scheitern der Verhandlungen, das angebotene Haus wäre keineswegs leer, sondern zu 60 Prozent bewohnt. Viele Mieterinnen würden nach der anstehenden Sanierung zurückziehen wollen, wobei einige sich gegen die Nachbarschaft mit dem Hausprojekt ausgesprochen hätten. Die Vertreibung der Mieter wäre jedoch politisch nicht zu verantworten, somit sei der Umzug nicht möglich. Dem Bezirk und dem Senat warfen die Verfasserinnen vor, nicht über andere mögliche Ersatzobjekte verhandeln zu wollen. Interessant ist hier das Mobilisierungsframing, der im Kapitel zu den symbolischen Räumen der linken Szene analysiert wird. So fand die Räumung im Herbst desselben Jahres statt. Sie wurde von den an den Protesten Beteiligten als eine peinliche, planlose und frustrierende Erfahrung empfunden. Danach stand die „Stube“ als ein loser Zusammenschluss der „Kneipenmacher“ zunächst ohne einen Raum da – bzw. ohne einen Ort, um den Raum der „Stube“ zu realisieren. Für die Untersuchung von Prozessen kollektiver Identität ist die Wahrnehmung der Akteure besonders wichtig. Dementsprechend betrachte ich zunächst, wie die am Kollektiv Beteiligten die Situation wahrnahmen. Während die Bewohnerinnen des Hauses immer noch den Zugang zu ihrem Projekt hatten, konnten die Mitglieder der Kneipengruppen die Räumlichkeiten zunächst nicht mehr benutzen. Diese Feststellung ist für eine Gruppe, die sich über einen konkreten Raum definiert, keineswegs banal, sondern betrifft ihre Existenz, besonders wenn es bei ihren Mitgliedern an Solidaritätsgefühlen und praktischem Zusammenhalt mangelt. Der letztgenannte Umstand drückte sich in der versprengten Gruppenstruktur, in feh-
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lenden gemeinsamen Entscheidungsstrukturen sowie in nicht eingehaltenen Absprachen aus. Die fehlende Solidarität und der fehlende Kollektivcharakter wurden von einigen Akteuren immer wieder explizit in Gesprächen als ein Problem formuliert. Diese Kritik thematisierte zunächst konkrete Vorfälle und wurde typischerweise mit einer allgemeinen Feststellung zu den Zuständen im Kollektiv abgerundet. Manchmal kam es zu einem bestätigenden Austausch der Vorfälle unter Gesprächspartnern. Ein Beispiel: „Und beim Konzi [Konzert] am Mittwoch, wat war da? Die Mittwochcrew hat ja zuerst gesagt, sie machen den Tresen, komplett. Und dann machen sie nur die erste Schicht vorne, und tschüßikowski! Eh wat soll dat denn!“ „uhu“ (Kopfschütteln) „‚Wir sind ein Kollektiv, wir sind ein Kollektiv‘, und dann…“ (macht eine resignierende Geste)
Das Meckern als eine spezifische kommunikative Tätigkeit spielte sich in unmittelbaren Interaktionen im kleineren Kreis mit drei bis vier Gesprächsteilnehmerinnen ab. Dabei ging es um das Verhalten konkreter Personen, das explizit bewertet wurde – und zwar negativ. Diese „Zielscheiben“ waren dabei nicht anwesend. Damit weist das Meckern Ähnlichkeit mit dem Klatschen auf (vgl. Bergmann 1987). Das Spezifische an diesem Meckern ist: Es ging um das konkrete Verhalten von Kollektivmitgliedern, um ihr Verhalten als Kollektivmitglieder und um den negativen Zustand des Kollektivs, oft in der expliziten Form einer verallgemeinernden Moral der Geschichte. Mario und Ernie, die akzeptierten Meckerer über die „Stube“ – akzeptiert heißt hier, dass ihre Äußerungen meist nicht mit einer ironischen Ablehnung bedacht wurden, wie es bei einer anderen Person der Fall war – gehörten zu denjenigen, die kontinuierlich und viel praktische Arbeit für die „Stube“ verrichteten: Sie erschienen zu den geplanten Terminen, übernahmen Schichten und machten organisatorische Arbeit. Ihr Klagen kann nicht nur als Unzufriedenheit über eine ungerechte Arbeitsteilung interpretiert werden. Die Loyalität zum vermeintlichen Meckergegenstand wurde nicht nur praktisch, sondern auch diskursiv hergestellt, indem die Subjekte des Meckerns aufzeigten, dass der Zustand und das Schicksal des Projekts ihnen nicht egal war (dies wurde relational am Verhalten der jeweils kritisierten Personen definiert). Diese Bekundung der Unzufriedenheit kann als diagnostisches Framing betrachtet werden, bei dem ein beste-
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hendes und zu korrigierendes Problem – hier ein nicht funktionierendes Kollektiv – festgestellt wurde. Das Meckern war zwar gegen einzelne Kollektivteilnehmer gerichtet, hatte jedoch zugleich eine solidarisierende Funktion. Das positive Leitbild eines „Kollektivs“ wurde dabei in zweifacher Hinsicht, und zwar beide Male relational zu den negativen Zuständen, formuliert: erstens (nicht immer vorhanden) im Inhalt der Kommunikation – als Ansprüche auf den Status eines Kollektivs bzw. eines Kollektivmitglieds seitens der Leute, „die das Maul am breitesten aufmachen und dann nix machen“ (aus einem Gespräch mit Ernie); zweitens beim Treffen eines emotional negativen Urteils, in dem dieses Verhalten als eines Kollektivs nicht würdig positioniert wurde. Das Meckern ist interaktiv. Den Zuhörerinnen wird von den Initiatoren angeboten, ihre Entrüstung zu teilen und so mit ins Boot zu steigen. Ihr Einverständnis (das nicht immer gewährt wird und von der Intensität her variieren kann) kann als Einverständnis mit Normen des Verhaltens und somit als selbstauferlegte Verpflichtung, sich konform zu verhalten, gedeutet werden. Diese Selbstverpflichtung bleibt notwendigerweise schwach bindend, da stets in die Zukunft verlegt. Eine Ausnahme bildete die Kommunikation in den Situationen, die selbst zum Gegenstand des Meckerns gehörten – z.B. wenn nur drei Leute zu einem verabredeten Termin zum Kochen erschienen: Tanja12: „Warten wir noch auf die anderen?“ Mario: (lächelt) „Es kommen keine anderen.“ Tanja: „Äh?“ Mario: „Also Ulli muss zur Arbeit, Karl ist völlig fertig von der Arbeit, Peter ist verreist, X. legt eine Pause ein und hat kein Bock.“ Tanja: „Super! Wenn niemand Bock hat, kann mans ja gleich lassen!“ (Schweigen) Mario: „Wie machen wir das denn jetzt? Wenn wir schon mal hier sind?“ (kichert)
Hier handelt es sich eher um die interaktive Konstruktion moralischer Überlegenheit der Anwesenden als Menschen, die die Arbeit am Ende auch machen. Wenn die individuellen Auswirkungen des Meckerns vielfältig sind, wirkt diese institutionalisierte Form des kommunikativen Austauschs
12 Beim Zitieren aus Beobachtungsprotokollen und Interviews wird mein Rufname benutzt, mit dem ich mich vorstellte.
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auf der kollektiven Ebene nicht nur demoralisierend, sondern auch solidarisierend. Das Kollektiv bzw. die Projektkneipe wird als ein Leitbild, ein ernst zu nehmender Wert konstituiert, dessen mangelhafte Realisierung ein Problem darstellt. Angesichts dieser Ausgangssituation drängt sich die Frage auf, wie ein solch „loser Haufen“ es geschafft hat, sich neu zu organisieren und den Raum der „Stube“ neu zu schaffen. Die diskursive Feststellung des Problems alleine stellt noch nicht seine Lösung dar. Die damit zusammenhängende Frage ist, warum das Kollektiv es nach der zweiten Räumung im Frühjahr 2003 nicht schaffte, einen dauerhaften Neuanfang zu finden, obwohl die Gruppe besser zusammen gewachsen und die Mobilisierung besser verlaufen war. Auf diese Frage komme ich später zurück. Zunächst befasse ich mit der Situation nach der ersten in der Zeit meiner Beobachtung vollzogenen Räumung. Ich kam zu dem Schluss, dass der Verlust des gewohnten Ortes nicht nur eine Chance darstellte, die „Stube“ diskursiv als einen linken Raum, als ein linkes Kulturprojekt oder als einen Freiraum darzustellen, der vom Kapital und dem Staat bedroht und von Linken zu verteidigen wäre (dieses Framing in den Mobilisierungstexten kam in dieser Phase nur selten vom Kollektiv, sondern meist vom Hausprojekt). Ich nehme an, dass der Verlust des Ortes für die „Stube“ auch eine erzwungene Abwendung von verräumlichten Routinen der bisherigen Abläufe bedeutete, die als Problem definiert waren. Gerade die Unmöglichkeit, den gewohnten Raum nutzen zu können, stellte eine Chance dar, einen neuen aufzubauen. Von bisherigen räumlichen Bezügen gelöst, die notfalls als eine Reifikation („Die Stube“) immer eine zusammenfassende Klammer bildeten, konnte die Gruppe sich und ihren Raum neu erfinden bzw. erschaffen. Mit dem (drohenden) Verlust des Kollektivs und der Kneipe wurde auf mehrere Arten umgegangen: in Form einer „Action-Vokü“ unter freiem Himmel, durch die Fortsetzung der Plena und das Herausarbeiten des neuen Konzepts, durch die „Stube im Exil“, durch die Wiederbesetzung und die faktische Neugründung. Kann ein Raum ins Exil gehen? Kurz nach der Räumung wurde auf einem Plenum des Kollektivs beschlossen, zunächst an einem Tag in der Woche in einer anderen Szenelocation Programm und Tresen zu machen. Dass sie in Friedrichshain liegen sollte,
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wurde von den Anwesenden – gemessen an ihren Vorschlägen – vorausgesetzt. Weniger als einen Monat nach dem letzten Abend am Originalort fand der erste Tresen des „Stube“-Kollektivs an einem neuen Ort statt. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, was mit dem institutionalisierten Raum der „Stube“ dann passierte. Anfangen werde ich mit der Analyse des Framings dieser Notlösung durch die „Kneipenmacher“. Der erste Flyer mit dem monatlichen Programm der „Stube im Exil“ nahm deutlich auf die Räumung Bezug. Auf der Vorderseite sind zwei Polizeibeamte in Einsatzrüstung bzw. Schutzkleidung zu sehen, die einen Rammbock tragen. Im Hintergrund sind Fenster zu sehen – allerdings nur für diejenigen als Eingang zur „Stube“ erkennbar, die die Kneipe (oder das entsprechende Foto) gekannt hatten. Dass es sich um ein Foto der Räumung handelte, war nur für Insiderinnen ersichtlich. Die Überschrift bildete die Abbildung des markanten metallenen Schildes der „Stube“, das in den Vorderräumen an der Wand gehangen hatte und wiederum nur denjenigen bekannt war, die dort gewesen waren; die Worte „…im Exil“ waren dem hinzugefügt. Auf der Rückseite wird diese Überschrift wiederholt – mit dem Zusatz „imma mittwochs in Randerscheinung13 // (ca. ab 21: 00)“. In der Überschrift „Stube // …im Exil“ wurde zweifach (durch Zeilenumbruch und „…“) eine Diskrepanz zum Normalzustand hergestellt. Dieser Bruch korrespondierte mit der graphischen Darstellung der Räumung auf der Vorderseite. Der Flyer war durch seine beiden graphischen Elemente speziell an die früheren Besucherinnen gerichtet. Das bedeutete, dass die Menschen, die früher in die „Stube“ gegangen waren, nun zu einem wöchentlichen Termin an einem anderen Ort bewegt werden sollten. Zur „Stube“ gehörte auch ihr Publikum. Das Publikum ist zweifellos an der Konstitution der Räume einer Kneipe beteiligt. Wenn das alte Publikum folgen würde, wäre dies ein weiterer Schritt, um den Raum der „Stube“ im Exil wieder aufleben zu lassen. Diese programmatische Aufgabe war nicht so einfach zu bewältigen. Während es bei der Gestaltung des Flyers leicht möglich gewesen war, auf der symbolischen Ebene an die „Stube“ anzuknüpfen, war das beim Tresenbetrieb nicht der Fall. Der Ort war eindeutig ein anderer. Die vorhande-
13 Die Namen der Kulturprojekte wurden geändert. Für das früher sehr gut bekannte und inzwischen seit Jahren geschlossene „EX“ erscheint dies jedoch nicht notwendig.
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nen physisch-materiellen Elemente (Zimmer, Wände, Tresen, Eingang, Küche) und deren Anordnung waren anders, beispielsweise gab es statt eines Kickertisches einen Billardtisch. Die Räumlichkeiten waren enger als die des Originals, was bestimmte Möglichkeiten wie Konzerte ausschloss. Das bedeutete eine starke Änderung vom bisherigen Profil eines auf Kulturveranstaltungen orientierten Projekts. Weiterhin war auch die eigenmächtige Gestaltung der Räume (Tresen, Wände) für die Leute aus dem „Stube“Kollektiv nicht möglich. Die Ebene der Interaktionen – wer da war und was diese Leute machten – konnte letztendlich einfacher als die materiellen Elemente des Raums beeinflusst werden. Die Leute hinter dem Tresen waren dieselben wie vorher, jedoch hatte sich ihr Kreis verkleinert. Insgesamt handelte es sich in der Exil-Phase um ca. 10 Teilnehmer, die meisten von ihnen aus der Montagsgruppe, auf die ich von Anfang an fokussiert gewesen war. Der mehrtägige Rhythmus konnte „im Exil“ mit diesen Kapazitäten nicht aufrechterhaltet werden – die Problematik im Zusammenhang mit der nach Wochentagen organisierten, allzu losen Gruppenstruktur wurde oben dargestellt. Die drei Aspekte des Raums „Stube“ – symbolischer, materiell-physischer und praktisch-institutioneller (vgl. Atteslander/Hamm 1974, Läpple 1991a) – konnten hiermit im unterschiedlichen Maße „im Exil“ rekonstruiert werden. Der Name „Stube“ wurde während der ganzen Phase von den Involvierten u.a. aus dem Kollektiv sowohl für den Raum als auch für die soziale Gruppe bzw. das Kollektiv verwendet. Die Nuancen der Bedeutung wurden vor allem im konkreten Kontext deutlich, wie z.B. „ich gehe morgen in die Stube“ oder „der Stube wurde nicht Bescheid gesagt“. Das Motto „Stube im Exil“ differenziert dabei nicht zwischen diesen Bedeutungen, so wurde auch in Gesprächen diesbezüglich nicht speziell vom „Kollektiv der Stube im Exil“ gesprochen. Der Topos des Exils verweist zu einem Subjekt (einem Individuum, einer ethnischen o.ä. Gruppe), das unter einem direkten oder indirekten politischen Zwang handelt und sein Heimatland bzw. seinen Heimatort für einen anderen Ort verlässt. Die „Stube“ wird hier als ein Raum konstruiert, der auch an einem anderen Ort existieren kann, wenn auch nur zwangsweise. Allerdings: Wenn auch das soziale Geschehen „Abend in der Szenekneipe“ (auf das ich später eingehe) mit dem Wechsel der Kollektivmitglieder an einen anderen Ort, in der „Randerscheinung“, stattfinden konnte, so wurde der spezifische Raum „Stube“ nicht bzw. nur in einzelnen Aspekten wieder aufgebaut. Die Diskrepanz
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zwischen dem Raum und dem Kollektiv wurde im Laufe der Zeit „im Exil“ deutlich. Auf dem Programmflyer für Dezember stand die Überschrift „Stube im Exil“ schon ohne eine Unterbrechung. Es handelte sich inzwischen um einen spezifischen, wöchentlich an einem Ort wiederkehrenden „Exilraum“. Die „Stube“ bildete dennoch weiterhin einen wichtigen Orientierungspunkt für ihre Macherinnen. Obwohl der Raum verloren gehangen war, sollte die Gruppe „Stube“ weiterhin existieren. Daher wurde noch einige Wochen nach der Räumung die „Einladung zum Vollplenum der Stube“ verteilt. Linke Kneipe zwischen „breit“ und „bereit“ An dieser Stelle möchte ich mich mit der Produktion der Gruppe bei diesen Versammlungen befassen. Auch wenn ich zwischen der Gruppe „Stube“ und dem gleichnamigen Raum trenne, ist dieses Thema für die Konstruktion des Raums durchaus relevant. Neben anderen, weniger formalisierten Formen der Kommunikation wurde gerade bei den Plena die Bedeutung des Symbols „Stube“ aufrechterhalten und ihr Raum damit in der Erinnerung und in der Vorstellung über die Zukunft als eine wertvolle Einheit synthetisiert (vgl. zur Raumkonstitution durch die Wertzuschreibung auch das Unterkapitel „Emotional-körperliche Raumsynthese“). Zudem wurde das neue Betriebskonzept diskutiert, was eine symbolische Vorarbeit für den später zu gründenden Raum, dessen materielle Komponente zunächst noch fehlte, darstellte. Da es sich um eine Offenlegung und einen kommunikativen Austausch über die Vorstellungen der Anwesenden handelte, bot es für mich eine hervorragende Möglichkeit, das Aushandeln des Leitbildes einer „linken Kneipe“ nachzuvollziehen. In der Zeit nach der Räumung wurden die Diskussionen beim Plenum zunächst darauf gerichtet, den Betrieb zu organisieren und aufrechtzuerhalten: Wo können wir was machen, wann wird was gemacht, welche Filme können wir zeigen, wer kann beim nächsten Mal was machen etc. Die Diskussionen und Beschlüsse wurden in einem Plenumsprotokoll schriftlich festgehalten, das auf diese Weise nicht nur einen Mitschnitt, sondern auch einen wichtigen Mechanismus der Identitätsprozesse bot (denn letztendlich waren es die schriftlichen Texte, die auch später für die Mitglieder einsehbar waren). Ein Auszug aus einem Plenumsprotokoll:
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1.) Dezemberplan - Terminänderung ohne Absprache auf Grund von Abgabetermin des Stressfaktors14 - 11.12-18.12 wurden gewechselt (Veranstaltung über die Knast Demo wurde auf dem 18.12 verlegt Spielabend ist jetzt am 11.12.) - eigenmächtiges ändern wird mit…!!! bestraft
Diese Ebene der praktischen Organisation des Betriebs bot eine Antwort auf die Frage „Was machen wir nun?“. Die praktische Ebene der Diskussionen enthielt das Aushandeln der Entscheidungsstrukturen und anderer für das Selbstverständnis relevanter Themen. So wird im Zitat die Festlegung des Programms als eine Sache des Kollektivs formuliert, die nicht von einzelnen oder einigen Mitgliedern ohne Absprache mit anderen geändert werden kann. Die Abweichung ist illegitim (sie bedarf einer Begründung) und strafbar (wobei die fehlende Konkretisierung der Sanktion deutlich macht, dass es sich nur um eine rhetorisch betonte Markierung eines Fehlverhaltens handelt). Dies entspricht dem normativen Grundsatz „kollektive Entscheidungsstrukturen“. Dennoch fand im Winter auch eine abstraktere und explizite Diskussion um das Konzept statt. Gestartet wurde sie auf Initiative einiger Kollektivmitglieder wie Ernie, Jan, Karl, Mario oder Peter, die Lust hatten, weiterhin einen „Laden“ bzw. ein Kulturprojekt zu machen, jedoch nicht unbedingt eine Neuauflage der alten „Stube“ zu schaffen. So schlug Ernie bei einem Plenum auf den Vorschlag von Jan vor, dass vielleicht jeder einfach erzählen könnte, welche Vorstellungen er oder sie hätte: „Ich will keine Saufkneipe; wir haben noch alle in Erinnerung, wie es in der Stube war, also nicht so was. Sondern mehr politische Veranstaltungen, aber auch Konzerte. Ob es ein reiner Veranstaltungsort ist – das ist eben die Frage, wie die Veranstaltungen finanziert werden sollen. Oder nicht, und wir können es als Kneipe
14 Der „Stressfaktor“ ist eine Berliner Programmzeitschrift für die linken und befreundeten subkulturellen Szenen. Sie veröffentlicht Termine der politischen und kulturellen Veranstaltungen, von Demonstrationen bis zum „Freßfaktor“ – der Übersicht der „Volxküchen“ (vgl. Unterkapitel 5.1). Die elektronische und die gedruckte Ausgabe sind zwei unterschiedliche Projekte. Der monatliche „Papier-Stressi“ wird an einschlägigen Orten zum Mitnehmen ausgelegt, bzw. diese Orte werden dadurch als für Szeneangehörige relevant markiert.
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betreiben, und Geld damit auch verdienen, um solche Sachen zu finanzieren. An der Gesellschaft da draußen kommt man nicht vorbei. Aber es bedeutet nicht sich anpassen, sondern es für sich zu nutzen.“
Prägend für Ernie ist hier der Wunsch nach dem Schaffen eines erkennbar politisierten kulturellen Raums, was durch die Programmgestaltung mit Veranstaltungen und Konzerten erreicht werden soll. Den Gegenpol dazu bildet die „Saufkneipe“, welche die „Stube“ vorher gewesen sei. Durch das „Wir“ werden die Anwesenden als eine Gemeinschaft konstruiert, die negative Erfahrung mit der alten „Stube“ teilt. In diesem Redebeitrag kommt exemplarisch ein Gegensatz zur Geltung, der auch sonst immer wieder von den Kollektivmitgliedern thematisiert wurde: Alkoholkonsum (Saufen) versus Politik (Kämpfen). Ein mit Filzstift an die Tür der Frauentoilette angebrachtes Graffito verdeutlichte diese Alternativen: „BREIT oder BEREIT? oder beides…“ Durch diesen Gegensatz wurde ein symbolisches Kontinuum definiert, in dem die Kollektivmitglieder den Kneipenraum als eine sinnvolle Einheit in ihren Diskussionen synthetisierten. In der Kategorie linke Kneipe ist schon die Spannung zwischen „Kneipe“ als Insitution der kommunikativen Rekreation (in Verbindung mit dem Alkoholkonsum) und „Linke“ als Bezeichnung der politischen Position enthalten. Das konkrete Verhältnis zwischen beiden Leitbildern Kneipe und linke Politik wurde von Akteuren immer wieder aufs Neue bestimmt, u.a. in ihrer diskursiven Praxis: Die Diskussionen um das Konzept wurden verstärkt darauf ausgerichtet, diese Bilanz zugunsten einer höheren Politisierung zu verschieben. „Utopie wie nie – ein raum in dem mensch freier wird“ So lautete die Überschrift eines Konzeptpapiers, das ein Zwischenergebnis der Diskussion im angehenden Kollektiv darstellte und dem angestammten Hausprojekt im Januar überreicht wurde. Auch wenn es sich hierbei um eine interne Diskussion handelte, geht ihre Bedeutung über die Grenzen dieser Kleingruppe hinaus, denn die entsprechenden Ergebnisse betrafen den alltäglichen Betrieb und damit auch die Besucherinnen. Im Folgenden werde ich diese Vorstellungen auf Grundlage der Diskussionen, Plenumsprotokolle und Konzeptpapiere kurz umreißen. Das Verfassen eines „politischen und strukturellen“ Konzepts wurde von den treibenden Kräften
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der Neugründung als eine Voraussetzung angesehen, die Arbeit aufzunehmen und das Projekt tatsächlich neu zu gestalten. Die Konzeptdiskussion ist als ein Versuch zu werten, das Selbstverständnis der Gruppe kommunikativ auszuhandeln. Das Diskutieren an sich kann zudem als ein eigenständiger Mechanismus der Produktion eines Wir-Gefühls gesehen werden. Dabei ging es nicht nur um eine inhaltliche Politisierung des Konzeptes: Sowohl das intensive Diskutieren über die eigene Tätigkeit als auch das Verfassen eines „Gründungspapiers“ kann als Aufnehmen einer Vorgehensweise von genuin politischen Gruppen der linken Szene interpretiert werden. Dies bildete eine Aufwertungsstrategie sowohl für das Kulturprojekt als auch für die einzelnen Mitglieder, denn die regelmäßige Teilnahme an Diskussionen (mit der die Produktion der geteilten Wir-Definition einhergeht) gehört zu den normativen Aktivitäten von „Linksradikalen“. Dies bedurfte großer Zeitinvestitionen der Teilnehmer, denn in der intensiven Diskussionsphase im Januar dauerte jedes Treffen mehrere Stunden; so begann das letzte Konzepttreffen an einem Samstag um 17 Uhr und endete um 23 Uhr. Dies bedeutete in diesem Monat, ca. 10 Stunden pro Woche allein mit dem Diskutieren auf Versammlungen zu verbringen.15 Das Betreiben der „Stube“ war insgesamt eine zeitintensive Angelegenheit, worauf ich unten noch eingehe. Die Fertigstellung eines Konzepts kann wiederum, unabhängig von seinen Inhalten, als ein Akt der Wir-Gründung gesehen werden. Diese Wir-Gründung bedurfte jedoch einer weiteren Legitimierung. Mit dem Konzept bewarb sich das Kollektiv bei dem schon zuvor assoziierten Hausprojekt um die Räumlichkeiten im Erdgeschoss, deren Nutzung nach der erfolgten Wiederbesetzung faktisch geduldet wurde. Die Unsicherheit über die eigene Stellung schlug sich auch im letzten Konzepttreffen nieder; ich zitiere aus dem Beobachtungsprotokoll: Am Ende geht es noch mal darum, wie es wohl morgen ausgehen wird. Die Leute vom Kollektiv sind eher vorsichtig optimistisch. Karl meint, es ist schwer vorzustellen, das das Plenum anders entscheiden wird – „Was wollen sie hier sonst haben, ihren unbenutzten Arbeitsraum wieder?“ Peter:
„Es wird wohl beim Haus keine Superbegeisterung uns gegenüber geben, aber wir können bei vielen mit Sympathien rechnen.“
15 Über den Raum eines Plenums schreibe ich in Unterkapitel 4.1.
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Karl:
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„Das erste Papier ist sehr gut angekommen (‚Kritik und Selbstkritik’). Das letzte allerdings eher ‚geht so’. Was dagegen spricht: Manche werden das Konzept wohl schwammig finden.“
Ernie:
„Wann hat das Haus denn selbst mit einem Konzept gearbeitet?“ […]
?:
„Und wenn sie Tschüß sagen?..“
Julia:
„Besetzen wir es hier!“ (lacht)
Ernie:
„Ne, so geht’s nicht!“ (ernst)
Karl:
„Wir werden es uns überlegen, wenn es so weit kommt.“
Viele nicken, stimmen zu.
Bei dieser Diskussion, die nach der Fertigstellung des Konzepts stattfand, ging es um die erwartete Entscheidung des Hausplenums. Das Besetzen von leerstehenden Häusern oder Häuserteilen wird in den Szenediskursen als legitimes und wünschenswertes (nur leider „heutzutage“ schwer durchführbares) Handeln dargestellt. Dies kommt beispielsweise auch in Slogans auf Demonstrationen zum Ausdruck, etwa: „Miete verweigern – Kündigung ins Klo – Häuser besetzen sowieso!“ Auch in dem im Zitat erwähnten Papier „Kritik und Selbstkritik“ des Kollektivs wird das Nicht-Besetzen als Selbstkritik formuliert: „Kollektiv hat von selbst nix in Richtung Wiederbesetzung getan (somit die Verantwortung für die Räume aufgegeben bzw. Räume nicht eingefordert).“ Die Legitimität der Besetzung speist sich gerade aus ihrer Illegitimität im Rahmen der geltenden Rechtsprechung. Die räumlich relevanten rechtlichen Strukturen können im raumkonstituierenden Handeln der Akteure als eine Ressource der antikapitalistischen WirIdentität verarbeitet werden. In der angeführten Diskussion hieß es dennoch auf den eher witzig gemeinten Vorschlag „Besetzen wir es hier!“ sehr ernst: „Ne, so geht’s nicht!“ Eine solche Besetzung wäre also illegitim, denn es handelt sich um die schon von einer anderen Gruppe besetzten Räumlichkeiten. Auch wenn beide Gruppen sich zum Teil personell überschneiden und einige Kollektivmitglieder an der Besetzung beteiligt gewesen waren, entstand daraus kein persönlicher Anspruch der im Haus wohnenden oder an der Besetzung teilnehmenden Kollektivmitglieder auf Nutzung der Räumlichkeiten. Dieser Anspruch war an eine bestimmte Gruppe, ein bestimmtes „Wir“ gebunden. Durch die Wiederbesetzung erhob das Hausprojekt den Anspruch auf die Kontrolle des Zugangs zu diesem Bereich – einen Anspruch, der auf einem auch für das Kollektiv legitimen symbolischen Prinzip basierte. Hätte das Kollektiv ihn nicht anerkannt,
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hätte es sich dem Konsensfeld entzogen und so die eigene Legitimität riskiert.16 So blieb den Teilnehmern faktisch nichts anderes übrig, als das Verfügungsrecht des Hausprojekts über die Räume (und dadurch über ihre Gruppenidentität) anzuerkennen. Auf diese Weise wurde das hierarchische Vermieterinnen-Mieterinnen-Verhältnis auf Basis einer untypischen Legitimierung reproduziert. Auch wenn eine von einer anderen Gruppe durchgeführte Wiederbesetzung wesentlich zur Definition der „Stube“ als linker bzw. subversiver Raum beitragen konnte, sind auch die Elemente des diskutierten Konzepts in dieser Hinsicht nicht zu vernachlässigen. Die Überlegungen zur Politisierung, die stark vom oben herausgearbeiteten Gegensatz Kneipe versus politischer Ort geprägt waren, hatten verschiedene Ausrichtungen und umfassten viele Bereiche des Projekts: • Visuelle Gestaltung der Räume Wandgestaltung, u.a. sollten Informationen zu aktuellen Veranstaltungen ausgehängt werden. Auch eine Infotafel sollte angebracht werden, so dass die Kneipe auch dadurch zu einem Mobilisierungspunkt werden würde. • Publikumszusammensetzung Durch die frühere Betriebszeiten (offen ab 19 Uhr, Essen ab 20 Uhr, Kulturveranstaltungen ab 21 Uhr) und einen „rauchfreien Raum“ sollte auch ein anderes Publikum angezogen werden (anders „als diejenigen, die erst um 10 Uhr zu Abend essen und dann ausgiebig trinken“ – aus der Diskussion). • Getränkeangebot Die Kneipe sollte eine viel kleinere Alkoholika-Auswahl bieten und insbesondere auf hochprozentige Alkoholika („Hartalk“) auch bei Partys (außer für die Cocktailherstellung) verzichten; Anbieter, die Nazis „oder Ähnliches“ unterstützen, sollten boykottiert werden.
16 Hier sei kurz ein langwieriger Konflikt unter den Bewohnerinnen des ehemals besetzten Hauskomplexes Brunnenstr. 7 in Berlin-Mitte Ende der 1990er Jahre erwähnt. Er liefert zwar kein Beispiel für eine hausinterne Besetzung, aber für eine hausinterne Räumung. Es kam zum Rausschmiss und Aussperren einer Wohngruppe. Eine kleine Dokumentation von Texten ist im Internet zu finden (http://squat.net/de/news/archiv98/brunnen, Stand: 28.10.2008).
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Einen politischen Treffpunkt anbieten Für Leute ohne feste Gruppen sollte die Kneipe bei größeren Demonstrationen ein Treffpunkt sein, um eine gemeinsame Teilnahme zu ermöglichen. Als politische Gruppe nach außen agieren Das Kneipenkollektiv sollte sich bei Demonstrationen und Kampagnen als eine Gruppe einbringen. Konsequentes Eingreifen bei Anmachen Bei rassistischen, sexistischen und sonstigen Beleidigungen sollten die Angehörigen des Kneipenkollektivs mit dem (mutmaßlichen) Angreifer konsequent umgehen, „aber menschlich“ – dabei allerdings zuerst nach Möglichkeit suchen, den Menschen anzusprechen. Es sollte „kein PCLaden“17 mit „Paranoia-Atmosphäre“ werden. Veranstaltungen Das Kollektiv sollte weiterhin kulturelle (Konzerte) und verstärkt politische Veranstaltungen machen, und diese selbst oder in Zusammenarbeit mit anderen Gruppen organisieren. Detaillierte Vorstellungen von der Kneipenstruktur Innerhalb des Kollektivs sollten Arbeitsgruppen für laufende Aufgaben gebildet werden, die jeweils eigene Arbeitsplena abhalten sollten. Demgegenüber stand ein Vollplenum. Verbesserte Zusammenarbeit mit dem Hausprojekt Hier wurde angeregt, dass gegenseitig Delegierte zu den Plena geschickt werden sollten. Selbstverständnis „Einen Freiraum schaffen“. Es sollte ein antikommerzielles Projekt, ein Treffpunkt für verschiedene Leute werden. Verbindliche Mitgliedschaft im Kollektiv Nur für die „Soligruppen“ sollte ein Gaststatus möglich sein. Einzelpersonen sollten sich (nach einer Probezeit) verbindlich einbringen müssen.
Interessant ist, dass der Punkt „Selbstverständnis“ erst beim allerletzten Treffen detailliert formuliert wurde. Das erkläre ich damit, dass es um weitgehend konsensfähige Grundsätze ging. Einige Themen wurden dage-
17 PC = Politically Correct; die Zitate stammen aus der Diskussion.
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gen zum Gegenstand mehrfacher Diskussionen. Teilweise wurden die Streitpunkte dadurch aufgelöst, dass die Diskussionen auf Grund von Zeitdruck einfach unterbrochen und ungenaue, aber konsensfähige Formulierungen gefunden wurden. Als Beispiel hierfür kann die „konsequente, aber menschliche Vorgehensweise“ bei „Menschen mit idiotischem Verhalten“ (aus einem Plenumsprotokoll) gelten: Die Positionen gingen klar auseinander und wurden in den Plenumsprotokollen wiedergegeben. Dies geschah allerdings nicht mit Namensnennung, sondern als eine detaillierte Auflistung der Position des Kollektivs, die dadurch inkonsistent wirkte: •
Definitionsrecht liegt beim Opfer! Es soll den „vermeintlichen“ Tätern kein Forum gegeben werden!!!
•
Wenn es Probleme mit einer Person gibt – dann soll das Tresenpersonal bevor es eskaliert den Menschen eine Vorwarnung geben – wenn es trotzdem bei dem Menschen nicht ankommt kann er aus der Kneipe entfernt werden.
Während sich die Richtlinien auf dieser detaillierten Ebene wie flexible Handlungsorientierungen anhören, wirkt die komprimierte Version konsequent, aber menschlich schwammig. Diese Diffusität sehe ich als nützlich an, da die Beteiligten so einen Konsens finden konnten und hiermit die Bildung einer Wir-Gruppe möglich wurde. Dass das Konzept und die Bildung einer Gruppe für die Beteiligten selbst ein wertvoller Orientierungspunkt war, wird u.a. aus der oben zitierten Diskussion deutlich. Auf den Einwand, dass manche der Hausbewohner das Konzept wohl eher schwammig finden könnten, wurde geantwortet: „Wann hat das Haus denn selbst mit einem Konzept gearbeitet?“ Dem fertigen Kollektivkonzept wird somit ein eigenständiger Wert zugeschrieben. Im Folgenden gehe ich auf die räumliche Relevanz der oben aufgeführten Punkte ein, auch wenn sie nicht immer von den Diskutierenden explizit reflektiert wurde. Ich gehe davon aus, dass Framing-Prozesse auch von Akteuren unbeabsichtigte Bedeutungen konstruieren und ungeplante Effekte erzeugen. So wirkten die Maßnahmen des Kneipenkollektivs, die darauf ausgerichtet waren, für ein anderes Publikum attraktiv zu sein, auf der Ebene raum-zeitlicher Routinen: Andere Öffnungszeiten sind günstiger für Menschen, die früher zu Abend essen, früher ins Bett gehen und früher aufstehen, z.B. Menschen mit Kindern oder diejenigen, die regelmäßig früh zur Arbeit müssen. Auch für die raum-zeitlichen Routinen der „Kneipen-
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macherinnen“ war das neue Konzept bedeutsam: Der antikommerzielle Charakter des Projekts bedeutete neben den niedrig gehaltenen Preisen auch, dass die ganze Arbeit ehrenamtlich verrichtet wurde; die aktiven Kollektivistinnen brauchten also daneben noch einen Job zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts. Die Erfahrungen von Kollektivkneipen wie dem „Café Morgenrot“ in Berlin zeigen, dass eine Kollektivkneipe bzw. ein Kollektivcafé durchaus für den Lebensunterhalt der Betreiberinnen sorgen und trotzdem lange eine linke Identität bewahren kann. Für einen besetzten Ort wie die „Stube“ stand diese Professionalisierungsperspektive jedoch nicht zur Debatte, denn schon der rechtliche Rahmen machte dieses Unternehmen unmöglich. Zudem orientierten sich die meisten Projektaktiven an der aus früheren Besetzungen entstandenen Tradition von Friedrichshainer „Häuserkneipen“; sie suchten in der Neugründung des Projekts eine Möglichkeit, sich politisch zu betätigen, was mit ehrenamtlicher Arbeit assoziiert wurde. Gerade das oben erwähnte „Café Morgenrot“ wurde von einigen als zu „yuppiemäßig“ kritisiert. Somit nahmen die Kollektivmitglieder die Notwendigkeit weiterer Jobs und damit zusätzlich entstehende Zeitkosten in Kauf. Das Konzept war nicht nur relevant für die raum-zeitlichen Routinen der Gäste und der Betreiberinnen, sondern sah vor, auch den Charakter des Raums zu beeinflussen. Die visuelle Gestaltung der Räumlichkeiten mit mehr politischen Informationen sollte es schaffen, die symbolische „linke“ Komponente der Kneipenräume aufzuladen und trotz solch unspezifischer Aktivitäten wie Biertrinken einen links konnotierten Raum zu konstruieren. Auch die verstärkte Organisation von Informationsveranstaltungen sorgte, sobald sie zur Routine geworden war, für einen bestimmten Ruf und färbte durch die Erinnerungen der Besucher auch auf weitere Abende ab. Komplementär dazu (im Rahmen der symbolischen Dimension Saufen versus Politik) war das stark verringerte Angebot an Alkoholika, denn statt ausgiebig Alkohol zu konsumieren, sollten die Gäste sich mit politischen Themen befassen und fit sein. In der linken Szene gehören Antirassismus, Antisexismus und Antifaschismus zu unabdingbaren Komponenten des normativen Selbstverständnisses. Sollen sie jedoch auf konkrete Situationen angewandt werden, kommt es bisweilen zu langen und kontroversen Diskussionen (vgl. Haunss 2004: 152ff.). Bei den Konzeptdiskussionen wurde dies vor allem in Bezug auf Verhaltensstandards deutlich (vgl. oben zum Diskussionspunkt: keine
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Anmachen dulden/keine Paranoia-Atmosphäre). Die abstrakten Wir-Elemente sollen zur Grundlage des praktischen Handelns werden. Bestimmte Vorgehensweisen werden in diesem Zusammenhang nicht dem Publikum direkt, sondern den Kollektivmitgliedern vorgeschrieben: Sie müssen handlungsfähig sein (Stichwort: nicht zu viel Alkohol) und bei bestimmten Vorfällen schnell eingreifen. Die angehenden Kollektivmitglieder formulierten so ein Raumkonzept, das dem Tresenpersonal eine Verantwortung für das Einhalten der Verhaltensnormen durch alle Anwesenden und somit die Dominanz über den Raum eines Kneipenabends zuschreibt. Auch der zuletzt genannte Punkt (verbindliche Mitgliedschaft im Kollektiv) ist in seiner räumlichen Komponente für die Frage der Macht relevant. Hier wurde ausgiebig vor allem um den Status der sogenannten Unterstützerinnen diskutiert, d.h. Menschen, die immer wieder beim Tresen aushalfen, ohne sich auf eine andere Weise einzubringen. Im früheren Betrieb war das durchaus üblich gewesen. Zunächst förderte die Abschaffung dieses Status den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe – eine Funktion, die von den Diskutierenden neben der Vermeidung von hierarchischen Strukturen im Kollektiv angestrebt wurde. Er war jedoch auch für die praktische Übersetzung dieser Vorstellungen im Alltagsbetrieb wichtig. So sollte garantiert werden, dass die ausgearbeiteten Auflagen auch befolgt werden und der angestrebte antirassistische, antisexistische etc. Raum institutionalisiert wird. Das Verhältnis zwischen den Tresenkräften und dem Publikum sollte prononciert werden, u.a. mittels seiner konsequenten räumlichen Organisation: Der auch vorher physisch vorhandene Tresen sollte nun für das Verhalten der Anwesenden stärker relevant werden, indem der Bereich dahinter nur den Mitgliedern des Kollektivs vorbehalten blieb. Diese räumliche Trennung hatte klare hierarchische Züge und diente der Definition der Kollektivmitglieder als derjenigen, die Kontrolle über den Raum der Kneipe hatten. Zusammenfassend stelle ich fest, dass die interaktive Konstruktion der „Stube“ als linke Kneipe im Wesentlichen bei der Diskussion des KollektivKonzepts stattfand. Die interaktiv konstruierte Wir-Definition hatte räumliche und raumrelevante Aspekte. Für eine Kneipe ist dies selbstverständlich nicht verwunderlich. Die räumliche Relevanz dieses Framings lag jedoch auch außerhalb des „Selbstverständlichen“. Wie meine Analyse zeigt, wurde vom (angehenden) Kollektiv bei der diskursiven Wir-Konstitution nicht bloß ein Raum auf der symbolischen Ebene konstruiert. dieser Raum sollte
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darüber hinaus klar von diesem „Wir“ und von den Kollektivmitgliedern als seinen Trägern dominiert werden. Wie dies in der Praxis aussah, werde ich kurz abschließend behandeln. Aufbruch – kurz vor dem Ende Das Hausplenum hatte dem Nutzungskonzept des Kollektivs Ende Januar 2003 zugestimmt, und so konnte das auf diese Weise legitimierte Kollektiv offiziell den Betrieb aufnehmen. Wie aus dem vorherigen Abschnitt dieses Kapitels hervorgeht, fand die zweite Teilräumung des Hausprojekts schon wenige Monate später statt. Das bedeutete, dass die praktische Phase des Betriebs relativ kurz war – zu kurz, wie viele Teilnehmerinnen im Nachhinein beklagten. Herrschte zu Beginn eine regelrechte Aufbruchsstimmung, so änderte sich dies schon kurz darauf mit dem Eintreffen eines Briefes des Gerichtsvollziehers. Eine mögliche Räumung wurde von den Kollektivmitgliedern bis dahin nicht als eine reale Bedrohung behandelt worden, obwohl es sich um wiederbesetzte Räumlichkeiten handelte, in denen der Aufenthalt von Menschen faktisch nur geduldet wurde. Angesichts der langen Konfliktgeschichte und der bis dahin unversöhnlichen Stellung des Hauseigentümers war eine erneute Räumung objektiv gesehen eine klare Tatsache. Im Nachhinein kann ihre Ausblendung als Leichtfertigkeit gedeutet werden. Im Kontext der damaligen Situation handelte es sich jedoch vielmehr um eine Konzentration auf die eigene Handlungsfähigkeit und Perspektive. Die geteilte Wir-Definition umfasst die Vorstellungen von Zielen, Mitteln und Kontext des kollektiven Handelns. Die Motivation zum gemeinsamen Handeln und zur Konstruktion eines „linken Raums“ war in dem konkreten Fall dadurch ermöglicht worden, dass die mögliche Räumung als ein wichtiges Element des Kontexts aus interaktiven FramingProzessen ausgeblendet wurde. Die eigene Handlungsfähigkeit stand stattdessen im Mittelpunkt: Wir schufen dieses Konzept, wir haben die Räume, wir machen jetzt die neue „Stube“! Im Februar wurde über persönliche Kontakte und „Hörensagen“ eine neue Gruppe zum Betreiben der „Stube“ an einem weiteren Tag (am Freitag) gefunden. Es handelte sich um eine damals relativ neue politische Gruppe, deren Teilnehmerinnen mit Anfang 20 im Schnitt zwei bis drei Jahre jünger als die Mitglieder des Kernkollektivs waren. Als „Politgruppe“ mussten sie sich auch nach dem neuen Konzept nicht vollständig integrie-
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ren bzw. im Kollektiv aufgehen. Einige von ihnen nahmen jedoch nicht nur am Alltagsbetrieb teil, sondern auch an den Plena, beteiligten sich also auch an der Organisation der Arbeit und an den institutionalisierten Wir-Räumen des Plenums. Anders sah es mit einer Gruppe aus, die aus Hausbewohnerinnen bestand und an ihrem „alten“ Tag, dem Dienstag, die Vokü organisierte. Abgesehen von einer Frau (Ulli) beteiligten sich ihre Teilnehmerinnen gar nicht an der Diskussion über das Konzept oder auch später an den Plena. Der wöchentliche Rhythmus mit drei verschiedenen Gruppen ähnelte dem unkonsolidierten Raum, den ich am Anfang des Kapitels beschrieben habe. Die Situation war dennoch anders: Es bestand nun ein Kollektiv, das sich über die institutionalisierten Plenumsräume reproduzierte. Dazu betrieben einige Hausbewohnerinnen in denselben Räumlichkeiten parallel zum Kollektiv eine Vokü. Hiermit hielten sie den Anspruch des Hausprojekts, die inzwischen dem Kollektiv überlassenen Räume der „Stube“ weiterhin zu bestimmen, aufrecht. Dabei ging es um die konkrete Raumproduktion an Öffnungsabenden: Schon Ende Februar – einige Wochen nach der Gründung – wurde beim Kollektivplenum diskutiert, ob die Dienstaggruppe „Hartalk“ ausgeschenkt und Entscheidungen des Kollektivs so übergangen habe. Wie sich diese Situation der Konkurrenz um den Raum weiter entwickelt hätte, darüber kann angesichts der bald erfolgten Räumung nur spekuliert werden. Es bleibt festzuhalten, dass sich hier ein Konfliktpotenzial zwischen dem Hausprojekt und dem neuen Kollektiv ergab. Es speiste sich einerseits aus den persönlichen Feindseligkeiten zwischen einigen Mitgliedern des Hausprojekts und der Kneipe, andererseits war das persönliche Engagement einiger anderer Hausbewohnerinnen im neuen Kollektiv eine Bremse, die den offenen Ausbruch des Konflikts verhinderte. In weiteren Punkten konnte das Konzept jedoch punktuell umgesetzt werden, wie z.B. durch die Renovierung und Neugestaltung der Räume oder durch die Organisation einer Veranstaltungsreihe zur radikalen Rechten. Die „Freitagsgruppe“ nutzte die Räume für ihre Treffen, auf einer thematisch relevanten Demonstration „keine ruhe für [die] mitte“ wurde ein eigener Redebeitrag gehalten, eine größere Kunstveranstaltung wurde durchgeführt und jeden Montag (später auch Freitag) fand eine Vokü statt. Von allen Beteiligten wurde dies als Aufschwung wahrgenommen, obwohl es auch weiterhin immer wieder Ungereimtheiten gab und obwohl es mit einem großen Zeitaufwand verbunden war: Die Vorbereitung und Durchführung einer Vokü kostete ungefähr sieben bis acht Stunden; das Plenum
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nahm einen weiteren Abend ein. Hinzu kamen Tätigkeiten wie etwa Anfragen an andere Gruppen weiterzuleiten, Treffen zu organisieren u.Ä. Dies kostete Zeit, zumal ein Großteil der Kommunikation in Face-To-FaceSituationen ablief.18 All dies geschah, wie oben erwähnt, als ehrenamtliches Engagement, so dass die meisten Beteiligten sich zusätzlich um ein Einkommen kümmern mussten. Bei vielen, die in Hausprojekten oder „PolitWGs“ wohnten, kamen noch die Plena ihrer Wohngruppen dazu. In dem von mir publizierten Artikel „Raum-zeitliche Ordnungen linker Identität“ (Golova 2006) untersuchte ich hauptsächlich die Entwicklung linksradikaler sozialer Identitäten von Szeneangehörigen, jedoch nicht der kollektiven Identität. Ich konnte feststellen, dass die raum-zeitliche Fokussierung der Handlungsräume auf bestimmte Stadtteile wie Friedrichshain typisch war und mit ehrenamtlichem Engagement einherging: Die Menschen verbrachten die meiste Zeit in ihren Projekten bzw. für ihre Projekte, was wiederum zwangsläufig nur auf Kosten ihrer anderweitigen Aktivitäten wie z.B. ihres Studiums möglich war. Die distanzlose und räumlich geförderte Loyalität zu eigenen Gruppen führt, so war meine Annahme, in der Langzeitperspektive zur Einschränkung weiterer biografischer Möglichkeiten. Dennoch kann sie nicht nur unter dem Aspekt des Zwangs betrachtet werden. Dank der subjektiven Bindung an die Gruppe wird das konforme Verhalten von Teilnehmern meistens als eine selbstverständliche, nicht erzwungene Handlungsoption gesehen. Ausgeprägte kollektive Identitäten begünstigen das Commitment und damit die langfristige Teilnahme (Diani 2004: 341f., Hunt/Benford 2004: 448). Die positive Bindung der Teilnehmer an die „Stube“ betrachte ich als ein Ergebnis der intensiven von ihnen geleisteten Arbeit und der erfolgreichen Konstitution des kollektiven „Wir“. Diese emotionale Bindung bildete wiederum die Grundlage der Bereitschaft zu risikoreichen Aktionen bei der Räumung. Die Reflexion meiner eigenen Emotionen im Laufe der Forschung bestätigt diese Annahme: Die Räumung im Herbst 2002 löste bei mir keine Emotionen jenseits des mit meinen Forschungszielen konformen Interesses an der weiteren Entwicklung des Projekts aus. Die Räumung im Frühjahr 2003 habe ich dagegen, nachdem auch ich (als Kollektivmitglied und als Forscherin) viel
18 Heute bildet verschlüsseltes instant messaging eine beliebte Alternative zur unmittelbaren Interaktionen, die aber immer noch einen sehr wichtigen Kommunikationsweg darstellt.
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Zeit und Arbeit in dieses Projekt investiert hatte und die „Stube“ zu einem festen Teil meiner eigenen raum-zeitlichen Routinen geworden war, als ein schmerzhaftes Ereignis empfunden. Erst die Reflexion dieser emotionalen Dynamik erlaubte es mir, die Distanz zum eigenen „szenekonformen“ Handeln aufzubauen und es zum Gewinnen des soziologischen Wissens zu nutzen. Fazit Dieses Unterkapitel fing mit der Zeit vor der (ausgesetzten) ersten Räumung der „Stube“ im Frühjahr 2002 an und endete um die Zeit der zweiten Räumung im Frühjahr 2003. Der chronologische Aufbau wurde gewählt, um die Dynamik der Kollektiventwicklung besser einzufangen. Sie kann als Prozess der Wir-Identität des Kollektivs betrachtet werden, der sich um die Konstitution einer politisierten Kneipe abspielte – also um einen bewussten Versuch, einen linken Raum zu erschaffen, einen „raum in dem mensch freier wird“ (wie das oben erwähnte Konzeptpapier forderte). Die wichtigste symbolische Dimension dieser Framing-Prozesse bildete das Spannungsfeld Kneipe versus Politik. Ich gehe davon aus, dass die Teilnehmerinnen der Diskussionen um das neue Konzept der „Stube“ dabei ihr Wissen und den szenespezifischen Wissensvorrat, was eine linke Kneipe ausmacht, auf der diskursiven Ebene einsetzten, wiedergaben und aushandelten. Das so konstruierte Konzept umfasste auch Regeln, deren räumliche Relevanz von den Beteiligten nicht reflektiert wurde (wie z.B. die Vorstellung von der verbindlichen Mitgliedschaft). Die Konstitution einer Gruppe und eines Raums geschieht im Handeln. Es ist stets eine Leistung der Individuen, und zwar der konkreten Menschen, die diskutieren, einkaufen, kochen, hinter dem Tresen stehen, miteinander reden, Transparente malen, Flyer verteilen, Redebeiträge schreiben, zusammen zu Demonstrationen gehen etc. Oben wurde versprochen, auf die Frage zurück zu kommen, warum das Kollektiv nach der zweiten Räumung nicht weiter machte, obwohl es inzwischen besser organisiert war. So hieß es im Protokoll des ersten Plenums nach der Räumung noch: „Nach der Räumung … ist vor der Besetzung!“ Ich vermute den wichtigsten Grund darin, dass die Mitglieder einfach müde waren. Die Zeit der Räumung war nicht nur nervenaufreibend, sondern auch sehr arbeitsreich. Der Konflikt eskalierte mit der eigentlichen Räumung vollständig. Dies
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führte zu mehreren weiteren Auseinandersetzungen und einer über Wochen anhaltenden Mobilisierung (das Framing dieser Mobilisierung wird im sechsten Kapitel rekonstruiert). Das bedeutete für die Akteure: Barrikaden im Haus bauen, an Demonstrationen teilnehmen und diese organisieren, ein eigenes Flugblatt entwerfen und verteilen, an Aktionen wie der Besetzung einer Parteizentrale in Friedrichshain teilnehmen etc. Vor diesem Hintergrund bedeutete der Verlust der Kneipe letztendlich auch „Freie Zeit für Alle!“ (aus dem selben Plenumsprotokoll, Punkt „Perspektiven“).
4.3 ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Der akute Konflikt zwischen dem Hausprojekt und dem Hauseigentümer bot einen Rahmen zur Konstruktion der Identitätsressource linke Kneipe. Meine Annahme war, dass es sich hierbei nicht nur um eine Auseinandersetzung um einen gegebenen Raum eines Hauses handelte. Diese Verdinglichung eines zu schützenden Raums gehörte zu den Vorstellungen der Protagonisten und lieferte auf diese Weise die Sinngrundlage ihres Handelns. Entsprechend dem gesellschaftszentrierten Raumkonzept sollte diese verdinglichte Vorstellung eines Konflikts um das Haus zwar ernst genommen werden, aber lediglich als ein Element des Prozesses der Raumproduktion. Die Räume der linken Projekte – das Hausprojekt ebenso wie das Kollektiv – wurden in dieser Auseinandersetzung erst erschaffen. Dabei wurde nicht nur eine Bezugsgröße für die spätere Identitätskonstruktion produziert. Direkt im Prozess der Raumproduktion wurden die sozialen Identitäten der Teilnehmer und – das ist für meine Fragestellung wichtiger – die Wir-Identitäten als Kollektiv und als „radikale Linke“ konstruiert. Hierfür sind auf der einen Seite die kurzfristigen, aber emotional stark geladenen Erlebnisse wie die direkte Auseinandersetzung mit der Polizei bei der Räumung von Bedeutung. Auf der anderen Seite war auch die langfristige, auf die Neugründung einer linken Kneipe ausgerichtete Neuorganisation des Kollektivs im Sinne der verräumlichten Identitätsproduktion wichtig. Auch sie beinhaltete die Entwicklung einer emotionalen Bindung. Wie am Anfang des Buches festgehalten, erfordert der Prozess kollektiver Identität von den Bewegungsakteuren einen fortwährenden Einsatz. Dieser Einsatz
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ist mitunter körperlich, wie die Überlegungen zur emotional-körperlichen Raumsynthese zeigten. Die sozialräumlichen Institutionen der Bewegungsmilieus (Buchläden, Cafés, Kneipen u.Ä.) werden in der soziologischen Forschung als Freiräume oder safe spaces thematisiert, die einen gewissen Schutz vor Repression bieten und deswegen für die Entwicklung von Protestzusammenhängen unerlässlich sind. Die hier unternommene empirische Untersuchung ihrer räumlichen Aspekte lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass sie nicht einfach bestehen, sondern ihren Charakter als Ressource kollektiver Identität dem Umstand verdanken können, dass sie geschützt werden müssen statt selbst Schutz zu bieten.
5. Szeneläden als Ressourcen kollektiver Identität
In der Studie habe ich die theoriegeleitete Triangulation unter Bezugnahme auf den Strukturierungsansatz und sein zentrales Prinzip der Dualität von Struktur und Handeln – in Anlehnung an Löw (2005) – auf das sozialräumliche Phänomen einer Linke-Szene-Kneipe angewandt. Zuvor bin ich unter Verwendung der Daten aus der von mir durchgeführten beobachtenden Teilnahme und der Textanalyse der Frage nachgegangen, wie die Szeneangehörigen politisierte Räume linker Kneipen konstituieren. An dieser Stelle werde ich entsprechend der Strukturierungsperspektive den Fokus von den Prozessen der Raumproduktion zu dem institutionalisierten Raum einer Szenekneipe als Identitätsressource verlagern. Zunächst wird betrachtet, wie am gleichen Ort zwei unterschiedliche soziale Räume im Rahmen eines jeweiligen sozialen Geschehens produziert werden – der eines Kneipenabends und der eines Plenums. Diese Differenzierung hilft, die Rolle der Kneipenabende in der Konstruktion linker Wir-Identitäten zu erforschen. Dieser Teil basiert hauptsächlich auf den Daten der Beobachtung und orientiert sich in seinem Aufbau an der analytischen Kategorie des sozialen Geschehens. Im nächsten Schritt beschäftige ich mich auf Grundlage der ausgewerteten Interviews mit Interpretationen einer Linke-SzeneKneipe, die ihre Rolle in Prozessen kollektiver Identität explizieren. Dabei geht es um die Rekonstruktion der die Räume betreffenden Sinnstrukturen (Frames) auf Basis der Interviews. Dem entspricht der Wechsel in der Textform, in der Zitate aus den Interviews und deren Analyse im Hinblick auf relevante Kategorien einen herausragenden Platz einnehmen. Auf Grundlage dieser Kombination von Perspektiven und Methoden möchte ich fun-
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dierte Erkenntnisse zur Rolle eines sozial-räumlichen Phänomens in Prozessen kollektiven Identität bekommen.
5.1 R ÄUME EINES K NEIPENABENDS EINES K OLLEKTIVPLENUMS
UND
Bei der theoretischen Begründung der raum-zeitlichen Kontextualität des Handelns orientierte ich mich an Goffmans Begriffen soziales Geschehen und Frame. Sie verweisen auf die ausdrückliche oder (öfter) stillschweigende Frage „Was geht hier vor?“, die von Akteuren meist auf der Ebene des praktisches Bewusstseins, also in ihrem Handeln, beantwortet wird.1 Geht es bei einer sich durch die Straßen bewegenden Ansammlung von Menschen um einen lockeren Spaziergang, um eine organisierte Stadtführung oder um eine Demonstration? Unter einem sozialen Geschehen ist eine größere soziale Angelegenheit zu verstehen, zeitlich und räumlich begrenzt, typischerweise mit einer besonderen Ausstattung und mit als angemessen erachteten Verhaltensweisen verbunden (Goffman 1966, 1971). Soziales Geschehen als Interaktionseinheit liefert einen strukturellen sozialen Kontext für viele einzelne Zusammenkünfte. Der Aufbau konkreter Räume als Elemente eines jeweiligen Geschehens wird, so wurde im theoretischen Kapitel formuliert, zu einer Arena der Sinnkonstitution und des Aushandelns der Realität im Alltag. Der Begriff des sozialen Geschehens erlaubt es, die Konstitution verschiedener Räume an einem Ort zu erfassen, sei es abwechselnd oder in Konkurrenz zueinander. Wie ich unten zeigen werde, ist besonders die Variante der konkurrierenden bzw. uneindeutigen Interpretationen für die (Re-)Produktion kollektiver linksradikaler Identitäten interessant. Für meine Überlegungen ist die Annahme relevant, dass die Frames sozialer Geschehen und speziell ihrer räumlichen Anordnungen mit weiteren, ihrem Charakter nach nicht-situativen Bedeutungen institutionalisiert verknüpft werden können. Das gilt auch für Frames als kognitive Elemente
1
Die Begriffe soziales Geschehen und Frame sind verwandt, dennoch nicht identisch. Während es sich beim sozialen Geschehen um eine Interaktionseinheit handelt, geht es beim Frame um eine Sinnstruktur. Daher ist die Rede von dem Frame eines sozialen Geschehens nicht tautologisch.
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kollektiver Identität. Die Interpretationsstrukturen, die Ziele, Mittel und Kontexte des gemeinsamen Handelns in Bewegungsnetzwerken betreffen, können somit in die Frames des Geschehens und seiner Räume eingehen. Das bedeutet wiederum, dass die linken Bedeutungen dieser Räume von Akteuren in ihrer sinnaktualisierenden Praxis auf die anderen Elemente eines konkreten Geschehens, die sonst nicht als links gelten würden, übertragen werden können. Eine kollektive Identität ist, wie im ersten Kapitel nach Alberto Melucci (1989, 1996) definiert wurde, eine geteilte und interaktive Wir-Definition. Auf die linke Szene bezogen heißt das, dass die Prozesse kollektiver Identität interaktive und kommunikative Prozesse sind, in denen die Sinnstrukturen von den Szeneangehörigen ausgehandelt und reproduziert werden. Dementsprechend bedeutsam sind soziale Geschehen mit einer großen Interaktionsdichte. Räume sind demnach nicht nur in ihrem symbolischen Aspekt (d.h. als Teil kollektiver Identität) wichtig, sondern auch als Interaktionsräume, bezogen auf die Prozesse des Aushandelns selbst. Hier liegt dennoch kein Widerspruch vor, da ich davon ausgehe, dass linke Symbole und Deutungsrahmen die Räume und auf diese Weise das soziale Geschehen im Ganzen prägen können. Raum ist dabei nicht im Sinne eines Behälters zu interpretieren, sondern als ein Raum, der von interagierenden Akteuren unter Rückgriff auf bestehende, auch räumliche Strukturen erschaffen wird. Trotz der zunehmenden Bedeutung elektronischer Medien, vor allem anonymisierbaren und/oder verschlüsselbaren (verschlüsselte E-Mails oder instant messenger), spielt die unmittelbare Interaktion die wichtigste Rolle für die Kommunikation in der linken Szene. D.h., dass die Bedeutung der „realen“ Räume, also derjenigen, deren symbolische und interaktionale Elemente auch materiellphysische Aspekte haben, keineswegs im Verschwinden begriffen ist. Deswegen befasse ich mich vor allem mit solcherart realen Räumen im Alltag der Szeneangehörigen. Wie schon argumentiert, sind die Räume einer Szenekneipe für die alltäglichen Interaktionen innerhalb der Szene, in denen die Gemeinsamkeiten ausgehandelt werden, von großer Bedeutung. Im Folgenden werde ich am Beispiel einer Szenekneipe zeigen, wie der interaktiv anerkannte linke Charakter eines Elements des sozialen Geschehens an die anderen Elemente weitergegeben werden kann.
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Ein Abend in der Szenekneipe als soziales Geschehen Der Raum einer Linke-Szene-Kneipe ist von einem grundlegenden symbolischen Spannungsfeld zwischen der Bedeutung einer Kneipe und eines politisierten Treffpunkts geprägt, das im letzten Kapitel anhand der Diskussionen der Kollektivmitglieder über das Konzept der „Stube“ rekonstruiert wurde. Die Daten der teilnehmenden Beobachtung zeigten, dass dieses Spannungsfeld nicht nur für Diskussionen, sondern auch für die anderen alltäglichen Interaktionen charakteristisch ist. Um diese Bilanzierung einzufangen, eignet sich der Begriff des sozialen Geschehens aus den oben dargelegten Gründen gut. Ich halte mich mit meinen Darstellungen zunächst an den Fall der „Stube“ im untersuchten Zeitraum (2002 bis 2003), um sie immer wieder punktuell mit anderen Kneipen zu vergleichen. Die für die linke Szene relevanten Kneipen und Kulturprojekte sind sehr verschieden. Ich konnte in Bezug auf die Betriebsart verschiedene Idealtypen formulieren, und zwar durch die Überzeichnung bestimmter Qualitäten konkreter Kneipen: 1. Häuserkneipe Sie ist in einem ehemals besetzten Haus gelegen. Die Räumlichkeiten werden von den Hausbewohnerinnen einem eingetragenen Kulturverein zur Verfügung gestellt. Die Preise werden nach Möglichkeit niedrig gehalten. Der Anspruch, ein unkommerzieller Treffpunkt zu sein, wird erhoben. Es wird regelmäßig ein Kulturprogramm angeboten: Konzerte, Filmvorführungen, „Solipartys“ etc. In manchen Kneipen werden regelmäßig politische Informationsveranstaltungen durchgeführt. Die Höhe des wirtschaftlichen Ertrags hält sich (abgesehen von manchen Sonderanlässen wie gut besuchten Partys, die meist von externen Gruppen getragen werden) in bescheidenen Grenzen, eignet sich nicht zur Finanzierung des Lebensunterhalts und wird für gemeinnützige Zwecke (Prozesskosten, Spenden, politische Arbeit der betreibenden Gruppen u.Ä.) ausgegeben. Die Menschen hinter dem Tresen arbeiten unentgeltlich. Typischerweise ist nicht jeden Tag, jedoch regelmäßig offen. 2. Linke Kollektivwirtschaft Der Betrieb wird als Gaststätte mit entsprechenden Erlaubnissen und Zeugnissen geführt. Für die Räumlichkeiten wird Pacht entrichtet. Die Preise sind im Allgemeinen dem ortsüblichen Niveau angepasst, die Kollektivmitglieder finanzieren ihren Lebensunterhalt zumindest zum
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Teil aus dem Betrieb. Das Publikum ist gemischt, auch viele andere Leute von außerhalb der „Politszene“ kommen vorbei. Ein Kulturprogramm findet regelmäßig, jedoch nicht sehr häufig statt (Konzerte, Partys). Regelmäßig werden allerdings politische Informations- und Diskussionsveranstaltungen durchgeführt. 3. Szenetreffpunkt Für die Räumlichkeiten wird Pacht entrichtet. Der Betrieb wird als Gaststätte mit entsprechenden Erlaubnissen und Zeugnissen geführt. Es sind nicht kollektiv, sondern von ein bis zwei Wirtinnen mit angestelltem Personal betriebene Kneipen. Weder von den Räumlichkeiten noch vom Aussehen des überwiegenden Teils des Publikums sind sie stilistisch der linken Szene zuzurechnen, funktionieren jedoch als Treffpunkt für die Szeneangehörigen. Es gibt jedoch auch ein anderes Publikum, meist aus der lokalen „Kiezszene“ (die sich mit der linken Szene auf der persönlichen Ebene überschneiden kann). Es handelt sich dabei um Idealtypen, die in der Praxis nicht immer in Reinform zu finden sind. Es lassen sich beispielsweise auch Lokale in Friedrichshain finden, die zwar dem Stil nach der „Häuserszene“ zuzurechnen sind und irgendwann als eine Häuserkneipe angefangen haben, jedoch seit einigen Jahren mit den nötigen Erlaubnissen der entsprechenden Ämter und mit etwas höheren Preisen arbeiten, um beispielsweise die Renovierung des Hauses mit zu finanzieren. Die folgende Darstellung orientiert sich auf den ersten der genannten Typen, da meine Beobachtungsdaten hier am umfangreichsten sind und mit Daten aus anderen Quellen kombiniert werden können (wobei ich auch ein umfangreiches Interview mit einer Mitbetreiberin einer „linken Kollektivwirtschaft“ durchgeführt habe). Eine Wertung in dem Sinne, dass nur die Häuserkneipen „wirklich links“, authentisch o.Ä. seien, schließt das explizit nicht ein. Die Darstellung eines Kneipenabends kann unterschiedlich aufgebaut werden. Auf meine Bitte, einen Abend in der „Stube“ zu beschreiben, antwortete Peter, ein damaliges Kollektivmitglied, in einer E-Mail: …na zuerst einkaufen für die vokü … dann hoffen dass genug zum kochen kommen, dann essen verkaufen – zwischendurch bier trinken, hoffen dass nicht zu viele patienten kommen … musikwünsche erfüllen, bier trinken … dann später in der nacht die rausschmeisser spielen … letzte runde ausrufen … alle rausschmeissen,
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aufräumen, kasse machen, noch einen absacker trinken, zuschliessen und nach hause … am nervigsten warn immer die kicker freaks … die wollten ewig nicht gehen.
Als Alternative zu dieser plastischen und chronologisch aufgebauten Darstellung, die einen Abend aus der Perspektive eines Kollektivmitglieds vom Anfang bis zum Ende durchgeht, werde ich mich auf die im theoretischen Teil begründete analytische Kategorie des sozialen Geschehens orientieren. So fange ich mit der Beschreibung einzelner Elemente eines Abends in der Linke-Szene-Kneipe als soziales Geschehen an, um das Aushandeln seines linken oder szenigen Charakters (was nicht immer gleichzusetzen ist) nachzuvollziehen: zeitliche Abläufe, Menschen und ihr Verhalten, Räume. Später werde ich mit dem Plenum ein weiteres soziales Geschehen am selben Ort darstellen, für das eine andere räumliche Anordnung typisch ist. Auf diese Weise soll gezeigt werden, wie die Akteure unter Rückgriff auf die materiellen, institutionellen und symbolischen Strukturmomente verschiedene Räume am selben Ort produzieren und dabei eine Wir-Definition aushandeln. Zeitliche Abläufe Was die zeitlichen Abläufe betrifft, so waren sie für die am Abend arbeitenden Kollektivmitglieder und für die Gäste unterschiedlich.2 Die ersten zwei bis drei Menschen des Kollektivs betraten die „Stube“ um ca. 17 Uhr und waren zunächst mit dem Planen des Abends, dem Austauschen aktueller Informationen, „Tratschen“ u.Ä. befasst. Von einem Raum der Kneipe kann in dieser Phase, die insbesondere der Vokü-Vorbereitung diente, noch nicht gesprochen werden: Drei, vier, fünf Leute sitzen am Tresen oder an einem Tisch, typischerweise bilden sie auch einen (Gesprächs-)Kreis, der am Durchgang lokalisiert ist, so dass ein bis zwei Leute am Tresen mit dem Gesicht zu den anderen sitzen, die wiederum im Durchgang stehen oder an weiter an der Wand stehenden Tischen Platz genommen haben. Gelegentlich läuft die eine oder andere Person durch den Raum, holt sich ein Getränk hinter dem Tresen, schaut in die Küche rein, sieht sich die ausliegenden Flyer an und sortiert die nicht mehr aktuellen aus etc. Dieser Raum ist
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Es handelt sich bei dieser und den folgenden Unterscheidungen um situative Rollen, da auch die Kollektivmitglieder häufig als Gäste vorbeikamen.
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von der Bildung einer oder mehrerer kleiner Gesprächsgruppen geprägt, die durch die fortgesetzten Gespräche auch dann bestehen bleiben, wenn sich eine Person aus der unmittelbaren Nähe der anderen entfernt. Somit unterscheidet sich dieser flexible und ausdehnbare kommunikative Kleingruppenraum deutlich von entsprechenden Anordnungen später am Abend am selben Ort, wenn die Reichweite der unangestrengten Kommunikation sich stark, bis auf einen Meter und weniger, verringert. Dabei ist festzuhalten, dass die Entfernung zwischen Individuen alleine kein Kriterium dafür ist, ob response presence (Goffman 1997: 243) unter ihnen zustande kommt. Ab ca. 20 Uhr3 kommen die ersten Leute, die nicht zum Kollektiv gehören. Erst deren Eintreten durch die Außentür, also das Betreten des Ortes „Stube“, und die typischen Einkaufsinteraktionen mit jemandem auf der anderen Seite des Tresens lassen an diesem Ort eine Kneipe entstehen. Der Zugang zu diesem Ort wird allerdings erst durch die Kollektivmitglieder ermöglicht, indem eines von ihnen die Tür aufschließt. Das Aufschließen ist hier als ein Akt der Macht zu betrachten: Die Besitzerin des Schlüssels ermöglicht den anderen Leuten, die keinen Schlüssel haben, die Überschreitung der Außen-Innen-Grenze und die Beteiligung an einem Raum. In der „besetzten“ Zeit (nach der Wiederbesetzung im Winter 2002 und bis zur Räumung im Frühjahr 2003) war die symbolische Kontrolle der Türschwelle noch stärker ausgeprägt, denn die Tür wurde verschlossen gehalten, und Menschen, die eingelassen werden wollten, mussten klingeln. Sie wurden dann von zwei „Wächtern“ hineingelassen. So wurde die Ungleichheit in der Raumkontrolle immer wieder reproduziert. Dies beinhaltete einen weiteren Aspekt: Nicht alle Kollektivmitglieder hatten einen Schlüssel, aber alle mussten einen Wachdienst übernehmen; dafür bekamen sie unter Umständen einen Schlüssel geliehen.4 Die Kontrolle der Eingangstür bedeutet weniger, den Zugang zum schon fertigen Raum zu kontrollieren, als vielmehr die Fähigkeit, den Raum auch mittelbar, durch die Zulassung anderer Akteure, zu gestalten und somit Macht auszuüben (vgl. Sack 1986). Mit dem Abschließen der Tür hinter den letzten Gästen endet der Kneipenabend, wobei die Kollektivmitglieder und möglicherweise ihre Partner
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Das bezieht sich auf die nach vorne verschobenen Öffnungszeiten nach der
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Ich hatte nach der Wiedereröffnung der Kneipe einen Schlüssel bekommen.
Neugründung.
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oder Mitbewohnerinnen im Raum bleiben. Das geschah gewöhnlich gegen 4 Uhr nachts. Die zeitliche Komponente eines Abends in der Szenekneipe kann auch relational in größere raum-zeitliche Zusammenhänge gesetzt werden. Solch späte Öffnungszeiten (und das Abendessen um 21.30 bis 22 Uhr) setzen bestimmte raum-zeitliche Tagesabläufe der Besucherinnen und der „Kneipenmacherinnen“ voraus und dienen der mittelbaren Homogenisierung des Publikums. Deswegen wurden sie zum Gegenstand der Diskussion um das neue Konzept, wie ich bereits im Abschnitt „Eine linke Kneipe wird gemacht“ analysiert habe. Heutzutage hat ein solcher nach hinten gestellter Tagesablauf im Zuge der Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Verbreitung der subkulturellen Lebensstile m.E. allerdings – entgegen einem in der Szene verbreiteten Bild – kein antibürgerliches Potenzial mehr. Menschen Ein weiteres Element eines Abends in der Szenekneipe sind die Menschen, die sich an dem Ort befinden, also die Kollektivmitglieder und die Gäste. Es sind meist junge Leute, von 17 oder 18 Jahren bis Ende Zwanzig; die absolute Mehrheit ist Anfang bis Mitte Zwanzig. Die wenigen über 30-jährigen sind entweder Menschen, die schon vom langjährigen Trinken gezeichnet sind und mit Vorliebe am Tresen sitzen (typischerweise zwei bis vier Leute), oder langjährige Bekannte des „Tresens“ bzw. der „Kneipe“. Somit herrscht in Bezug auf das Alter fast Homogenität. Die Hautfarbe fast aller Anwesenden ist weiß und mitteleuropäisch-blass, so dass sich auch in dieser Hinsicht kein heterogener Anblick bietet. Was die Bekleidung betrifft, so gibt es zwar durchaus stilistische Differenzen, dennoch bewegen sie sich in einem bestimmten Rahmen, so dass ein einheitlicher Eindruck entsteht. Die Menschen haben dunkle oder schwarze Kapuzenpullover an bzw. Sportjacken ohne Kapuze; Hosen variieren von Schlaghosen über Jeans bis Arbeitshosen von zwischenzeitlich in der Szene angesagten Marken wie „Carhartt“ oder Noname-Produzenten. Basecaps und Nietengürtel sind sehr beliebt. Die Sachen sind oft mehr oder weniger abgetragen. Viele tragen Aufnäher oder Buttons auf der Kleidung, sowohl mit Bandnamen als auch mit politischen Parolen. Die Haarschnitte variieren: Rockabilly-Stil (Frauen), Dreadlocks (Frauen/Männer), Fast-Glatzen (Frauen/Männer), aber auch „normal“ aussehende kurze oder längere Haarschnitte. Einige
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sehen wie Punker aus (Haarschnitte, abgetragene Kleidung, Nieten, Bandnamen-T-Shirts etc.). Andere (in der „Stube“ weniger vertretene) wiederum pflegen einen Checker- bzw. Checkerin-Stil mit sportlicher und nicht-abgetragener Kleidung und kleinen Gürteltaschen (die Bewegungsfreiheit während einer Aktion garantieren sollen), was einen körperlichen und geistigen Tonus der Tragenden suggeriert. Dem entspricht die Differenz im Gesamtzusammenhang von Bewegungs- und Haltungsmodi, welcher nach Bourdieu als „körperliche Hexis, eine Grunddimension des sozialen Orientierungssinns“, bezeichnet werden kann (Bourdieu 1999: 739).5 Das prototypische Haltungsschema eines (Antifa-)Checkers (selbstsicher-ausgreifendes, ruhiges, cooles, also Selbstkontrolle signalisierendes Auftreten) greift deutlich auf bestimmte, Dominanz signalisierende Männlichkeitsvorlagen zurück, u.a. in Bezug darauf, „in welchem Ausmaß man sich berechtigt fühlt, Raum und Zeit des anderen zu okkupieren“ (ebd.). Dieses Haltungsschema, mitunter als „Mackergehabe“ kritisiert (vgl. Haunss 2004: 164), wird zwar auch von Frauen gepflegt, reproduziert aber dennoch tendenziell hierarchische Geschlechterverhältnisse innerhalb der Szene. Insgesamt lässt sich eine ausgeprägte Homogenität der Anwesenden feststellen, die den diskursiv formulierten Identitätsansprüchen der Bekämpfung von homogenisierenden, herrschaftsgestützten Normen (Antirassismus, Antisexismus, Anti-Heterosexismus etc.) kaum gerecht wird. Dies trifft nicht nur für die „Häuserkneipe“, sondern auch für die stilistischen Gemeinsamkeiten der Szene insgesamt zu. Da die Identitätsprozesse in der Szene im Alltag verlaufen und gerade Kleidung und Aussehen wichtige alltägliche Stilisierungsmittel sind, ist der genannte Widerspruch bedeutsam. Auf die Problematisierung der stilistischen Homogenität bin ich in mehreren Interviews gestoßen, interessanterweise allesamt durch Frauen. So gab Simone auf meine Nachfrage eine ausführliche Expertenaussage zu Formen der Szenezugehörigkeit mit einer Theorie zu Szenestilen, aus der ich hier zwei aussagekräftige Zitate einbringe.
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„Die körperliche Hexis […] ist eine ständige unauslöschliche Gedächtnisstütze, in der sich auf sichtbare und fühlbare Weise all die möglichen Gedanken und Handlungen, all die praktischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eingeschrieben finden, die einen Habitus definieren.“ (Bourdieu 1997b: 187)
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Die Szene ist [uniformiert, kann man so sagen ☺] Obwohl sich das in der letzten Zeit, also in den 90ern und jetzt_ äh (.) sag ich mal, ein bisschen_ sehr viel weniger geworden ist, also das sich gerad_ dass in dieser Szene eher (.) ein schickerer Stil angesagt ist, was auch eher allgemein_ verträglich ist, so(?) (Oder das) gehört auf jeden Fall zum modischen Stil darin. Ja, Kapuzenpullies sind ganz klassisch. Die kann man auch in jeder_ Abstufung, vom Punk bis Hippies, alle kennen Kapuzenpullies, kann man ganz neu, schick, für 300 Mark, oder kannst du den letzten Lappen, irgendwie, vom Flohmarkt oder sonst wo ☺ oder von irgendeiner Klamottenkiste, von jemandem geschenkt kriegen. Ich hab sie auch in allen Abstufungen! [☺ lacht]
Dagegen stellt Nina im Interview in Bezug auf die Stilnormen der „Häuserszene“ die eigenen Erfahrungen in den Mittelpunkt: Nina:
Also, ich finde es_ in der X habe ich total das Gefühl irgendwie, wenn ich da mal mit falschen Klamotten auftauche, bin ich da sowieso schon mal out of order, also dass es da so’nen_ so’nen sehr strengen Kodex gibt von ähm (.) na ja, so sehr zeckig, abgerissen irgendwie rumzulaufen, so ist mein Eindruck. Ähm (.) und da hatte ich kein Bock drauf, dadrüber definiert zu werden.
Tanja:
uchm
Nina:
In dem Moment, wo ich da mit einem Kleid ankomme, ist sowieso schon alles vorbei. So das ist irgendwie mein_ mein Gefühl. Und das finde ich in Kreuzberg nicht so.
Die Anforderungen an diejenigen, die dazu gehören wollen, sind für Nina in der Friedrichshainer Szene (speziell im Hausprojekt „X“, in dem ihr Freund wohnt) zu streng und zu sehr auf ein „zeckiges“ Aussehen fixiert (mit anderen Worten: Der Prototyp eines Szenemitglieds ist eine subkulturelle, stilistisch distinktive „Zecke“). Diese negative Bewertung der Geschlossenheit anhand alltäglicher Selbststilisierungen begründet Nina mit ihrer eigenen Erfahrung des Ausschlusses und setzt ihr die Offenheit in Kreuzberg entgegen (dadurch kann für sie auch die prinzipielle Offenheit der Treffpunkte von Friedrichshain nicht realisiert werden). Die mit der Homogenität verbundene Offenheit/Geschlossenheit-Problematik interessiert mich an dieser Stelle im Hinblick auf die Räume einer Linke-Szene-Kneipe. Dass sie für die Konstitution der Szeneräume relevant
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ist, zeigt auch ein Beispiel aus den Diskussionen des angehenden Kollektivs um das Konzept für die neue „Stube“. Bei der Diskussion um die Kontrolle des Verhaltens der Gäste durch die Kollektivmitglieder bei sexistischen und anderen Anmachen wurde konstatiert: Karl: „Wir wollen, dass Leute sich bei uns sicher fühlen!“ (ein paar Leute, die abwechselnd reden): Ich will keine Paranoja-Atmosphäre, wo alle einander überwachen und verdächtigen, wo die Leute auch wegen ihres nichtszenigen Aussehens als verdächtig erscheinen, und wo du halt reinkommst und alle Gespräche plötzlich verstummen. Nach einem kurzen Hin-und-Her einigen sich die Teilnehmer, dass das letzte keine Besonderheit der „Stube“ ist, sondern für Szeneläden typisch.
Hier wird die typische Homogenität des Publikums eines „Szeneladens“6 in Bezug auf das Aussehen diagnostiziert und negativ bewertet. Was bedeutet diese zum geteilten Szenewissen gehörende und von mir beobachtete Homogenität der Anwesenden an einem Abend in einer Linke-Szene-Kneipe? Ich sehe darin in erster Linie ein Element der öffentlichen Ordnung, die als Teil des sozialen Geschehens Abend in der Linke-Szene-Kneipe in der Praxis eine eigene normative Wirkung entwickelt, ungeachtet der Widersprüche zu manchen anderen, diskursiven Elementen des Wir-Bewusstseins. Menschen, die aufgrund ihres Alters oder anderer Elemente ihres Aussehens nicht ins Bild passen, bedrohen die Situationsdefinition der anderen Gäste und somit die Situation selbst. Ich nehme an, dass die Angst vor „Spitzeln“, speziell bezogen auf den Aufenthalt „komischer“ Leute in Szenekneipen, keine Ursache der Intoleranz ist, sondern ihre diskursive Rahmung, eine Rationalisierung. Der situative Charakter der Rollenanforderungen macht es zugleich potenziell leicht, sie zu unterlaufen: Für echte „Spitzel“ dürfte es kein Problem sein, passende Pullover und Hosen aufzutreiben. Schwerer anzupassen wäre das höhere Alter von manchen Zivilbeamten. Einige Szeneangehörige nehmen für sich zwar die Fähigkeit in Anspruch, „Zivis“ auf der Straße am (ehemals) sportlichen Körperbau in
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Der umgangssprachliche Begriff „Szeneladen“ bzw. „Laden“ ist über die Grenzen der linken Szene hinaus bekannt und meint in diesem Kontext – analog zu „Szenekneipe“ – ein für ein bestimmtes Publikum gedachtes Lokal. Im Folgenden verwende ich den Begriff ohne Anführungszeichen.
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Verbindung mit einer überdurchschnittlich hohen Körpergröße und einem ordentlichen und zugleich sicher-maskulinen Auftreten erkennen zu können. Es lässt sich allerdings nur selten überprüfen, ob „verdächtig aussehende“ Personen tatsächlich Beamte sind. Auch eine gewisse Überschneidung mit dem oben dargestellten prototypischen Checker-Haltungsschema ist nicht zu leugnen. Es gibt allerdings einen weiteren, schwerer zu modifizierenden Faktor der erkennbaren Zugehörigkeit. Ein reales Hindernis für diejenigen, die von der faktisch normativen Selbstdarstellung eines normalen Besuchers bzw. einer normalen Besucherin abweichen, dürfte der Umstand sein, dass viele Besucherinnen eines Szenetreffpunkts sich zumindest vom Sehen kennen. Das geht auch auf ihre Interaktionen außerhalb dieser Kneipe, so wie bei Demonstrationen, Konzerten, Veranstaltungen oder Treffen, zurück. Ein Linke-Szene-Lokal ist nicht der einzige Ort der Interaktionen seiner Besucher. Die geteilten Handlungs- und Denkweisen beschränken sich nicht auf das Verhalten am Abend selbst und werden auch auf anderen Wegen und in anderen Situationen ausgehandelt. Bestimmte Themen werden sogar normativ (aber nicht tatsächlich) von Kneipengesprächen ausgeschlossen, z.B. geplante illegale Aktionen. Dagegen stellen Leute Vermutungen zum Ablauf geplanter Demonstrationen auf, erzählen anekdotenhafte Geschichten aus ihrer Erfahrung, diskutieren die Gestaltung von Transparenten, tauschen Klatsch über gemeinsame Bekannte oder Informationen aus u.Ä. Mit der institutionalisierten Bedeutung einer Kneipe als halb-öffentlicher Treffpunkt mit entsprechenden Kommunikationsangeboten befasse ich mich im nächsten Unterkapitel. An dieser Stelle ist noch zu sagen, dass die Gespräche sich oft um konkrete Anlässe und Erfahrungen drehen. Abstrakte politische Diskussionen finden selten statt. Es wird auch sehr viel über Themen gesprochen, die gar nichts mit der Szene oder mit Politik zu tun haben, wie Konzerte, die Warteschlange am Kickertisch, Biermarken, die Qualität der Vokü, Urlaubspläne – bis hin zum Wetter. Jedoch können auch solche allgemeinen Themen in kommunikativen Identitätsprozessen genutzt werden, wenn z.B. schlechtes Wetter ironisch als „Naziwetter“ bezeichnet wird. Insgesamt betrachtet unterscheidet sich das Verhalten der Mitglieder der linken Szene- in einer Häuserkneipe nicht so sehr von dem in anderen Arten von (Szene-)Kneipen. Gäste unterhalten sich, trinken Bier, lachen, spielen Tischkicker, hören Musik, schauen sich Flyer an, grüßen Bekannte. Die Leute hinter dem Tre-
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sen unterhalten sich, verkaufen Getränke und Vokü, legen Musik auf, trinken Bier etc. Raumelemente Als nächstes Element eines Abends in der Szenekneipe werde ich seine institutionalisierte räumliche Anordnungen betrachten. Aufgrund der Auswertung der Daten der teilnehmenden Beobachtung nehme ich an, dass es gerade die Räume sind, die diesem Geschehen eine linke Konnotation verleihen. Dazu ist noch eine Erklärung nötig: Ich habe schon in der Einleitung darauf hingewiesen, dass es bei der Beurteilung des linken Charakters bestimmter Abläufe darauf ankommt, was die Akteure im Prozesse der Identität als links definieren. Links bzw. linksradikal sind die zentralen Wir-Identifikationen, sie bilden den Relevanzpunkt des Handelns der individuellen Akteure und der interaktiven Herstellung und Aufrechterhaltung des „Wir“. Die Frage, was an einer Kneipe spezifisch „links“ sei, wurde mir schon oft gestellt. Sie stellte sich schon Klaus Laermann in einer interessanten Abhandlung zu „einigen Verkehrsformen der Berliner ‚linken‘ Subkultur“ Anfang der 1970er Jahre (Laermann 1974). Seine Antwort bezieht sich auf den teilweise emanzipatorischen Charakter der Kommunikation in den Kneipen politisierter Subkultur: Nach dem Niedergang der Studentenbewegung habe in ihnen ein Rest der Erfahrung, mit Anderen frei reden zu können, ohne Sanktionen befürchten oder verhängen zu müssen, überlebt (ebd.: 180). Während Laermann das Kriterium des „linken“ Charakters von außen heranträgt (es ist links, weil es emanzipatorisch ist), möchte ich einen etwas anderen Weg einschlagen und die Zuschreibung des linken Charakters durch die Akteure betrachten. Im zweiten Kapitel wurde das gesellschaftszentrierte Raumkonzept nach Löw (2001), Läpple (1991b), Atteslander/Hamm (1974) und anderen dargestellt: Räume sind als relationale Anordnungen von Lebewesen und Gütern zu verstehen, bei denen symbolische, materiell-physische und praktische Aspekte ausdifferenziert werden können. Sowohl die Eigenschaften von Elementen als auch die ihrer Relationen sollten in der Untersuchung in Betracht gezogen werden (Löw 2001). Angelehnt an dieses Konzept werde ich zunächst die symbolischen und materiell-physischen Aspekte einzelner Raumelemente in der „Stube“ betrachten. An den Wänden, am Tresen, schon an der Außenseite der Eingangstür und um sie herum hängen Plakate
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für aktuelle Ereignisse wie beispielsweise Veranstaltungen, die im Lokal selbst stattfinden, „Solipartys“, Demonstrationen etc. Während die Plakate für an anderen Orten stattfindende Veranstaltungen irgendwann abgenommen bzw. (draußen) einfach überklebt werden, bleiben die Plakate für die die „Stube“ unmittelbar betreffenden Ereignisse wenigstens in einem Exemplar hängen, beispielsweise das Plakat zur Wiederbesetzung. Sie dokumentieren so nicht nur die Geschichte, sondern dienen dadurch der symbolischen Aufwertung des Ladens als kultureller und politischer Ort. Neben den Plakaten sind andere „Dekoelemente“ zu sehen: alte eiserne Kerzenständer oder Flaschen mit vielen Kerzenresten, ein großes Schild „SAU SERVICE“7, im Regal hinter dem Tresen drei bis vier beliebige Bücher, ein paar Plakate, bunte Becher und einige Getränke (nach der Neugründung des Kollektivs wurde die Anzahl der Flaschen im Regal drastisch reduziert, so dass die neue „un-alkoholische“ Ausrichtung direkt sichtbar wurde), auf dem Tresen eine nach einem Vogel mit Gasmaske aussehende Skulptur. Einige, meist mit einem Filzstift angebrachte Graffiti8 sind nicht nur an den Toilettenwänden zu sehen, sondern auch an den Wänden des unrenovierten Hinterraums (beispielsweise „Don’t Fight the Players!!! Fight the game!!!“, „Asozial“ im Writer-Stil). Graffiti haben auch noch in einer besetzten Kneipe ihren ungefragten Charakter und bieten somit die Möglichkeit zu einer langfristigen Raumgestaltung, die sonst nur dem Kollektiv
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Das Schild war ursprünglich ein französisches Verkehrsschild „Sauf Service“ („Ausgenommen Dienstfahrzeuge“, ein Zusatz zum „Durchfahrt Verboten“Schild) und wurde von jemandem aus einem Frankreichsurlaub mit- und hinter den Tresen gebracht. Ein Mitglied der Kollektiv-Kerngruppe war mit dem so festgeschriebenen Programm nicht einverstanden und entfernte eigenmächtig den Buchstaben „F“. Hier zeigt sich die alltägliche Auseinandersetzung mit der ungewollten Bedeutung eines Dienstleistungsbetriebs bzw. einer Saufkneipe, die schon im letzten Kapitel thematisiert wurde.
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Vgl. die Definition von Norbert Siegl: „Graffiti (Einzahl Graffito) ist ein Oberbegriff für viele thematisch und gestalterisch unterschiedliche Erscheinungsformen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass es sich um visuell wahrnehmbare Elemente handelt, welche ‚ungefragt‘ und meist anonym, von Einzelpersonen oder Gruppen auf fremden oder in öffentlicher Verwaltung befindlichen Oberflächen angebracht werden.“ (http://www.graffitieuropa.org/definition.htm, Stand: 20.10.2008).
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oder seinen angesehenen Mitgliedern vorbehalten ist. Der nachträgliche Charakter der visuellen Gestaltung gibt den Akteuren eine Chance, die auch später an diesem Ort produzierten Räume zu beeinflussen und unabhängig von der eigenen Anwesenheit mitzugestalten. Diese Fähigkeit der nachträglichen Raumgestaltung ist als produktive Macht zu charakterisieren. Das erklärt, warum das Streichen der Wände bei der Renovierung der „Stube“ im März 2003 zu einem hitzigen und längeren Streit unter den anwesenden Kollektivmitgliedern führte. Eine Konsenslösung im großen Kreis konnte nicht gefunden werden. Die Diskussion wurde abgebrochen, und zum Schluss machten zwei Menschen einen Entwurf, der dann von allen umgesetzt wurde. Die Wände des größten Raums der „Stube“ wurden letztendlich mit Flammen in Orange-Rot-Gelb und Gelb-Grün-Dunkelblau gestrichen. Laut dem Interview mit Nina verlief die Gestaltung der Räume in ihrer Kollektivkneipe ähnlich schwierig („Und das war auch das Schwierigste, also die Gestaltung war_ war schrecklich“, mit „ewig“, wochenlang Diskutieren ohne ein Ergebnis finden zu können: „Und dann haben sich drei Leute hingesetzt, und sich ein Konzept überlegt, und das ist dann so gemacht worden“). Zum Mobiliar gehören alte Sofas, alte Tische, ein paar Sessel, nicht zueinander passende Stühle. Auf den Tischen stehen alte Keramikaschenbecher bzw. aus kommerziellen Kneipen geklaute Markenaschenbecher. Diese vermeintliche „Stillosigkeit“ vermittelt einen einheitlichen stilistischen Eindruck: nichts Neues, keine zueinander passenden oder gleichen Möbelstücke oder Dekorationselemente, nichts, was jemand als „schön“ bezeichnen würde (auch die Skulptur auf der Theke wurde mitunter als „das hässliche Ding“ bezeichnet). Ihrer ästhetischen Funktion enthoben und auf die Funktion beispielsweise als Sitzgelegenheiten reduziert, ergeben die Ausstattungselemente in ihrer Gesamtheit eine eigene Ästhetik des Verzichts auf den Stilisierungszwang. Das ergibt einen deutlichen Unterschied zu den von Anneli Starzinger (2000) beschriebenen Szenekneipen jenseits der linken Szene, deren Charakter von Erlebnisinstitutionen u.a. durch eine überaus sorgfältige Gestaltung und ästhetisierte Raumerfahrung ermöglicht wird.
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Gepflegte Schmuddeligkeit Insgesamt möchte ich diese Häuserkneipe-Ästhetik als gepflegten Schmuddellook bezeichnen, der eine wichtige Rolle in den Identitätsprozessen spielt. Zu diesem gehört auch eine Portion Dreck: Der Fußboden ist möglicherweise ein kaputter Zementboden, auf den ohne Weiteres Zigaretten geworfen werden, die Wände sind zum Teil schmutzig, zum Teil mit Graffiti beschriftet; die Möbel sehen auch nicht sauber aus. Der Schmuddellook ist dennoch nicht nur im Sinne seiner stilistischen Einheit „gepflegt“; in der „Stube“ wurde nach jedem Abend aufgeräumt und geputzt, auch der Boden wurde gewischt. Trotzdem hätte sie auch nach der Renovierung nicht den Richtlinien des Gesundheitsamtes genügt. Hier spielen die rechtlichen Normen mit den geschmacklichen zusammen: Nur weil es sich nicht um eine offiziell zugelassene Kneipe handelt, können auch die sanitären Anforderungen umgegangen werden. Die relative Dreckigkeit als ein Markenzeichen einer „Häuserkneipe“ muss in erster Linie relational bzw. antagonistisch, als eine praktische Ablehnung des bürgerlichen Geschmacks interpretiert werden. Die subversive Bedeutung der Schmuddeligkeit kommt dadurch zustande, dass die geschmacklich relevanten sanitären Normen die rechtlichen Normen darstellen. Die eigenen, szenespezifischen räumlichen Strukturen widersprechen in diesem Punkt den rechtlichen. Der Dreck bildet auch diskursiv einen positiven Bezugspunkt der kollektiven Identität in denjenigen Teilen der linken Szene bzw. in ihren Diskursfeldern, die mit „Freiräumen“ und der Stadtumstrukturierung zu tun haben. Die Bezeichnung der Angehörigen der linken Szene und ihr nahestehender Subkulturen wie Punker als „Zecken“ stammt laut mündlicher Überlieferung in der Szene von Neonazis.9 In diesem soziokulturellen Kontext verweist sie auf das Bild des „Parasiten auf dem Volkskörper“ und auf „Ungeziefer“, dient also in der NS-Tradition der diskursiven Dehumanisierung und Abwertung der Feinde. „Zecke“ wurde allerdings als eine Selbstbezeichnung übernommen, u.a. in Bezug auf das mit einem hohen Distinktionspotenzial verbundene subkulturelle Aussehen (vgl. das oben angeführte Zitat aus dem Interview mit Nina). Als Selbstbezeichnung verliert sie die Konnotation der Entmenschlichung, verweist jedoch positiv – neben
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Sie ist auch in Rechtsrock-Texten zu finden, so bei „Leitwolf“: „Hey, Du Scheißzecke – Verrecke!“ („Verrecke“, 1998).
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dem Bild der Zecke als „kleiner, aber gemeiner“ Gegner – zum Dreck im Sinne der relationalen Ablehnung des an Sauberkeit und Ordnung orientierten Geschmacks. Ein Motto der Kampagne für den Erhalt des Wohn- und Kulturzentrums „Køpi“, welches 2007 auch auf „Soli-T-Shirts“ gedruckt wurde, heißt „Berlin bleibt dreckig!“. Auch in einigen Interviews kommt Schmuddeligkeit/ Dreckigkeit als ein Anhaltspunkt vor, so im Interview mit Ernie vom Kollektiv der „Stube“. Er stellt Verdreckung als positive Größe und als Mittel zur Aneignung der Straße bzw. der Konstruktion des eigenen Raums eines „Kiezes“ dar: Es passiert zwar immer noch was, es ist zwar alles dreckig, und_ Aber es ist lange nicht so krass wie vor fünf Jahren, oder 99 noch, wo die Leute noch ihren Müll einfach ganz klar als Provokation und auch ganz klar, als hier *Hey, es ist unser Kiez, wir stellen den Müll raus!* auf die Straße gestellt haben und gesagt haben, Ja, die Stadt muss sich schon drum kümmern, weißt du (?)
Ich war selbst Zeugin von nur zum Teil ironischen Diskussionen, bei denen es darum ging, Hunde extra auf den Gehsteig in der Umgebung ehemals besetzter Häuser in Friedrichshain koten zu lassen, um die Straße dreckig zu erhalten und „Yuppies“ dadurch abzuschrecken. Hier soll der Ekel vor dem Dreck bewusst als eine Kampfstrategie im Rahmen des Antagonismus Wir versus Yuppies eingesetzt werden. Dreck wird jedoch nicht durchgehend positiv besetzt. Simone greift beispielsweise an vielen Stellen im Interview bei der Beschreibung von Orten und Bezirken auf Urteilsstrukturen zurück, die in der Szene eher als bürgerlich betrachtet werden: Ekel vor Dreck und Krankheiten, Ablehnung des starken Trinkens, ungutes Gefühl wegen Junkies. Entsprechende Aussagen werden von ihr allerdings relativierend gerahmt, u.a. als etwas Peinliches bzw. Diskreditierendes, das nur zögernd zugegeben wird: „Aber teilweise ist es mir auch_ ähm_ ja, manchmal ist es mir zu siffig, so“, sagt Simone zu ihrem Verhältnis zur „Køpi“. Es wird nach mehrfachem Unterbrechen und Neu Ansetzen und im Anschluss an eine andere, sehr szenekonforme Erklärung („Weil ich es_ nicht mag_ wenn Hunde lauten Konzerten ausgesetzt sind“) gesprochen, also als ein Geständnis gerahmt. Durch diese Gestaltung zeigt Simone wiederum ihre „eigentliche“ Anerkennung der normativen positiven Bedeutung der Dreckigkeit.
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Im Interview mit Petra, einer Kreuzberger Altautonomen, heißt es wiederum konkret auf eine Kneipe – auf das in Szenekreisen berühmte „EX“ im Mehringhof im Westen von Kreuzberg – bezogen: Tanja:
Ja und wie kann man eigentlich sehen dass_ also nochmal zum EX zurück, dass da irgendwelche fremde Leute sind, na_ nach Outfit oder?..
Petra:
(P) Ämm Verhalten. Kleidung. Ja, klar.
Tanja:
Uchm. Wie meinst du das mit Verhalten?
Petra:
Ähm (.) steifer(?) ☺ Zum Beispiel. Also_ manchmal gibt es so Besucher, die eigentlich ins Theater wollen, ins Mehringhoftheater.
Tanja:
//Uchm
Petra:
//Und ver_irren sich dann im EX, und das merkst du sofort.
Tanja:
☺
Petra:
Es ist dann halt_ schon auch – es ist jetzt nicht unsauber, aber es natürlich
Tanja:
[☺ kichert leise]
ein bisschen schmuddeliger als woanders, zum Beispiel. Petra:
Die Tische werden nicht ständig abgeräumt und sauber gemacht, die Aschenbecher quellen über, du hast keine äh (bevorzugte) Bedienung und so, na (?)
Tanja: Petra:
Uchm Ja. Ja. [hustet] (.) Einige sitzen auch da mit irgendwelchen Bierbüchsen in der Hand, und_ Ja.
Interessant ist an dieser Passage nicht nur die Feststellung der „Schmuddeligkeit“ als solche, sondern dass sie von Petra als eine objektive Qualität des „EX“ dargestellt wird, auf die von manchen eher zufälligen Besuchern mit einer Verhaltensänderung reagiert wird. Hier wird ein Auswahlmechanismus reflektiert, wer sich in der Umwelt einer Linke-Szene-Kneipe wohl fühlt und wer nicht. Die Schmuddeligkeit als Qualität der Räume stellt m.E. einen kulturellen Distinktionsmechanismus dar, dessen Rolle umso größer sein dürfte, da ökonomische Mechanismen wie beispielsweise hohe Preise hier nicht funktionieren bzw. bewusst abgelehnt werden (vgl. Bourdieu 1999). Die Unangemessenheit der Teilnehmerinnen an einem Abend in einem Linke-Szene-Laden wird von ihnen selbst durch das „steife“, eine Distanzierung aufbauende Verhalten entlarvt. Die demonstrative Souveränität des Verhaltens stellt eine mögliche Lösung dar, ist für die „Fremden“ aber nur an den Abenden zu erreichen, wo sie die Mehrheit stellen können
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(was im „EX“ laut dem Interview mit Petra an einigen Tagen möglich war, aber in klassischen Häuserkneipen nie vorkommt). Die dargestellte kulturelle Distinktion durch gepflegte Schmuddeligkeit richtet sich vor allem an „Yuppies“, denen in Freiraum-Diskursen eine Antagonisten-Position zugeteilt wird. So hieß es auf den im Frühjahr 2002 gedruckten „Stube“-Aufklebern: „YUPPIES – GET THE FUCK OUT OF OUR 10 NEIGHBOORHOOD!“ (Außerdem wurden folgende Slogans abgedruckt: „Stube Verteidigen!!!“, „PROJEKT XXX BLEIBT“ und „FÜR EINEN ALLTAG OHNE DEUTSCHLAND“.) Auch im Rahmen der Berliner Freiraum-Aktionstage im Frühjahr 2008 fand ein Konzert und eine Streetparade unter dem Motto „Fuck Yuppies“ statt. In informellen Gesprächen unter Szeneleuten werden „Yuppies“ negativ als rücksichtslose Protagonistinnen der innerstädtischen Aufwertung und der Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung und alternativer Freiräume dargestellt. Das Verhältnis zu dieser Kategorie ist dennoch ambivalent. Der „Yuppies sind unsere Feinde“Denkmuster kann als eine vereinfachende Personalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse politisch kritisiert werden. Ein Beispiel aus dem Interview mit Nina:11 Ich find auch, Pass auf Yuppie, macht sozusagen so’n_ so’n Gegenüber aus, also die Yuppies, das sind unsere Feinde, und (.) die leben nicht so, wie wir es für richtig halten, und haben ’nen teuren Lebensstil. Und für mich ist eher die Frage_ ob man die Yuppies bekämpft, und deren Lebensstil, oder ob man dafür kämpft, dass alle sich so ’nen Lebensstil leisten können. Das ist so ein_ so ein Dissens.
Die Yuppie-Figur wird auch zur kritischen Reflexion des eigenen Lebensstils durch manche Szeneangehörige verwendet. So reflektiert Simone im
10 Hier und weiter wird beim Zitieren die Schreibweise des Originals übernommen. 11 An dieser Stelle des Interviews geht es um die Parole „Pass auf Yuppie, hier brennt die Luft“. Dieses Grafitto wurde vom Hausprojekt „Yorck 59“ im Zuge eines 2003 bis 2005 dauernden und in einer Räumung gipfelnden Konflikts mit einem neuen Verwalter/Hauseigentümer nach dem Entfernen von Plakaten im Hofeingang entdeckt. Sie stammte vom vorherigen „Häuserkampf“ Mitte der 1990er Jahre und wurde als Motto wieder aufgegriffen, z.B. auf T-Shirts gedruckt.
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Interview, bei der Wiedergabe des „Überfremdung des Kiezes“-Diskurses, ihre mögliche Selbstkategorisierung: Also ich muss es jetzt mal benutzen, das Wort Yuppies, so. Das_ So halt. Obwohl ich mich vielleicht auch teilweise als Yuppie bezeichnen würde, oder keine Ahnung +muss man erstmal füllen mit dem Inhalt, dieses Wort+ ☺ Aber_ ähm (P) mm (.) Ganz klar, sowas fällt auf, das ist hier nicht üblich. Obwohl es immer mehr herkommt.
Trotzdem ist das emotional aufgeladene Anti-Yuppiesierung-Framing durchaus populär. Ich schlage drei sich teilweise ergänzende Erklärungen dafür vor: Erstens kann dieses Verhalten von einem erhöhten Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den jungen, relativ gut gebildeten Vertreterinnen der Kreativ- und Dienstleistungsberufe herrühren. Auch für sie sind nämlich eine Orientierung auf Flexibilität, Kreativität, Selbständigkeit und eine partielle Ablehnung des auf Ordnung und Sicherheit orientierten kleinbürgerlichen Lebensstils typisch (vgl. zu den Pionieren der Gentrifizierung und den Gentrifiern, zu denen die Linke-Szene-Angehörigen ebenso wie die „Yuppies“ als zwei Gruppen der „neuen“ Lebensstile gehören, Blasius 1993: 39ff.). Vermutlich können viele Vertreterinnen der linken Szene zusammen mit dem Großteil derjenigen, die von ihnen als „Yuppies“ kategorisiert werden, dem Selbstverwirklichungsmilieu nach Schulze (1992) oder dem Experimentalisten-Milieu nach Sinus Sociovision12 zugeordnet werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine feine kulturelle Distinktion an Bedeutung. Die Schmuddeligkeit kann zu einem Element der zu schützenden symbolischen Reinheit der Wir-Gruppe gegenüber der Sie-Gruppe werden (vgl. Douglas 1988). Die zweite mögliche Erklärung sehe ich darin, dass die „Yuppies“ ein konkretes, im Alltag der Szeneangehörigen präsentes und unmittelbar erfassbares Feindbild anbieten, genauso wie Polizisten bei Protestaktionen. Eine als Gentrifizierung bzw. Gentrification bekannte gesellschaftliche Entwicklung – die sogenannte Aufwertung der lokalen Sozialstruktur und der lokalen Räume in Innenstadtquartieren – kann dadurch nicht nur im Sinne des notwendigerweise abstrakten diagnostischen Framings erfasst werden. Diese alltägliche Anschaulichkeit bedeutet einen Identitätsvorteil, denn sie kann von vielen relativ leicht, also ohne Aneig-
12 http: //www.sinus-sociovision.de, Stand: 20.10.2008.
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nung detaillierter Argumentationsmuster, geteilt und reproduziert werden.13 Die dritte Erklärung der Penetranz des Yuppie-Feindbildes wäre, dass es auf die tatsächliche Konkurrenz mit „Yuppies“ um die Dominanz einzelner Orte und Straßenzüge ankommt. Der letzte Punkt gehört jedoch zu den Diskursen der Szene selbst und muss mit Vorsicht betrachtet werden. In Bezug auf die Räume einer Linke-Szene-Kneipe ist vor allem die gepflegte Schmuddeligkeit als Mittel kultureller Distinktion von der antagonistischen Kategorie der „Yuppies“ relevant. Der Raum des Plenums Wie im theoretischen Teil angenommen, gehören neben Gegenständen auch die Menschen in ihrer Körperlichkeit zu räumlichen Anordnungen. Der Umstand, dass die Menschen an einem Kneipenabend homogen und passend zur oben beschriebenen gepflegten Schmuddeligkeit der Einrichtung aussehen, ist zweifelsohne raumrelevant. Umso wichtiger ist auch, was die Anwesenden machen, wo sie sich befinden, wie sie sich bewegen, wie sie interagieren. Auf diese Weise produzieren sie aktiv und unter dem rekursiven Rückgriff auf die institutionalisierten Strukturen die räumlichen Anordnungen. Der Vergleich zum Plenum, einem anderen sozialen Geschehen am selben Ort, soll helfen, bestimmte Eigenschaften der Räume eines Abends in der Linke-Szene-Kneipe herauszuarbeiten. Eine Möglichkeit, sich die Eigenschaften eines Geschehens bewusst zu machen, ist sich anzuschauen, was an seinen (u.a. raum-zeitlich verankerten) Grenzen passiert und wie es zustande kommt (vgl. Goffman 1977a: 16). Vor Beginn des Plenums – d.h. bevor alle zum Plenum angekommen oder zumindest genug Leute da sind, um beschlussfähig zu sein – bewegen sich die einzelnen Anwesenden umher, führen Gespräche in kleinen Gruppen (z.B. über den Verbleib der Anderen), holen Getränke – dieser flexible
13 Die oben bereits erwähnte, szeneinterne Kritik an der Personalisierung der Analyse wird hauptsächlich von den Szeneprotagonisten eingebracht, die eine aufwendige und abstrakte Textproduktion pflegen und auf diese Weise die Diskurse der Szene kontrollieren. In Anlehnung an Bourdieu (1991b: 490) können diese als Inhaber des größeren politischen Kapitals bezeichnet werden, die eine ideologisierende Kontrolle über die als legitim erachteten Ansichten und Diskussionsstile ausüben wollen.
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und ausdehnbare kommunikative Kleingruppenraum gleicht dem bei der Vorbereitung einer Vokü. Der verabredete Zeitpunkt wird typischerweise von Woche zu Woche wiederholt, so dass sich ein institutionalisierter Rhythmus dieses Kollektivraums bildet.14 Letztendlich ist er jedoch eher ein Orientierungspunkt. Das Framing des Geschehens als Plenum ist eine Leistung der Anwesenden. Ein oder zwei von ihnen treffen Aussagen wie „Eh, wollen wir mal anfangen?“, „Ich muss um Neune schon wieder los“, „Es geeht loos!“. 15 Das Aushandeln läuft zunächst verbal, mit Hinweisen auf die Abwesenheit derer, auf die man warten sollte, bis zum Ignorieren und dem Fortsetzen eigener Kleingespräche. Das Plenumsbuch oder Papier zum Schreiben des Protokolls und ein Stift werden bereitgelegt. Irgendwann fängt das Plenum parallel zu anderen Aktivitäten einfach an; diese verebben daraufhin nach und nach. Es wird die Frage gestellt: „Wer schreibt das Protokoll?“ Das Schreiben des Protokolls bedeutet einerseits mehr Arbeit, andererseits hat diese Person einen singulären Einfluss auf die Formulierung der Positionen und der Beschlüsse, so wie sie notiert und später nachgesehen werden. Sie hat auch eine Verantwortung für den Ablauf der Diskussion, indem sie bei Ausschweifungen oder Ablenkungen eingreift (was von anderen auch stillschweigend akzeptiert wird). Somit wird der Stift des Protokollführers zu einem Symbol bzw. Werkzeug der Macht. Ich zitiere aus einem Plenumsprotokoll des Kneipenkollektivs vom Januar 2003: Nebenbei geht es noch um die Protokolle vom Hausplenum, dass die Stube sie zum Lesen bekommen soll, um die Kommunikation zu verbessern. Ernie meint ironisch, deren Protokolle sind ja sowieso nicht der Hit, da stehe nur der hat das gesagt, und die hat das gesagt.
Ein gutes Protokoll ist demnach keine einfache Wiedergabe der individuellen Positionen der Mitglieder, sondern formuliert eine Position des Kollektivs. Dementsprechend ist die Verantwortung des Schreibenden groß. Die
14 Vgl. Unterkapitel 4.2 zu den zunächst fehlenden Kollektivräumen der „Stube“. 15 Ein parodierendes Zitat eines alten Spruchs, das manchmal von größeren Gruppen bei einem verzögerten Start einer Demonstrationen gerufen wird und sich wiederum auf ein Fußballspiel im Stadion bezieht.
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Rolle des Protokollanten wird zwar abwechselnd, aber nur von einem beschränkten Kreis von drei bis vier Leuten besetzt. Auf weitere Details im Ablauf eines Plenums werde ich an dieser Stelle nicht eingehen (Punkte sammeln, Punkte besprechen, wie der Verlauf gelenkt wird, wie und wer redet oder nicht redet u.Ä.). Wichtiger für meine Fragestellung sind die räumlichen Komponenten. Die Teilnehmerinnen sitzen im Kreis, d.h., dass keine Person vor bzw. hinter den anderen sitzt, jede von ihren Nachbarinnen links und rechts ungefähr gleich weit entfernt ist und auch die am weitesten voneinander entfernten Menschen einander unangestrengt zuhören können. Die Sitzgelegenheiten werden jedes Mal neu aufgestellt und ausgesucht, so dass die Sitzordnung jedes Mal aufs Neue ausgehandelt wird. Die Mitte des Kreises bleibt unbesetzt, auch der Schreiber befindet sich in der gleichen Position wie alle anderen, nicht höher gesetzt (was leicht durch einen Barhocker erreichbar wäre) und auch nicht an einem besonders bequemen Stuhl; er oder sie sitzt nicht am Tisch, sondern hält die Schreibunterlage auf den Knien. Das konstituiert zunächst eine räumliche Gleichheit der Teilnehmenden. Normativ betrachtet sollen alle bei Diskussionen zu Wort kommen, um Herrschaftsstrukturen im Kollektiv entgegen zu wirken. So hieß es auch bei der Diskussion des neuen Konzepts der „Stube“, es solle durch gemeinsame Aufmerksamkeit und ggf. offene Thematisierung vermieden werden, dass immer dieselben Leute z.B. aufgrund ihrer, den anderen überlegenen Diskussionsfertigkeiten oder gar um gezielt ihre Meinungen durchzusetzen, die Diskussion dominierten; sonst würde das Prinzip der Konsensentscheidungen unterlaufen werden. Dieser normativen Orientierung, die vor allem für die Wir-Identität des Kollektivs (‚wir treffen Entscheidungen kollektiv, und bei uns sind alle gleich‘) und weniger für seine Praxis relevant ist, entspricht die paritätische räumliche Anordnung der Teilnehmer. Für diese Runde werden Stühle und Sessel zusammen geschoben. Das Verstellen der Stühle ist zwar eine auch bei einem Kneipenabend gängige Praxis, für das Plenum wird mit ihnen jedoch ein geschlossener Kreis gebildet. Der gemeinsame paritätische Raum eines Plenums ist somit auch ein geschlossener Raum und der einzige, der an diesem Ort zu dieser Zeit gebildet werden darf. Niemand kann anwesend sein und trotzdem nicht teilnehmen. Das wird notfalls sofort als eine unerwünschte Störung markiert. Die zur eigentlichen Diskussion parallelen Gespräche unter Nachbarinnen, die gelegentlich aufflackern, werden als Regelverstöße markiert; einerseits
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gelegentlich von ihnen selbst mittels einer geringeren Lautstärke beim Reden, andererseits von anderen Anwesenden durch das Abbrechen der Diskussion oder verbale wie nicht-verbale Unzufriedenheitsausdrücke (etwa durch Zuwerfen eines erbosten Blicks oder „Halloo“-Ausrufe). Ihre Bedrohung der Definition der Situation als Kollektivplenum geht nicht auf thematische Abweichungen zurück (bei diesen Gesprächen geht es, wie die Beobachtung zeigt, meistens um situationskonforme oder gar dieselben Themen), sondern darauf, dass sie den existierenden geschlossenen Plenumsraum aufheben. Das stillschweigend geduldete Verlassen der Gesprächsrunde ist kurzfristig und an einen Zweck – wie ein Getränk zu holen oder die Toilette aufzusuchen – gebunden. Das Abbrechen der Teilnahme am Plenumsraum ist nur im Zusammenhang mit dem Verlassen des Ortes möglich und bedarf einer bedauernden Rechtfertigung (wie beispielsweise: „Ich muss jetzt leider weg, zur Arbeit“). Zusammenfassend stelle ich fest, dass die räumliche Anordnung eines Kneipenplenums auf die Konstitution einer nach außen geschlossenen und paritätischen Wir-Einheit ausgerichtet ist und so eine mitunter körperliche Erfahrung der Kollektivität anbietet. Die definitorische Macht der Person, die das Plenumsprotokoll schreibt, wird durch diese verräumlichte Wir-Einheit nicht ausgelöscht, aber zumindest teilweise kompensiert. Der Raum der Kneipe Zu einem späteren Zeitpunkt ist der Raum an diesem Ort zum Teil ein anderer. Auch wenn einige seiner Elemente dieselben sind, unterscheiden sich die Aktivitäten der Anwesenden und ihre Kommunikationsformen, somit werden die Elemente in eine andere Anordnung gebracht. Die Menschen kommen und gehen, wenn sie dies wollen, einzeln oder auch in kleineren oder größeren Gruppen, ohne es durch eine verbale Rechtfertigung als einen potenziellen Regelbruch zu markieren. Es sind viel mehr als acht bis zehn Plenumsteilnehmerinnen da. Es wird nicht nur gesessen, sondern auch gestanden, besonders in einer größeren Gruppe am Kickertisch oder in der Nähe des Tresens – und wenn die Menschen nicht dicht gedrängt stehen müssen, wird die Kneipe von den Kollektivleuten als „noch ganz schön leer“ beschrieben. Eine gemeinsame große Runde wird von den Anwesenden nicht gebildet, stattdessen gibt es mehrere kleine Gruppen, die sich immer wieder durch Fluktuation ändern.
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Einen wichtigen Einfluss auf die Gestaltung des Raums hat neben den Plakaten und dem „Look“ auch die Musik. Die Raumgestaltung erschöpft sich nicht im Visuellen (Lefebvre 1996: 227f.). Die Musik, die in jeder Ecke der Kneipe zu hören ist, trägt zur Synthese eines einheitlichen Raums durch die Anwesenden bei. Zu ihren Mitteln gehört zunächst die subkulturelle stilistische Ausrichtung (diverse Varianten von Punk und Hardcore, manchmal elektronische Musik), der Verzicht auf Mainstream-Bands oder Bands mit Verträgen bei Major-Labels16. Oft haben die Texte eine politische Aussage, die unter diesen Bedingungen jedoch vor allem von Kennerinnen identifiziert werden kann. Der Stil hat damit eine größere Rolle für die Herstellung der Gemeinsamkeit als die Texte. Auch die Lautstärke an sich ist raumwirksam: Unter der Bedingung der visuellen Öffentlichkeit werden kleine private Konversationsräume akustisch erschaffen. Laute Musik beschränkt die Teilnehmerzahl einer Konversation auf gleichzeitig maximal vier Personen. Die Gesprächsdistanz reduziert sich auf ca. einen bis einen halben Meter, und auch dann kann man sich manchmal nur in einer erhöhten Lautstärke austauschen. Wie Starzinger (2000: 139) festhält, kann das erzwungene Schweigen jedoch als eine Erleichterung empfunden werden, eine Befreiung vom Kommunikationszwang oder ein Anlass, den sonst akzeptablen Mindestabstand zwischen den Körpern zu unterschreiten (vgl. Hall 1972). Die flexiblen kleinen Konversationsräume bilden eine weitere Ebene neben dem gemeinsamen Kommunikationsraum eines Kneipenabends, der von der Bewegung einzelner Personen und von kleinen Grüppchen geprägt ist. In diesem „Wirbel“ gibt es Zentren, die immer wieder frequentiert werden und wo die Dichte der Interaktionen zunimmt: die Küchendurchreiche bei der „Vokü“ und der Tresen. Auf diese beiden Zentren gehe ich im Folgenden genauer ein. Die Vokü (von „Volksküche“ oder „Volxküche“, auch „Bevokü“ – von „Bevölkerungsküche“ abgeleitet) stellt eine gemeinsame Aktivität dar, die von den meisten Anwesenden gleichzeitig ausgeübt wird: Sobald die Vokü fertig ist, stellen sich die Leute an, holen alle das gleiche Essen (das einzige Essen, das es gibt) und essen dann mehr oder weniger gleichzeitig. Das
16 Von der Band „Die Ärzte“ wurde in der „Stube“ beispielsweise nur das Lied „Cops Underwater“ bzw. „Bullen unter Wasser“ (vom Album „5,6,7,8 – Bullenstaat“, 2001) gespielt, was am Text liegen dürfte: „Bullen unter Wasser / Da seh’ ich gerne zu / Nasse Uniformen / Wasser in den Schuhen“.
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Essen ist typischerweise mit einer Verspätung gegenüber der angekündigten Zeit fertig, was die Gleichzeitigkeit erst erlaubt und so für diese raumzeitlichen Abläufe funktional ist. Die Vokü liefert auch einen weiteren Gegenstand für lockere Konversationen unter Unbekannten: über die Größe der eigenen Teller (die meistens eine sehr heterogene Sammlung bilden), was es gibt, wie es schmeckt etc. Unter diesen Bedingungen wird das Essen zu einem eigenständigen Fokus der Vergemeinschaftung der Anwesenden. Durch die Auswahl der Lebensmittel wird dieser Gemeinschaft ein ideologischer Charakter zuteil: In den meisten Voküs wird vegan gekocht, d.h. unter Verzicht auf jegliche tierische Produkte, angefangen von Fleisch bis Honig oder Milch. Es gibt zwei identitätsrelevante Begründungen dafür, die meist mündlich transportiert werden: Tierrechte (bzw. der Verzicht auf die Ausbeutung der Tiere) und Inklusivität (keine Menschen ausschließen). Das eigene Verhältnis der Vokü-Leute zum Veganismus kann dabei variieren. Das zweite Argument bezieht sich auf die Vorstellung der Offenheit der Räume, in diesem Fall gegenüber Veganerinnen.17 Die vegane Küche kann als ein weiterer Mechanismus der kulturellen Distinktion nach der Verbreitung der weniger strengen vegetarischen Regeln in Deutschland interpretiert werden.18 Der gemeinsame Verzehr des gleichen und veganen
17 So im Interview mit Karl, beim Vergleich der Bevökü seines ehemaliges Hausprojekts mit der „konkurrierenden“ Essensverteilung durch ein sozialpädagogisches Projekt: Karl:
Wo ich dann dachte, He, wat is’ denn date hier! Weil hier gibt’s ja so was wie Vokü. O.k., da gab’s halt Aas, also totes Tier, ich meine Fleisch.
Tanja: [☺ lacht] Karl:
//na ja [☺ lacht] (.) Dann haben sie (...) da serviert – während es dort bewusst kein Fleisch gab, weil es_ da halt auch die Leute gab, die sich (.) vegan ernähren, oder-oder-oder.
Tanja: Also, es wurde auch vegan gekocht? Karl:
Ja, genau. Um niemanden halt auszuschließen.
18 Schätzungen und Umfragen über die Zahl der Vegetarier in Deutschland kommen zu keinem eindeutigen Ergebnis; die Zahlen variieren zwischen zwei und acht Prozent der Bevölkerung. (http://www.zeit.de/zeit-wissen/2006/05/Titel_ Ernaehrung.xml?page =4, Stand: 20.10.2008) Bei Leitzmann (2001: 38) ist von acht Prozent die Rede.
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Essens dient der Herstellung der moralischen und kulturellen, positiv belegten Wir-Gemeinschaft (vgl. Valentine 1999: 51ff.). Der Gedanke der Offenheit für alle betrifft auch die niedrigen Preise (beispielsweise 1,30 Euro für ein großes Bier im Jahr 2003), die mit dem Wunsch erklärt werden, dass alle sich das Essen leisten können sollen, nicht nur diejenigen, die Geld haben. Hier wird bezogen auf das Essen die Vorstellung von einer ungerechten Gesellschaftsordnung formuliert, bei der Menschen mit wenig Geld in Bezug auf ihre Freizeitmöglichkeiten eingeschränkt werden (Ungerechtigkeit-Frame, vgl. Gamson 1992b). Während die Selbstbezeichnung „Bevölkerungsküche“ auch eine größere Offenheit anstrebt, diesmal gegenüber Leuten außerhalb der linken Szene, formuliert die Variante „Volxküche“ durch die Verfremdung des Wortes „Volk(s-)“ eine antinationale Haltung. Ein weiteres Element der eigenen politischen Legitimation der Vokü-Gruppen ist Treffpunkt (diese Bedeutung wird in Unterkapitel 5.2 eingehend analysiert). So erzählte Karl im Interview von der Bevokü in seinem früheren Hausprojekt. Und es war dann schon so gedacht, als so ein Treffpunkt, da sollen sich die Leute treffen – meinetwegen, jetzt eher politische, oder aber auch Leute, die jetzt einfach aus der Nachbarschaft kommen und so, und mensch kann sich unterhalten, kennen lernen und so was.
Das wird in Gegensatz zur Dienstleistung gesetzt, was dem im vierten Kapitel rekonstruierten symbolischen Gegensatz Breit oder Bereit bzw. Kneipe oder Politik ähnlich ist. Auf einem Flyer der „Stube“ hieß es: „KOMMT UND HELFT – SELBER MACHEN STATT KONSUM“. Das Mitmachen sollte also die Logik der Dienstleistung unterlaufen, nach der die Kollektivmitglieder einfach eine unbezahlte Arbeit verrichteten, was keine Grundlage für ein positives Selbstwertgefühl liefert. In der Realität sah es unterschiedlich aus: Das Aufstellen eines Kübels mit Spülwasser direkt in den Gästeräumen lud die Gäste zum Mitmachen (Abspülen) ein. Als es in der „neuen“ „Stube“ nach der Wiederbesetzung in die direkt anliegende Küche verlagert wurde, spülten die Gäste nur noch vereinzelt selbst ab. Ich sehe in der Aufforderung, auch Arbeit zu leisten, einen Widerspruch zu den sonst existierenden Vorteilen des Kollektivs gegenüber dem Publikum in Fragen der Raumgestaltung. Insgesamt unterscheidet sich die raum-zeitliche Organisation des Essens in einer Vokü von der „normaler“ Kneipen oder Gaststätten.
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Der Tresen ist ein weiterer Anziehungspunkt der Interaktionen. Die Selbstbedienung ist ein wichtiges raumstrukturierendes Prinzip der angemessenen Verhaltensmuster. Unter Rückgriff auf dieses Prinzip schaffen die Anwesenden im Akt des Sich-Positionierens eine bestimmte relationale Anordnung eigener Körper und tragen zur räumlichen Organisation des Kneipenabends bei. Die Leute hinter dem Tresen bewegen sich nicht zu anderen hin, um Bestellungen aufzunehmen und Getränke zu bringen. Bezeichnungen wie „Tresenkraft“ gibt es nicht, die entsprechende Rolle wird durch die Referenz zur Platzierung „hinter dem Tresen“ definiert. Die Relation Bedienung/Kunde wird hier durch die räumliche Organisation untergraben. Außerdem müssen sich die Gäste dadurch mehr bewegen, was wiederum die Interaktionen unter ihnen fördert. Der Tresen selbst wird zu einem Ort, an dem sich Bekannte treffen können. Die meisten kurzen Interaktionen am Tresen drehen sich um den Kauf von Getränken, wobei das Standardgetränk Flaschenbier ist (die Zapfanlage fehlt). Diese kurzfristigen Interaktionen (typischerweise mit mind. vier Sätzen) kann den Smalltalk zwischen Leuten auf beiden Seiten des Tresens einschließen, welcher über den gegenseitige Anerkennung bestätigenden rituellen Austausch (vgl. Goffman 1974: 97ff.) hinausgeht. Indem sie solche Gespräche nur mit einigen Gästen führen, lassen die Kollektivmitglieder diese Gäste sich besonders willkommen fühlen und tragen so zur Selektion des Stammpublikums bei (Laermann 1974: 170). Die langfristige Steuerung der Interaktionen bildet jedoch keine Prärogative des Kollektivs: Die am Tresen sitzenden oder stehenden Gäste versuchen manchmal, die eingeschränkte räumliche Mobilität der anderen zu nutzen (die ja ihren Aufenthaltsort kaum verlassen können) und sie „zuzulabern“. Als ein Ausweg aus dieser Situation haben die Kollektivmitglieder hinter dem Tresen fast immer die Möglichkeit, die ungewollten Gesprächspartner aus Anlass einer legitimen Verkaufsinteraktion mit einem weiteren Gast zu verlassen und so das Gesicht zu wahren. Ob diese feinen Steuerungsmittel der Interaktionen auch wirksam sind, hängt allerdings vom Alkoholisierungsgrad der „anstrengenden Leute“ ab. Ein großer Teil der Stammgäste sind allerdings Bekannte der Kollektivmitglieder, mit denen sie auch zu sonstigen Anlässen (beispielsweise in Hausprojekten oder bei projektübergreifenden Treffen) verkehren. Mit ihnen werden auch längere Gespräche mit ausführlichem Informationsbzw. Klatschaustausch geführt. Angesichts der Ähnlichkeit von Kollekti-
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vistinnen und Gästen wird der Tresen als eine räumliche Trennlinie besonders wichtig, um ihre Unterscheidung zu definieren. Dennoch wird dieses räumliche Prinzip gebrochen, wenn Freunde „kurz hinterm Tresen aushelfen“ und sich selbst dadurch den Gästen als Kollektivmitglieder präsentieren können. Die Rolle der „Unterstützerinnen“ wurde als ein Punkt des Konzepts der neuen „Stube“ kontrovers diskutiert. Das bedeutete die Problematisierung der Diskrepanz zwischen der situativen Rolle „hinter dem Tresen“ und der fehlenden Kollektivmitgliedschaft. So konstatierte Ernie bei einem Plenum: „Zur Mitarbeit gehört eben nicht nur, sich ein mal die Woche hinter den Tresen zu stellen, sondern sich auch intensiv um die Sache zu kümmern.“ Der Beschluss, dass es keine „Unterstützer“ mehr geben solle, kann als Anspruch des Kollektivs interpretiert werden, den Zugang zum Bereich hinter dem Tresen alleine zu legitimieren und so die räumliche Rollenordnung zu bestimmen. Damit ist der Anspruch verbunden, auch die weiteren Eigenschaften der Räume zu definieren. Zusammenfassend lässt sich Folgendes zu den räumlichen Anordnungen eines Kneipenabends in einem Linke-Szene-Laden sagen: Dieser Raum unterscheidet sich stark von dem Raum eines Plenums, das am selben Ort in einem anderen Zeitabschnitt stattfindet, vor allem in Bezug auf die Anwesenden, ihre Interaktionen und die dadurch existierenden Anordnungen und Bewegungsmuster. Es sind viele Leute anwesend, die in kleinen Gruppen oder einzeln kommen und gehen, die nicht nur in einer Clique stehen oder sitzen, sondern sich öfter bewegen, etwa zu den „Anziehungspunkten“ wie der Theke oder zu Gesprächsgruppen. Die vielen parallelen Kleinräume der Gespräche sind dadurch flexibel. Der Gesamtraum eines Kneipenabends ist, metaphorisch ausgedrückt, durch dieses Auf-der-Stelle-Fließen und die Pluralität der Kommunikation gekennzeichnet. Der Raum eines Plenums bildet dagegen eine nach außen geschlossene, „festsitzende“, exklusive und paritätisch angeordnete Wir-Einheit einer Gruppe. Die angemessenen Bewegungsmuster an einem Kneipenabend stellen jedoch eine gewisse Einheitlichkeit des Kneipenraums trotz der vielen verschiedenen Gesprächsräume her. Die weiteren Faktoren dazu sind Musik, visuelle Gestaltung und Vokü. Auf sie alle haben die Mitglieder des Kneipenkollektivs, wie ich oben gezeigt habe, einen größeren Einfluss als die Gäste (abgesehen von homogenen Displays der Gäste). Das bedeutet, dass sie im Hinblick auf diese relativ nachhaltigen Mechanismen mehr Macht in der Raumgestaltung haben.
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Der Vergleich zwischen Kneipe und Plenum wurde vor allem auf interaktionale Aspekte der Räume fokussiert, auch wenn sie zweifellos eine materielle Komponente haben und eine symbolische Wirkung entfalten. Abschließend werde ich der symbolischen Komponente der Räume mehr Aufmerksamkeit widmen und auf die Frage zurückkommen, wie die linken oder szenespezifischen Bedeutungen eines Abends in der Szenekneipe aussehen. Fazit Für die Konstitution des Raums einer Linke-Szene-Kneipe sind neben dem Spacing, also dem Sich-Positionieren und Platzieren von Gegenständen, auch die Syntheseleistungen der Akteure wichtig (vgl. Löw 2001). Die Synthese der einheitlichen räumlichen Anordnungen findet nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch in der Erinnerung statt. Meine Annahme ist, dass in Syntheseprozessen der linke Charakter der Räume eines Kneipenabends definiert wird und diese Prozesse hiermit für den linken Charakter eines Abends und, darüber hinaus, für die Produktion der linken Identität der Anwesenden relevant sind. Dabei folge ich Lynch (1968: 10): „Nichts wird durch sich selbst erfahren, alles steht im Zusammenhang mit seiner Umgebung, mit der Aufeinanderfolge von Ereignissen, die zu ihm hinführen, mit der Erinnerung an vergangene Erlebnisse.“ Politische Veranstaltungen, wie eine Informationsveranstaltung zu rechtsradikalen Tendenzen in Subkulturen oder eine Mobilisierungsveranstaltung zu einer größeren Demonstration, haben eine andere räumliche Komponente als ein gewöhnlicher Abend in der Kneipe. Indem sie dennoch am selben Ort stattfinden, werden diesem bestimmte Bedeutungen zugeschrieben. Die Bedeutungen, die zu Bausteinen der Wir-Definition gehören (antifaschistisch, antirassistisch, antikapitalistisch), färben sozusagen auf den Ort ab, insofern sie in die Erinnerungen der Gäste eingehen. Die Kategorie des sozialen Geschehens bietet an dieser Stelle ein nützliches analytisches Werkzeug, um den Transfer der Bedeutungen zwischen verschiedenen Elementen eines Geschehens anzunehmen.19 Auch wenn
19 Wie dieser Prozess auf der physiologischen Ebene analysiert werden kann, soll Neurophysiologen überlassen werden. Mir genügt als Argument für die Kategorie des sozialen Geschehens, dass diese Annahme einer gewissen, subjektiv her-
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jemand selbst nicht dabei gewesen ist, kann er in einer Szenezeitschrift, in relevanten Blogs oder auf Flyern darüber gelesen oder in Gesprächen mit Freunden und Bekannten die Deutung übernommen haben. Die Reputation eines Ortes (als Antifa-Treffpunkt, Punkertreff u.Ä.) kann in verschiedenen, mündlichen ebenso wie schriftlichen Formen erschaffen und reproduziert werden und bedeutet, dass in Prozessen kollektiver Identität die Bedeutungen institutionalisiert werden. Auch das Faktum einer Besetzung als solches kann zur Ressource eines politischen, linken Charakters werden. In der Nähe des „Stube“-Eingangs hing bis zuletzt das Transparent „Besetzt“, was in der Wirkung den oben schon erwähnten politischen Plakaten an den Wänden ähnlich war. Die zur Verfügung stehenden Bedeutungen eines Ortes, die auf der persönlichen Erfahrung der Akteure und/oder auf der Beteiligung an kommunikativen Identitätsprozessen basieren, werden zu einer Ressource der Räume und der Situationsdefinition. Ich nehme an, dass die alltägliche Verdinglichung der Räume als Orte (die impliziert, dass es sich bei einem Ort stets um denselben Raum handeln soll) für diesen Mechanismus unerlässlich ist. Der Name des Ladens wird zu einer Klammer der räumlichen Synthese. Die Erinnerungen der Teilnehmer können jedoch nicht auf die rein symbolische Wirkung des Namens reduziert werden. Die Institutionalisierung eines Raums bedeutet auch, dass der Raum einen festen Platz in den raum-zeitlichen Abläufen der Gäste und des Kollektivs einnimmt. In einem anderen räumlichen Maßstab betrachtet, heißt die Institutionalisierung einer linken Kneipe, dass die linken Bedeutungen eines Raums (also solche, die in Prozessen der Identität als „links“ definiert wurden) bei der Konstruktion des „linken“ Charakters auch anderer Räume an diesem Ort mobilisiert werden. Auch weitere akustische und visuelle Elemente mit „linken“ Bedeutungen (wie Plakate oder „Schmuddellook“) werden von den Anwesenden in die Räume eines Kneipenabends integriert. Die linken Bedeutungen einzelner Elemente eines sozialen Geschehens können von Akteuren in ihrer sinnaktualisierenden Praxis auf die anderen Elemente übertragen werden, die sonst nicht als links gelten würden. Mehr noch, die Institutionalisierung geht mit der Anerkennung des politischen Charakters eines Freiraums, eines linken Kulturprojekts nicht nur in der konkreten
gestellten Einheitlichkeit der Wahrnehmung und des Erlebens zu fruchtbaren Ergebnissen führt.
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Sinnpraxis, sondern in den rekursiv mit ihr verbundenen Sinnstrukturen einher. Das soziale Geschehen eines Abends in einer Szenekneipe bekommt durch die „linken“ Räume selbst einen entsprechenden Charakter. Wie ich oben gezeigt habe, besitzen seine anderen Elemente, d.h. Aktivitäten wie Biertrinken, Kickern oder Musikhören, ein geringes Identifikationspotenzial angesichts ihrer fehlenden Exklusivität. Die Menschen, die in solche Kneipen gehen, nutzen diese Ressource, um ihre eigene soziale Identität als Angehörige der linken Szene oder speziell der „Häuserszene“ zu reproduzieren – ganz unangestrengt beim Biertrinken. Die Bedeutung der Szenekneipen für die kollektive Identität als Produktion eines geteilten „Wir“ hat mit diesem Mechanismus zu tun. In Szenekneipen werden stilistische und weitere Gemeinsamkeiten der Gruppe ausgehandelt. Die Räume der Kneipenabende sind Räume der fließenden und intensiven Kommunikation. Sie erlauben es – das möchte ich betonen –, auch den alltäglichen Aktivitäten eine politische Bedeutung beizumessen. Im nächsten Abschnitt befasse ich mich daher mit institutionalisierten Bedeutungen der Kneipe als Treffpunkt.
5.2 S ZENEKNEIPE
ALS
„A NSCHLUSSORT “
Die Räume können durch die Zuschreibung von bestimmten Bedeutungen einen objektivierten „linken“ Charakter gewinnen. Dadurch funktionieren sie als eigenständige Ressourcen der sozialen Identität der Szeneangehörigen einerseits und der kollektiven Identität andererseits, da sie es erlauben, auch alltäglichen Aktivitäten einen politischen Sinn zu verleihen. Der „linke“ Charakter einer Kneipe kann, wie schon erläutert, nicht innerhalb eines raum-zeitlich begrenzten Abends, sondern nur in breiter gefassten identitären Kontexten erklärt werden. Den Gedanken möchte ich an dieser Stelle aufgreifen und mich auf Grundlage der Interviewanalyse mit institutionalisierten Bedeutungen der Szenekneipen befassen. Diese Interpretationsschemata werde ich in Verbindung zu entsprechenden praktischen Kontexten analysieren: Anschlussorte betrachte ich im Hinblick auf die Mobilisierung neuer Anhängerinnen und deren Einbeziehung in die Prozesse kollektiver Identität der linken Szene. Die Bedeutung Wohnzimmer wird im Hinblick auf die Funktion der Szeneläden als Treffpunkte betrachtet.
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Zunächst ist eine methodische Anmerkung zur Analyse kollektiver Identität auf Grundlage der Interviews nötig: Ein wichtiger Unterschied zwischen den von mir gemachten Interviews und anderen Texten, die von Aktivisten einer Bewegung produziert werden (etwa Flugblätter oder Artikel in Szenezeitschriften), besteht darin, dass die letztgenannten einen Teil der Bewegungspraxis darstellen und so direkt in die Prozesse kollektiver Identität einbezogen sind. Die Interviews sind es nicht. Dennoch gehe ich davon aus, dass auch die Analyse der leitfadengestützten oder biografischnarrativen Interviews fruchtbar zur Untersuchung kollektiver Identität eingesetzt werden kann (vgl. Johnston 1995). Allein der Gedanke der Prozesshaftigkeit von Identität verbietet, die Produktion oder Reproduktion kollektiver Identität als Werk eines einheitlichen kollektiven Geistes zu sehen. Die Forschungspraxis bestätigt, dass die Sinnproduktion vielfältig ist und auf der Tätigkeit vieler Akteure basiert. Sie schreiben, lesen und diskutieren Texte, lassen sie als Position einer Gruppe oder eines Bündnisses in kollektiven Entscheidungsstrukturen „absegnen“, tauschen Meinungen über aktuelle Geschehnisse aus oder lassen einander beim Bier am neuesten Klatsch teilhaben. Die Sinnbausteine, die in der jeweiligen Situation zur Anwendung kommen, können dabei variieren und einander auch widersprechen. Zudem unterscheiden sich beispielsweise die von denselben Akteuren produzierten Argumente, beispielsweise je nach dem, ob sie nach außen gerichtet sind oder in internen Diskussionen fallen (vgl. die „Einfallstor“Strategie der Autonomen20 oder, bezogen auf die Szeneläden, widersprüchliche Leitbilder wie „Geld für die Antirepressionsarbeit sammeln“ versus „unkommerzieller Charakter“). Die Legitimation der von Individuen oder Gruppen produzierten Texte als Teil der linken kollektiven Identität wird dadurch geschaffen, dass sie von anderen linken Individuen bzw. Gruppen wahrgenommen und diskutiert werden. Das Ergebnis der Diskussion kann dabei auch der explizite Anspruch sein, diese Akteure von der Zugehörigkeit zur Linken auszu-
20 Nach dieser Strategie soll in sich lokal abzeichnende Konflikte, von denen andere Gruppen wie die ansässige Bevölkerung eines Stadtteils betroffen sind, interveniert werden. Die Widerstände sollen mittels eigener Infrastruktur und Erfahrung unterstützt werden. Dabei soll auch die Akzeptanz für die radikalere antikapitalistische Ausrichtung und Praxis erhöht werden, so dass der konkrete Konflikt ein „Einfallstor“ für eigene Inhalte darstellt.
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schließen, der wiederum selbst zur Diskussion steht (beispielsweise Sexismusdebatten in der Szenezeitschrift interim, Haunss 2004: 149ff.). So werden ihre Positionen „negativ“ in die Wir-Definition integriert. Die Infrastruktur, mit deren Hilfe Meinungen öffentlich gemacht werden, gewinnt angesichts der fehlenden zentralen legitimierenden Instanz, die einen allgemeinen Vertretungsanspruch erheben würde (vgl. Bourdieu 1991b), an Bedeutung. Zu dieser Infrastruktur gehören die Szenepublikationen, besonders die interim dank ihrer offenen Publikationsstruktur und (später) internetbasierte Kommunikationsmöglichkeiten wie Mailinglisten oder „Social Web“, aber auch institutionalisierte Strukturen unmittelbarer Interaktion (Plena, Vollversammlungen) sowie manche Treffpunkte. Wie im ersten Kapitel für Szenen sowie für soziale Bewegungen angenommen wurde, geschieht die Konstruktion der Gemeinsamkeiten und der Wir-Definitionen u.a. im Alltag und hat einen interaktiven Charakter. Die Interaktionsform Interview kann durchaus in Diskursfeldern der Szeneidentität genutzt werden, wie das Beispiel eines Interview-Buchs zum Berliner Autonomie-Kongress (Kongreßlesebuch-Gruppe 1995) oder Interviews mit antifaschistischen Gruppen im Antifaschistischen Infoblatt zeigen. Die Interviews mit Szeneangehörigen im Rahmen meiner Forschung beziehen sich dagegen nicht aufeinander; lediglich das Faktum der Interaktion mit der Forscherin kann zum Diskussionsthema in Zusammenhängen der Interviewten werden.21 Ich nehme an, dass die Aktivistinnen auch bei den Interaktionen mit der Forscherin auf ihre gewohnten, u.a. in der Szene geformten Sinnstrukturen zurückgreifen. Das erlaubt, ihre Sicht auf die Gesellschaft und auf das eigene Handeln zu rekonstruieren. Bei der kognitiven Komponente kollektiver Identität handelt es sich um geteilte Sinnkonstrukte, die Vorstellungen von der Wir-Gruppe, ihren Zielen und Mitteln und dem sozialen Kontext des Handelns betreffen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Szeneangehörigen diejenigen sind, die an den Prozessen der Konstruktion der geteilten Vorstellungen im Alltag (u.a. mittels expliziter Textproduktion) teilnehmen, dann kann auch angenommen werden, dass
21 So habe ich im Nachhinein erfahren, dass im Hausprojekt und im Kollektiv der „Stube“ „alle gewusst“ haben sollen, dass Ernie mir ein Interview gegeben hat. Die Erfahrung von Eckert et al. (2000) zeigt, dass ein Ergebnis solcher Diskussionen auch negative Sanktionen sein können, beispielsweise wenn Interviews zurückgezogen werden.
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aus Interviews mit solchen Menschen rekonstruierte Sinnbausteine für die kollektive Identität relevant sind. „Through semi-structured interviewing, researchers can gain insight into the individual and collective visions, imaginings, hopes, expectations, critiques of the present, and projects of the future on which the possibility of collective action rests and through which social movements form, endure and disband.“ (Blee/Taylor 2002: 95)
Auch die Entwicklung von Solidarität und Emotionen als zentraler Aspekt der Identitätsprozesse kann gerade mit Hilfe der leitfadengestützten Interviews erfolgreich analysiert werden (ebd.: 95f.). Das Spezifikum der Interaktionsform eines Interviews soll bei der Analyse selbstverständlich berücksichtigt werden (vgl. Johnston 1995, 2002). Abschließend sei zur Darstellungsform noch angemerkt, dass die konkreten Auszüge aus den Texten und deren Analyse im Hinblick auf einzelne Kategorien einen herausragenden Platz einnehmen. Das soll die Rekonstruktion der Sinnstrukturen (Frames) aus den Interviews für die Leserinnen besser nachvollziehbar machen. Nina: Anschluss finden Bei vielen Interviews wurde der Muster Szenekneipe als Anschlussort von Gesprächspartnerinnen genutzt, um eigenes Annähern an die und Hineinkommen in die Szenenetzwerke zu erfassen. Die entsprechende Kategorie Anschlussort werde ich im Folgenden genauer darstellen. Im Fallbeispiel Nina ist sie am deutlichsten ausgearbeitet und wurde bei der Auswertung dieses Interviews entwickelt. Deswegen gehe ich auf diesen Fall genauer ein, um ihn später in einen Zusammenhang mit weiteren relevanten Fällen zu setzen. Nina kommt aus einer kleineren westdeutschen Stadt (hier als „Südkaffen“ bezeichnet). Ihre Eltern waren während Ninas früher Kinderzeit in der links-alternativen Szene aktiv. Nina war seit ihrer Schulzeit in linksradikalen Zusammenhängen engagiert, die auch ihre Clique bildeten. Sie hat Abitur gemacht und dann studiert. Ende der 1990er Jahre zog sie nach Berlin. Ein Zitat aus dem biografischen Teil des Interviews:
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Ähm (.) Hab am Anfang_ versucht, hier Anschluss zur Szene zu bekommen, war dann beim Anti-Atom-Plenum, und bin dann über das Anti-Atom-Plenum zum EX auch gekommen, im Mehringhof. Und_ ich hab dann auch versucht, mit meinem_ mit dem Arbeitskreis, also von der Uni irgendwie, haben wir dann auch noch einen Tag gemacht, alle zwei Wochen im EX. Und das hat mir ziemlich gut gefallen da, weil das war so ein_ ich kannte aus Südkaffen, da gibt es auch ein Kollektiv, das ist der Rote Salon, da haben auch ziemlich viele Freunde von mir irgendwann angefangen zu arbeiten, und das war mehr so ein Treffpunkt, wo sich_ wo du hingehen konntest, und wusstest, da triffst du jemanden, den du kennst. Und sowas war das EX für mich dann auch, war so ein Bezugspunkt oder so ein Anlaufpunkt.
Die Kategorie Treffpunkt/Anlaufpunkt wird im Rahmen einer der Beschreibung dienenden Argumentation eingeführt (von „Und das hat mir ziemlich gut gefallen da“ bis „so ein Anlaufpunkt“). Eine positive Charakterisierung der Szenekneipe „EX“ („das hat mir ziemlich gut gefallen da“) wird durch eine Argumentation erweitert. Innerhalb der Argumentation wird eine auf die frühere Erfahrung bezogene Beschreibung des „Roten Salons“ gegeben, mit der die Kategorie „Treffpunkt“ eingeführt wird. Argumentative Struktur:22 These: Im „EX“ hat es mir gut gefallen. Argument 1 – Datum: Weil es ein Treffpunkt/Anlaufpunkt/Bezugspunkt war. Argument 2 – Schlussregel: Kneipen/Cafes, die Treffpunkte/Anlaufpunkte/ Bezugspunkte sind, gefallen mir. Die Kategorie Treffpunkt/Anlaufpunkt trifft nicht nur auf das „EX“ zu, sondern hat einen allgemeineren Charakter und ist positiv konnotiert. Ein Treffpunkt ist dort, wo man hingehen kann und spontan, also ohne Verab-
22 Analyse der Argumentation nach Toulmin (1975), Lucius-Hoene/Deppermann (2004). Toulmin unterscheidet Elemente argumentativer Zusammenhänge anhand ihrer jeweiligen Funktionen. Während Daten eine aufgestellte These begründen, soll eine allgemein gehaltene Schlussregel den Übergang von den Daten zur These legitimieren. Bei den Alltagsargumentationen wird die Schlussregel meist lediglich impliziert, d.h. es handelt sich um eine vom Sprecher nicht unbedingt ausgesprochene oder intendierte Aussage, die allerdings die Sinnstruktur der Argumentation mit bildet.
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redung, Bekannte trifft. Es wird ein emergenter Raum geschildert, an dem sich Interaktionen „wie von selbst“ ergeben. Anzumerken ist, dass für das „EX“ nicht die Bezeichnung „Treffpunkt“, sondern „Anlaufpunkt“ bzw. „Bezugspunkt“ verwendet wird. Während der Treffpunkt eine abstraktere Kategorie darstellt, ist „Anlaufpunkt“ konkret auf die damalige persönliche Situation der Erzählerin gerichtet („Und sowas war das EX für mich dann auch“). Im Nachfrageteil des Interviews wird das Thema von der Interviewerin durch eine Zusammenfassung von Ninas Aussagen aufgegriffen. Das führt zu einer weiteren Beschäftigung damit, und zwar mit einem höheren Detaillierungsgrad.23 [246] Tanja: Uchm (P) also Mehringhof war für dich_ weil du meintest_ zuerst ist
ja das Wort Mehringhof und EX aufgetaucht, wo du erzählt hast, dass du den Anschluss an die Szene gesucht hast, und dann Anti-AtomPlenum und so weiter(?) [247] Nina:
Uchm
[248] Tanja: Ich hatte den Eindruck bekommen, dass Mehringhof und EX schon
für dich damals ein soziales_ ein Zentrum von deinem sozialen Leben waren, oder des szenebezogenen sozialen Lebens wenigstens… [249] Nina:
Ja, früher war das so. Ja. Wo man total oft vorbei gekommen ist, also Anlaufpunkte gehabt hat, übers Anti-Atom-Plenum, oder übers EX – war ja auch immer total einfach, nich? Irgendwie im EX da reinzukommen, oder da irgnwie mitzumachen
[250] Tanja: Uchm [251] Nina:
Es ist so eine nette_ ist anschlussfähig für Leute, die noch nicht Teil der Szene sind, das aber irgenwie gerne sein würden, oder so. Oder da gibt`s ein Buchladen, kaufst dir ein nettes Buch, und gehst dann noch einen Kaffee trinken ins EX, und guckst, wer da ist. Ja.
[252] Tanja: (.) War das für dich persönlich auch so, was du es gerade gesagt hast,
mit den Leuten, die noch nicht Teil der Szene sind, aber das gerne sein wollen, dass sie da ziemlich schnell Anschluss finden, übers EX? [253] Nina:
Für mich war das so, genau. Also_ primär erstmal übers Anti-AtomPlenum, ich hab in Südkaffen auch in einer Anti-Atom-Gruppe
23 Angesichts der Länge dieses Auszugs werden die Nummern von Turns angegeben, um dem Leser die Orientierung zu erleichtern.
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mitgearbeitet, das war so naheliegend, ich kannte, ich wusste es schon, es gibt dieses Plenum in Berlin, und ich kann hingehen. Das hab ich dann auch gemacht. (P) Und das war für mich so der erste Anschlusspunkt. [254] Tanja: Uchm [255] Nina:
Genau. Und dann hat das Anti-Atom-Plenum eben immer diese Schicht gemacht, im EX, wo ich dann auch mitgemacht hab. Und das waren so diese ersten beiden Einstiegsmöglichkeiten. Wo man dann_ neue Kontakte findet, so.
Die Theorie eines Anlaufpunkts wird in diesem Abschnitt entwickelt. Der Anlaufpunkt wird nicht nur symbolisch-räumlich („Einstiegsmöglichkeiten“, „reinzukommen“), sondern auch konkret-räumlich gedacht, als Teil der raum-zeitlichen Routinen oder Verhaltensweisen – da kann man/kann ich hingehen (251, 253). Die Feinanalyse des Segments „Anschluss an die Szene“ (246 bis 255) u.a. in Bezug auf die Verhältnisse zwischen den Kategorien (siehe Abbildung 1 unten) zeigte, dass der Anschluss an die Szene als etwas konzipiert wird, was bewusst gewollt und im eigenen Handeln (253, 255 – sie geht zum Anti-Atom-Plenum, sie macht eine Schicht im „EX“ mit), auf der Grundlage der Erfahrung (253), gesucht wird. Im Rahmen dieses Handlungsentwurfs wird die Kohärenz der Szenezugehörigkeit und hiermit der eigenen Geschichte zwischen Südkaffen und Berlin hergestellt. Der erste Anschlusspunkt ist das Anti-Atom-Plenum (AAP). Der Darstellung dieses Engagements gibt Nina durch die Ich-Form auch eine persönlichere Färbung. Nina geht aufgrund ihres noch in Südkaffen erworbenen Wissens zum AAP. Diesem wird eine Offenheit zugeschrieben – sie kann ohne Weiteres hingehen. Diese Interpretation wird gegenüber der alternativen Lesart (sie kann hingehen, da sie über entsprechende Kompetenzen in der Anti-Atom-Arbeit verfügt) durch eine andere Textstelle aufgewertet, in der das AAP explizit als eine offene Gruppe beschrieben wird.24 Die Offenheit dieser Gruppe macht nur im Gegensatz zur Geschlos-
24 Das entsprechende Segment des Interviews mit Nina lautet: „Also genau, ich war erst im Anti-Atom-Plenum, und da bin ich irgendwann raus, weil_ weil es mit diesem, mit dem offenen Plenum, wo alle hin können, das hat so seine Vorteile und es hat auch seine Nachteile. Der Vorteil ist, dass
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senheit anderer Gruppen Sinn; in der Tat wird die Geschlossenheit der Gruppen und der Berliner linken Szene noch mehrmals von Nina thematisiert (beispielsweise „Also, ich find’ es eine sehr geschlossene Szene, eine sehr komplizierte Szene.“). Den Zugang zu ihrer aktuellen Politgruppe N. bekommt Nina über einen sogenannten Türöffner, den sie durch die gemeinsame Arbeit im „EX“ kennengelernt hat („und da habe ich da habe ich dann jemanden kennen gelernt und über den bin ich dann zu N. gekommen.“). Wie diese Geschlossenheit räumlich gerahmt wird, werde ich später erläutern. Hier ist vor allem der Gegensatz zu den offenen Räumen einer Kneipe wichtig. Das „EX“ als ein Anschlusspunkt wird eher normalisierend, auf die ganze Kategorie der Leute, die Anschluss suchen bezogen dargestellt. Seine Bedeutung als ein allgemeiner Anschlusspunkt wird betont. Bestimmte Qualitäten dieses Raums, Facetten seiner Offenheit, werden formuliert: • Anschlussfähigkeit Das „EX“ ist „anschlussfähig für Leute, die noch nicht Teil der Szene sind, das aber irgendwie gerne sein würden“ (251). Die Abgeschlossenheit der Szene wird thematisiert – Anschluss als Hineinkommen in etwas Abgeschlossenes: „Irgendwie im EX da reinzukommen“ (249; vgl. „Einstiegsmöglichkeiten“ 255). Das „EX“ ist dennoch weniger einer Durchgangsstation ähnlich, sondern bildet eher einen offeneren Bereich von etwas Abgeschlossenem. Es kann allen denjenigen, die es wollen, eine Anschlussmöglichkeit (zum Mitmachen25 und zum Raumnutzen) bieten. In Bezug auf die Mobilisierung heißt dies, dass ein räumlicher Knotenpunkt die Fähigkeit haben muss, die Menschen hineinzuziehen.
Leute super einfach da Anschluss finden können, und der Nachteil ist, dass es super schwierig ist, kontinuierlich zu arbeiten, weil du letztendlich ähm_ alle Diskussionen alle naselang wieder führen muss, weil wieder neue Leute da sitzen. Also Kontinuität da reinzukriegen ist schwierig, das war so der eine Grund.“ 25 Diese Offenheit zum Mitmachen bezog sich allerdings nur auf den Zeitraum des „EXperiments“ vom Februar 1998 bis zum Januar 2001, als die Kneipe nicht von einem festen Kollektiv, sondern von 20 verschiedenen Gruppen mit insgesamt ca. 100 Beteiligten betrieben wurde. Nina bezieht sich im Interview auf diese Zeit. Zuvor war das „EX“ ein „normaler“ Kollektivbetrieb.
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Nutzungsoffenheit Man kann einfach so hingehen, ohne schon dazu zu gehören. Offenheit als Raum der Öffentlichkeit Dort treffen sich Leute, die ein bestimmtes Diskursfeld teilen und einander kennen. Ninas Beschreibung entspricht weniger einer politischen Öffentlichkeit, sondern mehr der Öffentlichkeit eines Flaneurs in einem Kaffeehaus. Offene Kommunikationsstruktur, Autonomie/Geselligkeit-Bilanz „Oder da gibt’s ein Buchladen, kaufst dir ein nettes Buch, und gehst dann noch einen Kaffee trinken ins EX, und guckst, wer da ist“ (251; auch an einer anderen, bereits zitierten Stelle: „wo du hingehen konntest, und wusstest, da triffst du jemanden, den du kennst.“). Der Raum bietet Möglichkeiten der Interaktion und ist unverbindlich, er schreibt nicht vor, man muss sich nicht extra verabreden, sondern kann einfach hingehen. Ein bestimmter, ausformulierter Handlungsentwurf ist hierfür nicht nötig. Es ist weniger die Qualität einer linken Kneipe, sondern einer Kneipe/eines Cafes im Allgemeinen (vgl. Dröge/Krämer-Badoni 1987, Starzinger 2000).
Die vielfältige Offenheit des Raums des „EX“ erlaubt dessen Rolle als Anlaufpunkt, die Nina als eine universelle, nicht nur auf ihre Erfahrung begrenzte Kategorie darstellt. Offenheit/Geschlossenheit und Autonomie/ Geselligkeit sind die Bedeutungsdimensionen, um die die Eigenschaften dieses Raums mit spezifischen Qualitäten der Interaktion organisiert sind. Abbildung 1: Nina – Anschluss an die linke Szene
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Das Projekt „EX“ hat für Nina eine hohe Bedeutung für die Konstruktion ihrer Szenezugehörigkeit. Aufgrund der Analyse dieses Interviews führte ich die Kategorie Anschlussort ein, um die spezifische Rolle der offenen Treffpunkte in der Mobilisierung neuer Szeneangehöriger einzufangen. Die Analyse weiterer Stellen im Interview zeigte, dass Nina erhebliche Probleme mit der Biografisierung hat, worauf eine kurze und wenig detaillierte Eingangserzählung und der oft anzutreffende Duktus der Selbstverständlichkeit hinweisen. Die Anbindung an die linke Szene spielt für Nina eine zentrale Rolle in der Konstruktion ihrer narrativen Identität – statt einer biografischen, auf die persönliche Identität zentrierten Kontinuität. Damit hängt die außerordentliche Rolle von Szeneräumen zusammen, da über sie (konkret: über das „EX“ als einen Anschlusspunkt und über ein Hausprojekt als eine weitere Anbindung an die Szene) auch die Kohärenz der Szenezugehörigkeit und damit der eigenen Geschichte zwischen Südkaffen und Berlin hergestellt wird.
Anschlussorte für andere Die bei der Auswertung des Interviews mit Nina ausgearbeitete Kategorie des Anschlussortes in Bezug auf einen Szeneladen erlaubt, die Mobilisierungsdynamiken für einige weitere Fälle – für Ernie, Karl, Lisa, Markus, Michael und Simone – einzufangen, auch wenn die Bedeutung der Szeneräume für die individuellen narrativen Identitäten der Befragten variiert. Es ist allerdings keine ausschließliche Entwicklung. So sind für Eva nicht ein oder mehrere Szeneläden als Anschlussorte, sondern ein Hausprojekt als „Mikrokosmos“ von zentraler Bedeutung für die Eingliederung in die Szenestrukturen: Da haben ja Hundert Leute gewohnt, ich meine, da hast du ja auch ☺ das hat eigentlich so gut wie gereicht. Also wenn du da irgendwie Plenas und was noch, und dann dein Alltag hast, und von den Leuten noch was mitkriegen willst, und im Bauen bist, du machst nicht mehr viel. Es war wie so ein kleines_ abgeschlossenes_ Ghetto kann man schlecht sagen, aber einfach so ein Raum für sich. (.) Ne, es war einfach ein kleiner Mikrokosmos damals.
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Um ihre Reichweite zu illustrieren, werde ich ein weiteres Fallbeispiel zur Kategorie Anschlussort vorstellen. Bei Lisa ist im Unterschied zu Nina für die Konstruktion ihrer narrativen Identität nicht die Anbindung an die linke Szene, sondern ihre linke politische Überzeugung zentral. Diese wird umfangreich dargestellt, sowohl im Sinne der diagnostischen Frames als auch in Bezug auf das eigene Handeln (beispielsweise in Bezug auf die als menschenfeindlich verstandenen staatlichen Institutionen26). Trotzdem konnte die Kategorie des „Anschlussortes“ sinnvoll eingesetzt werden. Bei Lisa sind für die Eingliederung in die Berliner linke Szene eine nach Berlin zugezogene Freundin aus dem Heimatort (hier: Mittelfeld), die sie mitnimmt, und der mit ihrer Hilfe gewonnene Kontakt zu einem Szene-Insider wichtig. Weiterhin spielen auch die Szenekneipen „Fabrik“ und „Randerscheinung“ (beide in Friedrichshain) eine Rolle, denn in ihnen können neue Bekanntschaften gefunden werden: Lisa:
Also als Karen dann, also ne Freundin aus Mittelfeld dann hierher kam. Und (.) und wir da unseren Kontaktmenschen hatten [☺ lacht]
Tanja: Lisa:
//☺ uchm dann (.) ja, dann sind wir halt ab und zu mal in die Fabrik, oder_ in die Randerscheinung gegangen, und da auch irgendwie viele Leute kennen gelernt.
Dass die Kontakte insgesamt und vor allem ohne einen Türöffner schwer zu entwickeln waren, stellt Lisa in Bezug auf ihre Geschichte fest und formuliert es als einen allgemeingültigen Normalablauf für Zugezogene.
26 Ein Beispiel aus dem Abschnitt des Interviews mit Lisa über ihre Schulbiografie: „Also das kam halt so zum Beispiel (...), was ich sowieso ganz doll schlimm finde wenn irgendwie äh ein Papier mehr_ mehr Wert ist als Mensch, oder_ oder wenn das Geld mehr Wert ist als Menschenleben und_ all das. Also_ ja, [das ist mir so früh ziemlich früh aufgefallen ☺] Ja.“ Die Haltung der Verweigerung gegenüber institutionellen Ablaufmustern ist für Lisa, wie die Analyse zeigte, eine tief biografisch verwurzelte und systematische Strategie.
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Ja, es waaar, ehrlich gesagt, eigentlich gar nicht so einfach. So_ irgendwie gute Kontakte zu kriegen. Ich meine, wenn man von sonstwo kommt und keine Ahnung hat ☺ (P) Ja. Wie gesagt, das ging ganz langsam.
Demnach formuliert Lisa die Theorie, dass es für einen zugezogenen und szenefremden Menschen schwer ist und nur ganz langsam geht, gute Kontakte in der Berliner linken Szene zu kriegen. Hilfreich dafür sind Türöffner (eine Freundin und ein Szene-Insider). Bestimmte Qualitäten des Raums sind wichtig, um den Anschluss zu ermöglichen. Die Lokale „Randerscheinung“ und „Fabrik“ haben in Lisas ausführlicher Darstellung der Szeneläden (an einer anderen Stelle des Interviews) den Charakter einer Kommunikationsplattform: Sie kommt dorthin und findet andere, die interessant sind, mit denen sie auf einer Wellenlänge ist. Diese Schauplätze spielen demnach eine wichtige Rolle für Lisa, zunächst als Anschlussorte beim Einstieg in die Szene und später als Treffpunkte. Ihre Qualitäten werden von Lisa im Interview im Vergleich zu einem anderen Szenelokal in der Friedrichshain expliziert, der „Bestreitbar“, dem gegenüber sie kritischer eingestellt ist. Ich rekonstruiere diesen Vergleich: Tabelle 1: Lisas Vergleich von Szenelokalen „Fabrik“
„Randerscheinung“
„BestreitBar“
„weil ich da ein paar
„ich kenne einfach nicht so viele
Leute irgendwie treff,
Leute, die da_ regelmäßig
mit denen wir uns_
hingehen“
gut verstehen“ „einfach nur zum Hingehen und Quatschen
Ihre Nutzung der „Bestreitbar“
bevorzuge ich eigentlich eher Fabrik, oder
ist situativ beschränkt auf das
Randerscheinung“
Plenum ihrer Gruppe. „manchmal sehr_ widerliche seltsame Leute unterwegs“: „besoffene Punker auf Speed“, „sexistischer Typ“, der systematisch Frauen anmacht; Seltsame Leute sind zwar auch woanders unterwegs, aber der
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Umgang mit ihnen seitens des verantwortlichen Kneipenkollektivs ist schlecht: Der Grundsatz „keine sexistische Anmache“ wird nicht konsequent befolgt, sondern es gibt Diskussionen im Feld zwischen Antisexismus und Antirassismus. Demnach soll es indiskutable Grundsätze geben, deren Befolgung eine Bedingung der Anwesenheit darstellt. Es ist ein
Es entsteht ein geschlossener
offener,
Eindruck: Menschen sitzen in
flexibler Raum.
kleinen festen Grüppchen, die
In der „Fabrik“
von ihnen extra verabredet wur-
bewegen sich
den.
die für Lisa angenehmeren Leute, Interaktionen entstehen spontan, feste Grüppchen gibt es nicht. Eine weitere Bedingung dafür ist, dass sie mehr Leute aus dem Publikum kennt. Es finden sich auch fremde Leute, nicht aus der eigenen Szene, mit denen keine Kommunikation möglich ist: „Leute die man normalerweise_ nicht unbedingt aus der Szene
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kennt. Und die auch gar nicht so viel damit zu tun haben, sondern einfach nur mal sich ähm Punkerladen, eine_ eine Punkerkneipe in Friedrichshain sich angucken wollen ☺“. Sie sind langweilig, denn mit ihnen ist keine nicht-oberflächliche Kommunikation möglich. „Die kommen halt aus einer anderen Welt und sind da zufällig mal gelandet.“ Das Publikum
Das Publikum ist
ist in Bezug
jünger als
auf das Alter
in der „Fabrik“.
gemischt.
Eine Idealvorstellung von einer Szenekneipe ist für Lisa ein offener, emergenter Raum, in dem die Interaktionen unter Besucherinnen spontan entstehen. Das stimmt weitgehend mit Ninas Vorstellungen überein. Er ist konkret-räumlich vor allem in Bezug auf den flexiblen Modus der Platzierungen gedacht (ähnliche Ergebnisse brachte die Analyse des sozialen Geschehens Abend in einer Linke-Szene-Kneipe auf der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung). Dem Ideal der Offenheit widerspricht allerdings, dass Leute von außerhalb der Szene von Lisa als fremd und langweilig charakterisiert werden. Lisas Verhältnis zur Offenheit/Geschlossenheit ist demnach ambivalent: Sie formuliert eine offene Arena als propagierte Idealvorstellung, aber Menschen „aus einer anderen Welt“ sollen lieber draußen bleiben. Eine mögliche Auflösung dieser Paradoxie sehe ich darin, dass die Leute sich untereinander kennen oder auf der gleichen Wellenlänge sein müssen, damit eine offene und flexible Kommunikation klappt. Im Abschnitt „Legitimation und räumliche Distanz“ gehe ich darauf ein. Abschließend möchte ich festhalten, dass die Szeneläden auch für die schon integrierten Szeneangehörigen ihre Bedeutung als Treffpunkte erhalten können. Ein führendes Interpretationsschema ist dabei Szeneladen als Wohnzimmer, das vor allem in mündlichen Diskursen, oft ironisch, verwendet wird (vgl. auch das Plakat „yorck 59 lädt ein zur Soli-Party ins
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verlängerte Wohnzimmer // 29.11.1997 // im und für’s EX“, HKS 13 1999: 215). Petra greift im Interview eine solche Deutung des „EX“ als Wohnzimmer der Autonomen auf (hier wird nur ein Auszug aus einer breiteren Passage zitiert): Petra:
Äh (.) du hast ja irgenwie, wenn du inne Kneipe gehst das_ das Bedürfnis, oder ich jedenfalls (.) nach ner_ nach nem Wohnzimmer, sprich, du fühlst dich da wohl, weil ganz viele nette Leute einfach da drin sind.
Tanja: Petra:
Uchm Und dich dadrin aufgehoben fühlst. Und das ist äh (.) das ist im EX halt nicht mehr, und das war früher aber so.
Tanja:
Uchm – Kleines Wohnzimmer?
Petra:
Na großes Wohnzimmer halt. Uchm. Klar!27
Weiterhin expliziert Petra diese Bedeutung, wobei die Funktion eines spontanen Treffpunkts mit einer gewissen Homogenität des netten Publikums einhergeht: Und früher war das eher so ähm (P) Man traf sich im EX und das war so, weil man sowieso ganz viel Gemeinsamkeiten_ hat und_ man brauchte sich nicht extra verabreden, sondern es war dann so’ne Mischung aus sozialem Kontakt und politischer Verabredung.
Spaß und Politik gehen im Idealfall zusammen.28 Früher war für das „EX“, so bei Petra, eine Mischung aus spontanen (und sicher zustande kommenden) sozialen Kontakten und politischer Verabredung typisch. Es war ein vielfältiger Treffpunkt der Linken. Heute dagegen findet eine funktionelle Differenzierung von politischen Treffen und privaten Verabredungen statt.
27 Der letzte Austausch bedarf eines Kommentars: Während die Interviewerin mit „kleines Wohnzimmer“ ein Bild der Gemütlichkeit in das Gespräch einbringt, korrigiert Petra dies mit dem Hinweis auf die tatsächliche Fläche des „EX“, die über 300 Quadratmeter betrug. 28 In Kapitel 4 wurde das schwierige Bilanzieren zwischen den symbolischen Polen Kneipe und Politik im Framing der „Stube“ analysiert.
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Die spontanen Synergieeffekte unverbindlicher Kneipenkommunikation unter Gleichgesinnten gehen auf diese Weise verloren. • • • • •
Die Kategorie Wohnzimmer hat folgende Dimensionen: Viele nette linke Leute sind anzutreffen. Man fühlt sich in dieser Umgebung aufgehoben (Sicherheit/Vertrauen). Spontane, nicht verabredete Kontakte mit Bekannten sind sicher. Man braucht keinen Anlass und keine Verabredung, um hinzugehen. Homogenität des Publikums: Es sind meist linke Leute, man ist unter sich.
Petra beschrieb (im Herbst 2000) die negative Veränderung des „EX“, den Verlust dieses Treffpunkt-Charakters; einige Monate später machte das „EX“ zu. Der Wohnzimmer-Charakter war jedoch nicht einzigartig für das „EX“, vielmehr ist er als eine institutionalisierte Interpretation des Treffpunkt-Phänomens bestimmter Netzwerke bzw. Subnetzwerke anzusehen. Deswegen ist im weiteren Text von einem Treffpunkt-Interpretationsschema die Rede. Der Begriff Wohnzimmer bezieht sich auf die verbreitete räumliche Struktur öffentlich/privat, aber auch auf den hier speziell für die Szeneläden ausgearbeiteten Gegensatz Offenheit/Geschlossenheit. Im nächsten Abschnitt werde ich das Verhältnis zwischen diesen beiden symbolischen Polen betrachten. Das erlaubt, ein Licht auf die räumliche Organisation der Identitätsprozesse in Szeneräumen zu werfen. Legitimation und räumliche Distanz Die zwei wichtigsten Eigenschaften des Frames einer linken Kneipe, wie sie auf der Grundlage der Interviewauswertung herausgearbeitet wurden, sind Offenheit und Geschlossenheit. Ich gehe daher im weiteren Verlauf von einer spezifischen interpretativen Offenheit/Geschlossenheit-Struktur eines Anschlussortes bzw. Wohnzimmers aus. Diese ist nicht gleichbedeutend mit der immer noch relevanten, sich mit der Industrialisierung und Urbanisierung durchsetzenden Struktur öffentlich/privat (vgl. Löw et al. 2007: 38). Im Rahmen einzelner Interviews scheint das Verhältnis beider Orientierungen paradox zu sein, wie oben dargestellt wurde. Ich schlage folgende Lösung vor: Es ist keine Paradoxie, sondern die Geschlossenheit ist viel-
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mehr eine Bedingung der Offenheit. Die Offenheit ist gemeint als eine Emergenz des Raums, sein nicht geplanter, sondern spontaner kommunikativer Charakter, die Offenheit für Kontakte, auch mit den „Neuen“, die noch nicht in die Szenestrukturen integriert sind. Diese kommunikative Offenheit erfordert allerdings, dass man sich auf die Anwesenden verlassen kann – in dem Sinne, dass eine solche Kommunikation mit ihnen auch möglich ist, dass man auf der gleichen Wellenlänge ist und gemeinsame Diskussionsbausteine hat (Themen, interpretative Rahmen und diskursive Praktiken). Hier trifft nicht das die Sicherheitspolitik kritisierende Motto „Freiheit stirbt mit Sicherheit“ zu; vielmehr kommt die Freiheit der ungezwungenen Kommunikation mit der Sicherheit, eine gemeinsame Kommunikationsebene auch tatsächlich zu haben. Dann kann eine Szenekneipe zu einem Treffpunkt, zu einer offenen Arena der kommunikativen Konstruktion eines „Wir“ werden. In einer Linke-Szene-Kneipe wird die für die Institution Kneipe charakteristische „merkwürdig ambivalente Schwebelage von Geschlossenheit und Offenheit“ (Dröge/Krämer-Badoni 1987: 292) auf eine besondere Art und Weise realisiert. Die gewisse Exklusivität der eigenen Identität und Diskurse wird von manchen Szeneakteuren kritisch reflektiert. Sie kann jedoch nur relational verstanden werden. Statt des unipolaren Konzepts der Exklusivität soll eher von der Distanz bzw. fehlender Kompatibilität verschiedener Diskursuniversen gesprochen werden. In der Praxis eines Kneipenabends heißt dies: Je kleiner die Schnittmenge der jeweiligen Diskurse, Identitäten und Interessen von potenziellen Gesprächspartnern ist, desto größer ist ihre gegenseitige Diskreditierbarkeit als seltsam oder langweilig. Das gemeinsame Terrain bleibt auf den Smalltalk beschränkt. Für die Produktion eines Wir-Gefühls reicht es nicht aus. Die „Neuen“, also Menschen, die keine Szene-Insiderinnen sind, aber ein Interesse an der Szene und ihrer Politik haben, können fehlende Kompetenzen und eine gewisse Inkompatibilität des Verhaltens durch Begeisterung und praktische Bereitschaft zum (zunächst verbalen) Radikalismus kompensieren. Auch ein junges Alter kann einen sichtbaren Mangel an Erfahrung in den Augen der anderen Anwesenden rechtfertigen, solange Loyalität auf eine andere Weise bekundet wird. Einen weiteren Aspekt der Erklärung bietet die Reichweite der vor Ort entstehenden bzw. reproduzierten Kontakte, die womöglich die Reichweite dieses Raums am konkreten Abend oder auch des institutionalisierten Raums einer Szenekneipe überschreiten und zur Mobilisierung zu weiteren
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Gelegenheiten des gemeinsamen Handelns führen (beispielsweise eine gemeinsame Fahrt zu einer Demonstration gegen Neonazis nach Hamburg bei Lisa). Die im vorherigen Abschnitt beschriebene Ästhetik der gepflegten Schmuddeligkeit und die anderen Wege der Gestaltung eines distinktionsfähigen Raums bewirken u.a. die Selektion des Publikums. Die Geschlossenheit ist seitens der Szenemitglieder keine bedauernswerte Qualität eines Szenetreffpunkts, sondern seine konstitutive Eigenschaft. In einem breiteren sozialräumlichen Kontext betrachtet, stehen Offenheit und Geschlossenheit in einem anderen Verhältnis zueinander. Die Offenheit eines Anschlussortes kompensiert die Geschlossenheit weiterer Räume der Szene bei der Mobilisierung neuer Teilnehmerinnen. Die Unterscheidung der Interpretationsschema Treffpunkt und Anschlussort ist hier relevant, genauso wie die praktische Unterscheidung in der Reputation und dem Publikum zwischen einzelnen Kneipen; nicht alle Szenekneipen werden in gleichem Maße von einem neuen und jungen Publikum frequentiert. Die Kneipen bieten, wie oben dargestellt, niedrigschwellige Kommunikationsangebote. In Bezug auf die Prozesse kollektiver Identität wird die Ambivalenz dieser Niedrigschwelligkeit deutlich. Am Anfang des Unterkapitels habe ich schon darauf hingewiesen, dass die Integration der Aussagen von Individuen und Gruppen als Teile der linksradikalen kollektiven Identität in der Szene angesichts der fehlenden zentralen legitimierenden Instanz auf gegenseitiger Kommunikation und Bestätigung basiert, die sich schon im Faktum der Bezugnahme bzw. des Zitierens äußert.29 Das ist sowohl für die individuelle Anerkennung und die sozialen Identitäten der jeweiligen Mitglieder als auch für die kollektive Wir-Definition relevant. Die Szenekneipen als institutionalisierte Strukturen unmittelbarer Interaktionen gehören zwar zur entsprechenden Infrastruktur, ihre Rolle sieht jedoch anders aus, als die Anschluss Suchenden erhoffen dürften. Die Kneipendiskussionen bzw. -Kommunikationen erlauben an sich ein recht niedriges Niveau der Zugehörigkeit. Die weiteren institutionalisierten Stätten der politischen Diskussion sind vor allem Gruppenplena, Veranstaltungen, Vernetzungs- und Kampagnentreffen. Ihr höheres Ansehen gegen-
29 Das erinnert an einen Mechanismus der Anerkennung von Zugehörigkeit zum Wissenschaftsbetrieb. Vgl. Lamont (1987) zur Legitimation von Theorien bzw. Schulen, bei der die Theorien und ihre Protagonisten zu einem Teil eines Feldes intellektueller Produktion werden.
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über den Kneipengesprächen und die entsprechend höheren Anerkennungsgewinne für die teilnehmenden Akteure und ihre Aussagen haben eine räumliche Komponente. Die Konstruktion der Zugehörigkeit hat mit räumlichen Bezügen auf etwas jenseits der jeweiligen Anwesenheit zu tun. Ein Akteur kann über ein Ereignis erzählen, das nicht Teil der Erzählsituation ist (wie ein Plenum, an dem er gerade teilgenommen hat), und es auf diese Weise mittelbar bzw. symbolisch in den jeweiligen konkreten Interaktionsraum hineintragen. So bietet sich auch denjenigen Menschen, die nicht dabei gewesen sind, die Möglichkeit der indirekten Teilhabe (und des entsprechenden Wissenszuwachses) über die gemeinsame Teilnahme am aktuellen Interaktionsraum. Diese Menschen schulden dem Erzähler etwas für seine Leistung, und die Schulden zahlen sie mit ihrer Anerkennung zurück, die das szenespezifische Wissen zum symbolischen Kapital werden lässt (vgl. den Ausdruck „Anerkennung zollen“).30 Die Hierarchien in der Szene haben viel mit solchem Erzählen-Über-Abwesendes zu tun. So, wie die zeitliche Distanz zwischen den Akten des Tausches konstituierend für die Gabe ist (Bourdieu 1987: 193), ist die räumliche Distanz konstituierend für die Anerkennung. Die Anerkennung eines jeweiligen Treffens braucht vor allem einen Außenstehenden – ein Individuum, das nicht dabei gewesen ist; dieses soll deswegen auch draußen bleiben. Allerdings bekommt es dafür nicht die gleiche Anerkennung. Auch in der Szene sind Hierarchien nur relational zu denken; die asymmetrische Abhängigkeit basiert auf einem Verhältnis und nicht auf einer nur von einem Pol ausgehenden Kraft. Ein Zitat aus dem Interview mit Eva illustriert diese These hervorragend, deswegen führe ich es in der gesamten Länge an. 31
30 Weiterhin erhalten sie mit dem Wissen die Möglichkeit, sich in späteren Interaktionen selbst als kompetente Akteure, die die anderen am eigenen Wissen teilhaben lassen, zu positionieren. Vgl. im Interview mit Eva: „Es ist so schön an so einem Hausprojekt, dass man halt noch ähm (.) gar nicht so selber so viel Politik wirklich machen muss, immer, sondern_ trotzdem noch was von_ anderen Gruppen auch noch mitkriegt. Oder von Veranstaltungen, oder irgendwelchen Aktionen. Das spricht sich dann halt rum. Es ist dann noch_ also man muss einfach sich mehr anstrengen irgendwie, up to date zu sein, wenn man halt alleine wohnt, oder_ nicht in so einem Hausprojekt.“ 31 Auch hier wird, wie in dem längeren Zitat aus dem Interview mit Nina, die Nummerierung zur besseren Übersichtlichkeit beibehalten.
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[268] Tanja: Gab’s eigentlich in der_ zum Beispiel in dieser Groß-WG, in der XY,
Diskussionen, wo es diese politische_ Art, Politik zu machen, eben dem_ Alltag entgegengesetzt wurde? [269] Eva:
Ja, schon. Also wir hatten schon auch so_ Checker und Checkerinnen, die halt_ phasenweise superviel Politik gemacht ham, und die dafür einfach nicht einkaufen waren, und kein Haushalt gemacht haben, und sonst_ sich am Haus auch phasenweise nicht beteiligt haben (.) Und es war schon böse, weil sie immer gesagt haben, Ja, aber ich mach doch gerade ne ganz wichtige Arbeit, so(?) Und_ wir oder andere auch gesagt haben, Ja Momentchen! aber es gibt auch andere wichtige Arbeit, und_ es geht nicht, dass es irgendwie_ über richtig längere Zeiträume irgendwie_ andere es mit_ tragen müssen, die auch noch andere Sachen machen_ möchten. Oder die dann selber überhaupt nicht dazu kommen, eigene Sachen noch mal zu machen. (.) Ne, das schon.
[270] Tanja: Und waren dabei auch_ ähm (.) sagen wir mal_ Hierarchien im Spiel? [271] Eva:
Ja, klar. Weil ja natürlich trotzdem die, die was viel machen, in der Gruppe viel höher angesehen sind, als die die halt_ ähm viel da sind und im Haushalt was machen, natürlich haben sie auch einen ganz anderen Stellenwert darin.
[272] Tanja: Auch innerhalb der Gruppe? [273] Eva:
Auch innerhalb der Gruppe. Ja.
[274] Tanja: Wie soll das eigentlich funktionieren? (.) Ich meine, wenn ähm_ wenn
auch die anderen Leute, die eben sich mehr_ auf das Haus konzentrieren, warum sollen sie denn diese andere politische Arbeit außerhalb des Hauses so viel höher bewerten, als ihre eigene Sache, was sie selbst machen? Ist das nicht so ein bisschen Selbstkonflikt? [275] Eva:
Ne, also ich meine, mit_ im Haus machen heißt irgendwie rumbauen, und_ //Also// (Tanja: //Ja-ja//) richtig dieses, dieses Ganze. Aber man hat da einfach nicht so viel zu erzählen als welche, die halt immer frisch von diesen Veranstaltungen kommen, und aus der Gruppe kommen, und vom Vernetzungstreffen, oder was weiß ich wo die wieder waren! Sie nehmen dann ganz anderen Raum gleich ein, mit ihren Geschichten. Es ist natürlich viel spannender, als wenn jemand irgendwie erzählt, Na ja, ich_ hab jetzt irgendwo eine Wand hochgezogen [☺ lacht]
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In dieser Sequenz wird das Thema der Anerkennung „politischer“ und anderer Arbeit und der Hierarchien im konkreten Falle einer großen Wohngruppe in einem Hausprojekt behandelt.32 Die Tatsache, dass diejenigen, die viel außerhalb der Gruppe aktiv sind, in der Gruppe „viel höher angesehen sind“, sei „natürlich“ – diese mehrfache Charakterisierung (271, 275) weist auf den etablierten Charakter der Anerkennungshierarchien in der Szene hin. Das Wort „trotzdem“ (271) bezieht sich auf die damalige Problematisierung der Hierarchien in der Gruppe durch Eva und andere Nicht„Checkerinnen“ (269), die an dieser Ordnung anscheinend nicht ernsthaft rütteln konnten. Auch Eva charakterisiert sie als „natürlich“. Die Interviewerin problematisiert konfrontativ die Natürlichkeit dieser Dominanzverhältnisse (274). Eva wertet daraufhin ihre eigene Arbeit im Haus in Bezug auf die Interaktion mit der Interviewerin auf („im Haus“ meint nicht nur den Haushalt, sondern auch die umfangreichen Umbaumaßnahmen, 275). Aber „man hat da einfach nicht so viel zu erzählen“ (275) – das Erzählen über das Erlebte produziert einen entscheidenden Unterschied zwischen den Checkern und Checkerinnen und den anderen. Diese kritische Reflexion richtet sich weiter auf das Redeverhalten und die Redekompetenzen von denjenigen, die sofort einen „ganz anderen Raum“ (275) einnehmen.33
32 Die Frage nach der möglichen Entgegensetzung von „politischer Arbeit, die zählt“ und „Alltag“ orientierte sich an dem Gegensatz, den ich ursprünglich aus dem Interview mit Simone rekonstruiert habe („ABC“ war ihr Hausprojekt): „Teilweise hab ich das einfach auch gemerkt, gerade jetzt in ABC, von bestimmten Leuten, die dann sagen, Ne, wir wollen hier nur die Leute haben, die da politische Arbeit leisten, so – ja(?) (Tanja: uchm) Und zum Beispiel, wenn man sich einfach zwischenmenschlich engagiert, oder auch guckt, was läuft zu Hause, und Hör mal, das find ich nicht gut! das wird dann halt als spießig, oder blöd abgetan, oder als_ häuslich, so, ja(?) Und aber halt nur politische Arbeit, die gilt.“ 33 Vgl. zur Bedeutung von inkorporierten Handlungsdispositionen bei Bourdieu: „Das eigene Verhältnis zur sozialen Welt und der Stellenwert, den man sich in ihr zuschreibt, kommt niemals klarer zur Darstellung als darüber, in welchem Ausmaß man sich berechtigt fühlt, Raum und Zeit des anderen zu okkupieren.“ (Bourdieu 1999: 739) In Unterkapitel 5.1 wird das Haltungsschema eines prototypischen (Antifa-)Checkers auf der Grundlage der Beobachtung dargestellt.
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Es sind schon über_ sowas wie Redegewandtheit natürlich auch Hierarchien. Aber es hat sich eher auch schon so getroffen, dass natürlich die wie gesagt, die viel gemacht haben, auch eher so rhetorisch auch fitter drauf waren.
Wo Eva allerdings anhält und die Analyse einen Schritt weiter gehen sollte, ist die Frage, wieso die Veranstaltungen, Vernetzungstreffen und Gruppenplena „natürlich viel spannender“ als eine Erzählung über die Wände des gemeinsamen Hauses sind. Immerhin ging es dabei um eine starke Veränderung der internen Wohnstruktur, so dass statt eines Großraum-Schlafzimmers nach und nach Privatzimmer geschaffen wurden (wie an einer anderen Stelle des Interviews dargestellt wird). Was spannend ist und was nicht, ist nicht „natürlich“, sondern durch die hierarchische Logik der Szene definiert, die auch von der kritisch denkenden Eva verinnerlicht bleibt. Die illusio des Feldes als das grundlegende „Glauben an den Sinn des Spiels und den Wert dessen, was auf dem Spiel steht“ (Bourdieu 2001: 19f.) ist für diejenigen, deren Handlungsdispositionen sich in diesem Feld entwickelt haben, nicht so einfach zu überwinden; dies werde ich im Resümee der Studie noch einmal diskutieren. Diese Überlegungen liefern interessante Parallelen zur sozialräumlichen Ungleichheit zwischen Frauen und Männern in bürgerlichen Schichten in der Moderne. Für meine Forschung sind allerdings andere Aspekte wichtiger: erstens die Rolle der räumlichen Abwesenheit für die Anerkennung; zweitens die Unterscheidung in erzählwürdige (spannende) und unwichtige Themen. Am Anfang des Buches wurde in Anlehnung an die Bewegungssoziologie und das Szenekonzept die These formuliert, dass Prozesse kollektiver Identität vor allem im Alltagsleben der Akteure stattfinden. Aus der empirischen Forschung wird dennoch klar, dass nicht alle Alltagsaktivitäten den gleichen Stellenwert haben und dass in der Szene entsprechende Hierarchien bestehen. Die explizite Diskursproduktion (Texte, Veranstaltungen, Diskussionen) bildet einen Teil des Alltags. Wer die kollektive Identität, den Charakter des „Wir“, stärker diskursiv definiert, bekommt von anderen Menschen, die den Anspruch teilen, zu diesem kollektiven Handlungszusammenhang zu gehören, mehr Anerkennung. Trotzdem ist es kein meritokratisches Modell, da die Ungleichheit nicht seine Folge, sondern die Voraussetzung seiner (Re-)Produktion ist. Dies wird von der Logik der Identitätsproduktion vertuscht: Das „kollektive Unternehmen der Bildung symbolischen Kapitals“ kann nur gelingen, „wenn unerkannt
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bleibt, wie die Logik des Feldes überhaupt funktioniert“ (Bourdieu 1987: 125). Von eindeutig politischen Aktivitäten kann man demnach auch in der Kneipe erzählen; von Kneipendiskussionen im Kontext politischer Aktivitäten zu erzählen „tut man nicht“ (bzw. nicht mit dem Hinweis, dass sie in der Kneipe stattfanden). Die Räume der konvertierbaren und damit auch erzählwürdigen Diskussionen sind für Neuankömmlinge zunächst geschlossen. Das passiert nicht durch umgebende hohe Mauern, sondern eher durch das nicht allen zugängliche Wissen, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem bestimmten Ort gehen kann, um eine konkrete Person bzw. einen Personenkreis anzutreffen oder dass das Plenum einer bestimmten Gruppe dann dort stattfindet. Es gibt neben den sichtbaren und zugänglichen Räumen der Treffpunkte auch andere, gleichwohl institutionalisierte Räume der linken Szene, die in einem bestimmten Rhythmus an einigen Orten konstituiert werden, aber nicht von außen, ohne ein bestimmtes kulturelles und soziales Kapital, in Anspruch genommen werden können. Diese Rhythmen sind komplex, und es gibt nicht die definitive Grenze oder den absoluten, privilegierten Sichtpunkt, nach deren Überschreiten bzw. Betreten ein Akteur den allgemeinen Durchblick erlangt hat. Die Unsichtbarkeit der Räume ist ein Teil der Unsichtbarkeit der Szenestrukturen. Petra reflektierte das im Interview: Tanja:
Ähm_ was für mich eigentlich interessant ist_ Was an diesen Hausgemeinschaften oder beziehungsweise an deren Rolle an der Szene ist halt damit verbunden, mit ihrer Geschichte, mit diesen Besetzungen an sich? Weil es für mich einfach unklar ist, ob es da Verbindungen gibt.
Petra:
Tja, dass die Leute sich kennen.
Tanja:
OK! [verwundert]
Petra:
Ja? Weil das soziale Gefecht, Geflecht ist einfach vorhanden, und das soziale Geflecht hält auch Einiges aus. Und ermöglicht auch manchmal spontane Solidarität (?) Und für neue Leute ist es halt schwierig da reinzukommen, oder für Jüngere. Das ist das Problem. Das ist unser Generationen-Problem, was wir auch hier haben. Weil sie sagen, für sie ist es undurchsichtig, wie das läuft. Das ist ja nicht_ institutionalisiert, oder offen, sondern eben durch_ weil du dich Jahre, jahrzehntelang kennst und gibt’s dann so’ne selbstverständliche Zusammenarbeit, oder Solidarität, oder wie auch immer. Aber es ist nix ausgesprochenes, was du
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auch nicht einklagen kannst, oder einfordern kannst. Ja? Also das heißt, es existiert.
Die Belastbarkeit sozialer Beziehungen unter den Autonomen basiert, so Petra, auf geteilten Erfahrungen der Teilnahme an einer Bewegung bzw. auf langjährigen persönlichen Bekanntschaften. Im Kapitel zum „Umkämpften Raum einer linken Kneipe“ habe ich auf Grundlage der teilnehmenden Beobachtung während einer Räumung die Erschaffung des Vertrauens unter den Teilnehmerinnen einer risikoreichen kollektiven Aktion analysiert. Das Gefühl des Vertrauens stellt demnach eine postfaktische Rationalisierung der geteilten Erfahrung dar. Dies hilft, den zitierten Abschnitt aus dem Interview zu verstehen: Es ist so schwer für neue bzw. jüngere Menschen, weil sie nicht den Erfahrungsraum der früheren Autonomen teilen – deswegen können sie das Vertrauen zu ihnen nur langsam aufbauen. Petra definiert das Problem, das diese Wahrnehmung hervorruft: Es gibt nichts, was gesehen werden kann. Das soziale Netzwerk existiert, aber nicht in einer offenen, klaren Form, sondern basierend auf der Selbstverständlichkeit der Beziehungen. Auch wenn die Erfahrungen sich unter verschiedenen Generationen unterscheiden, werden ähnliche Erlebnisse zu einer Vertrauensgrundlage, die die Grenzen von kleinen Bezugsgruppen überschreitet. Aufgrund der Geschlossenheit (die eher als Unzugänglichkeit interpretiert werden muss) können die meisten Szeneräume die Aufgabe der Rekrutierung neuer Mitglieder nicht lösen. Der Rückgriff auf einen oder eher mehrere Türöffner ist deswegen eine verbreitete Strategie.34 In den Interviews mit Eva, Ernie, Karl, Lisa, Michael und Nina spielt die TüröffnerFigur eine bedeutsame Rolle in der erzählenden oder beschreibenden Darstellung der Entwicklung eigener sozialen Beziehungen in der Szene. Ich zitiere ein Beispiel aus dem Interview mit Michael, in dem die Hilfe von Türöffnern als ein üblicher Mechanismus beschrieben und zugleich die eigene Karriere normalisiert wird:35
34 Eine alternative Strategie, die allerdings nur größeren und schon organisierten Gruppen zu Verfügung steht, ist das Wechseln in die linke Szene als Gruppe. 35 Direkt zuvor beschreibt Michael die Strukturen der „stadtzentrierten“ linken Szene Mitte der 1990er Jahre und erwähnt persönliches Vertrauen als ihr Organisationsmoment. Diese Szene ist für ihn die zweite, da er sich davor schon an
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Tanja:
Und wie war es bei dir, mit dem Vertrauen, das so für den Einstieg in die zweite Szene nötig war?
Michael: Das lief auch häufig über Leute, die_ ich dann schon länger kannte, und_ äh worüber ich dann andere Leute kennengelernt habe. (P) Bei manchen hat es dann auch ziemlich lange gedauert, aber bei einigen war es dann auch so der übliche Türöffner. Das war dann auch so, der hat mich dem noch vorgestellt, so nebenbei, in der Kneipe. Dann kannte man sich langsam so.
Die Eingliederung in die Szenenetzwerke war kein einmaliges Geschehen, sondern passierte langsam, in mehreren Schritten, indem Michael immer wieder neue Leute kennen lernte. Der Vertrauensvorschuss eines Türöffners setzt eine längere Bekanntschaft mit dem „Schützling“ voraus, gleichgültig, ob diese privater Natur ist oder auf eine gemeinsame Arbeit in einem Zusammenhang zurückgeht. Die Übereinstimmung der Darstellungen in mehreren Interviews deutet darauf hin, dass sie ein strukturelles Element dieses Mechanismus ist. Das soziale Kapital des Empfehlenden darf nicht durch eine unachtsame Empfehlung einer unwürdigen Person beschädigt werden. Falls diese Strategie funktioniert, gehört die Person ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Kreis von Insidern der Szene – man kennt sich. Gerade die linken Szeneläden bieten ein gutes Forum für solche spontanen, flüchtigen, aber für die Eingliederung sehr wichtigen Bekanntschaften. Die Szeneläden als offene Treffpunkte bieten zum Ausgleich der relativen Geschlossenheit bzw. Unzugänglichkeit der meisten weiteren Szeneräume nicht nur Möglichkeiten der spontanen Kommunikation für die Insiderinnen, sondern locken auch die Neuen mit der möglichen Zugehörigkeit, wenn auch diese erst durch weitere Investitionen ausgebaut werden muss. Fazit Das Interview mit Nina bot einen prototypischen Fall für die Analyse der Interpretationen eines Linke-Szene-Treffpunkts auf der Grundlage der Interviews: Angesichts der Bedeutung der linken Szene für die Konstruktion
den Studentenprotesten Mitte der 1990er Jahre beteiligte und in den entsprechenden auf die Universität fokussierten Zusammenhängen aktiv war.
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von Ninas narrativer Identität wurde der Anschluss an die Berliner Szene von ihr detailliert dargestellt. Das trifft speziell auf die Rolle und die Eigenschaften eines Cafés bzw. einer Kneipe zu. Die rekonstruierte Kategorie Anschlussort ließ sich auch für einige andere Interviews fruchtbar einsetzen, die sich sowohl auf die 1990er Jahre als auch auf spätere Zeiten bezogen, auch wenn die Interviewten unterschiedliche Läden nannten. Demnach kann die Existenz des Frames Anschlussort angenommen werden. Eine linke Szenekneipe hat mehrere prägende Qualitäten: Es ist ein offener, kommunikationsreicher, emergenter Raum. Während Anschlussort sich auf die Rolle der Szenekneipe in der Integration der interessierten Individuen in Szenestrukturen bezieht, betrifft Treffpunkt bzw. Wohnzimmer ihre Funktion für die etablierten Szenegängerinnen. Auch in diesem Deutungsmuster ist die Offenheit des Raums zentral. Das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit in Anschlussortoder Treffpunkt-Frames soll nicht als Gegensatz begriffen werden. Ich sehe die Geschlossenheit gegenüber „Fremden“ als eine Bedingung der offenen und risiko-, weil diskreditierungsarmen Kommunikation unter anwesenden Szeneangehörigen. Nur so kann eine Linke-Szene-Kneipe ihre Rolle als niedrigschwelliges Angebot in der Mobilisierung neuer Szeneanhängerinnen spielen, die Enthusiasmus für Politik mitbringen und die praktische Bereitschaft zeigen, sich die diskursiven Praktiken und die geteilten Handlungs- und Erlebensmodi insgesamt anzueignen. Das bedeutet, dass die Neulinge ihr „Eintrittsgeld“ mit unzähligen Akten des Anerkennens bezahlen (Bourdieu 1987: 124f.). Die Reichweite der Kneipenkommunikation für die Konstruktion kollektiver Identität und für die Legitimation der Individuen als Szeneangehörige ist beschränkt. Das hängt mit den räumlich organisierten, hierarchischen Aspekten der Kommunikationsstrukturen in der linken Szene zusammen. Die Produktion des symbolischen Kapitals setzt die räumliche Exklusion derjenigen voraus, die später ihre Anerkennung den kompetenten Akteuren entgegenbringen sollen. Vor diesem Hintergrund bieten Szeneläden einen fruchtbaren Ausgleich zur Unzugänglichkeit weiterer Diskussionsräume der linken Szene.
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5.3 ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN In diesem Kapitel wurde untersucht, wie die institutionalisierten Räume einer Kneipe der linken Szene als Ressourcen der kollektiven Identität funktionieren. Es wurde klar, dass sie einen Teil der Mechanismen ausmachen, durch die auch die individuellen sozialen Identitäten der Szeneangehörigen produziert werden. Unter Verwendung des Begriffs des sozialen Geschehens konnte gezeigt werden, dass die Räume eines Kneipenabends Bedeutungen tragen, die in Szenediskursen mit der „radikalen Linken“ als einer spezifischen Kollektivität verbunden werden. Dazu gehören zunächst relativ stabile Elemente räumlicher Anordnungen wie politische Plakate oder Einrichtungsgegenstände, die von der Ästhetik der gepflegten Schmuddeligkeit geprägt sind. Diese Ästhetik hat ein diskursives Pendant und muss relational als eine Distinktionsstrategie gegenüber „Yuppies“ interpretiert werden. Auch die Interaktionen unter den Anwesenden in der Szenekneipe sind raumwirksam, die etablierten Verhaltens- und Bewegungsmuster haben Spacing- und Synthese-Aspekte. Die Akteure konstituieren einen kommunikationsintensiven und flexiblen Raum, der sich radikal von einem am selben Ort institutionalisierten, jedoch zeitlich getrennten Raum eines Kollektivplenums unterscheidet. Insgesamt können die räumlichen Anordnungen im Rahmen eines Kneipenabends seinen objektivierten „linken“ Charakter prägen. Auf diese Weise verleihen sie den alltäglichen und nicht eindeutig als politisch interpretierbaren Aktivitäten ein Identifikationspotenzial in Bezug auf die radikale Linke oder die „Häuserszene“. Die auf der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung ausgearbeitete Homogenität des Publikums als Element des sozialen Geschehens Abend in der Linke-Szene-Kneipe korrespondiert mit der Geschlossenheit als Element des Frames Anschlussort, das mit Hilfe der Analyse der leitfadengestützten Interviews rekonstruiert wurde. Die Geschlossenheit gegenüber Fremden widerspricht zwar der positiven diskursiven Orientierung auf die Vielfalt u.a. in antirassistischen oder antisexistischen Diskussionen. Die Homogenität der Anwesenden entfaltet dennoch eine eigene normative Wirkung auf der Ebene der öffentlichen Ordnung, indem sie zu einem typischen Teil des sozialen Geschehens wird. Zugleich ermöglicht gerade die Geschlossenheit bzw. Homogenität, so meine These, eine Offenheit unter den Anwesenden. Sie haben eine bestimmte Ebene der sichtbaren Gemeinsamkeit, die eine offene und risikoarme Kommunikation unter ihnen mög-
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lich macht. So können Szenekneipen eine Arena für das Aushandeln der geteilten Denk- und Handlungsmuster bieten. Gerade für Menschen am Rande der Szene, die noch keinen Anschluss an die weiteren institutionalisierten Szeneräume gefunden haben, sind solche Lokale wichtig, obwohl die an Kneipenabenden angeeigneten Identitätsbausteine zusätzlicher Investitionen in die Anerkennung durch andere, etablierte Szenemitglieder bedürfen. Auch für die Etablierten sind Szeneläden mit ihrer spezifischen Offenheit/Geschlossenheit-Struktur als Treffpunkte für die Aktualisierung sozialer Beziehungen in Szenenetzwerken bedeutsam. An richtigen Treffpunkten soll eine Bilanz aus Spaß und Politik erreicht werden – eine Bilanz, die auf einer anderen Ebene vom Kollektiv der untersuchten Szenekneipe „Stube“ angestrebt wurde und die mit den symbolischen Grundlagen der linksradikalen Wir-Identität korrespondiert, in der Spaß haben als Orientierung auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse beim Politik machen einen Distinktionsmechanismus gegenüber „orthodoxen“ linksradikalen Organisationsformen bildet.
6. „Wir“ gegen „Sie“: Symbolische Räume der linken Szene
Die ersten beiden Kapitel des empirischen Teils waren dem sozialräumlichen Phänomen eines Ladens der linken Szene gewidmet. Räume dieser Art dienen nicht nur als Kontexte oder „Stätten“ der Identitätsproduktion, sondern werden selbst in die Prozesse der kollektiven Sinnkonstitution und speziell der Konstitution der geteilten Wir-Definitionen mit einbezogen. Der letztgenannte Aspekt soll hier weiter entwickelt werden, allerdings ohne Festlegung auf konkrete „feste“ räumliche Formen in der Art eines Haus- oder Kulturprojekts. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass auf der einen Seite die einzelnen kognitiven und emotionalen Elemente linksradikaler kollektiver Identität in der Szenepraxis „verräumlicht“ werden. Das bedeutet, dass sie mit bestimmten materiell-physischen Objekten verbunden und in die Produktion von Räumen verschiedener Größenordnungen einbezogen werden. Auf der anderen Seite unterstützen und beeinflussen die räumlichen Strukturmomente die Reproduktion und Transformation dieser Elemente. Die Aufmerksamkeit wird von der Interpretation kollektiver Identität geleitet und auf die Bilder der Wir-Gruppe, die stets in Relation zu vermeintlichen Antagonisten und Außenstehenden definiert wird, und auf bestimmte Vorstellungen von Zielen und Formen des kollektiven Handelns fokussiert. Zunächst gehe ich auf die Freiraum-Diskurse ein, die in Teilen der linken Szene gepflegt werden. Dabei greife ich auf die Unterscheidung zwischen den Konzepten des Behälter-Raums und des relationalen Raums zurück, die im zweiten Kapitel in Anlehnung an Einstein (1980) und Läpple (1991a) gemacht wurde. Auf Grundlage der Analyse von Mobilisierungs-
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texten wird gezeigt, dass „Freiräume“ in der linken Szene zum Teil als eine Art „Behälter“ interpretiert werden. Die Bedeutungen dieses Frames sind jedoch, wie ich zeigen werde, wesentlich facettenreicher und werden zu Räumen verschiedener Größenordnungen in Bezug gesetzt. Die analysierten Texte stammen aus dem Konflikt um ein Hausprojekt, welcher schon oben auf Grundlage der beobachtenden Teilnahme thematisiert wurde. Diese methodische Triangulation erlaubt, die Perspektive auf die Räume der linken Szene zu erweitern und die Prozesse der Sinnkonstitution anhand der Texte zusätzlich zu den alltäglichen Interaktionen zu untersuchen. Im zweiten Unterkapitel befasse ich mich damit, wie die institutionalisierten räumlichen Anordnungen im Rahmen einzelner kollektiver Aktionen mobilisiert und reproduziert werden. Sie werden zu Ressourcen der Konstruktion von episodischen politischen Räumen an wechselnden Orten, beispielsweise bei Demonstrationen. Die demonstrativen Aktionen erschöpfen keineswegs das Repertoire des kollektiven Handelns der linken Szene, das mitunter militante Aktionen umfasst – wie beispielsweise das Zerschlagen von Bankenschaufenstern, Farbbeutelwürfe auf Institutionen wie Arbeitsagenturen, das Beschädigen von Fahrkartenautomaten der Verkehrsbetriebe oder das Anzünden von (normativ) teuren Autos. Um das durch diese Aufzählung evozierte Bild auszugleichen, müssen jedoch auch gewaltfreie Aktivitäten genannt werden. Dazu gehören das Produzieren und Verbreiten von Flugblättern, Aufrufen, sonstigen Publikationen und „Soli-CDs“, das Plakatieren und Sprühen von Parolen, die Vorbereitung und Durchführung von Informationsveranstaltungen, Konferenzen, „Solipartys“, Aktionstrainings und Demonstrationen, die Teilnahme an solchen Veranstaltungen, die Teilnahme an Gruppen- und Projektplena sowie an gruppenübergreifenden Diskussionen, nicht-formalisierte Treffen mit „Genossinnen und Genossen“ etc. Auch wenn manche der genannten Handlungen (Sprühen und Plakatieren) als Sachbeschädigung inkriminierbar sind und staatlich verfolgt werden können, würde „keine Aktivistin und keiner Aktivist“ (Haunss 2004: 171) sie als militante Aktionen bezeichnen, sondern als gängige Formen der politischen Kommunikation auffassen (vgl. Schultze/Gross 1997: 39). Die Einprägsamkeit des Bildes der „gewaltbereiten Autonomen“ (seit einigen Jahren auch „Linksautonomen“) ist vor allem durch seine Eignung als Projektions- bzw. Aussonderungsfläche bürgerlicher Identität zu erklären, wie weiter unten argumentiert wird. Auch in Debatten der linken Szene kommt der Militanz eine große Rolle in der Identitätsstiftung zu (eine de-
„W IR “
GEGEN
„SIE “
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taillierte Analyse bietet Haunss 2004: 169ff.). Bei der Untersuchung der räumlichen Organisation kollektiver Identität hielt ich die methodische Herangehensweise der teilnehmenden Beobachtung für unerlässlich. Die von Szeneangehörigen selbst als militant definierten Aktionen schieden für mich als mögliche Beobachtungsfelder aus. Deswegen wählte ich exemplarisch die räumliche Organisation der Aktionsform Demonstration als Gegenstand einer genaueren Analyse. Sie nimmt einen wesentlichen Platz im Repertoire der radikalen Linken ein und ist gut zu beobachten. Im Hinblick auf das Ziel, das Forschungskonzept zur räumlichen Organisation kollektiver Identität am konkreten Fallbeispiel zu überprüfen, ist diese Fokussierung berechtigt.
6.1 „F REIRÄUME “
ALS
F REIHEITSBEHÄLTER ?
Die Freiräume-Diskurse der linken Szene wurden schon am Ende des ersten Kapitels mit einem Zitat aus einem Demonstrationsaufruf angesprochen: „Wir brauchen Räume, die ein herrschaftsfreies Leben zumindest vorstellbar machen.“ („keine ruhe für [die] mitte“-Demonstration, Februar 2003) Auch in der Bewegungsforschung wurde der Begriff „Freiräume“ in verschiedenen Varianten aktiv genutzt, allerdings eher metaphorisch, ohne konsistent definiert zu werden. Die plastische Darstellung ging damit auf Kosten der Erklärungskraft (Poletta 1999). Die räumlichen Aspekte der Freiräume wurden überwiegend beiläufig behandelt, auch wenn die Autoren damit u.a. Treffpunkte, Buchläden, Cafés u.Ä. meinten (Tilly 2000, Sewell 2001). So bezeichnen Evans und Boyte in ihrem breit rezipierten Werk „Free Spaces“ die Freiräume zwar als environments und weisen sowohl auf ihre subjektive als auch auf die physische Dimension hin (Evans/ Boyte 1986: 18). Dennoch beachten sie bei ihren weiteren Überlegungen kaum die räumliche Komponente entsprechender Institutionen. Dabei hat beispielsweise die Schutzfunktion der „sicheren Räume“ (safe spaces), wie Tilly (2000: 144f.) bemerkt, einen klaren räumlichen Charakter: Es geht um das Nutzen oder Erschaffen von Lücken in Kontrollund Machtsystemen, die in modernen Gesellschaften größtenteils territorial organisiert sind. Gerade deswegen sind die vor Einmischung – sei es durch Machtinstitutionen oder Antagonisten – zu einem bestimmten Grad sicheren Räume in ihren vielfältigen Formen, so Tilly, unerlässlich für die Ent-
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wicklung von Protestzusammenhängen.1 Francesca Poletta (1999: 12) ist Recht zu geben, wenn sie konstatiert, dass die sozialen Beziehungen für die Mobilisierungsdynamik wichtiger sind als ihre materiellen Schauplätze. Die gesellschaftlichen Räume beinhalten allerdings viel mehr als ihre physische Komponente. Das jeweils spezifische Zusammenspiel von physischmateriellen, symbolischen und praktisch-institutionellen Elementen in der Praxis der Bewegungsakteure spielt, so meine Annahme, eine wichtige Rolle in der Mobilisierung. Dementsprechend ist ein triangulatives Vorgehen erforderlich, bei dem sowohl die verräumlichten Praktiken der Akteure als auch die abstrakten und kognitiven Prozesse der Sinnkonstitution mit Hilfe entsprechender Methoden analysiert werden. Die Kategorie „Freiräume“ wird hier nicht als ein analytischer, sozialwissenschaftlicher Begriff zur Bezeichnung einer räumlichen Bewegungsinstitution angewandt. Stattdessen sollen damit die entsprechenden, kognitiven und emotionalen Konstrukte von Akteuren der linken Szene bezeichnet werden. Mit anderen Worten: Es handelt sich nicht um die „Freiräume“ der linken Szene, sondern um ihre Freiräume-Diskurse – um die interpretativen Strukturen also, die von Bewegungsakteuren in ihrer Praxis genutzt, transformiert und reproduziert werden. Bisher habe ich mich auf Grundlage der Interviews und der Beobachtungsdaten mit der Linke-Szene-Kneipe als einer sozial-räumlichen Institution beschäftigt, die nach dem Verständnis der Szeneakteure zu den „Freiräumen“ gehört. In diesem Abschnitt soll es dagegen um die Freiräume-Diskurse gehen, die keine Abbildung der Bewegungspraxis, sondern ihren Bestandteil darstellen. Auswertung Im Kapitel zum „Umkämpften Raum einer linken Kneipe“ habe ich mich bereits mit dem Konflikt zwischen dem Hausprojekt, in dessen Räumen sich das Kulturprojekt „Stube“ befand, und dem Eigentümer des Hauses befasst. Die Konstitution einer Szenekneipe und des „Wir“ des Kollektivs bzw. des linksradikalen „Wir“ wurden auf Grundlage der Ergebnisse der beobachtenden Teilnahme untersucht. Die Prozesse der Sinnkonstitution und des Aushandelns der Gemeinschaft in der linken Szene sollen dabei nicht auf rein diskursive Prozesse reduziert werden; die Forschung muss die
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Tilly spricht mit safe spaces jedoch nur einen Aspekt der „Freiräume“ an.
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Praktiken der Akteure und ihre konkreten Interaktionen beachten, u.a. in deren raumrelevanten Aspekten. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Analyse von Bewegungstexten obsolet wäre. Sie stellen einen Teil der Bewegungsdiskussion dar, in der das geteilte „Wir“ von den Akteuren, die Texte verfassen, lesen oder diskutieren, produziert wird. Deswegen werde ich mich mit den Texten befassen, die im Zusammenhang mit dem genannten Konflikt von Szeneakteuren produzierten wurden. Dazu gehören Mobilisierungstexte, etwa Demonstrationsaufrufe und weitere Flugblätter, sowie Flyer, Aufkleber und Plakate. Sie wurden größtenteils vom Hausprojekt oder auch von mehreren Projekten bzw. ihren Kooperationen wie dem „Projekten- und Initiativen-Rat“ (PiRat) produziert. Es handelt sich um Texte, die in Papierform an den einschlägigen Treffpunkten der linken Szene (Infoläden, Projekträume, Lokale) ausgelegt oder auf Internetseiten des Haus- oder des Kulturprojekts bzw. in ihrem Namen auf anderen elektronischen Plattformen veröffentlicht wurden. Während bei der erstgenannten Kategorie die Textkomponente quantitativ überwiegt und eher von Bildern begleitet wird, nehmen die Grafiken bei der zweiten Gruppe die größte Fläche ein, so dass diese als Gesamtwerke zu analysieren wären. Ich konzentriere meine Analyse allerdings auf die text-dominierten Beiträge, da ihre Aussagen für gewöhnlich inhaltlich differenzierter und umfangreicher sind. Unter Rückgriff auf den Framing-Ansatz der Bewegungsforschung und auf die Techniken der Diskursanalyse untersuche ich, welche symbolischen Räume konstruiert werden und auf welche Raumkonzepte sie sich, implizit oder explizit, beziehen. Der Framing-Ansatz wurde ursprünglich für die Analyse diskursiver Mechanismen der Mobilisierung entwickelt, was auch der Ausrichtung der von mir analysierten Texte entspricht (u.a. Snow et al. 1986). Die Texte können jedoch unterschiedlich, auch auf eine von den Autorinnen nicht intendierte Weise gelesen werden, was bei der Auswertung berücksichtigt werden musste. Ich untersuche in dieser Studie die einzelnen diskursiven Elemente kollektiver Identität, die Ziele, Mittel und Kontexte des kollektiven Handelns betreffen, mit Hilfe des FramingAnsatzes. Auch die Mobilisierungstexte wie beispielsweise Demonstrationsaufrufe können im Hinblick auf die geteilte Wir-Definition untersucht werden. Die Grundlage der Analyse bilden 37 Texte aus dem Zeitraum vom Juli 2001 bis zum Juni 2003, die Bezug auf den Konflikt um das genannte Hausprojekt nehmen: Aufrufe zur Unterstützung des Projekts bzw. der Pro-
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jekte, Flugblätter zu Demonstrationen oder zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen, Pressemitteilungen etc. Aus Gründen der Anonymisierung werden beim Zitieren keine Überschriften wiedergegeben. Der Konflikt mit dem Hauseigentümer ging in die offene Phase, als ein einberufener Runder Tisch im Abgeordnetenhaus von Berlin scheiterte. Die Situation spitzte sich weiter zu, nachdem das Landgericht Berlin die Klage abgewiesen hatte, mit der das Hausprojekt den Abschluss eines neuen Rahmenmietvertrags für das ganze Projekt (anstatt einzelner Mietverträge) mit dem Eigentümer erstreiten wollte. Vor dem Amtsgericht gewann der Eigentümer gleichzeitig Räumungsklagen für einen Teil der Räumlichkeiten im Haus. Daraufhin fing das Hausprojekt an, offensiver für Unterstützung zu mobilisieren. Entsprechend der Definition der kollektiven Identität wurden folgende Dimensionen zur Fokussierung der Analyse verwendet: • Akteure: Protagonisten/Antagonisten/Publikum • Ziele des kollektiven Handelns • Mittel: Strategien und Taktiken des Handelns • Kontextelemente: fördernde und störende Faktoren • Motivationen • Raumkonzepte/räumliche Vorstellungen. Die Verteilung der Analyseeinheiten ist erwartungsgemäß ungleichmäßig. Es lassen sich Spitzen im Zusammenhang mit größeren Protestaktionen und Reaktionen auf die Handlungen des Hauseigentümers feststellen. Der quantitative Höhepunkt steht in Zusammenhang mit der Teilräumung des Hauses inklusive der „Stube“ und mit den darauf bezogenen Aktionen, wie der mehrtägigen Besetzung einer Parteizentrale und zahlreichen Demonstrationen. Ungefähr einen Monat später entspannte sich die Situation für die Bewohnerinnen zusehends. Die Bauarbeiter und der Wachschutz waren nicht mehr anwesend, da der Eigentümer sie anscheinend nicht weiter bezahlen konnte. An diesem Punkt kann das Ende dieses Konflikts und der aktiven Textproduktion angesetzt werden. „Wir brauchen Freiräume“ Die absolute Mehrheit der publizierten Beiträge sind als explizite Mobilisierungstexte zu klassifizieren: das „Wir“ fordert die Adressaten (das „Euch“) auf, das bedrohte Hausprojekt zu unterstützen. Die Leserinnen der
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Flugblätter werden zu potenziellen Subjekten des Protests gemacht: „Wir rufen hiermit erneut dazu auf, im Falle einer versuchten Räumung oder Teilräumung […] entschlossen Widerstand zu leisten, diesen Angriff auf ein linkes Projekt nicht hinzunehmen.“ Das „Wir“ des betroffenen Projekts wird auf diese Weise im Verhältnis zu den Unterstützerinnen definiert, und nicht im Verhältnis zu den Antagonisten. In anderen Texten bzw. an anderen Textstellen wird allerdings vermieden, diese Unterteilung zu betonen, und das „Wir“ wird nicht explizit im Text charakterisiert. Das kann sogar die Aufforderung zum Handeln betreffen, obwohl dieser relationale, performative Aspekt (X ruft Y zu A auf, vgl. Austin 1971) einem Aufruf immanent ist, z.B.: „Ihr seid aufgefordert, diese Aktionen mit den Euch als geeignet erscheinenden Mitteln zu unterstützen.“ Das Subjekt ist hier diffus – wer fordert eigentlich die Leser auf? Auch enthält dieses Flugblatt (wie auch einige andere) keine explizite Unterschrift. Die Vernebelung des „Wir“ interpretiere ich als eine Figur, mit deren Hilfe die Mobilisierungsparadoxie zwischen dem Aufruf, gemeinsam zu handeln, und der Unterscheidung zwischen „Uns“ und „Euch“, zwischen Produzentinnen und Leserinnen, umgegangen wird. Auch eine Betonung des „Wir“ (womöglich in der Kombination mit seiner „Vernebelung“) kann diese Rolle spielen, wie weiter unten dargelegt wird. Eine Lösung dieser Aufruf-Paradoxie ist gerade im Falle einer Mobilisierung gegen die Räumung eines Hausprojekts nötig. Dieser Konflikt erlaubt viele Varianten des Framings, darunter solche, die eine Betroffenheit nur auf die Akteure des Projekts selbst beschränken, im Sinne von „Eure Wohnungen sind bedroht – na und?“. Das Erwähnen der punktuellen Bedrohung durch die Räumung lässt sich nicht umgehen, da es sich um einen Anlass der Mobilisierung handelt. Es bleibt aber die Möglichkeit, den Anlass diskursiv im Sinne der geteilten Betroffenheit bzw. des geteilten Handlungsbedarfs zu rahmen. Die Figur „Wir brauchen Räume für die politische Praxis“ wurde in sechs Aufrufen zum Widerstand gegen die konkrete Räumung bzw. gegen die Angriffe auf die linken Projekte in Berlin genutzt. Ein Beispiel aus einem gegen die Räumung mobilisierenden Text: „Wir brauchen linke Orte, um uns solchen Fragen wieder stärker zu stellen, wir brauchen sie, um sichtbar zu sein, wir brauchen sie als die Orte, an denen am ehesten die Option eines radikalen Alltags weiterentwickelt werden kann. […] Wir bleiben alle“.
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Dieses „Wir“ ist ein umfassendes „Wir“ der Leute, die gemeinsame Bedürfnisse an die politische Praxis haben. So wird von den Verfasserinnen ein entsprechendes Identitätsangebot an die Leser gemacht, wobei die Verfasserinnen davon profitieren, wenn die Leute sich tatsächlich mobilisieren lassen und die Räumung von Projekten nicht „hinnehmen“. Diese Argumentation baut auf einem Framing der Räume als Ressourcen der politischen Praxis, also als politische Räume, auf. Das wichtigste Element des Mobilisierungsframings in den untersuchten Texten ist die rationale Begründung des Bedürfnisses nach Räumen für die Politik im Alltag und dadurch für die politischen Aktivitäten insgesamt. Das gemeinsame Bedürfnis bildet eine Klammer für die unterstellte Gemeinschaft, welche diffus und gerade auf diese Weise inklusiv bleibt. Die emotionale Ebene wird nur punktuell, am ehesten als ein Gegenstand der Darstellung, genutzt (z.B. mit einem distanziert-ironischen Hinweis auf die Vorstellung vom „drögen, anstrengenden Alltag“). In den Mobilisierungstexten aus der Hochphase des Konfliktes zur Zeit der Räumung im Frühjahr 2003 werden emotionale Dimensionen stärker betont (wobei das emotionale Framing größtenteils in unmittelbaren Interaktionen geschieht, wie im Abschnitt zur emotional-körperlichen Raumsynthese dargestellt wurde). Die Qualitäten der linken Orte/Räume werden vor allem durch ihre politische Funktionalität bestimmt: „Wir brauchen linke Orte, um…“ oder „Wir brauchen Räume, die…“. Diese Funktionalität wird meist im Hinblick auf den Gegensatz zwischen dem Alltag und den außerordentlichen, großen Protestereignissen definiert, bei denen die militärische Konfrontation möglich sei („Schlachten“ bzw. „Kampftage“). Die Figur „Wir brauchen Räume für die politische Praxis“ wanderte von einem Flugblatt des Hausprojekts bzw. des Bündnisses der Haus- und Kulturprojekte in das nächste. So wurde das entsprechende Segment aus dem Aufruf für den ursprünglichen Räumungstermin im Frühjahr 2002 mit geringfügigen Veränderungen für die Mobilisierung gegen die Räumung im Herbst desselben Jahres übernommen.2 Diese feinen Veränderungen sind jedoch relevant, da der Gegensatz zwischen Alltag und Kampftagen abgemildert wurde: Ob es in Berlin eine „tolle, attraktive, aktionsfähige, radikale linke Szene gibt“ (was als ein eigenständiges Ziel des kollektiven Handelns definiert wird), soll zwar
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Der erste Termin wurde zunächst im Laufe der Verhandlungen mit der Bezirksverordneten-Versammlung und dem Berliner Senat ausgesetzt.
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immer noch „durch die Frage entschieden“ werden, „ob wir Radikalität daran messen, wieviel unsere Politik mit unserem Alltag zu tun hat, welche Perspektiven wir hier entwickeln – oder traditionell mit geübtem Blick an der Höhe des wo auch immer entstandenen Sachschadens, welcher eben nur Mittel und nicht das Ziel unserer Politik ist“. Die Kritik „Blöd wäre, wenn Pflasterstein und Feuerschein nur noch den Sinn haben, daß unser Blick sich nicht allzu sehr auf einen drögen, anstrengenden Alltag richtet“ im früheren Text fällt deutlich aus. In einem späteren Flugblatt wird sie vorsichtiger formuliert und durch einen Hinweis auf das legitime Repertoire des Handelns entschärft: „Nichts desto trotz ist Sachschaden natürlich oft sehr nützlich, um auf die Dringlichkeit einer politischen Lösung hier und da aufmerksam zu machen.“ In einem späteren Text, dem Aufruf zur Demonstration des Projekt- und Initiativen-Rats unter dem Motto „räume öffnen – berlin entern, für freien zugang“ im Juni 2003, ist der Gegensatz Kampftage versus Alltag punktuell angedeutet: „Unser Widerstand beschränkt sich nicht auf sogenannte Kampftage. Er muss im Alltag sichtbar werden.“ Freiräume – in linken Zusammenhängen interessanterweise auch oft als „FreiRäume“ geschrieben – werden auch jenseits der dargestellten Dualität Kampftage versus Alltag mit der Kategorie Politik im Alltag verknüpft. „Wir brauchen Räume, die ein herrschaftsfreies Leben zumindest vorstellbar machen. Mit den gesellschaftlichen und eigenen Widersprüchen konfrontiert zu werden, zu versuchen, die politischen Utopien im Mikrokosmos umzusetzen, ist für uns ein unersetzliches Element linker Politik“, heißt es im Aufruf zur „keine ruhe für [die] mitte“-Demonstration im Februar 2003. Sie werden dabei als „soziale Basis“ des Protests charakterisiert: „Unser Widerstand gegen die herrschende Politik braucht eine soziale Basis. Wir brauchen Hausprojekte, Wagenburgen, kollektiv organisierte unkommerzielle Treffpunkte, soziale Zentren.“ (ebd.; ähnlich im Aufruf zur „räume öffnen“-Demonstration im Juni 2003 und in einem weiteren Text) Weiterhin sind Freiräume durch explizite Referenzen zu Räumen oder Orten auch genuin räumlich gedacht („Wir brauchen Räume“, „Wir brauchen linke Orte“). Interessant sind zwei Momente: Erstens werden Freiräume als schon gegebene Basis für den politischen Alltag dargestellt, die einmal gegenüber den außenstehenden Gegnern erkämpft wurde und nun von Angriffen von außen geschützt werden soll. Die Existenz von Freiräumen macht ein herrschaftsfreies Leben vorstellbar (diese Argumentation wird in
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vier Texten entwickelt). Die Freiräume werden hier relational, gegenüber „außen“ definiert. Zweitens werden Freiräume als territoriale Behälter für den politischen Alltag gedeutet, innerhalb denen (Variante – an denen, an linken Orten) anders gelebt werden kann. In dem Mikrokosmos, welcher durch die Freiräume definiert wird, können die politischen Utopien umgesetzt werden, d.h. die Freiräume werden von den Akteuren mit der Politik befüllt: „Diese Projekte wurden als FreiRäume erkämpft. Wir wollen sie verteidigen und mit Inhalt füllen.“ (Aufruf zur „räume öffnen“-Demonstration) Auch beim Verfassen des neuen Konzepts für die „Stube“ durch das neue Kollektiv kam es – bei der Formulierung des Selbstverständnisses der Gruppe – zu einer Diskussion über den Freiraum-Begriff: Ernie:
„Wir wollen den Freiraum nutzen und hiermit ähm…“
Peter:
„Nein, wir wollen den nicht nutzen, sondern machen.“
Karl:
„Wieso? Der Raum ist ja da, und wir müssen ihn mit Inhalten füllen.“
Peter:
„Ne, der Freiraum und der Raum ist ja nicht dasselbe. Der Raum hier, der ist da, aber den Freiraum müssen wir machen, das ist eben das, was wir da drin machen, was da passiert.“
Karl:
„Na ja, o.k. Also wir wollen hier ’nen Freiraum machen(?)“
Hier werden zwei Positionen deutlich: Nach der ersten ist ein Freiraum ein zur Verfügung stehender und mit Inhalten zu befüllender Raum (Karl, Ernie); nach der zweiten bezieht sich „Freiraum“ auf die Inhalte, die noch zu erschaffen sind (Peter). In beiden konkurrierenden Interpretationen sind die mit Freiräumen verbundenen physikalischen Räume als Behälter gedacht – als Räume, in denen „drin“ das freie, selbstbestimmte Leben möglich ist. Das erinnert an das im zweiten Kapitel vorgestellte, aus der klassischen Physik stammende Konzept des Behälter-Raums, der mit Objekten und Menschen befüllt wird. „Linke Orte“ und „Stadtmitte“ Allerdings werden die „Freiheitsbehälter“ im Unterschied zum BehälterRaum der Physik nicht als unendlich gedacht, sondern in einen breiteren, sie umgebenden Kontext gesetzt. Diese breitere Ebene symbolischer räumlicher Anordnungen hat den Aspekt der „Freiheit von“, die durch Negation,
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also durch die Abwesenheit fremder Zwänge, charakterisiert wird. Die Freiräume werden relational zu weiteren räumlichen Elementen bestimmt, so dass ein mit Freiräumen verbundenes „Wir“ nicht nur im Verhältnis zu potenziellen Unterstützerinnen (wie oben) definiert wird, sondern auch im Verhältnis zu Antagonisten. Dieser breitere räumliche Kontext für die linken Orte/Freiräume bildet die Stadt Berlin, genauer: die Berliner Innenstadt – „sichtbare linke Orte in der Mitte dieser beschissenen Hauptstadt“. Bei einem im Vergleich zu anderen analysierten Texten eher ungewöhnlichen, da von der Wortwahl und den Argumentationsfiguren her sehr stadtsoziologisch geprägten3 Aufruf zur Demonstration „keine ruhe für [die] mitte“, ist explizit davon die Rede, dass sich die normierende Macht der gesellschaftlichen „neuen Mitte“ lokal niederschlägt: „Genau hier, also auch im konkret-räumlichen Sinne zeigt die neue Berliner Mitte ihr Gesicht.“ Auch in anderen Texten wird die Berliner Innenstadt mit Herrschaftsstrukturen und -verhältnissen verknüpft. Freiräume werden in den Mobilisierungstexten nicht nur lokal an die Innenstadt gebunden, sondern die Relationen zwischen den Kategorien Freiräume und Innenstadt werden antagonistisch definiert. Im diagnostischen Frame „Umstrukturierung“ wird die aktuelle Entwicklung der innerstädtischen Quartiere, insbesondere ihre Aufwertung und die Verdrängung der ansässigen Bevölkerung, als Problem festgestellt: „Wer aber keine Lust hat oder nicht in der Lage ist nach kapitalistischem Verwertungsmuster zu funktionieren, wird aus dem Stadtbild entfernt, an den Rand gedrängt.“ Freiräume bzw. linke Projekte werden dem nicht nur implizit entgegengesetzt, sondern auch als direkt durch die Umstrukturierung bedroht dargestellt. So wird im Aufruf zu einer Demonstration für den Aufbau von linken Strukturen formuliert, dass der Eigentümer des betreffenden Hauses sich durch Sanierungsbestrebungen an der Umstrukturierungspolitik der Stadtentwicklerinnen beteilige, wobei diese Politik zur Vertreibung finanziell benachteiligter Menschen in die Randgebiete führe. Im Hinblick auf die Mobilisierung der Unterstützerinnen ist die inklusive Konstruktion der Betroffenheit im Umstrukturierung-Frame interessant, die oben schon angesprochen wurde. So kann die Unterstützung der konkreten, u.a. von
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Die Formen des Imports von sozialwissenschaftlichen Konzepten (beispielsweise der „Gentrifizierung“) in die Diskurse der linken Szene wären ein Thema für eine eigenständige Untersuchung.
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Räumungen bedrohten Projekte als Form des allgemein antikapitalistischen Widerstands ausgelegt werden. Die Teilnahme am antikapitalistischen Widerstand gehört wiederum zu den Kernelementen des Prototyps eines Linksradikalen. Somit wird der Anspruch erhoben, von der Bindung der Adressaten an die linke Szene zu profitieren. Die „erduldende“ Rolle der Freiräume im Rahmen eines Bedrohungsszenarios wird durch eine aktive bzw. widerständige ergänzt: „genau deshalb bleiben wir in der stadtmitte >>> denn die städte gehören uns!“, schreiben die Verfasserinnen eines weiteren Flugblatts zur „keine ruhe“Demonstration im Februar 2003. Die Freiräume sind demnach nicht nur von der Umstrukturierung bedroht, sondern bieten auch eine Antwort auf sie. Die symbolische räumliche Anordnung „Freiräume in der Innenstadt“ hat einen normativen Charakter, der in vielen Texten als ein eigenständiges Ziel des kollektiven Handelns formuliert wird: „Für tolle linke Orte in der Stadtmitte“ oder „Für selbstbestimmtes Leben und linke Projekte in der Stadtmitte und überall“. Eine Variante davon ist der Bezug auf ganz Berlin als Hauptstadt Deutschlands. Die Kritik der „Hauptstadtisierung“ (mit Anführungszeichen schon im Original versehen), eine Variante des Umstrukturierung-Diskurses, stammt noch aus der Zeit um die Wiedervereinigung am Anfang der 1990er Jahre und büßte seitdem deutlich an Aktualität ein. Hier bestand für einige Zeit die Möglichkeit der diskursiven „Brückenbildung“ (frame bridging, Snow et al. 1986) zwischen stadtpolitischen und antinationalen Diskursen, die jedoch mit der Zeit verloren ging. In den analysierten Texten kommt sie ab dem Winter 2002/2003 nicht mehr vor. Der Bezug auf Berlin als Ganzes wurde trotzdem weiterhin hergestellt. Beispielsweise stand neben dem Gefahrensymbol für „hochentzündlich“ in einem nach der Räumung veröffentlichten Flugblatt der „Stube“ der Satz „Feuer und Flamme fuer Berlin“. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Umstrukturierungsargumentation vor allem in denjenigen Texten detailliert entwickelt ist, die zu größeren demonstrativen Aktionen aufrufen oder bei solchen verteilt werden sollten. Die in direktem Zusammenhang mit einer Räumung stehenden Texte beziehen sich hingegen eher auf konkrete Ereignisse und Taktiken des Handelns und benennen abstraktere Ziele eher schematisch. Die von Bündnissen linker Wohn- und Kulturprojekte vorbereiteten, demonstrativen Aktionen waren im Hinblick darauf wichtige Anlässe der diskursiven WirDefinition.
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Nicht nur in schriftlichen, von einer oder mehreren Gruppen mit ihren Namen autorisierten Texten, sondern auch in Gesprächen unter einzelnen Akteuren war die Vorstellung vom Gegensatz Wir&Freiräume versus Sie&Umstrukturierung enthalten. An einem Abend kurz nach der Bekanntgabe des Räumungstermins sprach ich in der „Stube“ mit einer Frau aus dem Kollektiv. In dieser Zeit wurden viele Gespräche unter Kollektivmitgliedern geführt, in denen Gefühle und Einschätzungen ausgetauscht bzw. bestätigt und so das geteilte „Wir“ auf der emotionalen und kognitiven Ebene hergestellt wurden. Später, in der Kneipe (ich rede mit Andrea von der Freitagsgruppe über die Räumung). Tanja: Andrea:
„Obwohl es ja eigentlich keine politische Räumung ist…“ „Doch, das ist politisch! Oder teilweise. Obwohl sie sehen, wir sind nicht gefährlich, und nicht wichtig, aber trotzdem eine potenzielle Gefahr für sie, weil das hier ein Freiraum ist. Sie wollen uns hier weg haben.“
Der eigene Freiraum ist hier eine potenzielle Gefahr für „Sie“, die Subjekte der Räumung, auch wenn „Wir“ weder gefährlich noch wichtig sind. Die Antagonisten erheben nach Andreas Worten den Anspruch auf die totale Kontrolle, die sogar harmlose Projekte nicht tolerieren (die zweite Bedeutung der dargestellten Harmlosigkeit ist die einer „Verzichtserklärung“, das Herunterspielen eigener politischer Ansprüche als Kulturprojekt, die der möglichen Diskreditierung durch andere Szeneakteure zuvorkommt). Genau dies macht „Sie“ angreifbar und „Uns“ doch zu einer Gefahr. Interessant ist die Kombination der abstrakten und diffusen Darstellung der Argumentation inklusive der implizit enthaltenen Schlussregel4 „Freiräume sind gefährlich für sie“ und der genauen Kontextualisierung „das hier“, die einen Bezug auf die konkrete Gesprächssituation in der „Stube“ herstellt. Abschließend ist noch festzuhalten, dass die beiden Raumkonzepte, die in den analysierten Mobilisierungstexten mit „Freiräumen“ in Verbindung gebracht werden – Freiräume als Behälter für die Freiheit und Freiräume in der umstrukturierten Stadtmitte – in zwei Texten direkt miteinander verknüpft werden.
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Die Analyse der Argumentation folgt Toulmin (1975), vgl. Fußnote 22 in Kapitel 5.
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„Das Schaffen von alternativen linken Freiräumen, das Leben in Hausprojekten und Wagenburgen ist der Versuch, ein herrschaftsfreies Leben zu ermöglichen und eine Basis gegen Ungleichheit und Diskriminierung zu schaffen. Hier soll weder das Ellenbogenprinzip existieren, noch sollen Menschen aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Verwertbarkeit als besser oder schlechter gelten. Dieser Lebensentwurf ist aber weder in Berlin noch in Deutschland akzeptiert, im Gegenteil werden Hausprojekte und Wagenburgen angegriffen, an den Rand gedrängt, vertrieben.“
Allerdings wird auch in vielen anderen Analyseeinheiten der Bezug der Freiräume bzw. der linken Projekte sowohl auf die „Freiheitsbehälter“ als auch auf die „Umstrukturierung/Hauptstadt“ hergestellt. Auf diese Weise wird das Identitätsangebot in diesen beiden räumlichen Anordnungen parallel lokalisiert, und die beiden Ebenen werden indirekt miteinander verknüpft. Freiräume zwischen „innen“ und „außen“ Die Deutung der Freiräume als „soziale Basis“ des Widerstandes schreibt ihnen die symbolische und räumliche Ausrichtung „nach außen“ zu und setzt sie so in eine breitere räumliche Ordnung. Dies speist sich einerseits aus der oben dargestellten negativen Relation Freiräume/Innenstadt, andererseits aus einer weiteren symbolischen Struktur, einem etablierten Gegensatz der Autonomen-Diskurse bezüglich der möglichen Ausrichtung von Freiräumen bzw. Hausprojekten „nach innen“ oder „nach außen“. Dieser ist schon Anfang der 1980er Jahre in den Diskussionen der HausbesetzerBewegung zu finden. U.a. um diesen Gegensatz spielten sich Identitätsprozesse des so genannten Nichtverhandler-Flügels der Hausbesetzer-Bewegung ab, in denen das Selbstverständnis der Autonomen entwickelt wurde. Die entsprechenden Diskussionen wurden vor allem in der Berliner Zeitschrift radikal geführt. So heißt es in der als Diskussionsanstoß angekündigten Publikation der nachbearbeiteten Thesen aus der italienischen autonomen Bewegung in radikal Nr. 97/1981: „Die Alternativen versuchen, sich innerhalb des bestehenden Systems Freiräume zu erobern, um darin eine andere Kultur und eine andere Ökonomie aufzubauen.“ Den „Alternativen“ mit ihrer Ausrichtung auf die Nischen, also „nach innen“, wird die eigene Position entgegengesetzt: „Durch diese Orientierung auf ein anderes
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Leben innerhalb des bestehenden ergibt sich ein latentes Spannungsfeld zur radikalen/autonomen Linken, deren Orientierung hauptsächlich darauf gerichtet ist, das Bestehende zu beseitigen.“ Dementsprechend seien diese Freiräume „nach außen“ gerichtet: „[J]e mehr Freiräume wir gewinnen können, desto besser ist unsere Ausgangsbasis, um den Staat und das System zu stürzen und im Meer der Geschichte zu versenken.“ (ebd.) Die Freiräume dürfen kein Ziel an sich bilden, sondern sollen eine Ressource im politischen Kampf gegen den Staat bzw. das System darstellen (ebd.). Diese Diskussion wurde in der Auslaufphase der Mobilisierungswelle zu Beginn der 1980er Jahre geführt. Die umrissene symbolische Struktur der Orientierung von linken Freiräumen nach innen oder nach außen ist dennoch weiterhin wirksam, auch wenn die Bewertung einzelner Optionen sich verschoben hat und zum Teil offen, zum Teil latent auf ihre Kombination orientiert ist. Auch im Interview mit Petra kommt der Topos besetzte Häuser als Kampfform mehrfach zur Geltung. Ich führe ein Zitat aus dem Segment an, in dem es um ihre eigenen Erfahrungen im Rahmen der HausbesetzerBewegung Anfang der 1980er Jahre geht. Vor der zitierten Sequenz erzählte sie von einer Hausbesetzung für migrantische Frauen mit Kindern. Und nachdem es klar war, es wird legalisiert, sind einige von uns, also von den Deutschen, dann wieder ausgezogen, weil wir halt das Konzept des Nichtverhandelns hatten, weil wir das als ein politisches Mittel einsetzen wollten, um die Eigentumsfrage zu stellen. Und wie gesagt, uns ging’s persönlich nicht um ’nen geschützten Raum und legalisierten Raum, sondern um_ um ’ne Kampfform. (P) Und da sind wir in ein anderes Haus zusammen gezogen, wo es klar war, das sind alles Leute, die wollen es auch so. Und das war dann der Turm, und_ ja, der wurde dann 83 geräumt. So als eins der letzten Nichtverhandler-Häuser, die geräumt wurden. (.) Das war so_ in den Augen des Staates, die militante Hochburg, und bla, und so.
Die kollektive und die individuelle Ebene der Subjektivität vereinigen sich in der Darstellung des kollektiven Handelns, so dass die persönliche Subjektivität zu einem bestimmenden Attribut der Kollektivität wird – „uns ging’s persönlich“ um eine Kampfform. Das konkrete „Wir“ einer Gruppe aus Leuten mit gleicher Einstellung bekommt eine Form durch das Zusammenziehen in ein weiteres Haus – den „Turm“. Die Erzählerin baut einen Gegensatz auf – zwischen der linksradikalen Ausrichtung darauf, „die Ei-
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gentumsfrage zu stellen“ und der Ausrichtung auf einen geschützten Raum. Das „Wir“ bekommt von der Erzählerin eine Bedeutung zugeschrieben, die das eigene Haus überschreitet. Der „Turm“ am Leuschnerdamm war eines der bekannten Nichtverhandler-Häuser.5 In der oben angegebenen Sequenz wird die besondere Stellung des „Turms“ durch die dargestellte Anerkennung als Gegner seitens des Antagonisten – „in den Augen des Staates“ – aufgeführt.6 Die Verbindung der individuellen und der kollektiven Ebene im Erzählten wird durch Petras Referenz („Und wie gesagt“) auf die kurz davor gemachte und ähnliche Darstellung ihres erzählten „Ich“ gestärkt: „Also mir ging’s nicht primär, nicht so ums Wohnen, sondern als ein politisches Mittel, um die Enteignungsfrage auch zu stellen.“ Bei ihrem Hausprojekt ging es nicht um einen konkreten Raum mit bestimmten Eigenschaften; die Hausbesetzung wird vielmehr als punktuelle Überschreitung der ökonomischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft konzipiert (vgl. Roth 1981). Die Formulierung „Enteignungsfrage“ enthält schon eine mögliche Antwort auf die „Eigentumsfrage“. Allerdings ist Petras Festhalten an der Formulierung „Frage“ auffällig. Dies kann im Sinne eines Hinweises auf das Fragenstellen als Akt der Macht gedeutet werden (vgl. die Redefigur „Ich stelle hier die Fragen“) oder aber auf etwas, was explizit keine Antwort ist. Die zweite Interpretation wird durch ein zeitgenössisches Papier bestätigt, welches das Ende der Hausbesetzerbewegung bzw. der Nichtverhandler „von innen“ reflektiert (der Autor gehört damit zu demselben Netzwerk wie Petra): „Wir hatten eine Kampfforderung, obwohl wir nicht glaubten, dass wir diesen Kampf gewinnen können. Tatsächlich Häuser zu enteignen und zu sehen, ob die Gesellschaft sich das auf Dauer gefallen lässt, das wollten wir.“ (A.G. Grauwacke 2003: 84) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die politische und räumliche Bedeutung besetzter Häuser für Petra nicht in der gelebten Utopie liegt (obwohl die Interpretationsstruktur gelebte Utopie für ihr politisches Selbstverständnis, für die emotionale Bindung an Kreuzberg und auch für das Wohnen in einer Wohngemeinschaft wichtig ist, wie einige andere Stellen im Interview
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Vgl. „Der Turm hat eine Symbolbedeutung“ (ein persönlicher Erfahrungsbericht
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Das Selbstbild der Autonomen und deren Darstellung durch den Verfassungs-
eines weiteren Einwohners des Hauses in A.G. Grauwacke 2003: 82). schutz Anfang der 1980er Jahre weist eine hohe inhaltliche Kongruenz bei einer zu erwartenden unterschiedlichen Wertung auf (Golova 1998).
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zeigen). Sie nutzt stattdessen die Figur besetzte Häuser als Kampfform der radikalen Linken. Diese Bedeutung wird möglich, da die besetzten Häuser die Eigentumsverhältnisse in Frage stellen und ökonomische Grundlagen der Gesellschaft punktuell außer Kraft setzen. Fazit Die Analyse zeigte, dass der komplexe „Freiräume“-Frame eine wichtige Rolle in den Mobilisierungstexten, die sich mit dem Konflikt des Hausprojekts mit dem Hauseigentümer befassten, spielte. Die „Freiräume“ (und speziell das eigene Projekt) wurden als eine Bedingung bzw. eine wichtige Ressource für die politische Praxis der radikalen Linken dargestellt. Auf diese Weise wurde ein „Wir“-Angebot an die Leserinnen formuliert, die eigene Anbindung an die politische Identität durch Teilnahme an konkreten Protesten gegen die Bedrohung des Hauses zu stärken. Die Funktionalität linker Freiräume wird damit verbunden, dass sie eine Art „Behälter“ für die alternative Lebensweise bzw. für die Politik im Alltag bieten. In diesen „Freiheitsbehältern“ können die politischen Utopien umgesetzt werden bzw. innerhalb von ihnen wird das freie, selbstbestimmte Leben möglich oder vorstellbar. Auf einer weiteren Ebene werden „Freiräume“ in den breiteren räumlichen Bezug zur Berliner Innenstadt gesetzt und antagonistisch im Hinblick auf die Umstrukturierung definiert, als ihre potenziellen Opfer und als Orte des Widerstandes zugleich. Für die „Freiräume in der Innenstadt“ wird ein normativer Charakter beansprucht, sie sollen erhalten bleiben. Die Analyse der Texte aus Teilen der Berliner HausbesetzerBewegung Anfang der 1980er Jahre zeigte die erstaunliche Kontinuität einer symbolischen Struktur, in deren Rahmen die Freiräume nach innen (Möglichkeiten, frei zu leben) oder nach außen (Widerstand gegen das System) ausgerichtet werden. Die Bewertung der ersten Option fiel in den Texten aus dem Jahren 2001 bis 2003 positiver aus, wobei die Betonung des widerständigen Charakters weiterhin aktuell blieb. Auch in Bezug auf aktuellere Daten lässt sich eine große Kontinuität des Freiräume-Frames feststellen. Im Rahmen der Anfang 2008 angestoße-
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nen Kampagne „Wir bleiben alle!“ kamen grundlegende Elemente des rekonstruierten Freiräume-Frames zur Geltung: • Freiräume als territoriale Gelegenheiten für die alternative bzw. emanzipatorische Lebensweise • Freiräume als von der Vertreibung aus der Innenstadt im Zusammenhang mit der Umstrukturierung bedrohte Objekte. Die beiden Aspekte werden wiederum direkt verbunden: „Da diese Freiräume nicht in das Konzept einer neoliberalen Stadtplanung passen, sind viele von ihnen derzeit bedroht.“ (Wir bleiben Alle!-Kampagne 2008: 13) Abstrakt werden die Freiräume stark durch ihre Offenheit definiert („selbstorganisierte, nichtkommerzielle Orte, die allen Menschen offen stehen, die sich mit einem emanzipatorischen Anspruch mit ihrer Umwelt auseinandersetzen wollen“, ebd.). Geht es daneben um konkrete Zielsetzungen der Kampagne – Widerstand gegen die Gentrifizierung und die Verteidigung der Freiräume –, werden vor allem Hausprojekte (ein „Freiraum zum Leben“, ebd.) im Text behandelt. Die genannte Kombination der Ziele erlaubt den Teilnehmerinnen der Kampagne, der Mobilisierungsbasis ein inklusiveres „Wir“ anzubieten. Das stimmt auch im Hinblick auf die angestrebte offene Struktur: „Wenn ihr euch mit Zielen identifiziert und Ideen habt euch einzubringen, kontaktiert entweder die bestehenden Arbeitsgruppen, oder startet einfach eure Aktionen unter dem Logo der Kampagne!“ (Wir bleiben Alle!-Kampagne 2009) Auch hier, wie für den oben ausführlich behandelten Fall, ist für die von Konflikten mit Vermietern betroffenen Haus- und Kulturprojekte ein inklusiveres Wir-Angebot für die Mobilisierung der Unterstützerinnen notwendig, denn das praktische Commitment großer Teile der linken Szene an die Hausprojekte ist keineswegs selbstverständlich. Mit einer breiten Unterstützung konnte zu dieser Zeit vor allem das bis ins Frühjahr 2008 (wieder) von Räumung bedrohte Hausprojekt und Kulturzentrum „Køpi“ rechnen. Aufgrund der herausragenden, auch internationalen Bekanntheit des Projektes in der Berliner Köpenicker Straße war eine massive Mobilisierung im Falle einer konkreten Räumungsbedrohung wahrscheinlich, was die Attraktivität der eigenen Teilnahme für Berliner Aktivisten aus beispielsweise dem linksradikalen Antifa-Spektrum vermutlich erhöht hat. Die Beteiligung an der Kampagne „Media Spree Versenken!“, die sich gegen die Bebauung des Spreeufers in Friedrichshain und Kreuzberg im Rahmen des Investorenprojekts „Medi-
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aspree“ richtete, bot linksradikalen Akteuren weitere Möglichkeiten, mit einem breiteren Spektrum politischer und kultureller Zusammenhänge zu kooperieren. Im Zusammenhang mit diesen Protesten kam es seit 2007 zu einem verstärkten Freiräume-Framing über die Grenzen der linksradikalen Gruppen hinaus. Erwartungsgemäß wurden Freiräume dabei unterschiedlich interpretiert, u.a. wurde der Begriff auch auf die von der Bebauung bedrohten Strandbars bezogen, die zwar kommerziell betrieben, aber von einem sich als alternativ bzw. künstlerisch definierenden Publikum frequentiert werden. Abschließend möchte ich zu den Inhalten des rekonstruierten Frames zurückkehren. Die Freiräume werden mitunter konservatorisch gedacht, und zwar im Gegensatz zum negativ bewerteten Wandel der innerstädtischen Quartiere. Zugleich ist festzuhalten, dass die zum Teil behälterähnlichen und konservatorischen „Freiräume“ zwar einen Teil der Praxis der linken Szene darstellen, diese aber nicht erschöpfen. Im vierten und fünften Kapitel konnte gezeigt werden, dass auch die mit Wohn- und Kulturprojekten verbundene räumliche Praxis der Szeneakteure vielfältig ist und nicht mit dem Behälter-Raum-Konzept analytisch erfasst werden kann.
6.2 D EMONSTRATION ALS POLITISCHER R AUM
EPISODISCHER
Demonstrative Aktionen zeichnen sich durch den körperlichen Charakter der Teilnahme aus. Das gemeinsame Handeln wird nicht auf verbale Äußerungen beschränkt, sondern besteht u.a. in der Anwesenheit und der Expressivität der aufmarschierenden Menge selbst (Warneken 1991b: 97). Das Demonstrieren als eine spezifische körperliche Ausdruckshandlung bedeutet „den Gebrauch des Körpers als politisches Ausdrucksmittel“, die Körpersprache wird „gewissermaßen als Mundart der politischen Sprache“ benutzt (Warneken 1986: 65). Das gemeinsame Fortbewegen bildet die Grundlage des gemeinsamen Handelns. Die Berücksichtigung des körperlichen Charakters einer Demonstration ermöglicht den Anschluss an zwei weitere Themen, die in der Forschung zu sozialen Bewegungen lange nicht hinreichend beachtet wurden. Bei dem ersten handelt es sich um die emotionalen Erlebnisse der Teilnehmer und das emotionale Framing des unmittelbar zu erlebenden kollektiven Handelns. Dieses Thema fand schon früh
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in die Theorie des kollektiven Verhaltens Eingang, das in demonstrativen Ansammlungen prototypisch das Drohpotenzial der Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts sah. Später wurde sie allerdings mit diesem Ansatz zusammen, insbesondere aus der US-amerikanischen Diskussion, verdrängt. In den 1990er Jahren lebte das Interesse an Emotionen, allerdings in einer weniger „dramatisierenden“ Form, wieder auf. Die gemeinsame Teilnahme an kollektiven, u.a. demonstrativen Aktionen unterstützt die Solidarität, das für die kollektive Identität zentrale Gefühl der Zusammengehörigkeit. In diesem Unterkapitel werde ich mich auf das zweite Thema konzentrieren, das mit der Körperlichkeit und der Materialität der Straßenproteste unmittelbar zusammen hängt – auf deren räumliche Aspekte. In den bisherigen bewegungssoziologischen Arbeiten wurden räumliche Kontexte oder Orte einzelner Protestepisoden zwar öfter erwähnt. Zudem wurden ihre weiteren räumlichen Eigenschaften in einigen Publikationen beachtet. Allerdings wurde der genuin räumliche Charakter dieser Aspekte kaum als solcher wahrgenommen. Als Beispiel dafür kann ein Artikel von Wolfgang Kaschuba (1991) dienen: Der Autor vergleicht die konkreten Muster der politischen Straßenkultur in Deutschland im späten Kaiserreich – den Sozialprotest und die Straßendemonstration – in Bezug u.a. auf die relationalen Verhältnisse der Teilnehmer untereinander, die die Ordnungen einer „Rotte“ bzw. eines „Marschblocks“ formen. Diese entwickeln jeweils eine eigene Wirkung auf die Beteiligten und andere Akteure wie die bürgerlichen Massenmedien. Leider wird dies vom Autor nicht als ein genuin räumlicher Unterschied reflektiert. Genau auf diese Phänomene bezieht sich dagegen die Leitlinie meiner Argumentation. Ich werde unter Verwendung der im theoretischen Teil eingeführten und synthetisierten Konzepte nach verschiedenen räumlichen Aspekten der Protestepisoden suchen. Auf diese Weise möchte ich die Tragweite der angestrebten analytischen „Verräumlichung“ von Prozessen kollektiver Identität überprüfen.7
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Die Marginalität der räumlichen Fragestellungen in der Bewegungssoziologie im Allgemeinen und bei der Untersuchung einzelner Protestereignisse im Besonderen springt bei einem Blick in den State-of-the-Art-Band „The Blackwell Companion to Social Movements“ (Snow et al. 2004) ins Auge. Koopmans (2004) will sich darin zwar mit „Protest in Time and Space“ beschäftigen, meint damit jedoch lediglich die Notwendigkeit, die Protestaktionen in einem dichten
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Demonstrationen sind ein etabliertes Phänomen im Repertoire kollektiven Handelns verschiedener Bewegungen (Tarrow 1994), so auch in der Bundesrepublik (Roth 1997; vgl. Rucht/Roth 2008) und speziell in der linken Szene. William H. Sewell bemerkt: „[C]ontentious politics develops its own specific spatial routines with their own histories and trajectories. […] A moment’s reflection makes it clear that the routines composing these repertoires […] are themselves spatial routines.“ (Sewell 2001: 63f., Hervorhebung im Original) Ich befasse mich mit den räumlichen Aspekten der Demonstrationen als Elemente des Repertoires von kollektivem Handeln in der linken Szene in den Jahren 2000 bis 2008. Das kollektive Handeln im Rahmen der demonstrativen Aktionen ist – so meine Annahme – auch in der Hinsicht räumlich wirksam, dass in ihm Räume produziert und reproduziert werden. Diese Produktion von Räumen betrifft die Wir-Definition der Gruppe im Kontext der sozialen Welt, also die kollektive Identität. Das ergänzt die Wirkung der oben angesprochenen emotionalen Komponente kollektiver Aktionen (Wir-Gefühl) und der verbalen und anderen symbolischen Ausdrucksarten im komplexen Prozess der Identität. Anfangen möchte ich mit einem Vergleich von demonstrativen Aktionen zu den bisher von mir behandelten Räumen, die für den Prozess kollektiver Identität von Bedeutung sind. Zunächst fällt auf, dass die demonstrativen politischen Ereignisse einen temporären Charakter haben. Zwar sind die in den vorherigen Kapiteln untersuchten Räume der Linke-SzeneKneipe, wie ich mehrfach betont habe, nicht einfach gegeben, sondern werden sowohl in der langfristigen als auch immer wieder in der kurzfristigen Perspektive produziert und ausgehandelt. Doch schon der erste vergleichende Blick auf einen Szeneladen und eine Demonstration zeigt, dass die Szenekneipe stabiler und in Bezug auf die (Re-)Produktion an einem konkreten Ort redundanter ist als eine Demonstration. Allerdings kommt eine wesentliche Ähnlichkeit beider zur Geltung: Auch die Demonstration weist relativ stabile räumliche Muster auf, deren zentraler Aspekt die gemeinsame Fortbewegung einer Menschenmenge ist. Die Verwendung des Begriffs eines sozialen Geschehens erlaubt, diese Muster genauer zu betrachten. Auch die im theoretischen Teil gemachte Ort/Raum-Differenzierung ist hier
Netz der Zusammenhänge über Raum und Zeit hinweg zu betrachten. Dieser Ansatz ist zweifellos interessant, reduziert die Räume allerdings auf eine (analytisch) zu überwindende Distanz.
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produktiv. Ich betrachte Demonstrationen demnach als episodische politische Räume an wechselnden Orten. Straße als Tribüne – oder Bühne Es sind bestimmte Qualitäten der Straßen und Plätze, der öffentlichen Räume, die ihre Nutzung auch als Orte der demonstrativen kollektiven Aktionen begünstigen (den Sonderfall der größeren Protest-Events außerhalb der Stadt, z.B. bei Atommülltransporten, betrachte ich hier nicht). Roland Roth (1997: 195ff.) nennt in diesem Zusammenhang: 1. Die Zugänglichkeit der Orte In der ersten Annäherung ist das Auf-die-Straße-Gehen mit dem Ziel einer öffentlichen Meinungsbekundung „eine im Prinzip jedem und jeder zugängliche, alltägliche Möglichkeit des spontanen und direkten politischen Handelns“ (ebd.: 195). Relativierend ist dem hinzufügen, dass die Straßennutzung für die Demonstrationen durch polizeiliche und administrative Maßnahmen eingeschränkt und reguliert wird (ebd.: 196f., della Porta/Reiter 1998). Ein Blick auf die Geschichte der politischen Kultur in Deutschland macht deutlich, dass das „Recht auf die Straße“ als eine auch legal anerkannte Möglichkeit des politischen Ausdrucks erst erkämpft werden musste (vgl. Warneken 1991a, Lindenberger 1995). Die Formen und die Ausrichtung der staatlich-administrativen Kontrolle sind ihrerseits Veränderungen unterworfen. Der entsprechende Kontrollanspruch zielt mit der seit den 1970er Jahren zunehmenden Institutionalisierung des Straßenprotests in der BRD weniger auf das Verbot dieser Aktivitäten in öffentlichen Räumen, sondern stärker auf ihre Regulierung (Roth 1997: 211). Die konkreten räumlichen Konflikte und Interaktionen zwischen der Polizei und den linken Demonstranten, bei denen es um den Anspruch der Kontrolle über den öffentlichen Raum geht, bespreche ich später. 2. Die funktionale Vielfalt der Straßen Die gleichzeitige Vielfalt der Straßennutzungen macht den Straßenprotest zu einer leicht möglichen bzw. schwer verhinderbaren Form politischer Meinungsäußerung (Roth 1997: 197f.; vgl. Lindenberger 1995: 11). Im Laufe der Geschichte hat das Aktivitätenspektrum auf der Straße abgenommen, was auch mit der von der Stadtplanung angestrebten funktionalen Entmischung der Stadtbereiche einhergeht (Herlyn 1997:
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239). Diese Vereinfachung bedeutet einen Gewinn an Übersichtlichkeit und kann als Form des herrschaftlichen Kontrollanspruchs über die öffentlichen Räume interpretiert werden (vgl. Scott 1998). Trotzdem sind die Vielfalt und die damit einhergehende potenzielle Unübersichtlichkeit des Straßenlebens nicht ganz verschwunden (vgl. de Certeau 1988: 186ff.). Viele Straßen werden nicht nur zum Erreichen von bestimmten Zielen benutzt, sondern ermöglichen auch spontane Interaktionen und bilden somit eine Voraussetzung expressiver Kommunikation. Die verschiedenen Funktionen und entsprechenden Tätigkeiten vermischen sich simultan in vielfältiger Weise (Herlyn 1997: 238). Die typische Gleichzeitigkeit der Straßendemonstration mit anderen Nutzungen birgt das Potenzial einer konfliktreichen Dynamik, denn die weiteren Anwesenden können aggressiv werden oder von Demonstrantinnen als solche antizipiert werden (Roth 1997: 198). Ein Beispiel: Im Jahr 2006 rief eine kleine Gruppe männlicher Jugendlicher bei der traditionellen Gedenkdemonstration zur Reichspogromnacht am 9. November in BerlinMoabit vom Straßenrand aus „Scheißjuden!“, um gleich darauf wegzurennen. 3. Die Chance der direkten Kommunikation Das angeführte Beispiel verdeutlicht, dass die Möglichkeit unmittelbarer Interaktionen mit dem Publikum auf der Straße nicht immer eine harmonische Entwicklung findet. Nichtsdestoweniger bietet eine Demonstration in öffentlichen Räumen eine Chance der direkten Kommunikation (Roth 1997: 199ff.). Die Herstellung direkter Öffentlichkeit wird von mir in ihrer räumlichen Bedeutung weiter unten betrachtet. Ich gehe zunächst vom stadtplanerischen Begriff des öffentlichen Raums aus und interpretiere diesen als Idealtypus – es handelt sich dabei um größere, meist im Freien liegende Flächen in der Stadt, vor allem Straßen und Plätze, die ohne Einschränkungen zugänglich und für eine massenhafte Präsenz geeignet sind. Ihre idealtypischen Eigenschaften wie Zugänglichkeit, Offenheit gegenüber diversen Nutzungen und letztendlich eine damit einhergehende Chance der direkten Kommunikation begünstigen die Produktion der spezifischen Protesträume.8 Einschränkend ist dem hinzuzufü-
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Ein Überblick zur politischen Nutzung öffentlicher Räume in Deutschland der Nachkriegszeit ist bei Sandra Huning (2006: 35ff.) zu finden.
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gen, dass die Vielfalt der Straßennutzungen zwar ein Potenzial für eine Transformation der alltäglichen Straßenaktivitäten in außeralltäglichen Protest bietet, auf den Roth (1997) hinweist. Dieses Potenzial wird in der Praxis jedoch nur selten genutzt und ist gerade für die Demonstrationen nicht unmittelbar wirksam.9 Diese stellen meist explizit verabredete und auf verschiedene Weise (über soziale Netzwerke, Flyer, Plakate, Aufrufe) beworbene Anlässe dar. Zwar werden sie in die raum-zeitlichen Routinen der Teilnehmerinnen integriert, aber es findet kaum ein nahtloser und spontaner Übergang von anderen Aktivitäten zum Demonstrieren statt. Auch speziell für die linke Szene wird das Potenzial der spontanen Transformation nur in einem bestimmten Bereich der „Straßenpolitik“ (vgl. Lindenberger 1995) genutzt – bei den Konflikten mit der Polizei um die Straßennutzung (wie Sitzen auf dem Gehweg und der Fahrbahn vor einer Kneipe im Sommer). Die Offenheit der Straße gegenüber verschiedenen Verhaltensweisen bedeutet jedoch die Gelegenheit, an diesen „öffentlichen Räumen“ episodische Räume der Öffentlichkeit herzustellen, zu denen auch die Demonstrationen zählen. Die Straßen und Plätze sind demnach keine Behälter-Räume für die Protestepisoden. Vielmehr ermöglichen sie die Produktion von öffentlichen Räumen (im engeren Sinne) durch kollektive Aktionen. Gerade die etablierte Demonstrationskultur widerspricht den pessimistischen Einschätzungen zum Qualitätsverlust der städtischen Öffentlichkeit (vgl. Huning 2006: 79f.).
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Anders war es beispielsweise bei der Form des Sozialprotests in der frühen Moderne, der sich meist an passenden raum-zeitlichen „Andockstellen“ der Alltagskultur, wie am Rande der Feste, auf Marktplätzen oder in Lokalen formierte (Kaschuba 1991: 81, Lindenberger 1995: 107ff.). Ein aktuelles Beispiel der potenziell politischen, vorübergehenden Transformation des Alltagslebens ist der Flashmob, bei dem die Menschen per SMS zu einem Ort gerufen werden und dort für eine kurze Zeit bestimmte, mehr oder weniger „nicht-normale“ Handlungen durchführen. Der Flashmob zählt allerdings nicht zum etablierten Repertoire des kollektiven Handelns der linken Szene. Die SMS-Kette und Twitter als Mobilisierungsmittel wurden eher in die Demonstrationskultur integriert.
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Episodischer öffentlicher Raum einer Demonstration Die normativen Begriffe der Öffentlichkeit aus der politischen Philosophie (wie etwa von Habermas 1993 oder Arendt 1992) sind für die empirische Analyse der Demonstration als Form politischen Handelns schon aufgrund der darin enthaltenen nostalgischen Projektionen, u.a. zum Verfall des öffentlichen Raums (vgl. Becker 2003), nicht geeignet. Statt eines theoretisch überfrachteten Konzepts ist dafür ein Begriff der Öffentlichkeit als einer Interaktionsform notwendig (Lindenberger 1995: 26ff.). Lindenberger nutzt den Begriff der Menschenmenge (crowd) nach Harrison (1984: 15ff., zit. nach Lindenberger 1995: 27f.) und versteht darunter eine große Gruppe von Menschen, die sich im Freien versammelt – und zwar nahe genug beieinander, um ihre Verhaltensweisen gegenseitig zu beeinflussen und für andere als eine Versammlung identifizierbar zu werden. Diese lokale Öffentlichkeit formiert sich mit der Entwicklung einer Gruppe, welche über die Fähigkeit verfügt, als eine kollektive Einheit zu handeln und als solche von Anderen behandelt zu werden. Der interaktionale Begriff des öffentlichen Raums kann weiter präzisiert werden. In Anlehnung an Goodsell (2003: 370) kann ein öffentlicher Raum im Allgemeinen als Raum-Zeit-Kontinuum für einen zusammenhängenden und interaktiven politischen Diskurs definiert werden. Der ortsgebundene öffentliche Raum (place-bound public space) bildet, neben dem elektronischen und dem medial erweiterten Raum, seine konkrete Form. Nach Goodsell wird die Interaktivität der Kommunikation in diesem traditionalen öffentlichen Raum dadurch gewährleistet, dass alle Teilnehmer einander unmittelbar sehen bzw. hören und somit auf die Aussagen ihrer Mitstreiterinnen direkt reagieren können (ebd.). Hiermit bezieht sich die ortsgebundene Form des öffentlichen Raums auf unmittelbare Interaktionen an einem einzelnen physischen Ort. Die Betrachtung des öffentlichen Raums nicht als Behälter für die „darin“ stattfindenden Interaktionen, sondern umgekehrt als durch diese konstituiert, möchte ich positiv hervorheben. Allerdings trifft das Kriterium der Unmittelbarkeit der Interaktionen nicht für eine Demonstration oder eine Kundgebung zu. Ich schlage deswegen vor, in Bezug auf die Demonstration nicht von einer Interaktion, sondern von einem sozialen Geschehen zu reden. Dieser Begriff bezieht sich auf eine größere Angelegenheit, die einen Rahmen für verschiedene Inter-
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aktionen bietet und für die ein geteiltes Verhaltensmuster, eine raumzeitliche und gegebenenfalls materielle Ausstattung charakteristisch sind, wie ich detailliert im zweiten Kapitel argumentiert habe. Was eine Demonstration von vielen anderen sozialen Geschehen in Bezug auf die Verhaltensmuster unterscheidet, ist die oben schon angesprochene Konstitution des erkennbaren kollektiven Handelns. Dieses Handeln hat einen mitunter körperlichen Charakter. Der gemeinsame „Körper“ einer Demonstration existiert nicht so wie ein menschlicher Körper, aber die performative Inszenierung einer geteilten Körperlichkeit durch das gemeinsame Fortbewegen durch die Straßen hat eine symbolische Bedeutung sowohl für die Beteiligten als auch für anwesende sowie indirekte Beobachter (vgl. Kaschuba 1991: 93; vgl. weiter unten zur Konstitution einer räumlichen Einheit). Das kollektive Handeln impliziert, so meine These, die Konstitution einer spezifischen räumlichen Anordnung. Die Produktion des direkt zu erlebenden Kollektivs geht jedoch nicht zwangsläufig, wie von manchen Theoretikern des „kollektiven Verhaltens“ befürchtet, auf Kosten des vermeintlich rationalen individuellen Verhaltens der Teilnehmerinnen. Vielmehr bringt sich jede teilnehmende Person individuell ein, die Verhaltensweisen variieren. Die Beteiligung an einer Demonstration schließt eine Vielfalt von Aktivitäten mit ein, die gleichzeitig sowohl auf die Herstellung der Wir-Einheit auf verschiedenen Ebenen als auch die Gestaltung der Teilnehmer als Teile dieses Kollektivs gerichtet sind – auf ihre soziale Identität als Linksradikale, Antifaschisten etc. Weiterhin bedeutet die gemeinsame Fortbewegung nicht die detaillierte Synchronisierung und Vereinheitlichung der Bewegungen Einzelner. Das unterscheidet die von den Neuen Sozialen Bewegungen geprägte Demonstrationskultur der Nachkriegszeit beispielsweise von massenhaften Inszenierungen bei Sportler-Paraden in der Sowjetunion der 1930er Jahre. Auch bezüglich der historischen Wahlrechtsdemonstrationen im späten Kaiserreich, die von mehr oder weniger wohlwollenden Kommentatoren typischerweise mit militärischen Metaphern beschrieben wurden, ist festzustellen, dass sie eine Vielfalt der Verhaltensweisen neben dem Gehen (z.B. Rauchen, Reden) erlaubten und in Bezug auf mögliche Gehweisen offen waren. Statt des preußischen Drills mit dem „Marschschritt“ herrschte, so Warneken (1986: 71ff.), „Massentritt“. Die militärischen Assoziationen mögen nicht mehr zu den heute aktuellen Interpretationsmustern gehören: Die „gewaltbereiten Chaoten“ haben in populären Diskursen die „Bataillo-
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ne des Proletariats“ als Sinnbild der Bedrohung ersetzt. Die rechtlichen Regelungen schränken entsprechende Darstellungselemente, etwa durch das bereits erwähnte „Uniformierungsverbot“ (§ 3 VersG), ein. Eine moderne, von linken Gruppen geprägte Demonstration beinhaltet – trotz des gemeinsamen körperlichen Ausdrucks und der Inszenierung geteilter Körperlichkeit – keine minutiöse und synchronisierende Regelung bestimmter individueller Bewegungen im Sinne der Disziplinierung (Foucault 1977). Stattdessen werden die Möglichkeiten zum Aufbau einer Rollendistanz akzeptiert und genutzt, die in diesem Kontext auch als Gelegenheiten einer „Identitätsdistanz“ interpretiert werden können. Zusammenfassend kann die Demonstration als eine Form der lokalen Öffentlichkeit gesehen werden, die einen raum-zeitlichen Interaktionsrahmen für die politische und identitäre Kommunikation unter den Bedingungen der körperlichen Kopräsenz auf der Straße bildet. Das wesentliche Element der räumlichen Anordnung dieses sozialen Geschehens ist die gemeinsame Fortbewegung einer Menschenmenge. Die symbolischen und identitätsrelevanten Aspekte der Demonstration werden von diesem körperlichen Charakter des politischen Handelns mitbestimmt. Im Folgenden werde ich mich mit konkreten Qualitäten der räumlichen Anordnungen von (vorbereiteten und angemeldeten) Demonstrationen befassen, die unter wesentlicher Beteiligung von Akteuren der linksradikalen Szene stattfinden. Dabei nehme ich zur besseren Übersichtlichkeit eine analytische Trennung zweier Ebenen räumlicher Anordnungen vor: der situativen Interaktionsräume der Demonstration einerseits und der in ihnen genutzten „abstrakteren“ symbolischen Räume andererseits. Die situativen räumlichen Anordnungen der Demonstrationen Eine normative räumliche Ordnung der Demonstrationen („Demos“) der linken Szene richtet sich im Wesentlichen, so meine These, auf die Herstellung eines einheitlichen Raums und damit eines körperlich zu erlebenden, einheitlichen „Wir“. Diese Regeln lassen sich aufgrund der Feldforschungsdaten rekonstruieren, die sowohl die Beobachtung von Demonstrationsverhalten (gestützt durch Fotoaufnahmen) als auch die Analyse der parallel stattfindenden oder postfaktischen Auswertung durch die Teilnehmerinnen umfassen. Weitere wichtige Quellen bilden schriftliche Texte zu Verhal-
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tensregeln bei Demonstrationen in Form von gedruckten und OnlineBroschüren. Die bekannteste Broschüre ist „Was tun wenn’s brennt?!“ (Rote Hilfe 1999, 2006). Diese Texte sind keine direkten Niederschriften der praktischen Verhaltensnormen, sondern Elemente der Auseinandersetzungen um diese. Es lassen sich einige zentrale Punkte der idealtypischen Produktion eines einheitlichen öffentlichen Raums rekonstruieren. Die relationale Anordnung der Demonstranten spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie vereint Aspekte des Spacings und der Synthese genauso wie die Ansammlung einer Menge und die gemeinsame Fortbewegung in eine Richtung. Eine besondere Methode ist dabei die Bildung von „Ketten“. Sie werden durch das Unterhaken der Ellenbogen mit den Nachbarinnen gebildet, was die körperliche Verbindung innerhalb einer Reihe erlaubt. Dies ermöglicht eine in angespannten Situationen emotional bedeutsame Nähe, erzwingt koordiniertes Bewegen oder Stehenbleiben und soll darüber hinaus die Widerstandsfähigkeit der Reihen erhöhen: „Es kann auch nie schaden, sich unterzuhaken und in Ketten zu gehen. Nicht nur, daß die Stimmung gleich viel besser wird und sich Sprechchöre viel besser koordinieren lassen, nein, sollten die Ordnungswüter, Zivile oder andere Wildgewordene in den Demo-Zug einzudringen versuchen, bieten die Ketten einen verläßlichen Schutz. Deshalb achte darauf, daß zwischen den Ketten keine Lücken entstehen, und fordere Leute, die zwischen den Ketten rumlaufen, auf, sich einzureihen oder woanders zu gehen.“ (Rote Hilfe 1999)
Die Koordinierung der Bewegungen und weiterer Verhaltensweisen Einzelner – also ihre Vereinheitlichung – wird mitunter als eine eigenständige Funktion reflektiert, wie das vorherige und auch das folgende Zitat zeigen: „Ketten haben die wichtige Funktion, koordiniertes Handeln – von Sprechchören bis hin zu geordneten Auf- oder Rückzügen – besser zu gewährleisten.“ (Gipfelsoli Infogruppe 2006)
Die bei Eingriffen der Polizisten in den Demonstrationszug (z.B. beim Entreißen von Transparenten oder bei Fest- bzw. Ingewahrsamnahmen) oft vorkommenden Aufforderungen durch den Lautsprecherwagen, Ketten zu bilden und aufeinander aufzupassen, sind eine situative Methode der Einheitsherstellung. Die verbreitete diskursive Fokussierung auf die Funktion
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des Widerstands gegen die Repression verstärkt den relationalen Charakter der Menschenketten – Wir-Linke gegen Sie-Polizei –, womit ein identitätsrelevanter Gegensatz rekursiv reproduziert wird. „Bei Übergriffen: Nicht in Panik geraten. Tief Luft holen, stehen bleiben und auch andere dazu auffordern. Spätestens jetzt heißt es, schnell Ketten zu bilden und wenn’s gar nicht anders geht, sich langsam und geschlossen zurückzuziehen.“ (Rote Hilfe 2006)
Hier werden die Ketten im Hinblick auf die Polizeieingriffe als Mittel der Selbstbestimmung der Demonstrantinnen interpretiert, die erlauben, sich nicht verdrängen oder zerstreuen zu lassen. Die körperlich-räumliche Einheit wird als schützenswertes „Wir“ und zugleich als Mittel zu dessen Erhalt gerahmt. Die emotionale Bedeutung der zusammenhaltenden Einheit wird auch körperlich konstruiert. Die Kettenbildung kann auch „horizontal“ als ein Steuerungsmittel unter Teilnehmerinnen versucht werden. Ein Beispiel: Nach dem Ende einer Großdemonstration gegen den Bush-Besuch am 22.5.2002 in Berlin blieben mehrere Tausend Teilnehmerinnen am Abend im Lustgarten neben dem Berliner Dom. Die Straße Unter den Linden war Richtung Friedrichstraße polizeilich, u.a. durch parkende „Wannen“ (größere Mannschaftswagen), abgesperrt. Aus meinem Beobachtungsprotokoll: Die Leute sitzen und stehen auf den Stufen des Doms (so auch ich, denn von hier aus habe ich den Platz gut im Blick), auf der Wiese oder auf der Straße rum. Es sind meist junge Menschen, von 17-18 bis Anfang 30, manche betont sportlich-cool, manche „Jeans und T-Shirt“, manche eher „hippie-mäßig“. Die Stimmung erinnert am ehesten an einen lauschigen Abend im Park. Es bilden sich mehrere lose Mengen, von denen sich manche bewegten, eher langsam und schwarmartig. Dazwischen und zum Teil direkt durch die Ansammlungen hindurch gehen oder rennen immer wieder Gruppen von Polizisten. Manche Gruppen bilden „festere“, dicht zusammen stehende Formationen, aus denen auch Gegenstände fliegen. Eine Gruppe trägt eine riesige Pappmache-Friedenstaube durch den Lustgarten. […] Eine Polizeikette rückt an die lose Menge, in der ich [inzwischen auf dem Rasen] stehe, im Laufschritt an. Viele Menschen rennen weg. Eine Gruppe von sieben-acht Menschen, alle über Dreißig, gemischt Frauen und Männer, bildet eine Kette und ruft laut „Nicht rennen!
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Nicht rennen!“. Dies zeigt begrenzt Wirkung – manche bleiben stehen, es werden aber keine weiteren Ketten gebildet.
Der oben erwähnte Effekt der Synchronisierung von Bewegungen durch die Ketten unterscheidet sich in seiner Wirkungsweise radikal von der Foucaultschen Disziplinarmacht, obwohl diese die Körper auch „synchronisiert“ (vgl. Foucault 1977). Die demonstrierenden „Körper“ sind nicht minutiös aufeinander abgestimmt, sie marschieren nicht.10 Die Synchronisierung geht nämlich auf die unmittelbare und wechselseitige Wirkung Einzelner zurück und hat einen interaktiven Charakter. Am deutlichsten wird dies beim Rennen: Dies wird typischerweise von der ersten Reihe der „Demo“ oder eines Blocks initiiert, indem diese stehen bleibt und von Zehn bis Eins laut rückwärts zählend auf der Stelle springt, um dann einen Sprint nach vorne zu machen; die folgenden Reihen können gar nicht anders, als mitzusprinten. Beim Laufen mit einem Transparent oder in einer Menschenkette besteht ein ständiger Ausgleich dadurch, dass die Nachbarinnen einander ausbremsen oder mitziehen. Die dadurch entstehenden kleineren „Ungereimtheiten“ werden typischerweise durch Lachen aufgelöst, was sicherlich zum stimmungshebenden Effekt des „Sprintens“ beiträgt. Die räumliche Anordnung der laufenden Menschenketten ist also nicht monolithisch-ordentlich, sondern beweglich, sie wird von den Beteiligten in Bezug auf Spaß und Selbstbestimmung interpretiert (was vermutlich auch darauf zurückgeht, dass die gewöhnlichen Bewegungsmuster von erwachsenen Menschen auf der Straße gebrochen werden). Daher war z.B. auch die Einschätzung der Demonstration „keine ruhe für [die] mitte“ im Kollektiv der „Stube“ positiv. Jan:
„Erste Reihe war echt der Hammer – wie viel mal sind wir gelaufen? Und zwar ganz schön gute Strecken“ (alle lachen)
(?):
„Sportsfreunde“ (lachen)
Ulli:
„Soll bestimmt Eindruck gemacht haben, so ein Mob, der Unter den Linden läuft!“
10 Dies bildet einen klaren Unterschied zur traditionellen Demonstrationskultur der radikalen Rechten mit der normativen Orientierung des Gemeinschaftserlebnisses u.a. auf die „Einübung und Stabilisierung ‚soldatischer Männlichkeit‘ und paramilitärischer Verhaltenselemente“ (Virchow 2006: 86).
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Interessant ist, dass das Laufen und Sprinten in den letzten Jahren, vor allem in Hamburg, regelmäßig zum Gegenstand behördlicher und gerichtlich bestätigter Auflagen gegenüber linken Demonstrationen wurde.11 Ich interpretiere diese Auflagen als Weg zur Reduktion der Demonstration auf die Funktion der „Meinungskundgabe“ und der damit einhergehenden Tendenz zur „Enträumlichung“ von Protesten (vgl. auch unten zu „befriedeten Bezirken“). Die Kettenbildung als Methode zur Herstellung einer beweglichen räumlichen Wir-Einheit ist nicht durchgehend verbreitet. Der erste Block läuft typischerweise in Ketten bzw. klar definierten Reihen, was im Vergleich zu anderen Teilen der Demonstration einen Eindruck von Ordnung hinterlässt. Diese Reihen werden von den organisierenden Gruppen und deren Umfeld „gestellt“, was den besagten Gruppen einen größeren Einfluss auf den tatsächlichen Ablauf der Demonstration erlaubt: durch die Vorgabe des Tempos oder durch die Möglichkeit, mit lauten und koordinierten Sprechchören die Stimmung anzufeuern. Die Großteile der Demonstration können allerdings viel „lockerer“ wirken. Viele schieben ihre Fahrräder mit, laufen eher in Kleingruppen als in Reihen, wechseln ihre Position im Zug, laufen auf der Suche nach Bekannten herum oder stellen sich an den Straßenrand und lassen die Demonstration an sich vorüberziehen. Das Mitführen von Fahrrädern wird von anderen Teilnehmerinnen mitunter als störend empfunden, was mit unfreundlichen Blicken und Kommentaren quittiert werden kann. Der hintere Teil der Demonstration wird dabei weitgehend als eine legitimere Aufenthaltsmöglichkeit für Fahrräder gesehen. Fahrräder sind nicht nur störende Elemente einer gleichmäßigen beweglichen Anordnung, sondern ihr Mitführen kann auch im Sinne einer partiellen Loyalitätsverweigerung störend sein. Diese Menschen zeigen keine Bereitschaft, von ihren raum-zeitlichen Routinen abzuweichen und unbequeme Wege auf sich zu nehmen, z.B. nach der „Demo“ noch das Fahrrad vom Auftaktort abholen zu müssen. Zu Zielscheiben korrigierender Eingriffe, meist durch den Lautsprecherwagen, gehören auch das Laufen neben der Demonstration auf dem Bürgersteig oder das In-die-Länge-
11 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27.5.2007, 1 BvQ 16/07 (http://www.bverfg.de/entscheidungen/qk20070527_1bvq001607.html,
Stand:
4.9.2008); Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 14.12.2007, 19 E 4056/07.
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Ziehen des Zuges, wobei beides das Bild der Geschlossenheit bedroht (vgl. allerdings unten zur neuen Out-of-Control-Strategie). Die Spitze der Demonstration wird auch von Transparenten mit Sprüchen und Bildern zu einem Block geformt. Das mehrere Meter lange „Fronttranspi“ ist üblicherweise aufwendig gestaltet, farbenfroh und mit einem Bild verziert (diese Tendenz existiert seit den 1990er Jahren). Die Seitentransparente werden im ersten Block dicht aneinander getragen, so dass der Eindruck von geschlossenen Fronten entsteht. Damit dienen sie nicht nur der Kommunikation von Inhalten nach außen und der Politisierung des Geschehens, sondern auch der deutlichen Definition von „Innen“ in Bezug auf „Außen“ und hiermit der räumlichen Herstellung des scharf abgegrenzten „Wir“, was eine eigenständige Rolle in Prozessen der Identität spielt. Die durchgehende Grenze der „Transpis“ wird auch als Schutz gegenüber möglichen Beobachtungen und Eingriffen der Polizeieinheiten (wie das Herausgreifen einzelner Teilnehmer) interpretiert (genauso wie die schon eher der Vergangenheit angehörende Praxis, Seitenseile mitzuführen). „Transpi (auch Transparent): ca. 3-6m langes Stück Stoff, bemalt mit politischen Forderungen, Parolen oder Rüttelreimen. Oft auch praktisch, um die eigene Gruppe wiederzufinden, als Sichtschutz und um zu verhindern, dass Bullen frech durch die Demo laufen. Manchmal durch dicke Seile oder auch Autoreifen verstärkt/gepolstert.“ (RedaktionsGruppe 2007: 47)
Die Länge der Seitentransparente wird regelmäßig zum Gegenstand von behördlichen Auflagen (sie wird typischerweise auf 150 cm beschränkt), nicht nur in für die eher repressive Polizeipraxis gegenüber den linken Veranstaltungen bekannten Hamburg, sondern auch in Berlin (beispielsweise bei der „Silvio-Meier-Demo“ 2007, der antifaschistischen Demonstration gegen einen Laden der rechtsradikalen Marke „Thor Steinar“ am 22.2.2008 oder der Demonstration gegen die Eröffnung der O2-Halle am 10.9.2008).12
12 Ähnliche Auflagen werden auch gegen Demonstrationen verhängt, bei denen lediglich eine massive Beteiligung linksradikaler Gruppen erwartet wird. So hieß es in der Begründung der Auflagen zur Demonstration „Freiheit statt Angst! – Stoppt den Überwachungswahn!“ am 11.10.2008: „Das seitliche Führen von Transparenten und Plakaten mit einer Länge von über 250 cm wird aus
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Allerdings werden diese Auflagen von der Berliner Polizei eher flexibel gehandhabt, d.h. nicht immer oder erst später im Verlauf der Demonstration durchgesetzt. Somit bieten sie dem Einsatzleiter und weiteren Polizeibeamten zunächst nur rechtlich gesicherte Spielräume für die in ihrem Ermessen liegenden Eingriffe. So waren bei der erwähnten Silvio-Meier-Demonstration 2007 deutlich längere Seitentransparente zu sehen.13 Neben dem körperlichen und visuellen Eindruck der Einheit, der von den Ketten bzw. dichten Reihen und Transparenten vermittelt wird, spielen die akustischen Elemente des Geschehens eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der Synthese der Demonstrationsräume. Sie unterstützen, dass das Ensemble von Teilnehmerinnen, Transparenten, Polizisten, Passanten, Straßen, Gebäuden und Autos als eine Einheit wahrgenommen und erinnert wird. Dabei ist zunächst zwischen den Redebeiträgen, Musik (von Punk, Hardcore, Ska, HipHop bis Techno und Elektro-Pop) oder „Jingles“ (Werbungen für die „richtigen“ Verhaltensweisen bei der Demonstration oder für weitere Veranstaltungen) aus dem Lautsprecherwagen auf der einen und den Sprechchören der Demonstrierenden auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die erlebte Qualität („Power“) der Demonstration wird von Szeneangehörigen eher danach beurteilt, wie aktiv die laufenden Demonstrantinnen sie – auch akustisch – mitgestaltet haben, was u.a. als Gegensatz zu langen Redebeiträgen oder Musiksequenzen definiert wird. Das Repertoire der Parolen, auf die ich hier nicht detailliert eingehen kann,14 hat einen thematisch breit gefächerten Kern und einige weniger
Gründen der Gefahrenabwehr untersagt. Längere Transparente würden das Austreten aus dem Aufzug eklatant erschweren. […] Des Weiteren bieten längere Transparente die Möglichkeit, Straftäter zu tarnen bzw. durch ein sogenanntes ‚Verseilen‘ der Transparente ein Eindringen von Polizeibeamten in den Aufzug unmöglich zu machen, so dass der polizeiliche Zugriff auf Straftäter verhindert wird.“ („Ablauf der Demo ‚Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn!‘ 2008 und das Berliner Versammlungs- und Polizeirecht“, http://www. jotzo.org/?p=609, Stand: 8.3.2009) 13 Vgl. „Bilder: Silvio-Meier-Demo 2007 in Berlin“, http://de.indymedia.org/ 2007/11/200716.shtml, Stand: 4.10.2008. 14 Einen umfangreichen, allerdings eher schlecht sortierten Überblick der Demonstrationssprüche bietet http://deu.anarchopedia.org/Demosprüche, Stand: 4.10.2008.
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bekannte oder nur begrenzt einsetzbare Sprüche. Manchmal werden Sprüche auf Zetteln unter den Teilnehmerinnen verteilt. Gerade die Sprechchöre synthetisieren einen öffentlichen Raum, in den nicht nur die Teilnehmer, sondern auch Passanten und anderes Publikum mit einbezogen werden. Bei der Außenwirkung kommt es allerdings darauf an, wie deutlich die Parolen skandiert werden und wie einfach sie zu verstehen sind. Das Skandieren hilft, genauso wie die Transparente, eine politische Aussage zu formulieren und dem ganzen Geschehen einen politischen Charakter zu verleihen. Eine schweigsame Demonstration riskiert, diesen Charakter zu verlieren und sich in einen Spaziergang zu verwandeln, wird als langweilig und „lahm“ empfunden. Beispielsweise rief eine Gruppe auf der Demonstration für das Projekt „Køpi“ im Frühjahr 2007 (im Zuge der im ersten Teil des Kapitels erwähnten Solidaritätskampagne für dieses Wohnprojekt und Kulturzentrum), nachdem der Zug eine längere Zeit schweigsam gelaufen war: „Leute, lasst es Demo sein – werft doch ein paar Sprüche ein!“15 Die Gestaltung der Sprüche wird den Teilnehmerinnen überlassen. Was und wie lange gerufen wird, wird ausgehandelt: Menschen schließen sich den von Anderen initiierten Sprechchören für eine bestimmte Zeit an (oder nicht), oder sie rufen einen anderen Spruch, womöglich explizit dagegen, und können selbst die in ihrer Umgebung laufenden Menschen mitreißen. Das Ansagen von Sprüchen mit einem Megaphon durch einen vorne laufenden „Anführer“ wird nicht praktiziert und als ein Merkmal von „dogmatischen“ Jugendorganisationen wie „Linksruck“ kritisch-ironisch abgelehnt. Stattdessen ist es, wie viele andere Elemente des Geschehens der Demonstration, eine Sache des Aushandelns, was im Sinne der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gedeutet wird. Das führt immer wieder zu Auseinandersetzungen unter Demonstrierenden, die sich zu (auch handgreiflichen) offenen Konflikten entwickeln können. Anlässe können das Mitführen von Nationalfahnen (meist entlang der Pro-Israel-/Pro-PalästinaKonfliktlinie), die gerufenen Sprüche oder das Verhalten Einzelner sein.
15 Dies ist eine Abwandlung des Spruchs „Bürger, lasst das Glotzen sein – reiht euch in die Demo ein!“.
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Ein Beispiel aus dem Interview mit Lisa: Lisa:
So Allgemeinstress innerhalb der Demo, klar, das habe ich [schon öfter erlebt ☺] Ist dass irgendwie so ganz, ganz dumme Sprüche kommen und so.
Tanja:
Was meinst du mit dummen Sprüchen?
Lisa:
Na ja, wenn zum Beispiel (.) wenn jemand brüllt, Eure Eltern sind Geschwister! [khm ☺] Es ist ein verdammt unreflektierter Nazispruch, so. Und der hat auf unserer Demo überhaupt nix verloren! Oder so Sachen (P) ach_ Ihr Bullen, geht ins Asylantenheim! Also das ist ☺ *Hallo!*
Tanja:
Und was macht ihr da, wenn so was kommt, von Leuten?
Lisa:
Na also ich (.) ich gehe eigentlich ziemlich darauf ab, ich stress sie an, ob sie da irgendwie ’nen Plan haben, was sie da gerade gesagt haben, und ob sie mir das irgendwie erklären können, warum sie das gesagt haben. Und ob sie irgendwie auch die Hintergründe kennen. Und_ Ja. Und die meisten sagen dann auch, Klar +ist ja gut, ist ja gut, haste ja Recht, haste Recht.+ Keine Ahnung, was sie da machen. Aber manche fangen halt auch an, ziemlich rumzuärgern. (P) Ja. (.) Dann weiß ich ab ’nem bestimmten Punkt dann auch nicht, was ich da machen soll ☺ Ich sage denen halt meine Meinung, und mehr kann ich nicht machen.16
Dass die teilnehmenden Individuen die oben mehrfach dargestellten korrigierenden Eingriffe vornehmen, ist m.E. durch die Rolle der Demonstrationen für die Entwicklung kollektiver und individueller Identitäten zu erklären. Die Teilnahme an einer Demonstration bedeutet die Beteiligung an einem Identitätsangebot, das nicht nur in Mobilisierungstexten und Auswertungen, sondern auch im unmittelbaren Verlauf, u.a. durch die Konstitution der jeweiligen Räume, konstruiert wird. Das „falsche“ Verhalten der Mitlaufenden färbt nicht nur auf den Charakter des Geschehens und das entsprechende Wir-Angebot ab, sondern darüber hinaus auch auf die sozialen Identitäten anderer Beteiligter. Nicht nur die Teilnahme an Demonstrationen, sondern auch das aktive Einbringen gehört zum Prototyp der Ange-
16 Die Zeile „Hey ihr Zecken, Eure Eltern sind Geschwister“ kommt im Lied „Eure Eltern sind Geschwister“ („Die Rückkehr des Unbegreiflichen“, 2004) der extrem rechten Band „Lunikoff Verschwörung“ vor. „Ihr Bullen, geht ins Asylantenheim“ bezieht sich wahrscheinlich auf den Spruch „Bullen abschieben!“.
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hörigen der linken Szene (und damit zur Wir-Definition). Zur Mitgestaltung gehört neben dem Rufen von Sprechchören, Mittragen eines „Transpis“ oder dem Zusammenhalten auch die Verantwortung für den Ablauf der Demonstration, die nicht restlos der Leitung oder den Organisatoren überlassen wird. Der verbreitete Duktus der Eigenverantwortung setzt bestimmte Handlungskompetenzen voraus, die beispielsweise im Rahmen von organisierten Aktionstrainings angeeignet werden können. Nicht das Wissenvon, sondern das praktische Wissen-wie soll vermittelt werden; die Fähigkeit zum kollektiven politischen Handeln wird auf der körperlichen Ebene erarbeitet (dieser Gedanke wird im Fazit der vorliegenden Studie entwickelt). Die Verhaltensnormen haben nicht nur Individuen, sondern auch so genannte Bezugsgruppen im Fokus. Diese Kleingruppen bilden eine weitere Ebene der Wir-Identitäten, insbesondere bei den Demonstrationen und anderen Protestereignissen. Mit der Bezugsgruppe ist ein über eine Situation hinausgehender, dennoch nicht durch einen Namen17 formalisierter Zusammenschluss einiger Personen gemeint, bei dem sowohl emotionale Vertrauensbeziehungen als auch kompatible Vorstellungen vom eigenen Vorgehen die Grundlage bilden. Im Vorfeld einer Demonstrationen wird im Freundes- und Bekanntenkreis abgefragt und abgesprochen, wer zur Demonstration gehen und was er dort machen will. Die wichtigste Regel ist, nicht alleine zu einer Demonstration zu gehen: „Gehe nach Möglichkeit nie alleine auf eine Demo oder zu einer anderen Aktion. Es ist nicht nur lustiger mit Menschen unterwegs zu sein, die Du kennst und denen Du vertraust, sondern auch sicherer. Profimäßig ist es, zusammen hinzugehen und zusammen den Ort des Geschehens wieder zu verlassen. Sinnvoll ist es auch, in der Gruppe vorher das Verhalten in bestimmten Situationen abzusprechen. Dabei sollte Raum für Ängste und Unsicherheiten Einzelner sein. Während der Demo sollte die Gruppe möglichst zusammen bleiben.“ (Rote Hilfe 2006)
Dass die Bezugsgruppen zusammen bleiben und handeln sollen, bedeutet wiederum, dass die im Abschnitt zur „Emotional-körperlichen Raumsyn-
17 Abgesehen von einem verabredeten Codenamen, der in unübersichtlichen Situationen gerufen wird, um einander zu finden. Dadurch wird die Anonymität Einzelner gewährt und schnelle Kommunikation ermöglicht.
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these“ analysierte Produktion des Vertrauens, die mit der Beteiligung an riskanten kollektiven Aktionen verbunden ist, sich auf diese Zusammenhänge fokussiert. Die Aufforderung, als ein Mini-Zusammenhang zur Demonstration zu gehen, zielt darauf ab, das in einer Situation erworbene Vertrauensgefühl über eine weite Zeitspanne hinweg reproduzierbar zu machen. Das funktioniert allerdings nicht immer. So nennt Lisa im oben schon zitierten Interview eine weitere Form von „Stress“: Lisa:
Und was halt ganz blöd ist, wenn es jetzt aus der Gruppe, wenn man als Gruppe auf eine Demo geht und vorher nichts abgesprochen hat, wie man sich in bestimmten Situationen verhält. Oder alle total verstreut dorthin und dorthin laufen und irgendwie nicht zusammen halten. (.) Darum hatten wir uns auch schon gestritten, das ist auch schon vorgekommen, dass irgendwelche Leute von mir rannten.
Tanja:
(Also) dass es total auseinander geht(?)
Lisa:
Dann brauchen wir auch nicht mehr als Gruppe hingehen, also… ☺
Insgesamt zielt die Aufforderung, zusammen zu halten, darauf, die Einheit des demonstrativen Raums auch in Situationen des äußeren Drucks wie bei polizeilichen Eingriffen zu erhalten. „Schwarzer Block“ In der Praxis gibt es variabel und nicht durchgehend einsetzbare Methoden, einen Wir-Raum der Demonstration herzustellen, der nach innen und außen Zusammenhalt und Stärke ver-körpern soll. Dass dieser Raum eine eigene Aussage entwickeln kann, ist am Beispiel des Phänomens des „Schwarzen Blocks“ besonders gut sichtbar, das in Deutschland seit Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre bekannt geworden ist und die oben beschriebenen Elemente des einheitlichen demonstrativen Raums in der deutlichsten Form trägt. Diese Aktionsform der radikalen Linken erlebte seitdem eine Transformation, was auf eine Veränderung der Mobilisierungssituation sowie der rechtlichen Lage (das bereits genannte Vermummungsverbot und das Verbot von Schutzwaffen, vgl. § 17a VersG) und der Polizeitaktiken (u.a. verstärktes Einsetzen von Auflagen und ihre Durchsetzung beispielsweise mittels Vorkontrollen) zurückzuführen ist. Zu den wesentlichen Elementen des „Schwarzen Blocks“ gehört – neben der Bildung von Ketten
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(was kaum noch durchgehend gemacht wird) oder dichten Reihen – vor allem eine einheitliche, dunkle, überwiegend schwarze Bekleidung und Vermummung (schwarze Kapuzenpullover und/oder Outdoorjacken, breite dunkle Sonnenbrille, Tücher, Basecaps oder Regenmützen). Sie wird als Mittel zum Unkenntlichmachen der Einzelnen und als Symbol für die Bereitschaft zu militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei bzw. zu direkten Aktionen interpretiert, also zur Eskalation einer appellativen in eine direkte Demonstration (vgl. Balistier 1996: 47). Die typische Deutung der Vermummung unter den Szeneangehörigen ist, dass sie die Erkennbarkeit der Einzelnen erschwert, damit einen gewissen Schutz vor Repression bietet und den Handlungsraum für direkte Aktionen erweitert. Eine zweite mögliche Lesart ist, dass auf diese Weise eine stilistisch-symbolische kollektive Einheit hergestellt wird. Beide Lesarten, die eher interne und die eher externe, können dahingehend zur Konsistenz gebracht werden, dass im Rahmen des „Schwarzen Blocks“ die Subjektivität des Demonstranten (verstanden als Fähigkeit zu handeln) direkt an seine soziale Identität gebunden ist, die durch die geteilte Stilisierung betont wird. Die Stilisierung trägt eine eigenständige Aussage, an deren Konstitution auch die Massenmedien beteiligt sind.18 Die „Schwarzen Blöcke“ der Göttinger „Antifa [M]“ (in Motorradhauben – sogenannten „Hasskappen“ – und Helmen) bei Bündnisdemonstrationen gegen neonazistische Zentren Anfang bis Mitte der 1990er Jahre haben wohl für die einprägsamsten Bilder gesorgt (vgl. zu deren Weiterverwendung auf Plakaten HKS 13 1999: 157f.). Sie waren auch als Strategie gedacht, die Symbolik des militanten Antifaschismus inklusive der Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols mithilfe der Medien ausstrahlen zu lassen (vgl. Antifa [M] 1996). Die Reduktion der Militanz auf das Symbolische, d.h. der Verzicht auf die tatsächlichen Ausschreitungen durch die selbstauferlegten Verpflichtungen, war ein Teil dieser von der Polizei de facto akzeptierten Strategie (vgl. A.G. Grauwacke 2003: 302ff., Langer 2004: 227f.). In der „Dimension der Bedrohung im Bewegungsdiskurs zwischen den Polen Symbolik und Effektivität“ (Balistier 1996: 62) verschob sich der „Schwarze Block“ klar Richtung Symbolik. Die Bedeutung der Militanz als einer zielgerichteten,
18 So etwa: „Randale in Rostock – 430 verletzte Polizisten“, Spiegel-Online vom 2.6.2007,
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,486280,00.html,
Stand: 4.10.2008.
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politisch zu vermittelnden Aktion überwiegt hier weiterhin deutlich die alternative Deutung der subjektiven Befreiung (zu beiden Bedeutungen siehe Schultze/Gross 1997: 81). Für die letzten Jahre kann behauptet werden, dass der „Schwarze Block“ nur auf wirklichen Großdemonstrationen anzutreffen ist, bei denen die Polizei keine durchgehenden Vorkontrollen durchsetzen kann, wie es im Sommer 2007 bei den G8-Protesten in Rostock der Fall war. Die symbolische Wirkung des „Schwarzen Blocks“ und das militante Vorgehen (Straßenschlachten, Steine werfen, „Pyros“19 abschießen, Barrikaden bauen, Schaufenster einwerfen, Polizeifahrzeuge umwerfen u.Ä.) müssen als zwei verschiedene Elemente des komplexen Demonstrationsgeschehens betrachtet werden (vgl. Paris 1991: 120ff.). Im Laufe der Zeit hat die symbolische Komponente der inszenierten, versprochenen Militanz eine größere Bedeutung bekommen. Im Sinne der Inszenierung ist auch die relativ neue Praxis des Anziehens von mitgebrachter schwarzer Kleidung erst nach den Vorkontrollen durch die Polizeibeamten, im Laufe der Demonstration, einzuschätzen.20 Die gemeinsame Stilisierung trägt eine eigenständige Aussage, der von der Wir-Einheit und vom Antagonismus geprägte SchwarzerBlock-Raum wird zu einem mitunter physikalischen Rahmen des autonomen Massenmilitanz-Mythos. Offen bleibt dabei die Frage, wie lange diese Symbolik funktionieren kann, wenn die von linksradikalen Akteuren geprägten Massenmilitanz-Ereignisse selten stattfinden. Das Modell „Schwarzer Block“ ist dennoch bisher nicht von der Bildfläche verschwunden und hat sich über die Grenzen der landesweiten Mobilisierung und der linken politischen Selbstidentifikation hinaus verbreitet. Seit den Anti-WTO-Protesten von Seattle 1999 hat sich der „Black Bloc(k)“ als eine militante (Demonstrations-)Praxis während Protest-Großereignissen und eine darauf basierende politische Identifikation im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung etabliert. Die identitäre Rolle der militanten Praxis kann durch ein Zitat aus einer „zusammenfassende[n] Einschätzung der Ereignisse in Genua aus Sicht eines Militanten“ illustriert werden:
19 „Pyros“ – pyrotechnische Munition. 20 Vgl. „Modemagazin für Demos – Demotipps“, http://www.youtube.com/watch? v=vazy5X3SDqI, Stand: 8.3.2009.
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„Hergeführt hatte sie [die Militanten] allein das politische Grundverständnis: der Gipfel muß angegriffen werden, und zwar nicht nur verbal, sondern praktisch, indem die Rote Zone attackiert wird - und die Polizei, da sie diese Zone verteidigt. Dabei war (fast) allen sicherlich klar, daß es unmöglich sein würde, einem Bush, Berlusconi oder Schröder nahezukommen. […] Auch der praktische, militante Angriff würde also ein symbolischer sein, aber mit der klaren Aussage: wir begnügen uns nicht mit kritischer Rede und dem Schwenken von Fahnen. Für uns Militante gibt es keine Brücke, über die wir an den Katzentisch der Mächtigen gehen würden.“ (Glückspilz 2001)
Für die Übernahme des „Schwarzen Blocks“ über die Grenzen der linken politischen Identifizierung hinaus steht eine sich als „Autonome Nationalisten“ bezeichnende Strömung deutscher Rechtsradikaler. Diese versucht damit nicht nur den individuellen Stil, sondern vor allem die kollektiven Inszenierungen und Aktionsformen der linken Autonomen bei Demonstrationen zu übernehmen, so wie es z.B. bei Ausschreitungen in Hamburg am 1. Mai 2008 der Fall war. Die physisch-symbolische, räumliche Anordnung der Einigkeit, Stärke und Militanz hat ein starkes Potenzial für die (Re-)Produktion der kollektiven Identität von Teilen der radikalen Linken. Allerdings kann sie nicht von diesen „gepachtet“ bleiben, da ihre Aussage mit vielen anderen Bausteinen der politischen Identität (wie Männlichkeit oder Nation) problemlos kombinierbar ist (vgl. Kritik von Grünert 2008). In den Strukturen der linken Szene wird vor diesem Hintergrund eine kritische Auseinandersetzung zur Ästhetisierung von Massenmilitanz geführt (vgl. Antifaschistisches Infoblatt Nr. 80/2008). Die Suche nach Alternativen Die oben erwähnte Veränderung der rechtlichen Lage und die Verschärfung der behördlich-polizeilichen Praxis prägen den Kontext, in dem von Akteuren der radikalen Linken verstärkt nach anderen Demonstrationsmodellen gesucht wird. Als eine gezielte Reaktion auf den verstärkten Einsatz der polizeilichen Wanderkessel-Strategie (speziell in Hamburg) wurde das Outof-Control-Konzept vorgeschlagen. Diese Polizeistrategie lässt die räumliche Einheit einer Demonstration von einem selbstbestimmten zu einem aufgezwungenen Modell werden, riegelt die Demonstrierenden nach dem Behälter-Modell durch ein massives Seitenspalier vom Publikum ab und
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macht damit die Herstellung einer geteilten Öffentlichkeit unmöglich. Den Ausgangspunkt der Suche nach Alternativen bildet die Kritik am Modell des geschlossenen Demonstrationsblocks: „Wir bewegen uns häufig in der paradoxen Situation, dass die Praxis eines geschlossenen Blocks als Selbstschutz, für die von den Bullen angestrebte Kontrolle des umgebenden Raumes arbeitet. Je dichter wir stehen, je weniger Chaos auf unserer Seite umso kontrollierbarer das Ereignis für die Polizei.“ (AK Out of Control 2007)
Als eine ergänzende Alternative wird das Um-Laufen des Kessels durch eine bewegliche, schwarmartige Menschenmenge vorgeschlagen: „‚Out of Control‘ zielt in die Weite des Raumes und ist subversive Zerstreung als wirkungsvolles Mittel gegen einschließende Begleitung der Polizei. Es versteht sich als ein offenes und niedrigschwelliges Konzept des zivilen Ungehorsams. Alle sollen nach ihren Vorstellungen daran teilnehmen können. Es ist vielseitig bietet Raum für Kunst, Kultur, politische Intervention oder autonome Praxis. Es setzt auf unsere Beweglichkeit und Spontanität, lebt von Gewusel und unwiderstehlichem Chaos. […] ‚Out of Control‘ ist ein solidarischer Teil der eigentlichen Demonstration und umgibt diese wie ein wuseliger Mantel. Die Demo ist geschlossen, im Block und offensiv. ‚Out of Control‘ so nah wie möglich an der Demonstration, aber immer im Rücken der begleitenden Polizeikräfte. Im besten Fall entsteht durch Parolen, Transparente, Aktionen oder Musik eine gemeinsame Interaktion. Die Demo nutzt die Räume die entstehen, wenn das begleitende Spalier auf ‚Out of Control‘ reagiert und umgekehrt.“ (AK Out of Control 2007)
Dieses u.a. an die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm anknüpfende Konzept wurde kurz vor einer Antirepressionsdemonstration am 15.12.2007 in Hamburg vorgeschlagen, für die bundesweit mobilisiert wurde; es sollte erstmals auf dieser angewandt werden. Tatsächlich nahmen ein- bis mehrere hundert Menschen an Out-of-Control-Aktivitäten teil, die Polizei versuchte allerdings mehrfach und teilweise erfolgreich, sie einzukesseln und wieder in den Demonstrationszug einzugliedern.21 Inwieweit
21 „Hamburg:
Bundesweite
Antirepressionsdemo“,
media. org/2007/12/202692.shtml, Stand: 4.10.2008.
http://www.germany.indy
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dieses explizit räumlich gedachte Demonstrationsmodell sich als Teil des Repertoires der (radikalen) Linken durchsetzen kann, kann heute noch nicht beurteilt werden.22 Es gibt weitere Formen der Protestinszenierungen, die bei den Demonstrationen zustande kommen und mit der räumlichen Logik des geschlossenen „Wir“ brechen. Als neue Protestformen wurden seit den 1990er Jahren vor allem Pink&Silver, „Clowns-Armee“ und Samba-Bands bekannt (vgl. Amann 2005, RedaktionsGruppe 2007: 17ff.). Der starre Gegensatz zwischen „bunten“ und „schwarzen“ Protestierenden ist allerdings als Konstrukt in der Traditionslinie einer wertenden Unterscheidung zwischen „gewaltfreien“ und „gewalttätigen“ Akteuren anzusehen. Ohne die entsprechenden, facettenreichen Auseinandersetzungen und Zuschreibungen unter den Bewegungsakteuren und in der Presse zu rekonstruieren, möchte ich festhalten, dass Straßenprotest-Formen mit einer Betonung des Spiel- und Spaß-Faktors schon in der linksradikalen Szene der 1980er und 1990er Jahre anzutreffen waren, die auch für die oben dargestellten „Einheitsräume“ prägend war (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe et al. 1997, A.G. Grauwacke 2003: 142ff.). Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Spaß„Partei der extremen Mitte“ KPD/RZ („Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum“) und die von ihr in 1990er Jahren initiierte Gemüseschlacht zwischen Angehörigen der linken und befreundeter lokaler Szenen aus den Berliner Bezirken Kreuzberg und Friedrichshain auf der Oberbaumbrücke über die Spree. Unter der Anleitung der KPD/RZ fand beispielsweise die nächtliche 1. Mai-Demonstration 1994 unter dem Motto „Gegen nächtliche Ruhestörung und sinnlose Gewalt“ statt. In ihrem Rah-
22 In eine ähnliche Richtung wie Out of Control geht das Floating-Block-Konzept bei Bündnisdemonstrationen, wie es für den linksradikalen Antikapitalistischen Block auf der „Wir zahlen nicht für eure Krise“-Demonstration am 28.3.2009 angestrebt war: „Wir brauchen jetzt ein offensives Eintreten für antikapitalistische Perspektiven, das sich dabei nicht von den anderen DemoteilnehmerInnen abgrenzt, sondern Diskussionen anstößt, verbindet und radikalisiert! Der ‚Floating Block‘ mischt sich in die Demo. Wir wollen uns nicht abkapseln und uns nicht von Polizeikordons unsichtbar machen lassen.“ („‚Floating Block‘ auf der Berliner Demo am 28. März ‚Die Krise heißt Kapitalismus!‘. Ein offenes Blockkonzept für eine eingreifende Kapitalismuskritik“, http://www.kapitalis muskrise.org/28-maerz/floating-block/, Stand: 25.10.2010).
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men wurden die linken 1. Mai-Rituale und -Mythen mit Parolen wie „Deutsche Polizisten – Gärtner und Floristen“ (statt des eigentlichen „Mörder und Faschisten“) oder „Ein Kampf, ein Wille, Mut zur Stille“ karikiert.23 Die Techniken der Spaß- bzw. Kommunikationsguerilla der 1990er Jahre und die neueren „bunten“ Protestformen haben ältere Vorläufer wie Aktionen der Situationistischen Internationale, der 68er Studentenbewegung oder die Ausdrucksformen des Punk. Die Parade stellt eine neuere Demonstrationsform dar.24 Als eine wichtige Vorlage kann die in Berlin seit 1997 jährlich stattfindende Fuckparade (ehemals Hateparade) genannt werden. Sie wird von den sich als nichtkommerziell und subkulturell identifizierenden Akteuren der Techno-Szene organisiert, die gegen die Verdrängung der „Freiräume“ aus der Mitte der Stadt, die Kommerzialisierung (speziell der Loveparade) und den „Hauptstadtwahn“ protestieren. Die Parade-Form mit Trucks und elektronischer Tanzmusik verbreitete sich in den letzten Jahren mit der seit 2006 (bis 2009) auch in Berlin stattfindenden Mayday-Parade oder der Spreeparade am 12.7.2008 gegen die Bebauung des Spreeufers. Spätestens eine „Nachttanzdemo“, die zum traditionellen Anlass linksradikaler Proteste gegen den Tag der deutschen Einheit am 3.10.2008 organisiert wurde, zeugt von der Verankerung dieser Demonstrationsform. Unterstützt wurde die von der Gruppe ARAB („Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin“) organisierte Demonstration u.a. vom Fuckparade-Netzwerk, was für das stärkere Engagement von Akteuren der lokalen „alternativen“ Kulturszenen bei Parade-Demonstrationen und für die explizite Suche nach szeneübergreifenden Bündnissen spricht. Die Parade-Form der Demonstration ist ein Produkt der innerhalb der linken Szene stattfindenden Suche nach einem offeneren Bild (oder mit einem anderen Wort: Raum) der Demonstrationen, das eine inklusive statt einer exklusiven Wir-Einheit ausdrücken soll.
23 Vgl. auch die 1. Mai-Kundgebung „Schluss mit dem Pollen-Terror“ und für den „Feuerwehreinsatz in Krisengebieten“ im Jahr 2002. 24 Der Begriff „Parade“ bezieht sich auf die Techno-Kultur und wird englisch ausgesprochen.
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„Sie [die Mayday-Parade] muss offen sein und zum Mitmachen einladen. Deshalb wollen wir gerade keine klassische linke Blockdemonstration. Unsere inhaltlichen Punkte wollen wir mit anderen Mitteln deutlich machen: mit Themenwagen, Aktionen am Rande, Schildern, Fahnen, Transparenten, Sprechblasen, wandelnden Littfasssäulen, mobilen Beamern für Parolen und allem was uns sonst noch einfällt. Es ist uns wichtig, dass die Parade ein offenes und einladendes Bild nach außen abgibt, denn das soll sie ausdrücken: wir freuen uns über alle, die sich uns anschließen wollen. […] Zum Mitmachen animiert man nicht, wenn man schon durch einen TransparentKondom (wir meinen die kondommäßig um die Demospitze zusammengeknoteten Transparente) signalisiert ‚Wir wollen unter uns bleiben‘. So können wir nicht über die linksradikale Szene hinausreichen.“ (FelS 2007)
Eine 2007 getroffene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Anerkennung der Fuckparade als Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts ist vor diesem Hintergrund als ein weiterer Schritt zur Etablierung der Parade-Demonstration anzusehen.25 Die Fuckparade 2001 wurde zunächst von der Berliner Versammlungsbehörde nicht als eine Demonstration im Sinne der Versammlung zur politischen Meinungsäußerung anerkannt, und die Bestätigung der Anmeldung wurde verweigert. Es fand stattdessen eine Demonstration gegen das Verbot der Fuckparade statt, und zwar unter der Auflage des Verzichts auf Musikanlagen. Mit dem darauf bezogenen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts fand die Parade-Demonstration eine klare versammlungsrechtliche Anerkennung. In der Praxis handelt es sich bei den „protestivalesken“ Demonstrationen (vgl. protestivals bei St. John 2008) um durchaus gemischte räumliche und kulturelle Formen. Viele Menschen tanzen hinter dem einen oder anderen elektronische Musik abspielenden Wagen voran, eine bunte SambaBand trommelt und skandiert Sprüche, die „Clowns-Armee“ ist mit Perü-
25 „Enthält eine geplante Zusammenkunft von Personen Elemente, die sowohl auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die anderen Zwecken dienen, ist sie als Versammlung im Sinne des Grundgesetzes und des Versammlungsgesetzes zu behandeln, wenn die anderen Zwecke nicht aus der Sicht eines durchschnittlichen Betrachters erkennbar im Vordergrund stehen.“ (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16.5.2007, 6 C 23.06, siehe http://www.bverwg.de/media/archive/5259.pdf, Stand: 4.10.2008).
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cken, bemalten Gesichtern und Wasserpistolen im Einsatz. Die Mehrheit verkleidet sich allerdings nicht und läuft wie bei einer „normalen“ Demonstration mehr oder (eher) weniger geschlossen „mit“, viele schieben ihre Fahrräder, auch die übliche Ausdrucksform der Transparente ist zu sehen. Dementsprechend kann nicht von einer komplett neuen Demonstrationsform und ihrer räumlichen Anordnung die Rede sein, auch wenn die Unterschiede zu einer Blöcke-Demonstration deutlich sind. Auch die letztgenannte ist eher als ein Modell zu betrachten, das in der Praxis nicht bei jeder linksradikalen Demonstration anzutreffen ist. Zudem prägt sie eine einzelne Demonstration nicht durchgehend im gleichen Maße. Das Verhältnis der beiden genannten Modelle ist auch kaum als eine chronologische Abfolge zu verstehen. Das illustriert ein Kommentar zu den G8Protesten in Rostock von Befürwortern des Block-Modells: „Die Phase der Fahrrad durchdrungenen Latschdemos mit lauter lustiger Lautsprechermusik und dazu wippenden Köpfen scheint für den Moment verbannt. Die Demos um den G8-Gipfel herum zeichneten sich durch größere organisierte Blöcke, Ketten, Seitentransparente, laute Parolen und eine kraftvolle Stimmung aus.“ (massen&militanz 2007)
Die Relevanz wird der Unterscheidung zwischen der räumlichen Geschlossenheit (Block) und Offenheit (Parade) eines Demonstrationszugs vor allem durch die Intentionen und Diskurse der Veranstalterinnen zugeschrieben.26 So werden konkrete episodische Räume der Demonstrationen zu einem Gegenstand der Diskurse um eine inklusivere oder exklusivere Version des „Wir“, das die Akteure der linken Szene anzubieten haben. Die Strukturmomente, die sich in den Anordnungen der episodischen politischen Räume von Demonstrationen herausbilden, werden im konkreten Fall auf der praktischen und diskursiven Ebene umgesetzt und sind Veränderungen unterworfen.
26 Vgl. zur Diskussion um den Mayday 2007 die interim Nr. 651 (29.2.2007), FelS (2006, 2007).
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Wohin geht die Demonstration? Zu „Denen“ Nachdem die raumrelevanten interaktionalen Elemente der Demonstrationen der linken Szene in Bezug auf die praktischen Verhaltensregeln diskutiert wurden, werde ich mich nun mit solchen räumlichen, symbolischen Anordnungen befassen, die in Protestepisoden zwar genutzt und (re-)produziert werden, ihren Maßstab jedoch überschreiten. Bei Demonstrationen werden von den Akteuren einerseits die Bedeutungen genutzt, die konkreten Gebäuden und Orten unter anderen Umständen zugeschrieben wurden. Auf der anderen Seite werden die Bedeutungen auch transformiert und neu erschaffen, im Sinne der räumlichen Strukturierung kollektiver Identität. Oben wurde bereits die gemeinsame Fortbewegung der Teilnehmer als Mechanismus der Synthese charakterisiert, mit dessen Hilfe die Einheit eines episodischen politischen Raums hergestellt wird. Die Bedeutung der Synthese der räumlichen Anordnungen durch die Fortbewegung erschöpft sich jedoch nicht nur durch die Verbindung einzelner Teilnehmerinnen. Vielmehr können auch einzelne Orte, Straßenzüge oder Gegenden mitsamt ihren Interpretationen in diese Räume integriert werden. Diese Inklusion wird zum Bestandteil der kollektiven Erfahrung des Demonstrationsgeschehens, wenn es verbal oder durch andere Verhaltensweisen entsprechend gerahmt wird. Typischerweise wird versucht, Demonstrationen und Kundgebungen an Orten mit klaren politischen Bedeutungen zu veranstalten (Sewell 2001: 64). Auf diese Weise werden auch die von etablierten politischen Institutionen konstituierten Bedeutungen der Orte zum Gegenstand von symbolischen Auseinandersetzungen (Tilly 2000: 138f.). Für viele Demonstrationen der linken Szene stimmt diese Betrachtung, wobei das feste Repertoire der „feindlichen“ Orte eher beschränkt ist: Es sind rechtsradikale Zentren (etwa die NPD-Parteizentrale oder Gegenden, die als von Rechten dominiert bekannt sind), Repräsentationsorte der Exekutive (beispielsweise das Auswärtige Amt) und Vorzeigeorte der kapitalistischen bzw. neoliberalen Gestaltung der Stadt (Friedrichstraße, Potsdamer Platz). Die NPD-Parteizentrale in Berlin-Köpenick wurde zu einem populären Zwischen- bzw. Zielpunkt antifaschistischer Demonstrationen, genauso wie die Abschiebehaftanstalt Köpenick für antirassistische Proteste. Deren geografische Nähe ermöglichte darüber hinaus die Integration beider in die Räume derselben Demonstrationen und damit die situativ-räumliche Verbindung von antifaschistischen und antirassistischen Frames. Besonders
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deutlich wurde diese Verknüpfung im Rahmen der Kampagne „Endlich weg damit! NPD-Zentrale abreißen – Abschiebeknäste abschaffen!“ (vgl. Antifaschistischer Aufstand Köpenick 2004). Das frame bridging (vgl. Snow et al. 1986: 465f.) des „rechten Konsenses“ in der Gesellschaft, mit der Fokussierung auf die Neonazis und den Staat als wichtigste Antagonisten des eigenen kollektiven Handelns, ist für die Akteure der linken Szene nicht neu, auch wenn sie wenig Relevanz für das alltägliche politische Handeln besitzt (vgl. den Demospruch „Nazis morden, der Staat schiebt ab – das ist das gleiche Rassistenpack!“). Durch die räumliche Konstruktion erfahren die kognitiven Konstrukte hier eine eigenständige emotionalsolidarische Verstärkung, die für kollektive Aktionen der linken Szene typisch ist. Die „feindlichen“ Objekte eignen sich gut dazu, die Veranstaltung zu fokussieren, wobei sie als eigentliche Zielscheiben des Protests und zugleich als Verkörperung und Symbol der definierten Probleme behandelt werden. Das entsprechende Framing findet in Texten wie Aufrufen, Flyern, Presserklärungen u.Ä. statt. So erklärte die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) im Vorfeld einer27 Revolutionären 1. Mai-Demonstration 2002: „Unter dem Motto ‚Kapitalismus abschaffen! Eine andere Welt ist nicht möglich!‘ werden wir die radikale Kritik der herrschenden Verhältnisse dorthin tragen, wo sie am besten aufgehoben ist – nach Mitte.“28 Der Berliner Bezirk Mitte (bzw. seine Teile wie die Friedrichstraße oder die Oranienstraße, für die die ursprüngliche Route angemeldet war – dieser Umstand wird im Text erwähnt) wird als idealer Ort für die Proteste begriffen, an dem der Widerstand gegenüber herrschenden Verhältnissen eine direkte Wirkung entfalten kann. Die Revolutionäre 1. Mai-Demonstration des ACT!-Bündnisses zwei Jahre später sollte vom Potsdamer Platz (dem Symbol für die neue, schicke Hauptstadt Berlin) aus und am Auswärtigen Amt (dem Symbol für die deutsche Außenpolitik) vorbei gehen. Nach längeren Verhandlungen mit der Versammlungsbehörde konnte die Demonstration
27 Es handelt sich dabei um die „18 Uhr-Demo“. In diesem Jahr fanden noch die „13 Uhr-“ und die „16 Uhr-Demo“ statt, deren Organisatorinnen sich auf den Revolutionären 1. Mai bezogen, jedoch verschiedenen politischen Strömungen angehörten (vgl. Rucht 2003). 28 „1. Mai 1.2.2009.
Berlin“,
https://www.antifa.de/cms/content/view/12/73/,
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zwar nicht am Auswärtigen Amt vorbei ziehen, aber in der unmittelbaren Nähe des Potsdamer Platzes anfangen (vgl. Indymedia29, taz 2004). Die Aussage kann auf diese Weise verstärkt werden, außerdem fungieren die Orte als eigenständige symbolische Ressourcen. Die Bezugnahme auf diese Ressourcen bei kollektiven Aktionen findet nicht ausschließlich in den Texten, sondern auch durch Zwischenkundgebungen oder Redebeiträge aus dem Lautsprecherwagen sowie manchmal durch kleine Aktionen am Rande des Zuges statt. Beispielsweise wurde am Rande der EuroMayday-Parade im Jahr 2006 eine Filiale der Drogeriekette „Schlecker“ mit einem Transparent und Aufklebern als eine „Prekäre Zone“ markiert. Wenn die Bezugnahme nicht geschieht, kann auch nicht von einer unmittelbaren Integration der fremden Orte in die eigenen kollektiven Protesträume gesprochen werden – ein einfaches Vorbeiziehen ist nicht genug.30 Die Integration der „fremden“ oder „feindlichen“ Orte in die eigenen episodischen politischen Räume bedeutet deren Aneignung und die Ausübung der Definitionsmacht durch die Protestierenden. Am Ende des theoretischen Teils formulierte ich in Anlehnung u.a. an Bourdieu, dass die Gestaltung von räumlichen Anordnungen einen spezifischen Gewinn im Kampf um die Durchsetzung der legitimen Sicht auf die soziale Welt bietet. Allerdings werden die physisch-materiell verkörperten Sichtweisen auf die gerade beschriebene Weise angreifbar. So kann das Gebäude des Abschie-
29 „1. Mai-Demo Berlin: 16.00 Uhr Leipziger Platz“, http://de.indymedia.org/ 2004/04/81634.shtml, Stand: 4.10.2008. 30 So in Kommentaren zur antirassistischen Bündnisdemonstration am 5.7.2008 auf Indymedia: „Zur inhaltlichen Kritik, die Redebeiträge hätten sich nicht auf die historisch- und oder/aktuell relevanten Orte bezogen: es gab ein ziemlich genaues Konzept, wann welcher Redebeitrag kommen sollte und das genau in Abstimmung auf die Orte (Sicherheit/Frontex/Außengrenzen am Außenministerium z.B.; rassistische Polizeigewalt an der Wache an der Friedrichstraße, Kritik an Abschiebeanhörungen beim Arbeitsamt etc.). Die Route wurde auch genau wegen dieser Orte gewählt. Das dies nicht deutlich geworden ist, ist sicherlich schade, kann schlimmstenfalls auch Folge von Verzögerungen in der Route/Laufschnelligkeit sein, auf Zwischenkundegbungen wurde aber bewusst verzichtet, um die Demo nicht in die Länge zu ziehen“. („3000-4000 Menschen bei Antira
in
1.2.2009)
Berlin“,
http://de.indymedia.org/2008/07/221421.shtml,
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begefängnisses Grünau als Symbol für die Abschottungspolitik Deutschlands angegriffen werden, wie es bei einer antifaschistischen Demonstration am 7.10.2000 passierte: U.a. attackierten einige Personen den Eingangsbereich, indem sie mit einem Absperrgitter auf die verglaste Pförtnerloge einschlugen. Eine weitere mögliche Interpretation dieser Handlung ist die vorgespielte Öffnung des Gefängnisses. Das zentrale, genuin räumliche ideologische Konzept des linken Antirassismus seit den 1990er Jahren – Bewegungsfreiheit contra hermetische Behälter von Deutschland bzw. EU – wird auf diese Weise konkret in Szene gesetzt, und zwar inklusive der eigenen Identität der aktiven politischen Subjekte. Solche Angriffe haben einen symbolischen Charakter, trotzdem eignen sie sich gut dazu, die dauerhafte „Ordnung der Dinge“ in Frage zu stellen. Dies gilt aufgrund der Tatsache, dass die Demonstration keine reine symbolische Handlung ist, sondern eine körperliche und unter Umständen eine massenhafte (die gerade erwähnte Demonstration hatte nach verschiedenen Einschätzungen fünfbis achttausend Teilnehmerinnen). Anzumerken ist noch, dass der körperlich-symbolische Angriff auf feindliche Objekte bzw. deren „Zwangsintegration“ in die eigenen Protesträume kein spezifisches Phänomen der modernen linken Szene ist; beispielsweise wurden bei den Wahlrechtsdemonstrationen in Preußen Anfang des 20. Jahrhunderts öfter BismarckDenkmäler zu Ersatzobjekten der symbolischen Aggression, indem eine rote Fahne auf ihnen entfaltet wurde (Warneken 1991b: 106f.). Wohin geht die Demonstration? Zu „Uns“ Die allgemeine Verbreitung der Integration in die demonstrativen öffentlichen Räume betrifft nicht nur die „fremden“ oder „feindlichen“, sondern auch die „eigenen“ Orte. Beispielsweise führten die beliebten Routen der sozialdemokratisch geprägten Wahlrechtsdemonstrationen auch an „eigenen“ Orten wie an einem Gewerkschaftshaus oder einer sozialdemokratischen Zeitungsredaktion vorbei (Lindenberger 1995: 329f.). Bei den mich unmittelbar interessierenden zeitgenössischen, von der linken Szene geprägten Demonstrationen stimmt dies vor allem für diejenigen mit einem expliziten ideologischen Bezug auf die eigenen Räume: „Häuserdemos“ bzw. „Freiräume-Demos“ und einige antifaschistische Demonstrationen. Bedingt stimmt das auch für die Revolutionären 1. Mai-Demonstrationen. Diese beziehen sich auf den Mythos der Kreuzberger 1. Mai-Randale und
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die Erinnerung an das „bullenfreie“ Kreuzberg, zurückgehend auf breitflächige Auseinandersetzungen von Autonomen mit der Polizei im Jahr 1987. Der Begriff „Mythos“ erscheint deshalb angemessen, da die Erinnerung an diese Ereignisse aufgrund des Generationenwechsels in der linken Szene von dem alltäglichen, kommunikativen ins ritualisierte, kulturelle Gedächtnis der Gruppe gewandert ist (vgl. Assmann 2000: 48ff.). Ein konkreter Ort, der jahrelang für die Erinnerung an die Ereignisse und Erlebnisse von 1987 stand, war die Ruine des „aufgemachten“, geplünderten und abgebrannten Supermarkts „Bolle“ an der Wiener Straße. Noch 2002 bildete die „Bolle-Ruine“ einen Bezugspunkt der 16 Uhr-Demonstration (siehe Fußnote 27), auf deren Plakaten die „Autonome Republik Kreuzberg + Friedrichshain“ heraufbeschworen wurde. Dass die angesprochene Erinnerung sich von der erlebten zur diskursiv vermittelten wandelt, zeigt die in Kleinschrift hinzugefügte Erklärung des Ortes der Auftaktkundgebung „Supermarkt Bolle – 1. Mai 87 ausgebrannt“. In einem Beitrag in der interim Nr. 547 (4.4.2002), dessen Autoren dieser vom Autokomms-Spektrum („Autonome Kommunisten“) geprägten Demonstration überaus kritisch gegenüber stehen, ist dagegen unkommentiert vom „Bolleplatz“ die Rede. Das ist mit dem „Fachcharakter“ der Publikation zu erklären, die das entsprechende Wissen bei den Leserinnen voraussetzt. Die Reste des Gebäudes, die als „Ex-Bolle“ zum Symbol des lokalen und konkreten Freiheitserlebnisses geworden waren, wurden erst 2005 von der Baustelle eines islamischen Kulturzentrums abgelöst. Während „Ex-Bolle“ vor allem eine Erinnerungsfunktion hatte, verhält es sich mit den von „Häuserdemos“ angesprochenen Orten anders – sie sind auch für das Alltagsleben vieler Szeneangehöriger von großer Bedeutung. Im ersten Teil dieses Kapitels habe ich mich ausführlich mit dem Freiräume-Frame befasst, der bei solchen Demonstrationen auch von Bedeutung ist. Diese Demonstrationen werden von Akteuren der Wohn- und Kulturprojekte der linken Szene organisiert, was auch aus den Listen der unterstützenden Gruppen bei Mobilisierungstexten ersichtlich ist. Dies widerspricht der verbreiteten These, dass solche Projekte Teile einer für die gesamte linke Szene wichtigen Infrastruktur seien. Im untersuchten Zeitraum ist nur eine solche Mobilisierung mit breiter Unterstützung anderer Zusammenhänge (beispielsweise aus dem antifaschistischen Spektrum) einhergegangen – die für den Erhalt des bereits erwähnten Wohn- und Kulturzentrums „Køpi“ in den Jahren 2007 und 2008. Die Unterstützung kon-
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kreter, sich im Konflikt mit dem Eigentümer bzw. Verwalter befindenden Hausprojekte bildet den zentralen Fokus solcher Mobilisierungen. Als Freiräume-Demonstrationen bezeichne ich solche, die sich nicht auf ein Projekt fokussieren, sondern die schlechte Lage für Hausprojekte bzw. Wagenburgen an mehreren Fällen festmachen.31 Typischerweise nehmen diese Demonstrationen den Bezug auf bestimmte „bedrohte Projekte“, indem sie den Startpunkt in ihrer Nähe ansetzen (wie vor der Yorckstraße 59 am 1. Mai 2005) oder mit Zwischenkundgebungen an ihnen vorbei gehen. Der inhaltliche Eigenbezug wird auf diese Weise situativ verstärkt. Die antifaschistischen Demonstrationen in Friedrichshain und den angrenzenden Ostberliner Bezirken, in letzter Zeit auch im Westberliner Bezirk Neukölln, bieten einen weiteren Typus der Demonstrationen mit einem starken Bezug auf die eigenen Räume, vor allem die jährlichen SilvioMeier-Demonstrationen Ende November. Mit ihnen wird an den von Neonazis 1992 am U-Bahnhof Samariter Straße ermordeten Antifaschisten und Hausbesetzer Silvio Meier erinnert. Die eigenen Räume werden hier durch den Antagonismus Wir versus Nazis konzipiert, und zwar als jugendkultureller Gegenentwurf zur antizipierten oder wahrgenommenen rechtsradikalen Dominanz auf den Straßen. Der relationale Bezug auf „eigene“ und „feindliche“ Räume wird in denselben Stadtteilen, an denselben Orten hergestellt. Ich zitiere ein Beispiel aus dem Aufruf zur „Silvio-Meier-Demo“ 2004 unter dem Motto „Keine Homezone für Faschisten“: „Die Konzentration von Strukturen der Neonazi-Szene und ihrem Anhang bestimmt unmittelbar das allgemeine Klima in den rechten Homezones. Wenn jeden Tag neue faschistische Parolen an den Häusern auftauchen, die Laternen voll sind mit NPDAufklebern, Rechtsextremisten in größeren Gruppen unterwegs sind und keine Angst vor den Anwohnern haben müssen, dann hat das auch für Alle spürbare Auswirkungen.“
Mit der Route dieser Demonstrationen durch den Lichtenberger Weitlingkiez wurde ein rechtsradikales Ballungszentrum symbolisch angegriffen, indem die antifaschistischen politischen Räume „stellvertretend“ für die angestrebte alltägliche Dominanz produziert wurden. In Jahren 2006 und
31 Hierbei handelt es sich um eine analytische Unterscheidung zwischen zwei Begriffen. In der Szenepraxis werden sie ohne klare Trennung genutzt.
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2007 war allerdings die Verschiebung des inhaltlichen Schwerpunkts zu den eigenen Freiräumen deutlich, mit Parolen wie „Wir sind gekommen um zu bleiben!“ bzw. „Get up, stand up! Antifa heißt Angriff! Linke Freiräume verteidigen!“. Das wurde auch durch die Verlagerung der Strecke 2007 von Lichtenberg nach Friedrichshain betont. Nicht nur im antifaschistischen Bereich kann im Rahmen einer Demonstration sowohl auf die Wir- als auch auf die Sie-Orte Bezug genommen werden. Eine typische Route der größeren Demonstrationen verbindet die Bezirke Mitte und Kreuzberg. So ging die szeneübergreifende antirassistische Bündnisdemonstration zum fünfzehnten Jahrestag des Inkrafttretens der Neuregelung des Asylrechts, bei dem im Zuge des sogenannten Asylkompromisses der Zugang zum politischen Asyl stark eingeschränkt wurde, am 5.7.2008 unter dem Motto „Für ein globales Recht auf Migration – Solidarität ohne Grenzen“ vom Schlossplatz vorbei am Roten Rathaus, dem Auswärtigen Amt, über den Gendarmenmarkt und die Friedrichstraße weiter zu einem Konzert am Kreuzberger Oranienplatz. Auch die „Häuserdemo“ gegen die drohende Räumung des Hausprojekts „Rigaer 94“ am 22.5.2008 zog mit Anti-Yuppies-Parolen durch die Simon-Dach-Straße und machte einen Zwischenstopp in der Nähe des Bezirksamtes an der Frankfurter Allee, um Forderungen an den Bezirkbürgermeister zu übergeben. Statt von einer Typologie der Demonstrationen angesichts der symbolischen Bezugnahmen auf die eigenen bzw. feindlichen Orte und Räume zu reden, sollen diese als unabhängige und im Einzelfall kombinierbare Varianten eines Mechanismus betrachtet werden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass das Muster einer klaren Dichotomie vorherrscht. Dies bedeutet, dass die Orte entweder als „feindliche“ oder als „eigene“ definiert werden. Auf „neutrale“ symbolhafte Orte wird kaum Bezug genommen, genauso wie appellierendes Verhalten an den Orten staatlicher Institutionen in der radikalen Linken eine Ausnahme darstellt. Wie schon festgestellt, erlauben nicht die Routen als solche, sondern vor allem aktive Formen der situativen Bezugnahme (Zwischenkundgebungen, Ansprachen, Angriffe am Rande), bestimmte Orte in die eigenen Protesträume zu integrieren und die ihrem Charakter nach verräumlichte Deutungsmacht über diese Orte – aber eben nicht nur über sie – zu entwickeln. Diese Bezugnahme ist in zweierlei Hinsicht selektiv: Die Demonstrationen gehen nicht durchgehend an bedeutungsvollen Orten vorbei und umfassen nur jeweils einige wenige aus dem potenziellen „Pool“. Ursprünglich
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wollte ich über die „symbolischen Landschaften“ der linken Szene schreiben, durch die die Demonstrationen sich bewegen würden. Jedoch impliziert dieser Begriff eine Kontinuität und innere Kohärenz der entsprechenden Räume, die sich nicht empirisch beobachten lässt. Stattdessen werde ich – in Anlehnung an die zunächst von Kindheitsforscherinnen aufgestellte These von der Verinselung der Lebensräume (Zeiher/Zeiher 1994, Löw 2001: 82ff.) – von verinselten symbolischen Räumen der linken Szene sprechen, die u.a. im Rahmen von Demonstrationen produziert und reproduziert werden. Die kollektive Identität als geteilte Definition der Gruppe wird in kollektiven Aktionen u.a. in Form von symbolischen Räumen (re-)produziert, die den Maßstab dieser Aktionen überschreiten. Es existiert dennoch keine durchgehende Identitätslandschaft der linken Szene. Stattdessen können Orte, Gebäude und Gegenden in ein kognitives und emotionales Verhältnis zu identitätsrelevanten Akteuren, Gruppen und Phänomenen gesetzt werden, indem die Demonstrantinnen entsprechend auf sie rekurrieren. Das geschieht durch Mobilisierungstexte wie Aufrufe (Plakate mit ihren knappen Angaben spielen hier eine geringere Rolle) oder unmittelbar im Rahmen der Protestepisode – durch Zwischenkundgebungen oder Zwischenstopps, Ansagen der „Demoleitung“ aus dem Lautsprecherwagen, Sprechchöre oder körperlich-symbolische Angriffe wie Flaschenwürfe oder „Pyros“. Die identitätstragenden Relationen zwischen „Uns“ und „Denen“ werden im Rahmen der räumlichen Anordnungen körperlich erfahrbar. Von den klassischen Antagonisten des linksradikalen „Wir“ in verschiedenen Themenfeldern sind nur die Polizisten mit „ihren“ Orten im Rahmen der symbolischen Protesträume so gut wie nicht vertreten. Das ist einfach nicht nötig, denn bei jeder angemeldeten Demonstration sind sie von Anfang an in persona vor Ort. Die Interaktionen zwischen Polizistinnen und Demonstranten rahmen den Demonstrationsraum als einen antagonistischen. Die Interaktionen können in diesem Sinne fokussiert (im Konflikt um die den Auflagen vermeintlich nicht entsprechenden Transparente, beim Herausgreifen von Personen, beim Werfen von Steinen oder Flaschen auf Beamte u.Ä.) oder durch „bloße Anwesenheit“32 geprägt sein. Im vier-
32 Die Anführungsstriche sind dem Umstand geschuldet, dass alleine das Auftreten von gepanzerten Polizisten, begleitet von Wasserwerfern, eine visuelle Androhung von physischem Zwangs bedeutet, wie auch umgekehrt das Formieren eines „Schwarzen Blocks“ so intendiert und empfunden werden kann.
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ten Kapitel bin ich der Frage nach der emotional-körperlichen Raumkonstitution im Rahmen einer antagonistischen Interaktion zwischen Protestierenden und Polizei ausführlich nachgegangen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das In-Szene-Setzen der eigenen linken kollektiven Identität auf der Straße keine choreografierte, monolithische Inszenierung, sondern ein von Aushandeln und Konflikten geprägter Prozess ist. Eine „auferlegte Körperregie“ (Raab et al. 2002: 137) wie bei Massenveranstaltungen der Nationalsozialisten ist nicht vorzufinden. Der Begriff der Inszenierung bezieht sich stattdessen darauf, dass den Beteiligten die symbolische Wirkung ihrer Protestformen bewusst ist (vgl. Paris 1991: 122). Wichtig ist zu betonen, dass es sich bei den episodischen räumlichen Anordnungen und den abstrakteren symbolischen Räumen um eine analytische Trennung verschiedener Aspekte der selben Protesträume handelt. Für die Protesträume ist gerade ein Zusammenwirken der beiden Ebenen prägend. Um dieses besser nachzuvollziehen, ist es hilfreich, sich an die im zweiten Kapitel begründete Differenzierung verschiedener Elemente der Räume zu erinnern: symbolische, materiell-physische und praktisch-institutionelle Raumelemente. Die sich fortbewegenden Akteure integrieren nicht nur die materiell-physischen Raumelemente in das soziale Geschehen der Demonstration, sondern auch die Bedeutungen, die diesen in szenetypischen Diskursen, womöglich in direkter Opposition zu anderen Deutungen, zugeschrieben werden. Indem diese Bedeutungen mit den eigenen räumlichen Anordnungen einer Demonstration, mit ihren materiellen und praktischen Elementen verknüpft werden, werden sie – in deren Rahmen – körperlich erlebbar. Auf diese Art und Weise können die Elemente der geteilten Gruppendefinition, so meine These, als Teil der Demonstrationspraxis intensiv erfahren und somit zugleich reproduziert werden. Die Intensität der Eindrücke speist sich aus der Emotionalität der Teilnahme, die von freudiger Aufregung und ausgelassener Feier-Stimmung bis zum Nervenkitzel und Adrenalin-Kick reicht. Die Teilnahme kann in vielen Fällen aber auch als langweilig charakterisiert werden (vgl. oben zur „Power“ einer Demonstration). Neben der Orientierung auf bedeutungsvolle und damit als Identitätsressourcen geeignete Orte spielen auch andere Faktoren bei der Festlegung der Routen eine Rolle. Erstens handelt es sich um pragmatische Aspekte wie die Länge der geplanten Strecke, deren Bewältigung den Teilnehmenden zugemutet wird, und die davon abhängige Dauer der Demonstration
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einschließlich der Auftakt-, Zwischen- und Abschlusskundgebungen. Zweitens stellen die Routen der (angemeldeten) Demonstrationen typischerweise ein Ergebnis der größtenteils im Vorfeld stattfindenden Aushandlungen zwischen diversen Akteuren dar, in denen die behördlichen Restriktionen eine wesentliche Rolle spielen.33 Auf der einen Seite stehen die Vertreter administrativer und polizeilicher Kontrollinstanzen, die einen Anspruch auf die Kontrolle der „öffentlichen Räume“ erheben. Die andere Seite bilden die an der Vorbereitung direkt beteiligten Gruppen. In manchen Fällen wird die Judikative (bis zum Bundesverfassungsgericht) herangezogen. Konkret ist dies in der Demonstrationspraxis der linken Szene vor allem für antifaschistischen Demonstrationen bzw. Kundgebungen gegen rechtsradikale Versammlungen relevant, wie weiter unten diskutiert wird. Wohin darf die Demonstration nicht gehen? Die polizeilich-administrativen Einschränkungen zum Ort bzw. zur Streckenführung einer demonstrativen Aktion sollten nicht als rein pragmatische Maßnahmen missverstanden werden, die den interpretativen und emotionalen Raumbezügen der Protestakteure entgegenzusetzen wären. Vielmehr haben sie eine eigene symbolische Wirkung, genauso wie das bei konkreten Interaktionen zwischen Demonstrantinnen und Polizistinnen im Laufe einer Veranstaltung der Fall ist. Es handelt sich bei diesen Einschränkungen einerseits um Verbote bzw. Auflagen zur Streckenführung des Demonstrationszuges, die in konkreten Situationen verhängt werden, beispielsweise mit der Begründung, dass sich aus der räumlichen Nähe zu politischen Gegnern Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ergäben. Andererseits betreffen die Einschränkungen Bereiche, in denen das Recht, den Versammlungsort frei zu bestimmen, generell nicht greift. Unter den öffentlichen Räumen gehören dazu zunächst die so genannten befriedeten Gebiete um die Verfassungs- bzw. Gesetzgebungsorgane und Gedenkstätten von herausragender Bedeutung. Durch das deutsche Versammlungsrecht ist die Existenz von befriedeten Bezirken für die Gesetzgebungsorgane des Bundes und der Länder so-
33 Dieses Phänomen ist kein Spezifikum der Demonstrationen der linken Szene (vgl. Tartakowsky 1991: 233, Lindenberger 1995: 329ff., della Porta 1998a: 236f.).
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wie für das Bundesverfassungsgericht geregelt (BefBezG 2008, § 16 VersG). In Berlin betrifft dies die Gebiete um den Reichstag bzw. um die weiteren, anliegenden Gebäude des Bundestags, um den Sitz des Bundesrats und um den Tagungsort des Abgeordnetenhauses von Berlin, deren genaue Grenzen gesetzlich festgelegt sind (BefBezG 2008, BannmG). Im Zusammenhang mit dem Umzug des Bundestags und des Bundesrats nach Berlin wurde das Bannmeilenrecht neu gestaltet und gelockert. Nach dem alten Gesetz waren öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und „Aufzüge“ (die Bezeichnung für Demonstrationen im Versammlungsrecht) innerhalb der Bannmeile generell untersagt und die Ausnahmen in das Ermessen der Behörde gestellt. In der Neufassung wurde dem Antragsteller unter Berücksichtigung der relevanten Rechtsprechung ein Anspruch auf Zulassung einer Versammlung eingeräumt – allerdings unter der Voraussetzung, dass keine Beeinträchtigung der Tätigkeit der Verfassungsorgane zu befürchten ist (vgl. Bundesregierung 2002). Dieser Anspruch richtet sich demnach insbesondere auf die Tage, an denen keine Sitzungen der entsprechenden Organe stattfinden (§ 3 BefBezG 2008). Auf diese Weise wird die Möglichkeit eingeräumt, an den symbolischen Wert des Parlaments bzw. seiner Gebäude im Rahmen einer Versammlung zu appellieren – aber nicht praktisch an die entsprechenden Organe. Den episodischen politischen Räumen wird das über das Symbolische hinausgehende Element der direkten Aktion auf diese Weise entzogen, ihre körperliche und damit räumliche Wirksamkeit – z.B. den Abgeordneten den Weg zu versperren – soll verhindert werden. Die das Abgeordnetenhaus betreffenden Regelungen im Berliner Landesrecht fallen restriktiver aus: Öffentliche Versammlungen und Aufzüge sind in seinem Umkreis generell verboten, Ausnahmen liegen im Ermessen der Behörden. Das bedeutet allerdings nicht, dass Demonstrationen in diesen Bereichen generell unmöglich sind. So fand im Anschluss an eine angemeldete Freiräume-Demonstration im Januar 2002, die von Friedrichshain an existierenden oder versuchten Wohn- und Kulturprojekten vorbei zum U-Bahnhof Kottbusser Tor in Kreuzberg führte, eine Spontankundgebung vor dem Abgeordnetenhaus statt. Die Möglichkeit zu demonstrativen Aktionen in den „befriedeten Bezirken“ wird eingeschränkt, indem Versammlungen nicht nur bei der jeweiligen Versammlungsbehörde angemeldet werden müssen, sondern auch der Zulassung weiterer Institutionen bedürfen. Bei den „befriedeten Bezirken“
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des Bundes erfolgt dies durch das Bundesinnenministerium, das im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Bundestags bzw. Bundesrats entscheidet; bei einer Versammlung im „befriedeten Bannkreis“ des Landes Berlin entscheidet der Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin im Einvernehmen mit dem Senator für Inneres. Die gesetzgebenden Organe definieren einen Kontrollanspruch über das an ihre Sitzungsorte angrenzende Territorium – und reproduzieren damit performativ den besonderen Charakter dieser Orte. Unter den linksradikalen Politikfeldern sind hauptsächlich antimilitaristische Proteste davon betroffen, in erster Linie gegen die öffentlichen Gelöbnisse der Bundeswehr, die in den Jahren 2008 und 2009 vor dem Reichstagsgebäude stattfanden und ihrerseits auf das Gebäude der Volksvertretung Bezug nahmen. Damit inszenierten sie – in einem weiträumig abgeriegelten Bereich – die Verbundenheit des Volkes mit der Armee. Dennoch wird hier eine weiter gehende Tendenz sichtbar: Durch die Details dieser Regelung werden öffentliche Versammlungen weitgehend auf ihre symbolische Komponente reduziert. Die Tendenz zur „Enträumlichung“ der Proteste durch das Aushöhlen ihrer körperlichen Komponente ist als Teil des Trends zum regulierenden und einschränkenden Umgang mit Straßenprotesten seitens der staatlichen Machtstrukturen in der Berliner Republik zu verstehen, der den repressiven und verbietenden Duktus überwiegend abgelöst hat (vgl. Roth 1997). Eine weitere permanente territoriale Einschränkung der Versammlungsfreiheit bezieht sich auf die Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, die „von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung“ sind – speziell auf das Berliner „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ (§15 VersG). Diese Novelle des Versammlungsgesetzes wurde 2005 vor dem Hintergrund eines für den 8. Mai desselben Jahres geplanten NeonaziAufmarsches verabschiedet. Befürchtet wurde, dass die Rechtsradikalen symbolisch wirksam unter schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger Tor ziehen würden, was ihnen bereits im Januar 2000 gelungen war, als sie gegen das geplante Holocaust-Mahnmal protestiert hatten. Dementsprechend besagt die weitere Voraussetzung für das Verbot oder die Auflage, dass die konkrete Versammlung die Würde der Opfer beeinträchtigen würde. Auch wenn die Einschränkung für die linke Szene nicht unmittelbar relevant ist, sollte die zugrunde liegende Logik genannt werden: Die öffentlichen politischen Räume an symbolhaften Orten sollen der verstärkten
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Kontrolle staatlicher Organe unterworfen werden, wobei diese Orte vom Gesetzgeber performativ definiert werden. Mit Privatgelände gibt es eine weitere räumliche Kategorie, deren Charakter immer wieder in der Praxis als Begründung für die Ver- oder Behinderung der demonstrativen Aktionen angewandt wird. Das Selbstbestimmungsrecht über den Ort der Veranstaltung bezieht sich auf den öffentlichen Raum.34 In diesem Zusammenhang sind antirassistische Aktionen an Flughäfen, mit denen gegen die Abschiebepraxis protestiert wird, zu nennen – etwa die Aktion „Fluten 3.0“, die bei einem Antirassismus-Camp in Hamburg im August 2008 stattfand. Das zentrale räumliche Konzept des linken Antirassismus – Bewegungsfreiheit contra hermetische (supra-) nationale Behälter – wurde schon in Bezug auf die Aktionen gegen das Abschiebegefängnis Köpenick angesprochen. Beim „Fluten“ in Hamburg führten ca. 150 Aktivistinnen über einige Stunden hinweg im Terminal 1 des Flughafens unterschiedliche Aktionen durch, von der Verteilung von „global passports“ über die Flutung von Toiletten bis zu Protesten von „Pauschaltouristen gegen Abschiebungen“.35 Diesmal machte der Betreiber keinen massiven Gebrauch von seinem Hausrecht. Anders verhielt es sich beispielsweise im März 2003 im Frankfurter Flughafen, als gegen eine Aktivistin Hausverbot verhängt wurde, da sie Flugblätter gegen eine Abschiebung an die Passagiere eines Fluges verteilt hatte. Interessant ist an diesem Fall das juristische Nachspiel. Die Gerichte bis zum Bundesgerichtshof vertraten die Auffassung, dass die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch das Hausrecht der Betreiberin rechtmäßig eingeschränkt werden können: „Die mittelbare Wirkung der Grundrechte im Privatrecht führe nicht dazu, dass ein Betrieb Demonstrationen
34 Vgl. in einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts: „[D]ie Entscheidung über Ort und Zeit der Versammlung setzt die rechtliche Verfügungsbefugnis über den Versammlungsort voraus; Art. 8 GG begründet also kein Benutzungsrecht, das nicht schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen besteht.“ (Bundersverwaltungsgericht, Urteil vom 29.10.1992, 7 C 34.91) 35 „Fluten 3.0. Protestzone gegen Abschiebungen im Terminal 1 – Ein Warnstreik am Hamburger Flughafen gegen die Charter der Schande“, http://www. umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/220808flughafen_hh.html,
Stand:
4.10.2008; „Antira-Aktionen im Terminal des HH-Flughafens“, http://de.indy media.org/2008/08/225124.shtml, Stand: 4.10.2008.
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auf seinem Gelände hinnehmen müsse; Entsprechendes gelte für die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit.“36 Auf diese Weise wird eine Differenz zwischen den Nutzungsansprüchen von „öffentlich zugänglichen“ und „öffentlichen“ Räumen untermauert. Die Privatisierungstendenzen können in diesem Sinne zu einer weiteren Marginalisierung der Straßenproteste als einer Möglichkeit der Straßennutzung führen (vgl. Huning 2006: 198). Indem der staatliche Verfügungsanspruch über die „öffentlichen Räume“ privatisiert wird, verliert die damit verbundene Funktion der Polizei, die Versammlungen auch zu schützen, an Bedeutung. In Berlin wurde schon 2000 eine beantragte Demonstrationsroute der Abschiebungsgegner zum Flughafen Schönefeld mit der Begründung, es handele sich um ein privates Gelände, nicht genehmigt, so dass letztendlich nur eine „Wald-und-Wiesen-Demonstration“ fernab der Öffentlichkeit möglich war (Wendel 2000). Dies zeigt die Bedeutung des Hausrechts (und des Eigentumsrechts als seiner Grundlage) für die öffentliche Ordnung und speziell für die lokalen politischen Öffentlichkeiten demonstrativer Aktionen. Der oben bereits genannte staatliche Anspruch der Kontrolle über die öffentlichen Räume wird auch mit situationsabhängigen Verboten bzw. Auflagen bezüglich des Ortes einer demonstrativen Aktion erhoben. Das wird im Falle der Proteste gegen rechtsradikale Demonstrationen besonders deutlich, wenn die räumliche Trennung von „Linken“ und „Rechten“ mit der Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, d.h. mit der Befürchtung gewaltsamer Auseinandersetzungen, begründet wird. Die entsprechenden Auflagen bezüglich der Orte und Routen antifaschistischer Gegenkundgebungen und -demonstrationen zu Neonazi-Veranstaltungen gehörten in Berlin im untersuchten Zeitraum praktisch zu deren Normalablauf. Von solchen Auflagen waren allerdings auch rechtsradikale „Zielveranstaltungen“ betroffen. So wurde die Route einer NPD-Demonstration am 1. Mai 2002 von Berlin-Mitte in den (Ost-)Randbezirk Hohenschönhausen verlegt. Trotz mehrfacher vorheriger Anmeldungen antifaschistischer Veranstaltungen auf der möglichen Route durfte eine
36 Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.1.2006, V ZR 134/05 (http://juris. bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art= pm&Datum=2006&Sort=3&anz=15&pos=4&nr=35393&linked=urt&Blank=1 &file=dokument.pdf, Stand: 4.10.2008).
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Gegendemonstration letztendlich nur auf der entgegengesetzten Seite einer S-Bahn-Strecke stattfinden, was die von der Polizei angestrebte räumliche Trennung erleichtern sollte. Das Verbot einer Veranstaltung in der Nähe des Neonazi-Aufmarsches wurde damit begründet, dass „die Veranstaltung des Antragstellers die Verhinderung des NPD-Aufmarsches bezwecke und beim Zusammentreffen beider Gruppierungen die öffentliche Sicherheit gefährdet sei“ (Verwaltungsgericht Berlin 2002). Auch das Verwaltungsgericht hat dies im Eilverfahren bestätigt (ebd.). Erst fast drei Jahre später wurde die Rechtswidrigkeit des Bescheides durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin37 festgestellt. In der Begründung heißt es: „Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe genießt auch eine Gegendemonstration den vollen Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit, solange sie sich kommunikativer Mittel bedient und nicht ausschließlich dem Zweck dient, die Veranstaltung, gegen die sie sich richtet, mit physischen Mitteln zu verhindern. […] Der Schutz des Art. 8 GG endet erst dort, wo die andere Veranstaltung gleichsam im Wege der Selbsthilfe mit Gewalt, deren Androhung oder groben Störungen, die nach § 21 VersG strafbar sind, physisch verhindert werden soll.“
Das besagte Einsetzen von „physischen Mitteln“38 spricht eine Grenze an, die für das Selbstverständnis des linksradikalen Antifaschismus grundlegend ist und in zweifacher Hinsicht relational verläuft: die Bereitschaft zur direkten, physischen Konfrontation mit den Antagonisten (Nazis) und zugleich die durch diese Definition der Mittel gemachte diskursive Abgrenzung gegenüber dem Publikum (den bürgerlichen politischen Subjekten). Die Proteste gegen die neonazistischen Versammlungen vermischen Elemente der direkten (Zwang durch Schadensandrohung) und der demonstrativen Aktion (vgl. Balistier 1996: 60ff.). Die identitäre Distanz bezieht sich u.a. auf die räumliche Entfernung, das radikale „Wir“ grenzt sich von „bürgerlichen“, in der Ferne stattfindenden Protesten ab. Nicht nur Barrikaden und Gewaltanwendung werden als legitime Mittel des politischen Handelns
37 Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 23.2.2005, 1 A 188.02. 38 Vgl. § 21 VersG: „Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
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betrachtet, sondern beispielsweise auch Sitzblockaden auf der Route, die das Fortschreiten des rechten Aufzugs indirekt stoppen sollen („Kein Fußbreit den Faschisten!“). Das Vorgehen der Polizei wird in die eigene Strategie mit einbezogen, indem angestrebt wird, dass die Polizei die NeonaziDemonstration aufgrund der Unmöglichkeit, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, abbricht, ihre Route radikal kürzt oder sie gar nicht vom Auftaktort loslaufen lässt (wie in Berlin am 1. Mai 2010). Das „Rankommen“ an die Rechten, auch in Kleingruppen jenseits der eigenen Demonstrationszüge, bekommt einen eigenen Wert und wird als selbstbestimmtes politisches Handeln gedeutet („Selbstbestimmung“ bildet einen zentralen Bezugspunkt der von den Autonomen geprägten linksradikalen Identität). Die Parole „Gebt den Nazis die Straße zurück – Stein – für – Stein!“ spielt mit dem Bild der direkten Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Der eigene Anspruch auf die „Straße“ wird als bestehend behauptet (man kann dem Kontrahenten nur das zurückgeben, was man sich von ihm schon erobert hat) und durch den ironischen Bruch mit den Erwartungen der Zuhörer verstärkt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die behördlichen Auflagen zu Orten und Routen der antifaschistischen Gegenversammlungen in die Prozesse kollektiver Identität produktiv einbezogen werden. Voraussetzung dafür ist ein Erleben der eigenen Handlungsfähigkeit, die mit der Überwindung (Rankommen) oder Überlistung (den Aufmarsch stoppen lassen) der Logik der räumlichen Trennung einhergeht. Der Kontrollanspruch staatlicher Akteure über die öffentlichen Räume ist demnach weder selbstverwirklichend noch endgültig, sondern kann von Bewegungsakteuren für die interaktive Konstitution ihrer Wir-Definition genutzt werden. In den Schlussfolgerungen gehe ich noch einmal darauf ein. Fazit Die Räume der linken Szene, mit denen ich mich in diesem Teil befasste, haben einen episodischen und dennoch strukturierten Charakter. Auf der einen Seite finden die Demonstrationen in vergleichsweise großen zeitlichen Abständen und an verschiedenen Orten statt, wobei sie von bestimmten Qualitäten der so genannten öffentlichen Räume profitieren (Zugänglichkeit dieser Orte, ihre funktionale Vielfalt und die Chance der direkten Öffentlichkeit). Auf der anderen Seite geht es bei den Straßenprotesten um
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ein etabliertes Phänomen des Repertoires verschiedener sozialer Bewegungen, auch der Berliner linken Szene. Deswegen wurden sie im Hinblick auf die Konstruktion episodischer Räume der lokalen Öffentlichkeit untersucht. Diese Konstruktion ist in vielfacher Weise von staatlichen Kontrollansprüchen in Bezug auf die Räume betroffen. Die zum Abschluss dargestellten Auflagen zu Verlaufsstrecken, insbesondere zu sogenannten befriedeten Bezirken, haben nicht die Form von allgemeinen Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Orten, sondern dienen der Regulierung spezifischer Raumproduktion an diesen Orten, nämlich von politischen öffentlichen Räumen. Die territorial differenzierte normative Definition von Handlungskontexten (Werlen 2000: 342) ist in diesem Fall selektiv. Der räumliche Charakter der staatlichen Macht zeigt sich hier nicht als territoriale Grenzziehung auf der Karte; solche Grenzziehungen stellen vereinfachende Projektionen dar. Es handelt sich vielmehr um eine – verschiedene Ressourcen mobilisierende – Fähigkeit, die Produktion räumlicher Anordnungen durch andere Akteure nachhaltig zu beeinflussen. Die Anwendung von physischer Gewalt durch die Polizei bzw. die Ausübung von Zwang mittels Androhung von Gewalt und Repression (in Form eines Spaliers behelmter Polizisten, bereitstehender Wasserwerfer, durchgehender Videoüberwachung der Demonstrationszüge u.Ä.) gehört zu den Mechanismen, mit denen die Kontrollansprüche gegenüber demonstrativen Räumen der Öffentlichkeit durchgesetzt werden. Allerdings zeigt die Demonstrationspraxis einen kreativen Umgang der Szeneakteure mit den entsprechenden Auflagen. Als Abschluss des theoretischen Teils befasste ich mich mit der Macht, eigene Räume zu kreieren, und zwar als Variante der Fähigkeit, die kollektive Identität zu erschaffen und aufrechtzuerhalten. In einer Demonstration sehe ich eine solche Macht des kollektiven Handelns. Diese Fähigkeit greift rekursiv auf bestimmte praktische sowie diskursive Regeln zurück. Diese betreffen u.a. den Aufbau von spezifischen räumlichen Anordnungen, die in konkreten Aktionen im Sinne der Idee der räumlichen Strukturierung transformativ reproduziert werden. Das Demonstrieren – einschließlich des konkreten individuellen Verhaltens bei Demonstrationen – gehört auf viele Weisen zur in der Szene geteilten Wir-Definition der radikalen Linken. Erstens gehört die engagierte Teilnahme an ihnen zum Prototyp eines Szeneangehörigen. Dieses Bild impliziert auch eine Distinktion gegenüber anderen Szenen wie Punks, denen gelegentlich Inkompetenz unterstellt wird; sie würden z.B. betrunken
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zu Demonstrationen gehen und ihre Hunde mitnehmen. Zweitens gehören Demonstrationen zum legitimen Repertoire des Handelns, und die entsprechenden Vorstellungen sind zentral für die kollektive Identität. Die Fähigkeit, eine „gute“ Demonstration zu machen, wird als Ausdruck der Kraft und der Handlungsfähigkeit der radikalen Linken betrachtet. Eine solche Demonstration erfordert wiederum, wie ich oben zeigte, die Konstitution bestimmter Räume. Es lassen sich für den untersuchten Zeitraum zwei konkurrierende Modelle ausmachen: Parade und Block, wobei der „Schwarze Block“/„Black bloc(k)“ eine spezielle Form des letzteren darstellt. Wie Doreen Massey (2005: 165f.) anmerkt, ist für die politische Linke nicht nur die Orientierung auf offene Räume (beispielsweise auf die Öffnung der (supra-)nationalen Grenzen), sondern auch auf geschlossene typisch. Bei eher „geschlossenen“ Blöcke-Demonstrationen sieht man dies deutlich. Auch solche Demonstrationen strahlen allerdings nach außen aus, beispielsweise durch Transparente, Sprechchöre oder schon durch ihr geschlossenes Bild selbst. Insbesondere der „Schwarze Block“ ist zum massenmedialen Mythos geworden. Die Inszenierung der Militanz führt (solange sie immer wieder von „realen“ Militanzereignissen gespeist wird) vor, dass „der Prozess der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und der Verinnerlichung der entsprechenden Normen gewaltfreien Handelns zu keinem Zeitpunkt“ unumkehrbar war und bleibt (Lindenberger 1995: 17). Die symbolische Herausforderung der staatlichen Herrschaftsstrukturen bildet einen besonderen Aspekt der verräumlichten Macht derjenigen demonstrativen Aktionen, die sich an direkte Aktionen annähern. Ihre Außenwirkung wird allerdings dadurch beschränkt, dass der „Schwarze Block“ eine negative Projektionsfläche für die bürgerliche, also das staatliche Gewaltmonopol anerkennende Identität bietet. Dadurch kann er zur Reproduktion dieser Identität vereinnahmt werden. Dies ist mit der Wirkung des orientalistischen Diskurses vergleichbar, in dem der „aufgeklärte“ Westen relational zum „geheimnisvollen“ bzw. „wilden“ Orient definiert wird (Said 1995). Drittens ist für die Produktion der Wir-Definition während den Demonstrationen die Integration von „eigenen“ oder „feindlichen“ Orten in die eigenen Räume relevant. Die von mir unternommene Unterscheidung von situativen interaktionalen Anordnungen und verinselten symbolischen Räumen hat einen analytischen Charakter. Die Macht einer Demonstration als praktische Fähigkeit, die Wir-Definition im Rahmen eines episodischen
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Raums zu konstruieren, wird gerade von der räumlichen Vereinnahmung „feindlicher“ Orte unterstützt. Die in den räumlichen Anordnungen der Demonstrationen realisierten, verinselten symbolischen Räume existieren nicht „an sich“, sondern werden erst durch die aktive Bezugnahme der Akteure in deren Praxis wirksam. Bleibt dieses praktische Framing aus, kann auch nicht von einer symbolischen Übernahme der „feindlichen“ bzw. von der rekursiven Verstärkung der „eigenen“ Orte gesprochen werden. Unter Berufung auf den im zweiten Kapitel differenzierten Raumbegriff kann festgehalten werden, dass die physikalischen und die symbolischen Komponenten der räumlichen Strukturen durch die Praktiken – als dritten Aspekt der räumlichen Anordnungen von Demonstrationen – in die Identitätsprozesse einbezogen werden.
6.3 ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN In diesem Kapitel befasste ich mich anhand unterschiedlicher Phänomene mit symbolischen räumlichen Anordnungen, die die Prozesse kollektiver Identität der linken Szene organisieren. Im ersten Teil wurde mit Hilfe des Framing-Ansatzes der Freiräume-Frame rekonstruiert. Dafür wurden die im Zusammenhang mit einem konkreten Konflikt veröffentlichten Mobilisierungstexte analysiert. „Freiräume“ werden als wichtige Ressourcen für die politische Tätigkeit aufgefasst, was die Formulierung einer geteilten Betroffenheit zwischen dem aufrufenden Projekt und den zu mobilisierenden Adressaten erlaubt. Dies ist wichtig, um das partikularistische Framing des Geschehens („Euer Haus ist betroffen, was geht mich das an?“) zu verhindern. Ein Identitätsangebot an die Leserinnen wird formuliert, durch die Teilnahme an konkreten Protesten zur Unterstützung von „Freiräumen“ die eigene Anbindung an das durch die alltägliche politische Arbeit definierte „Wir“ zu bestätigen. Die Bedeutung linker Freiräume wird mit ihrer Rolle als „Freiheitsbehälter“ begründet, in denen politische Utopien bzw. das selbstbestimmte Leben möglich sind. Auf der anderen Seite werden die Freiräume auch in die räumlichen Anordnungen eines größeren Maßstabs gesetzt, indem sie durch den negativen Bezug auf die „Umstrukturierung“ (Gentrifizierung) der Berliner Innenstadt definiert werden. Beide Dimensionen sind kombinierbar: Das angestrebte selbstbestimmte, freie Leben in Projekten wird zu einer eigenständigen Form des Widerstandes gegen die
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umgebende, von Profitinteressen und Verdrängung geprägte Hauptstadt. Gleichzeitig sind die Freiräume selbst bedroht und müssen geschützt werden. Der Freiräume-Frame ist komplex und ermöglicht den Szeneangehörigen, den eigenen Alltag als Form der Politik diskursiv zu gestalten. Der zweite Teil des Kapitels war auf ein anderes Element des Alltags der Szeneangehörigen gerichtet – die Teilnahme an Demonstrationen. Die Demonstrationen gehören zum festen Repertoire des kollektiven Handelns und so auch zu den grundlegenden Elementen kollektiver Identität der radikalen Linken. Gemäß dem Forschungsinteresse und der unternommenen Trennung zwischen dem Konzept der individuellen (sozialen) und dem der kollektiven Identität, beschäftigte ich mich mit den kollektiven Aspekten und mit der Frage, wie die symbolischen räumlichen Anordnungen der von den Akteuren der linken Szene geprägten Demonstrationen gestaltet sind und wie sie Identitätsprozesse organisieren. Eine Besonderheit der demonstrativen Aktionen ist ihr episodischer Charakter. Die Spacing-Tätigkeit der Teilnehmerinnen ist vor allem auf sie selbst und ihre Relationen zueinander und zu anderen Menschen (etwa Polizistinnen) gerichtet. Sie demonstrieren an verschiedenen Orten und unternehmen für gewöhnlich keine bleibenden Eingriffe in die physisch-materielle Gestaltung städtischer Räume. Dennoch lassen sich die räumlichen Strukturen dieser episodischen, lokalen Öffentlichkeiten rekonstruieren. Das eine Modell ist die Blöcke-Demonstration, die einen klar abgegrenzten und einheitlichen Raum aufbaut, der die eigene Entschlossenheit und den Zusammenhalt und damit eine kollektive „Power“-Erfahrung aufzubauen hilft. Das zweite Modell – die Parade – ist ein Produkt der seit einigen Jahren verstärkt stattfindenden Suche nach anderen, offeneren Formen des Straßenprotests. Bei beiden Modellen, die als Idealtypen zu betrachten sind, werden die als „feindlich“ oder „eigen“ definierten Orte in die eigenen Protesträume integriert und damit angeeignet. Die in ihren Symbolen sichtbaren Herrschaftsstrukturen werden dadurch (wenn auch nur symbolisch) angreifbar. Die Demonstration stellt weniger eine öffentliche Inszenierung der Macht als vielmehr einen Akt der performativen Macht der gemeinsamen Produktion kollektiver Identität dar. Abschließend sollen gemeinsame Züge der beiden in diesem Kapitel untersuchten Formen der Raumproduktion festgehalten werden:
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Polarisierender Charakter Das „Wir“ wird dem feindlichen „Sie“ gegenüber gestellt. Die „Anderen“, also das Publikum, spielen eine marginale Rolle. Konkrete Verortung der Antagonisten Die Mitte der Hauptstadt, das Auswärtige Amt etc. Mehrere Wir-Ebenen Das kleinere, unmittelbare (Hausprojekt, Bezugsgruppen) und das größere „Wir“ (radikale Linke, Antifaschisten, Antirassistinnen u.Ä.) werden im Rahmen derselben räumlichen Konstruktionen beansprucht. Diese praktische, räumlich organisierte Anbindung an das abstraktere „Wir“ ist als eigenständiges Element der Prozesse kollektiver Identität zu betrachten. Verinselung symbolischer Räume Die Räume haben nicht den Charakter von durchgehenden und konsistenten Flächen, aus denen einige Orte hervorgehoben werden. Stattdessen sind es relationale Anordnungen von einigen bedeutsamen Orten oder räumlichen Phänomenen. Ihre Verknüpfung bzw. Synthese ist eine Leistung von Individuen im kollektiven und interaktiven Prozess der Identität.
Schlussfolgerungen
Zu Beginn der vorliegenden Studie formulierte ich zwei Forschungsziele: eine theoretisch fundierte Begriffssprache für die Untersuchung der räumlichen Aspekte der Wir-Produktion in sozialen Bewegungen zu finden und diesen Entwurf an einem Fallbeispiel praktisch anzuwenden. Die theoretisch begründete Berücksichtigung räumlicher Aspekte des menschlichen Handelns, so war meine Annahme, kann das Verständnis von Prozessen verbessern, in denen kollektive Identitäten als geteilte Wir-Definitionen produziert werden. Im Folgenden werde ich, um die Fruchtbarkeit dieser Annahme zu beurteilen, die Eckpunkte der Argumentation rekapitulieren. Zum Abschluss stelle ich Überlegungen zur alltäglichen und außeralltäglichen Identitätsproduktion in der linken Szene im Hinblick auf ihre körperlichen und räumlichen Aspekte an. Einen metatheoretischen Rahmen der Untersuchung bildete der Strukturierungsansatz nach Giddens (vgl. Giddens 1997). Seine Grundgedanken wurden zunächst als sensitizing devices (Giddens 1991: 213) genutzt, um sich der Frage der Verräumlichung kollektiver Identität zu nähern. Die Strukturen und das Handeln in sozialen Systemen können lediglich analytisch voneinander getrennt werden. Die Produktion der geteilten WirDefinition „radikale Linke“ wird demnach einerseits in den Interaktionen der Akteure unternommen, andererseits bilden diese als ein Zusammenhang symbolischer Strukturen einen Bezugsrahmen und eine Grundlage des Handelns. Auch für die Konzeptualisierung der räumlichen Bezüge des Handelns ist die Annahme der Dualität von Struktur nützlich, auch wenn Giddens selbst die Idee der räumlichen Strukturierung nicht teilt und den Raum vor allem als etwas sieht, das soziale Beziehungen überwinden können.
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Das konstruktivistisch geprägte Konzept der kollektiven Identität nach Alberto Melucci (1989) wurde angewandt, um der Frage nachzugehen, wie die linke Szene als ein konkreter Fall einer Wir-Gemeinschaft zustande kommt. Da der Begriff der Identität in der Bewegungsforschung sehr oft und beinahe beliebig genutzt wird, musste er eingangs präzisiert werden. Eine besondere Betonung legte ich hierbei auf die Differenzierung zwischen der individuen- und der gruppenzentrierten Fragestellung: In dieser Studie geht es nicht darum, wie die Menschen zu „Linksradikalen“ werden und wie sie dies bleiben, sondern darum, wie kollektives „linksradikales“ Handeln und speziell die Wir-Definition funktionieren. Entsprechend der konstruktivistischen Herangehensweise wird die kollektive Identität als eine geteilte Definition des „Wir“ verstanden, die in sozialen Beziehungen fortwährend produziert, aufrechterhalten und transformiert wird. Sie schließt bestimmte Vorstellungen von der Gruppe und ihren einzelnen Mitgliedern (sogenannte Prototypen), von den Zielen und den Mitteln des gemeinsamen Handelns sowie von den das Handeln begünstigenden und beschränkenden Faktoren ein. Um die einzelnen „tragenden Sinnkonstruktionen“ dieser Vorstellungen einzufangen, wurde das Frame-Konzept in der Tradition des Framing-Ansatzes der Bewegungssoziologie (u.a. Snow/Benford 1988) genutzt. Die „linke Szene“ wird als ein für die Neuen Sozialen Bewegungen typisches Bewegungsmilieu betrachtet, in dessen Rahmen die symbolische Produktion, das Aushandeln der legitimen Interpretationen gesellschaftlicher Prozesse und speziell der Gruppendefinition stattfindet. Eine konkrete Form dieses Netzwerks wurde mit Hilfe des Szenebegriffs nach Hitzler et al. (2001) näher definiert. Die Prozesse kollektiver Identität in der linken Szene spielen sich zu einem bedeutenden Teil auf der Ebene des Alltags der Szeneangehörigen ab. Das Alltagshandeln wird von mir als grundlegend raumrelevant verstanden. Darauf bezogen wird die Frage gestellt, welche Rolle Räume für die Wir-Definitionen spielen. In Bezug auf das von mir untersuchte Fallbeispiel der Berliner linken Szene ist die auffallende Präsenz von Räumen und räumlichen Konzepten in den Szenediskursen auffällig. Der Gedanke der Strukturierung wird, wie schon erwähnt, auch auf die Produktion von Räumen angewandt, wobei Giddens’ Überlegungen hier durch die Idee der räumlichen Strukturen nach Martina Löw (2001) ergänzt werden. Die raum-zeitliche Kontextualität des Handelns wird zwar auch
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von Giddens beachtet. Sie kann jedoch mit Hilfe weiterer Konzepte – des sozialen Geschehens und des Framings nach Goffman (1966, 1977a) – theoretisch konsequenter und für die empirische Untersuchung fruchtbarer untersucht werden. Diese Begriffe ermöglichen, die räumlichen Anordnungen als von Akteuren im Handeln aktiv genutzte Ressourcen und die Konstitution von Räumen als einen institutionalisierten und zugleich labilen Prozess zu begreifen. Nicht nur die größtenteils auf der Ebene des praktischen Bewusstseins funktionierenden „Anleitungen“ für das angemessene Handeln, sondern auch die für die kollektive Identität nicht minder relevanten abstrakteren Frames können mit räumlichen Anordnungen als Elementen konkreter sozialer Geschehen und deren Frames verknüpft werden. In der gemeinsamen, interaktiven Konstitution der Räume werden diese Frames von Individuen direkt erlebt bzw. gelebt. Diese genuin räumliche (Re-)Produktion der Identität kann sowohl für eine Demonstration als auch für ein solch unspezifisches soziales Geschehen wie einen Kneipenabend angenommen werden. Meine Argumentation bezieht sich auf das gesellschaftszentrierte Raumkonzept, das in Anlehnung an Lefebvre (1991), Läpple (1991a), Löw (2001) und anderen eingeführt wurde. Die Räume werden als relationale Anordnungen von Menschen und sozialen Gütern verstanden, die in der gesellschaftlichen Praxis, u.a. im Alltagshandeln, an Orten produziert werden (Löw 2001). Dabei können symbolische, materielle und praktischinstitutionelle Komponenten differenziert werden. Diese Unterscheidung erweist sich für die Untersuchung von Prozessen kollektiver Identität als nützlich. Die im Zusammenspiel der genannten Aspekte erfolgende Konstitution der Räume in der sozialen Praxis ist ein Feld, in dem ein „Wir“ bzw. ein Feld verwandter kollektiver Identitäten produziert und im Sinne des Strukturierungsansatzes transformativ aufrechterhalten wird. Das gesellschaftszentrierte Raumkonzept impliziert die Idee von multiplen Räumen an einem Ort und erlaubt dadurch, die Art und Weise, wie über die Verbindung von Macht und Raum gedacht wird, zu präzisieren und zu erweitern. Der gleiche Grund und Boden kann zur Arena verschiedener von Machtverhältnissen und Widersprüchen geprägter Räume werden (Allen 2003). Die Fähigkeit, eigene Räume – sei es als institutionalisierte Anordnungen oder in einem konkreten Fall – zu konstituieren, wird von mir als Form der produktiven Macht des kollektiven Handelns, eine Gruppenidentität zu erschaffen und aufrechtzuerhalten, interpretiert. Bei
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der Durchsetzung einer räumlichen Anordnung geht es zugleich um die Durchsetzung einer bestimmten Ordnung des Verhaltens. Dies betrifft u.a. eine symbolische Ordnung: Die bewegungsspezifischen Deutungs- und Präferenzsysteme werden in Räumen „objektiviert“ und lassen die Bewegungsstrukturen von diesem Naturalisierungseffekt profitieren (vgl. Bourdieu 1991a). Dieser Effekt stellt sich nicht mechanisch ein. Die symbolische Macht über die Räume wird von Akteuren immer wieder, gerade im Alltag, unter Rückgriff auf räumliche und andere Strukturen ausgehandelt. Im Sinne des Strukturierungsansatzes bedeutet dies: Ich gehe davon aus, dass räumliche Strukturen rekursiv das Handeln strukturieren, in welchem auch identitäre, symbolische Strukturen rekursiv (re-)produziert werden. Die Verbindung dieser Prozesse bezeichne ich als die räumliche Organisation der Prozesse kollektiver Identität. Die Räume sind hierbei keine statischen Abbilder sozialer Beziehungen, sondern entwickeln eigene Effekte auf die Identitätsprozesse. Um die räumlichen Aspekte der im Alltag verankerten Prozesse der Wir-Konstitution am Fallbeispiel der linken Szene zu analysieren, suchte ich nach einem empirischen Vorgehen, das erlauben würde, auch die nichtdiskursiven Elemente des Interaktionsgefüges der linken Szene miteinzubeziehen. Ich entschied mich für eine ethnografisch angelegte Feldforschung, in deren Rahmen die „beobachtende Teilnahme“ (als eine Variante der teilnehmenden Beobachtung) mit der Analyse von Bewegungstexten und leitfadengestützten Interviews mit Angehörigen der linken Szene kombiniert wurde. Weiter unten werde ich die Methodentriangulation beurteilen. Zunächst möchte ich die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammenfassen. Im empirischen Teil der Studie kamen die im theoretischen Entwurf gefundenen Konzepte zum Einsatz. Dieser „Werkzeugkasten“ wurde jedoch auf Grundlage der Auswertung meiner Daten ergänzt. Ein wichtiges neues Konzept stellt die emotional-körperliche Raumsynthese dar. Diese Begrifflichkeit richtet sich nicht auf die langfristigen und routinisierten Abläufe, sondern auf kurze, stark emotionalisierte und von konflikthaften Interaktionen gekennzeichnete Episoden. Bei der Analyse solcher Episoden wurde mir deutlich, dass es nicht zwangsläufig bedeutet, sich mit dem routinisierten Alltag zu befassen, wenn von der Materialität des sozialen Lebens gesprochen wird. Die Synthese verschiedener Elemente in einer räumlichen Anordnung kann im Rahmen risikoreicher Situationen – dargestellt wird
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dies am Fallbeispiel der polizeilichen Teilräumung eines Wohn- und Kulturprojekts – durch die praktische und emotionale Wertzuschreibung stattfinden, indem die Individuen bereit sind, (auch körperliche) Risiken um dieses Raums willen einzugehen. Dies geschieht im Prozess des Aufbaus eines weiteren, antagonistischen Wir-contra-Polizei-Raums, in dem ein einheitliches „Wir“, eine geteilte Körperlichkeit von eng zusammenrückenden Protestierenden auf der symbolischen und materiellen Ebene geschaffen wird. Diese relationale räumliche Anordnung wird bei vielen Protestepisoden wie beispielsweise (eskalierenden) Demonstrationen vorgefunden. Der gleichzeitigen Vielfalt der Räume steht die Vielfalt der bei ihrer Konstitution erlebten Wir-Identifikationen gegenüber – von den kleineren „Bezugsgruppen“ bis zur übergreifenden „linken Szene“. Zudem wurde durch die Analyse der empirischen Daten der Begriff der verinselten symbolischen Räume entwickelt. Er bezieht sich auf diskrete, d.h. nicht durchgehende räumliche Anordnungen, deren Bestandteile die raum-zeitliche Reichweite der Protestepisoden überschreiten, wie „eigene“ Bezirke oder „feindliche“, beispielsweise die Staatsmacht symbolisierende Orte. Das symbolische Angriffspotenzial einer demonstrativen Aktion gegenüber den letztgenannten Orten geht m.E. darauf zurück, dass sie in die Protesträume integriert und ihre dominanten Deutungen auf diese Weise gleichzeitig genutzt und unterminiert werden. Auch die Demonstrationen können im Hinblick auf die produktive symbolische Macht der Identitätsproduktion betrachtet werden, obwohl es sich dabei um episodische politische Räume handelt. Die gefühlte „Power“ einer Demonstration ist ein Kriterium des Erfolgs, das wichtiger ist als eine große Teilnehmerzahl. Der Aufbau eines dem sozialen Geschehen der Demonstration angemessenen Raums, der nach innen und nach außen Zusammenhalt und Stärke vermittelt, ist eine interaktive Leistung der Teilnehmerinnen und trägt wesentlich zum Erreichen der „Power“ bei. In den letzten Jahren wurden die episodischen Räume der Demonstrationen in der linken Szene zum Gegenstand von Diskussionen um inklusivere oder exklusivere Identitätsangebote, die mit räumlichen Modellen der offenen Parade- oder geschlossenen BlöckeDemonstrationen transportiert werden. Nicht nur für die Analyse der Demonstrationen, sondern auch für die Beschäftigung mit der sozial-räumlichen Institution einer Kneipe der linken Szene erwies sich der Begriff soziales Geschehen als hilfreich. Er erlaubt nicht nur, die Produktion verschiedener Räume (des Kneipenabends und
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des Gruppenplenums) an einem Ort in einer rhythmischen Abwechslung zu denken. Mit seiner Hilfe können auch die jeweils spezifischen Formen der Produktion einer Szene-Gemeinschaft und der Zuschreibung eines „linken“ Charakters untersucht werden, die mit diesen Räumen und deren diachronen Kombinationen verbunden sind. Insbesondere bei den Kneipenabenden funktionieren die Räume als Träger der „linken“ Zuschreibungen, von denen nicht nur das Kollektiv, sondern auch die Besucherinnen profitieren. Dabei gab es zwischen den einzelnen Positionen einen wesentlichen Unterschied in Bezug auf die Möglichkeiten der Raumgestaltung, die der expliziten Betonung des egalitären „Mitmachen“-Konzepts durch die Kollektivmitglieder widersprachen. Während diese Überlegungen weitgehend auf der beobachtenden Teilnahme an einem Kneipenkollektiv basierten, wurden entsprechend der methodenpluralen Vorgehensweise auch die Bedeutungen der linken Kneipe auf der Grundlage der Interviews analysiert. Die Kategorie „Anschlussort“ wurde eingeführt, um die spezifische Rolle der relativ offenen Treffpunkte als niedrigschwellige Kommunikationsangebote in der Mobilisierung neuer Szeneangehöriger zu reflektieren. Die interpretative Offenheit/Geschlossenheit-Dimension kommt für einen Anschlussort ebenso wie für die Demonstrationen auf vielfältige Weise zur Geltung. Darüber hinaus wurden die Freiräume-Diskurse der linken Szene mit Hilfe der Frame-Analyse untersucht. Grundlage waren die Texte einer Mobilisierungskampagne, die von den in der Studie dargestellten Projekten im Rahmen eines Konfliktes mit dem Hauseigentümer initiiert wurde. Hiermit sollte eine explizit raumzentrierte Identitätskonstruktion untersucht werden – wobei der Aspekt der Reproduktion der Bedeutungen aufgrund der bemerkenswerten Kontinuität des Freiräume-Frames in der linken Szene in den Vordergrund trat. Die facettenreiche Darstellung der „Freiräume“ als wichtige Ressourcen der politischen Praxis in Bezug auf räumliche Anordnungen verschiedener Reichweiten wurde im Kontext der Mobilisierungsfunktion der Texte erklärt. Die analysierten Freiräume-Diskurse sind nicht als Abbildungen bzw. Vorlagen der Praxis der Angehörigen der linken Szene zu verstehen, sondern als Teil dieser Praxis. Sie sind ihr weder übernoch untergeordnet, sondern werden von den Akteuren immer wieder „strukturierend“ in ihrem Handeln genutzt. Das bedeutet, dass die Akteure auf den Freiräume-Frame in einem konkreten Konflikt zurück greifen, diesen jedoch anpassen und transformieren. So verschob sich im Laufe der Zeit die moralische Einschätzung der Rückzugsraum-Funktion von Frei-
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räumen von der Ablehnung zur Akzeptanz. Der Freiräume-Frame zeigt eine erstaunliche Persistenz. Die Frames als Sinnstrukturen sind ohne die sinnaktualisierende Praxis (Framing) der Akteure nicht möglich (Willems 1996: 443f.). Die produktive Aktualisierung von „Sinnmaschinen“ (ebd.) kollektiver Identität ist wiederum nur ein Aspekt der Praxis und kann nicht ausschließlich durch die Analyse der Interpretationen erklärt werden. Die triangulativ angelegte Forschung zeigte, dass die Produktion von Räumen, die von Szeneakteuren als „Freiräume“ interpretiert werden, nicht nur eine explizit diskursive Tätigkeit unter Rückgriff auf den FreiräumeFrame ist – genauso, wie diese Räume kein rein diskursives Phänomen sind. Erstens verläuft die Raumproduktion mitunter auf der Ebene des praktischen Bewusstseins, im routinisierten Alltagshandeln. Die auf Grundlage der teilnehmenden Beobachtung rekonstruierten Räume eines Kneipenabends und eines Plenums sind größtenteils routinisiert, aber in ihnen werden trotzdem bestimmte Gruppenmodelle voraus- und durchgesetzt, die immer wieder reflektiert werden, vor allem bei Regelverletzungen. Auch für die alltäglichen räumlichen Anordnungen stimmt, dass die Grenze zwischen dem diskursiven und dem praktischen Bewusstsein keine rigide ist (Giddens 1997: 57), zumal die Reflexion des Alltags und des politischen Handelns zu den normativen Inhalten der kollektiven linksradikalen Identität gehört. Zweitens hängt die Produktion von Räumen mit der Körperlichkeit der Akteure zusammen. Dieses Argument darf nicht mit dem ersten verwechselt werden, denn es betrifft auch die außeralltäglichen Situationen. Wie ich bei der Analyse einer Räumung gezeigt habe, geht die intensive emotional-körperliche Synthese eines Freiraums, d.h. die sinngebende Verknüpfung seiner Elemente zu einer Einheit, mit der Zuschreibung eines Wertes dieser Einheit einher (indem die Akteure die Bereitschaft zeigen, die Unversehrtheit ihrer Körper einzusetzen). Auch in weniger riskanten, nicht mit „Action“ assoziierten Situationen werden die Akteure durch ihre körperliche Anwesenheit selbst zu Elementen räumlicher Konstruktionen (vgl. Löw 2001: 158ff.). Die raum-zeitliche Relevanz des Handelns bei der Untersuchung kollektiver Identität zu berücksichtigen erfordert demnach, die Körperlichkeit von Akteuren in die Analyse einzubeziehen. In dieser Deutlichkeit wurde mir das erst im Laufe der Feldforschung klar. Im theoretischen Teil habe ich angenommen, dass die Frames eines sozialen Geschehens, beispielsweise einer Demonstration oder eines Kneipenabends, von den Akteuren in ihrer Praxis mit anderen Interpretations-
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schemata verknüpft werden können, die zur Definition des politischen WirAkteurs im gesellschaftlichen Kontext, also zur kollektiven Identität der linken Szene, gehören. Die Individuen machen im Prozess der gemeinsamen (aber nicht zwingend harmonischen) Konstitution der Räume unter direktem Einsatz ihrer Körper auch abstraktere Vorstellungen erlebbar. Dass diese Annahme ein besseres Verständnis der Prozesse kollektiver Identität erlaubt, wurde im Laufe der Argumentation gezeigt. Dabei wurde klar, dass es sich in einem konkreten sozialen Geschehen nicht um einen Raum handelt, sondern um komplexe räumliche Anordnungen, die auch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein können. So werden bei Straßenprotesten nicht nur antagonistische Wir-contra-Polizei-Räume, sondern auch weitere räumliche, symbolische Strukturen aktualisiert, wie die Gegenüberstellung der eigenen menschlichen „Bewegung“ und der von einer Abschiebehaftanstalt symbolisierten europäischen Abschottungspolitik. Die Verbindung von gesellschaftskritischen, identitären Diskursen mit Alltagshandeln sollten wir nicht, der narzisstischen Reflexivität des Feldes (vgl. Bourdieu 1993) folgend, als deren Umsetzung betrachten, wie schon in Bezug auf die Freiräume-Diskurse angesprochen wurde. Stattdessen ist sie als eine Form der Reflexivität des Handelns zu verstehen, wenn die „tragenden Sinnkonstruktionen“ kollektiver Identität von den Akteuren zur diskursiven Rahmung ihres Handelns und des Handelns von Anderen hinzugezogen werden. Diese Verbindung bildet einen Eckpunkt des dominanten Politikmodells der linken Szene, nach dem es nicht nur darauf ankommt, die Sicht der Welt zu verändern, sondern auch einen passenden common sense zu entwickeln, also die „andere Welt“ auch selbst zu leben (vgl. Bourdieu 1990). Die Reflexivität unter Bezugnahme auf die szenetypischen Frames gestaltet die individuellen Identifikationen mit dem Gruppen-Wir bzw. mit dem Identitätsfeld (Hunt et al. 1994) einiger kongruenter „Wir“ (wie „autonome Antifa“ und „radikale Linke“). Diese Anbindungen sind nicht exklusiv, auch für die Angehörigen des Kerns der linken Szene nicht, auch wenn bei ihnen diese soziale Identität und entsprechende Handlungs- und Denkweisen die gesamte Organisation ihrer Zeit und anderer Ressourcen beeinflusst. Meine Studie konzentrierte sich zwar auf das Feld verwandter WirIdentifikationen um die „radikale Linke“, diese exklusive Fokussierung hat aber einen klar analytischen Charakter. Die Vielfalt der einem Individuum zustehenden bzw. zugeschriebenen sozialen Identitäten findet ihre Entspre-
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chung in der Vielfalt der Räume. Das Räumliche der Identität ist kein Territorium, sondern eine multidimensionale Matrix mobiler, sich überlappender Achsen der Identität, anhand derer Individuen komplex, unsicher, vielfältig und potenziell widersprüchlich positioniert werden (Rose 1997: 185). Akteure produzieren Räume im Prozess der Konstruktion ihrer verschiedenen Identitäten (Massey 1995: 285). Ich ging von der Vielfalt der Räume aus, befasste mich aber dennoch mit Räumen bzw. räumlichen Aspekten eines bestimmten Identitätssatzes in einer social movement community.1 Auch diese Räume stellen keine Territorien einer Gemeinschaft dar, die durch Grenzen in einer (mentalen) Karte festzuhalten wären, sondern sind vielmehr diskret und nicht als Flächen, sondern als Strukturen zu denken. Wie ich in der Einleitung unter Bezugnahme auf die britische Sozialgeografin Doreen Massey (1995) festgehalten habe, können Ausmaße und Formen der „Verräumlichung“ konkreter politischer Identitäten nur empirisch festgestellt werden. Im Laufe des Projekts wurde bestätigt, dass es nicht genügt, sich mit den symbolischen Aspekten von Räumen zu befassen, auch wenn nach dem räumlichen Charakter der Identität als geteilte und interaktive Wir-Definition gefragt wird. Vielmehr ist es notwendig bzw. fruchtbar, die Komplexität von sozialen Beziehungen zu beachten, in deren Rahmen Räume und Identitäten (re-)produziert werden – insbesondere im Hinblick auf die den sozialen Beziehungen inhärente Macht und auf die nicht-diskursiven Aspekte des als regelhaft und reflexiv verstandenen Handelns. Die triangulative Anlage der Studie trägt dieser Komplexität der räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität Rechnung. Abschließend soll die Verräumlichung der Prozesse kollektiver Identität im Hinblick auf das Zusammenspiel ihrer reflexiven und praktischen Aspekte betrachtet werden. Im untersuchten Fallbeispiel der Berliner linken Szene wird dieses Zusammenspiel vom Modell selbstbestimmter Politik geprägt. Dementsprechend wird im Folgenden betrachtet, welche Rolle die räumlichen Strukturen für das inkorporierte Modell selbstbestimmter Politik spielen. Die „Politik in der ersten Person“ wird als kollektives Leitbild formuliert und im Alltagsleben angestrebt. Der letztgenannte Aspekt bezieht sich auf die Beurteilung der Zugehörigkeit eines Individuums zur
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Ein alternatives Vorgehen wäre gewesen, nach den „Patchwork-Räumen“ der individuellen Identitäten konkreter Akteure zu fragen (vgl. zu PatchworkIdentitäten Keupp et al. 1999).
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linken Szene in Abhängigkeit davon, was es aktuell macht bzw. durch sein vorher in der „politischen Arbeit“ angereichertes symbolisches Kapital: Es kommt auf das an, was „mensch“ tut (oder, mit anderen Worten, ob er oder sie die gemeinsamen, legitimen Handlungsoptionen teilt). In diesem Zusammenhang möchte ich den Vorschlag von Nick Crossley (1999, 2003) aufgreifen, Bourdieus Konzepte wie Habitus und illusio bei der Untersuchung der sozialen Bewegungen zu verwenden. Den Akzent setze ich nicht auf die Problematik der Motivation zur langfristigen Teilnahme, wie Crossley es beispielsweise in Bezug auf die Radical-Mental-Health-Bewegung macht (Crossley 1999), sondern auf die Frage der Solidarität und des Vertrauens unter den Szeneangehörigen. Dem zentralen Punkt von Crossleys Überlegungen möchte ich mich allerdings anschließen und die Entwicklung von dauerhaften Handlungsdispositionen zu den politischen Aktivitäten annehmen: „[Social movements] depend, in the first instance, upon agents who are disposed to engage in them; ‚disposition‘, in this case, involving a particular way of perceiving and understanding the world, an ethos, an inclination to fight and the knowhow necessary to do so. […] The disposition towards critique and protest, the evidence suggests, is generated through involvement in critique and protest. It is both a structured and a structuring structure.“ (ebd. 61, Hervorhebung T.G.)
Die anfängliche Begeisterung und der durch frühere Erfahrungen begünstigte Wunsch der Neuankömmlinge, sich gegen die empfundene Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zu engagieren, können im Laufe des Engagements in eine Disposition zu den in Bewegungsszenen praktizierten Denkund Handlungsformen konkretisiert werden.2
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Mit dieser Argumentation wird eine Gegenrichtung zu den Überlegungen von Schäfer (2005) eingeschlagen, der das Habituskonzept ebenfalls für die Untersuchung von Identität in sozialen Bewegungen anwendet. Schäfer betrachtet Identität als ein Netzwerk von selektiv aktualisierten und hervorgehobenen Dispositionen eines Habitus, die damit unmittelbar auf die gesellschaftlichen Positionen der jeweiligen Akteure bezogen sind. Während Habitus bei Schäfer eine Identitätsgrundlage bildet, betrachte ich die Prozesse kollektiver Identität als Prozesse der Habitusformation.
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In diesem Kontext kann die Solidarität als praktisches Wir-Verhältnis unter Angehörigen eines Bewegungsmilieus3 betrachtet werden, das nicht nur auf die diskursiv-kognitiven Definitionen des „Wir“ zurückgeht. Vielmehr basiert sie auf einem impliziten Einverständnis zwischen den Akteuren, die das Produkt ähnlicher Bedingungen und Konditionierungen sind und entsprechende, ähnliche Handlungsdispositionen entwickelt haben (vgl. Bourdieu 2001: 186). Im vierten Kapitel bin ich darauf eingegangen, wie das praktische Vertrauensverhältnis unter Protestierenden aufgrund der geteilten körperlichen Investitionen in „die Sache“ (im analysierten Fall in die Produktion des von der Räumung bedrohten und zu schützenden Raums) funktioniert und als Vertrauensgefühl von ihnen empfunden und reflektiert werden kann. Das Vertrauen hängt auch auf eine andere Weise mit der Körperlichkeit der Szeneakteure zusammen: Dank der „tiefinneren Verwachsenheit des sozialisierten Körpers mit dem sozialen Körper, der ihn geschaffen hat und mit dem er eins ist“, können die spontan miteinander harmonisierenden Habitus sich antizipatorisch Situationen anpassen und nicht-abgesprochene Handlungseinheiten produzieren (Bourdieu 2001: 185f.). Das praktische Vertrauensverhältnis unter Angehörigen der linken Szene bedeutet, sich in bestimmten Situationen aufeinander verlassen zu können, d.h., sich auf diese Situationen gemeinsam antizipatorisch einzulassen. Allerdings ist Vorsicht angebracht: Wenn der Habitus sich in der Bewegungspraxis ändern und sogar reflexiv transformiert werden kann, heißt dies nicht, dass er sich restlos oder entsprechend den erklärten Bewegungszielen ändert. Anstatt von der Herausbildung eines besonderen „radikalen Habitus“ (Crossley 2003) soll von einer mit dem politischen Engagement in Bewegungsmilieus verbundenen Transformation des Habitus die Rede sein. Dem Habitus als einer strukturierten Erzeugungsgrundlage der Praxis ist per definitionem eine gewisse Stabilität eigen: „People are subconsciously attached to their habitual ‚reality‘ even in their efforts to change it. This is a crucial insight for social movement research.“ (Salman/Assies 2007: 235) Die bestimmten Handlungs- und Wertungsdispositionen können nicht nur
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Solidarität wurde oben als „the capacity of the actors to recognize themselves and to be recognized as part of the same social unit“ (Melucci 1988: 334) definiert. Diese Anerkennung kann auch auf der Ebene des praktischen Bewusstseins vollzogen werden.
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weiterhin wirken, sondern sogar in ihrer Wirkung verstärkt werden, genauso wie es mit der Hexis als dem sichtbaren Gegenpart des Habitus passiert: Das im fünften Kapitel dargestellte „coole“ Haltungsschema eines (Antifa-)Checkers greift auf Männlichkeitsdisplays zurück und ist zugleich höchst kompatibel mit den diskursiven Anforderungen, aktiv und eigenverantwortlich zu handeln. Das Veränderungspotenzial des Habitus analytisch anzuerkennen bedeutet also nicht, die analytische Distanz gegenüber den Ansprüchen der Bewegungsakteure zu verlieren. Vielmehr muss angenommen werden, dass sich im menschlichen Leben kein Punkt ausmachen lässt, an dem Sozialisationsprozesse abgeschlossen sind. Der Habitus ist nicht ein Produzent der Praktiken, sondern ein Prinzip deren Produktion unter anderen, auch wenn er im Alltag häufiger als jedes andere Prinzip Einsatz findet. Insbesondere dann, wenn die Angepasstheit von Habitus und Feld in Krisensituationen auseinander bricht, können andere Produktionsprinzipien an seine Stelle treten (Bourdieu 1989: 397). Krisenhafte und emotional bedeutsame Situationen können tiefgehende Lernprozesse auslösen. Auch in einer Praxis, die nicht nach der praktischen Logik generiert wird – so argumentiere ich weiter – können die dauerhaften Handlungsdispositionen und der Habitus selbst geändert, beispielsweise der neue „praktische Sinn“ für die politische Arbeit entwickelt werden. Die die Akteure konditionierenden Erfahrungen sind räumlich und zeitlich situiert (Bourdieu 2001: 175). Sowohl für die routinisierten Abläufe als auch für die krisenhaften und hoch emotionalisierten Ereignisse (die auch eigene institutionelle Aspekte entwickeln können) muss dies bei der Analyse der Bewegungsdynamik berücksichtigt werden. Die Räume sind nicht jenseits der Handlung liegende, materielle Kontexte, die angeeignet werden. Sie vereinen symbolische, praktische und physische Aspekte und werden ansozialisiert, indem die Akteure durch ihre mitunter körperliche Praxis selbst ein Teil von räumlichen Anordnungen werden.4 In diesem Sinne kann argumentiert werden, dass die räumlichen Bezugsrahmen des Handelns, die in dieser Studie u.a. mit Hilfe des Konzepts des sozialen Geschehens untersucht wurden, für die Entwicklung von geteilten Handlungsdis-
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„Die Objektwelt […] wird mit dem ganzen Leib in den und durch die Bewegungen und Ortsveränderungen gelesen, die den Objektraum sowohl gestalten als auch von ihm gestaltet werden.“ (Bourdieu 1987: 142)
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positionen und eines darauf basierenden praktischen Vertrauens in der Gruppe wichtig sind. Der Diskurs der subjektivistischen Politik („Politik in der ersten Person“) ermöglicht zudem einen reflexiv verstärkten Bezug auf das eigene Handeln im Kontext räumlicher und leiblicher Erfahrungen. Dies widerspricht nicht dem aufgegriffenen Dispositionen-Konzept, vielmehr sind die Grenzen zwischen dem praktischen und dem diskursiven Bewusstsein fließend (vgl. Giddens 1997: 57). In vielen Bewegungsmilieus wird die reflexiv angeleitete Transformation eigener Handlungsdispositionen zu einem expliziten Ziel politischer Betätigung (Crossley 2003: 55f.). Die verstärkten und politisierten Formen der Reflexivität entwachsen den Strukturen des Habitus und etablieren sich als neue Strukturen (ebd.: 55). Allerdings teile ich Crossleys Einschätzung nicht, dass die habituierte politische Reflexivität das kritische Potenzial gegenüber eigenen Gewohnheiten durchgehend, also auch nach der erfolgten Integration in eine Bewegungsszene, beibehält. Das Zusammenspiel der selbstkritischen Aspekte mit den repetitiven ist in der Praxis eher komplex und nicht eindeutig zu beurteilen. An vielen Stellen scheint die vorgeschriebene Reflexivität in erster Linie – im Sinne einer narzisstischen Reflexivität – die szenestabilisierende kollektive Selbstvergewisserung zu begünstigen. Die individuellen Interessen von Szeneangehörigen werden zu einem Bestandteil des sozialen Spiels. Die subjektivistische Politik impliziert, dass die eigenen, individuellen Verantwortlichkeiten und Bedürfnisse zu einer Grundlage des politischen Handelns gemacht werden sollen. Zugleich werden legitime Bedürfnisse – an dieser Stelle greife ich wieder auf Bourdieus Überlegungen zurück – im Rahmen des in der linken Szene laufenden sozialen Spiels definiert. Die Mobilisierung der neuen Anhängerinnen als kontinuierliche Szenegängerinnen bedeutet die Entwicklung einer illusio, eines grundlegenden Glaubens an den Sinn der politischen Betätigung in Szenestrukturen und den Wert dessen, was auf dem Spiel steht – dass sich daran zu beteiligen notwendig ist, dass das, was die Akteure machen, zu einer gerechteren, besseren, freien Gesellschaft führt bzw. sich gegen eine kapitalistische und repressive Gesellschaft richtet (vgl. Bourdieu 1998: 140ff., Crossley 1999: 814ff., Bourdieu 2001: 19f.). Den Sinn für die „politische Arbeit“ zu entwickeln bedeutet u.a., sie als eigenes Interesse zu begreifen. Dieses Interesse an der Politik kann in zweierlei Hinsicht als existentiell bezeichnet werden: Erstens wird es von Akteuren als solches wahrgenommen. Das „uneigennützige“ Engagement wird zu einem ureigenen Interes-
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se. Zweitens basiert das Interesse auf dem Involviert-Sein im Spiel, das unter den Aspekten der Investitionen und der Produktion der individuellen Handlungsdispositionen bzw. der Handlungsfähigkeit betrachtet werden kann. Die Entwicklung des verhaltensbasierten Commitments (vgl. Becker 1960) bedeutet, dass das bewegungskonforme Verhalten nicht als Reaktion auf einen äußeren Zwang wie z.B. sozialen Druck, sondern als Selbstverständlichkeit empfunden wird. Das praktische Commitment kann daher als eine bewegungstypische Variante der illusio betrachtet werden. Während die Szeneangehörigen sich in ihrem Handeln die kollektive Identität, die Ziele und Formen des kollektiven Handelns, seinen gesellschaftlichen Kontext sowie explizite Vorstellungen von der Wir-Gruppe und eine ihre Mitglieder betreffende Definition als Grundlage eigener Interpretationen und Urteile aneignen, entwickeln sie auch das Commitment als praktische Identifikation mit dem entsprechenden „Wir“. Die Fähigkeit der linken Szene, sich zu reproduzieren, hängt mit dem Aneignen und Weiterreichen von diskursiven und praktischen Handlungsdispositionen und Motivationen zur Teilnahme zusammen. Dabei unterstützen die institutionalisierten räumlichen Anordnungen diese Inkorporation identitätsrelevanter Strukturen. Dies passiert, entgegen meiner ursprünglichen Annahme, nicht nur im routinisierten Alltag. Die emotionale Intensität der Konfliktsituationen, beispielweise bei Protestereignissen, macht die entsprechenden Räume und Verhaltensweisen besonders einprägsam. Die immense diskursive Präsenz der Polizei als einer negativen Bezugsgröße der linksradikalen Wir-Definition kann im Sinne eines Effekts unmittelbarer Auseinandersetzungen erklärt werden – Auseinandersetzungen, deren dichotome und antagonistische Raumanordnungen dank der leiblichen Involviertheit der Akteure eine Vorlage für eine weitreichende symbolische Anordnung liefern. Die Betonung des eigenverantwortlichen Handelns in identitären Diskursen der Bewegungsnetzwerke verstärkt diese Verbindung und wertet die angesprochene Rolle der Räume zusätzlich auf. An diesem Punkt soll eine gewisse ideologische Unschärfe von Teilen der Berliner linken Szene angesprochen werden, die auch mit dem Diskurs subjektivistischer Politik zusammen hängt. Ursprünglich betrachtete ich den Umstand, dass die gesellschaftskritische Weltsicht vieler Szeneanhänger auf der diskursiven Ebene den Charakter einer rudimentären Ansammlung einiger weniger Grundsätze hat, als ideologische Diffusität. Ein Bei-
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spiel aus dem Interview mit Simone (es geht an dieser Stelle um die Politik der Szene): Ähm (.) jetzt müsste ich das natürlich mit Inhalten füllen, es ist aber total_ weitläufig, halt antipatriarchal, ähm (.) natürlich antirassistisch, antifaschistisch, antisexistisch +jetzt ist es alles dieses Anti, das hört sich immer negativ an, will ich auch nicht. Im Grunde geht’s_ nach meiner Meinung, im Grunde geht’s darum, allen Menschen+_ ähm (.) allen am liebsten halt ein gleichberechtigtes und schönes Leben zu ermöglichen, so. Darum geht’s eigentlich. Und weil die Umstände aber so sind, dass es absolut nicht gegeben ist, so(?) Durchs System, durch den Kapitalismus, durch die Existenz vom Geld, durch Kriege, durch Vertreibung von Menschen, und_ Staaten, die bestimmte Leute bevorzugen und andere nicht, also nicht nur Staaten, alles was dazu gehört. Geht’s halt darum, sich zu über_ also, das nicht einfach so hinzunehmen, sondern was dafür tun wollen, dass es eben mehr Menschen gut geht.
Im Laufe des Projekts musste ich jedoch meine eigene Vorstellung vom politischen Bewusstsein reflektieren und revidieren. Was Rick Fantasia (1988) für den Fall der Arbeiterbewegung in den USA herausgearbeitet hat – dass die Herausbildung der Gemeinschaft auf dynamische und interaktive cultures of solidarity anstelle eines ideenzentrierten politischen Bewusstseins gründet – hilft, die alltäglichen Prozesse der Wir-Konstitution in der linksradikalen Szene zu verstehen. Hier handelt es sich nicht um eine ideologische Diffusität, sondern um eine Reduzierung der abstrakt-ideologischen Komponente des Bewusstseins, da die „politische Arbeit“, also eigenes, auch alltägliches Handeln von Szeneangehörigen, im Vordergrund steht und eine entscheidende Rolle in der interaktiven (Re-)Produktion der Sinnzusammenhänge spielt. Die Logik des politischen Bewusstseins der linken Szene funktioniert wie eine praktische Logik, die „anders ist als die Logik der Logik“ und der von der Forschung weder eine formal-logische Schlüssigkeit abverlangt noch eine erzwungene Schlüssigkeit aufgesetzt werden sollte (vgl. Bourdieu 1987: 157). Auch die politischen Diskussionen können als Teil der tradierten Handlungs- und Interaktionsmuster verstanden werden. Die Zugehörigkeit zur radikalen Linken oder ihr Verlust wird nicht alleine anhand politischer Überzeugungen wie die antikapitalistische Einstellung und die Orientierung auf die grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern anhand der Aneignung von Handlungsmustern bzw. Beteiligung an deren Reproduktion beurteilt. Die
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linke Szene kann den Menschen nicht nur eine Sinnorientierung anbieten – also einen Weg, die Welt zu verstehen –, sondern auch das Gefühl, selbst etwas machen zu können, die linke Politik zu leben und einen Unterschied in der Welt zu machen. Dieses Gefühl (illusio) wird, wie oben festgehalten, im Laufe der praktischen Teilnahme am Szeneleben entwickelt. Die entsprechenden Handlungsweisen sind keineswegs unveränderlich – weder für die Einzelnen noch auf der kollektiven Ebene. Es ist demnach vorstellbar, dass die Rolle von Alltagsräumen in der Produktion kollektiver Identitäten entsprechend der zunehmenden Diskretion szenetypischer Aktivitäten im Alltag der Angehörigen und den gelockerten Anforderungen an eine „richtige“ Lebensweise sinken wird. Das soll allerdings nicht heißen, dass die räumlichen Strukturen und konkrete Räume für die interaktiven Prozesse kollektiver Identität obsolet würden. Stattdessen wäre eine sich vertiefende „Verinselung“ derjenigen Handlungsräumen zu erwarten, die eine Entwicklung von linksradikalen Identitäten unterstützen. Die episodischen, aber institutionalisierten Räume der Protestereignisse, aber auch der militanten Kleinaktionen, würden mit ihrem emotionalisierten Ablauf vor diesem Hintergrund wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen. Das im Rahmen dieser Untersuchung angewandte gesellschaftszentrierte Raumkonzept und der darauf bezogene Entwurf zur räumlichen Organisation von Prozessen kollektiver Identität erlauben auf jeden Fall, mit diskreten und multidimensionalen Räumen umzugehen.
Anhang
T RANSKRIPTIONSHINWEISE betont *laut* °leise° +schnell+ Abbruch_ (unsicher) (…) [Kommentar] //Anknüpfung //parallel// (?) (.) (P) ☺ [lachend ☺]
betont laut leise schnell Abbruch, „Stocken“ unsichere Transkription unverständlich Kommentar //unmittelbare Anknüpfung //parallel gesprochen// steigende Intonation kurze Sprechpause längere Pause kurzer Lacher lachend gesprochen
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I NFORMATIONEN
ZU I NTERVIEWS
Ernie Ernie kommt aus einer mittelgroßen ostdeutschen Stadt und ist zum Zeitpunkt des Interviews Ende Zwanzig. Das Interview wird im Dezember 2002 durchgeführt. Ernie macht in seiner Heimatstadt einen Schulabschluss und engagiert sich dort auch in einem alternativen Kulturprojekt. Eine Berufsausbildung bricht er ab und zieht Ende 1999 nach Berlin-Friedrichshain. Das bunte „Leben auf der Straße“, viele Projekte dort und die Perspektive, in einem Hausprojekt zu wohnen, faszinieren ihn. Die Situation in Berlin kennt er dank vorheriger regelmäßiger Besuche. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt er in einem Hausprojekt und engagiert sich auch in einem Kulturprojekt, der in der Studie als „Stube“ vorgestellt wird. Die beiden Engagements kosten angesichts des andauernden Konflikts mit dem Hauseigentümer viel Zeit. Den Versuch, das Abitur nachzumachen, bricht er ab. Eva Eva kommt aus einer kleineren Stadt in Süddeutschland, aus einer Arbeiterfamilie; ihre Mutter ist Hausfrau. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Eva ca. 35 Jahre alt und seit vielen Jahren in der linksradikalen FrauenLesbenSzene aktiv. Das Interview findet im September 2003 statt. Politisch engagiert ist sie zuerst als Schülerin in ihrer Heimatstadt in einer antirassistischen Initiative, später an ihrem Studiumsort, wo sie allerdings keinen guten Einstieg in linksradikale Kreise findet. 1989 zieht sie nach Berlin, u.a. um neue Möglichkeiten politischer Aktivitäten zu finden. Die Integration in die Strukturen der Berliner linken Szene findet 1989 bis 1991 statt. 1990 zieht sie in ein besetztes, später legalisiertes Hausprojekt in BerlinMitte, das zunächst als ein „Mikrokosmos“ den Mittelpunkt ihres Lebens darstellt. Ansonsten ist sie seit 1990 in antirassistischen Frauenzusammenhängen aktiv. Später wohnt sie in einer Frauen-WG innerhalb eines Hausprojektes in Berlin-Kreuzberg, wo der Zugang von Männern zu WGRäumen stark beschränkt ist. Beim „EXperiment“ vom Februar 1998 bis zum Januar 2001, als das Szene-Café und -Kneipe „EX“ von verschiedenen Gruppen betrieben wird, organisiert Eva den FrauenLesben-Tag mit. Sie wohnt zum Zeitpunkt des Interviews in Berlin-Neukölln.
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Karl Karl kommt aus einer mittelgroßen ostdeutschen Stadt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er Ende Zwanzig. Das Interview wird im Dezember 2002 durchgeführt. Als Heranwachsender hat Karl viele Konflikte in der Familie und im sonstigen sozialen Umfeld. Nach dem Abitur hat er eine „Orientierungsphase“. Er zieht aus, hat mit der „Häuserszene“ in seiner Heimatstadt zu tun und arbeitet dort in einem alternativen Kulturprojekt mit. Nach einiger Zeit ist er von der „Abflaute“ enttäuscht. Mitte der 1990er Jahre geht er nach Berlin mit dem Wunsch zu studieren und ein „normales Leben zu leben“. Durch seine Erlebnisse bei Anti-Castor-Protesten kommt er zu der Ansicht: „Dieser Staat ist auch scheiße“. Er geht öfter zu Demonstrationen und zu Partys und gliedert sich allmählich in soziale Netzwerke der linken Studierenden-Subkultur-Szene ein. Karl engagiert sich bei Studierendenprotesten, parallel zieht er in ein besetztes Haus in Friedrichshain. Später zieht Karl in ein anderes Hausprojekt in Friedrichshain, wo er sich im Rahmen des Konfliktes mit dem Hauseigentümer stark engagiert, was viel Energie und Zeit kostet. Karl gehört auch zum Kern des von mir untersuchten Kulturprojekts im Haus. Das Studium hat er abgebrochen. Er jobbt „hier und da“. Seine politischen Vorstellungen bezeichnet er inzwischen als differenziert statt „diffus“. Lisa Lisa kommt aus einer mittelgroßen Stadt in Ostdeutschland. Ihre Familie ist alternativ eingestellt. Das Interview wird Ende November 2004 durchgeführt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Lisa ca. 20 Jahre alt. Die Integration in Berliner Szenestrukturen findet 2003 bis 2004 statt. Als Kind geht Lisa zunächst auf eine Freie Schule, eine der ersten in neuen Bundesländern, die auch von ihren Eltern mitorganisiert wird. Später wechselt sie auf ein Gymnasium. Mit 14 bis 15 Jahren fängt sie an, mit ihrer damaligen besten Freundin politische Literatur zu lesen und zu diskutieren. Als sie etwas später die linken Gruppen in der Stadt kennenlernt, ist sie enttäuscht. Lisa macht lieber Aktionen mit ihrem „kleinen Freundeskreis“. 2002 erlebt sie eine persönliche Krise, macht Abitur und zieht nach Berlin, wo sie zuerst ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Seit 2004 wohnt sie in einem Hausprojekt in Friedrichshain, macht ab und zu eine Schicht in Szenekneipen mit, ist in einer Antifagruppe und in einem antisexistischen Zusammenhang engagiert. Sie lebt von schlecht bezahlten Aushilfsjobs.
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Markus Markus wird 1977 geboren und wächst im Ostberliner Bezirk Marzahn auf. Das Interview findet Anfang Februar 2005 statt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Markus 27 Jahre alt. Die Integration in Berliner Szenestrukturen findet 2003 bis 2004 statt. Mit 13 bis 14 Jahren entwickelt er Interesse an Punk und Techno, hat lange Haare, und wird dann von ansässigen Nazis „in Richtung links geprügelt“. Er besucht zu dieser Zeit oft einen Jugendclub in Marzahn. Mit 14 bis 15 Jahren geht er zu seinen ersten Demonstrationen. Der „Spaß“ steht für ihn dabei im Vordergrund. Markus bricht kurz nach dem Abitur mit seiner Familie und zieht in die Innenstadt. Nach einer Phase der Problemverdrängung („gesoffen und gekifft“) fängt er ein Studium an und hört mit dem starken Drogenkonsum auf. Zu den Zeiten des BushBesuchs in Berlin 2002 lernt er Leute aus linken Zusammenhängen kennen und beteiligt sich an Spaßguerilla-Aktionen. Später schließt er sich einer anarchistischen Organisation an. Er arbeitet am Tresen in zwei „Läden“ der linken Szene in Friedrichshain. Statt der früheren „Antihaltung“ sieht er bei sich nun ein entwickeltes, positives politischen Bewusstsein. Markus spielt in einer Band. Er wohnt in einer WG in Friedrichshain und arbeitet in einem Callcenter. Michael Michael kommt aus einer mittelgroßen Stadt in Westdeutschland, aus einer Lehrerfamilie. Das Interview wird im Februar 2003 durchgeführt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Michael ca. 30 Jahre alt. Nach Berlin zieht er 1994. Er nimmt ein Studium an der Freien Universität auf und engagiert sich stark im Rahmen der Studierendenproteste Mitte der 1990er Jahre. 1996 wechselt er von den auf die Universität zentrierten Zusammenhängen zur „stadtorientierten“ linken Szene, vor allem in Friedrichshain. Die Repressionswelle 1996/1997 unter Innensenator Schönbohm erlebt er mit. Damals soll Michael ein Teil des subkulturellen, alltagsorientierten „Sumpfes“ gewesen sein. Michael wohnt in einer Kommune in Friedrichshain, später in einem Hausprojekt in Berlin-Kreuzberg, zum Zeitpunkt des Interviews in einer Klein-WG. Er ist in mehreren Zusammenhängen, schwerpunktmäßig jedoch in einer festen politischen Gruppe, aktiv. Michael arbeitet bei einem Pflegedienst.
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Nina Nina kommt aus einer kleineren Stadt in Westdeutschland. Das Interview wird im August 2004 durchgeführt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie Ende Zwanzig. Nina kommt aus einer bildungsbürgerlichen Familie, ihre Eltern sind selbst in linksalternativen Zusammenhängen aktiv. Die ersten Jahre lebt sie in einem Hausprojekt, später mit der Mutter und deren neuem Partner. Politisch aktiv ist Nina schon an der Schule an ihrem Heimatort, zur Zeit des ersten Irakkrieges. Damals bildet sich ihre Politgruppe heraus, die zugleich ihre Clique ist und eine komplette jüngere linke Szene vor Ort darstellt. Auch zu Studienzeiten hat Nina eine starke Anbindung an diese Gruppe. Nach dem „unschönen“ Zerfall der Clique zieht Nina 1999 (als Mittzwanzigerin) nach Berlin. Die Integration in die Berliner linke Szene findet 1999 bis 2001 statt. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt sie in einem Hausprojekt in Berlin-Kreuzberg, ist fest in einer politischen Gruppe aktiv und arbeitet in einer Kollektivkneipe, zu deren Gründungsmitgliedern sie zählt. Petra Petra kommt aus Westdeutschland und zieht Ende 1977 nach Berlin. Das Interview wird im September 2000 durchgeführt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Petra ca. 45 Jahre alt und macht seit über 20 Jahren Politik – „Politarbeit war einfach mein Leben“. Sie gehört zur „Organisationselite“ der Berliner Autonomen. 1974 fängt sie an einer westdeutschen Universität an, Politik zu machen (Studentenproteste Mitte der 1970er Jahre), später lösen sich ihre Zusammenhänge von der Hochschule und sie engagiert sich in der Unterstützung von „politischen Gefangenen“ und in der Anti-AKW-Politik. In Westberlin nimmt sie dann an der ersten Hausbesetzer-Bewegung Anfang der 1980er Jahre teil, gehört zur radikalen Nichtverhandler-Fraktion. Sie macht jahrelang u.a. antirassistische Arbeit und Stadtteil-Arbeit und wohnt in Hausprojekten und Polit-WGs in Kreuzberg. Ihre politischen Überzeugungen sind klassisch autonom: selbstbestimmtes Handeln und Leben im Hier-und-Jetzt, permanente Revolution etc. Petra gehört seit Jahren zu einem Taxifahrerinnenkollektiv in Kreuzberg.
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Simone Simone ist gebürtige Westberlinerin, hier wächst sie auch auf. Das Interview wird im September 2000 durchgeführt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Simone ca. 23 Jahre alt. Simone kommt aus einer bildungsbürgerlichen Familie. Sie macht Abitur auf einem „liberalen“ Gymnasium. Zu ihrer Schulzeit gründet sie eine Schüler-Antifa und ist ansonsten an subkulturellen Aktivitäten wie Punkkonzerten u.Ä. interessiert. Simone schließt nach dem Abitur eine Berufsausbildung als Maurerin ab. Sie ist in der linken Szene „unterwegs“, aber ohne Anbindung an eine feste „Politgruppe“. Ihren Freundeskreis beschreibt sie als vielfältig, nicht auf die Linksradikalen beschränkt. Nach drei Jahren in einer Hausgemeinschaft in Kreuzberg wohnt sie jetzt in einer Klein-WG. Es bestehe allerdings immer noch ein guter Kontakt zu dem Haus. Sie fängt zum Zeitpunkt des Interviews ein Studium an. Stefan Stefan kommt aus Westdeutschland und ist zum Zeitpunkt des Interviews (Dezember 2000) Ende Fünfzig. Damit ist er der älteste unter den Interviewten und gehört darüber hinaus zu den ältesten aktiven Menschen in der Berliner linken Szene. In seiner Jugend studiert Stefan Sozialwissenschaften. Er ist zunächst in der Studentenbewegung aktiv, dann in 1970er Jahren in einem der frühen Kollektivbetriebe in Kreuzberg, später in der Hausbesetzerbewegung Anfang der 1980er Jahre, in vielen autonomen Projekten. Stefan identifiziert sich selbst als einen „Autonomen“ und Angehörigen der „Politszene“ im engeren Sinne, die sich mit der Organisation von Politik beschäftigt. Großen Wert legt er auf die biografische Kontinuität seines politischen Engagements: „Ich bleibe bei meinem selben Faden.“
Literatur
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Evelyn Lu Yen Roloff Die SARS-Krise in Hongkong Zur Regierung von Sicherheit in der Global City 2007, 166 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-612-0
Imke Schmincke Gefährliche Körper an gefährlichen Orten Eine Studie zum Verhältnis von Körper, Raum und Marginalisierung 2009, 270 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1115-1
2009, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1244-8
Robert Gugutzer (Hg.) body turn Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports 2006, 370 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-470-6
Cedric Janowicz Zur Sozialen Ökologie urbaner Räume Afrikanische Städte im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung 2008, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN 978-3-89942-974-9
Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin 2007, 332 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-679-3
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