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German Pages 196 Year 2001
Manfred Peter · Rußlands Platz in Europa
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann
Band 94
Rußlands Platz in Europa Von
Manfred Peter
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Peter, Manfred:
Rußlands Platz in Europa I vom Manfred Peter. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V.; Bd. 94) ISBN 3-428-10393-9
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-10393-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Vorwort Der Autor ist Beamter im Generalsekretariat des Europäischen Parlaments. Die hier vorgelegte Arbeit ist das Ergebnis seiner Studien zu Fragen einer gemeinschaftlichen europäischen Außenpolitik, die er unabhängig von seiner Tatigkeit im Generalsekretariat und aus eigenem Interesse durchgefiihrt hat. Die von ihm angefiihrten Überlegungen geben daher ausschließlich seine persönliche Meinung wieder. Die Integration Europas - eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel - war bei jeder neuen Erweiterung mit mehr oder weniger großen Fragen konfrontiert. Bei der im ersten Anlauf gescheiterten Westerweiterung bildete die ,,Europareife" Großbritanniens über Jahre hinweg den Gegenstand heftiger Kontroversen. Die in zwei Etappen erfolgte Süderweiterung (Griechenland und später Spanien und Portugal) verlief weniger kontrovers, brachte aber eigentlich noch größere Probleme mit sich: die wirtschaftliche Reife der Antragsteller, auf deren Vorliegen schließlich aus politischen Gründen verzichtet wurde. Die Norderweiterung schließlich (Finnland, Schweden und Österreich) brachte, mit Ausnahme vielleicht der Frage der Neutralität der betroffenen Länder, kaum Probleme von außen mit sich, daftir aber umso heftigere Verteilungskämpfe im Inneren der Gemeinschaft. Die nunmehr anstehende Osterweiterung wird von einer Mischung aller vorgenannten Probleme begleitet sein. Trotzdem herrscht im aUgemeinen Optimismus über ihre Lösbarkeit, insbesondere dann, wenn die Erweiterung in "Wellen" erfolgen wird. Das politische Ereignis aber - die Auflösung des Ostblocks -, das den Grund fiir die neue Erweiterungsrunde lieferte, hat den Europäern eine weitere Frage beschert, die eine völlig neue Qualität besitzt und die Europa in den kommenden Jahren mit Sicherheit intensiv beschäftigen wird, ohne daß sich bisher eine zufriedenstellende Lösung abzeichnet. Gemeint ist das Entstehen oder auch Wiederentstehen der Rußländischen Föderation, Erbe der ehemaligen Supermacht Sowjetunion. Eben dieses Rußland hat in den vergangeneo Jahren bereits in der Form der untergegangenen Sowjetunion Interesse an Europa gezeigt. Zunächst in den Überlegungen Gorbatschows zum "gemeinsamen Haus Europa", sodann in dem unmißverständlich geäußerten Wunsch auf einen Beitritt der Rußländischen Föderation zur Europäischen Union. Dieser Wunsch wurde von keinem geringeren als dem russischen Präsidenten Jelzin geäußert und später vom ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Tschemomyrdin bekräftigt.
6
Vorwort
Auf europäischer Seite waren die Antworten auf diese direkte Frage eher ausweichend, wenn nicht sogar ablehnend, obwohl der engen Zusammenarbeit mit Rußland von allen Seiten größte Priorität eingeräumt wird. Von russischer Seite wurde dabei oft der Vorwurf erhoben, man gebe Ratschläge, ohne zu versuchen, Rußland zu verstehen. Ziel dieser Arbeit ist es daher unter anderem, sich in die Lage Rußlands hineinzuversetzen, um seine Situation und die daraus resultierenden Vorgehensweisen begreifbar zu machen. Dazu wurden die Untersuchungen in drei Blöcke aufgeteilt: Zur Einftihrung werden im I . Teil die gegenwärtigen Modelle der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Drittländern- und zwar sowohl im globalen als auch im europäischen Rahmen - dargestellt. Im 2. Teil wird Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der Europäischen Union vorgestellt, wobei zunächst die Gegebenheiten des Landes (Eckdaten, Geschichte, sein Verhältnis zu Europa in seiner Philosophie) untersucht werden. Sodann wird versucht, die Interessenlage des Landes, unter Berücksichtigung seiner historisch-kulturellen Erfahrungswerte, seiner geostrategischen Lage - auf die besonderes Gewicht gelegt wird - sowie seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten zu ergründen. Im 3. Teil sollen die Perspektiven flir eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Union geprüft werden. Dabei werden zunächst die denkbaren Szenarien ftir Rußlands Zukunft erläutert, anschließend wird die in der Vergangenheit latent im Raum stehende Frage, ob Rußland gegenwärtig oder in naher Zukunft der Europäischen Union beitreten kann, erörtert. Sodann wird das Geftige der gegenwärtigen Zusammenarbeit Rußlands mit Westeuropa und dem Westen im allgemeinen und der Europäischen Union im besonderen dargestellt. Schließlich soll untersucht werden, wie eine Zusammenarbeit Rußlands mit der Europäischen Union in Zukunft aussehen könnte. Dabei wird der Versuch gemacht, auf der Grundlage der in den vorausgegangenen Kapiteln entwickelten Überlegungen ein den verschiedenen Interessen gerecht werdendes Modell vorzuschlagen. Wegen der Schnelligkeit, mit der sich die Entwicklung gerade im Zusammenhang mit Rußland vollzog - innerhalb der letzten anderthalb Jahre gab es drei einschneidende Veränderungen, die die Situation Rußlands innen- wie außenpolitisch entscheidend veränderten (Finanzkrise im August 1998, Jugoslawienkrise im Frühjahr 1999 sowie Tschetschenienkrieg im Herbst und Winter 1999)- war es notwendig, sich überwiegend an der aktuellen Berichterstattung der Presse zu orientieren. Glücklicherweise lieferte diese, neben der täglichen Berichterstattung eine Reihe von hilfreichen Analysen von Experten aus Wis-
Vorwort
7
senschaft, Politik und Wirtschaft, so daß eine Vertiefung des Themas trotz des FehJens längerfristig angelegter Ausarbeitungen dennoch möglich war. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Klaus Ziemer und Christian Weber M.A. fiir ihre wertvollen Anregungen, Herrn Prof. Dr. Dr. Heiner Timmermann, der die Arbeit in die Schriftenreihe der Europäischen Akademie in Otzenhausen aufgenommen hat sowie Ulrike Pölcher und Ulrike Danas flir ihre sehr hilfreichen Korrekturarbeiten.
Man.fred Peter
Inhaltsverzeichnis I. Teil Die gegenwärtigen Modelle der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Drittländern
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A Die Modelle im globalen Rahmen .................................................................................... ) 5 I. Die Zusammenarbeit mit den der Europäischen Union
vergleichbaren, auf dem Weltmarkt konkurrierenden Wirtschaftsmächten .........................................................................................................................15 II. Die Zusammenarbeit mit anderen regionalen Zusammenschlüssen ............. 16 III. Die Assoziierungsverträge mit den Staaten des Lome-Abkommens............ I6 lV. Die Zusammenarbeit mit Staatengruppen, die eine enge geographische Nähe zur Europäischen Union aufweisen............................................................. I 7 1. Die Länder des Mittelmeerraumes .................................................................. 17 2. Die europäischen und asiatischen Staaten der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) ...................................................................................... l7 8. Die Modelle im europäischen Rahmen (Die Voraussetzungen für einen Beitritt) .................................................................................................................................... 18 I. Die Voraussetzung des "Beitreten Können" ....................................................... ) 8 II. Die Voraussetzung des "Beitreten Wollen" ........................................................) 9 III. Die Voraussetzung des "Beitreten Sollen"..........................................................20 2. Teil Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der Europäischen Union
22
A Die Gegebenheiten des Landes..........................................................................................2 2 I. Die Eckdaten ................................................................................................................2 2
II.
I. Fläche .....................................................................................................................2 2 2. Bevölkerung.........................................................................................................23 3. Religion.................................................................................................................23 4. Wirtschaft..............................................................................................................24 5. Militärische Situation .......................................................................................25 6. Raumfahrttechnik ...............................................................................................2 8 Rußlands Geschichte.................................................................................................2 9 I. Das Kiewer Reich (10. - 13. Jahrhundert) ....................................................30
10
Inhaltsverzeichnis
2. Mongolenherrschaft und Aufstieg Moskaus ( 13. - 15. Jahrhundert) ..3 1 3. Moskauer Reich (15. - 17. Jahrhundert) ......................................................32 4. Rußländisches Imperium oder die Teilnahme am Konzert der europäischen Großmächte (Anfang des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts) .......................................................................................................................) 3 5. Die Zeit des Übergangs (Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1922) .........35 6. Rußland in der Gestalt der Sowjetunion als eine der (beiden) führenden Weltmächte (1922-1991).............................................................36 7. Die Rußländische Föderation (ab 1991) ......................................................38 lll. Rußlands Verhältnis zu Europa in seiner Geschichte und seiner Philosophie..................................................................................................................3 8 I. Allgemeine Überlegungen................................................................................3 8 2. .,Rußland und Europa" in der russischen Philosophie ............................40 3. Die aktuelle Diskussion um den russischen (.,dritten") Weg............... ..45 4. Fazit ........................................................................................................................47 B. Die Interessenlage des Landes...........................................................................................4 7 I. Vorbemerkung.............................................................................................................4 7 Historisch-kulturelle Erfahrungswerte.................................................................49 II. I. Die Hinwendung zum christlichen Glauben in seiner orthodoxen Forrn........................................................................................................................49 2. Die Eroberung Rußlands durch die Mongolen - Das tatarische Joch.........................................................................................................................50 3. Die nationale Einigung (.,Sammlung der Länder der Rus") und die Herausbildung eines russischen National- und Sendungsbewußtseins ..............................................................................................................51 4. Die Orientierung nach Westen- Peter der Große und Katharina die Große ......................................................................................................................52 5. Das Element des Terrors in der russischen Geschichte.............................53 6. Fazit ....................................................................................................................... .54 III. Die geostrategische Lage..........................................................................................54 1. Zum Stand der Diskussion des geostrategischen Denkens in Rußland .................................................................................................................54 2. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (die einzige verbliebene Supermacht) als Nachbar, Partner und Rivale .............................................58 3. Japan.......................................................................................................................61 4. Nord- und Südkorea............................................................................................63 5. China ......................................................................................................................65 6. Indien .....................................................................................................................67 7. Pakistan .................................................................................................................68 8. Afghanistan ..........................................................................................................69 9. Iran ..........................................................................................................................70 10. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) .........................................70 a) Die Vorgeschichte (1988 bis 1991)........................................................71
Inhaltsverzeichnis
II
b) Die Auflösung der Sowjetunion (1991) ................................................71 c) Die Strukturierung der GUS und der Versuch einer engeren Zusammenarbeit ( 1992-1997)..................................................................7 2 II. Die zentralasiatischen GUS-Republiken ......................................................7 4 a) Kasachstan .....................................................................................................80 b) Usbekistan .....................................................................................................80 c) Kirgistan.........................................................................................................81 d) Turkmenistan ................................................................................................8 1 e) Tadschikistan................................................................................................81 t) Fazit .................................................................................................................81 12. Die kaukasischen GUS-Republiken und der russische Nordkaukasus .......................................................................................................................82 a) Armenien ........................................................................................................82 b) Aserbaidschan ...............................................................................................8 3 c) Georgien .........................................................................................................84 d) Der Nordkaukasus........................................................................................8 6 13. Die westlichen GUS-Länder (Ukraine- Weißrußland- Moldawien) ...91 a) Ukraine............................................................................................................91 aa) Allgemeines ........................................................................................91 bb) Wirtschaft ............................................................................................92 cc) Außen- und Sicherheitspolitik......................................................94 b) Moldawien .....................................................................................................97 aa) Allgemeines ........................................................................................97 bb) Wirtschaft ............................................................................................98 cc) Außenpolitische Beziehungen ......................................................99 c) Weißrußland............................................................................................... l 0 I aa) Allgemeines ..................................................................................... I 0 I bb) Wirtschaft ......................................................................................... ! 02 cc) Die außenpolitischen Optionen Weißrußlands ..................... I 03 14. Der Ostseeraum ................................................................................................. 107 a) Die baltischen Staaten ............................................................................. ! 07 aa) Die Sicherheitspolitik der baltischen Staaten........................ I 07 bb) Die Anhindung der baltischen Staaten an den Westen ........ I 09 cc) Die Beziehungen der baltischen Staaten zu Rußland........... II 0 b) Chancen der Zusammenarbeit im Ostseeraum................................... I I 2 aa) Die Möglichkeiten ......................................................................... I 12 bb) Die Formen der Zusammenarbeit................................................ I 14 15. Die ehemaligen .,Satellitenstaaten" ............................................................ 117 a) Die Ausgangslage ..................................................................................... ll7 b) Die aktuelle Lage....................................................................................... 118 c) Rußlands Haltung..................................................................................... 121 16. Der Balkan.......................................................................................................... l22 a) Allgemeines................................................................................................ 122
12
Inhaltsverzeichnis
IV.
b) Die aktuelle Lage....................................................................................... 12 4 c) Perspektiven............................................................................................... l25 d) Die Auswirkungen auf die westliche Welt ......................................... 12 7 17. Türkei................................................................................................................... l28 Die wirtschaftlichen Möglichkeiten Rußlands............................................... !) 7 I. Die Ausgangslage ............................................................................................ 13 7 2. Erfolg und Mißerfolg der Transformation ................................................ l38 3. Perspektiven...................................................................................................... l44
3. Teil Die Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Union
146
A Die denkbaren Szenarien fur Rußlands Zukunft........................................................ 146 I. Rußland als eurasiatische Großmacht ............................................................... 146 li. Rußland als Groß- und Führungsmacht der ostslawisch-orthodoxen Welt ............................................................................................................................. l47 lll. Rußland als europäische Großmacht mit einer engen Anhindung an den Westen, insbesondere Europa ...................................................................... l49 IV. Fazit. ............................................................................................................................ l50 B. Könnte Rußland der Europäischen Union beitreten? .................... ;......................... 150 I. Ist Rußland ein europäisches Land? .................................................................. I 5 I li. Ist Rußland ein demokratischer Rechtsstaat? ................................................. 153 III. Besitzt Rußland eine wettbewerbsfähige marktwirtschaftliche Ordnung? ................................................................................................................... 15 7 IV. Wäre Rußland bereit und in der Lage, das gemeinsam Erreichte der Europäischen Union (acquis communautaire) zu übernehmen?................. I 58 V. Ist Rußland bereit, die Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Minderheiten, zu achten? ...................................................................................... 159 VI. Weist Rußland ein friedliches Zusammenleben mit seinen Nachbarn auf? .............................................................................................................................. 160 VII. Fazit.. ........................................................................................................................... 161 C. Die aktuelle Zusammenarbeit Rußlands mit Westeuropa im allgemeinen ........ l61 D. Die aktuelle Zusammenarbeit Rußlands mit der Europäischen Union ............... 164 I. Das Partnerschafts- und Kooperationsprogramm........................................... I 64 li. Das TACIS-Programm............................................................................................. 166 III. Der Aktionsplan....................................................................................................... l68 E. Die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit Rußlands mit der Europäischen Union in der Zukunft ........................................................................................................ 170 I. Aus der Sicht Rußlands ......................................................................................... I 7 0 I. Die Bewußtseinslage....................................................................................... l70 2. Die geostrategische Lage ............................................................................... I 71
Inhaltsverzeichnis II.
111.
I3
3. Die wirtschaftliche Lage................................................................................. l71 Aus der Sicht der Europäischen Union.............................................................. 17 2 1. Die Bewußtseinslage....................................................................................... l72 2. Die geostrategische Lage ............................................................................... I 74 3. Die wirtschaftliche Lage................................................................................. l74 Perspektiven ............................................................................................................. l74
Literaturverzeichnis
177
1. Teil
Die gegenwärtigen Modelle der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Drittländern A. Die Modelle im globalen Rahmen' Man wirft der Europäischen Union oft vor, keine wirkliche gemeinsame Außenpolitik zu besitzen. In der Tat ist die sog. GASP, die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik lediglich ein ,,Embryo" einer echten europäischen Außenpolitik. Diese verständlicherweise von einer gewissen Enttäuschung getragene Bewertung ist jedoch zu kurz gegriffen. In der Realität zeichnen sich in den vertraglichen Bindungen, die die Union im Laufe ihrer Entwicklung mit Drittstaaten eingegangen ist, und die sich im wesentlichen auf die bereits bestehende gemeinsame Außenhandelspolitik stützen, so etwas wie die Fundamente einer zukünftigen Außenpolitik ab. In globaler Hinsicht werden dabei die folgenden großen Unterteilungen im System der Beziehungen erkennbar:
I. Die Zusammenarbeit mit den der Europäischen Union vergleichbaren, auf dem Weltmarkt konkurrierenden Wirtschaftsmächten Gemeint sind hiermit vor allem die USA und Japan. In der Zusammenarbeit mit diesen Partnern wird, neben der gleichzeitigen Mitgliedschaft in wichtigen internationalen Zusammenschlüssen wie etwa der WTO, die Form gemeinsamer Erklärungen gewählt. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist die sog. "Neue Transatlantische Agenda (NTA)", auf die sich die USA und die EU bereits 1995 geeinigt hatten und die seit dieser Zeit trotz aller Krisen und auch Strei1 Zu den verschiedenen Vertragsmodellen der Europäischen Union vgl. auch Wichard Woyke, Außenbeziehungen der Europäischen Union, in: Lexikon der Politik, Band 5: Die Europäische Union, S. 22 f .
I 6 I. Teil: Gegenwärtige Modelle der Zusammenarbeit der EU mit Drittländern
tigkeiten Fortschritte zu machen scheint. In der Transatlantischen Agenda haben sich die Partner auf folgende Hauptziele verpflichtee -
Förderung von Frieden und Stabilität, Demokratie und Entwicklung in der ganzen Welt
-
Reaktion auf globale Herausforderungen wie die internationale Kriminalität, Umwelt- und Gesundheitsprobleme
-
Expansion des Welthandels und engere wirtschaftliche Beziehungen und
-
Brückenschlag über den Ausbau der kommerziellen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und bildungspolitischen Beziehungen. II. Die Zusammenarbeit mit anderen regionalen Zusammenschlüssen
In Anlehnung an die Entwicklung der europäischen Integration und die damit verbundenen allgemein anerkannten Erfolge, haben sich global ähnliche Zusammenschlüsse entwickelt wie die ASEAN in Südostasien, der MERCOSUR und der Andenpakt in Südamerika, die Länder Zentralamerikas oder der Golf-Kooperationsrat Auf Seiten der EU wie auch auf Seiten dieser regionalen Zusammenschlüsse besteht der Wunsch nach engerer Zusammenarbeit. Da die Partner ähnliche institutionelle Strukturen aufweisen, liegt der Schwerpunkt zur Zeit noch auf der institutionellen Kooperation. Engere Vertragsverhältnisse wie etwa Assoziierungen bestehen nicht. Teilweise ist jedoch das Ziel der Bildung von Freihandelszonen erkennbar. 111. Die Assoziierungsverträge mit den Staaten des Lome-Abkommens Hierbei handelt es sich im wesentlichen um afrikanische, karibische und pazifische Staaten, die ehemals Kolonien der jetzigen Mitgliedsländer der Europäischen Union waren und von daher traditionell eine enge Verbindung zu diesen haben. Ziel der Assoziierung, die eine Assoziierung ohne Beitrittsperspektive darstellt, ist es, die bestehenden Bindungen wirtschaftlicher, politischer und
2
Harald Hotze, Die Streithähne proben den Dialog, in: WAMS vom 22.2.1998.
A. Die Modelle im globalen Rahmen
17
kultureller Art zu pflegen und den assoziierten Partnern beim Aufbau ihrer wirtschaftlichen Strukturen behilflich zu sein. 3
IV. Die Zusammenarbeit mit Staatengruppen, die eine enge geographische Nähe zur Europäischen Union aufweisen Hier sind vor allem zwei Gruppen zu nennen: 1. Die Länder des Mittelmeerraumes
Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, eine enge wirtschaftliche Verflechtung der Länder dieses Raumes herzustellen und damit auf lange Sicht eine Zone des Friedens und des wirtschaftlichen Wohlstandes zu schaffen. Vertraglich wird der Abschluß von Assoziierungsverträgen - ohne Beitrittsperspektive - angestrebt, der neben finanziellen Hilfen ftir die assoziierten Länder auch die Öffnung der beiderseitigen Märkte vorsieht. 2. Die europäischen und asiatischen Staaten der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten)
Die Zusammenarbeit erfolgt in der Form von sogenannten Partnerschaftsund Kooperationsabkommen, deren Ziel es ist, den betroffenen Ländern dabei behilflich zu sein, die Bedingungen ftir ihre Eingliederung in die Weltwirtschaft zu schaffen. Das Engagement der Europäischen Union umfaßt auch konkrete finanzielle Unterstützung der Länder bei diesem Vorhaben (TACIS-Programm). Die Verträge verzichten bewußt auf die Bezeichnung Assoziierung, da mit dem Begriff der Assoziierung die Entscheidung über die Eröffnung bzw. Nicht-Eröffnung einer Beitrittsperspektive verbunden ist. Diese Frage, die vor allem ftir die europäischen GUS-Staaten von Bedeutung sein könnte, soll mit Rücksicht auf Rußland, dem diese Länder nach wie vor wirtschaftlich eng verbunden sind, offen bleiben. Die zuletzt vorgetragene Überlegung leitet über zu der zweiten Gruppe von Modellen, den Modellen im europäischen Rahmen, die natürlich für die Europäische Union, deren Ausgangsgedanke die Integration Europas war (und ist), von besonderer Bedeutung sind.
J Vgl. auch Karl Wolfgang Menck, Entwicklungspolitik, in: Lexikon der Politik, Band 5: Die Europäische Union, S. 51 ff.
2 Pcter
1 8 1. Teil: Gegenwärtige Modelle der Zusammenarbeit der EU mit Drittländern
B. Die Modelle im europäischen Rahmen (Die Voraussetzungen für einen Beitritt) In der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Drittstaaten gibt es eine wichtige Scheidelinie, die auf Art. 0 Abs. I des EUV beruht. Dieser lautet: "Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied der Union zu werden."
Um Mitglied zu werden, hat der interessierte Staat drei Voraussetzungen zu erfullen, die man - etwas salopp ausgedrückt - folgendermaßen darstellen könnte: Der Staat muß -
beitreten können
-
beitreten wollen
-
beitreten sollen.
Von der Logik her müßte man zuerst die Voraussetzung des ,,Beitreten Wollen" prüfen; da aber die Union im Falle des Nichtwollens, je nachdem ob der Staat theoretisch hätte beitreten können oder nicht, unterschiedliche Formen fiir die dann geltende Zusammenarbeit entwickelt hat, empfiehlt es sich, mit der Voraussetzung des ,,Beitreten Können" zu beginnen.
I. Die Voraussetzung des "Beitreten Können"
Die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union setzt eine Reihe von Bedingungen voraus, die ursprünglich auf drei beschränkt waren (europäischer Staat, wirtschaftliche Wettbewerbsfahigkeit und rechtsstaatliche Ordnung), mittlerweile aber auf sechs4 erweitert wurden. Danach muß das am Beitritt interessierte Land -
ein europäisches Land sein,
-
ein rechtsstaatliches System und
-
eine wettbewerbsfaltige marktwirtschaftliche Ordnung besitzen,
-
bereit sein, das gemeinsam Erreichte (acquis communautaire) zu übernehmen und
-
die Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Minderheiten, achten,
-
mit seinen Nachbarn ein friedliches Zusammenleben aufweisen.
Von diesen sechs Bedingungen sind vier - die Bedingungen zwei bis fünf im Grunde allein vom Willen des am Beitritt interessierten Landes abhängig, • Kopenhagener Gipfel von 1993.
B. Die Modelle im europäischen Rahmen
19
eine ist teilweise von seinem Willen abhängig (die sechste Bedingung) und eine (die erste) ist von seinem Willen unabhängig. Die Entwicklung der Integration hat gezeigt, daß bei den vier Bedingungen, die von der Bereitschaft des Kandidaten abhängig sind, die Gemeinschaft bereit ist, entsprechende Entwicklungen zu fördern und bei der Erflillung der Bedingung behilflich zu sein. Dies gilt insbesondere flir die Bedingung betreffend die wirtschaftliche Situation des Kandidaten. Dies war so beim Beitritt der drei südlichen Partnerländer Griechenland, Spanien und Portugal und alles deutet darauf hin, daß dies auch so sein wird mit den sechs Kandidaten, mit denen bereits Beitrittsverhandlungen eröffnet wurden (Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern) und den sechs weiteren Kandidaten, mit denen die Beitrittsverhandlungen im Frühjahr 2000 aufgenommen werden sollen (Rumänien, Bulgarien, Lettland, Litauen, Slowakei und Malta).
II. Die Voraussetzung des "Beitreten Wollen" Unter den Ländern, die bisher keinen Antrag auf Beitritt gestellt haben, sind drei Gruppen zu unterscheiden: I. Länder, die Schwierigkeiten mit der Erflillung der Bedingung des Beitreten Könnens hätten, die aber ihr Interesse an einem Beitritt gezeigt haben, ohne allerdings einen offiziellen Antrag gestellt zu haben. Hierzu sind alle europäischen GUS-Staaten außer Weißrußland aber einschließlich Rußlands zu rechnen. Mit diesen Ländern bestehen zur Zeit (bzw. befinden sich in Vorbereitung) sogenannte Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eine Assoziierung mit Beitrittsperspektive, sondern vielmehr auf längere Sicht- die Schaffung einer Freihandelszone zum Ziel haben. 2. Länder, die Probleme mit dem •.Beitreten Können" hätten, die aber durch ihr Verhalten gezeigt haben, daß sie an einem Beitritt nicht interessiert sind. Hier ist Weißrußland zu nennen. 3. Länder, die keine Schwierigkeiten mit der Bedingung des •.Beitreten Können" haben, die aber nicht beitreten wollen. Hierzu gehören Norwegen, lsland, die Schweiz und in ihrem Gefolge Liechtenstein. Für diese Länder, die der Europäischen Freihandelszone angehören, wurde der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) geschaffen, der eine Freihandelszone mit den betroffenen Ländern darstellt, die freien Warenverkehr, Freizügigkeit, freien Dienstleistungsverkehr, freien Kapitalverkehr und freien Wettbewerb gewährt, ohne daß diese Länder allerdings - anders als bei einer Vollmitgliedschaft- an den Entscheidungsprozeduren der Union beteiligt wären.
20 I. Teil: Gegenwärtige Modelle der Zusammenarbeit der EU mit Drittländern
Zu ergänzen ist, daß die Schweiz nach einer Volksabstimmung dem EWR nicht beigetreten ist, was ihr nur die - mittlerweile erfolgreich verwirklichte Möglichkeit übrigließ, in mühsamen bilateralen Verhandlungen Einigung mit der Union über Fragen von gemeinsamem Interesse zu suchen. 5
111. Die Voraussetzung des "Beitreten Sollen" Bei der Voraussetzung des •.Beitreten Sollen" geht es um die Frage, ob der Beitritt zur Union (zur Zeit oder auch auf längere Sicht) wünschenswert wäre. Zur Zeit gibt es noch eine Reihe von Ländern, bei denen man den Eindruck hat, daß ihr Beitritt der Gemeinschaft nicht unbedingt "gelegen"käme, wobei allerdings gerade die allerneueste Entwicklung gezeigt hat, daß Änderungen durchaus denkbar sind. I. Am auffälligsten war bisher der Fall der Türkei. Mit diesem Land wurde bereits 1964 ein Assoziierungsvertrag mit Beitrittsperspektive geschlossen. Mit dem 1987 eingereichten Antrag auf Vollmitgliedschaft hat sich die Gemeinschaft schwer getan. Zwar wurde der Assoziierungsvertrag in eine Zollunion umgewandelt und von daher in seiner Bedeutung aufgewertet; hinsichtlich des Beitrittsbegehrens brachte erst der Helsinki-Gipfel im Dezember 1999 den wenn auch heftig umstrittenen - Durchbruch: Die Türkei wird als Beitrittskandidat anerkannt, ohne daß allerdings vorerst Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Formell artikulieren sich die Bedenken der Union an der Menschenrechtsund Minderheitenpolitik der Türkei, in Wirklichkeit scheint das Problem jedoch bei der Frage zu liegen, ob das Land das Kriterium "europäisch"erftillt. 2. Ebenfalls Bedenken gegen einen Beitritt besteht bei der Gruppe der Länder, die aus der Sicht der Union die Bezeichnung "westlicher Balkan"6 tragen und zu der Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Ex-Jugoslawien (Serbien und Montenegro), Fryrom (Mazedonien) und Albanien gehören. Obwohl diese Länder zum Teil erhebliche finanzielle Unterstützung in verschiedener Form durch die Gemeinschaft erhalten, besteht hinsichtlich der Frage eines Beitritts große Zurückhaltung, die bedingt ist durch die Konsequenzen des jugoslawischen Bürgerkrieges, dessen Folgen noch nicht beseitigt werden konnten. Allerdings s Zu Einzelheiten des Abkommens der Schweiz mit der EU, das inzwischen vom Schweizer Parlament angenommen wurde. vgl. Sanoussi Bi/al, L'integration de Ia Suisse dans I'Europe: Les accords bilateraux comme premi~re etape?, in: Eipascope, No 1999/3, S. 19 ff. 6 Heribert Korjmacher, Kroatien steht weiter auf der Warteliste, in: Luxemburger Wort vom 13.2.1998.
B. Die Modelle im europäischen Rahmen
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gibt es in neuerer Zeit starke Tendenzen, den genannten Ländern wegen ihrer schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage eine Beitrittsperspektive (wenn auch auflängere Sicht) zu verschaffen. 3. Eine weitere Gruppe bilden die europäischen GUS-Staaten Moldawien, Georgien und vor allem die Ukraine, wo die Rücksichtnahme auf Rußland wie auch die zu erwartenden wirtschaftlichen Belastungen die Europäische Union offenbar dazu bewegt haben, eine negative Haltung einzunehmen. 4. Zuletzt ist der vielleicht interessanteste Fall zu erwähnen: Rußland selbst. Auf die lnteressenbekundungen des Landes hat die Europäische Union bisher eher zurückhaltend reagiert. Eingewandt wird vor allem, daß das Land durch seine Größe, seine Bevölkerungszahl und auch wegen seiner militärischen Stärke die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Struktur überfordern würde. 7 Allerdings hat sich durch den zweiten Tschetschenienkrieg eine neue Situation ergeben, die bei allem Verständnis der Europäischen Union flir die Belange Rußlands wie auch bei aller Behutsamkeit von westlicher Seite ein Auseinanderdriften der beiden Regionen zur Folge hat. Ob es zu einer neuen Annäherung kommen kann, wird im wesentlichen von der weiteren Entwicklung in der Kaukasusregion - die zur Zeit (Dezember 1999) nicht vorauszusehen ist - abhängen.
7 Vergleiche hierzu den Bericht von Catherine Lalumiere, Mitglied des Europäischen Parlaments, über die Mitteilung der Kommission, Die zukünftigen Beziehungen der Europäischen Union zu Rußland, und den Aktionsplan: Die Europäische Union und Rußland: die künftigen Beziehungen. (Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Sicherheit und Verteidigungspolitik der Europäischen Union vom 12. Februar 1998.) Dokumente des Europäischen Parlaments PE 223. 304.
2. Teil
Rußland als "Interessent'' an einer Zusammenarbeit mit der Europäischen Union A. Die Gegebenheiten des Landes I. Die Eckdaten Die folgende Zusammenstellung will eine kurzgefaßte "Visitenkarte" des Landes geben, die es ermöglichen soll, von den wesentlichen Daten des heutigen Rußland Kenntnis zu nehmen, ohne daß an dieser Stelle schon eine Vertiefung des Themas angestrebt wird.
I. Fläche Rußland ist mit einer Fläche von 17.074.400 km 2 etwa funf Mal so groß wie die Europäische Union (3.337.000 km 2). Es ist von der Fläche her das größte Land der Erde. Klimatisch erstreckt es sich vom Bereich des arktischen Klimas (Nordsibirien) bis zu dem des subtropischen Klimas (Schwarzmeerküste), der größte Teil des Landes gehört jedoch zur gemäßigten Klimazone. Allerdings herrscht auf drei Fünftel der Landesfläche aufgrund des kalten, langanhaltenden Winters Dauerfrost Diese klimatischen Bedingungen sind der landwirtschaftlichen Entwicklung trotz der Größe des Raumes eher abträglich gewesen. Nur 13 % der Landfläche sind landwirtschaftliche Nutzfläche (davon 61 %Ackerland und 38% Weiden und Grasland). 8
s Zur Situation der Landwirtschaft in Rußland siehe Lukas Zdenek, Die Landwirtschaft der Oststaaten, in: Osteuropa - Wirtschaft, 43. Jhg., 211998, S. 105.
A. Die Gegebenheiten des Landes
23
2. Bevölkerung
Mit etwa 150 Mio. (genau 147,4 Mio.) Einwohnern hat Rußland mehr Einwohner als die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Europäischen Union (Deutschland und Italien) zusammen und kommt an etwa 40 %der Gesamteinwohnerzahlder Europäischen Union (370 Mio.) heran. Die größten Städte sind Moskau mit etwa 8,8 Mio. und St. Petersburg mit etwa 4,5 Mio. Einwohnern. Danach folgt eine Reihe von neun Städten mit zwischen I Mio. und 1,5 Mio. Einwohnern wie Nischnij Novgorod, Nowosibirsk, Jekaterinenburg, Samara und Omsk. Den größten Teil der Bevölkerung stellen (I 989) mit 81,5 % die Russen. Unter den mehr als 100 nationalen Minderheiten bilden die Tataren mit 3 % die größte Gruppe, gefolgt von den Ukrainern (2,7 %), Tschuwaschen (1,2 %), Baschkiren (0,9 %) und Weißrussen (0,8 %). Von der Bevölkerungsdichte her liegt der Schwerpunkt eindeutig im europäischen Teil. Zwei Drittel aller Russen leben westlich des Urals. 3. Religion
Die meisten Russen bekennen sich zur russisch-orthodoxen Kirche, die nach der Auflösung der Sowjetunion und den damit endenden Benachteiligungen, die allerdings schon in der Endphase unter Gorbatschow abgeklungen waren, eine Renaissance erlebt und gleichzeitig ihre Bedeutung im staatlichen Leben verstärken konnte. Im südlichen Teil Rußlands- vor allem in der Kaukasusregion- ist der Islam die vorherrschende Religionsgemeinschaft. In Tschetschenien und Daghestan bekennt sich zwischen 75 % und 90 % der Bevölkerung zum Islam. Darüberhinaus gibt es in einem südlichen Gürtel, der von Rostow über Wolgograd und Kasan bis über Omsk reicht, eine teilweise beachtlich große islamische Minderheit, deren politische Bedeutung von verschiedenen Kommentatoren sehr hoch eingeschätzt wird. 9 Im asiatischen Südosten spielt der Buddhismus eine Rolle. Hinzukommen noch etwa I Mio. Juden und kleinere Religionsgruppen. Damit bekennt sich der überwiegende Teil der Bevölkerung- wie übrigens auch in der Europäischen Union - zu einer der christlichen Religionen, wobei allerdings in der Europäischen Union der Schwerpunkt bei Katholiken und Protestanten liegt. Grie9 Vgl. z.B. Peter Scholl-Latour, Den Gottlosen die Hölle. Der Islam im zerfallenden Sowjetreich. München 1991.
24
2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
ehenland bildet hier eine Ausnahme, auf deren Bedeutung zu einem späteren Zeitpunkt noch zurückzukommen ist. 4. Wirtschaft Ein Fünftel der weltweit nachgewiesenen Goldvorkommen, die Hälfte der Weltkohlevorkommen, sehr große Erdöl- und Erdgaslagerstätten entfallen auf das russische Territorium. Die Elektrizitätswirtschaft stützt sich zu etwa 80 % auf Wärmekraft-, sonst auf Wasser- und Kernkraftwerke. Die folgende, dem Staatslexikon 10 entnommene, Übersicht zeigt die Entwicklung der Produktion ausgewählter Industriegüter in der Zeit von 1928 bis 1990 für die Sowjet. II umon. Produktion ausgewählter Industriegüter Güter
1928
1950
1965
1980
1989
1990
Stahi(Mio. t) Kohle (Mio. t) Erdöl lMio. t) Erd2as(Mrd. m') elektr. Strom lMrd. kWh) Maschinen (in 1000) Traktoren (1000 Stk.) ZementlMio. t) Baumwollstoff lMrd. lfd. m) dto.(Mrd. m1 Konserven lMrd. Stk.) Schuhe(Mio. Paar) Panier (l 000 t)
4,3 35,5 11 6
27,3 261,1 37,9
5,0
91 ,2
91,0 577,7 242,9 127,7 507
147,9 716,4 603,2 435 2 1294
160 740 607 796 1722
154 703 571 815 1726
2,0
70.6
186
216
355
555
532
495
72,4 7,1
125,0
140
137
5,5 7,1
7,1 15,3
81 20,9
7,8 20,6
468 3231
743 5288
827 6315
843 6154
31,6 18 2,7
10 2 3,9
1,1 58,0 838
203,0
Quellen: Naradnoe chozjajstvo SSSR 1922-1982. Moskau 1983; SSSR v cifrach v 1988 godu. Moskau 1989; SSSR v cifrach v 1989 godu. Moskau 1990; Naradnoe chozjajstvo SSSR v 1990 godu. Moskau 1991.
Staatslexikon, 7. Auflage, 1995, S. 327. Die 7. Auglage des Staatslexikons beschränkt sich bei der Darstellung Rußlands - mit Hinweis auf fehlendes Zahlenmaterial für Rußland - auf die ehemalige Sowjetunion. 10 11
A. Die Gegebenheiten des Landes
25
Rußland als Kernland der Sowjetunion war ( 1988) an deren Industrieproduktion mit 61 %, an deren landwirtschaftlicher Produktion mit 50 % beteiligt. Besonders groß war sein Anteil an der Produktion von mineralischen Brennstoffen (Erdöl 90 %, Erdgas 50%, Kohle 55%), von Industriestoffen (Eisenerz 40 %), Holz (90 %), Elektroenergie (60 %) und Erzeugnissen der Hüttenindustrie (60 % ). 12 Eine Schwäche der russischen Wirtschaft bildet das Verkehrsnetz, das von Westen nach Osten abnimmt und in seiner Leistungsfähigkeit nicht den wirtschaftlichen Erfordernissen entspricht. Im Vergleich mit der Europäischen Union ist Rußland wesentlich reicher an Bodenschätzen, was aber die Infrastruktur betrifft, sehr viel weniger gut ausgestattet.
5. Militärische Situation Trotz der mit der schweren Transformationskrise der russischen Wirtschaft verbundenen Reduzierung der vorhandenen militärischen Potentiale ist die Russische Föderation nach wie vor die stärkste Militärmacht in Europa und Asien.13 Diese beruht in erster Linie auf den nuklearen Kapazitäten. Rußland verfUgt über ein Nuklearwaffenarsenal, das mit dem der USA vergleichbar ist und das ihm im Fall eines atomaren Angriffs einen vernichtenden Antwortschlag erlaubt.14 Aus diesem Grunde sind für die USA die Beziehungen zu Rußland weiterhin von Priorität. 15 Einer Studie des Bundesinstituts für Ostforschung zufolge verfügte Rußland im Jahre 1996 über knapp 2.000 Trägersysteme mit etwa 9.600 Sprengköpfen. Das im September 1997 von Rußland und den USA unterzeichnete Zusatzabkommen zum START li-Abkommen sieht vor (entsprechend dem 1993 unterzeichneten START li-Abkommen), daß die Zahl der strategischen Atomsprengköpfe, wie geplant, bis zum Jahre 2003 um derzeit 20.000 aufjeweils etwa 3.500 reduziert werden soll, daß aber Moskau bis zum Jahre 2007 - ftinf Jahre länger als vorgesehen - Zeit für den Abbau seiner Trägersysteme gegeben wird.16
12 Eine sehr aufschlußreiche neuere Darstellung der Energieressourcen Rußlands gibt Alois K. Fischer in seiner detaillierten Darstellung Verschärfung der Brennstoffkrise Rußlands, in: Osteuropa - Wirtschaft, 2/1998, S. 203 ff. 13 Hans-Henning Schröder, Militärische Ressourcen, in: Heinrich Vogel (Hrsg.): Rußland als Partner der europäischen Politik, Bericht des BIOst Nr. 8/ 1996, S. 33. 14 Hans-Henning Schröder, S. 33. 15 Vgl. Gunther Nonnenmacher, Weltmarkt braucht Partner, in: FAZ vom 26 . 11.1997. 16 Vgl. hierzu Meldung in der FAZ vom 29.9. 1997. Vgl. auch Die Welt vom 28.9.1997 sowie Klaus-Julius Frankenberger, Wenn es der strategischen Abrüstung dient, in: FAZ vom 1.10.1997.
26
2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Daß Rußland nach wie vor am Erhalt seiner Atom-Streitkräfte interessiert ist, zeigt die Meldung von der Stationierung einer neuen Interkontinentalrakete (Topoi M) im Gebiet Saratow (Wolga) mit einer Reichweite von mehr als 10.000 Kilometern, die im Westen unter der Bezeichnung SS-X 27 bekannt ist. Sie soll das Rückgrat der russischen Raketenstreitkräfte bilden. 17 Gegen diese Rakete, die nur mit einem Atomsprengkopf ausgestattet ist und daher nicht die bestehenden Abrüstungsabmachungen mit den USA verletzt 1s, gibt es nach Aussagen des russischen Verteidigungsministers weltweit z.Z. keine Abwehr.19 Weniger günstig ist für Rußland die Lage im konventionellen Bereich. Hinsichtlich Ausbildung, Ausrüstung und Struktur werden die konventionellen Streitkräfte ftir nicht geeignet gehalten, Konflikte etwa am Südrand der GUS, bewaffnete Auseinandersetzungen innerhalb Rußlands, Feindseligkeiten in den GUS-Staaten oder lokal begrenzte Konflikte mit den Nachbarstaaten entscheidend beeinflussen zu können. 20 Einen Vergleich der russischen und amerikanischen Streitkräfte zeigt folgende Übersiche 1 Personalstärken der russischen und amerikanischen Streitkräfte im Vergleich
Bevöikerun~ (Mio.) Reguläre Streitkräfte (Mio.) Andere Truppen (Mio.) Organisierte Reserve (Mio.) Reserve I. Ordnung (Mio.) Reguläre Streitkräfte im Verhältnis zur Bevölkerung (%) Alle Streitkräfte im Verhältnis zur Bevölkerung (%) Streitkräfte u. Reserve im Verhältnis zur Bevölkerung (%)
UdSSR/RF 1995 I99I 287,00 148,00 4 ,00 1,90 0,60 1,90
USA 199I I995 253,00 260,00 2,10 1,60
9,00 I ,39
6,00 I ,28
I,20
1,00
0,83
0,62
1,60
2 ,57
0,83
0,62
4,74
6,62
I ,30
I,OO
Quelle: V. Lopatin, Manevry generalov, in: Izvestija, 27.4.1995, S. 4.
Meldung in Die Welt vom 27.12.1997. Hemumn Bohle, Noch Jahre mit Unsicherheiten leben, in: FAZ vom 30. 12.1997. 19 Vgl. Meldung in: Die Welt vom 27.12.1997. 20 Hans-Henning Schröder, S. 34. 2 1 Zitiert nach Bericht Nr. 8/1996 des B!Ost., S. 34. 17
18
A. Die Gegebenheiten des Landes
27
Die Armeereform sieht einen Abbau um insgesamt eine halbe Million Mann auf l ,2 Millionen Soldaten vor. Die russische Armee gilt als unterversorgt und demoralisiert. Wichtige Einheiten seien kaum noch einsatzbereit. 22 Trotz der ungünstigen Entwicklung im Bereich der konventionellen Streitkräfte gewährt die nukleare Komponente Rußland weiterhin den Status einer Weltmacht, die- wenn auch nicht im Verhältnis zu den USA- so doch gegenüber den Staaten der Europäischen Union eine deutliche militärische Überlegenheit bedeutet. Darüberhinaus gibt es in alleljüngster Zeit vier Entwicklungen, die ein Überdenken der Verteidigungspolitik Rußlands mit der Stärkung des eigenen Potentials zur Folge haben könnte: -
Die Ablehnung der Ratifizierung des umfassenden Teststopvertrages (CTBT) durch den amerikanischen Senat,23
-
der Versuch der USA, eine Lockerung des AHM-Vertrages über Raketenabwehr zu erreichen in der Absicht, ein nationales Abwehrsystem zum Schutz gegen mögliche Raketenangriffe von sog. ,,Schurkenstaaten" aufzubauen,
-
die Weigerung der Duma, den START II-Vertrag zu ratifizieren,
-
die Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel zum Ausbau u.a. der konventionellen Streitkräfte im Zusammenhang mit dem zweiten Tschetschenienkrieg.
2 2 Zu Einzelfragen der militärischen Situation Rußlands v gl. auch folgende Artikel: Felix K. Chang, The Unravelling of Russia's Far Estern Power, in: Orbis. A Journal of World Affairs, Vol. 43, No 2, Spring 1999, S. 257 ff. Michael J. Costigan/William C. Mertel, Our Failure to Convert Russia's Arms Industry, in: Orbis. A Journal of World Affairs. Vol. 43, No 3, Summer 1999, S. 461. Rebecca K. Graeves, Russia's Biological Weapons Threat, in: Orbis. A Journal of World Affairs, Vol. 43 , No 3, Summer 1999, S. 479. Sumner Benson, Competing Views on Strategie Arms Reduction, in: Orbis. A Journal of World Affairs, Vol. 42, No 4, Fall 1998, S. 587. Johannes Baur, Russische Außen- und Sicherheitspolitik: Entwicklungen und Tendenzen, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, 3/99, S. 241 ff. Isabelle Facon, L'armee russe, menace ou recours?, in: Politique etrangere, Revue trimestrielle publiee par l'lnstitut fran~ais des relations internationales, 2/99, S. 291 . Moskau will militärisch und im All Großmacht bleiben, Luxemburger Wort vom 21.1.1998. 2 ~ Vgl. hierzu Alexander Keller, Droht jetzt das Ende der nuklearen Rüstungskontrolle?, in: FAZ vom 26.10.1999.
28
2. Teil: Rußland als .,Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
6. Raumfahrttechnik Einer der großen Pluspunkte, die die Sowjetunion im Weltvergleich aufzuweisen hatte, war der hohe Stand ihrer Entwicklung in der Raumfahrttechnik. Wenn auch die technischen und wissenschaftlichen Mittel noch vorhanden sind, so riskiert dieser Bereich wegen fehlender finanzieller Mittel, die die Weiterentwicklung einschränken, in erhebliche Schwierigkeiten zu geraten.24 Die Probleme der Raumstation MIR, die im vergangeneo Jahr immer wieder die Medien beschäftigt hat, haben dies deutlich gezeigt. Der russische Staatspräsident sah sich daher bereits 1997 veranlaßt, in einer Sitzung des Verteidigungsrates auf die Bedeutung von Weltraumforschung und -programmen sowohl für die militärische als auch die wirtschaftliche Rolle Rußlands hinzuweisen und eine bessere Finanzierung der Weltraumforschung anzukündigen. Es fällt der russischen Weltraumforschung in der Tat schwer, nach dem Wegfall großzügiger staatlicher Unterstützung Tritt zu fassen und sich die wirtschaftlichen Mittel durch ein gezieltes Engagement im konventionellen Bereich zu verschaffen.25 Immerhin sind, neben dem Bau der Internationalen Raumstation (JSS), an der neben Amerikanern, Europäern, Japanern und Kanadiern auch die Russen beteiligt sein werden, deren Bau Mitte 1998 begonnen werden und in die das ursprünglich geplante Projekt MIR 2 mit wesentlichen Teilen (etwa 50 %) eingehen sollte26 , noch folgende weitere Projekte geplant, an denen Rußland beteiligt ist und bei denen die russische Raumfahrttechnologie eine nicht unmaßgebliche Rolle spielen dürfte: 27 Geplante Projekte im All
+ International Launch Service: Ein Joint-venture vom Moskauer Pronton-Rake-
ten-Hersteller Chrunitschew mit der US-Firma Lockheed. Insgesamt 21 Iridium-Satelliten sollen auf nur drei Pronton-K-Raketen zum Aufbau eines Motorola-Mobiltelefonnetzes in den Weltraum gebracht werden, im Februar die letzten sieben davon. Kosten je Start: 35 bis 40 Millionen Dollar. Der weltweite Marktfiihrer, die europäische Ariane, verlangt 90 bis 100 Millionen Dollar.
24 Vgl. Mathias Bruggemann, Ohne Dollars stürzt Rußlands Raumfahrt ab, in: WAMS vom 21.9.1997. Walter Schilling, Rußlands Raumfahrt vor großen Problemen, in: Osteuropa - Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, 5/99, S. 500 ff. 25 Vgl. hierzu Mathias Bruggemann/Nikolay Nowitshkow, Swobodnyj - Rußland neuer Weltraumbahnhof, in: FAZ vom 9.4.1997. 26 Rudolf Mergel, Entscheidung über MIR - Glanz und Elend einer Raumstation, in: Luxemburger Wort vom 19.7.1997. 21 Abgedruckt in WAMS vom 21.9.1997.
A. Die Gegebenheiten des Landes
29
Moskau mußte den Preis und die Startmengenbeschränkung akzeptieren, weil die USA sonst ein Veto gegen die Anlieferung von Satelliten nach Rußland eingelegt hätten.
+ Eurokot Launch Services: Die Daimler-Benz-Tochter Dasa plant, gemeinsam
mit Rußland mit Rokot-Raketen (durch das Start-2-Abrüstungsabkommen ausgemusterte ehemalige SS-19-Raketen) der Chrunitschew-Werke im nordrussischen Plesezk Satelliten ab Ende 1998 ins All zu schießen. Bis 2005 sollen 4 5 Starts erfolgen, bei denen jeweils bis zu 1900 Kilo Fracht transportert werden. Die Dresdner Bank hat am 12. September einen 35-Millionen-Dollar-Kredit zur Realisierung des Projekts bewillligt.
+
Sea Launch: Ein 660-Millionen-Dollar-Vorhaben von Boeing (40 Prozent), der norwegischen Kvaemer-Gruppe (20), Energija (25) und der ukrainischen Juschmasch- und Juschnoje-Werke (15 Prozent), das mit ukrainischen ZenitRaketen und russischen DM-SL-Steuerblocks 60 Satelliten von einer schwimmenden Plattform am Äquator ins Weltall bringen soll.
+ Chrunitschew baut fiir 190 Millionen Dollar für Boeing das erste Modul fiir die Internationale Raumstation.
+
Die russische Energomasch baut künftig fiir US-Atlas-11-AR-Raketen die Antriebe.
•
Mit russischen Triebmotoren Typ NK-33 (vor mehr als drei Jahrzehnten entwickelt) sollen wiederverwendbare amerikanische NI-Raketen ins All starten und auf die Erde zurückkehren.
+ Burlak-Diana soll ein wiederverwendbarer Kosmos-Flieger auf Grundlage des
Tu-160-Flugzeugs werden, das mit einer Rakete während des Flugs Satelliten mit 1100 Kilo Gewicht ins All befördern kann. Dafiir soll ein Vertrag mit der OHB-System GmbH in Bremen geschlossen werden.
+ Auf Grundlage der X-22-Rakete (1964 gebaut, nur 5,8 Tonnen schwer) hat das
Konstrukteurbüro Raduga (Regenbogen) ein überschallschnelles Labor fiir 700 Kilo Nutzlast entwickelt. Die Dasa hat bereits vier Starts für je rund vier Millionen Mark gebucht. Das Flugzeug soll in drei Stunden die Erde umkreisen.
•
Im Progress-Raketenwerk in Samara an der Wolga ist eine Sojus-2-Rakete entwickelt worden, die fiir Starts von Plesezk aus geeignet ist.
11. Rußlands Geschichte Die Geschichte Rußlands läßt sich in folgende Perioden aufteilen: 2K
2 ' Die Aufteilung orientiert sich im wesentlichen an der von Andreas Kappeier in seinem Buch ..Russische Geschichte" vorgenommenen Gliederung. (Siehe Andreas Kappe/er, Russische Geschichte, München 1997.)
30
2. Teil: Rußland als .,Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
I. Das Kiewer Reich (10.- 13. Jahrhundert) Rußlands Ursprünge gehen zurück auf das Kiewer Reich, das sich im I 0. Jahrhundert nach Christus an einem wichtigen Handelsweg der Achse Ostsee Dnepr- Schwarzes Meer, dem sogenannten "Weg von den Warägern zu den Griechen" formierte. 29 Die Waräger, am Fernhandel interessierte bewaffuete skandinavische Wikinger, kontrollierten bereits um 820 nach Christus die von der Ostsee zum Schwarzen Meer führenden Wasserstraßen, waren Mitte des 9. Jahrhunderts von den Slawen im Norden vertrieben worden, wurden jedoch nachdem es unter den Slawen zu Streitigkeiten kam, der Nestor-Chronik zufolge von diesen zurückgerufen. Dieser Ruf wurde von drei Brüdern beantwortet, von denen der älteste, Rurik, sich in Nowgorod niederließ. Der Chronik bezeichnet die von Rurik angeftihrten Waräger als Rus und beschreibt die Umgebung von Nowgorod als das ,.Land der Rus". Später wurde die Bezeichnung zu "Russia" latinisiert und auf das ganze Land angewandt. 30 Zwischen der herrschenden Dynastie der Waräger-Rus, der Rjurikiden und den beherrschten ostslawischen Stämmen, setzte schon bald eine Verschmelzung ein. Die Gattin eines der beiden ersten bekannten Fürsten (lgor) trug bereits einen slawischen Namen (Oiga) wie auch die dann folgenden Herrscher (Svjatoslav und Vladimir). Das Kiewer Reich, dessen Gründung in die seihe Epoche wie die Begründung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation (962) fallt, war um die Jahrtausendwende das größte "Reich" im frühmittelalterlichen Europa. 31 Es war wirtschaftlich und politisch stark an Byzanz ausgerichtet, dessen damaliges Herrschaftsgebiet den Raum des heutigen Südosteuropas und der Türkei umfaß.. te. Seine Blütezeit erlebte es im II. Jahrhundert unter Fürst Jagoslaw dem Weisen (1019-1054). Das im Hinblick auf die spätere Geschichte Rußlands bedeutendste Ereignis war jedoch die Übernahme des Christentums durch Wladimir den Heiligen im Jahre 988. Wegen der Bedeutung dieses Ereignisses aber auch wegen der Einzigartigkeit dieses Vorgangs soll wiedergegeben werden, was die Nestor-Chronik (eine im 12. Jahrhundert von Mönchen abgefaßte Chronik über die Entstehungsgeschichte Rußlands) berichtet. Zitiert nach ,,Aufblühende Reiche im Osten", S. 125:32 Kappe/er, S. 16. )o Aufblühende Reiche im Osten, Spektrum der Weltgeschichte I 000-1100 n . Chr., Amsterdam 1989, S. 120. )I Robin Milner-Gulland/Nikolai Dejevsky, Bildatlas der Weltkulturen, Rußland. Augsburg 1997, S. 41. n Zitiert nach: Aufblühende Reiche im Osten., S. 125 f. 29
A. Die Gegebenheiten des Landes
31
"Doch schließlich, rund zehn Jahre nach der Erringung der Macht, traf Wladimir im Jahre 988 eine schicksalsträchtige Entscheidung, durch die er und sein Land in die Gemeinschaft der christlichen Welt aufgenommen wurden. Wenn man dem anschaulichen Bericht der Nestor-Chronik glauben darf, versuchten im Jahre 986 Vertreter verschiedener Glaubensrichtungen, Wladimir zum Übertritt zu bewegen. Von einem östlichen Nachbarvolk, den Wolgabulgaren, kam eine Delegation, die die Vorzüge des Islams pries. In der künftigen Welt, versprachen sie, wird ,Mohammed jedem Mann 70 schöne Frauen geben.' Dies erschien Wladimir sehr verlockend; als seine Gäste anschließend jedoch darauf hinwiesen, daß Wein im Islam nicht erlaubt sei, entließ er sie rasch wieder: Von einem Trinkverbot in seinem Land hielt er offenbar nichts. Von einem anderen benachbarten Volk, den Chasaren, erschien eine Mission, die ihm den Übertritt zum Judentum nahelegte. (Die Oberschicht der Chasaren war im 8. Jahrhundert zum Judentum übergetreten.) Von Wladimir befragt, wo denn die Heimat der Juden läge, erwiderten sie: ,Gott war erzürnt über unsere Vorfahren und verstreute sie ihrer Sünden wegen in alle Welt. Unser Land wurde den Christen ausgeliefert.' Wladimir, der im Glauben eines weit verstreuten Volkes keine Vorzüge erkennen konnte, schickte die Chasaren schnell wieder nach Hause. Kaum besser erging es einer Gruppe deutscher Abgesandter des Papstes. Als sie ihm erklärten, daß ihr Glaube ausgedehnte Fastenzeiten erforderte, erhielten auch sie eine Absage. Die einzige Lehre, die den Großfürsten beeindruckte, war die des einzigen Abgesandten aus Byzanz - eines einigermaßen gelehrten und überaus redegewandten griechischen Philosophen. Nach einer Zusammenfassung des Alten und des Neuen Testaments hielt er eine Ikone mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts hoch, auf der rechts die Gerechten ins Paradies eingingen, während links das Fegefeuer auf die Sünder wartete. Wenn der Großfiirst seinen Platz auf der rechten Seite zwischen den Gerechten einzunehmen wünsche, müsse er sich taufen Jassen, gab er zu bedenken. Noch immer unschlüssig, entsandte Wladimir eine Kommission aus zehn ,guten und weisen' Männern, die sich mit eigenen Augen ein Bild von den Riten der verschiedenen Religionen machen sollten. Die der moslemischen Wolgabulgaren empfanden sie als nicht würdevoll genug, und die der jüdischen Chasaren ignorierten sie vollständig. Sie waren jedoch sehr beeindruckt von dem, was sie in der Hagia Sophia in Konstantinopel gesehen hatten. , Wir wußten nicht, ob wir im Himmel waren oder auf der Erde. Denn auf Erden gibt es keine solche Pracht und keine solche Schönheit, und uns fehlen die Worte, sie zu beschreiben. Wir wußten nur, daß hier Gott unter den Menschen lebt, und ihr Gottesdienst ist herrlicher als die Zeremonien anderer Völker.'"
2. Mongolenherrschaft und Aufttieg Moskaus (I 3. - 15. Jahrhundert) Der Untergang des Kiewer Reiches, das eine lockere Föderation einzelner Länder darstellte, ist in engem Zusammenhang zu sehen mit der Ausbreitung der Mongolen. 1223 besiegte Dschingis-Khan in der Nähe des Asowschen Meeres das Heer der Fürsten der Rus. In der Folgezeit ( 123 7-1240) drangen die mongolischen Heere in das Gebiet der Rus ein, zerstörten die meisten Städte
2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
32
und unterwarfen das Gebiet des Kiewer Reiches. Die Teilfürstentümer Nowgorod und Wladimir, die später zum Kern des rußländischen Reiches werden sollten, kamen für über zwei Jahrhunderte unter mongolisch-tatarische Oberherrschaft.33 Während dieser in der russischen Geschichtswissenschaft als "Tatarenjoch" bezeichneten Zeit setzte ein Kampf der einzelnen Fürstentümer um die Vorherrschaft in der Rus ein, der letztlich von den Moskauer Fürsten, die zum damaligen Zeitpunkt lediglich ein relativ kleines Gebiet beherrschten, gewonnen wurde. Entscheidend hierftir war die Unterstützung durch die orthodoxe Kirche, deren geistiges Oberhaupt- der Metropolit- seinen Sitz im Jahre 1328 nach Mokau verlegt hatte. 34
3. Moskauer Reich (15. - 1 7. Jahrhundert) Eine der wichtigsten Epochen russischer Geschichte - und dies aus mehreren Gründen -liegt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, dem Zeitraum also, der in der Geschichtsschreibung als Ende des Mittelalters und Beginn der Neuzeit und damit der Epoche der europäischen Nationalstaaten dargestellt wird. Drei Ereignisse sind in diesem Zeitraum für die russische Geschichte von besonderer Bedeutung:
(I) Eine Entwicklung, die 1380 mit dem Sieg des Großfürsten Dimitrij über die Mongolen begonnen hatte, findet im Jahre 1480 durch Iwan 111., den Großen, seinen Abschluß. Es gelingt ihm durch ein Bündnis mit dem Rivalen der Goldenen Horde, dem Tatarenkhanat auf der Krim, das Joch der Mongolenherrschaft abzuschütteln. 35 (2) Zwei Jahre vorher, 1478, hatte Iwan 111., Nowgorod erobert und annektiert. Die Eingliederung dieser bedeutenden Handelsstadt mit ihrem riesigen Hinterland machte das Großfürstentum Moskau zum territorial größten Land Europas. (3) Das vielleicht wichtigste Ereignis für das Selbstverständnis Rußlands war jedoch die Eroberung der Stadt Konstantinopel und damit die Zerstörung von Byzanz durch die muslimischen Türken. Auf Rußland, das eine jahrhunderte alte Bindung sowohl politisch, wirtschaftlich, kulturell und vor allem religiös hatte, mußte dieses Ereignis eine einschneidende Wirkung haben. Und diese ließ auch nicht lange auf sich warten: Iwan der Große betrachtete sich als wahren Erben des oströmischen Kaisers. 36 Am Moskauer 33 34 35
Kappe/er, S. 17. Kappe/er, S. 19. Schreiber (Hrsg.), Weltreiche: Rußland, Weinheim, S. 179.
A. Die Gegebenheiten des Landes
33
Hofwurden byzantinische Zeremonien und Sitten eingeführt, und das großfürstliche Wappen zeigte von nun an den aus Byzanz stammenden Doppeladler. 1473 nannte sich Iwan zum erstenmal Großfürst und ,,Zar" , und bald daraufbeanspruchte er auch für sich den byzantinischen Titel ,,Autokrator". Nach Iwans Tod, zu Beginn des 16. Jahrhunderts, schrieb ein russischer Mönch den berühmten Satz, daß zwei Rom (Rom und Konstantinopel) gefallen seien, das dritte aber bestehe. Seit dieser Zeit sprach man von Moskau als dem Dritten Rom. 31 So gestärkt in seinem Selbstverständnis, befreit von der mongolischen Oberherrschaft und vergrößert durch die Annexion großer Landesteile ("Sammeln der Länder der Rus"), dehnte sich Rußland in der Gestalt des Moskauer Reichs in der Folgezeit immer weiter aus. Sieben Jahre nach Nowgorod wurde das Fürstentum Twer (westlich von Moskau) eingegliedert. Unter Vasilij 111. (1505-1533) folgten die Stadt Pskov und das Großflirstentum Rjasan. 1552 eroberte Iwan IV., der Schreckliche, das Khanat von Kasan an der mittleren Wolga, 1556 folgt die Eroberung des Khanats von Astrachan (an der unteren Wolga). Mit der Eroberung dieser beiden Khanate- Staatswesen, die nie zur Rus gehört hatten und die islamisch geprägt waren - wurde der Moskauer Staat ,,zu einem polyethnischen, multireligiösen Imperium, das im Osten die Nachfolge der Goldenen Horde als eurasiatisches Großreich antrat. "38 In der Logik dieser Entwicklung lag die Ende des 16. Jahrhunderts beginnende und wenige Jahrzehnte später abgeschlossene Eroberung Sibiriens.39 Im Westen kamen 1667 Smolensk und die östliche Ukraine mit Kiew hinzu, wobei die Ost-Ukraine mit ihren Bildungsstätten, vor aUem der Kiewer Akademie, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum wichtigsten Kanal westlicher Einflüsse auf das Moskauer Reich wurde.40 4. Rußländisches Imperium oder die Teilnahme am Konzert der europäischen Großmächte (Anfang des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts)
Diese Epoche wird im wesentlichen bestimmt durch die Zaren Peter den Großen, Katharina II. und- durch die Gunst der Stunde - Alexander I. 16
Schreiber (Hrsg.), Weltreiche, S. 170.
n Schreiber, S. 170.
Kappe/er, S. 22. Kappe/er, S. 22. 4 ° Kappe/er, S. 24.
n
19
3 Peter
34
2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
War das Moskauer Reich durch die Persönlichkeit Iwans III. auf die Übernahme des Erbes von Byzanz und damit im wesentlichen aufRußland in seiner Besonderheit selbst ausgerichtet, so brachte Peter der Große den Bruch mit diesem Gedankengut und eine Ausrichtung auf ein neues Ziel, die auch von seinen Nachfolgern mitgetragen wurde: die Ausrichtung auf die westlichen - d.h. zum damaligen Zeitpunkt europäischen - Großmächte. Rein äußerlich wurde dies deutlich durch Maßnahmen wie die Einfuhrung der abendländischen Gulianischen) Jahreszählung anstelle der byzantinischen oder die Gründung St. Petersburgs, das später zur Hauptstadt des Reiches wurde. Peters Lebensziel war es, Rußland in ein den westlichen Großmächten ebenbürtiges Imperium zu verwandeln. 41 Dieses Ziel erreichte er dadurch, daß er im Nordischen Krieg die schwedischen Ostseeprovinzen Estland und Livland eroberte und bestimmenden Einfluß auf Polen-Litauen erlangte: Rußland wurde zur Vormacht in Osteuropa und im Ostseeraum und hatte fortan einen festen Platz unter den europäischen Großmächten.42 Die von ihm angesteuerten Reformen im Inneren des Landes- unter dem Einfluß der europäischen Frühaufklärung und vom Ergebnis her von unterschiedlichem Erfolg gekrönt - betrafen das Militärwesen, die Verwaltung, die Steuern, die Wirtschaft und die Kirche. In seine Fußstapfen trat Katharina li., die Rußland von I 762- I 796 regierte. Ihre Regierungszeit war gekennzeichnet durch das Spannungsfeld zwischen den Ideen des aufgeklärten Absolutismus, zu dem sich Katharina bekannte, und der von Leibeigenschaft und Autokratie geprägten Wirklichkeit Rußlands. 43 Bei ihren Reformvorhaben sind vor allem zwei zu erwähnen, das Bemühen
um größere Effizienz der staatlichen Verwaltung und die Schaffung der Voraus-
setzungen fur ein prosperierendes städtisches Bürgertum.
Außenpolitisch dehnte sie die Herrschaft Rußlands nach einem Krieg gegen das Osmanische Reich auf die fruchtbaren Steppengebiete nördlich des Schwarzen Meeres mit der Krim, und - nach den gemeinsam mit Österreich und Preußen vereinbarten Teilungen -auf den gesamten Ostteil Polens aus. Unter ihrem Enkel Alexander I. (1801-1825), in dessen Herrschaft die napoleanischen Feldzüge fielen, wurde der Herrschaftsbereich Rußlands ein weiteres Mal nach Westen um Finnland, das Königreich Polen und Bessarabien erweitert.
•t •2 H
Kappeler, S. 25. Kappe/er, S. 25. Kappe/er, S. 26.
A. Die Gegebenheiten des Landes
35
Mit den Erweiterungen seit Peter dem Großen hatte sich Rußland eine starke Stellung in der europäischen Politik erworben, die es zum wichtigen Partner in den Beziehungen der europäischen Großmächte werden ließ, eine Stellung, die es während des ganzen 19. Jahrhunderts halten sollte, und die es zeitweilig zum "Gendarm Europas"44 machte.
5. Die Zeit des Übergangs (Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1922) Wie fiir die meisten europäischen Länder so sollte im innenpolitischen Bereich auch fiir Rußland die im 19. Jahrhundert beginnende Industrialisierung und die damit verbundene soziale Problematik zum Hauptthema werden. Obwohl Rußland im Rahmen der Industrialisierung erhebliche Fortschritte machte (Bergbau und Schwerindustrie wiesen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die höchsten Zuwachsraten Europas auf)45 , blieb es auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein Agrarland. Reformen und Industrialisierung vollzogen sich, ohne daß es in der hergebrachten Ordnung zu wesentlichen Veränderungen gekommen wäre. Damit verstärkten sich die schon bestehenden Gegensätze zwischen gebildeter Elite und Unterschichten, Stadt und Land, Autokratie und neuer Öffentlichkeit, imperialem Zentrum und nationalen Peripherien. 46 Diese Bedingungen schufen den Nährboden ftir die erste Revolution im Jahre 1905 (sog. Blutsonntag in St. Petersburg), die das Vorspiel ftir die große Revolution, die Oktoberrevolution ( 1917), sein sollte. Rußland, geschwächt durch die Niederlage im Japanisch-Russischen Krieg (1905) und seine schweren Niederlagen im Ersten Weltkrieg, erlitt neben der sozialen auch eine politische Krise. Die Regierung sah sich 1917 einer straff organisierten Partei von Berufsrevolutionären unter Leitung von Lenin gegenüber, die sich zum Ziel gesetzt hatte, im Agrarland Rußland eine sozialistische Revolution durchzufiihren, die die Initialzündung für die Weltrevolution sein sollte.47
44
Kappe/er, S. 27.
45
Kappe/er, S. 30.
Kappe/er, S. 30. Von Lenin in seiner Imperialismustheorie damit begründet, daß von Rußland als dem schwächsten Glied in der Kette der kapitalistischen Staaten die Initialzündung hierzu ausgehen könnte (vgl. Kappe/er, S. 34). 46 47
3*
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2. Teil: Rußland als ,.Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Seine von ihm geleitete Partei der Bolschewiken erlangte im Herbst 1917 erstmals größeren Anklang und riß in einem von Trotzkij geleiteten militärischen Coup (25.10. 1917) die Macht an sich. In dem darauffolgenden Bürgerkrieg behielten die Bolschewiken dank ihrer ideologischen Geschlossenheit, der Kampfkraft der von Trotzkij organisierten Roten Armee und dem Terror der Ceka48 , der neuen politischen Partei, die Oberhand. 6. Rußland in der Gestalt der Sowjetunion als eine der (beiden)fohrenden Weltmächte (1922-1991)
Die 1922 von Lenin gegründete Sowjetunion, deren neue Hauptstadt wiederum Moskau werden sollte, war formal eine Föderation, benannt nach den basisdemokratischen Räten, in Wirklichkeit aber ausschließlich von der kommunistischen Partei gelenkt, die zunächst aus vier, 1936 aus elf und nach dem Zweiten Weltkrieg aus 15 Unionsrepubliken bestand. Die in der Sowjetunion unter Stalin eingeleitete forcierte Industrialisierung erlangte quantitativ erhebliche Erfolge (die Sowjetunion überholte im Volumen der Produktion die westeuropäischen Industriestaaten und belegte am Ende der dreißiger Jahre hinter den USA den zweiten Platz49). Begleitet war dieser wirtschaftliche Erfolg von einem von Stalin bewußt als politisches Mittel eingesetzten Massenterror, dem in der Zeit der "Großen Säuberungen" der dreißiger Jahre die alte Garde der Bolschewiki und anderer Parteien, die Spitzen der Armee, Bürokratie und politischen Polizei, die gesamte Elite der nichtrussischen Nationen und zahlreiche Vertreter der russischen geistigen Elite zum Opfer fielen. 50 Außenpolitisch brachte der Zweite Weltkrieg - der Große Vaterländische Krieg - mit dem mit maßgeblicher Hilfe der Roten Armee und unter großen Opfern errungenen Sieg über Deutschland Rußland im Gewand der Sowjetunion die größte Ausdehnung seiner Geschichte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion nicht nur um ihre Territorialgewinne von 1939/40, sondern auch um einen Teil Ostpreußens, die Karpaten-Ukraine und TannoTuva gewachsen, sondern hatte die absolute Vorherrschaft über Osteuropa, weite Teile Südosteuropas und das östliche Deutschland gewonnen, die in der Folgezeit sowjetisiert und politisch (Kommunistische Parteien), wirtschaftlich
Kappe/er, S. 35. Kappe/er, S. 38. 5° Kappe/er, S. 39.
48 49
A. Die Gegebenheiten des Landes
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(COMECON) und militärisch (Warschauer Pakt) fest in das sowjetische System eingebunden wurden. Dies sowie die kommunistische Revolution in China und die starken kommunistischen Parteien in mehreren westlichen Ländern Europas machten die Sowjetunion zur zweiten Weltmacht und zum Herrn über fast die Hälfte der Erde, eine Position, die in den kommenden Jahren durch eine zunehmende Einflußnahme in den Ländern der Dritten Welt noch verstärkt wurde. Aus einer regionalen Großmacht in Europa (Iwan der Große), über eine europäische Großmacht (Peter der Große) war eine Weltmacht geworden, bei der der BegriffEuropa keine Rolle mehr spielte. Die Sowjetunion wurde - nicht zuletzt auch wegen der Schwäche der westeuropäischen Staaten, die entweder durch den Krieg zerstört waren (Deutschland) oder in der Folgezeit schon bald ihre imperiale Macht verlieren sollten (Entkolonialisierung: Frankreich und England) - in vielen Teilen Europas aber auch in der ganzen westlichen Welt als eine ernste Bedrohung angesehen, ein Erbe, mit dem sich auch die heutige Rußländische Föderation noch auseinanderzusetzen hat. Die durch diese Bedrohung begründete Sorge der Westeuropäer war neben der traumatischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs eine der Hauptgründe für die schon bald nach Ende des Krieges beginnenden Einigungsbekundungen des Kontinents. Als wie bedeutend die sowjetische Gefahr angesehen worden sein mußte, zeigt sich in dem offenbar bestehenden Zusammenhang zwischen sowjetischem aggressiven Verhalten einerseits und den Fortschritten der europäischen Integrationsbemühungen andererseits. Zur Illustrierung sollen hierfiir erwähnt werden: a) - Einftihrung kommunistischer Diktaturen in mehreren osteuropäischen Ländern von 1945-1948 und - Gründung des Europarats 1949 b) - Sieg der Kommunisten in China ( 1949), Beginn des Koreakrieges ( 1950) und - Schaffung der Gemeinschaft ftir Kohle und Stahl ( 1951) c) - Niederschlagung des Aufstandes in Ostdeutschland am 17.6.1953 und - Überlegungen zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ( 1950-54) d) - Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn ( 1956) und - Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom (1957)
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
e)- Niederschlagung des Prager Frühlings (1968) und - EJWeiterung der Europäischen Gemeinschaft um Großbritannien, Irland und Dänemark ( 1972) sowie Beginn der Europäischen Politischen Zusammenarbeit
t) - Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan ( 1979) und - EJWeiterung der Europäischen Gemeinschaft um Griechenland ( 1982), Spanien und Portugal ( 1986). Die von Gorbatschow gegen Ende der sowjetischen Ära eingeleitete Politik der Perestroijka, der Glasnost und der Überlegungen zum gemeinsamen Haus Europa mußten deshalb zwangsläufig zu Beginn auf Unverständnis und Skepsis stoßen.
7. Die Rußländische Föderation (ab 1991) Mit der Auflösung der Sowjetunion ist Rußland territorial in die Größenordnung des Moskauer Reiches (16. Jhdt.) zurückgefallen. Außenpolitisch stellt es zwar keine Weltmacht im Sinne der früheren Sowjetunion dar, ist jedoch weiterhin eine der Großmächte und ist dabei, sich in dieserneuen Situation zu orientieren und eine entsprechende Politik zu entwickeln. Innenpolitisch ist das Bemühen erkennbar, sich am europäischen und atlantischen Westen (Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Respektierung der Menschenrechte) auszurichten. Der Übergang ist schmerzlich, Erfolge wollen sich nur mühsam einstellen. Welches Rußland im Endergebnis entstehen wird, ist nicht zuletzt davon abhängig, von welchen geistigen Kräften der neue Aufbruch getragen sein wird. 111. Rußlands Verhältnis zu Europa in seiner Geschichte und seiner Philosophie /.Allgemeine Überlegungen Die russische Geschichte kann man grob in vier große Epochen aufteilen, wobei jede Epoche sich in einer geschichtlichen Form und einem mit dieser Form verbundenen Programm darstellen ließe:
A. Die Gegebenheiten des Landes
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-
Das Kiewer Reich mit dem Hl. Wladimir und der Ausrichtung an Byzanz und dem Christentum in seiner orthodoxen Form.
-
Das Moskowiter Reich mit Iwan dem Großen und seiner Orientierung auf Rußlands eigene Rolle aus seinen eigenen Gegebenheiten: Slawenturn und russisch-orthodoxer Glaube.
-
Das Petrioische Rußland mit Peter dem Großen und seiner Ausrichtung auf den Westen, d.h. Europa und die Sowjetunion, mit der sie aus westlicher Sicht prägenden Figur Stalins, mit dessen Namen sich die bewußte Einsetzung von Terror im Ionern und rücksichtsloses Vorgehen nach Außen verbindet.
Die genannten vier Epochen müssen bei der Suche nach der eigenen Identität Rußlands zwangsläufig eine herausragende Rolle spielen. Dabei ist es nur natürlich, daß die im 19. Jahrhundert- also in der Zeit vor der Sowjetunion - angestellten Überlegungen der russischen Intelligenz in den Blickpunkt rücken. Diese Überlegungen mußten nach den Epochen Iwans des Großen und Peters des Großen mit ihren entgegengesetzten Ausrichtungen sowie wegen der Rolle, die Rußland im 18. und 19. Jahrhundert im Konzert der europäischen Großmächte spielte, an der Frage der Beziehung Rußlands zu Europa orientiert sein. Aus der Sicht westlicher Beobachter bewegt diese Frage heute mehr als je zuvor das Denken der russischen Intelligenz51, ein Vorgang, der nur allzu natürlich ist angesichts der Tatsache, daß Rußland am Beginn einer neuen Epoche
ll Unter den zahlreichen in den letzten Jahren erschienenen Aufsätzen, die dieses Thema berühren, seien nur einige als Beispiele erwähnt: Michael Brie, Rußland W1d Europa, Gespaltene Zivilisationen, verschiedene Weltreligionen und ihr Verhältnis, Berliner Debatte 2/1994, S. 39 ff. Wladislaw Hadeler, Russische Philosophie in der Programmatik russischer Parteien, Berliner Debatte 3/1994, S. 41 ff. Hans Hermann Nolte, Wohin mit Osteuropa? Überlegungen zur Neuordnung des Kontinents, in: APuZ, Vol 45, Bd. 39, 1995, S. 3-11. A.S. Panarin, Geopolitische Erklärungsmuster - eine Herausforderung für das Neue Denken, in: Brigille Heuer/Milan Pruska (Hrsg.): Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, 3. Bd. von: Gesellschaft und Staaten im Epochenwandel, Frankfurt am Main 1995, S. 143161. Christiane Uhlig, Die unendliche Suche Rußlands nach seiner historischen Bestimmung, in: Osteuropa, Vol. 45, 1995, S. 812-816, 38, 2464. Walerij Afanasjew, Europa aus der Sicht Dostojewskis, in: Die Kontinent-Werdung Europas, Festschrift für Helmut Wagner, hrsg. von Heiner Timmermann, Berlin, 1995. Walerij Afanasjew, Natürliche, geschichtliche und politische Besonderheiten Rußlands und sein Verhältnis zu Europa, unveröffentlicher Aufsatz. Walerij Afanasjew, Wladimir SoIowjew über die nationale Frage, unveröffentlichter Aufsatz.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
steht, wobei fast alle Fragen offen zu sein scheinen52 und diese offenen Fragen aber von nicht zu verleugnender Bedeutung sind sowohl für Rußland selbst als auch für Europa und sehr wahrscheinlich auch ftir die weltpolitischen Entwicklungen der Zukunft überhaupt.
2. "Rußland und Europa" in der russischen Philosophie Um aus Ortinden der Übersichtlichkeit eine gewisse Linie in die Darstellung der philosophischen Auseinandersetzung über das Verhältnis Rußland-Europa innerhalb Rußlands zu bringen, wird sich der Verfasser im folgenden an der 1995 erschienenen 2. Auflage der umfangreichen Darstellung von Wilhelm Goerdt zur russischen Philosophie orientieren.53 Im zweiten ,,Rußland und Europa" benannten Kapitel des zweiten Teils seines Buches schreibt Goerdt zur Bedeutung des Themas "Rußland und Europa"/"Rußland und der Westen" ftir die russische Philosophie: 54 "Daß es (gemeint ist das Thema ,Rußland und Europa'/,Rußland und der Westen'; der Verfasser) ftir die aufblühende russische Philosophie in einem bestimmten Moment, nämlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bedeutsam wird, liegt nicht zuletzt daran, daß seit der Französischen Revolution und im Verlauf der napoleonischen Kriege sowie mit der Etablierung einer neuen Ordnung nach dem Wiener Kongreß nicht nur die politischen Beziehungen der großen Staaten sehr fest geworden waren, sondern - weit mehr als vorher - mannigfache kulturelle, geistige, wissenschaftliche Bande - auch durch persönliche Kontakte - geknüpft wurden. Man nahm auf jeden Fall interessiert voneinander Kenntnis und war dementsprechend in der Lage, Vergleiche anzustellen. - Dazu kommt als , Vorlauf- nicht weniger wichtig-, daß die Auseinandersetzung der traditionellen russischen Lebensweise mit der europäischen oder westlichen Welt im großen Rahmen seit Peter dem Großen - also grob seit dem Ende des 17. Jahrhunderts - selbst schon auf russischem Boden ausgetragen wurde. Seitdem er das , Fenster nach Europa' aufgestoßen hatte, war europäische Kultur und Bildung in vieler Hinsicht ein Lebenselement des Adels vor allem, aber auch eines Teils der Geistlichkeit geworden, die beide somit als auch noch und oft sehr stark an russische Kultur gebunden den Zwiespalt, die Entzweiung von Rußland und Europa in sich selbst lebhaft empfinden mußten und sehr bald darüber zu reflektieren gezwungen waren." 52 Beim 9. Sinclair-Haus-Gespräch der Herbert-Quandt-Stiftung in Bad Hornburg zitierte der Gesprächsleiter einen namentlich nicht genannten Russen mit den Worten: Wir wissen nicht, wohin wir gehen, aber wir gehen den Weg bis zum Ende. Werner Adam, Wenn Grashalme durch den Asphalt stoßen: Auf die Frage nach der Zukunft Rußlands gibt es viele Antworten, in: FAZ vom 8.12.1997. 53 Wilhelm Goerdt, Russische Philosophie, Grundlagen, 2. Aufl., Freiburg, München 1984, I 995. 54 Wilhelm Goerdt, S. 262.
A. Die Gegebenheiten des Landes
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Die Auseinandersetzung über das Verhältnis Europa-Rußland führten in der russischen Philosophie zu der Herausbildung einer Alternative, die sich nach Goerdt55 in den beiden folgenden Fragen widerspiegelt: "Rußland und Europa?" und -
"Rußland oder Europa?" Nach Goerdt kann man an drei mögliche Lösungen der Frage denken: 56 "I) Daß Rußland und Europa (der Westen), einander ergänzend und gemeinsam die Möglichkeiten allmenschlicher Entwicklung ausschöpfend, die weltgeschichtliche Zukunft bestimmen sollten; 2) daß Europa aufgrund seiner der Bestimmung des Menschen allmählich sich nähemden Geschichte und Gegenwart allein das Modell fiir die Gestaltung der Zukunft biete - und 3) daß umgekehrt Rußland mit seiner traditionellen Kultur und Lebensweise den gültigen Maßstab humaner Geschichte liefere."
Die Auseinandersetzung um den politischen Weg Rußlands, der vor dem Hintergrund der drei von Goerdt genannten Lösungen oder auch Ziele gesehen werden konnte, fiihrte zu einer Herausbildungzweier Lager, der sog. "Slawophilen" und der sog. "Westler", wobei die Überlegungen durchaus fließend sein können, ja die Kontrahenten von Gegnern oder Freunden oft in unterschiedliche Lager eingeteilt werden. Mit dem Slawophilenturn wurde nach Darstellung des Historikers P. Miljukow verbunden: -
nationalistischer Protest gegen die Entlehnung vom Westen, geschichtsphilosophische Theorie nationalen "Selbstandes" und
-
panslawistische Theorien.
Das Westlerturn andererseits wurde um den Philosophen Solowjew57 definiert als "Richtung unseres gesellschaftlichen Denkens und der Literatur, welche die geistige Solidarität Rußlands und Westeuropas als untrennbare Teile eines kulturhistorischen Ganzen anerkennt, das in sich die ganze Menschheit zu integrieren (vkljucit') vermag." Goerdt fiihrt flir die Auseinandersetzung zwischen Slawophilen und Westlern stellvertretend drei Philosophen an, die allesamt eine bedeutende Rolle in der erwähnten Auseinandersetzung spielten und die in ihren Überlegungen jeweils einen der drei von Goerdt aufgeführten Lösungsansätze vertraten.
ss WilhelmGoerdt, S. 264. 56 Zitiert nach Goerdt, S. 266. s1 Zitiert nach Goerdt, S. 268.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Stellvertretend ftir den ersten Weg (oder die erste Lösung) nennt Goerdt58 J. Kin!jewski. "Dieser hat in seinem Essay von 1852 , Über den Charakter der Aufklärung Europas und ihr Verhältnis zur Aufklärung Rußlands' die Differenz der geistigen Struktur Rußlands und Europas auf eine glatte Formel gebracht: Entzweiung und Verständigkeit sind die Merkmale Europas, Ganzheit und Vernünftigkeit die Kennzeichen Rußlands."
Kirejewski sieht die Stärke Rußlands in der "mystischen Erfahrung", die Stärke Europas in der "welthaften Ratio". Die "allmenschliche Notwendigkeit" erfordere die dialektische Durchdringung dieser beiden Elemente. Goerdt fuhrt hierzu weiter aus: 59 "Die vorwiegend zweckrational-technische Kultur Europas und die vorwiegend ganzheitlich-mystische Kultur Rußlands sind am Ort der Konvergenz: , ... die neuen Forderungen des Europäischen Geistes und unsere ursprünglichen Überzeugungen haben einen Sinn.' Das Problem des menschlichen Geistes wird weltgeschichtlich: ,Das lebendige Prinzip unserer Aufklärung' als ,wahres' . .. ,soll jetzt als notwendige Ergänzung der Europäischen Kultur dienen, . .. sie vom Charakter ausschließlicher Rationalität reinigen und mit neuem Sinn durchdringen; während die Europäische Kultur - als reife Frucht allmenschlicher Entwicklung, die vom alten Baum gerissen ist - als Nahrung fur ein neues Leben dienen soll, als neuer Anreiz zur Entwicklung unserer geistigen Aktivität."'
Goerdt60 sieht in der Theorie der Versöhnung von Mystik und Ratio, wie sie seiner Meinung nach von Kirejewski im Ansatz entwickelt worden ist, eine weltgeschichtliche Aufgabe. Für den zweiten Weg (bzw. die zweite Lösung) ftihrt Goerdt P.J. Tschaadajew, den christlichen Philosophen aus Moskau an. Nach Tschaadajew sind die Russen sich selbst fremd, verkommen, weil es ihnen nicht gelingt, ein Mittel zur eigenen Vergangenheit und Zukunft zu finden. Diese Lage der Entfremdung von Vernunft und Geschichte ist nach Goerdt61 ftir Tschaadajew folgendes: "Das Ergebnis russischen Schicksals, einer Ungeschichte, die - abgesehen einmal von der Mittellage Rußlands zwischen Orient und Okzident, die es wie zwischen zwei Stühle setzte -ihren verhängnisvollen Lauf (destinee fatale) nahm, als , wir in dem elenden Byzanz ... den Moralkodex suchen gingen, der uns erziehen sollte', zu einer Zeit, als in der Auseinandersetzung der nordischen Völker mit dem Christentum das ,Gebäude der modernen Kultur' errichtet wurde, und nachdem im 9. Jahrhundert der Patriarch Photius, dieser ,ehrgeizige Geist' (esprit ambitieux), die Byzantiner ,aus der universellen Bruderschaft herausgerissen hatte' (avait enleve cette famille a Ia fratemite universelle). Dies bedeutet,
Goerdt, Goerdt, 60 Goerdt, 61 Goerdt, 58 59
S. S. S. S.
291.
303. 303. 290.
A. Die Gegebenheiten des Landes
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daß Rußland eine, durch menschliche Leidenschaft entstellte Idee' (l'idee ... defiguree par Ia passion humaine) empfing, deren Entwicklung und Festigung Rußland aus der Geschichte der Vernunft heraussetzte: ,Verbannt in unser Schisma, erreichte uns nichts von dem, was sich in Europa vollzog. Wir hatten nichts zu tun mit dem großen Weltprozeß' (Ia grande affaire du monde). Die Folge ist ,die erstaunliche Einsamkeit' (solitude etonnante) der sozialen Existenz Rußlands. So steht Rußland für Tschaadajew in der Tat außerhalb der Ordnung der Vernunft, es fehlt in ihr. ,Einsam in der Welt (solitaires dans le monde) haben wir der Welt nichts gegeben und nichts von der Welt genommen."'
Diese Situation macht es nach Tschaadajew nötig, aus der Entfremdung und geschichtslosen Isolation herauszutreten, und sich in die wahre Geschichte der . . 62 V ernunft zu mtegneren. Für den dritten Weg, nach dem Rußland mit seiner traditionellen Kultur und Lebensweise den gültigen Maßstab humaner Geschichte liefere, fuhrt Goerdt K.S. Axakow an. 63 Die slawophile Grundidee bei Axakow enthält im wesentlichen eine Kritik der Modeme: 64 "Der moderne, sinnlich-rationale Mensch, dessen große neuzeitliche Schöpfung die empirisch-rationalistische Philosophie (eingeschlossen die deutsche klassische Philosophie) und der moderne zweckrationale Staat sind, findet sich in ichnen nicht wieder: In der absolut gesetzten negativ-logischen Ratio (Joch der Logik) ist keine •Vernunft' mehr, im Mechanismus des Staates für sich (Joch des Staates) ist die Freiheit verloren. Demgegenüber wollen die Slawophilen die Wiederherstellung der in der Moderne zerrissenen Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, von Negativität und Positivität, von Rationalität und Spiritualität auf allen Ebenen des Daseins, fiir Europa und das gespaltene Rußland, schließlich flir die Menschheit."
Nach Axakow sind " .. .die westlichen Völker im Glauben an die Möglichkeit gouvernementaler Vollkommenheit und der daraus folgenden Realisierungsversuche "arm an Seele" geworden. Die , fehlerhafte Tendenz', Gewissen und sittliche Freiheit, ja den Glauben selbst durch Gesetze und politische Rechte zu ersetzen, habe ,die Seele des Menschen verwüstet. "'
Danach ergibt sich ftir Axakow, daß die Slawophilen gehen wollen65 , " ... ,aber nicht einfach vorwärts, sondern vorwärts zur Wahrheit', daß ,sie denken, daß wahr jener Weg ist, den Rußland früher gegangen ist.. ., daß man nicht zum Zustand des alten Rußland zurückkehren darf (das würde Versteinerung, Stillstand bedeuten), sondern auf den Weg des alten Rußland (das bedeutet Bewegung).'" 62 63 64
65
Goerdt, Goerdt, Goerdt, Goerdt,
S. S. S. S.
290. 304. 310. 311.
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2. Teil: Rußland als ..Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Diese von Goerdt aufgezeigten drei Wege machen deutlich, welche Bedeutung das Ringen um die russische Selbsttindung im 19. Jahrhundert gespielt hat. Vielleicht hängt es, wie Walerij Afanasjew unter Berufung auf Oswald Spengler meint, mit dem Doppelcharakter, dem dualistischen Charakter Rußlands zusammen, zugleich zu Europa zu gehören und ihm fremd zu sein. 66 Eine Gefühlslage, die dazu drängen muß, eine Lösung zu finden. Zitieren wir hierzu erneut Walerij Afanasjew, der mit einem Hinweis auf eine Äußerung Dostojewskis in seiner beruhroten Puschkin-Rede das Dilemma und seine mögliche Lösung deutlich macht. 67 .,Seine Einstellung zu Europa kommt darin zum Ausdruck, daß er (Dostojewski) sich in seiner Puschkin-Rede nicht auf die Seite der Slawophilen geschlagen hat. Er sagte: ,Oh, unsere ganze Spaltung in Slawophile und Westler ist ja nichts anderes als ein einziges großes Mißverständnis, wenn auch ein historisch notwendiges.' Notwendig, solange es darum ging, die Eigenart des russischen Volkes hervorzuheben, seine Eigenständigkeil zu betonen, es nicht als eine Kopie des ,Westens', der fiir viele Osteuropäer dazumal mit der ,civilisation franc;aise' identisch war, zu begreifen. Diesen Eindruck nicht aufkommen zu Jassen und, soweit er Gemeingut geworden war, zu bekämpfen, hat Dostojewski alles getan, was in seiner Macht stand. Aber wenn der Eigenwert Rußlands anerkannt wurde, wenn die Selbstachtung der Russen gefestigt war, dann gab es fur ihn keinen Grund, den Gegensatz zu Europa zu vertiefen, dann plädierte er dafur, das Gemeinsame der europäischen Nationen anzuerkennen und ihre Vielfalt als Reichtum zu erachten."
Aus dieser Interpretation heraus wird auch das Bemühen des bereits zitierten, in dieser Auseinandersetzung eine bedeutende Rolle spielenden Philosophen Solowjew deutlich, das russische Ideal der Nation - in Abgrenzung zu den Idealen anderer europäischer Nationen - zu formulieren. Nach Solowjew besteht die Aufgabe Rußlands vor allem darin, die religiöse Versöhnung des Ostens mit dem Westen zu betreiben, denn diese- so schreibt er68 " ... stimmt völlig mit den besten Eigenschaften des russischen Volkes überein und entspricht völlig dem russischen Ideal der Nation, der russischen nationalen Gerechtigkeit. Denn worin besteht dieses besondere russische Ideal der Nation, auf das auch Sie sich berufen. Was hält das russische Volk fiir das Allerbeste, was begehrt es am meisten fiir sich, fiir Rußland? Er will nicht, daß Rußland das mächtigste Land auf der Welt sei; das ist nicht sein erster und höchster Wunsch- in dieser Beziehung haben uns andere Völker weit überflügelt; Weltmacht zu sein ist auf keinen Fall ein eigentümliches russisches Ideal. Unser Volk 66 Walerij Afanasjew, Natürliche, geschichtliche und politische Besonderheiten Rußlands und sein Verhältnis zu Europa, unveröffentlichter Aufsatz, 1997. 67 Walerij Afanasjew, Europa aus der Sicht Dostojewskis, in: Die Kontinentwerdung Europas, S. 60. 68 Zitiert nach Walerij Afanasjew, Wladimir Solowjew über die nationale Frage, unveröffentlichter Aufsatz, 1997. Afanasjew zitiert aus dem Aufsatz: Die Liebe zum Volk und das russische Ideal der Nation.
A. Die Gegebenheiten des Landes
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wünscht auch nicht vornehmlich, daß Rußland das reichste Land der Welt sei: Das wünschen bei weitem mehr als wir die Engländer; sie beweisen das auch durch die Tat. Aber unser Volk läßt sich auch nicht von dem maßlosen Wunsch nach lautem Ruhm hinreißen, von dem Wunsch, daß Rußland in der Welt glänze und sein Name erschalle, daß es die angesehenste und glanzvollste Nation sei, wie zum Beispiel die Franzosen es wünschen; das Ideal der nationalen Eitelkeit ist jedenfalls bei weitem mehr ein französisches als ein russisches Ideal der Nation. Wünscht unser Volk schließlich vor allem, im menschlichen Leben rechtschaffen, vernünftig und ordentlich zu sein? Das ist gewiß besser als Macht, Reichtum, Ruhm und eigene Sitten und Gebräuche, aber Sie werden zugeben, daß das Ideal des rechtschaffenen und vernünftigen Dasein eher ein deutsches als ein russisches Ideal ist."
3. Die aktuelle Diskussion um den russischen ("dritten") Weg Wie bereits zu Beginn bemerkt, hat die Diskussion um einen eigenen russischen Weg an Aktualität erneut gewonnen. Der Vorgang an sich ist nicht außergewöhnlich, steht doch Rußland vor einer neuen Epoche, zu der die letzte Orientierung offenbar noch nicht gefunden ist. Die Gründe für die Heftigkeit dieser Diskussion sieht Christiane Uhlig69 in folgenden Umständen: " .. . Hin- und hergerissen zwischen einer aus den Fugen geratenen russischen Realität und dem Anspruch auf moralische Integrität und nationale Größe werden Rettungsversuche unternommen, die einerseits darauf abzielen, die Verantwortung tlir diese Entwicklung fremden Mächten, im konkreten Fall dem Westen mit seiner Marktwirtschaft und seinem Marxismus, zuzuschreiben, und andererseits die Wiederentdeckung und Bewahrung der russischen Originalität zu propagieren, dies allerdings auf einer metaphysischen Ebene ohne konkrete Perspektive der Umsetzung. Dieses starre Festhalten an einer nationalen Spezifik in Form einer expliziten Überhöhung des russischen Volkes und der spezifisch russischen Geistesgeschichte in bewußter Opposition zum sogenannten westlichen Denken ist als eine stark kompensatorische Funktion fiir eine angenommene nationale Demütigung zu deuten, der sich viele Russen durch die jüngsten Entwicklungen ausgesetzt sehen."
Man muß der russischen Intelligenz allerdings zugute halten, daß diese Auseinandersetzung wesentlich moderater zu verlaufen scheint, als man nach diesen Äußerungen vermuten könnte. Daß allerdings gewisse Präferenzen bestehen, zeigt der Verlauf der Diskussion des Deutsch-Russischen Forums, das im Sep-
h9 Christiane Uhlig, in: Osteuropa, Vol 45, 38/2464, 1995, S. 815. Zur Frage der russischen Identitätssuche vgl. auch Boris Orlov, Rußland auf der Suche nach einer neuen Identität, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, 5/99, S. 470 f.
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tember 1997 in Bonn veranstaltet wurde und das zum Thema hatte: 70 "Rußland auf dem Dritten Weg?- Auf der Suche nach nationaler Identität." Joseph Riedmüller schrieb dazu in der Süddeutschen Zeitung vom 13./ 14. September 1997: .,Selbst die Erweiterung und Vermehrung der Begriffe - ,russischer Weg·, ,russische Idee' , ,patriotischer Konsens'- machten es schwierig, einem Phänomen auf die Spur zu kommen, das seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bekannt ist als bitterer Streit zwischen den , Slawophilen· und den , Sapadniki ·, den Westlern. Und derzeit geistert es als Ausdruck tiefster Unzufriedenheit der Russen mit Machtverlust und Wirtschaftsmisere nach dem Zusammenbruch der UdSSR durch den Raum. Als Experten in dieser heilden Materie erwiesen sich naturgemäß die russischen Teilnehmer, und bald diskutierten und stritten sie sich unter sich. Um es vorwegzunehmen: Die Fraktion derer, die einen besonderen Auftrag der Russen in Geschichte und Gegenwart behauptete, quasi einem russischen Messianismus das Wort redete, war entschieden in der Minderheit." Zitiert- aus demselben Zeitungsartikel - seien hier nur zwei (unterschiedliche) Stimmen: Zunächst Sergej Baburin, Vize-Vorsitzender der Staatsduma und dem links-patriotischen Parteienspektrum zuzurechnen: ..Es gebe kein Zurück zu der alten Ordnung, sagte Baburin. Doch was an ihrer Stelle entstanden sei, sei ,mit der historischen Mission Rußlands unvereinbar·. Die pseudo-westlichen Reformen müßten durch· einen ,russischen Weg' des Wirtschaftens ersetzt werden, der russischen Bedürfnissen entspreche: Regulierungsfunktion flir den Staat, Umverteilung der materiellen Güter. Doch Baburins ,Reform der Reform' sieht noch ganz anderes vor: Wiedergewinnung der verlorenen Weltmacht-Position, Re-Integration des zerfallenen Reiches auf den Umfang der Sowjetunion (einschließlich der baltischen Staaten, was er später allerdings wieder abschwächte) und die Zurückweisung westlicher Kultur." Sodann Jurij Afanasjew, Rektor der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften: .,Jurij Afanasjew widersprach Baburin heftig, wie er überhaupt einen kritischen Maßstab an die Geschichte Rußlands anlegte, die er bestimmt sieht von Methoden staatlicher Gewaltanwendung. Diese wiederum seien übernommen worden von der mongolisch-tatarischen Herrschaft. Von Rußland gehe. daher auch eine reale Gefahr aus, sagte Afanasjew, weil es gewohnt sei, seine Ziele mit Gewalt zu verfolgen. Die Ost-Erweiterung der NATO sei daher begründet durch die Haltung Rußlands .... Der ,russische Weg', so argumentiert Afanasjew, sei ein Überbleibsel der OstWest-Konfrontation. Das verhindere allerdings nicht, daß 20 Prozent der russischen Wähler fiir derartige Parolen empfanglieh seien. Wenn unter diesem Begriff eine Eigenart verstanden werde, wie sie jedes Volk habe, sei er damit einver-
Joseph Riedmüller, Von der Misere zur Mission - Rußlands dritter Weg unter neuem Vorzeichen: Der alte Staat zwischen einer strikten Ausrichtung nach Westen und der slawophilen Idee, Süddeutsche Zeitung vom 13./14. September 1997. 70
B. Die Interessenlage des Landes
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standen. Nicht zustimmen aber könne er der Vorstellung einer Einmaligkeit Rußlands. Afanasjew warnte zudem vor der Polarisierung der Gesellschaft, die zum Ausbruch von Unzufriedenheit führen könne." Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch die Äußerung von Dimitri Lichatschow, dem großen alten Mann der russischen Mediävistik und Geistesgeschichte, zeitweilig Berater von Präsident Jelzin, der die Versuche diverser Politiker, die Ideologie der "Russischen Idee" wiederzubeleben, die Rußland eine Sondennission in der Welt zuschreibt, für eine verhängnisvolle Wiederholung alter Irrtümer hält, die für die heutigen Probleme verantwortlich seien. 71
4. Fazit Aus dem Gesagten ergibt sich, daß Rußland seinen Weg immer noch nicht gefunden hat. Von dem Ergebnis dieses Bemühens wird es letztlich abhängen, ob Rußland - unabhängig von der tagespolitischen Opportunität - seinen Platz an der Seite oder in Gegnerschaft zu Europasehen wird.72
B. Die Interessenlage des Landes I. Vorbemerkung In diesem Kapitel soll versucht werden, das Wesen Rußlands zu ergründen, um so herauszufinden, von welchen Überlegungen das Land bei seinen Entscheidungen- nicht zuletzt im Hinblick aufEuropa- sich leiten lassen könnte. Als Kriterien werden hierfür - vielleicht in teilweise tiefenpsychologischer Manier- die Elemente herangezogen, die auch nonnalerweise das Handeln eines Menschen bestimmen.
71 Kerstin Holm. Rußland im Wiederholungszwang. Der Weise züchtet Blumen: ein Gespräch mit dem Petersburger Gelehrten Dimitri Lichatschow, in: FAZ vom 28.11.1997. 72 Siehe auch Boris Orlov, Rußland auf der Suche nach einer neuen Identität, in : Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, 5/99, S. 470 f.
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2. Teil: Rußland als ,.Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Dies sind Lebenserfahrung, soziales Umfeld und wirtschaftliche Möglichkeiten.13 Auf ein Land übertragen könnte man dabei von -
historisch-kulturellen Erfahrungswerten geostrategischer Lage und
-
Wirtschafts- und Finanzkraft sprechen.74
In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen von Olga Gritsai und Vladimir Kolossov von Interesse. In ihrem Aufsatz ,,Die Renaissance geopolitischen Denkens in Rußland, Neue Ansätze und Forschungsfelder", in dem sie ausfiihren75 , daß Rußland auf der Suche nach einer neuen nationalen Identität sei und versuche, seine neue Rolle in der Weltgemeinschaft zu bestimmen und seine Beziehungen zu nahen und fernen Nachbarn zu überprüfen, defmieren sie den Begriff der "Geopolitik" folgendermaßen: 76 ... Geopolitik' kann von drei verschiedenen Dimensionen her verstanden werden: erstens politisch und militärisch, als eher traditionelle Geopolitik, die darauf abzielt, raumbezogene Strategien fiir die internationale Politik und die Sicherheit eines Staates zu liefern; zweitens wirtschaftsbezogene Geopolitik, die die wirtschaftliche Strategie eines Staates und seine Stellung in der weltweiten Arbeitsteilung begründet; drittens kulturell-historische Geopolitik, die die bestehenden und die potentiellen Krisen und Konflikte deutet, die aus historischen und kulturellen Strukturen resultieren und die die offensichtlichen Aufbrüche der kulturellen Landschaft begründen, die von so entscheidender Bedeutung filr eine nachhaltige Entwicklung sind."
73 Es wird an dieser Stelle bewußt vermieden, von den konkreten Interessen des Landes zu sprechen, um eine Diskussion über die verschiedenen Theorien zu den Interessen eines Landes zu vermeiden. Zu den Interessen vergleiche die Ausführungen bei Ernst Wolfgang Orth, Der Interessenbegriff im Wandel des sozialen und politischen Kontexts, in: GG, Band 3, S. 305-365, S. 344-362, Stuttgart 1962 oder konkret für Deutschland Christian Hacke, Die neue Bedeutung des nationalen Interesses für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 1-2/97, S. 3 ff. Siehe auch Bemhard Zangl/Michael Zürn, Interessen in der internationalen Politik: Der akteursorientierte Institutionalismus als Brücke zwischen interessenorientierten und nomorientierten Handlungstheorien, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2 Pol, 311999, S. 923 ff. 74 Diese Kriterien haben - ohne daß sie diese übernehmen wollen - eine gewisse Nähe zu den Überlegungen Pierre Bourdieus zum Vermögen, der diesen Begriff in kulturelles. soziales und finanzielles Vermögen zerlegt. 75 Olga GritsaWladimir Kolossov, Die Renaissance geopolitischen Denkens in Rußland, Neue Ansätze und Forschungsfelder, in: Geographische Zeitschrift Nr. 4/1993, J. 81, S. 256-259, hier: S. 257. 76 Olga GritsaWladimir Kolossov, S. 256.
B. Die Interessenlage des Landes
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II. Historisch-kulturelle Erfahrungswerte Hier soll der- für einen Nicht-Russen recht schwierige- Versuch gemacht werden, die Elemente zu analysieren, die das Bewußtsein Rußlands geprägt haben, um damit Rußlands Haltung zu verstehen und sein eventuelles Verhalten voraussehbar zu machen. Man wird - bei aller gebotenen Vorsicht - insbesondere fünf historisch-kulturelle Erfahrungswerte ausmachen können, die das russische Verhalten beeinflussen und die man deshalb bei allen Überlegungen ftir eine künftige Zusammenarbeit mit der Europäischen Union in Betracht ziehen muß. Diese fünf historisch-kulturellen Erfahrungswerte sind:
I. Die Hinwendung zum christlichen Glauben in seiner orthodoxen Form Diese Entscheidung Wladimirs des Großen, Großfürst von Kiew (9801015), gilt zu Recht als eines der Ereignisse, die die Geschichte Rußlands dauerhaft geprägt haben. 77 Dieser historische Vorgang, der übrigens von seiner zeitlichen Komponente her in einem auffallenden Zusammenhang mit einem anderen Ereignis im westlichen und mittleren Europa steht, nämlich dem Entstehen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (962), hat die russische Entwicklung in starkem Maße an Byzanz, das damals noch eine bedeutende Macht war, ausgerichtet, was zu einem späteren Zeitpunkt (Untergang Konstantinopels) noch eine Rolle spielen sollte. Um diese Entscheidung fiir das Bewußtsein Rußlands und der Russen verstehen zu können, muß kurz auf das Wesen der Orthodoxie im Verhältnis zu Katholizismus und Protestantismus eingegangen werden, was sich am einfachsten in der Formulierung des folgenden in der FAZ vom 27.4.1998 erschienenen Leserbriefs wiedergeben läßt: 78 "Es geht darum zu verstehen, daß die Orthodoxie natürlich auch Regeln kennt, aber grundsätzlich in ihrer Spiritualität aus dem Irrationalen lebt und weder die starke juristische Fundierung bis zur zentralen Stellung des Papstes im römischkatholischen Bereich noch die Tendenz zur Verwissenschaftlichung im Prote11 Vergleiche hierzu den Bericht von Catherine Lalumiere, Mitglied des Europäischen Parlaments, über die Mitteilung der Kommission, Die zukünftigen Beziehungen der Europäischen Union zu Rußland und über den Aktionsplan Die Europäische Union und Rußland: die künftigen Beziehungen. (Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Sicherheit und Verteidigungspolitik der Europäischen Union vom 12. Februar 1998.) Dokumente des Europäischen Parlaments PE 223.304. 78 Alexej Stachowitsch, Feindlich oder herablassend über Russisch-Orthodoxes, Leserbrief, erschienen in der FAZ vom 27.4.1998.
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2. Teil: Rußland als .,Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU stantismus akzeptiert. Bei ihr steht tatsächlich der gottesdienstliche Vollzug im Mittelpunkt, das Gefühl, unmittelbar in der Liebe Gottes zu stehen und ihm reumütige Liebe entgegenzubringen. Die Kirche als solche ist auch nicht dazu da, große soziale Werke zu gründen und zu betreiben, sie überläßt es Christen, die dazu flihig und willens sind."
Von vielen wird die Ursache fiir die dem russischen Volk nachgesagte außergewöhnliche Leidensfähigkeit in dieser besonderen Eigenart der Orthodoxie gesehen.79 Andere, die versuchen, die Welt in bestimmte Kulturkreise aufzuteilen und die die zum orthodoxen Glauben sich zählenden Völker als eigenen, vom westlichen Kulturkreis getrennten Kreis betrachten, sehen Rußland wegen seinem Bekenntnis zur Orthodoxie als ein Land an, dessen Integration in dem westlichen Kulturkreis nicht oder nur sehr schwer möglich sein würde. 80
2. Die Eroberung Rußlands durch die Mongolen Das tatarische Joch Der Untergang des Kiewer Reiches durch die Eroberungszüge der Mongolen und die Vorherrschaft der Mongolen über die russischen Fürstentümer vom 13. bis 15. Jahrhundert- das tatarische Joch-, wird von den Historikern unterschiedlich beurteilt: Zweifellos hat die mongolische Herrschaft - wie es die Herrschaft von Kolonialherren üblicherweise mit sich bringt - zur Herstellung einer straffen Organisation insbesondere im Hinblick auf die Steuern und deren Eintreibung geführt. Es hat auch das russische Bewußtsein fiir die Nähe Asiens gefördert. 81 Tiefgreifender war jedoch sicherlich die Erfahrung der Schutzlosigkeit gegenüber fremden Eroberern. Die besonders fiir Rußland geltende Besonderheit des weiten Raumes, der neben Vorteilen - die nördlichen Fürstentümer waren durch die mongolische Eroberung weniger betroffen als die südlichen - vor allem Nachteile mit sich bringt, indem er den fremden Eroberern kaum Hindernisse entgegenstellt, hat zweifellos das russische Denken, mit der Ausdehnung des eigenen Gebietes die Grenzen zu sichern, nachhaltig gefördert. In den kommenden Jahrhunderten sollten sich die bei der mongolischen Eroberung deutlich gewordenen Gefahren noch mehrmals wiederholen, wobei in 79 Welche Bedeutung diese Leidensfahigkeit auch heute noch hat, wird aus der Solschenizyn zugeschriebenen Feststellung, die Russen hätten in jüngster Zeit immer neue Weltrekorde in Duldsamkeit aufgestellt, deutlich. Zitiert nach Kerstin Holm, Plünderer und Invalide, in: FAZ vom 4.9.1998. 10 Samuel Huntington, Der Kampf der Kulturen, Wien 1996, S. 252. 11 Vgl. hierzu Kappeler, S. 20; siehe auch Walerij Afanasjew, Die Interessenlage Rußlands, Historisch-kulturelle Erfahrungswerte, unveröffentlichter Aufsatz, 1998.
B. Die Interessenlage des Landes
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allen Fällen die Ausdehnung des russischen Herrschaftsgebietes die darauf erfolgte Reaktion war. s2 Rußlands ,,Drang zu den Meeren" und damit zu geographisch relativ sicheren Grenzen, findet vor diesem Hintergrund seine Erklärung.
3. Die nationale Einigung (.. Sammlung der Länder der Rus ") und die Herausbildung eines russischen National- und Sendungsbewußtseins Die parallel zur allmählichen Schwächung des mongolischen Reiches einsetzende "Sammlung der russischen Fürstentümer" unter der Oberherrschaft des Fürsten von Moskau, hat den ständigen Kampf der Fürsten beendet und die Grundlagen für die Herausbildung des neuen unitären russischen Staates gelegt.R3 Das damit verbundene nationale Verständnis Rußlands als eine eigenständige Macht auf den Säulen des Slawenturns und der russisch-orthodoxen Religion, am stärksten verkörpert in der Person Iwans lll., des Großen, ist eines der wesentlichen Elemente russischen Bewußtseins. In diesem Zusammenhang muß auch die Eroberung des sibirischen Raumes gesehen werden, die Rußland letztlich zu einer Macht werden ließ, die geographisch gesehen mehr asiatisch als europäisch wurde, und die dazu führte, daß man sich in Rußland geographisch als euro-asiatisches Land sieht, mit den daraus sich ergebenden Fragen für Rußlands Verhältnis zu Europa und dem Westen.s4 So hat zum Beispiel auf der 18. Internationalen Fachtagung fur Politik und Strategie der Hans-Seidel-Stiftung in München, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Lukin, darauf hingewiesen, daß seine Heimat nicht als europäisches, sondern als "eurasiatisches Land mit globalen Komponenten" 82 Walerij Afanasjew. Die Interessenlage Rußlands, Historisch-kulturelle Erfahrungswerte, unveröffentlichter Aufsatz, 1998. 83 Die beiden einschneidensten Ereignisse, welche die oben genannte Beobachtung bestätigen, waren die Feldzüge Napoleons und Hitlers. Welche Rolle diese Ereignisse auch in den Augen Dritter spielen, wird in der Antwort Präsident Clintons deutlich, die er auf die Frage gab, wie Rußland seine Krise meistem solle. Er bemerkte, daß ein Land, das Napoleon und Hitler besiegt habe, auch in der Lage sei, die nötigen Reformen durchzuführen. 84 So auch Walerij Afanasjew, Die Interessenlage Rußlands, Historisch-kulturelle Erfahrungswerte, unveröffentlichter Aufsatz, 1998. Catherine Lalumiere, Bericht des Europäischen Parlaments über die zukünftigen Beziehungen der Europäischen Union zu Rußland, Februar 1998, S. 14 (Dokument PE 223.304).
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
gesehen werden müsse. 85 Vor diesem Hintergrund wird auch die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen ,,atlantischer", "eurasischer'' und ,,slawophiler" Konzeption verständlich.86 Die Herausbildung des Gefiihls fiir das eigene, sich vom anderen unterscheidende existentielle Wesen wurde noch verstärkt durch das geschichtliche Ereignis der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und die dadurch sich entwickelnde Überzeugung, daß Rußland das Erbe Konstantinopels angetreten habe. Der Satz eines russischen Mönches zu Beginn des 16. Jahrhunderts, daß zwei Rom (Rom und Konstantinopel) gefallen seien, das dritte (Moskau) aber bestehe, hat dem nationalen Denken ein Element von Sendungsbewußtsein hinzugefiigt.
4. Die Orientierung nach WestenPeter der Große und Katharina die Große Peter der Große, dessen Lebensziel es war, Rußland in eine den europäischen Großmächten ebenbürtige Macht zu verwandeln, konfrontierte sein Land mit einem neuen- fiir die russische Geschichte wesentlichen Aspekt - der Orientierung auf den Westen, zur damaligen Zeit hieß dies auf Europa. Seine Reformvorhaben - auch aus allerneuester Sicht nicht unaktuell - betrafen unter anderem Verwaltung, Steuern und Wirtschaft. Von diesem Zeitpunkt an sollte die Auseinandersetzung zwischen dem Modell der "eigenen Wesensart" und dem westlichen Modell87 das Denken der russischen politischen Elite und damit auch das russische Bewußtsein entscheidend prägen. Das Ringen des 19. Jahrhunderts zwischen sog. Westlern einerseits und Slawophilen andererseits ist der sichtbare Ausdruck hierftir. Und nach dem Ende der Sowjetunion, die weltanschaulich vielleicht eine überspitzte Kombination aus beidem war (Überholen des Westens gestützt auf ein eigenes vom Westen völlig Kl Oliver Hoischen, Nachdenken über die Baustelle Europa, in: FAZ vom 4.11.1997 . 16 Zur Auseinandersetzung dieser Konzeption vgl. Boris Meissner in Boris Meissner, Die Außenpolitik der GUS-Staaten und ihr Verhältnis zu Deutschand und Europa. Boris Meissner (Hrsg.), Köln 1994. Boris Meissner gelangt dabei rur Auffassung, daß die ursprüngliche atlantische Konzeption von der eurasischen und slawophilen Konzeption verdrängt wurde.
Man könnte es auch (mit Einschränkungen) als eine Auseinandersetzung zwischen dem Modell St. Petcrsburg und dem Modell Moskau ansehen, wie es aus der etwas wehmütigen Überschrift eines Artikels in der FAZ vom 20.7.1998 (Petersburger Abschied - Das neue Moskau macht das Rennen) über die Beisetzung des letzten russischen Zaren verstanden werden konnte. 81
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unterschiedliches System), setzt sich - wie oben bereits bemerkt - die Suche nach dem Rußland gemäßen Weg fort. 88 Antipoden der beiden unterschiedlichen Wege sind die beiden großen Zaren Iwan III. und Peter I.
5. Das Element des Te"ors in der russischen Geschichte Will man das Bewußtsein Rußlands in allen seinen Facetten verstehen lernen, so wird man eine nicht unwesentliche Erfahrung der russischen Geschichte nicht übersehen dürfen. Gemeint ist der Einsatz von Terror als Mittel der Politik. Iwan IV., auch der Schreckliche genannt, ist dafür - schon vom Namen her - der bezeichnendste Vertreter, wobei er im 20. Jahrhundert in der Person Stalins einen .,würdigen" Nachfolger fand. Es ist deshalb bezeichnend, daß geradein der stalinistischen Epoche die Ära Iwans des Schrecklichen auf besonderes Interesse (und Zuneigung) der Machthaber stieß. Möglicherweise ist daher die berühmte russische Leidensfähigkeit nicht nur der Ausdruck auf religiösen Grundlagen beruhender Duldsamkeit, sondern einer tiefverwurzelten negativen Erfahrung mit eigenen Machthabern, die gegenüber dem eigenen Volk in ihren Mitteln keine allzu großen Skrupel kannten. Der Satz .,Rußland ist groß und der Zar ist weit" bekommt dadurch eine besonders schmerzliche Bedeutung. Vielleicht wird man deshalb auch mehr Verständnis haben müssen, wenn von einem russischen Kommentator der Literaturzeitung der Vorwurf erhoben wurde, daß jeder einzelne seiner Landsleute mitschuldig daran sei, daß es in Rußland nur zwei Typen von Menschen gebe: Plünderer und lnvaliden.K9 Es sollte vielleicht noch angemerkt werden, daß die beiden oben genannten Machthaber den russischen Herrschaftsbereich entschieden in außerrussische Bereiche ausgedehnt haben (Iwan IV. auf die islamisch geprägten Khanate Kasan und Astrachan und Stalin auf eine Vielzahl ost- und mitteleuropäischer Länder), wobei beide Erweiterungen Rußland nicht unbedingt gut bekommen sind.
68 Zur Auseinandersetzung dieser Konzeption vgl. Boris Meissner in Boris Meissner, Die Außenpolitik der GUS-Staaten und ihr Verhältnis zu Deutschand und Europa. Boris Meissner (Hrsg.), Köln 1994. Boris Meissner gelang dabei zur Auffassung, daß die ursprüngliche atlantische Konzeption von der eurasischen und slawophilen Konzeption verdrängt wurde. 69 Zitiert nach Kerstin Holm, Plünderer und Invaliden, Die russische Gesellschaft entwickelt sich zurück, in: FAZ vom 4.9.1998.
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6. Fazit Das Bewußtsein Rußlands ist im wesentlichen geprägt durch das Bemühen, der eigenen Wesensart gerecht zu werden und daraus die eigenen politischen Ziele abzuleiten, sich am Westen- als der politisch, wirtschaftlich und weltanschaulich fuhrenden Welt- zu orientieren, das Land gegen Überfalle von außen abzusichern, indem man die Grenzen möglichst weit nach außen verschiebt, andererseits durch eine gewisse Ergebenheit in das eigene Schicksal und das Wissen um die Möglichkeit hemmungslosen Terrors der eigenen Machthaber. Diese Faktoren machen Rußland nicht zu einem nicht-europäischen Land, es ist aber nützlich, sie in Betracht zu ziehen, um russisches Verhalten zu verstehen und um bei dem Bemühen um eine engere Anhindung an Europa die geeigneten Lösungsansätze entwickeln zu können.
111. Die geostrategische Lage
I. Zum Stand der Diskussion des geostrategischen Denkens in Rußland Es bedarfkeiner näheren Erläuterungen um zu der Feststellung zu kommen, daß Rußland in der zu Beginn der neunziger Jahre in seiner geostrategischen Situation einen fundamentalen Wandel durchgemacht hat, der es verständlich macht, daß das Land auf der Suche nach einer neuen Identität ist bzw. sein muß. Der von zwei Dritteln der Russen bedauerte Untergang der Sowjetunion, deren Wiederherstellung in ihrer alten Form aber nur von einem Fünftel herbeigewünscht wird,90 sowie der Wegfall der mit ihrer geographischen und militärischen Ausdehnung verbundenen Machtfülle mußten zwangsläufig zum Versuch einer Neuorientierung fuhren, die zu Beginn aus westlicher Sicht sehr vielversprechend aussah, aber schon rasch neue Dimensionen annehmen sollte.91
Wolfgang Eichwede, Stabilität in Widersprüchen? Rußlands Wirklichkeit 1996, in: Osteuropa, Jg. 46. Nr. 9/1996, S. 843-855 (S. 850). 90
Die Frage, wie sich der Wandel der Außenpolitik Rußlands im Zeitraum Ende 1991 bis 1994 erklären läßt, hat daher nicht von ungefähr die politikwissenschaftliche Literatur beschäftigt. Vgl. zum Beispiel Mareille Ahmdt, Die alten Analyse-Instrumente greifen nicht mehr, Buchbesprechung zu C/audia Schmedt: Russische Außenpolitik unter Jelzin, in: FAZ vom 15.5.1997. 91
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Unter den verschiedenen außen- und sicherheitspolitischen Denkrichtungen haben sich im wesentlichen drei Hauptrichtungen herausgebildet92, die sich wie folgt umschreiben lassen: 93 die europäisch-atlantische Richtung, die eurasische Richtung, die großrussisch-imperiale Richtung. Magenheimer hat diese drei Denkschulen so beschrieben:94 "Die erstgenannte Richtung, die an die Tradition der , Westler' des 19. Jahrhunderts anknüpft, kennt sowohl eine auf Europa zentrierte als auch eine auf den gesamten , Westen' unter Einschluß Japans gerichtete Ausformung. Als Hauptattraktion flir diese Denkschule der ,Atlantisten' gelten die Tüchtigkeit der Wirtschaft und die Brauchbarkeit der Demokratie. Bekannte Vertreter waren bzw. sind etwa Jegor Gajdar, Vitalij Tschurkin und Gennadij Burbulis, während der ursprünglich dieser Gruppe angehörende Außenminister Kosyrev auf Grund einiger Indizien an den Rand der zweitgenannten Gruppe gerückt ist. Diese zweite Denkrichtung beruft sich auf die Geschichte Rußlands, das niemals eine Festlegung auf den Westen und nie eine überwiegend auf Europa orientierte Kultur gekannt hat; diese Denkrichtung berücksichtigt die zahlreichen nicht-europäischen Völker, Volksgruppen und Kulturen auf dem Boden des heutigen Rußland und versucht, einen harmonischen Ausgleich zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil Rußlands zu erzielen, indem man sich auf die Theorie des ,Eurasismus' der zwanziger Jahre stützt. Nicht zuletzt spielt die Tatsache eine erhebliche Rolle, daß auf Grund der Loslösung der Randstaaten im Westen der asiatische Raum an Gewicht gewonnen hat. Trotz der bewußten Rückbesinnung auf die eigene Fähigkeit, die enormen Probleme im Inneren zu lösen, bedeutet dies grundsätzlich keine Gegnerschaft zum Westen. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Schule, die auch ,Zentristen' genannt werden, zählen Arkadij Volkskij, Nikolaj Travkin und Jevgenij Arbatsumov. Allerdings sind die Übergänge zur dritten Denkschule, die ebenfalls immer mehr an Boden gewinnt, fließend. Diese Denkschule kann sich nur schwer oder überhaupt nicht mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums abfinden, strebt nach der Wiederherstellung nationaler Größe, versucht, die Reste der Großmachtstellung Rußlands unbeschadet aller Widerstände zu halten, verwirft jeden Ausverkauf nationaler Interessen und beruft sich u.a. auf die kulturell-geistige Mission, die Rußland gegenüber der Welt zu erfüllen habe. Eine Nebenströmung strebt sogar die Wiederherstellung der Monarchie an. Zu den prominenten Vertretern zählen Vladimir Schirinovskij, die (Ex-)Generäle Alexander Sterligov, Viktor Filatov und Albert Makaschov, mit Einschränkung auch Alexander Ruzkoj."
92 Heinz Magenheimer, Rußland und Deutschland - Wiederkehr der Geopolitik, in: ZFP, 41. Jg., 411994, S. 389-404 (S. 395). Heinz Timmermann, Orientierungsprobleme, Denkschulen, Prioritäten, in: Gegenwartskunde, 411993, S. 433 ff. (S. 435). 9 3 Magenheimer, Timmermann, a.a.O. 94 Magenheimer, S. 435.
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Zweifellos spielte die erste Denkschule eine besondere Rolle in den frühen 90er Jahren, wo "idealistische und romantische" Ideen über eine gemeinsam zu gestaltende, gesamteuropäische Sicherheit überwogen. 95 Das Ende dieser Epoche, die heute bereits als die "romantische Periode"96 bezeichnet wird, und die eine starke Anhindung an den Westen zum Inhalt hatte, wird von den einen97 bereits 1991 in Zusammenhang mit dem Putsch gegen Gorbatschow, von anderen98 erst 1993 gesehen. 99 Seit diesem Zeitpunkt hat sich eine neue Entwicklung angebahnt, bei der sowohl die eurasische als auch die großrussisch-imperiale Denkrichtung an Boden gewinnen. So bemerkt Timmerrnann: 100 "Unter seinen Eliten (Rußlands, der Verf.) hat sich mittlerweile ein Grundkonsens darüber herausgebildet, das Land als selbstbewußte Großmacht mit spezifischen Interessen und natürlichen Einflußzonen zu profilieren, auf dem eurasischen Kontinent einen eigenen Schwerpunkt zu bilden und seine Umwelt selbst zu integrieren."
Und Schilling101 schreibt: "Die Frage, ob Rußland sich mit der Rolle eines ,saturierten' Nationalstaats begnügen werde oder seine Tendenzen sich durchsetzen könnten, die eine Wiederherstellung des Imperiums - unter welchem Namen auch immer- und damit eine erneute ,Sammlung russischer Erde' anstreben, ist nicht erst seit der am 15. März 1996 mit großer Mehrheit von der Staatsduma angenommenen Resolution über den . Widerruf der Auflösung der Sowjetunion' entschieden. Wenngleich Präsident Jelzin gelegentlich moderate Töne anschlägt und die Beschlüsse des Parlaments relativiert, ließ sein entschlossener Zugriff auf die ehemals sowjetischen Institutionen, Rechte und Ansprüche schon fiiih erkennen, wie sehr auch er und seine Anhänger in großrussischem Denken verwurzelt sind. Mit Blick auf die 95 August Pradetto (Hrsg.): Ostmitteleuropa. Rußland und die Osterweiterung der NATO, 1997; vgl. hierzu die Buchbesprechung von Katrin Adler, Einbinden ohne auszugrenzen, in: FAZ vom 21.10.1997. 96 Heinz Timmermann, Rußlands Außenpolitik: Die europäische Dimension, in: Bericht des BIOSt 1995, S. 7, ebenso Pradetto. 97 Katrin Adler, Einbinden ohne auszugrenzen, Buchbesprechung zu August Pradetto: Ostmitteleuropa, in: FAZ vom 21.10.1997. 9 s Heinz Timmermann, Rußlands Außenpolitik, a.a.O. 99 Eine ausführliche Darlegung des Vorgangs der Verdrängung der atlantischen Konzeption durch die eurasische und slawophile (die der großrussisch-imperialen Denkrichtung entspricht) findet sich bei Meisner, in: Boris Meisner (Hrsg.): Die Außenpolitik der GUS-Staaten und ihr Verhältnis zu Deutschland und Europa, Köln 1994.
Heim. Timmermann, Osteuropa: Drang nach Westen. Möglichkeiten und Hemmnisse. Die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas und die euro-atlantischen Integrationsprozesse, in: Osteuropa, Jg. 47, Nr. 6/97, S. 531-544 (S. 533). 101 Walter Schilling, Rußlands nationale Interessen, in: Zeitschrift für internationale Fragen, Mai 1998, Nr. 5, S. 43. 100
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frühere Macht und Größe des Landes geht es im Vergleich zwischen der derzeitigen Staatsflihrung einerseits und den Kommunisten andererseits nur noch um die Frage, inwieweit das Imperium wiederhergestellt werden kann und welchen Charakter die zurückgewonnene Macht erhält." In den Kommentierungen zur russischen Außenpolitik herrscht in diesem Punkt wenn auch mit geringen Nuancen überraschende Übereinstimmung. Man ist sich bewußt geworden, daß Rußland "den Anspruch, selbst ein integrierendes Zentrum zu sein und als eurasische Großmacht eine Sonderrolle zu spielen, ebensowenig aufgegeben habe wie die Vorstellung von spezifisch russischen Werten und Traditionen, die sich von denen des individualistischen und materialistischen Westens unterschieden." 102 In der Ernennung des früheren Außenministers Primakov zum Ministerpräsidenten sahen Kommentatoren den vorläufigen Höhepunkt in dieser Entwicklung. 103 Allerdings wird es nicht genügen, sich auf die Beschreibung dieser Entwicklung zu beschränken. Man wird vielmehr versuchen müssen, Rußland zu verstehen und seine Reaktionen voraussehbar und damit berechenbar zu machen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, sich in die Lage Rußlands zu versetzen, "aus russischer Sicht" Rußland und sein Umfeld, d.h. seine Nachbarn, zu betrachten. Dazu sollen die Überlegungen dieses Kapitels dienen. Um es vorwegzunehmen: die geostrategische Lage Rußlands ist extrem schlecht. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten wird dies besonders deutlich. Die USA haben im Grunde genommen nur vier Grenzen. Zwei davon werden durch Meere gebildet (Atlantischer und Pazifischer Ozean), zwei von Nachbarländern (Kanada und Mexiko), von denen bis auf das Problem unkontrollierter Immigration keine direkte Gefahr ausgeht. Potentielle politische Rivalen sind in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht zu finden. Völlig anders Rußland, das - noch mehr als Deutschland- von einer Vielzahl von Nachbarn umgeben ist. Deutschland, das wegen seiner ungünstigen Mittellage im Laufe seiner Geschichte einen nicht unerheblichen Tribut zu zahlen hatte, konnte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine ungünstige geographische Lage durch die Einbindung in die europäische Integration weitgehend lösen: aus einem von verfeindeten und mißtrauischen Nachbarn umgebenen Land ist ein kraftvolles Zentrum (die Richtigkeit dieser These wird nach der Osterweiterung noch deutlicher werden) eines neuen Staatsgebildes geworden.
102 Hoffmann Christiane, Neues Interesse an Europa, in: FAZ vom 7 . I 0.1997; vgl. auch Hermann Bohle, Noch Jahre mit Unsicherheiten leben, in: Luxemburger Wort vom 30.12.1997. 101 Peter Scholl-Latour, Welchen Weg geht Rußlands neuer Regierungschef?, in : WAMS vom 13.9.1998.
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Um die russische Situation und damit auch russische Befindlichkeit zu verstehen, muß das Land in der Beziehung zu seinen unmittelbaren Nachbarn gesehen werden. Es ist zweckmäßig, dabei mit dem Land zu beginnen, das zwar nur "geringfiigiger" (Beringstraße) Nachbar ist, das aber aus vielerlei anderen Gründen ftir Rußland wichtig ist, weil es ihm fast überall in irgendeiner Form begegnet: die Vereinigten Staaten von Nordamerika. 2. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (die einzige verbliebeni/U Supermacht) als Nachbar, Partner und Rivale
Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Brookings-lnstitution, einer renommierten ,,Denkfabrik" in Washington, hat im Rahmen einer vierjährigen Arbeit die Kosten des Kalten Kriegs ausgerechnet: Danach hat das nukleare Wetbüsten die Vereinigten Staaten in den Jahren zwischen 1940 und 1996 insgesamt mehr als 5,8 Billionen Dollar gekostet. 105 Diese Zahlen genannt vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise Rußlands (im Herbst 1998) machen deutlich, warum die Sowjetunion ihren jahrzehntelangen Wettstreit mit den USA nicht gewinnen konnte. Der Kalte Krieg ist (zumindest vorläufig) beendet, und selbst hervorragende Kenner Rußlands wie der fiühere Ministerpräsident und Außenminister Primakov räumen ein, daß die USA die einzige Supermacht seien (wenn dies auch nicht bedeuten dürfe, daß sie als einziges Zentrum der internationalen Politik zu gelten hätten). 106 Zbigniew Brzezinski hat in seinem Buch ,,Die einzige Weltmacht" die aus seiner Sicht bestehende Tatsache der USA als einziger Supermacht auf folgende Faktoren zurückgefiihrt: 107 .... . Kapazitäten fiir weltweite Militärpräsenz, wirtschaftliches Potential als Motor weltweiten Wachstums, technologischer Vorsprung in Schlüsseltechnologien sowie weltweite Affinität zu seiner Kultur, vor allem bei der Jugend. Das Zu-
Samuel Huntington nennt die USA Die einsame Supermacht, vgl. Samuel Huntington, Die einsame Supermacht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/99, s. 548 ff. 104
105 Horst Rademacher, Die Kosten eines Krieges, der nie geführt wurde, bei dem es keine Schlachten und Gefechte gab, in: Die Welt vom 20.8.1998. 106 Jewgenij Primakov in einem Interview mit Nesawissimaja Gaseta, Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 30. 12.1997. 107 Zitiert nach Lothar Rühl, Stabilität durch ein neues Gleichgewicht, Buchbesprechung in der FAZ vom 26.11.1997.
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sammenspiel dieser vier Faktoren mache Amerika zur einzigen globalen Supermacht im umfassenden Sinne."
Zu einer ähnlichen Würdigung kommt der frühere amerikapisehe Außenminister Baker, der sein Land als letztgültigen Garanten internationaler Sicherheit bezeichnet und dabei aufzählt, was die eigentliche Macht der Vereinigten Staaten ausmache: 108 " ... das hochmoderne Militär, eine robuste Wirtschaft, eine dynamische Technologie, die Stabilität des politischen Systems, ein Netzwerk von Allianzen mit NATO und bilateralen Bündnissen zwischen Amerika und Japan sowie Südkorea an der Spitze, die diesem Geflecht zugrunde liegende Wertegemeinschaft und schließlich die Institutionalisierung von Konsultationen und Konsensentscheidungen, die ,jedwede Pax Americana von dem Verdacht befreien, Stabilität durch imperiale Anstrengungen erzwingen zu wollen.'"
Die Situation, daß die USA die einzige verbliebene Supermacht sind, was natürlich nicht ausschließt, daß sie im kommenden Jahrhundert weitere Partner erhält 109, ist flir Rußland zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Grundlage, an der es seine Politik ausrichtet und auszurichten hat. Die Antwort Rußlands ist gefaßt in eine Doktrin, die den Namen des früheren russischen Ministerpräsidenten Primakov trägt, der die russische Außenpolitik entscheidend mitgeprägt hat, weshalb seiner Doktrin weiterhin besondere Bedeutung zukommt. Nach Gerhard Simon 110 läßt sie sich so umschreiben: ..... Auch nach dem Ende des Kalten Krieges sieht Rußland seine strategische Aufgabe darin, das Zentrum eines eigenständigen Pols im internationalen Kräftefeld zu sein bzw. zu werden, und nicht - wie die ehemals sozialistischen Staaten in Ostrnitteleuropa - die Integration in die bestehenden europäisch-atlantischen Strukturen zum strategischen Ziel zu erheben, weil damit aus russischer Sicht die Gefahr verbunden wäre, in der amerikanisch bzw. westlich bestimmten unipolaren Welt aufzugehen. Außenminister Primakov hat die außenpolitische Doktrin von der ,objektiven ' Tendenz des internationalen Systems zur Herausbildung einer ,multipolaren' Weltordnung formuliert, in der Rußland neben den USA eine zentrale Rolle spielt. Von dieser globalen Grundannahme her werden in weitgehendem Konsens innerhalb der politischen Eliten die russischen internationalen Interessen definiert:
1°K Zitiert nach Wemer Adam, Eine Weltmacht ohne Rivalen, in: FAZ vom 1 1.5.1998. 109 Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt geht in einem Artikel in der Welt am Sonntag (WAMS) vom 11 .5.1997 davon aus, daß es im kommenden Jahrhundert drei Supermächte USA, Rußland und China geben werde. Helmut Schmidt, Churchills Warnung vor den Deutschen bleibt gültig, in: WAMS vom 11.5.1997. 110 Gerhard Simon, Die Identität Rußlands und die internationale Politik, in: Außenpolitik Jll/1997, S. 245 ff, (S. 252 f.). Siehe auch Wemer Adam, Die PrimakovDoktrin, in: FAZ vom 3.12.1997.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU I. Die Staaten auf dem Territorium der früheren UdSSR - insbesondere die Mitglieder der GUS- bilden die Zone der vitalen russischen Interessen. Sie sichern Rußland das Gewicht aus Führungsmacht auch über den GUS-Rahmen hinaus. 2. Eine einseitige Westbindung kommt für Rußland nicht in Frage, damit würde das Land dem amerikanischen Sog erliegen und das eigene Profil verlieren. 3. Die Distanz zu den USA, die als ,weder Feind noch Verbündeter' eingeschätzt werden, bildet im Gegenteil eine der Voraussetzungen für eine selbständige Rolle auf der internationalen Bühne. 4. Rußland muß sich neue Partner in Asien suchen. West- und Ostpolitik sollen einander ausbalancieren, damit einseitige Abhängigkeit vermieden wird. Besonders hoffnungsvolle Partner sind Staaten, die sich in offenem Konflikt mit den USA befinden, wie Iran oder Irak. Aber auch Ausgleich und Annäherung an China haben demonstrative Priorität. ... "
Eine erste "Kostprobe" dieser Doktrin hat der Westen in der letzten Irak-Krise erhalten.111 Aber auch in dem über den Irak hinausgehenden arabischen Raum, in China, selbst in Europa sind die Elemente dieser Doktrin zu spüren, wobei das Bemühen der USA um Einfluß im Kaukasus und im Kaspischen Becken in Moskau ftir Unruhe sorgt. 112 Das Verhältnis Rußlands zu Amerika ist durchaus widersprüchlicher Natur: von ausgesprochen kritischer Haltung 113 bis zu dem Bedauern, daß Rußland nicht mehr Priorität ftir die USA besitzt. 114 Dieses Bedauern ist allerdings nur teilweise berechtigt. Mag Rußland auch ftir die USA nicht mehr die Bedeutung wie zu Zeiten der Sowjetunion haben 115 und vielleicht auch nicht mehr bedrohlich wirken, so hat es in den Beziehungen Washingtons objektiv weiterhin Priorität und dies wegen seiner geostrategischen Bedeutung und vor allem wegen seiner nuklearen Hochrüstung. 116
Werner Adam, Die Primak.ov-Doktrin, in: FAZ vom 3.12.1997. Werner Adam, a.a.O. 113 Vgl. die Kritik Georgij Arbatows, Vom realen Sozialismus in den prähistorischen Kapitalismus, in: FAZ vom 31.7.1998. 114 Zu den Befürchtungen im Hinblick auf die überlegene Stellung der USA vgl. A Gousher, External Challenges to Russia's National Interests, in: International Affairs. A Russian Journal of World Politics, Diplomacy and International Relations, Vol. 45, No 2,1999, S. 162 ff. Siehe auch Iswestija vom 8.7.1998, Sewodnja vom 16.1.1998. 111
112
Christiane Hoffnumn, Gesang im Dunkeln, in: FAZ vom 9.9.1998. Günther Nonnenmacher, Weltmacht braucht Partner, in: FAZ vom 26. 11 . 1997. Hermann Bohle, Hochgerüstet, geschwächt und nervös. Rußlands Zustand gebietet kluge Weltpolitik. Jelzin weckt neue Hoffnung auf Atomabrüstung, in: Luxemburger Wort vom 29.5.1997. 115
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Auf der anderen Seite hat auch ftir Rußland das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten weiterhin Priorität. Um aber die ,,russische Bewußtseinslage" richtig verstehen zu können, darf neben der Bedeutung der Vereinigten Staaten fiir fast alle Politikbeziehungen Rußlands nicht vergessen werden, daß das Land von einer Vielzahl von Staaten umgeben ist, die alle in irgendeiner Form eine Bedeutung ftir die Sicherheit, die wirtschaftliche Entwicklung und die politische Zukunft des Landes haben. Die Durchleuchtung dieses Beziehungsgeflechts erst wird es möglich machen, Schlußfolgerungen auch ftir das Verhältnis der Europäischen Union zu Rußland zu ziehen.
3. Japan Das Land mit seiner 120 Millionen-Bevölkerung hat im ersten Halbjahr 1998 negative Schlagzeilen gemacht- Rücknahme des angepeilten Wirtschaftswachstums um ein Prozent, Anstieg der Arbeitslosenquote auf ftir japanische Verhältnisse ungeahnte Höhen (4,3 %), Firmenzusammenbrüche, Staatsverschuldung bei über sieben Billionen DM. Trotzdem ist dieses Land weiterhin ein bedeutender Faktor der Weltwirtschaft (Nummer zwei der Weltwirtschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt von rund 6,5 Billionen DM, wobei rund 70 % des gesamten Bruttoinlandsprodukts Asiens in Japan entstehen, einem Finanzvermögen von rund elf Billionen DM, einem Auslandsvermögen von über I 000 Milliarden Dollar''\ Rußlands Interesse an Japan beruht auf dreierlei Elementen: -
Japan erlebte und erlebt in seiner Geschichte, ähnlich wie Rußland, eine ständige Auseinandersetzung mit der Frage, ob es zum Westen oder zu Asien gehört.118
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Japan ist aufgrund seiner großen wirtschaftlichen Bedeutung auch politisch eine Großmacht, die in russischen Vorstellungen durchaus eine Rolle in einer multipolaren Welt spielen könnte. 119
-
Japan könnte als hochindustrialisiertes Land mit bedeutender Hochtechnologie entscheidend bei der Erschließung des rohstoffreichen aber logistisch wenig entwickelten Sibiriens behilflich sein.
Hans-Olaf Henkel, Japan ist ein Engagement wert, in: FAZ vom 28.7.1998. Florian Coulmas, Japans Rückkehr nach Asien, in: FAZ vom 27.8.1997. 119 Beim Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng in Tokio im November 1997 lobte der damalige japanische Ministerpräsident Hashimoto ausdrücklich die entstehende Beziehung zwischen Rußland, Japan und China. Meldung in der FAZ vom 13.11.1997. 117
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Allerdings gibt es zwischen beiden Ländern ein Hindernis, das bis auf weiteres alle Zusammenarbeit erschwert: Gemeint ist die Frage der Südkurilen. Dabei handelt es sich um folgendes Problem: "Die Kurileninseln im Norden Japans waren der UdSSR in der Jalta-Konferenz der Alliierten im Frühjahr 1945 zugesprochen und im August desselben Jahres von den Sowjets besetzt worden. Im amerikanisch-japanischen Friedensvertrag von 1951 hatte Japan alle Ansprüche auf die Kurilen aufgegeben. Tokio vertrat jedoch später die Auffassung, daß die vier südlichen Kurileninseln Habomai, Shikotan, Kunashiri und Etorofu gar nicht zur gesamten Kurilenkette gehören, sondern Japans ,nördliche Territorien' seien. Tokio forderte deshalb ihre Rückgabe. Mit 4.996 Quadratkilometern ist das umstrittene Gebiet kleiner als der Schweizer Kanton Wallis. Es wird von lediglich rund 17.000 Menschen bewohnt, doch ist das wirtschaftliche Potential beträchtlich. Auf den Inseln und im Meeresboden im Gebiet der 200-Meilen-Zone darum herum werden große Vorräte an wertvollen Mineralien und Metallen vermutet. Dazu kommen die Fischereirechte in weiten Teilen des Ochotskischen Meeres und im nordwestlichen Pazifik."
Bei ihrem Treffen 1998 in der sibirischen Stadt Krasnojarsk vereinbarten der damalige russische Präsident Jelzin und der damalige Ministerpräsident Hashimoto, bis zum Jahre 2000 einen Friedensvertrag zu schließen. Der von beiden Seiten entwickelte sog. Jelzin-Hashimoto-Pian, der die Frage der Kurilen ausklammerte, sah 120 " .. .die Unterstützung Japans bei der Integration Rußlands in die Weltwirtschaft und die Erhöhung japanischer Investitionen in Rußland vor.... Auch sollte eine mögliche Beteiligung Tokios an der Erschließung der Erdölvorkommen auf der russischen Insel Sachalin sowie die gemeinsame Ausbeutung der Fischvorkommen im Kurilen-Gebiet geprüft werden. Moskau und Tokio wollten auch enger im Nuklearbereich kooperieren. Geplant war der gemeinsame Bau eines Atomreaktors neuen Typs. Zudem wollte sich Japan an der Modernisierung der transsibirischen Verkehrswege und der Ausbildung russischer Manager beteiligen.... " Bei einem erneuten Treffen zwischen den beiden Staatsmännern im April 1998 in Japan schlug Jelzin seinem Gastgeber vor, beide Staaten sollten nicht nur einen einfachen Friedensvertrag schließen, sondern einen Friedens-, Freundschafts- und Kooperationsvertrag. Der Friedensvertrag solle neben der Lösung der Insel-Frage auch den Grundsatz der russisch-japanischen Freundschaft und eine Kooperation ftir das 21. Jahrhundert beinhalten. Dabei solle es auch um eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit gehen. Allerdings wurde unmittelbar nach diesem Treffen deutlich, daß ein Durchbruch in der Kurilen-Frage nicht erfolgt war. Der von Hashimoto vorgelegte Plan, die beiden Länder sollten nördlich der umstrittenen vier Inseln eine neue Demarkationslinie ziehen, was einer Aner120
Meldung im Luxemburger Wort vom 20.4.1998.
B. Die Interessenlage des Landes
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kennung des japanischen Anspruchs gleichgekommen wäre, wurde von russischer Seite nicht angenommen, wie ein offizielles Dementi Moskaus unmittelbar nach dem Treffen zwischen Hashimoto und Jelzin zeigt. 121 Der Beschluß Japans und Rußlands bis zum Jahre 2000 einen Friedensvertrag zu schließen, hat beide Länder in Zugzwang gebracht. Sollte es innerhalb des selbstgesteckten Zeitplans nicht zu einer Einigung kommen, könnte dies erhebliche negative Auswirkungen auf die zukünftigen Beziehungen haben. 122 Eine stärkere Anlehnung Japans an China wäre nur eine der dann gegebenen Möglichkeiten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Dezember 1999) muß leider festgestellt werden, daß die Bemühungen um den Abschluß eines Friedensvertrages nicht wesentlich vorangekommen sind.
4. Nord- und Südkorea Eine weitere problematische Situation im Osten Rußlands ist mit den beiden Koreas gegeben. Auf der einen Seite ein wirtschaftlich prosperierendes und in den letzten Jahren trotz seiner Krise sich rasch entwickelndes Südkorea. 123 Nach einer Schätzung der Weltbank für Wiederaufbau und Entwicklung sollte Südkorea im Jahre 2020 nach China, USA, Japan, Indien und Indonesien die sechstgrößte Wirtschaftsmacht der Erde sein. 124 Wenn diese rechnerische Vorgabe wegen der Asienkrise so vielleicht auch nicht mehr stimmen mag, so gibt sie doch einen Hinweis auf die wirtschaftliche Bedeutung des Landes. 121 Rußland bestreitet Zugeständnisse an Japan, Meldung in der FAZ vom 21.4.1998. 122 Zur Bedeutung Japans für Rußland siehe auch den Beitrag des russischen Außenministers lgor lvanov, La Russie et I' Asie-Pacifique, in: Politique etrangere, Revue trimestrielle publiee par I' Institut fran~ais des relations internationales, 2/99, S . 307. Siehe auch Joachim Glaubitz, Japans Beziehungen zur Sowjetunion und Osteuropa, in: H. W. Maull (Hrsg.): Japan und Europa: Getrennte Welten? Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik e.V., Bonn 1996; Reinhard Drifte, An old architecture for peace? Reconfiguring Japan among unreconfigured great powers, in: The Pacific Review, Vol. 12, No 3, 1999. 11 ) Zum Szenarium einer ostasiatischen Blockbildung unter Einschluß Japans und der Asean-Staaten vgl. Maull, Ein Menetekel für die regionale Stabilität, in: FAZ vom 1.9 .1998. 124 Russia's Security Challenges in International Affairs (Moscow), Vol. 43, Nr. 1/1997, S. 11-21 (S. 12). Interessant ist, daß von den genannten sechs Ländern sich fünf in unmittelbarer (China, Japan, Südkorea) oder mittelbarer Nachbarschaft (USA, Südkorea) befinden.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Auf der anderen Seite Nordkorea, ein Land, das einerseits Schwierigkeiten hat, seine Bevölkerung zu ernähren (die Hungerkatastrophe hat in den letzten Jahren angeblich bis zu zwei Millionen Tote gefordert} 125, das sich aber andererseits eine technologisch hochentwickelte militärische Rüstung leistet. Nach dem Ende August 1998 erfolgten Abschuß einer nordkoreanischen Rakete, die japanisches Hoheitsgebiet überflogen hatte, wurde die Welt erneut aufmerksam auf das nordkoreanische WaffenarsenaL Danach verfiigt das Land 126 " ... seit etwa anderthalb Jahren über ein eigenes mobiles Mittelstreckenraketensystem, das die Bezeichnung ,Rondong I' trägt. Die Raketen haben eine Reichweite von tausend bis 1300 Kilometern. Sie bedrohen damit neben dem Süden der geteilten koreanischen Halbinsel auch weite Teile Japans einschließlich des Großraums Tokio. Die ,Rondong I' wurde im Juni 1991 und dann im Mai 1993 über dem Japanischen Meer getestet. Inzwischen ist ein Raketensystem mit größerer Reichweite entwickelt worden: ,Taepo Dong I' genannt, soll dieser Typ eine Strecke von 1500 Kilometern zurücklegen können. Nach amerikanischen und japanischen Erkenntnissen ist das kommunistische Regime in Pjöngjang dabei, das Arsenal weiter auszubauen und Raketen unter der Bezeichnung , Taepo Dong 2' mit einer Reichweite von bis zu 4500 Kilometern in den eigenen Rüstungsbetrieben bauen zu lassen. Darüber hinaus verf"ligt das Land über eine der größten Armeen in der Welt. Es hat mehr als eine Million Mann unter Waffen, von denen 880000 auf das Heer, 62000 auf die Luftwaffe und 46000 auf die Kriegsmarine entfallen. Die Zahl der Kampfpanzer wird vom Londoner Internationalen Institut fur Strategische Studien mit 3400 angegeben, die der Panzerwagen mit 2500. Hinzu kommen 850 Kampfflugzeuge, 480 Transportflugzeuge und knapp 300 Hubschrauber. Die Kriegsmarine verf"ligt über mehr als 700 Schiffe, während das Heer mit nahezu 10000 Artillerie-Einheiten ausgerüstet ist." Nordkorea befindet sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Veränderungen in China in einer Situation der Isolation, wobei es Schwierigkeiten mit mehr oder weniger allen Staaten in seiner Nachbarschaft hat. 127 Zwar geht von Nordkorea, dem engen Verbündeten in früherer Zeit, keine unmittelbare Gefahr ftir Rußland aus, doch sind die Beziehungen zu Moskau stark abgekühlt: Rußland bevorzugt mittlerweile das wirtschaftlich weitaus attraktivere Südkorea. 12H Es ist jedoch die Unberechenbarkeit Nordkoreas, die auch flir Rußland eine Quelle der Unsicherheit darstellt.
FAZ vom 1.9.1998. Nordkoreas Waffenarsenale. in: FAZ vom 1.9.1998. 127 Anne Schneppen, Selbst für Peking ist Pjönjang ein Unruhestifter, in: FAZ vom 9.9.1998. m Anne Schneppen, a.a.O. m
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B. Die Interessenlage des Landes
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5. China
In den letzten 30 Jahren der Supennacht Sowjetunion gab es neben ihrem hauptsächlichen Gegenspieler, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, einen zweiten Gegner, mit dem es zwar ideologisch eng verbunden war, der aber in fast allen politischen Bereichen ein gefahrlieber Konkurrent war: China. Dieses Land, dessen Bevölkerung fast das Zehnfache der Bevölkerung Rußlands ausmacht (1,2 Milliarden zu 140 Millionen) hat eine 3000 km lange gemeinsame Grenze mit Rußland, nimmt man die Grenze zu den GUS-Staaten hinzu, kommt man sogar auf 7000 km. China wurde in der bereits zitierten Studie der Weltbank als Wirtschaftsmacht bezeichnet, die im Jahre 2020 sogar die Vereinigten Staaten überflügeln würde. Wenn auch diese Einschätzungen angesichts der jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen etwas vorsichtiger ausfallen dürfte 129, so gilt China doch weiterhin als eine der fuhrenden Wirtschaftsmächte der Zukunft. 130 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Ländern, das zeitweilig in einen Krieg auszuarten drohte (Ussuri-Krise 1969170), entscheidend nachgelassen.China, das durch seine eigenen Erfolge 131 erheblich an Selbstvertrauen gewonnen hat, scheint Rußland nicht mehr als Rivalen zu betrachten. Nach der von Gorbatschow eingeleiteten und von Jelzin geförderten Annäherung der beiden Länder hat sich das Verhältnis wesentlich entspannt und sogar bis hin zu dem Gedanken einer strategischen Partnerschaft entwickelt. Aus dem Interessengegensatz fiiiherer Zeiten ist offenbar eine Interessenkongruenz entstanden, die aber unterschiedliche Grundlagen hat. Beide Länder sind gegen eine unipolare Welt mit den USA als Hegemonialmacht und plädieren deshalb ftir eine muttipolare Welt. Darüberhinaus haben beide Länder ein großes Interesse an einer Beruhigung an ihrer gemeinsamen Grenze, was Anfang 1997 zu einem Grenzvertrag mit dem Ziel des Truppenabbaus und der Abrüstung an den Grenzen zwischen Rußland, China, Kasachstan, Tadschikistan und Kirgistan geflihrt hat und dann Mitte 1998 beim Fünfergipfel in Alma-Ata das Ausräumen weiterer Grenzprobleme (China und Kasachstan) und den Abbau weiterer Spannungen mit sich brachte. 129 In diesem Sinne eher kritisch: Kurt Wiehman, Chinas Wirtschaftswachstum eine Luftblase?, in: Internationale Politik, Juni 1997, Nr. 6, Jg. 52, S. 53-54. 130 Analyse der chinesischen Wirtschaft durch die Weltbank (China 2020: Development Challenges in the New Century). zitiert nach FAZ vom 19.9.1998: Weltbank: China wird führende Wirtschaftsmacht 1) 1 In allerneuster Zeit (November 1999) hat China seine Planungen um ein ehrgeiziges- und erfogreich angelaufenes- Weltraumprogramm erweitert.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Nach Ansicht zahlreicher Kommentatoren 132 ist an eine über die Stabilisierung ihrer Beziehungen hinausgehende Form einer Allianz nicht zu denken. Hierfür fehlt es am Interesse vor allem auf Seiten Chinas, das seinen Aufstieg in den Rang einer Supennacht zügig vorantreibt und dabei ein wesentlich größeres Interesse am pazifischen Raum und damit an Japan, vor allem aber an den Vereinigten Staaten hat. Es gibt andererseits einige Beziehungspunkte zwischen Rußland und China, die durchaus Probleme mit sich bringen und zu Konflikten führen könnten: a) Der Handel zwischen beiden Ländern betrifft im wesentlichen Waffen. 30 bis 40 Prozent aller russischen Waffenexporte gehen nach China, wobei wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Rußlands auch hochwertige Waffen und Technologie verkauft werden. 133 Nach Aussagen Moskauer Politologen bezieht China inzwischen doppelt so viel Rüstungsgüter aus Rußland, wie Rußland seinen eigenen Streitkräften an Neuzuteilungen bewilligt. 134 Eine Veränderung im militärischen Gleichgewicht zu Lasten Rußlands ist damit auf mittlere Sicht vorhersehbar. b) Ein anderes Problem ist das ,,Einsickern" chinesischer Siedler in den russischen Femen Osten. Man spricht von zwei bzw. ftinf Millionen Chinesen, die sich bereits illegal in Rußland aufhalten. Besonders heikel wird die Frage angesichts des stark bevölkerten nördlichen Chinas auf der einen Seite und der Abnahme der russischen Bevölkerung in Sibirien (zur Zeit etwa 32 Millionen
132 Vgl. hierzu Joachim Glaubitz, Auf dem Weg zur Weltmacht. Die VR China im Spannungsfeld von USA, Japan und Rußland, in: Länderbericht China, Bundeszentrale für politische Bildung, 1998, S. 515-534. Heinrich Kreft, China im Konzert der Großmächte. Das Streben nach einer weltpolitischen Rolle, in: Internationale Politik, Juni 1997, Nr. 6, S. 35 ff. Walter Schilling, Wandel der Machtstrukturen in der asiatisch-pazifischen Region, in: Zeitschrift für internationale Fragen, Jg. 48, 2. Quartal 1997, S. 158-165. Yev George Yong-Beon, Ostasien wird die Weltordnung in ihren Grundfesten erschüttern, in: FAZ vom 21.11.1997. H. W. Maul/, Ein Menetekel für die regionale Stabilität, in: FAZ vom 1.9.1998. Christiane Hoffmann, Für Jiang Zemin unterbricht Jelzin sogar den Urlaub. Keine Allianz Rußlands mit China, in: FAZ vom 23.4.1997. Petra Kolonkev, China und Rußland. Wem nützt die strategische Partnerschaft zwischen Moskau und Peking?, in: FAZ vom 5.7.1997. Zur Problematik der russisch-chinesischen Waffenlieferungen aus amerikanischer Sicht v g I. Stephen Blank, Which Way for Sino-Russian Relations?, in: Orbis. A Journal of World Affairs. Vol. 42, No 3, Summer 1998, S. 345 (358ft).
133 Petra Kolonkev, China und Rußland. Wem nützt die strategische Partnerschaft zwischen Moskua und Peking?, in: FAZ vom 5.7. 1997.
Wemer Adam, Noch fehlt es an klarer Orientierung. Altes Denken. neues Denken: Rußland lebt mit sich und der Welt in manchem Widerspruch, in: FAZ vom 20. 10. 1997. 130
B. Die Interessenlage des Landes
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Menschen, die sich bis zum Jahre 20 l 0 auf acht bis zehn Millionen verringert haben sollen). 135 c) Ein weiteres Problem ist das offensichtliche Auseinanderdriften der beiden Volkswirtschaften. Während Rußland mit großen Schwierigkeiten bei der Bewältigung seiner wirtschaftlichen Krise kämpft, scheint sich China relativ günstig zu entwickeln. Von vielen ausländischen Kapitalanlegern scheint China als einer der lohnendsten Märkte des nächsten Jahrhunderts angesehen zu werden. In einer Aufstellung der Zielländer fiir Direktinvestitionen im Jahre 1996 liegt China (42,3 Milliarden Dollar) an zweiter Stelle hinter den USA (84,6 Milliarden Dollar) aber mit großem Abstand vor den dann folgenden Ländern. Ein wirtschaftliches Auseinanderdriften der Länder würde den Handelsfluß zum Erlahmen bringen und damit auch alles weitere Interesse an einer politischen Zusammenarbeit mindern, was in Krisensituationen fatale Folgen haben könnte. Andererseits gibt es gerade in alleljüngster Zeit eine Annäherung der gegenseitigen Standpunkte: Präsident Jelzin hat bei seinem Besuch am 9. Dezember in Peking die Rückendeckung Chinas fiir die russische Tschetschenienpolitik gesucht und auch gefunden. Die immer drängender werdende Überlegenheit der USA - nicht zuletzt deutlich geworden in dem Engagement der NATO im Kosovo - sowie die Anstrengungen der Vereinigten Staaten selbst um den Preis der Abänderung der ABM-Verträge gegen Raketenangriffe unverwundbar zu werden, was das A~ schreckungspotential Rußlands (und wohl auch anderer Staaten) wirkungslos machen würde, hat alte Überlegungen zur strategischen Partnerschaft Rußlands und Chinas (neuerdings auch unter Einschluß Indiens) wieder aufleben las136 sen. 6. Indien
Zu Zeiten der Sowjetunion zwar nicht in direkter, wohl aber in naher Nachbarschaft gelegen, ist Indien heute durch das Entstehen der zentralasiatischen GUS-Staaten in weite Feme zu Rußland gerückt. Dennoch ist dieses Land auch weiterhin trotz der GUS-Staaten oder vielleicht gerade wegen dieser Staaten, die von Rußland als nahes Ausland bezeichnet werden, fiir Rußland von groJoachim Glaubitz, S. 529. Vgl. hierzu Ulrich Weiser, Gegen amerikanische Hegemonie, in; FAZ vom 11.12.1999, Sergej Rogow, Rußland braucht Verbündete im Westen, in: FAZ vom 20.12.1999 sowie Peter Scholl-Latour, Warum droht Rußlands Präsident dem Westen mit Atomraketen?, in: WAMS vom 12.12.1999. tH
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
ßem Interesse. Rußland galt lange Zeit als Indiens wichtigster Verbündeter137 und auch heute noch sind die Beziehungen zu Rußland besonders eng und freundschaftlich. Die Gründe hierfur liegen zum großen Teil in China, das lange Zeit von beiden als Rivale betrachtet wurde, von Indien in besonderem Maße auch wegen der demütigenden Niederlage im indisch-chinesischen Krieg im Jahre 1962 und der engen Verbindung zwischen China und Indiens ,,Erzfeind" Pakistan. Wenn auch Rußland heute für das in seinem Selbstbewußtsein gewachsene Indien weniger bedeutend ist als die Sowjetunion in früheren Jahren, so kann umgekehrt davon ausgegangen werden, daß Indien ftir Rußland auch auf lange Sicht von Bedeutung sein wird. Indien, das von der Bevölkerungszahl möglicherweise bald das volkreichste Land der Erde, China, einholen wird 138, ist dabei, den Status einer Weltmacht einzufordem. 139 Dabei ist neben dem militärisch bedeutsamen Rang einer neuen Atommacht140, den Indien im Frühjahr 1998 erlangte, vor allem seine wirtschaftliche Entwicklung von Bedeutung. Indiens Wirtschaftswachstum ist von 0,4 % 1990 auf6,6% 1997/98 gestiegen, es verfügt über einen relativ großen und gebildeten Mittelstand, eine festverankerte Marktwirtschaft und konnte sich bisher vorteilhaft von den krisengeschwächten Wirtschaften Ost- und Südostasien abheben.'4' In der bereits zitierten- vor der Asienkrise erstellten- Studie der Weltbank erlangt Indien für das Jahr 2020 den Platz der viertstärksten Wirtschaftsmacht hinter China, den USA und Japan.
7. Pakistan Die guten Beziehungen Rußlands zu Indien werfen gleichzeitig die Frage nach der Rolle Pakistans auf. Das islamische Land befindet sich seit seiner Gründung in einem Dauerkonflikt mit Indien, der mittlerweile zu drei Kriegen zwischen den beiden Ländern geführt hat und der jederzeit zu neuen Konflikten m Wemer Adam, Der falsche Kraftakt, in: FAZ vom 13.5.1998. m Klaus Natorp, Supermächte von morgen?, in: FAZ vom 4.3.1998. 139 Joachim Kraus, Die ,offene' Nuklearfrage. Nach dem Kernwaffenversuch Indiens und Pakistans, in: Internationale Politik, Juli 1998, Nr. 7, JG. 53, S. 49 ff. Zu der neu entstandenen Konstellation der Atommächte und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen vgl. Lothar Rühl, Verschiebung geopolitischer Erdschollen, Antiquiene Großmachtbeziehungen zwischen Washington, Moskau und Peking, in: FAZ vom 2.11.199. 140
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Rahul Peter, Das indische Kalkül scheint aufzugehen, in: FAZ vom 5.6.1998.
B. Die Interessenlage des Landes
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fuhren könnte. Nachdem nun Pakistan in unmittelbarem Anschluß an Indien ebenfalls Atommacht geworden ist, hat sich die Situation einerseits noch verschlimmert, da die Konsequenzen im Falle einer Auseinandersetzung katastrophal wären, andererseits aber auch verbessert, da die neue militärische Situation zu größerer Behutsamkeit auf beiden Seiten fuhrt. Pakistan hat in letzter Zeit durch zwei Aktionen eine neue Situation entstehen lassen: a) Einmal hat die Entwicklung der Atombombe offensichtlich zu Beifall und Genugtuung in der islamischen und arabischen Welt geftihrt, wo man von einer "islamischen Bombe" spricht, die eine Stärkung der islamischen und arabischen Welt bedeute. 142 b) Zum anderen hat Pakistans Unterstützung der afghaniseben Taliban fur Unruhe in der gesamten Region gesorgt und vor allem den Iran auf den Plan gerufen. Es wird auch befurchtet, daß die Taliban nach einer Eroberung ganz Afghanistans in ihrem missionarischen Eifer Unruhe in die zentralasiatischen Republiken tragen könnten, womit russisches Interesse unmittelbar berührt wäre. Das Interesse Pakistans scheint dagegen mehr wirtschaftlicher Natur zu sein: mit Afghanistan zusammen könnte es dem rohstoffreichen zentralasiatischen Republiken einen Zugang zum Indischen Ozean verschaffen. 143
8. Afghanistan Der Eroberungszug der von Pakistan unterstützten Taliban in Afghanistan hatte, nachdem es nach der Einnahme der Stadt Mazar-i-Scharif zur Ermordung iranischer Diplomaten gekommen war, die Region an den Rand eines iranischafghaniseben Krieges gebracht. In diesen Auseinandersetzungen geht es um religiöse (Schiiten gegen Sunniten), ethnische (von Indien unterstützte Tadschiken gegen von Pakistan unterstützte Paschtunen), aber auch um wirtschaftliche Hintergründe (Bau einer Öl- und Gasleitung von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan und
142 Wolfgang Köhler hat in einem Anikel in der FAZ vom 9.7.1998 ein Katastrophen-Szenarium beschrieben, wie es sich aus der Existenz der pakistanischen Bombe ergeben könnte. Vgl. Wolfgang Köhler, Ein Katastrophen-Szenarium. Nach den Atomversuchen Indiens und Pakistans fürchten viele ein Wettrüsten im Nahen Osten, in: FAZ vom 9.7.1998. 143 Khalid Duran, Krieg der Gottesstaaten, in: FAZ vom 8.9.1998. Nach Analyse des Autors will der saudi-arabische Konzern Unreal eine Öl- und Gasleitung von Turkmenistan quer durch Afghanistan nach Pakistan legen, von wo aus dann die Verschiffung erfolgen soll.
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von dort an den Indischen Ozean oder Bau der gleichen Leitung durch Per. ) 144 s1en. Khalid Duran hat in seinem Artikel ,,Krieg der Gottesstaaten" darauf hingewiesen, daß sich hier zwei Koalitionen einander gegenüberstehen. Auf der einen Seite Pakistan mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten, auf der anderen Seite Iran mit Indien und Rußland (plus Usbekistan und Tadschikistan). 145 Man wird allerdings Zweifel daran haben können, ob diese Koalition in dieser Form noch besteht, nachdem sich herausgestellt hat, daß Afghanistan offenbar gegen die USA gerichtete Terrororganisationen unterstützt, indem es ihnen Unterschlupf gewährt. 146
9. Iran Die Auseinandersetzung von Afghanistan und die dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen haben zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Rußland und dem Iran geflihrt. Allerdings besteht diese Zusammenarbeit schon länger. Beide Staaten haben auf der Suche nach Verbündeten ihre gemeinsamen Interessen entdeckt. Dementsprechend gibt es bereits seit längerem eine Zusammenarbeit in vielen Bereichen wie z.B. beim iranischen Rüstungsprogramm, beim Bau von Atomreaktoren im Iran oder beim Bau eines gemeinsamen Hafens im Mündungsgebiet der Wolga am Kaspischen Meer. 147 Ein Beispiel des guten Einvernehmens Rußlands mit dem Iran hat der Besuch des russischen Außenministers lwanow in Teheran Ende November 1999 gezeigt, bei dem dieser flir Verständnis der iranischen Seite flir die russische Tschetschenienpolitik warb. Die Zurückhaltung des "profiliert" islamischen Irans in der Tschetschenienfrage ist auffallend.
10. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Die Entwicklung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten läßt sich flir den Zeitraum von 1988 bis 1998 grob in folgenden fiinfEtappen darstellen:
144 Khalid Duran, Krieg der Gottesstaaten, in: FAZ vom 8.9.1998. Wemer Adam, Der unendliche Krieg am Hindukusch, in: FAZ vom 1.8.1998. us Khalid Duran, a.a.O. 146 Khalid Duran, Vieles deutet auf die ,arabischen Afghanen', in: FAZ vom 11.8.1998. 147
Meldung der FAZ vom 12.9.1997.
B. Die Interessenlage des Landes
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a) Die Vorgeschichte (1988 bis 1991) Im Rahmen der Politik von Perestroijka (Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft) und Glasnost (größere Offenheit und Transparenz) setzte ein neues Denken bei den Völkern der ehemaligen Sowjetunion ein, mit dem eine Rückbesinnung auf die Zeit vor ihrer Zugehörigkeit zur Sowjetunion verbunden war. Dies führte dazu, daß in der Zeit zwischen Herbst 1988 und Frühjahr 1990 alle Sowjetrepubliken ihre Souveränität erklärten. Die Souveränitätserklärung bedeutete noch keine Lösung von Moskau wohl aber eine Betonung der Eigenständigkeit in wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Hinsicht. 148 Ihren Höhepunkt fand die Entwicklung mit der Erklärung des Obersten Rates der Republik Litauen, wonach die souveräne Staatsmacht des litauischen Staats, die 1940 durch fremde Gewalt unterbrochen wurde, wiederhergestellt sei, was soviel bedeutete wie daß Litauen fortan nicht mehr Teil der Sowjetunion sei. Der Versuch, der sich anbahnenden Entwicklung durch die Schaffung einer neuen Unionsverfassung mit größeren Rechten für die Republiken entgegenzuwirken, scheiterte.
b) Die Auflösung der Sowjetunion ( 1991) Im August 1991 ( 18. bis 21. August) kam es zu einem Putsch, der den Zerfall der Sowjetunion verhindem sollte, ihn in Wirklichkeit jedoch beschleunigte. Am 21. August erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit, und im August und September folgten ihr alle Sowjetrepubliken mit Ausnahme Kasachstan, das erst am 16. Dezember 1991 seine Unabhängigkeit erklärte. Schon einige Tage vorher (am 8. Dezember 1991) hatten sich die Staatsoberhäupter von Rußland, der Ukraine und Weißrußlands getroffen und zu Protokoll gegeben: ,.Wir, die Republik Belarus, die Russische Föderation und die Ukraine als Mitbegründerstaalen der Union der SSR. die den Unionsvertrag von 1922 unterzeichnet hatten, konstatieren, daß die Union der SSR als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität autbört zu existieren. Die Tätigkeit der Organe der früheren Union wird eingestellt."
148 Adolf Karger, Rußland und der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in Konfliktpotentiale im Bereich der ehemaligen Sowjetunion, Landeszentrale fiir politische Bildung Baden-Würtemberg, Heft 2-3, Juni/Juli 1995, 45. Jahrgang, S. 71 ff. In diesem Zusammenhang sei auch verwiesen auf Carol Skalnik Lejf. Democratization and Disintegration in Multinational States. The Breakup of the Communist Federations, in: World Politics. A Quarterly Journal of International Relations. Baltimore, Vol. 51. No 2, January 1999, S. 205 ff. und Karen Dawisha/Bruce Parrott (Hrsg.): The End of the Empire: The Transformation of the USSR in Comparative Perspective. Armonk, N.Y. 1997.
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Die drei Staaten wollten keinen gemeinsamen Staat mehr, wohl aber eine Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, deren Zweck darin bestand, sich zusammen der "Formierung und Entwicklung des gemeinsamen Wirtschaftsraumes sowie des europäischen und eurasischen Marktes, der Zoll- und Migrationspolitik, der Entwicklung von Systemen im Verkehrs- und Nachrichtenwesen, dem Umweltschutz und der ökologischen Sicherheit, sowie der Bekämpfung der organisierten Kriminalität"
zu widmen. 149 Zwei Wochen später (am 21.12.1991) kam es in Alma Ata, der Hauptstadt Kasachstans, zu einer ,,zweiten Stufe des Gründungsakts" der GUS. Vertreten waren mit Ausnahme der baltischen Staaten alle ehemaligen zwölf Sowjetrepubliken. Die Erklärung von Alma Ata wurde von elf Staatsoberhäuptern (Georgien war nur als Beobachter vertreten) unterzeichnet.
c) Die Strukturierung der GUS und der Versuch einer engeren Zusammenarbeit ( 1992-1997) In den folgenden Jahren wurde mehrfach (und mit unterschiedlichen Partnern) der Versuch gemacht, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten stärker zu strukturieren und zu festigen. Die einzelnen Etappen dieses Versuchs lassen sich wie folgt umschreiben: Auf dem Gipfeltreffen vom 22. Januar 1993 in Minsk wurde eine Charta vorgelegt, die die Rechts- und Vertragsgrundlage für die Zusammenarbeit zwischen den GUS-Staaten bilden sollte. Sie beschreibt Ziele und Grundsätze, regelt die Zusammenarbeit und sieht folgende Institutionen vor: -
Rat der Staatsoberhäupter,
-
Rat der Regierungschefs,
-
Rat der Minister fiir auswärtige Angelegenheiten,
-
Koordinierungs- und Beratungsausschuß,
-
Rat der Verteidigungsminister,
-
Rat der Oberbefehlshaber der Grenztruppen,
-
Wirtschaftsstelle,
-
Fachorgan der Zusammenarbeit.
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Karger, a.a.O.
B. Die Interessenlage des Landes
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Die Schwierigkeiten, die die vertiefte Integration mit sich bringen würde, wurdenjedoch bereits bei dem Treffen in Minsk deutlich: Von den elf Staaten, die die Erklärung von Alma Ata unterzeichnet hatten (Georgien gehörte nicht dazu) waren nur zehn Staaten in Minsk anwesend (Aserbaidschan fehlte). Drei Staaten (Ukraine, Moldawien und Turkmenistan) weigerten sich, die Charta zu unterzeichnen, wollten allerdings Mitglied der GUS bleiben. Die übrigen sieben teilnehmenden Staaten unterzeichneten, wobei allerdings nur zwei (Rußland und Kasachstan) sich mit dem ursprünglichen Dokument einverstanden erklärten. Neben der genannten Charta, die wie bereits bemerkt, den rechtlichen Rahmen ftir die Zusammenarbeit der GUS-Staaten bilden sollte, sind noch zwei weitere Vertragswerke von Bedeutung, vor allem deshalb, weil sie aufzeigen, in welche Richtung die Zusammenarbeit der GUS-Staaten gehen sollte: -
Das Abkommen über die strategischen Streitkräfte und das Abkommen über Streitkräfte und Grenztruppen. Beide Abkommen wurden am 30. September 1991 von den elf ursprünglichen Mitgliedsstaaten der GUS unterzeichnet. Die Chancen ftir eine erfolgreiche Integration im militärischen Bereich werden allerdings als nicht allzu günstig angesehen.
-
Das zweite wichtige Vertragswerk ist der Vertrag über die Gründung einer Wirtschaftsunion vom 24. September 1993 150, die aber keine konkreten Formen annehmen konnte.
Die im März 1996 zwischen Rußland, Kasachstan, Weißrußland und Kirgistan versuchte Neuauflage einer Zoll- und Wirtschaftsunion konnte sich ebenfalls nicht zur Zufriedenheit der Beteiligten entwickeln. 151 Das Dilemma Rußlands im Verhältnis zu den übrigen GUS-Staaten macht Andrej Kortunow in seinem Aufsatz ,,Zwischen Imperium und Weltharmonie, Rußland und das ,Nahe Ausland'., deutlich 15\ wo er ausfUhrt, daß die Haltung Rußlands gegenüber den frühen Sowjetrepubliken von drei unterschiedlichen Ansätzen geprägt sei, die sich teilweise diametral entgegenstünden: -
dem Konzept einer ,,Eurasischen Konföderation",
-
der Idee eines neuen .,rußländischen Reiches" und
-
der Versuchung des Isolationismus.
150 So die von der Generaldirektion Wissenschaft des Europäischen Parlaments ausgearbeitete Aufzeichnung über die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten vom 27.2.1997, s. 7. 151 Rußland unzufrieden mit Wirtschaftsunion, in: Luxemburger Wort vom 23.10. 1997. 112 Andreij Kortunow, Zwischen Imperium und Weltharmonie, Rußland und das Nahe Ausland, Internationale Politik, Heft 111997, S. 9 ff, S. 15.
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Kortunow plädiert selbst ftir eine vierte Variante, das Prinzip des ,,selektiven Engagements", und ftihrt dann aus: 153 "Politiker und Wissenschaftler haben bisher eine derartige Strategie der Rußländischen Föderation auf dem Territorium der früheren Sowjetunion noch nicht ausformuliert. Diese Strategie macht Anleihen an den drei oben dargestellten Vorgehensweisen der ,eurasischen Konföderation ' dem ,Rußländischen Imperium' und dem Isolationismus. Die Grundannahme des selektiven Engagements unterscheidet sich jedoch deutlich von diesen Vorgehensweisen. , Selektiv' zu sein heißt, verschiedene Regeln in verschiedenen Situationen anzuwenden, sich jeder universalen Vorgehensweise zu enthalten, auf allgemeine Regeln zu verzichpten. Befurworter des ,selektiven Engagements' gehen von der Annahme aus, daß die russischen Ressourcen nicht dafür ausreichen, das Rußländische Imperium wiederzuerrichten oder ein verläßliches kollektives Sicherheitssystem auf dem Territorium der früheren Sowjetunion aufzubauen. Andererseits kann sich Rußland auch keine isolationistische Politik leisten. Daher bedeutet die Strategie des ,selektiven Engagements', angewandt auf die neuen Nachbarstaaten Rußlands, zuallererst, daß anstelle eines festen Systems von politischen, wirtschaftlichen, militärischen und anderen Regeln für das Territorium der früheren UdSSR zahlreiche regionale und subregionale Arrangements mit unterschiedlichen Graden russischer Beteiligung getroffen werden." Kortunows Anfang 1997 veröffentlichten Überlegungen kommen der Ende 1998 bestehenden -und sich in Zukunft wohl noch verfestigenden - Situation sehr nahe, wobei allerdings abzuwarten bleibt, ob und wie weit der Krieg in Tschetschenien die Nachbarstaaten Georgien und Aserbaidschan berühren wird. Doch zurück zu den einzelnen zentralasiatischen GUS-Republiken und ihren Beziehungen zu Rußland.
11. Die zentralasiatischen GUS-Republiken Die Entstehung der ftinf zentralasiatischen Republiken ist zu sehen im Zusammenhang mit der durch die Sowjetunion vorgenommenen Auflösung des Begriffs Turkestan (= das Land der Türken). Aus Nordturkestan wurde Kasachstan, aus Südturkestan die Sowjetrepubliken Turkmenistan (gegründet 1924), Usbekistan (1924), Kirgistan (1926) und Tadschikistan (1929). 154 Die bei weitem größte dieser Republiken ist Kasachstan mit 2, 171 M io. qkm (sechsmal größer als Deutschland), aber mit nur 17 Millionen Einwohnern. 1993 waren davon 42,8 % Kasachen und 36,8 % Russen. Das Land ist reich an Bodenschätzen (keine der anderen GUS-Republiken außer Rußland verfügt über m Andreij Kortunow, S. 15. Adolf Karger, Die mittelasiatischen GUS-Republiken. Konfliktpotentiale im
1 s4
Bereich der ehemaligen Sowjetunion, in: Der Bürger im Staat, 45. Jhg. Heft 2-3, Juni-Juli 1995, S. 71.
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so große Reserven an Bodenschätzen): Eisenerz, Kohle, Edel- und Buntmetalle (Kupfer, Zinn, Zink, Gold, Silber), Bauxit, Salze, vor allem aber Erdöl (in der kaspischen Senke). Von der Bevölkerungszahl her größer ist mit 21 ,2 Millionen Einwohnern (die Fläche entspricht der Schwedens) Usbekistan mit der Hauptstadt Taschkent. 71 % der Bevölkerung sind Usbeken, 8 % Russen (Stand 1989). Usbekistan ist in erster Linie ein Agrarland (vor allem Baumwolle). Es besitzt aber auch Bodenschätze, vor allem Erdgaslager, dann Erdöl, Braunkohle und Edelmetalle. Weiter südlich liegt das wohl bekannteste Land dieser Gruppe: Turkmenistan. Von der Größe her etwas kleiner als Spanien hat es nur etwa vier Millionen Einwohner (Stand 1992), davon 72 % Turkmenen, 9,4 % Russen und 9 % Usbeken (Stand 1989). Turkmenistan ist reich an Erdöl (Kaspisches Meer) und Erdgas (Wüste Karakum). Es wird allgemein von zu erwartenden bedeutenden Funden ausgegangen. Das östlich gelegene Kirgistan mit 4,5 Millionen Einwohnern und einer Fläche, die etwa der Norwegens entspricht, gilt als das vom demokratischen Reformprozeß her gesehen am weitesten fortgeschrittene Land. Es ist nicht so reich wie die beiden vorgenannten Länder, besitzt aber auch Bodenschätze (Ferganabecken) wie Kohle, Erdgas, Quecksilber, Schwefel, vor allem aber Gold. An Kirgistan schließt südlich Tadschikistan an, von der Fläche her so groß etwa wie Österreich und die Schweiz zusammen, mit etwa 5,5 Millionen Einwohnern, die aber infolge des lang anhaltenden Bürgerkrieges erheblich abgenommen haben dürfte. Bei der letzten Volkszählung ( 1989) bestand die Bevölkerung zu 62 %aus Tadschiken, 23,5 % Usbeken und zu 7,6 %aus Russen. Tadschikistan ist ein Agrarland (vor allem Baumwolle) ohne nennenswerte Bodenschätze. Tadschikistan weist im Verhältnis zu allen anderen genannten Republiken eine Besonderheit auf: die Landessprache hat nicht eine Nähe zum Türkischen, sondern zum Persischen. Will man die Situation der zentralasiatischen Republiken näher charakterisieren, so sind es vor allem zwei Aspekte, die eine entscheidende Rolle spielen: (1)
Das erwartete reiche Reservoir an Erdöl und Erdgas, von dem man um das Kaspische Becken (vor allem in seinem südöstlichen und südwestlichen Teil) ausgeht und die damit verbundene neue geostrategische Bedeutung der Region.
(2) Die Mitgliedschaft in der GUS und das damit verbundene Verhältnis zu Rußland. Die drei Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres, die am meisten von den erwarteten Erdöl- und Erdgasfunden profitieren würden, sind Turkmenistan, Ka-
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sachstan und Aserbaidschan. Das genaue Ausmaß des zu etwartenden Reservoirs ist noch nicht bekannt. Man stützt sich im wesentlichen auf Schätzungen. Auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung Anfang 1998 in Berlin wurden anhand der wichtigsten internationalen Studien zu dieser Frage wahrscheinliche Erdölreserven von zehn Milliarden Tonnen genannt, was etwa 7,5 % der heute gesicherten Weltvorräte entspräche. 155 Allerdings schwanken die Schätzungen. Von anderer Seite werden auf Schätzungen von Mengen um 10 bis 25 Milliarden Tonnen vetwiesen. 156 Trotzdem relativiert sich diese Menge, wenn man sie mit den Reserven der Golfregion (85 Milliarden Tonnen) vergleicht, was die OPEC zu der Feststellung brachte, daß diese Region wohl auf absehbare Zeit der Hauptlieferant für Europa und Japan bleiben werde. 157 Die auf mehr als 17 Billionen Tonnen geschätzten Erdgasvorräte, von denen gut die Hälfte allein Turkmenistan zugerechnet werden, machen nach dieser Rechnung rund 13% der bekannten Weltreserven aus. Für das Jahr 2010 wird eine Erdölförderung im kaspischen Becken von maximal 3,5 Millionen Faß je Tag vorausgesagt. 158 Das wäre allerdings kaum mehr als die Hälfte dessen, was 1996 in Notwegen und Großbritannien gefordert worden ist. 159 Da jedoch fast alle Erdölvorkommen der Welt in sog. politisch kritischen Zonen liegen, ist vor allem für die hochentwickelten Industriestaaten, die zum Teil nicht selber über ausreichende Ölvorkommen verfugen, eine möglichst große Diversifizierung notwendig, was jedes Vorkommen bedeutend werden läßt. Auf der anderen Seite verheißen die genannten Bodenschätze ftir die Region selbst beträchtliche Entwicklungschancen. Der Wert der gesicherten Ölvorkommen in den drei Anrainerstaaten wird nach gegenwärtigen Preisen ( 1998) auf eine Billion Dollar geschätzt, was mehr als das Vierzigfache des Bruttosozialproduktes der drei genannten Staaten ausmacht. Eine ähnliche Lage ergibt sich bei den Erdgasvorräten. 160 Hinsichtlich der Erdöl- und Erdgasreserven der Anrainer des Kaspischen Meeres stellte sich bis vor kurzem eine zentrale Frage von besonderer Wichtigkeit, die Frage näm•ss Meldung der FAZ vom 20.8.1997.
s So Curt Gasteyger (Direktor des Programms für Studien in Strategie und Internationaler Sicherheit (PSIS) am Genfer Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales), Zentralasien im Widerstreit. Worauf sich amerikanische, europäische und asiatische Interessen richten, in: FAZ vom 9.10.1997. 157 Gasteyger, a.a.O. 1s8 Werner Adam, Reich an Chancen und Konflikten. Am Kaspischen Meer geht es um Geostrategie und Energie-Transit, in: FAZ vom 29.1.1998. 159 Wemer Adam, a.a.O. 160 Werner Adam, a.a.O. 1 6
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lieh, wem diese Reserven gehören. Die Antwort hängt vom Status des Kaspischen Meeres ab. 161 Handelt es sich um einen See, so müßten sich die Anrainer die Gewinne aus dem Verkauf der Energievorkommen teilen. An einer solchen Lösung war vor allem Rußland aber auch dem Iran gelegen, vor dessen Küste kaum Rohstoffe liegen. Handelt es sich dagegen um ein Meer, so würden Öl und Gas dem jeweiligen Anrainer zustehen, eine Lösung, für die sich vor allem die drei mit Bodenschätzen reich gesegneten Anrainer Kasachstan, Turkmenistan und Aserbaidschan einsetzten. In dieser Frage ist es zu einer vorläufigen (möglicherweise endgültigen) Entscheidung gekommen: Im April 1998 unterzeichneten die Präsidenten von Rußland und Kasachstan eine Erklärung, nach der sich beide Anrainer über die Aufteilung des nördlichen Teils des Kaspischen Meeres weitgehend geeinigt haben. Diese Erklärung, die ein Abrücken Moskaus von seiner ursprünglichen Position bedeutet, zeigt zugleich, daß Rußland seine Interessen in Zentralasien und im Kaukasus (Aserbaidschan war schon früher aus der gemeinsamen Linie . • durchsetzen kann. 163 ausgeschert) 162 tmmer wemger Da der kaspische Raum keinen direkten Zugang zum Meer hat, gibt es eine zweite Frage von wirtschaftlicher und auch politischer Bedeutung: die Frage des Transits, die zum Gegenstand sehr unterschiedlicher Interessen der Nachbarländer geworden ist, die allesamt große Hoffnungen auf die zu erwartenden Transitgebühren setzen. Führt man die geplanten Trassen auf, so wird schnell deutlich, welche geostrategischen Interessen angesprochen werden und welche möglichen Konfliktpotentiale sich aufzeigen. Folgende (mögliche) Trassen sind in der Diskussion: ( 1) Die bereits bestehende ,.aserbaidschanisch-russische" Trasse. Sie fuhrt von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, bis zum russischen Hafen Noworossijsk im Schwarzen Meer. Sie hat den Nachteil, durch das politisch unsichere Tschetschenien zu führen. (2) Die bestehende ,,russisch-kasachstanische" Trasse. Diese führt von den Tengisölfeldem in Kasachstan um die Nordhälfte des Kaspischen Meeres herum und verbindet sich etwa in der Höhe Tschetscheniens mit der ,.aserbaidschanisch-russischen" Trasse, um ebenfalls in Noworossijsk zu enden. Hier ist eine
161 J. Hartmann, Der Kampf der Giganten um Öl und Gas. Knotenpunkt Kaspisches Meer: USA und Rußland bemühen sich um Einfluß, in: Die Welt vom 28.11.1997. 162 Einigung über Kaspische Meeresgrenze, in: FAZ vom 7.7.1998. Zum rechtlichen Status des Kaspischen Meeres vgl. Andreas Heinrich, Der ungeklärte Status des Kaspischen Meeres, in: Osteuropa. Zeitschrift fiir Gegenwartsfragen des Ostens, 7/99, S. 671 ff. 163 Einigkeit über den Status des Kaspischen Meeres, in: FAZ vom 28.4.1998.
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Abkürzung geplant164, die nicht nur die Entfernung verkürzt, sondern auch eine größere Sicherheit aufweist und die eine "Entschädigung" Kasachstans fiir Rußland ftir die getroffene Aufteilung der Ölvorkommen darzustellen scheint. 165 (3) Die Rekonstruktion der "georgischen" Trasse. Sie führt durch Asemaidscban zum georgischen Hafen Supsa am Schwarzen Meer. Sie würde das unsichere Tschetschenien vermeiden, würde Georgien Vorteile bringen, dadurch aber gleichzeitig die Trasse Baku-Noworossijsk an Bedeutung verlieren lassen und damit die Position Rußlands schwächen. Die dadurch entstehenden Konflikte zwischen Rußland und Georgien ftihrten dazu, daß der georgische Staatspräsident Schewardnadse beim letzten gegen ihn gerichteten Attentat öffentlich von Moskauer Motiven sprach. 166 Außerdem hat diese Trasse den Nachteil, daß der Weitertransport durch den Bosporus führen würde, was Schwierigkeiten mit der Türkei bringen könnte. 167 (4) Die "türkische" Trasse (1700 km lang). Sie bildet eine Abzweigung der georgischen Trasse und fUhrt über Armenien an den türkischen Hafen Ceyhan im Mittelmeer. Sie hat den Vorteil, den Bosporus zu entlasten, und stößt auch auf Interesse bei den Amerikanern, weil damit Rußland und der Iran umgangen werden. 168 (5) Die "aserbaidschanisch-persische" Trasse. Sie führt von Baku über Täbris in das bereits bestehende persische Rohrleitungsnetz und von dort an den persischen Golf. Diese Trasse ist die entfernungsmäßig kürzeste Trasse, bringt aber den Unsicherheitsfaktor Iran mit sich. Außerdem dient sie nicht dem Prinzip der Diversifizierung. (6) Die .,turkmenisch-persisch-türkische" Trasse. Ihre Planung (Kosten: I ,5 Milliarden Dollar) 169 ist neueren Datums; die Tatsache, daß die Amerikaner dieser Planung offener gegenüberstehen, hängt einerseits mit dem gewandelten persisch-amerikanischen Verhältnis, andererseits mit offensichtlich vorhandenem Druck amerikanischer Firmen zusammen. 170
J. Hanmonn, a.a.O. Jens P. Dorner, Katerstimmung am Kaspischen Meer. Russisch-kasachischer Ölpakt verstärkt den internationalen Handlungsdruck, in: Luxemburger Wort vom 8.7.1998. 166 Jens P. Dorner, a.a.O. 167 Werner Adam, Eine Mißtrauensgemeinschaft, in: FAZ vom 6.3.1998. 168 Werner Adam, a.a.O. 16• J. Hartmonn, a.a.O. 170 J. Hartmonn; vgl. auch Christiane Hoffmann, Öl, Gas und immer wieder Krieg: Amerika, Europa, das Kaspische Meer, in: FAZ vom 27.6.1998. 164 165
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(7) Die .,pakistanisch-afghanische" Trasse. Sie würde von Turkmenistan über Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean fuhren. Sie hätte den Vorteil, der Versorgung des energiearmen indischen Subkontinents dienen zu können, wäre allerdings mit dem Nachteil behaftet, auf das politisch unsichere Afghanistan angewiesen zu sein (vgl. hierzu auch die Ausftihrungen im vorausgegangenen Kapitel zu Indien, Pakistan, Persien und Afghanistan). (8) Die .,chinesische" Trasse. Diese würde von den Tengis-Feldem in Kasachstan nach China fuhren. Die 3000 km lange Trasse, die den Namen ,,Friedenspipeline" tragen soll, wurde vom kasachischen Präsidenten mit Peking vereinbart und soll der Versorgung des chinesischen Marktes dienen. Zu denken wäre auch, daß sie zum Pazifischen Ozean fuhren könnte, um dort zusätzlich der Versorgung Japans und Südkoreas zu dienen. China ist von Kasachstan als Absatzmarkt aber auch als Transitland fur seine Erdölexporte entdeckt worden.171 Der Weg von Kasachstan zu den chinesischen Häfen beträgt 3500 km, zu den russischen Pazifikhäfen 8500 km. (9) Die ,,kasachisch-aserbaidschanische" und die .,turkmenisch-aserbaidschanische" Trasse. Diese Trassen verlaufen auf dem Grund des Kaspischen Meeres, werden von amerikanischer Seite propagiert und dienen vor allem dem Abtransport kasachischen und turkmenischen Erdöls unter Vermeidung des Transfers durch russisches und persisches Gebiet. 172 Inzwischen hat Rußland nach Meinung politischer Kommentatoren eine erste strategische Niederlage beim Pokern um die geeignetste Trasse verloren: 173 Zum Auftakt der Konferenz ftir Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Istanbul wurden am 18. November 1999 mehrere Verträge über den Bau einer Ölpipeline von Baku in Aserbaidschan bis zum türkischen Mitleimeerhafen Ceyhan sowie über das Projekt einer transkaspischen Gaspipeline von Turkmenistan in die Türkei unterzeichnet. Beteiligt an diesem Vertragswerk waren die Präsidenten Georgiens, Aserbaidschans, der Türkei und der USA sowie die Präsidenten Turkmenistans und Kasachstans. Die Vorgänge belegen eine Stärkung der beteiligten Staaten, soweit es die wirtschaftliche Präsenz im Kaukasus betrifft und gleichzeitig eine Schwächung Rußlands und (in geringerem Maße, da weniger aussichtsreich) des Iran.
Asehot Manutscharjan, Außenpolitik und Islam, in: FAZ vom 2.9.1998. Christiane Hoffmann, Öl, Gas und immer wieder Krieg. m Mallhias Rüb, Die sanfte Überzeugungskraft des Geldes. Die Verträge über Gasund Öllieferungen durch den Kaukasus bedeuten für Rußland eine strategische Niederlage, in: FAZ vom 20.11.1999. 171
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Die Darstellung der Vielzahl von bestehenden und geplanten Trassen zeigt nicht nur das große wirtschaftliche Interesse am Rohstoffreservoir des Kaspischen Meeres, sondern auch die Verwicklung zahlreicher Staaten in die mit der Nutzung des Reservoirs verbundenen Überlegungen. Es zeigt auch zugleich die Präsenz des Engagements der beteiligten Staaten und die bedrohliche Konkurrenz, die Rußland in einem Gebiet erhalten hat, in dem es früher uneingeschränkter Herrscher war. Einer der Trümpfe, die Rußland möglicherweise noch hat, ist die Zugehörigkeit aller Anrainerstaaten (mit Ausnahme Persiens) zur GUS, der Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Es wird für die Position Rußlands in Zukunft wesentlich darauf ankommen, wie eng die Beziehungen innerhalb dieser Gemeinschaft sind. Es soll deshalb im folgenden untersucht werden, wie eng diese Beziehungen zu den einzelnen Staaten zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind:
a) Kasachstan Kasachstan war von allen zentralasiatischen GUS-Staaten wohl am meisten an einer engen Zusammenarbeit mit Rußland interessiert. Dieses Interesse, das nicht zuletzt auch durch die lange gemeinsame Grenze mit Rußland sowie die zahlenmäßig beträchtliche russische Minderheit bedingt ist, zeigten sich u.a. in dem 1995 anläßlich des GUS-Treffens in Alma Ata vorgelegten Plans einer eng verbundenen ,,Euro-Asiatischen-Union" sowie in der Beteiligung an der im März 1996 abgeschlossenen Wirtschaftsunion mit Rußland, Weißrußland und Kirgistan (Vier-Staaten-Vertrag). In jüngster Zeit ist allerdings eine Umorientierung - wohl auch bedingt durch die geringen Fortschritte der genannten Zusammenschlüsse- zu einer engeren Zusammenarbeit der zentralasiatischen GUS-Republiken zu beobachten. So haben Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan eine zentralasiatische Wirtschaftsunion gebildet, für die sie auch Turkmenistan und Tadschikistan gewinnen möchten.
b) Usbekistan Usbekistans Interesse an einer Zusammenarbeit mit Rußland ist eher bilateraler Art. Im Oktober 1998 wurde ein Zehnjahresvertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeschlossen, wobei das Hauptinteresse aber weniger wirtschaftlicher als militärischer Art ist. Angesichts des Vormarschs der Taliban in
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Afghanistan haben sich Rußland, Usbekistan und Tadschikistan zu gegenseitiger militärischer Hilfe gegen Gefahr von außen verpflichtet. 174
c) Kirgistan Das wirtschaftlich weniger bedeutende Kirgistan gehört wie Kasachstan zu den Staaten, die eine enge Integration innerhalb der GUS-Staaten und mit Rußland anstreben (Vier-Staaten-Vertrag). Gleichzeitig ist man an einer engen Integration im zentralasiatischen Bereich interessiert. d) Turkmenistan Diese wirtschaftlich wohl stärkste zentralasiatische GUS-Republik - als einzige GUS-Republik gegenüber Rußland nicht Schuldner sondern Gläubiger ist von allen zentralasiatischen Republiken am wenigsten an einer verstärkten GUS-Integration interessiert. Die wirtschaftliche Stärke des Landes (Erdöl und Erdgas) macht das Land relativ unabhängig und erklärt die eher reservierte Haltung. e) Tadschikistan Tadschikistan ist durch die innere Unsicherheit des Landes an einer engen Bindung an Rußland interessiert. Russische Truppen schützen die Grenzen des Landes, die zu russischen Grenzen erklärt wurden. Die Bindung an Rußland ist eng, wobei Tadschikistan schon aus militärischen Gründen auf Rußland angewiesen ist. 175 t) Fazit
Für die GUS-Republiken in Zentralasien insgesamt läßt sich somit feststellen: - je stärker die eigene Wirtschaftskraft, desto geringer das Interesse an einer engen Bindung an Rußland, i.a.W.: der Wille zu einer engen Bindung an Rußland ist umgekehrt proportional zu der Wirtschaftskraft des Landes, Meldung der FAZ vom 13.10.1998. Vgl. Asehot Manutscharjan , Tadschikistan bleibt auf Rußland angewiesen, in : FAZ vom 9.10.1998. 174
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einzelne Länder bleiben aufRußland (Tadschikistan, Kirgistan) angewiesen, wobei dies allerdings zugleich eine Belastung flir Rußland darstellt,
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der Trend geht hin zu einer Integration innerhalb der zenttalasiatischen Staaten (ohne Rußland). 176 12. Die kaukasischen GUS-Republiken und der russische Nordkaukasus
Das ftir Rußland schwierigste Kapitel in seiner unmittelbaren südlichen Nachbarschaft stellt der Kaukasus dar. Es ist dabei zunächst zu unterscheiden zwischen dem zur früheren UdSSR gehörenden Raum südlich des Kaukasus, in dem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drei Republiken: Armenien, Aserbaidschan und Georgien entstanden sind, und dem zu Rußland gehörenden Nordkaukasus. a)Armenien Mit 3,6 Millionen Einwohnern das ethnisch homogenste Land der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und einer Fläche von 29.800 km 2 der kleinste sowjetische Nachfolgestaat Armenien gilt als Industriestaat (in sowjetischer Zeit wurde das Bruttosozialprodukt zu 40 % durch industrielle, zu 30 % durch landwirtschaftliche Produktion geprägt). Seine Bindung an Rußland ist wirtschaftlich (Abhängigkeit vor allem im Energiesektor) und politisch besonders eng. Armenien gilt neben Weißrußland und Tadschikistan als einer der Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, die sich besonders loyal gegenüber Rußland verhalten. Seine geopolitische Lage ist heikel: mit seinem Nachbarn im Osten - Aserbaidschan -bestehen Spannungen wegen des Berg-Karabach-Konflikts, mit seinen Nachbarn im Westen- der Türkei- wegen der Frage der Verantwortlichkeit flir den Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915. Der unmittelbare Nachbar im Norden, Georgien, ist durch seine eigenen Schwierigkeiten belastet. Lediglich zum südlichen Nachbarn - Iran - bestehen gute Beziehungen, die vor allem den wirtschaftlichen Austausch betreffen. Diese äußerst schwierige geopolitische Lage des Landes macht seine Anlehnung an Rußland verständlich, was allerdings Rußland seinerseits in ein Spannungsverhältnis zur Türkei und Aserbaidschan bringt. In jüngster Zeit hatte 176 Christiane Ho.ffmann, Unter dem Dach der GUS führen die GUAM und eine zentralasiatische Union ihr Eigenleben, in: FAZ vom 23.1.1998.
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sich die Situation geringfügig verändert. Anlaß hierfür war die geplante Pipeline von Baku durch Armeoien zum türkischen Hafen Ceyhan. Die sich damit für Armeoien ergebende Möglichkeit, einerseits seine Abhängigkeit im Energiebereich von Rußland zu mildern, andererseits an den Transfereinnahmen teilzuhaben, hat eine leichte Entspannung zur Türkei und Aserbaidschan gebracht, könnte aber auch zu einer Entfernung von Rußland und zu Mißstimmigkeiten mit dem Iran fuhren. 177 Nach der Emordung des armenischen Ministerpräsidenten Sarkisjan Ende Oktober 1999 wäre es allerdings verfrüht, eine Prognose über die zukünftige Politik Armeniens zu erstellen. b) Aserbaidschan Aserbaidschan (7,4 Millionen Einwohner, 86.000 km 2) gehört zu den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, für die wegen ihrer Erdölvorkommen (real und geschätzt) eine wirtschaftlich günstige Zukunftsperspektive angenommen wird. Ähnlich wie Turkmenistan hat es deshalb bisher weniger Interesse an einer engen Zusammenarbeit innerhalb der GUS und vor allem mit Rußland gezeigt. Dies hat in der Vergangenheit zum Versuch einer mehr oder minder starken Einflußnahme geflihrt. Dem geringen Interesse Aserbaidschans, der GUS beizutreten, wurde offenbar nachgeholfen. So wurde der demokratisch gewählte und westlich orientierte Präsident Abalfas El~ibey gestürzt und durch den Altkommunisten und KGB-Veteran Gejdar Alijew ersetzt, wobei die Behauptung aufgestellt wurde, daß dies mit Hilfe russischer Streitkräfte geschehen sei. 178 Aserbaidschan sah sich (ebenso wie Georgien) unter dem starken Druck Rußlands gezwungen, der GUS beizutreten.179 Mit Alijew trat jedoch das Bestreben Aserbaidschans um Unabhängigkeit in eine entscheidende Phase ein. 180 Zur Erschließung der Ölvorkommen im Kaspischen Meer wurden Investitionsverträge von rund 40 Milliarden Dollar abgeschlossen. Zweifellos ist das Interesse westlicher (und anderer) Erdölgesellschaften an den erwarteten Vorkommen
Manin Peter, Armeoien lockert Beziehungen ru den Nachbarn, in: Luxemburger Wort vom 14.9.1998. 17 K Olga Alexandrova/Heinrich Vogel, Rußlands Politik gegenüber dem nahen Ausland, Europa-Archiv, Folge 5/1994, S. 132. 179 Olga Alexandrova/Heinrich Vogel, S. 135. 180 Horst Bacia, Nach dreißig Jahren erlebt Präsident Aliejew seine erste richtige Wahl, in: Luxemburger Wort vom 10.10.1998. 117
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erheblich, wenn es auch stellenweise eher skeptische Prognosen gibt (gefallene Erdölpreise, enttäuschende Ergebnisse bei den Probebohrungen). 181 Die steigenden Preise ftir Rohöl im zweiten Halbjahr 1999 - nach einer Meldung der FAZ vom 15. Dezember 1999 ("Rohöl ist die treibende Kraft. Der Rohölpreis hat sich im Jahre 1999 mehr als verdoppelt") - dürften die Aussichten nunmehr günstiger beurteilen lassen. Objektiv dürfte feststehen, daß angesichts des hohen Energiebedarfs der Weltwirtschaft und der Tatsache, daß die meisten größeren Erdölvorkommen in politisch problematischen Regionen liegen, die wirtschaftlichen Chancen Aserbaidschans nicht schlecht stehen. Die erwarteten Erdölvorkommen haben, zumindest was die bestehenden und geplanten Pipelines betrifft, zu erheblichen politischen Aktivitäten in der gesamten Region geftihrt, mit dem Ergebnis des Entstehens neuer Verbindungen und Allianzen. Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen muß auch die neue regionale Zusammenarbeit innerhalb der GUS gesehen werden, die sich in der Abkürzung GUAM ausdrückt und die engere Zusammenarbeit zwischen Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien meint. 182
c) Georgien Mit 5,4 Millionen Einwohnern und flächenmäßig etwa so groß wie Island gehört Georgien zu den kleineren GUS-Republiken. Die Landwirtschaft ist auf die Produktion von Wein, Obst und Tee ausgerichtet, an Bodenschätzen ist es reich an Mangan und Bauxit, aber sehr arm an Energierohstoffen, woraus sich eine hohe Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas ergibt. In Georgien gibt es drei autonome Enklaven Abchasien, Südossetien und Adcharien, die ein unterschiedliches Verhältnis zum Gesamtstaat haben. Abchasien ist faktisch unabhängig, in Südossetien gibt es eine Bewegung für den Zusammenschluß mit dem zu Rußland gehörenden Nordossetien, Adcharien dagegen ist ein wirtschaftlich und politisch stabiler Bestandteil Georgiens. Die Georgier sind mehrheitlich Christen mit ostkirchlicher Tradition, was sie in einen gewissen Gegensatz zu den muslimischen Bergvölkern des NordMartin Peter, Pyrrhussieg für Aserbaidschans Präsidenten, in: Luxemburger Wort vom 14.10.1998. 182 HenryE Haie, The Rise of Russian Anti-Imperialism, in: Orbis. A Journal of World Affairs, Vol. 43, No I, Winter 1998, S. 111 (117) und Christiane Hoffmann, Unter dem Dach der GUS führen die GUAM und eine zentralasiatische Union ihr Eigenleben, in: FAZ vom 23. 1. 1998. Ebenso Christiane Hoffmann, Russischem Wunschdenken entsprungen, in: FAZ vom 23.10.1997. 181
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kaukasus bringt. Das über lange Zeit gute Verhältnis zu Rußland und den Russen hat sich seit der Unabhängigkeit Georgiens wesentlich abgekühlt, nicht zuletzt weil Rußland in dem Konflikt mit Abchasien offensichtlich lange Zeit die abcbasische Seite unterstützte. Georgien ist zwar auf Druck von Moskau hin Mitglied der GUS geworden 183 , sein Engagement gegenüber der Gemeinschaft ist jedoch eher zurückhaltend. Wie gespannt das Verhältnis zu Rußland unterschwellig ist, wird in dem Vorwurf des georgischen Präsidenten nach dem Attentat vom Februar 1998 deutlich, wonach er die Hintermänner dieses Attentats in russischen Geheimdiensten vermutete. Grund flir das Attentat wurde in der Rolle Rußlands im geostrategischen Kräftefeld im Kaukasus gesehen, wobei eine Beziehung zu den geplanten Pipelines hergestellt wurde. Eine von Aserbaidschan zum georgischen Hafen Batumi geplante Ölleitung könnte zur Konkurrenz fur die durch Rußland (und Tschetschenien) führende Leitung zum Schwarzmeerhafen Noworossijsk werden. Wenn einerseits das Verhältnis zu Rußland weniger gut ist, so entwickelten sich andererseits enge Beziehungen zu Aserbaidschan, Moldawien und vor allem der Ukraine. Diese vier ehemaligen Sowjetrepubliken, die alle Mitglied allerdings in wenig engagierter Form - der GUS sind, gewinnen mehr und mehr unter dem Namen GUAM 1 ~4 ein eigenes Profil, wobei die Ukraine eine besondere Führungsrolle zu übernehmen scheint. lxs Von den drei transkaukasischen unabhängigen Republiken Armenien, Aserbaidschan und Georgien ist somit lediglich Armeoien ein treuer Verbündeter Rußlands. Georgien und Aserbaidschan gehen eigene Wege, wobei das eine Land (Aserbaidschan) auf die sich entwickelnde eigene wirtschaftliche Kraft setzt und das andere Land (Georgien) wegen seiner schwierigen politischen (Konflikte mit den autonomen Enklaven) und wirtschaftlichen (Abhängigkeit von Erdöl- und Erdgasimporten) Situation nach neuen Verbindungen Ausschau halten muß. Nach dem überzeugenden Erfolg Schewardnadses bei den Parlamentswahlen Ende Oktober 1999 dürfte die Westorientierung des Landes weiter voranschreiten.
Olga Alexandrova/Heinrich Vogel, S. 135. Christiane Hofftnann, Unter dem Dach der GUS führen die GUAM und eine zentralasiatische Union ihr Eigenleben, in: FAZ vom 23.1.1998. m Christiane Hoffmann, Russischem Wunschdenken entsprungen. Die GUS wächst nicht zusammen. Wachsende Bedeutung der Ukraine, in: FAZ vom 23.10.1998. 183
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Problematisch könnte sich das Verhältnis zu Rußland im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkrieg gestalten. Tschetschenien grenzt südlich an Georgien, was das Land- sollte es zu dem von vielen Beobachtern erwarteten Partisanenkrieg in Tschetschenien kommen- in Schwierigkeiten bringen könnte. 186 d) Der Nordkaukasus Unabhängig und doch abhängig von der Frage der neuen Nachbarn im Süden Rußlands, Armenien, Aserbaidschan und Georgien ist die Frage der südlichen Grenze Rußlands im Kaukasus zu sehen. Im Nordkaukasus, der nunmehr die südliche Grenze der Russischen Föderation bildet, gibt es eine Reihe von Republiken, die sich durch große innere Unruhen auszeichnen und die damit zu einer erheblichen Belastung fl.ir Rußland werden könnten. Es sind dies vom Kaspischen Meer ausgehend Dagestan, Tschetschenien, lnguschetien und Nordossetien. Es folgen nach Westen hin weitere Republiken- Kabardino-Balkarien und Karatschajewo-Tscherkessien - , die zwar bisher noch nicht besonders aufgefallen sind, bei denen aber ethnische Konflikte und damit ein Zerfall nicht auszuschließen sind. Die für Rußland problematischste Republik ist dabei Tschetschenien, dessen Status immer noch ungeklärt ist, das aus russischer Sicht weiterhin Bestandteil der Russischen Föderation bleibt, sich selbst jedoch als unabhängig betrachtet. Die Lage von Tschetschenien hat sich in den vergangeneo Monaten dramatisch verschärft. Nachdem im Oktober 1999 radikalislamische Rebellen von Tschetschenien aus nach Dagestan eingedrungen waren, dort mehrere Gebirgsdörfer erobert hatten, um von dieser Basis aus einen "Gottesstaat" in Dagestan zu bilden, nachdem es zu schweren Terroranschlägen in Moskau und anderen russischen Städten gekommen war, ruckten erneut russische Truppen in Tschetschenien ein. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Dezember 1999) haben sie Grosnyi eingeschlossen und sind dabei, die Stadt zu erobern. Gleichzeitig scheint sich im gebirgigen Süden Tschetscheniens eine ,,zweite Front" der Rebellen aufzubauen, die offenbar der Vorbereitung eines Partisanenkrieges dienen soll. Der zweite Tschetschenienkrieg ist somit in vollem Gange, ohne daß die weitere Entwicklung vorauszusehen ist, aber erste mögliche Konsequenzen sich bereits abzuzeichnen beginnen: Abkühlung des Verhältnisses Rußlands zum Westen, mögliche Ausweitung des Krieges auf die unmittelbaren Nachbarstaaten, Schulterschluß Rußlands mit China (und vielleicht auch Indien). Um die Lage Rußlands vor der Intervention in Tschetschenien zu verstehen, sollen im folgenden einige Überlegungen wiedergegeben werden, wie sie in der Berichter186 Siehe auch Markus Wehner, Wird sich der Konflikt in Tschetschenien zu einem Flächenbrand ausweiten?, in: FAZ vom 15.11.1999.
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stattung und den Kommentierungen in den Jahren 1997, 1998 und 1999 bis zum russischen Eingreifen angestellt worden waren und wie sie der Verfasser dieser Arbeit in einem ersten Entwurf (August 1999) wiedergegeben hatte: Rußlands Einfluß auf dieses Land ist gleich Null. 187 Dies hängt einerseits mit den historisch begründeten Beziehungen zusammen - unter Stalin waren die Tchetschenen, die als gesamtes Volk der Kollaboration mit den deutschen Truppen beschuldigt worden waren - nach Kasachstan umgesiedelt worden. Andererseits liegt es an dem weitgehenden Unverständnis zwischen Tschetschenen und Russen flir die jeweils andere Kultur.188 Die Lage in Tschetschenien ist mehr als hoffnungslos. Es ist der Regierung nicht gelungen, eine staatliche Macht zu errichten, die leidlich Ordnung garantieren könnte. Das Land ist innerlich zerrissen zwischen den Anhängern des Präsidenten Maschadow, der sich auf die Nationalgarde stützten kann, und dem ehemaligen Präsidenten Jandarbijew, der vor allem von islamischen Extremisten, den sog. Wahabiten, getragen wird. 189 Die von Tschetschenien ausgehenden Unruhen drohen auf die östliche Nachbarrepublik Dagestan überzugreifen. Seit längerem wird von Tschetschenien aus versucht, in Dagestan, wo 40 verschiedene Völker leben, Einfluß zu gewinnen.190 Offenbar kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Angehörigen der islamischen Bruderschaften und den sog. Wahabiten, d.h. einheimischen und fremden Muslimen, welche die strenge Lehre des in Saudi-Arabien herrschenden wahabitischen Islams in Dagestan verbreiten wollen. 191 Dagestan, das sich in unruhigen Zeiten immer loyal gegenüber Rußland verhalten hat, sieht sich zunehmend in seiner Selbständigkeit vor allem von Tschetschenien aus bedroht, wo Ende April 1998 ein ,,Kongreß der Völker Itsch Kerijas (Name Tschetscheniens) und Dagestans" gegründet wurde, dessen Ziel es offenbar ist, Dagestan mit Tschetschenien zu vereinigen. 192 Die Unruhen in Dagestan reißen nicht ab. Noch im September 1998 kam es zu einer Christiane Hoffmann, Tschetschenien ist außer Kontrolle geraten, in: FAZ vom 21.7.1998 siehe auch Andreas Heinemann-Grüder, Ist Separatismus unvermeidlich? Ein Rückblick auf Ethnizität und Föderalismus im Tschetschenien-Konflikt, in: Osteuropa, 2/99, S. 160 ff. 188 Julija Kalinina, Unruhe im Kaukasus, in: Zeitpunkte. Rußland am Abgrund, Nr. 5/1998, S. 34 ff. 189 Julija Kalinina, S. 36. 187
Bewaffnete besetzen Regierungsgebäude von Dagestan, Tschetschenien beteiligt? Meldung der FAZ vom 22.5.1998. 191 Wolfgang Günter Lerch, Tschetscheniens Nachbar, in: FAZ vom 20.1.1998. 192 Bewaffnete besetzen Regierungsgebäude in Dagestan, Tschetschenien beteiligt? Meldung der FAZ vom 22.5.1998. 190
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schweren Bombenexplosion in Dagestan, bei der ein ganzes Stadtviertel verwüstet und siebzehn Menschen getötet wurden. 193 Westlich von Tschetschenien gibt es einen weiteren Konfliktherd, der sich zu einem Pulverfaß entwickeln könnte. Zwischen den beiden benachbarten Republiken Nordossetien und Inguschetien gibt es einen alten Territorialstreit um das Gebiet Prigorodnyi. Dieses Gebiet war - bis zur Deportation der Inguschen, denen ebenfalls Kollaboration mit den Deutschen im Jahre 1944 vorgeworfen worden war- Teil der Tschetschenisch-lnguschischen Autonomen Sowjetrepublik. Seit der Rückkehr der Inguschen aus der Verbannung u.a. auch in das Gebiet von Prigorodnyi kam es dort zu Spannungen194, die im Herbst 1992 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen fiihrten, bei denen mehr als 500 Menschen- darunter mehr als 400 Inguschen - getötet wurden. Etwa 50.000 lnguschen wurden aus ihren Wohnorten im Gebiet Prigorodnyi vertrieben und leben seither als Flüchtlinge in Inguschien. 195 Die Lage in der Region hat sich in der Zwischenzeit keineswegs beruhigt und noch 1997 kam es zu neuen Konflikten196, wobei sogar mit dem Austritt Nordossetiens aus der Russischen Födera. gedroht wurde. 197 t10n Die Lage im Kaukasus läßt sich zusammenfassend wie folgt umschreiben: -
Die Vielzahl der Völker, die im Nordkaukasus seit Jahrzehnten siedeln, lassen das Risiko ethnischer Konflikte, wie sie etwa zwischen lnguschen und Osseten offen ausgebrochen sind, sehr wahrscheinlich erscheinen. Allein in Dagestan leben 12 Nationalitäten 198 aus unterschiedlichsten Sprachfamilien zusammen, wobei es die Tradition so will, daß jeweils die Nationalität, die an der Macht ist- zur Zeit sind es die Awaren- die anderen Nationalitäten von allen wichtigen Staatsfunktionen zugunsten der eigenen Angehörigen ausschließt. 199 Der Nordkaukasus erlebt eine Welle der Kriminalität, die sich vor allem in Geiselnahmen ausdrückt. Man spricht von mehr als l 00 Geiseln200 , deren
Siebzehn Tote bei Anschlag in Dagestan. Meldung der FAZ vom 7.9.1998. Christiane Hoffmann, Morde, Entführungen, Überfälle. Der Konflikt zwischen lnguschen und Osseten, in: FAZ vom 9.8.1997. 195 Christiane Ho.ffmann, (Ju/ija Ka/inina, S. 36). 196 Christiane Hoffmann, a.a.O. 197 Christoph Güdel, Alt-neuer Konfliktherd im Nordkaukasus, in: Luxemburger Wort vom 23.7.1997. 198 Ricorda Va/pier, Buchbesprechung zu Christian Neef: Der Kaukasus. Rußlands offene Wunde, in: FAZ v. 3.9.1997. 199 Julija Kalinina, S. 36; Jens P. Dorner, Schatten der Vergangenheit, in: Luxemburger Wort vom 26.6.1998. 200 Meldung des Luxemburger Worts vom 30.10.1998. 193 194
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Befreiung noch aussteht. Lösegeldsummen in Millionenhöhe (über drei Millionen Dollar) sollen im Jahre 1997 gezahlt bzw. gefordert worden sein. 201 -
Innere Konflikte prägen das Bild von Dagestan, vor allem aber das von Tschetschenien. Dieses Land stand im Sommer 1998 nach einem Anschlag auf Präsident Maschadow vor einem Bürgerkrieg202 , bevor es diesem gelang, durch einen Kompromiß mit den Feldkommandanten die Lage zu stabi Iisieren.203
-
Der Tschetschenienkrieg hat zu einer massiven Einflußnahme von Vertretern radikaler islamischer Gruppen aus der Türkei, aus Pakistan, Jordanien und Saudi-Arabien geführt, wobei die tchetchenischen Kämpfer mit Geld und Waffen vor allem aus Saudi-Arabien unterstützt wurden. 204
-
Nach Julija Kalinina tauchten im Verlauf des Krieges arabische Berater auf, die auf Terror und Guerillakrieg spezialisiert waren. Diese ,,Missionare" hatten vor allem auf die kaukasischen Wahabiten gesetzt, die im .,Heiligen Krieg" starken Zulauf hatten. Sie könnten heute jederzeit etwa 5000 gutbewaffnete und exzellent ausgebildete Kämpfer in Dagestan, Tschetschenien, Jnguschetien und sogar in den Grenzregionen von Krasnodar mobilisieren. 2os
-
Zwischen den Republiken gibt es eine Reihe offener (wie zwischen lnguschetien und Nordossetien) oder verdeckter Konfliktherde (wie zwischen Tschetschenien und Dagestan), die jederzeit zu neuen Streitigkeiten führen könnten. Der Vorschlag Maschadows (anläßlich einer Konferenz der Präsidenten von Nordossetien, Dagestan, lnguschetien, Kabardino-Balkavien, Adyega, Karatschajewo-Tscherkessien sowie von Gouverneuren südrussischer Gebiete und Delegationen aus Georgien und Aserbaidschan, die im April 1998 in Grosnl06 stattfand), eine Kaukasus-Föderation zu bilden, kann daher nur mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden und dürfte eher als taktischer Schachzug gegenüber Rußland zu bewerten sein. Unab-
201 Christoph Güdel, Hohe Lösegeldeinnahmen im Nordkaukasus, in: Luxemburger Wort vom 16.4.1998. 202 Berichte der FAZ vom 22.7.1998 und des Luxemburger Worts vom 24. 7.1998, ebenso lswetija vom 27.7.1998. 201 Meldung des Luxemburger Worts vom 24.10.1998. 204 Julija Kalinina, S. 36. Wolfgang Günter Lerch, Tschetscheniens Nachbar. In Dagestan kommt es immer wieder zu Zusammenstöen mit wahabitischen Predigern, in: FAZ vom 20.1.1998. 205 Julija Kalinina, S. 36. 206 Maschadow bekräftigt Unabhängigkeitskurs Tschetscheniens, in: Luxemburger Wort vom 6.4.1998.
2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
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hängig von den bereits genannten Konflikten gilt wohl auch, daß das Verhältnis der übrigen Kaukasier zu den Tchetchenen nicht das beste ist. 207 -
Die Möglichkeiten Rußlands, in dieser Lage einzugreifen, sind eher beschränkt. Die Besorgnis der russischen Staatsftihrung, daß die hochexplosive Lage im Kaukasus die territoriale Einheit Rußlands gefährden könnte, wurde russischerseits mehrfach ausgedruckt. zoR
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Rußland hat zur Zeit kein Konzept für ein einigermaßen auskömmliches Nebeneinander im Nordkaukasus. Die fiühere Strategie, die sich bis 1998 anscheinend bewährte, wird von Julija Kalinina wie folgt umschrieben: "Rußland wußte die Gegensätze zwischen den streitenden Stämmen stets auszunutzen, um die kaukasischen Republiken zu beherrschen. Die Taktik der russischen Regierung war, je nach Situation den einen oder anderen Clan zu unterstützen. Dieses simple Balancieren nannten die Planer in Moskau stolz die ,strategische Linie Rußlands' im Nordkaukasus. Sie reichte jahrzehntelang, um den Kaukasus von außen mit geringen Mitteln zu kontrollieren." 209 Mit der wirtschaftlichen Schwäche Rußlands und vor allem aber des von außen gesteuerten Erwachens radikalislamischer Tendenzen ist diese Strategie wirkungslos geworden. Die Autorio kommt daher zu der Schlußfolgerung:2IO ... .. Rußland ist auf dem Weg, den nördlichen Kaukasus zu verlieren. Doch seine Abspaltung vollzieht sich nicht von heute auf morgen, sondern wird vielleicht Jahrzehnte dauern. Darin liegt eine kleine Chance: Nur wenn der russische Staat stärker wird als seine finanzstarken Gegner und wenn die Wirtschaft doch noch zu blühen beginnt, könnte es dem Kreml gelingen, den Kaukasus zu halten."
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Die Lage ist jedoch noch schwieriger, wie die Auseinandersetzung um die Erdölleitung vom Kaspischen Meer zum russischen Hafen Noworossijsk zeigt. Die Erdölleitung durch Rußland, von der sich das Land hohe Transitgebühren erhofft, ist dadurch gefahrdet, daß sie durch das unruhige Tschetschenien fUhrt. Auch die Verlegung von Tschetschenien nach Dagestan würde nicht viel weiter helfen, da auch Dagestan jederzeit in diese tchetchenische Auseinandersetzung einbezogen werden könnte. 211 Die Einwirkung radikalislamischer Kräfte kann darüberhinaus Auswirkungen auf weite Teile Rußlands mit islamischer Tradition haben. In seinem
Julija Kalinina, S. 35. Jelzin sieht Einheit Rußlands bedroht, in: Luxemburger Wort vom 21.8.1997. 209 Julija Kalinina, S 36. 210 Julija Kalinina, S 37. 211 Christoph GüdeVJens P. Dorner, Unruhe in Tschetscheniens Nachbarschaft, in: Luxemburger Wort vom 30.4.1997. 207
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Anfang der neunziger Jahre veröffentlichten Buch212 ,,Den Gottlosen die Hölle", kommt Peter Scholi-Latour zwar zu dem Ergebnis, daß die Bewegungen in den russischen von islamischer Tradition beherrschten Gegenden eher nationalistischer als religiöser Art sind. Dennoch sah er schon damals die Gefahr einer solchen Einflußnahme voraus, die nach den Erfahrungen in den letzten Jahren im Kaukasus jetzt auch flir das islamische Rußland ernst genommen werden sollte.
13. Die westlichen GUS-Länder (Ukraine- Weißrußland- Moldawien) a) Ukraine
aa) Allgemeines Die Ukraine ist mit 603.700 km 2 und rund 52 Mio. Einwohnern eines der flächenmäßig größten und bevölkerungsreichsten Länder Europas. Die Geschichte des Gebietes der heutigen Ukraine ist eng verbunden mit Polen-Litauen einerseits und Rußland andererseits. Auf das mittelalterliche Kiewer Reich als Vorläufer des späteren Rußland wurde bereits hingewiesen. Ab 1654 wurde das Gebiet der Ukraine stufenweise dem russischen Reich angegliedert. Seine eigentliche Unabhängigkeit begann abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel 1917 - 1919 mit dem Untergang der Sowjetunion am 8. Dezember 1991 und der Proklamation der Gemeinschaft unabhängiger Staaten durch Rußland, Weißrußland und die Ukraine. Huntington hat in seinem Buch "Kampf der Kulturen"213 die Bruchlinie zwischen sogenannter westlicher Kultur einerseits und dem orthodoxen Kulturkreis andererseits genau durch die Ukraine gezogen. Die von ihm aufgefuhrte Scheidelinie orientiert sich wesentlich an den religiösen Gegebenheiten des Landes: Die religiöse Kultur des Landes wird durch drei Kirchen bestimmt: die ukrainisch-orthodoxe, die russisch-orthodoxe und die griechisch-katholische (unierte) Kirche, die überwiegend in der Westukraine ihre Anhänger hat. Neben dieser Aufteilung in religiöser Hinsicht gibt es weitere Verschiedenheiten in kultureller Hinsicht, die flir die besondere Situation des Landes von Bedeutung sind. Staatssprache ist das Ukrainische, das dem Russischen so nahe oder so
212 Peter Scholl-Latour, Den Gottlosen die Hölle. Der Islam im zerfallenden Sowjelreich, München 1991. 213 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulluren, S. 253 ff.
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entfernt ist, wie das Niederländische dem Deutschen. Dennoch spielt das Russische, das während der •Sowjetzeit gegenüber dem Ukrainischen privilegiert war, nach wie vor eine bedeutende Rolle. Dies gilt vor allem für den Ostteil des Landes214 , wo teilweise zwischen 30 und 45 % der Bevölkerung Russen sind. Insgesamt leben elf Millionen Russen in der Ukraine, was einem Anteil von etwa 22 % an der Gesamtbevölkerung entspricht. Hauptsiedlungsgebiet der Russen ist der östliche Teil (die Krim weist sogar einen Anteil von 67 % Russen auf), während in den westlichen Provinzen (in den nach dem Zweiten Weltkrieg von Polen abgetrennten Gebieten) ihr Anteil unter 7,5 % liegt. Die west-östlichen Unterschiede in der Ukraine haben ihre Auswirkungen bis in die Wahlergebnisse: Während bei den vorletzten Präsidentschaftswahlen der frühere Präsident Krawtschuk (Bewegung Ruch) in allen Westprovinzen weit vorne lag, konnte der jetzige Präsident Kutschma (Volksdemokratische Partei) ein entsprechend hohes Wahlergebnis in den Ostprovinzen erzielen. Trotz dieses möglichen Gefahrenpotentials flir die Einheit des Landes ist es der ukrainischen Politik in der Vergangenheit gelungen, die Gegensätze zu mildem, und das Land ist heute weit entfernt von der ursprünglich von vielen Beobachtern prognostizierten Spaltung. Dieser Erfolg ist möglicherweise auch nicht zuletzt deshalb erreicht worden-, weil der russische Bevölkerungsteil mit seiner gegenwärtigen Situation überwiegend zufrieden zu sein scheint und auch kein großes Interesse an einer Angliederung an Rußland - wohl auch wegen dessen schwieriger wirtschaftlichen Lage - zeigt.
bb) Wirtschaft
Die fruchtbaren Schwarzerdeböden des Landes haben die Ukraine zu Zeiten der Sowjetunion zu deren Getreidespeicher werden lassen. Im landwirtschaftlichen Bereich ist dementsprechend das Interesse ausländischer Investoren beson215 ders groß. Neben den günstigen Ausgangsbedingungen im landwirtschaftlichen Bereich verfügt die Ukraine nach Aussage ihres Außenministers Tarasjuk über ein beachtliches Know-how in der Produktion von Raketen und Satelliten und steht
214 Vgl. Gerhard Gnauck, Charkin spricht russisch, denkt aber ukrainisch, in : FAZ vom 10.3.1998. 215 Vgl. Aussage von Axel Siedenberg, Rechtliche Unsicherheiten behindern Investitionen in der Ukraine, Deutsche Bank Research in der FAZ vom 13.2.1999.
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im Flugzeugbau an der Spitze. Im Weltraumprogramm der Sowjetunion - so der Außenminister- habe die Ukraine die fuhrende Rolle gespielt. 216 Das wirtschaftliche Problem des Landes liegt vor allem in seiner hohen Abhängigkeit im Energiebereich. Das Land verfugt über keine natürlichen Ressourcen und ist daher im Energiesektor in hohem Maße von Rußland abhängig, von dem es etwa 90 % des Erdöls und mehr als 80 % des Gases bezieht. Die Schulden der Ukraine an Moskau werden mit mehr als einer Milliarde Dollar beziffert. 217 Diese Lage wird noch erschwert durch das Dilemma im Bereich der Kernkraft (der Anteil der Stromerzeugung aus Kernkraft beträgt in der Ukraine 44 %) und die gleichzeitig von den teilweise veralteten Kernkraftwerken ausgehende Gefahr, wofiir der BegriffTschernobyl-Katastrophe steht. Diese Erblast der Ukraine218 sowie Rechtsunsicherheiten vor allem in der Steuergesetzgebung219 haben wohl auch dazu geführt, daß ausländische Investitionen eher spärlich geflossen sind. Spitzenreiter bei den ausländischen Investoren waren (ftir den Zeitraum seit Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit bis zum dritten Quartal 1998) die Vereinigten Staaten mit 438,3 Mio. Dollar- ein Hinweis auf das Interesse dieses Landes an der Ukraine - gefolgt von den Niederlanden mit 258,8 Mio. Dollar und Deutschland (216,8 Mio. Dollar). Berechnet man die Investitionen je Kopf der Bevölkerung so bildet die Ukraine unter den Staaten Zentral- und Osteuropas das Schlußlicht, nur noch gefolgt von Weißrußland. 220 Die ukrainische Regierung sieht es daher als eine ihrer wesentlichen Aufgaben an, "objektive Informationen über das Umfeld ftir ausländische Investitionen in der Ukraine zu vermitteln."221
216 Markus Wehner, Die Ausweitung der NATO ist im nationalen Interesse der Ukraine, in: FAZ vom 11.3.1999. 217 Freundschaftsvertrag gescheitert, in: FAZ vom 18.2.1999. 21 ' Außenminister Tarasjuk im Interview mit der FAZ vom 11.3.1999; s. Markus Wehner. 219 Aussage des stellvertretenden ukrainischen Regierungschefs Sergej Tigipko, Rechtliche Unsicherheiten behindern Investitionen in der Ukraine, in: FAZ vom 13.2.1999. 220 Aussage des stellvertretenden ukrainischen Regierungschefs Sergej Tigipko, Rechtliche Unsicherheiten behindern Investitionen in der Ukraine, in: FAZ vom 13.2.1999. 221 Interview mit dem ukrainischen Botschafter K. Gryschenko in Luxemburg, in: Luxemburger Wort vom 6.3.1999.
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cc) Außen- und Sicherheitspolitik Erfolgreicher als im wirtschaftlichen Bereich war die Ukraine bisher in ihrer Außenpolitik, wo sie von vier strategischen Partnern spricht: den Vereinigten Staaten, Rußland, Usbekistan und Polen. Aus diesen strategischen Partnern lassen sich Ziele und Interessen der Ukraine ablesen.
Die Vereinigten Staaten: Auf das wirtschaftliche Engagement der Vereinigten Staaten in der Ukraine wurde bereits hingewiesen. Darüberhinaus ist das Interesse der Ukraine an den USA insbesondere sicherheitspolitischer Natur. Nachdem die Ukraine - nicht zuletzt auf Drängen der USA - auf ihren Status als Nuklearmacht verzichtet hat, ist den USA eine besondere Verantwortung gegenüber diesem Land im Bereich der militärischen Sicherheit zugewachsen, eine Entwicklung, die ihre ersten Früchte im Abschluß der NATO-UkraineCharta - paraBei zur NATO-Rußland-Charta - fand, und die nach Auffassung der ukrainischen Regierung Perspektiven flir eine vertiefte Zusammenarbeit bietet. Nach Auffassung des ukrainischen Außenministers kann sich die NATO zu einem umfassenden Sicherheitssystem entwickeln, in dem auch Rußland Platz haben könne. 222 Rußland: Die ersten fl.inf Jahre nach der Unabhängigkeit der Ukraine waren im Verhältnis zu Rußland geprägt durch Minderheitenkonflikte, den Streit um die Schwarzmeerflotte sowie wegen der aus Moskauer Sicht zu sehr nach Wer sten orientierten Außenpolitik der Ukraine. Der Durchbruch kam mit dem im Mai 1997 durch die Präsidenten Jelzin und Kutschma ausgehandelten Freundschaftsvertrag, durch den Rußland und die Ukraine die gemeinsamen Grenzen bestätigten und sich verpflichteten, alle Streitfragen friedlich zu lösen. Der Vertrag erkennt die Souveränität der Ukraine und ihrer Grenzen einschließlich der Krim und der Hafenstadt Sewastopol an. Der Vertrag wurde durch das ukrainische Parlament im Januar 1998 mit großer Mehrheit gebilligt, ebenso durch die russische Staatsduma im Dezember 1998. Schwierigkeiten gab es a11erdings als der russische Föderationsrat, nachdem der Moskauer Bürgermeister Luschkow offen die Rechtmäßigkeit der ukrainischen Staatsgrenze in Frage gestellt hatte 223 , die Verabschiedung zunächst verschob. Nach einer Intervention des damaligen Premierministers Primakov stimmte ihm schließlich auch der Föderationsrat mit 106 gegen 25 Stimmen bei 17
222 Außenminister Tarasjuk in einem Interview mit der FAZ vom 11 .3.1999; s. Markus Wehner. 223 Christiane Hoffmann, Streit zwischen Rußland und der Ukraine, in: FAZ vom 1.2.1999.
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Enthaltungen zu. Der Vertrag sollte jedoch erst in Kraft treten, wenn die Ukraine drei Abkommen ratifiziert habe, mit denen die Schwarzmeerflotte zwischen Rußland und der Ukraine aufgeteilt werden sollte. Diese Bedingung wurde Mitte März 1999 erftillt224, so daß der Weg fl.ir die praktische Anwendung des Vertrags über "Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft" zwischen den beiden Ländern frei geworden ist. Er enthält neben den bereits genannten Punkten eine Vereinbarung, wonach der Flottenstützpunkt Sewastopol für die Dauer von 20 Jahren an Rußland verpachtet wird und die ukrainischen Staatsschulden an Moskau in einer Summe von drei Milliarden Dollar- zu tilgen in den nächsten zehn Jahren - zusammengefaßt werden. Die noch aus der Sowjetzeit stammende enge Bindung zwischen beiden Ländern (Rußland ist der größte Wirtschaftspartner der Ukraine: 25 % des ukrainischen Exports gehen nach Rußland, mehr als 60 % des Gesamtimports der Ukraine - vor allem Erdöl und Gas - kommen aus Rußland) wurde durch den Freundschaftsvertrag auf eine neue Grundlage gestellt. Dabei haben beide Länder unterschiedliche Perspektiven für die Zukunft. Während bei der Ukraine der Ausbau der eigenen Unabhängigkeit im Vordergrund steht, scheint in einflußreichen Kreisen Rußlands nach wie vor der Wunsch einer engeren Anhindung der Ukraine zu bestehen. So hat noch im September 1998 der damalige Vorsitzende der russischen Staatsduma Selesnjow vor dem ukrainischen Parlament die Ukraine eingeladen, der Union Rußlands und Weißrußlands beizutreten. Die Reaktion im Parlament war bezeichnend ftir die Stimmung im Lande: Beifall bei den Kommunisten (der stärksten Fraktion), heftiger Widerstand (bis zum Verlassen des Saals) bei der Bewegung Ruch und der dem Präsidenten nahestehenden Fraktion der Volksdemokratischen Partei.225 Usbekistan: Die strategische Partnerschaft mit Usbekistan ist ein Hinweis auf das Interesse und die gute Zusammenarbeit der Ukraine mit den früheren Sowjetrepubliken. Da die Ukraine von ihrem (militärischen) Potential her nicht die Gefahr einer Vormachtstellung fl.ir die übrigen Länder der GUS in sich birgt, ist die Zusammenarbeit wesentlich unbeschwerter und auch unkomplizierter.
Auf die enge Zusammenarbeit in der Form der GUAM 226 (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien) wurde schon an früherer Stelle verwiesen.
224
Meldung des Luxemburger Worts vom 25.3.1999.
Meldung der FAZ vom 1.10.1998. Christiane Hoffnumn, Unter dem Dach der GUS führen GUAM und eine zentralasiatische Union ihr Eigenleben, in: FAZ vom 23. 1.1998. 22 5
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Die Zusammenarbeit mit dem bevölkerungsreichsten zentralasiatischen GUS-Staat Usbekistan ist ein weiterer Mosaikstein der ukrainischen Außenpolitik, der zwar in erster Linie dem Ausbau der eigenen Bewegungsfreiheit und damit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Rußland dient, der aber gleichzeitig auch dem Zusammenhalt der GUS-Staaten nützt, was wiederum auch fiir Rußland auf lange Sicht von Interesse sein könnte.
Polen: Die vierte strategische Partnerschaft, die mit Polen, hat eine dreifache Bedeutung: (I) Zunächst unterstreicht sie die historisch-kulturelle Verbundenheit (zumindest eines Teils der Ukraine) zu Polen.
(2) Zum anderen ist sie der Ausdruck des auch allgemein anerkannten Bemühens der Ukraine, mit allen Nachbarn bestehende Probleme zu lösen und in gedeihlicher Form zusammenzuleben. In diesem Zusammenhang sind neben dem bereits erwähnten Vertrag mit Rußland auch das 1997 geschlossene Grenzabkommen mit Weißrußland zu nennen, der ebenfalls 1997 geschlossene Freundschaftsvertrag mit Rumänien, die gemeinsame Erklärung zur gegenseitigen Verständigung und Aussöhnung mit Polen von 1997, die Mitarbeit in der Wirtschaftskooperation der Schwanmeerstaaten sowie die Bereitschaft der Ukraine, im Konflikt um Transnistrien zu vermitteln. In diese Überlegungen sollte auch das Engagement der Ukraine im internationalen Bereich (die Ukraine nahm an ftinf von 16 Friedensmissionen der Vereinten Nationen teil) sowie ihre Bereitschaft, im Kosovo-Konflikt zu vermitteln, miteinbezogen werden. Schließlich - und das ist vielleicht der wichtigste Faktor - hat Polen günstige Aussichten, schon bald der Europäischen Union anzugehören. Polen ist insoweit ftir die Ukraine Vorbild. 227 Nach dem im März 1998 unterzeichneten Partnerschafts- und Kooperationsabkommen geht es der Ukraine nunmehr darum, dieses Abkommen mit Leben zu erftillen. Ihre Ambitionen gehen jedoch wieter. Kurzfristig strebt sie die Schaffung einer Freihandelszone, mittelfristig eine Assoziierung und eine Teilnahme an der ständigen Konferenz der anerkannten Beitrittsbewerber, längerfristig die Mitgliedschaft in der Europäischen Union an. 22M Bei diesem Bemühen hofft die Ukraine auf die Unterstützung Po-
227 Außenminister Tarasjuk in einem Interview mit der FAZ vom 11.3.1999; s. Markus Wehner, a.a.O.
m So der ukrainische Präsident Kutschma bei einem Besuch von Rat und Kommission in Brüssel, Meldung des Luxemburger Worts vom 17. I 0.1998. So auch der ukrainische Außenminister Tarasjuk in dem bereits zitierten Interview mit der FAZ. s. Markus Wehner.
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lens, eine Hoffnung, die nicht unberechtigt ist, wie die Reaktion polnischer Politiker zeigt. 229 Diese außenpolitische Ausrichtung wird wohl auch von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung getragen, wie die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen im November 1999 gezeigt haben. Hier wurde der ftir eine enge Anhindung an den Westen plädierende Kutschma in der Stichwahl mit deutlicher Mehrheit vor seinem kommunistischen Gegenkandidaten Simonenko, der fiir eine weitergehende Zusammenarbeit mit Rußland stand, gewählt. Obwohl die Europäische Union allen Bemühungen der Ukraine, den Weg ftir eine spätere Mitgliedschaft zu ebnen, bisher eher zurückhaltend gegenüberstand, wird die Ukraine, nach den Worten ihres Außenministers Tarasyuk, ,,nicht aufhören" anzuklopfen. 230 b) Moldawien aa) Allgemeines
Mit einer Fläche von 37.700 km 2 etwa so groß wie Belgien und einer Einwohnerzahl von 4,4 Mio. ist Moldawien das Land mit der höchsten Bevölkerungsdichte ( 129 pro km 2) aller sowjetischen Nachfolgestaaten. Die Bevölkerung besteht zu 64,5 %aus Moldawiem, 14 % Ukrainern, 13 %Russen und 3,5 % Gaganesen. Hauptsiedlungspunkt der Ukrainer und Russen ist die selbsternannte Republik Transnistrien, deren Bevölkerung von 600.000 Bewohnern zu 28 %aus Ukrainern und 23 % Russen besteht. 231 Die moldawische (d.h. rumänische} Sprache wurde 1989 Staatssprache. Gleichzeitig wurde die lateinische Schrift wieder eingeführt. Mehr als zwei Drittel der Bürger des Landes sind rumänischsprachig. Das Gebiet des heutigen Moldawiens gehörte seit 1812 mit einer Unterbrechung zwischen den Weltkriegen zu Rußland.
So der polnische Staatspräsident Kwasniewski bei einer Veranstaltung derBerliner Pressekonferenz, Meldung der FAZ vom 9.12.1998. Siehe auch: Polen hilft seinem strategischen Partner. Besuch des Präsidenten Kutschma, in: FAZ vom 25.5.1998. Bo Boris Tarasyuk, Die Ukraine hat ihre Wahl fiir Europa getroffen. Wir werden nicht aufhören anzuklopfen, in: FAZ vom 18.11.1999. mlnfonnationen zur politischen Bildung, 1995, S. 32 ff. (Moldawien). Herausgeberin: Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn, 4. Quartal 1995. Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. 229
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Die Religion der Bevölkerung ist weit überwiegend christlich-orthodox (Autonome Moldawisch-Orthodoxe Kirche, Moskauer Patriarchat und RumänischOrthodoxe Kirche). 232 Moldawien besteht faktisch aus drei politischen Landesteilen: -
das eigentliche Staatsgebiet,
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das autonome Gebiet der Gaganesen im Süden,
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die Provinz Transnistrien, ein Gebietsstreifen östlich des Dujestr, die sich als unabhängige Republik sieht, insoweit jedoch bisher von keinem Staat anerkannt wird.
Die Transnistrienfrage ist eines der großen Probleme Moldawiens, das eine schwere innen- wie außenpolitische Belastung darstellt. Schon kurz nach der Unabhängigkeit des Landes kam es zur Abspaltung dieser Provinz, deren 600.000 Bewohner zu über der Hälfte aus Russen und Ukrainern besteht. Die dann einsetzenden Kämpfe zwischen moldawischen und transnistrischen Einheiten konnten erst durch das Eingreifen russischer Truppen beendet werden. Dies hatte einerseits eine Beruhigung der Lage zur Folge, andererseits aber auch die Konsequenz, daß bis zum heutigen Tage russische Truppen einen Teil des Moldawischen Staatsgebietes besetzt halten. Ein am 21.10.1994 abgeschlossenes Abkommen zwischen Moldawien und der Russischen Föderation zum Abzug der russischen Truppen wurde bisher von der russischen Duma nicht ratifiziert mit der Begründung, daß Transnistrien ,.eine Region von besonderem Interesse für die Russische Föderation" sei. Andererseits erkennen die Führer in Tiraspol die Vorschriften des Abkommens nicht an, solange dies vom russischen Parlament nicht ratifiziert worden ist. 233 bb) Wirtschaft Wegen der guten Böden des Landes und dem gleichzeitigen Fehlen wesentlicher Rohstoffe ist das Land stark agrarisch ausgerichtet: Obst, Wein, Tabak und Mais. Die industrielle Struktur des Landes konzentriert sich im wesentlichen auf die Nahrungsmittelverarbeitung. Das Land hat wegen der fehlenden Oliver Hoischen, Zwischen Moskau und Bukarest, in: FAZ vom 5.1.1999. Erklärung zur politischen und winschaftlichen Lage der Republik Moldawien vom 25.8.1998 (ausgearbeitet von der Generaldirektion Wissenschaft des Europäischen Parlaments), S. 5. Aus der Sicht westlicher Kommentatoren gilt die Abspaltung Transnistriens als eine der großen Ausnahmen in der Haltung russischer Minderheiten in Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Siehe hierzu Anatol Lieven, The Weakness of Russian Nationalism. in: Survival. International Institut for Strategie Studies. London, Summer 1999, S. 53. 2 32
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Rohstoffe einen erheblichen Bedarf an Energieträgern. Hauptlieferant ist Rußland, dem gegenüber eine hohe wirtschaftliche Abhängigkeit besteht. 234 Die geringe Schwerindustrie (Zementwaren, Metallurgie), deren Absatzmarkt in Rußland liegt, ist auf Transnistrien konzentriert.
cc) Außenpolitische Beziehungen Außenpolitisch hatte Moldawien nach seiner Unabhängigkeit drei Optionen:
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Den Anschluß an Rumänien: Diese Option wurde vor allem unmittelbar nach der Unabhängigkeit ernsthaft erwogen und war nicht zuletzt der Grund für Unruhen im Gebiet der Gaganesen, dem Ursprung nach ein Turkvolk, und fiir die Abspaltung der Provinz Transnistrien, dessen Bevölkerung zu mehr als der Hälfte aus Russen und russifizierten Ukrainern besteht.
Der Gedanke des Anschlusses an Rumänien hat inzwischen seine Zugkraft verloren und wird auch nur noch von der Christlich-Demokratischen Volksfront innerhalb des Parteienverbandes Demokratische Konvention Moldawiens, die bei den letzten Wahlen 19,4% der Stimmen erhielt, vertreten. 235
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Eine engere Einbindung in die GUS: Diese Option wird innerhalb Moldawiens (ohne Transnistrien, dort waren die Wahlen von den Behörden nicht zugelassen worden) hauptsächlich von der Kommunistischen Partei, die bei den letzten Wahlen 30% der Stimmen erhielt, vertreten. 236
Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch Transnistrien, dessen Status nach wie vor ungeklärt ist; es baut Strukturen eines unabhängigen Staates auf und zeigt keinerlei Interesse an einer Rückkehr in die Republik Moldawien. Das am 8. Mai 1997 unterzeichnete Memorandum zur Beilegung des Streits um den Status der nicht anerkannten Transnistrischen Republik wurde nach einer Intervention des damaligen russischen Außenministers Primakov im April 1997 um einen Artikel ergänzt, in dem es heißt, beide Seiten würden ihre Bemühungen auf der Basis eines "gemeinsamen Staates in den Grenzen der ehemaligen Moldawischen Sowjetrepublik aufbauen".
Erklärung zur politischen und wirtschaftlichen Lage der Republik Moldawien, 10. 21 5 Erklärung zur politischen und wirtschaftlichen Lage der Republik Moldawien, S. 3. m Erklärung zur politischen und wirtschaftlichen Lage der Republik Moldawien, S. 3. 234
s.
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Hinsichtlich der in Transnistrien weiterhin stationierten russischen Truppen sagte Primakov zum damaligen Zeitpunkt: ,.Die Einheiten werden aus Transnistrien abgezogen, aber der Mechanismus und die Frist für diesen Prozeß sind von den Beziehungen der Republik Moldau und Rußland abhängig."237 Das Problem der russischen Truppen ist bis heute noch nicht gelöst. 238 Auch das oben erwähnte Memorandum hat bis zum heutigen Zeitpunkt keine Wirkung gezeigt, einerseits weil die Republik Transnistrien weiterhin auf ihrer Unabhängigkeit besteht und mittlerweile eigene staatliche Strukturen einschließlich einer gut gerüsteten Armee aufgebaut hat, andererseits weil die Regierung von Moldawien die Lösung der Transnistrienfrage nicht mehr als prioritär ansieht und vielmehr auf die Strategie setzt, durch Verbesserung des Lebensstandards im eigentlichen Moldawien die Autonomie Transnistriens unattraktiv zu machen.239 Unter diesen Gesichtspunkten kann man davon ausgehen, daß sich Transnistrien - so lange die Bemühungen der moldawischen Regierung nicht von Erfolg gekrönt sind - eher an Rußland ausrichten wird. Von Interesse dürfte dabei aber auch das sich erkennbar abzeichnende Engagement der Ukraine sein.
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Die Ausrichtung auf den Westen, insbesondere auf die Europäische Union: Diese Politik ist die Maxime der gegenwärtigen Regierung und der von ihr getragenen Parteien Demokratische Konvention Moldawiens, Block ftir ein Demokratisches und Blühendes Moldawien und Partei der demokratischen Kräfte, die bei den letzten Wahlen insgesamt 46,2 %der Stimmen erhalten hatten.
Moldawiens Politik hat viele Gemeinsamkeiten mit der der Ukraine. Wie die Ukraine bemüht sich auch Moldawien um ein gedeihliches Auskommen mit den Nachbarländern und zeigt großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Am I. Juli 1998 ist das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union in Kraft getreten. Ziel des Abkommens ist es, die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zu fördern und das Streben nach Marktwirtschaft und liberaler Demokratie voranzutreiben, um Stabilität und Wohlstand in dieser Region sicherzustellen. Es schließt auch die Themen Umwelt, Grenzkontrolle und Zoll, Justiz und innere m Memorandum für Transnistrien, in: FAZ vom 29. April 1997; Primakov wird nach der Zeitung Sewodnja zitien. 238 Im Oktober 1998 hatten die Präsidenten Moldawiens, Rumäniens und der Ukraine in einer gemeinsamen Erklärung erneut gebeten, die russischen Truppen vom Territorium Moldawiens zurückzuziehen, Meldung des Luxemburger Wons vom 26 . 10.1998. 239 Erklärung zur politischen und wirtschaftlichen Lage der Republik Moldawien, s. 4.
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Angelegenheiten, Verkehr, Erziehung und Schutz des geistigen Eigentums mit ein. Der Kooperationsrat hat in der Zwischenzeit mehrfach getagt und die gemeinsamen Strukturen flir die Zusammenarbeit (Arbeitsprogramm 1998-1999, Schaffung von Unterausschüssen usw.) hergestellt. Moldawien hat in der Vergangenheit mehrfach sein Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit der Europäischen Union bis hin zur Vollmitgliedschaft erklärt. 240
c) Weißrußland aa) Allgemeines
Weißrußland ist mit 207.600 km2 etwa ein Drittel so groß wie die Ukraine. Seine 10,2 Mio. Einwohner setzen sich nach der letzten Volkszählung (1989) zusammen aus 78% Belarussen, 13% Russen, 4 % Polen, 3 %Ukrainer und I % Juden. Nach Adolf Karger lassen diese Zahlen in nicht ausreichendem Maße die Bedeutung des russischen Elements in der Bevölkerung erkennen. 241 Sie verdecken damit das zentrale Problem des jungen Staates: das Finden einer eigenen heiarussischen Identität, die stark genug ist, die Selbständigkeit Belarus ungeachtet der gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme aufrechtzuerhalten. Als Alternative steht dem- nach Adolf Karger- die erneute Anlehnung (in welcher organisatorischen Fonn auch immer) an Rußland gegenüber, die im wesentlichen von den Altkommunisten betrieben werde. Vom russischen Element in der Bevölkerung verspreche man sich die notwendige Schubkraft ftir diese Pläne, von einem russischen Entgegenkommen in Wirtschaftsfragen die Anziehungskraft. Das russische Element ist nach Adolf Karger durch die folgenden Daten und Umstände näher gekennzeichnet: -
Etwa ein Drittel der Bevölkerung nannte das Russische als Muttersprache. Darunter auch 20 % Belarussen.
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In den Städten ist der Anteil der Selarussen mit russischer Muttersprache mit 30 % noch höher.
°
24 Christoph Güdel, Moldau strebt EU-Beitritt an, in: Luxemburger Wort vom 25 .9 . 1997. 241 Adolf Karger, Weißrußland: im Sog Rußlands, in: Konfliktpotentiale im Bereich der ehemaligen Sowjetunion, in: Der Bürger im Staat, 45. Jahrgang, Heft 2-3, Juni/Juli 1995, S. 101.
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Zwei Drittel der Bevölkerung sind zweisprachig.
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Ein Sprachgesetz von 1990 machte das Selarussische zur Staatssprache. Jedoch ergab eine Befragung, daß 70 % der Bürger Russisch und Selarussisch gemeinsam als Staatssprache gewünscht hätten. Das bestätigte im Mai 1995 ein Referendum mit Mehrheit.
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In einer hitzigen Debatte über eben dieses Referendum soll der Präsident gesagt haben, daß weißrussische Idiom werde nur in entlegenen Dörfern und im Fernsehen gesprochen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Republiken war der Weg Weißrußlands in die Unabhängigkeit eher vorsichtig und zögerlich. In Weißrußland fehlte der nationale Treibsatz, der in den meisten anderen Republiken die zentrifugalen Kräfte anfeuerte, die im Dezember 1991 den historisch überlebten Zentralstaat der Sowjetunion zur lautlosen Explosion brachten. 242 Es ist deshalb auch nicht allzu verwunderlich, daß Weißrußland- anders als die anderen Republiken - schon nach kurzer Zeit den Weg zurück gewählt hat. bb) Wirtschaft Weißrußland ist ein rohstoffarmes Land, dessen Industrialisierung dariiber hinaus dadurch verzögert wurde, daß es sich lange Zeit seiner Geschichte in einer Grenzlandsituation befand. 243 Dies änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg und mit den damit verbundenen Eroberungen der Sowjetunion in Osteuropa. Da es arm an Bodenschätzen war, andererseits aber bereits eine gute Verkehrsinfrastruktur besaß, wurde es innerhalb der UdSSR als Standort moderner Technik und Technologie ausersehen (Maschinen- und Fahrzeugbau, Landmaschinen, Elektrotechnik, Grundstoffchemie, Raffinerie) und erzielte (nach den baltischen Republiken) das höchste Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner. Allerdings hatte diese Struktur den Nachteil, daß die Industrie arbeitsteilig eng mit der russischen verbunden und damit stark vom Import russischer Rohstoffe, insbesondere Erdöl, abhängig war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet Weißrußland dadurch in gravierende wirtschaftliche Schwierigkeiten; vor allem fielen (wie auch bei der Ukraine und Moldawien) erhebliche Schulden für die Energieimporte aus Rußland an, die das Land nicht mehr bezahlen kann.
242
Adolf Karger, S. 103.
241
Adolf Karger, S. 103.
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In diesem Umstand sehen manche Autoren die Ursache fur die Misere der heiarussischen Wirtschaft und wollen darin auch den Grund flir das Drängen Belarußlands auf eine Wirtschafts- und Währungsunion erkennen. 244 In einem Interview mit der Welt am Sonntag vom 19. April 1998, erklärte der weißrussische Staatschef nach Angaben der GUS hätten 1997 sieben von zwölf Staaten der Gemeinschaft Wachstum erzielt. Dabei läge Weißrußland mit einem Wachstum von 10% zusammen mit Kirgistan an zweiter Stelle hinter Georgien. 245 Diese Zahlen werden allerdings bestritten. Vor allem wird darauf hingewiesen, daß Weißrußland eine hohe Inflation aufzuweisen habe. Ein geringfügiges Wachstum wird aber durchaus für möglich gehalten.246 Die Weltbank hat noch im November 1998 zu erkennen gegeben, daß Weißrußland ohne eine Liberalisierung seiner Wirtschaft nicht mit weiteren Krediten rechnen könne. Solange die Regierung in Minsk nicht den Devisenhandel liberalisiere und die staatliche Kontrolle der Wirtschaft einschränke, sei eine Kreditvergabe nicht möglich. Das Wirtschaftsklima in dem Land sei "unfreundlich". Der staatlich festgelegte Wechselkurs des weißrussischen Rubel zum Dollar sei "verzerrt" und "überbewertet".247 cc) Die außenpolitischen Optionen Weißrußlands Weißrußland hatte zu Beginn seiner Unabhängigkeit die gleichen Optionen wie auch die Ukraine und Moldawien. Es hat sich jedoch mit Amtsantritt von Präsident Lukaschenko für die Option ,,Rückkehr in die Sowjetunion" entschie244 Adolf Karger, S. 103. Siehe auch Informationen zur politischen Bildung, Herausgeberin: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 4. Quartal 1995, Gemeinschaft unabhängiger Staaten, Belarus, S. 23 sowie Heilw Pleines, Die Entwicklung der weißrussischen Wirtschaft 1992-97, in: Osteuropa - Wirtschaft, 43. Jhg., 3/98, S. 242. Elezkich Taissa, Der weißrussische Finanzmarkt noch immer in den Kinderschuhen, in: Osteuropa - Wirtschaft, 43. Jhg., 1/98, S. 26. 245 Auch ohne Westhilfe gehen wir nicht zugrunde, in: WAMS vom 19. April 1998, s. 47. 246 So der Wirtschaftswissenschaftler Holtbrügge bei einer Veranstaltung des Göttinger Arbeitskreises in Mainz, in: FAZ vom 22. April 19988. Ebenso Christiane Hoffmann, Tiefe Krise nicht nur in Rußland. Auch die Ukraine am Rande des Bankrotts, in: FAZ vom 2.9.1998. Christiane Hoffmann bezweifelt die Richtigkeit der gemeldeten Zahlen (Das von Minsk 1997 gemeldete Wirtschaftswachstum von angeblich zehn % ist wohl nur durch die Spitzfindigkeit der dortigen Planwirtschaftsfunktionäre zu erklären). 247 So der Weltbank-Vizepräsident Johannes Lim bei einem Besuch in Minsk, Meldung des Luxemburger Worts vom 4.11.1998.
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den. Innenpolitisch bedeutete dies einen Stopp des Reformkurses, die Aufgabe der demokratischen Entwicklung bis hin zu einer geringeren Achtung bzw. Mißachtung der Menschenrechte (das weißrussische Helsinki-Komitee spricht in seinem Bericht ftir das Jahr 1997 von massiven Menschenrechtsverletzungen in Weißrußland}. 248 Außenpolitisch bedeutete es die ,,Relancierung ostslawischer Unionspläne", wobei als erster Schritt an den Zusammenschluß Weißrußlands mit Rußland gedacht war. In diesem Sinne ist der weißrussische Staatspräsident schon bald in Moskau vorstellig geworden. Der erste Schritt in dieser Richtung erfolgte im April 1996 mit der Gtiindung der sogenannten "Gemeinschaft Souveräner Staaten" (SSR) oder einfach "Gemeinschaft" genannt, die allerdings über einen langen Zeitraum keine Folgen zeitigte bis Jelzin im Januar 1997 Lukaschenko in einem Schreiben ein Referendum über die Vereinigung der beiden ehemaligen Sowjetrepubliken vorschlug, wobei zunächst an eine wirtschaftliche Integration gedacht war. Anfang April 1997 wurde zwischen Rußland und Weißrußland ein Vertrag geschlossen, mit dem die 1996 geschlossene Gemeinschaft in eine Union umgewandelt wurde, wobei aber beide Mitglieder ihre Souveränität, Unabhängigkeit, territoriale Integrität, Verfassung und nationale Symbolik bewahren. Die im Vertrag festgeschriebenen Ziele der Union haben ausschließlich deklarativen Charakter. Die unterschriebene Version war erst zustandegekommen, nachdem von Seiten der russischen Reformanhänger erreicht worden war, daß die ursprünglich vorgesehene Übereinkunft, wonach die Entscheidung supranationaler Organe flir die jewielige nationale Exekutive verbindlich sein sollte, zurückgezogen wurde. Damit wurde der entscheidende Integrationsschritt vermieden, was dem Vertrag letztlich lediglich den Charakter der Umwandlung der 1996 gegründeten "Gemeinschaft" in eine formale "Union" gab. Ende Mai wurde der Vertrag durch ein Statut ergänzt, mit dem die Umwandlung bestätigt wurde; gleichzeitig wurde die neue Union zu einem Subjekt des Völkerrechts erklärt. Die "freiwillige Vereinigung" beider Staaten "auf der Grundlage der freien Willenserklärung ihrer Völker" wird als Entwicklungsperspektive der Union bezeichnet.249 Im Umfeld dieses Zusammenschlusses, der ursprünglich in einem ersten Entwurf den Verzicht auf wirkliche Souveränitätsrechte vorgesehen hatte, gab es von beiden Seiten - nachdem man sich der Konsequenzen bewußt geworden war - erhebliche Bedenken, wobei die weißrussische Seite sich der Bedeutung des Souveränitätsverzichts gegenüber dem unverhältnismäßig mächtigeren Partw Massive Menschenrechtsverletzungen, Bericht des Helsinki-Komitees zur Lage in Weißrußland veröffentlicht, in: FAZ vom 19.12.1997. 249 Jelzin und Lukaschenko unterschreiben das Statut über die Union, in: FAZ vom 24.5.1997.
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ner (Lukaschenko als Gouverneur von W eißrußland)250 und die russische Seite der wirtschaftlichen Gefahren (Verzögerung der Reformpolitik, negative Erfahrungen mit der Zollunion) bewußt wurde. 251 Wie schwierig das Verhältnis beider Länder trotzdes geschlossenen Unionsvertrages, der im Juni 1997 von den Parlamentskammern beider Länder gebilligt worden ist, zeigte sich bereits einige Monate später nach Zwischenfällen, bei denen in Weißrußland russische Journalisten verhaftet wurden und es zu Spannungen zwischen beiden Regierungen kam. 252 Nach dieser Krise, die im Herbst 1997 sogar dazu führte, daß Moskau Lukaschenko die Einreise verweigerte253 , hat die Weiterentwicklung zunächst stagniert und auch das Jahr 1998 brachte - wohl auch wegen der Wirtschaftskrise Rußlands im Sommer 1998, die auch Weißrußland berührte- keine wesentlichen Fortschritte in den beidseitigen Bemühungen. Erst im Oktober 1998 kam es zu einer weiteren Zusammenarbeit, und zwar zu einer Koordinierung der Luftabwehr254 , die im Zusammenhang mit der NATO-Osterweiterung zu sehen ist. Ende 1998 gab es einen neuen Versuch von beiden Seiten mit der Unterzeichnung einer Deklaration "über die weitere Vereinigung Rußlands und Weißrußlands". Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß sich russische Reformer (Gaidar, Tschubais und Nemzow), die bisher gegen die Vereinigung waren, flir einen Beitritt Weißrußlands zur Russischen Föderation aussprachen, und daß die Kommunisten Georgiens den Anschluß auch ihres Landes an die Union zwischen Rußland und Weißrußland forderten. 255 Von Wichtigkeit fiir die weitere Entwicklung Rußlands könnte auch sein, daß sich der weißrussische Präsident Lukaschenko mehr und mehr zu bemühen scheint, Unterstützung in den russischen Regionen und bei fuhrenden russischen Politikern zu finden, wobei inzwischen nicht mehr ausgeschlossen wird, daß er als Kandidat bei den russischen Präsidentschaftswahlen antritt. 256 In dieses Bild könnte es möglicherweise auch passen, daß die weißrussische Regierung offenbar auch ihr
° Christiane Hoffmann, Lukaschenko, einst der Werber in der Romanze mit Moskau, fürchtet jetzt die Umarmung, in: FAZ vom 15.5.1997. 251 In dem unter Fußnote 267 zitierten Artikel der FAZ heißt es: Die Zollunion hat sich für Rußland als ein schwarzes Loch erwiesen, in dem riesige Gelder verschwinden. 25 2 Lukaschenko sagt wegen Spannungen mit Rußland Besuch in Königsberg ab, in: FAZ vom 2.8.1997. 253 Meldung des Luxemburger Worts vom 3.10.1997. 25
Meldung des Luxemburger Worts vom 17.10.1998. Unionsstaat angestrebt, Meldung des Luxemburger Worts vom 28.12.1998. 256 Christiane Hoffmann, Bei uns ernennt der Präsident alle seine Untergebenen. Der weißrussische Staatspräsident Lukaschenko in nicht erklärtem Wahlkampf in der russischen Provinz, in: FAZ vom 23.3.1999. 254 255
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Verhältnis zum Westen verbessern will, worauf ein Brief des weißrussischen Außenministers an Präsident Clinton, mit dem er die rüde Behandlung von westlichen Botschaften (im Sommer 1998) bedauert, hindeutet. 257 Allerdings wird man davon ausgehen können, daß nach den allerneusten Entwicklungen in Rußland: Tschtschenienkrieg, Aufstieg von Ministerpräsident Putin, sein Erfolg bei den Duma-Wahlen im Dezember, Rücktritt von Präsident Jelzin, die Chancen für einen Kandidaten Lukaschenko als kaum realistisch angesehen werden dürften. In den Bemühungen um einen Zusammenschluß von Rußland und Weißrußland hat es im Dezember 1999 einen entscheidenden Fortschritt gegeben: Am 8. Dezember 1999 wurde von den Präsidenten Jelzin und Lukaschenko der Unionsvertrag zwischen beiden Ländern ausgearbeitet, der dann später durch die beiden Parlamente (durch die Duma am 13.12.1999) gebilligt wurde. Der Vertrag sieht die Bildung eines Obersten Staatsrats vor, dem die Präsidenten und Regierungschefs sowie die Parlamentsvorsitzenden beider Länder angehören sollen. Der Staatsrat soll nach dem Grundsatz "ein Staat - eine Stimme" seine Entscheidungen treffen. Zudem soll es ein gemeinsames Parlament beider Staaten geben, in das Rußland 75 und Weißrußland 28 Abgeordnete entsendet. Eine gemeinsame Armee wird nicht gebildet, jedoch eine gemeinsame westliche Gruppe der Streitkräfte. Es ist vorgesehen, den Staatsrat in den ersten Monaten des Jahres 2000 zu bilden. 258 Die Union soll anderen Staaten freistehen. Während der Kosovo-Krise hatte der jugoslawische Präsident Interesse an einem Beitritt seines Landes geäußert, war jedoch in Moskau auf wenig Gegenliebe gestoßen. Der andererseits stets umworbene Partner Ukraine hat sich bisher wenig aufgeschlossen für einen Beitritt gezeigt. Ob der Unionsvertrag- wie Ministerpräsident Putin annimme 59 - einen Reintegrationsprozeß für die ehemaligen Republiken der Sowjetunion in Gang setzen wird, muß die Zukunft zeigen.
Wemer Adam, Weißrußland gesteht Fehler im Umgang mit dem Westen ein, in: FAZ vom 30.11.1998. 25 7
258
Duma billigt Unionsvertrag mit Weißrußland, Meldung der FAZ vom 14.12. 1999. 259 Duma billigt Unionsvertrag mit Weißrußland, Meldung der FAZ vom 14.12.1999.
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14. Der Ostseeraum
Hinsichtlich des Ostseeraumes gibt es fur die Überlegungen russischer Außenpolitik insbesondere zwei Problemkreise: die baltischen Staaten und die Zusammenarbeit aller Ostseeanrainer einschließlich Rußlands. a) Die baltischen Staaten Die drei baltischen Staaten - Estland, Lettland und Litauen - haben sich Anfang 1990 (Litauen am 11.3.1990, Estland am 30.3.1990 und Lettland am 4.5.1990) ftir unabhängig erklärt. Sie sind 1991 nach dem Anti-GorbatschowPutsch aus der UdSSR ausgetreten. Anfang November 1991 wurde ihre Unabhängigkeit von Moskau anerkannt, Mitte November 1991 wurden sie in die UNO aufgenommen. Der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten sind sie im Gegensatz zu allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken nicht beigetreten. Trotzdem vermittelt die russische Politik zeitweise den Eindruck als betrachte Rußland die drei Länder, die zusammen flächenmäßig etwa die Hälfte Deutschlands ausmachen und 7,8 Mio. Einwohner haben (Estland 1,5 Mio., Lettland 2,6 Mio. und Litauen 3,7 Mio.) weiterhin als "inneres" Ausland. Aus diesem Grunde spielen vor allem drei Fragen flir die baltischen Länder eine besondere Rolle, nämlich die eigene Sicherheitspolitik, die Einbindung in den Westen und das Verhältnis zu Rußland. aa) Die Sicherheitspolitik der baltischen Staaten
Der Präsident Estlands, Lennert Mari, hat die Gefahr, die seinem Land von Rußland droht, mit der Gefahr verglichen, die von Grönland drohen könnte. "Wenn die Eisdecke zu schmelzen beginnt oder wenn die Reformbewegung ins Stocken gerät, hat das flir uns ähnliche Folgen." In beiden Fällen werde sein Land zwischen der Küste der Ostsee und der Landmasse Rußlands mit wenig Schutz dastehen. 260 Schon bald nach ihrer Unabhängigkeit - wohl auch weil diese nicht ohne Schwierigkeiten abgelaufen war und letztlich nur durch die Veränderungen in der russischen Politik, den Zerfall der Sowjetunion und den Aufstieg Jelzins möglich wurde - haben sich die baltischen Staaten um eine Mitgliedschaft in der NATO bemüht. Bereits 1995 wurde jedoch deutlich, daß sich gegen den Beitritt erheblicher russischer Widerstand bemerkbar machte. Kurz vor der Unterzeichnung der NATO-Rußland-Grundlagenakte ließ Präsident Jelzin erkennen, daß Rußland von 260
Nachbar Rußland als Last und Chance, in: FAZ vom 24.3.1998.
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den Vereinbarungen mit der NATO wieder Abstand nehmen werde, wenn auch nur eine der ehemaligen Sowjetrepubliken "um jeden Preis" in das atlantische Bündnis streben würde. Jelzin bezog seine Stellungnahme ausdrücklich auf die baltischen Staaten sowie auf die Ukraine. 261 Nach dem Madrider Gipfel - bei dem Polen, Ungarn und Tschechien zu Beitrittsverhandlungen mit der NATO eingeladen wurden- die Balten immerhin im Schlußdokument noch als Aspiranten erwähnt wurden, gab es Kritik aus Moskau.262 Moskau seinerseits wartete im Herbst 1997 mit dem Vorschlag einer einseitigen Sicherheitsgarantie Rußlands für die baltischen Staaten (zunächst ftir Litauen) auf. Dieser Sicherheitsgarantie sollten andere Staaten wie die USA, Deutschland, Frankreich oder andere beitreten können. Diese Initiative, die offenbar weder mit dem Westen noch mit den baltischen Staaten vorher abgesprochen worden war, stieß allerdings auf wenig Gegenliebe auf Seiten der baltischen Staaten. Ähnliche Vorschläge waren übrigens schon früher von Schweden, Finnland und den baltischen Staaten abgelehnt worden. 263 Anfang 1998 wurde ein Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und den drei baltischen Staaten geschlossen, der den gegenwärtigen Stand der baltischen Sicherheitsbemühungen wiedergibt: Die USA bekräftigen in diesem Vertrag unter anderem ihre Unterstützung ftir eine NATO-Mitgliedschaft der baltischen Länder, sichern ihnen aber nicht die von Rußland abgelehnte Mitgliedschaft und bieten ihnen auch keine Sicherheitsgarantien. Immerhin soll der amerikanische Präsident bei Unterzeichnung des Vertrages erklärt haben, daß er hoffe, daß die Zeit ftir eine NATO-Mitgliedschaft bald reif sei und Europa nicht völlig sicher sein könne ohne Sicherheit ftir das Baltikum. Das Abkommen sieht eine Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik und in militärischen Angelegenheiten vor. 264 Nach Angabe von Diplomaten war die russische Regierung über das Abkommen verärgert, da es ihren eigenen Bemühungen um bessere Beziehungen
Moskauer Drohungen zurückgewiesen, in: FAZ vom 23.5.1997. Jelzin kritisiert Beschlüsse des NATO-Gipfels zum Baltikum, in: FAZ vom 14.7.1997 und Jasper von Altenbockum, Für Estland war die Gipfelserie die Mutter aller Wochen, in: FAZ vom 18.7.1997. 263 Rußlands Gegenvorschläge stoßen überwiegend auf Skepsis, FAZ vom 28.10.1997 und Sicherheitsgarantien für die Balten, in: FAZ vom 25.10.1997. 264 USA schließen Vertrag mit baltischen Staaten, in: WAMS vom 18.1.1998, und Partnerschaftsvertrag mit baltischen Staaten geschlossen, in: FAZ vom 19.1.1998. 261
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zu den drei Ländern zuvorkomme. Offene Proteste seien aber ausgeblieben, weil Beistandsverpflichtungen der USA fehlten. 265
bb) Die Anhindung der baltischen Staaten an den Westen Aus der Sicht der baltischen Staaten hatte die Mitgliedschaft in der NATO absolute Priorität bei ihrer Rückkehr in den Westen. Da bald erkennbar wurde, daß eine Mitgliedschaft in der NATO wegen des anhaltenden russischen Protests nicht ohne weiteres möglich sein würde, ist schon früh - sowohl von Mitgliedsländern der Union als auch von den baltischen Staaten - darauf gedrängt worden, daß die baltischen Länder zumindest schnell in die Europäische Union aufgenommen werden sollten. Dabei wurde - vor allem von der deutschen Regierung - unterstrichen, daß es eine doppelte Zurückweisung - weder Aufuahrne in die NATO noch in die EU - nicht geben dütfe. 266 Man war sich bewußt, daß sich neben der NATO die Europäische Union als "die zweite entscheidende Schlüsselinstitution der europäischen Politik der neunziger Jahre erwiesen habe" und daß sie eine wirtschaftlich-politische "Rückversicherung" besonderer Art biete insoweit als eine "Verletzung der Souveränität eines Mit~ gliedsstaates das Verhältnis zur Europäischen Union und damit auch zu einem Kreis von NATO-Staaten aufs Spiel setze."267 Die Beitrittsanträge der baltischen Staaten wurden allerdings unterschiedlich behandelt. Mit Estland, das als am meisten beitrittsreif angesehen wurde, sind die Beitrittsverhandlungen seit März 1998 eröffnet- es wird damit zu den Ländern gehören, die in einer ersten Welle der Union beitreten können. Lettland hat die Kommission im Herbst 1998 in ihrem ersten ordentlichen Bericht Fortschritte auf dem Weg zum EUBeitritt bescheinigt. Der Europäische Rat hatte auf seiner Tagung im Dezember I 998 in Wien die "in diesem Bericht dargelegten Fortschritte gewürdigt und zur Kenntnis genommen, daß die Kommission beabsichtigt, vor Ende 1999 die Eröffnung von Verhandlungen vorzuschlagen, sofern die Dynamik des Wandels beibehalten wird. " 26x
265 266
WAMS vom 18.1.1998.
Bemdt von Staden, Zwischen Rußland und dem Westen, Internationale Politik,
711996, S. 49. Jasper von Altenbockum, Wie die Balten hingehalten werden, in: FAZ vom 13.6.1997; siehe auch Wenn nicht NATO, dann wenigstens EU, in: FAZ vom 18.2.1997. 267 Helmut Hube/, Sicherheit an der Ostsee. Die Europäische Union, die baltischen Staaten und das postsowjetische Rußland, in: FAZ vom 8.7.1997. 26 s Mitteilung des Assoziationsrats EU-Lettland zu seiner Tagung vom 22.2.1999. Pressemitteilung.
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Für Litauen schließlich galt, daß der Europäische Rat auf seiner Tagung in Wien- nach Würdigung des Berichts der Kommission- die Ansicht der Kommission zur Kenntnis genommen hatte, daß "es ihr angesichts der von Litauen erzielten beachtlichen Fortschritte möglich sein dürfte, die Eröffnung von Verhandlungen vorzuschlagen, falls die jüngsten Beschlüsse der Erprobung in der Praxis standhalten."269 Hinsichtlich der Demokratieentwicklung wie auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung - die drei baltischen Länder werden mittlerweile als die "drei kleinen Tiger im Ostseeraum" bezeichnee70 - dürften keine unüberwindbaren Schwierigkeiten fur ein rasches Fortschreiten des Prozesses bestehen. Schwierigkeiten wurden lediglich in den Fragen der Beziehungen zu Rußland und hier insbesondere der Grenzfrage und dem Problem der russischen Minderheiten gesehen. Inzwischen sind Lettland und Litauen durch die Beschlüsse des Gipfels von Helsinki mit den Kandidaten der ersten Beitrittsgruppe gleichgestellt worden. Offizielle Beitrittsverhandlungen sollen im März 2000 beginnen. cc) Die Beziehungen der baltischen Staaten zu Rußland Die Probleme zwischen Rußland und den baltischen Staaten betreffen kurz gefaßt zwei Fragen: Grenzverlauf und Minderheitenschutz. Am einfachsten ist die Situation noch im Verhältnis zwischen Litauen und Rußland. Da Rußland und Litauen nur eine verhältnismäßig kurze und darüber hinaus historisch unbelastete Grenze haben (die Grenze zur Enklave Kaliningrad oder Königsberg), konnte sich der Abschluß eines Grenzvertrages auf die gemeinsamen Ostseeküstengewässer beschränken. Da Litauen auch keine mit Estland oder Lettland vergleichbare russische Minderheit hat (etwa 10 %) stellte diese Frage ebenfalls kein Problem dar. Der Abschluß eines Grenzvertrages konnte daher bereits im Oktober 1997 erfolgen. Schwieriger ist die Situation dagegen im Verhältnis zu Estland und Lettland. Hier gibt es zunächst eine verhältnismäßig lange Grenze, die noch historisch durch Annexionen Stalins belastet ist, und einen beachtlich großen russischen Bevölkerungsanteil (im Falle Estlands ca. 30 %). Bereits im Herbst 1996 wurden Grenzverträge abgeschlossen, nachdem die beiden Länder auch auf Drängen des Westens darauf verzichtet hatten, die von Stalin annektierten Gebiete zurückzuverlangen. Sie sind jedoch von russischer Seite noch nicht unterzeichnet worden. Hierfür wurden zunächst technische Schwierigkeiten geltend Mitteilung des Assoziationsrats EU-Lettland zu seiner Tagung vom 22.2.1999. Pressemitteilung. 270 Otto Graf Lambsdorff, Die kleinen Tiger im Ostseeraum, in: FAZ vom 11.3.1999. 269
B. Die Interessenlage des Landes
III
gemacht, später wurde die unzulängliche Rechtslage der russischen Minder. 211 I hett a s Argument angeführt. Nachdem nun sowohl Estland als auch Lettland ihre Gesetzgebung zur Erlangung des Staatsbürgerrechts geändert, damit die rechtliche Situation der russischen Bevölkerung verbessert und beide Länder sowohl vom Europarat als auch von der OSZE die Bestätigung erhalten haben, daß ihre Gesetzgebung in Einklang mit den Menschenrechten und den Prinzipien der Nichtdiskriminierung steht, dürfte es aus östlicher Sicht keine Bedenken mehr gegen die Unterzeichnung der Grenzverträge geben. Es sei denn man könnte hinter der Haltung Rußlands andere Absichten vermuten, so wie es einige Kommentatoren auch ausdrücken: In einem am 8.7.1997 in der FAZ 212 veröffentlichten Artikel ,.Sicherheit an der Ostsee" hatte Helmut Hubet unter Hinweis aufden Versuch Finnlands, nach dem Zweiten Weltkrieg unter bewußtem Verzicht auf engere Bindung zum Westen sein Verhältnis zu dem übermächtigen Nachbarn zu regeln, angefiihrt: "Der Preis dafür war unter anderem der Verdacht der ,Finnlandisierung' im Westen. Wie die Sowjetunion damals versuchen konnte, mittels der finnischen Kommunisten auf die Innenpolitik des Nachbarn einzuwirken, so versuchen heute einige russische Politiker, sich der russischsprachigen Bevölkerung als Hebel zur Einflußnahme auf die kleinen Nachbarn zu bedienen. Als ein Exponent dieses Kurses kann Rußlands Außenminister Eugenij Primakov angesehen werden, der unter Hinweis auf die russischsprachige Bevölkerung die Unterschrift unter fertiggestellte Grenzverträge mit Estland und Lettland verweigert."
Der Aufsatz wurde vor mehr als zwei Jahren geschrieben, Lettland und Estland haben ihre Gesetzgebung für den russischen Bevölkerungsanteil verbessert, man wird daher sehen müssen, ob der oben zitierte Verdacht zutrifft. Nicht gerade ermutigend stimmt in diesem Zusammenhang allerdings ein am 14.1.1999 in der FAZ veröffentlichter Artikel von Bemd Nielsen-Stokke• dem es het"ßt: bye273, m "Die seit dem Herbst 1996 unterschriftsreifen Grenzverträge mit Estland und Lettland sind immer noch nicht unterzeichnet, und die von Rußland den baltischen Staaten bereiteten wirtschaftlichen Schwierigkeiten (Doppelzölle, Boykottmaßnahmen) dauern an. Zudem verabschiedete die Duma ein recht provokativ anmutendes Gesetz ,Über die staatliche Politik der Russischen Föderation ihre im Ausland lebenden Bürger betreffend', das im Baltikum eigentlich nur als 211 Zur Entwicklung der Situation der russischen Minderheit in den baltischen Ländern vgl. Beuina Westle, Ethnische Zugehörigkeit, nationale Identifikation und Unterstützung der Demokratie. Zur Entwicklung in den baltischen Staaten I 990 bis I 997, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 2, Juni 1999, S. 279 ff. 2 72 Helmut Hube/, Sicherheit an der Ostsee. Die Europäische Union, die baltischen Staaten und das postsowjetische Rußland, in: FAZ vom 8.7.1997. 273 Bemd Nielsen-Stokkebye, Banges Warten im Baltikum, in: FAZ vom 14.1.1999.
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neuer Aufguß der ,Nahes-Ausland-Doktrin' interpretiert werden kann. Mehr noch: Nachdem auch Estland sein Staatsangehörigkeitsrecht den Brüsseler und Moskauer Wünschen entsprechend geändert hatte, meldete sich Rußlands stellvertretende Ministerpräsidentin Valentina Matwijenko mit der Forderung zu Wort, neben den russischen Kindem mUßten auch die in Estland verbliebenen ehemaligen Offiziere und Soldaten der Sowjetarmee die estnische Staatsangehörigkeit erhalten - erst dann werde Rußland seine Haltung dieser baltischen Republik gegenüber ändern."
Daß die Sorgen der Europäer nicht völlig unbegründet sind, zeigt die kürzlich (Dezember 1999) erfolgte Äußerung des zuständigen Kommissars ftir die OsteiWeiterung Günter Verbeugen, der den zuletzt "etwas schärferen Ton" der russischen Kritik am EU-Beitritt Estlands, Lettlands und Litauen als besorgniserregend bezeichnete, wobei allerdings noch ungewiß sei, ob dies nur eine Begleiterscheinung der Tschetschenienkrise sei, oder ab sich dahinter wirklich eine Änderung der russischen Politik abzeichne. 274 b) Chancen der Zusammenarbeit im Ostseeraum aa) Die Möglichkeiten
Um die Möglichkeiten aufzuzeigen, die eine engere Zusammenarbeit der Ostseeanrainer bieten könnte, sollen hier zunächst einige Fakten angeführt werden: -
Das finnische Außenministerium hat der EU vorgerechnet, daß im Bereich der russischen Nachbargebiete Finnlands in der Barents-See, in Nordwestrußland um Murmansk, am Finnischen Meerbusen bei St. Petcrsburg sowie weiter östlich im Archangelsk-Oblast die Rohstoffquellen des kommenden Jahrhunderts lägen.
-
Die Öl- und Gasvorkommen in der Barents-See seien in ihrer Größenordnung denen des Nahen Ostens vergleichbar. NoiWegen und Algerien, derzeit die größten Gaslieferanten der Europäischen Union, würden bis zum Jahr 2020 von den Reserven im Nordwesten Rußlands in den Schatten gestellt. 275
274 EU will zügige Verhandlungen über Erweiterung. Verbeugen: Konkreter Zeitplan bis 2000 angestrebt, in: FAZ vom 23.12.1999. 27 l Jasper von Altenbockum, Finnland -der Wachstumsmotor an der Ostseekilste, in: FAZ vom 6.7.1998.
8. Die Interessenlage des Landes
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Der Außenhandel im Ostseeraum hat in geradezu explosiver Weise zugenommen, was folgende Beispiele verdeutlichen: -
Die Exporte Deutschlands in die Ostseeregion sind schon fast so hoch wie die in die Vereinigten Staaten und Japan zusammen,276
-
der Binnenhandel betrug 1998 bereits 1.000 Milliarden Dollar,277
-
an der im südöstlichen Finnland gelegenen Grenzstation zu Rußland (Vaalimaa) waren es vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahresdurchschnitt jährlich nicht mehr als 20.000 Menschen, die die Grenze in der einen oder anderen Richtung überschritten. Im Jahre 1997 waren es bereits zwei Millionen (!). 278
-
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion fuhren nicht mehr als 800 Lastwagen im Monat über die finnisch-russische Grenze, 1998 waren es bereits 600 täglich (!). 279
-
Hatte es nach dem Zerfall der Sowjetunion ftir die etwa 300 wirtschaftlich mit ihr verbundenen finnischen Großunternehmer zunächst ziemlich düster ausgesehen, so waren es 1998 nicht weniger als 3000 Firmen, die ihre Produkte in Rußland absetzten. 280
-
Bei einem Wirtschaftsgipfel in Stockholm Anfang 1998 sagten Geschäftsleute aus Skandinavien, Polen, Deutschland, dem Baltikum und Rußland voraus, daß sich das Volumen des Ostseehandels in weniger als zwei Jahrzehnten verzehnfachen werde. 281
-
Das Geheimnis der rapiden Entwicklung besteht (zum Teil) darin, daß die Globalisierung hier auf engstem Raum durchgefuhrt werden kann. Bedingt durch das west-östliche Wohlstandsgefalle ist es möglich, teure Forschungs- und Entwicklungsarbeit mit billiger Produktion in der Nachbarschaft zu verbinden. 282
276 Gerd Walter, Zusammenarbeit im europäischen Binnenmeer, in: FAZ vom 11.12. 1998. 211 Gerd Walter, a.a.O. m Wemer Adam, Das Wahrzeichen von Vaalimaa. Wo in Finnland die Gemeinschaft zum direkten Nachbarn Rußlands geworden ist, in: FAZ vom 23.6.1998. 219 Jasper von Altenbockum, Finnland der Wachstumsnutzer an der Ostseeküste, in: FAZ vom 6.7.1998. 280 Werner Adam, Das Wahrzeichen von Vaalimaa, in: FAZ vom 23.6.1998. 281 Jasper von Altenbockum, Die Ostseeanrainer auf hanseatischem Wirtschaftswunderkurs, in: FAZ vom 23.3.1998. m Jasper von Altenbockum, Die Ostseeanrainer auf hanseatischem Wirtschaftswunderkurs, in: FAZ vom 23.3.1998.
8 Pc1er
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Schon 1995 haben die Häfen Estlands, Lettlands, Litauens, Königsbergs (Kaliningrad), Polens und St. Petersburgs ihr Niveau von 1988, also von vor dem Zusammenbruch des Ostblocks, erreicht, zusammengenommen etwa 135 Mio. Tonnen. Von diesem Kuchen sicherten sich die baltischen Häfen im estnischen Talinu, im lettischen Ventspils und im litauischen Kleipeda den größten Anteil. Ventspils kann dabei die mit Abstand größte Frachtration verbuchen. Etwa ein Drittel des russischen Ölexports wird über diesen lettischen Hafen abgewickelt. 283 Mögen manche dieser Überlegungen zwar durch die russische Finanzkrise im Jahre 1998 einen Dämpfer erhalten haben, so bleibt der große Trend dennoch erhalten. Dies scheint selbst für die Emährungsindustrie284 zu gelten, ganz zu schweigen vom Energiesektor.
bb) Die Formen der Zusammenarbeit Gerd Walter führt in seinem Artikel ,,Zusammenarbeit im europäischen Binnenrneer'.285 aus: "Zahlreiche Gremien und Organisationen der politischen Kooperation auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sind entstanden, wie etwa der Ostseerat der Außenminister (CBSS), die Konferenz der sogenannten Subregionen mit rund 160 Gebietskörperschaften, die Union der Ostseestädte oder die jährlich tagende Konferenz der Parlamentarier aus den Ostseeanliegerstaaten, in der sich nationale Abgeordnete wie auch Vertreter von Regionalparlamenten versammeln. Darüber hinaus ist ein dichtes Netzwerk von Nichtregierungsinitiativen gewachsen, vom Verband der ,Ostseehandelskammem' bis hin zur Hafen-Kooperation." In der Vielzahl der Formen der Zusammenarbeit sind es vielleicht zwei Organisationen und ein Programm, die besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil sie richtungsweisend sind für die Schwerpunkte, die sich für die zukünftige Entwicklung ankündigen: -
Der Barentsrat: Wie bereits bemerkt, kann man davon ausgehen, daß die Barentsregion in Zukunft wegen ihrer reichen Bodenschätze eine große Rol-
Jasper von Altenbockum, Die Ostseeanrainer auf hanseatischem Wirtschaftswunderkurs, in: FAZ vom 23.3.1998. 284 Finnlands Emähungsindustrie positioniert sich fiir die EU-Erweiterung, in: FAZ vom 9.10.1998. 281 Gerd Walter, Zusammenarbeit im europäischen Binnenmeer, in: FAZ vom 11.12.1998. Zur Kooperation im Ostseeraum vgl. auch Michael Karlsson, Transnationale Beziehungen in der Ostsee-Region, und Anders Östhol, Zur Struktur des Ostseeraums. Beide Aufsätze in: Weh Trends. Zeitschrift fiir internationale Politik und vergleichende Studien, Nummer 25, Sommer 1999, S. 9 ff und 31 ff. 213
B. Die Interessenlage des Landes
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le spielen wird. Das Ziel des Barentsrates, der 1993 durch eine feierliche Erklärung in Kirkenes von Schweden, Norwegen, Finnland und Rußlandspäter kamen noch Dänemark, lsland und die Europäische Kommission hinzu - gegründet wurde, ist es, .,alles zu tun um aufzubauen, was ein knappes Jahrhundert nicht möglich war, eine lebendige Nachbarschaft, sei es durch Handel, durch Straßen und Schienen, durch Kultur, durch Sozialhilfe. " 286 -
Der Ostseerat: Der Ostseerat ist 1992 als regionales Forum gegründet worden, das die wirtschaftliche und demokratische Entwicklung im Ostseeraum nach dem Ende des Warschauer Paktes stärken sollte. Der Ostseerat, in dem die neun Ostseeanrainer einschließlich Rußlands sowie Norwegen und lsland vertreten sind, und der über ein eigenes in Stockholm angesiedeltes Sekretariat verfugt, hat sich seit seiner Gründung zu einer Plattform mit vielen Verästelungen entwickelt, auf der .,Ost und West wie nirgendwo sonst in Europa in kleinen und konkreten Schritten zusammenarbeiteten, auf der vor allem EU-Mitglieder und EU-Anwärter näherrücken und schon zusammenwachsen konnten. " 287 Besonderes Interesse wurde zuletzt auf Rußland gerichtet, zum einen weil das Zusammenwachsen der EU-Teilnehmer und der EU-Anwärter nach allgemeiner Überzeugung gelungen war und zum anderen, weil man von der Mitwirkung Rußlands etwas enttäuscht war, und die allgemeine Überzeugung galt, daß die Zusammenarbeit nur dann ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen könnte, wenn Rußland engagiert mitwirken würde. 288
-
So plante dann auch Litauen ftir die Zeit seiner Präsidentschaft, vor allem die wirtschaftliche Kooperation mit der russischen Enklave von Königsberg (Kaliningrad) voranzutreiben, ein Gebiet, das den Anschluß an die Nachbarregionen zu verlieren riskiert (während 1997 die Wirtschaft der Nachbarländer rund um die Enklave um bis zu zehn Prozent wuchs, schrumpfte sie in Kaliningrad noch einmal um acht Prozent). 289
-
Die .,nördliche Dimension": Die von Finnland entworfene ,,nördliche Dimension" ist im Grunde genommen eine Verbindung der beiden Initiativen
286 Jasper von Altenbockum, Wald, Wald, Wald und radioaktive Abfalle. Apokalypse neben Paradies: Die Barentsregion sucht Wege in die Zukunft, in: FAZ vom 8.12.1997. 287 Jasper von Altenbockum, Frischer Wind in den Segeln. Neue Hoffnungen auf bessere Zusammenarbeit unter den Ostseeanrainern, in: FAZ vom 1.12.1997. 288 Jasper von Altenbockum, Frischer Wind in den Segeln, in: FAZ vom 22.6.1998 sowie Stockholm. Sitz des Ostseesekretariats. 289 Jasper von Altenbockum, Ein Ostsee-Sium. Litauen bereitet eine KaliningradKonferenz vor, in: FAZ vom 24.6.1998.
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2. Teil: Rußland als ,.Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Barentsrat (Neuerschließung des Handels in der Barentsregion, der durch die Existenz der Sowjetunion 80 Jahre lang blockiert war) mit der Initiative des Ostseerats, der die Ostseeanrainer zusammenbringen sollte und dabei insbesondere das Baltikum und Rußland. 290 Sie ist jedoch nicht bloß die Verbindungzweier Initiativen, sondern mehr, nämlich der Aufbruch zu einer neuen Zusammenarbeit hochentwickelter Länder des westlichen Europa mit an Bodenschätzen reichen Ländern des östlichen Europa in der Region der Ostsee mit dem Ziel, das sich erweiternde neue Europa mit den erforderlichen Energieressourcen zu versorgen, eine Infrastruktur für eine Großregion zu erstellen, damit eine Zone des Wohlstandes zu schaffen und gleichzeitig ein in seiner Umwelt gefährdetes Gebiet zu sanieren. In der etwas trockenen Beamtensprache der Europäischen Kommission zielt das Konzept der nördlichen Dimension darauf ab, -
die wirtschaftliche Entwicklung, die Stabilität und Sicherheit in der Region zu fördern,
-
grenzüberschreitende Probleme anzusprechen,
-
beizutragen, das Gefälle im Lebensstandard zu reduzieren und unmittelbar aus der Region stammende Bedrohungen abzuwehren,
-
Bedrohungen für die Umwelt sowie die atomare Bedrohung verringern zu helfen. 291
In der enthusiastischen Sprache der Journalisten heißt es dagegen, daß hier eine Doktrin entwickelt worden sei - vielleicht sogar die erste für Europa gedachte außenpolitische Doktrin der Europäischen Union überhaupt. 292
290 Jasper von Altenbockum, Auf dem Weg zur modernen Hanse. Rußlands Annäherung führt über eine ,Nördliche Dimension', in: FAZ vom 7.7.1998. 291 Mitteilung der Kommission vom 25.11.1998, Eine nordische Dimension für die Politik der Union. - Die Kommission gebraucht den Begriff nordische Dimension, finnische Stellen dagegen sprechen bewußt von der nördlichen Dimension. In dieser Arbeit wurde deshalb die letztere Definition benutzt. 292 Leitartikel des Luxemburger Worts vom 10.9.1998.
B. Die Interessenlage des Landes
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I 5. Die ehemaligen "Satellitenstaaten" a) Die Ausgangslage Im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, der Auflösung des Warschauer Pakts und des COMECON haben alle ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR - gemeint sind Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien - ihre außenpolitische Ausrichtung geändert. Allesamt strebten sie ihre Rückkehr in den Westen an, von dem sie durch das System des Ostblocks fast fünfzig Jahre getrennt waren.293 Formal bedeutete diese Rückkehr den Antrag auf Mitgliedschaft in NATO und Europäischer Union. Der NATO gehören mittlerweile drei von ihnen an (Polen, Tschechien und Ungarn). Für die EU - für die der Beitritt mit wesentlich tiefgreifendereD Veränderungen innen- und wirtschaftspolitischer Art verbunden ist - gibt es zur Zeit zehn Kandidaten (d.h. die fünf genannten Staaten, nach Auflösung der Tschechoslowakei Tschechien und die Slowakei sowie die fiühere jugoslawische Teilrepublik Slowenien und die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen). Die Rückkehr in den Westen entsprach einem Wunsch dieser Länder, der in den vergangeneo 50 Jahren mehrfach erkennbar wurde (Beispiele sind: der Ungarische Volksaufstand 1956, der ,,Prager Frühling" 1968 sowie die schon früh einsetzende innenpolitische Entwicklung der Systemüberwindung in Polen). Polen spielte dabei eine besonders wichtige Vorreiterrolle und hat auch später in der noch andauernden Periode der Transformation die Maßstäbe gesetzt. In einem Artikel in Der Bürger im Staar 94 hat Klaus Ziemer die Situation Polens, die als Beispiel flir die Situation der ostmitteleuropäischen Staaten gelten kann, beschrieben. Der Inhalt seines Artikels soll hier in der von der Redaktion vorgelegten Zusammenfassung wiedergegeben werden: "Schrittmacher der politischen und wirtschaftlichen Transformation in Ostmitteleuropa war Polen. Der Aufbau einer Zivilgesellschaft, gegen das beherrschende kommunistische Regime gerichtet, begann hier bereits 1976177 und fand seinen ersten erfolgreichen Abschluß mit dem Elitenkompromiß des Runden Tisches 1989. Schwierig war der Weg dann zum Aufbau eines effektiveren Institu-
291 Vgl. hierzu auch Kirsty Hughes/Heather Grabbe/Edward Smith: Lassen sich die MOE-Staaten einbinden? Integrationspositionen der EU-Anwärter, in: Internationale Politik, 4/99, S. 63 ff. Die Autoren führen aus: Mitglied der EU zu werden bedeutet für diese Länder, zu Europa zurückzukehren und sich endgültig aus dem russischen Einflußbereich zu entfernen. 294 Klaus Ziemer, Polen. Nach sieben Jahren ,Dritter Republik', in: Der Bürger im Staat. Ostmitteleuropa, 47. Jahrgang, Heft 3, 1997.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
tionensystems, gipfelnd in der soeben verabschiedeten Verfassung. Die Konsolidierung des Parteiensystems steht noch aus, auch die Rolle der in Polen traditionell starken Kirche bedarf der Neudefinition. Wirtschaftlich hat Polen beachtliche Erfolge vorzuweisen, auch wenn Armut und Arbeitslosigkeit im Gefolge der Reformen nicht zu übersehen sind. Eine Zeitbombe stellt die uneffektive, fiir die Mehrzahl der Betriebe wenig Überlebenschancen aufweisende Struktur der Landwirtschaft dar. Nirgendwo sonst ist die Orientierung nach Westen so stark, und die staatlichen Beziehungen zu Deutschland sind so gut wie seit zweieinhalb Jahrhunderten nicht mehr." Der angestrebte Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten zur Europäischen Union und die damit verbundene Vereinigung des Kontinents bekundet eine historische Wendemarke und ist nicht zu Unrecht geeignet, begeisterte Kommentare auszulösen. Aber auch nüchtern gesehen bietet diese Entwicklung Grund zur Zufriedenheit, da sie zur Stabilität und Sicherheit des Raumes erheblich beitragen wird, wie von der Studiengruppe Erweiterung des Instituts für Europäische Politik zu Recht geschlußfolgert wurde: 295 ..Die Ost-Erweiterung verfolgt deshalb zwei politische Ziele mit externen und internen Komponenten: Die institutionelle Stabilisierung der politischen und ökonomischen Systeme in den Beitrittsländern bedeutet eine Ausweitung des westlichen Modells der pluralistischen, rechtsstaatliehen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft. Diese Konvergenz der politischen Systeme in Ost- und Westeuropa stellte bereits eine bedeutende friedenspolitische Leistung dar. Durch die Einbindung werden die MOE-Länder darüber hinaus außen-, sicherheits- und außenhandelspolitisch gestärkt gegenüber ihren direkten Nachbarn im Osten und Westen- also dem vereinten, ökonomisch und politisch gewichtigen Deutschland einerseits und dem trotz der politischen und ökonomischen Krise und Schwäche immer noch mächtigen Rußland andererseits. Alleingänge, Einflußzonen und Sonderverhältnisse werden durch die Aufnahme in die EU - und die NATO - verhindert."
b) Die aktuelle Lage Die Kommission hat 1997 vorgeschlagen, die ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten nach ihrem Reifegrad in zwei Gruppen einzuteilen und die BeitrittsverbandJungen zunächst mit der ersten, der Spitzengruppe, zu beginnen. Der ersten Gruppe gehörten an: Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Estland (sowie der Mittelmeerstaat Zypern), zur zweiten Gruppe zählten Lettland, Litauen, die Slowakei sowie Rumänien und Bulgarien. Ende März 1998 wurden die Beitrittsverhandlungen mit der ersten Gruppe feierlich eröffuet und nach mehrmonatiger Vorbereitungsphase (technische Vorgespräche) am 10. November 1998 begonnen. m Zusammenfassung der Beratungen der Studiengruppe Erweiterung des Instituts für Europäische Politik (IEP) unter Vorsitz von Elmar Brok, MdEP.
B. Die Interessenlage des Landes
119
Kurz zuvor hatte die Kommission eine Aufstellung der Mängel und Fortschritte aller Kandidaten, auch der der zweiten Gruppe, hinsichtlich ihrer Beitrittsreife vorgelegt. Die Ergebnisse sind in dem am 17.11.1998 von der Kommission in seiner endgültigen Form veröffentlichten Gesamtdokument ,.Bericht der Kommission über die von den einzelnen Bewerberländern auf dem Weg zum Beitritt erzielten Fortschritte" enthalten. Des Umfangs halber soll hier auf eine im Luxemburger Wort vom 17. November 1998 veröffentlichte Kurzfassung zwückgegriffen werden, die fur die ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten (die Studie hatte auch Zypern und Malta eingeschlossen) zu folgendem Ergebnis gelangte: "Polen: In Polen müssen die Umstrukturierung der Wirtschaft stärker vorangetrieben und Rückschritte in der Handelspolitik vermieden werden. Mängel vor allem beim Umweltschutz, Standardisierung und Wettbewerbskontrolle. Ungarn: Ungarn muß die Korruption wirksamer bekämpfen und die Lage der Roma verbessern. Als funktionierende Marktwirtschaft ist Ungarn gut auf einen EU-Beitritt vorbereitet. Anstrengungen werden noch im Umweltschutz erwartet. Tschechien: Die Übernahme von EU-Recht bei Binnenmarkt, Justiz und Landwirtschaft geht zu langsam voran. Sorge bereitet die Lage der Roma. Tschechien wird als funktionierende Marktwirtschaft bewertet. Slowenien: In Slowenien stockt der Anpassungsprozeß. Nur wenn die Wirtschaftsreformen rechtzeitig vollendet werden, kann das Land mittelfristig den Marktkräften in der EU standhalten. Besondere Auftnerksamkeit gelten der Justiz und dem Gesetzgebungsverfahren. Estland: In Estland werden Entscheidungen zur Einbürgerung staatenloser Kinder angemahnt. Zudem müssen im Justizwesen Ausbildung und Aufstiegschancen verbessert werden. Wirtschaftlich muß die Politik fortgesetzt werden, um Ungleichgewichte in internationalen Handelsbeziehungen zu begrenzen. Lettland: Lettland werden große Fortschritte bei der Annäherung an die EU bescheinigt. Gleichwohl bestehen Defizite bei der Reform der öffentlichen Verwaltung, der Stärkung der Justiz und der Bekämpfung der Korruption. Die russische Bevölkerung muß die Möglichkeit erhalten, Lettisch zu lernen. Litauen: In Litauen sind weitere wirtschaftliche Reformen notwendig. Zudem müssen die Korruption stärker bekämpft und die Justizreform fortgesetzt werden. Bei der Anpassung von EU-Recht ist noch einiges zu tun. Slowakei: Die jüngsten Wahlen biete dem Lande die Chancen, Schwächen im politischen Bereich aufzuarbeiten und die Beitrittsvorbereitungen zu verstärken. Die Slowakei hat die meisten notwendigen Reformen zum Aufbau einer funktionierenden Marktwirtschaft eingeleitet. Bulgarien: Bulgarien muß noch größere Anstrengungen im Kampf gegen die Korruption und bei der Reform des Justizwesens unternehmen. Trotz Fortschritten beim Aufbau der Marktwirtschaft würde Bulgarien "ernsthafte Schwierigkeiten" haben, dem Konkurrenzdruck in der EU standzuhalten.
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2. Teil: Rußland als .,Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Rumänien: Rumänien muß die Korruption stärker bekämpfen, die Arbeit der Gerichte verbessern und individuelle Freiheiten sowie die Rechte der Roma schützen. Die Reform der öffentlichen Verwaltung muß höchste Priorität haben. Beim Aufbau einer Marktwirtschaft hat Rumänien bislang wenig Fortschritte gemacht."
Die Liste wurde deshalb mit großem Interesse aufgenommen, als man sich durch sie Klarheit schaffte, ob der eine oder andere Staat der zweiten Gruppe doch noch in die Spitzengruppe vorstoßen könnte. Im Ergebnis blieb es jedoch bei der bisherigen Zweiteilung, wobei allerdings ftir Lettland - wegen der von ihm vorgenommenen Reform, insbesondere im Bereich des Staatsbürgerrechts - ein möglicher früherer Beginn der Beitrittsverhandlungen - eventuell schon 1999 - angedeutet wurde. Ebenfalls recht günstig - wenn auch weniger konkret als ftir Lettland - waren die Überlegungen ftir Litauen und die Slowakei. Weniger günstig waren die Aussichten ftir Rumänien und Bulgarien, wobei allerdings das besondere Engagement Bulgariens herausgestrichen wurde. Die wirtschaftliche Kraft der zehn Beitrittskandidaten liegt, wenn man vom Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ausgeht (für das Jahr 1997) im Durchschnitt bei etwa 40 Prozent des Durchschnitts des Bruttoinlandsproduktes der jetzigen Mitglieder, wobei allerdings Tschechien (65) und vor allem Slowenien (68) den beiden Schlußlichtem Griechenland (69) und Portugal (71) schon recht nahe kommen.296 In allerjüngster Zeit ist nunmehr Bewegung in den Erweiterungsprozeß gekommen: Auf der Grundlage eines Vorschlags der Kommission vom Oktober haben die EU-Staats- und Regierungschefs beschlossen, auch mit den Staaten der zweiten Gruppe (Lettland, Litauen, Slowakei, Bulgarien, Rumänien) - hinzu kommt noch Malta - Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, die bereits im Februar 2000 beginnen sollen. Der Türkei- auf die noch später eingegangen werden soll - wurde der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt, ohne daß jedoch schon Verhandlungen über einen Beitritt aufgenommen werden sollen. Spekulationen über die konkreten Beitrittsdaten wären verfrüht. Nach Meldung der FAZ rechnen EU-Diplomaten jedoch damit, daß die EU bis zu den Jahren 2003 und 2004 von 15 auf möglicherweise 22 oder 23 Mitglieder wachse.297 Die besten Aussichten dazuzugehören haben die fünf Staaten der ersten Gruppe. Weniger günstig sind die Aussichten für einen raschen Beitritt für Bulgarien und Rumänien. 296 Tabelle zum Bruttoinlandsprodukt je Einwohner der Mitglieder und Beitrittskandidaten im Jahre 1997, abgedruckt in der FAZ vom 18.9.1998. 291 Die EU wird bis 2004 vermutlich auf 23 Mitglieder wachsen, in: FAZ vom 30.12.1999.
B. Die Interessenlage des Landes
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c) Rußlands Haltung Für Rußland ist die sich ankündigende Erweiterung der Europäischen Union um die genannten zwölf Beitrittskandidaten, mit denen bereits verhandelt wird bzw. mit denen Beitrittsverhandlungen im Februar 2000 aufgenommen werden sollen, nicht ohne Bedeutung. Die Fläche der Europäischen Union vergrößert sich um 33 %, die Bevölkerung um 28 %. Die gemeinsame Grenze (bisher nur mit Finnland) wird wegen Estland und Lettland verdoppelt und- geht man davon aus, daß Weißrußland nunmehr durch die gemeinsame Union mit Rußland fest verbunden sein wird- wegen Polen und Litauen sogar verdreifacht. Die Europäische Union zeigt bereits jetzt eine große Anziehungskraft auch auf Länder der GUS (fiir Rußland das "nahe Ausland") wie die Ukraine, Moldawien und Georgien, wenn auch bisher keinerlei Bereitschaft der Europäischen Union erkennbar ist, ehemalige Sowjetrepubliken - mit Ausnahme der baltischen Staaten - aufzunehmen. 298 Die russischen Reaktionen sind daher "diplomatisch vorsichtig" geworden. Noch 1997 - bei Einteilung der Erweiterung hatte der Sprecher des russischen Außenministeriums Waleri Nesteruschkin geäußert: "Wir sehen diesen Prozeß als objektive Realität, die die vorherrschende Tendenz auf dem europäischen Kontinent widerspiegelt."
Um dann weiter zu bemerken, die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und Zusammenarbeit in Europa werde die Basis fiir die Beziehungen zwischen Staaten im kommenden Jahrhundert bilden. Auch die Erweiterung um die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, die früher zur Sowjetunion gehörten, könne sich positiv auswirken. Dies könne in erster Linie das Problem der russischen Minderheiten im Baltikum lösen helfen. 299 Der Tenor hat sich mittlerweile leicht geändert. Im Februar 1999 informierte der Botschafter Rußlands bei der EU, Vasily Likhachev, daß Moskau von der EU in Anwendung des Art. I 02 des Kooperations- und Partnerschaftsvertrages erwarte, daß man sich konsultiere - und zwar so weit als möglich noch während der laufenden Verhandlungen, um negative Auswirkungen der Erweiterung auf Rußland zu verhindern. Man wolle vermeiden, daß sich das Szenarium von 1995 beim Beitritt Österreichs, Schwedens und Finnlands wiederhole, als man die Sorgen Rußlands nicht berücksichtigt habe, mit dem Ergebnis, daß Schäden entstanden seien, ohne daß es hierftir eine Kompensation gegeben habe.300 Vgl. hierzu die Äußerungen des für die Osterweiterung zuständigen Kommisars Verheugen in der FAZ vom 23.12.1999 (EU will zügige Verhandlungen über Erweiterung). 29 9 Moskau beurteilt EU-Erweiterung positiv, in: FAZ vom 16.12.1997. 300 Bulletin quotitien Europe, No. 7409, vom 20.2.1999, S. I 0. 29 K
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Darüber hinaus habe Rußland eine Reihe von zusätzlichen Fragen: Stelle die Erweiterung um die zehn ostmitteleuropäischen Länder den Schlußpunkt dar oder gäbe es noch weitere, z.B. um Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)? Außerdem gäbe es keine ausreichende Klarheit über die Wechselwirkung zwischen dem Erweiterungsprogramm der NATO und dem der EU. Schließlich sei man in Bezug auf die baltischen Staaten beunruhigt hinsichtlich der Behandlung der russischen Minderheiten. 301 Die Formulierungen des russischen Botschafters müssen nachdenklich stimmen. Drei russische Optionen sind grundsätzlich denkbar: -
Rußland könnte versuchen, die Erweiterung unter Hinweis auf gefährdete eigene Interessen zu behindern oder sogar zu verhindern.
-
Rußland könnte die Erweiterung zulassen, aber Kompensationen für ihm durch die Erweiterung entstandenen "Nachteile" verlangen.
-
Rußland könnte aber auch in der Erweiterung die Chance sehen, seine eigene Nähe zur Union zu vertiefen, um damit seine eigene Position zu verbessern.
Welche Option Rußland wählen wird, hängt nicht zuletzt von der Politik ab, die die neue russische Führung nach den Duma-Wahlen vom 19. Dezember 1999 und der Einsetzung Wladimir Putins zum amtierenden Präsidenten nach dem Rücktritt Boris Jetzins einschlagen wird.
I 6. Der Balkan
a) Allgemeines Der Balkan ist die europäische Region, in der im Sinne der Huntingtonschen Thesen drei Kulturen aufeinandertreffen, bei denen nicht zu unterschätzende Mythen eine Rolle spielen und die im Laufe der Geschichte des öfteren in heftige Auseinandersetzungen miteinander geraten sind: -
Der westliche Kulturkreis: Er ist nach Huntington302 und anderen im wesentlichen gleichzusetzen- soweit es den Balkan betrifft - mit dem ehemaligen Habsburger Reich. Timothy Garton Ash schreibt dazu, nachdem er die westliche Welt als die Neohabsburger bezeichnet hae03
Bulletin quotitien Europe, Nr. 7306, vom 17.2.1999, S. 5. Samuel Huntington, Kampf der Kulturen, S. 252. JoJ Timothy Garton Ash, Schneetreiben. Im Kosovo muß die Geschichte eingefroren werden, in: FAZ vom 29.12.1998. JOI
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"Denn in diesen unheilgeplagten Provinzen des Balkans entsteht das Regiment der Habsburger in merkwürdiger Gestalt von neuem: Die Amerikaner spielen dabei die Rolle der dominierenden Österreicher, und die Westeuropäer spielen, wie damals die Ungarn, die zweite Geige."
-
Oberstes Ziel der Habsburger auf dem Balkan war es, das eigene Reich vor den immer weiter nach Westen vordringenden islamischen Osmanen zu schützen, indem man so weit als möglich Einfluß auf den Balkan gewann und dort eine Barriere gegen die Türken errichtete. Einer der treuesten Verbündeten in diesem Kampf waren lange Zeit die Serben, bis der Streit um Bosnien beide Länder entzweite und der Sturz der Dynastie Obrenovic durch die Rivalen, die Kadjordjevic, Serbien an die Entente und an Rußland heranftihrte. 304
-
Der islamische Kulturkreis: Über mehrere Jahrhunderte hinweg war die Türkei die beherrschende Macht auf dem Balkan, wobei ihr Drängen nach Wf>sten mehrfach die Länder des sog. christlichen Abendlandes in ernste Bedrängnis (,,Die Türken vor Wien") brachte. Nach dem allmählichen Zerfall ihrer Macht und der Auflösung des osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg ist die Türkei in ihrem Besitzstand in Europa auf einen schmalen Brückenkopf zurückgedrängt worden. Der Islam ist jedoch in der Region geblieben vor allem dort, wo es albanische Bevölkerung gibt, deren Bindung an die Osmanen besonders stark war (und ist), also in Albanien, Mazedonien, aber auch in Serbien (Kosovo). Die zweite wichtige Säule des islamischen Kulturkreises bilden neben den Albanern die Bosnier in Bosnien-Herzegovina, wo alle drei Kulturen aufeinandertreffen und in einem sehr unsicheren Staatsverband zusammengehalten werden.
-
Der orthodoxe Kulturkreis: Wenn man wie Huntington das religiöse Element als das wesentliche Element zur Bestimmung eines Kulturkreises ansieht, so müßte der Balkan überwiegend dem orthodoxen Kulturkreis zugerechnet werden, da der orthodoxe Glaube der weit überwiegende Glaube in den meisten Ländern des Balkans ist, so in Rumänien, Bulgarien, Mazedonien (2/3 der Bevölkerung), Jugoslawien, Bosnien-Herzegovina (in dem Bereich, in dem Serben siedeln), aber auch in Griechenland.
Die Gegensätze zwischen der Welt des orthodoxen Kulturkreises und der des westlichen Kulturkreises wird durch geschichtlich bedeutende Daten erkenntlich: der Teilung des Römischen Reiches in Ost- und Westrom und im Schisma zwischen dem orthodoxen und katholischen Christentum im Jahre 1054.
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Johann Georg Reißmüller, Brüder im Slawismus, in: FAZ vom 6.1.1999.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Die Gegensätze zur Welt des islamischen Kulturkreises sind besonders mit dem Jahr 1389 verbunden, als die Serben auf dem Amselfeld eine entscheidende Schlacht gegen die Türken verloren und von diesem Zeitpunkt an das Kosovo traditionell als mystisches Kernland ihres großen mittelalterlichen Staates und ihrer nationalen Identität betrachtet haben. Ein anderes Datum ist möglicherweise noch wichtiger, das Jahr 1453 nämlich, mit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und dem daraus in späteren Jahrhunderten entwickelten Mythos von Moskau als drittem Rom. b) Die aktuelle Lage Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann die Lage auf dem Balkan und die angestrebten Ziele der einzelnen Länder so umschrieben werden: -
Slowenien- im äußersten Westen gelegen- hat schon früh den Anschluß an den Westen gesucht. Es möchte der NATO beitreten und es gehört zu den Staaten mit besonders günstigen Aussichten flir eine baldige Aufnahme in die Europäische Union.
-
Rumänien und Bulgarien suchen ebenfalls den Anschluß an den Westen. Sie haben einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt und hinsichtlich eines Beitritts zur Europäischen Union gehören sie zur zweiten Erweiterungsgruppe, mit der im Februar 2000 die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen.
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Mazedonien und Albanien sind ebenfalls nach Westen orientiert. Sie sind an einer Mitgliedschaft in NATO wie auch in der EU interessiert. Ihre Anbindung an Europa bewegt sich erst auf dem Niveau eines Partnerschaftsund Kooperationsabkommens (auf beide Länder wird auch das PHAREProgramm angewandt), was allerdings als Vorbereitung flir eine spätere Assoziierung angesehen werden kann und damit eine Beitrittsoption eröffnet.
-
Mit den drei verbleibenden Ländern Kroatien, Jugoslawien (Serbien und Montenegro) und Bosnien-Herzegovina gibt es so gut wie keine Beziehungen des Westens mit Hinblick auf eine stärkere Einbindung. Im Falle Kroatiens könnte sich dies nach dem Ende der Ära Tudjmann allerdings schon bald ändern. Für den zuständigen Kommissar Verheugen gibt es danach keinen Grund, Kroatien "anders zu behandeln als die politisch vergleichbare Slowakei." Für Jugoslawien dagegen kann man davon ausgehen, daß das Land keine Anhindung an den Westen suchen wird305 , solange die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse bestehen.
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c) Perspektiven Im gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem die Folgen des Konflikts im Kosovo noch nicht endgültig beseitigt sind, ist es schwer, Perspektiven flir den Balkan auszumachen und darzulegen. Es lassen sich jedoch folgende Überlegungen anstellen: Aus der Sicht der islamischen Welt hatte Bassam Tibi in einem Aufsatz in Heft 7 der Zeitschrift Internationale Politik im Zusammenhang mit den Konsequenzen aus dem Bosnien-Konflikt darauf hingewiesen, daß die muslimischenGläubigen auf dem Balkan bis zum Balkan-Krieg keine Verbindung zur außereuropäischen Welt des Islam hatten und sich auch nicht der Umma, der universellen religiösen Gemeinschaft aller Muslime, eingeordnet hätten. Das sei jetzt anders, mit möglicherweise fatalen Folgen. Bosnien sei vor dem Krieg ein Modell nicht nur des Religionsfriedens, sondern auch eines aufgeklärten, d.h. pluralistisch ausgerichteten Euro-Islam gewesen, das die Serben weitgehend zerstört hätten. Das Versagen Europas bei der Eindämmung des serbischen Völkermords an den Muslimen werde in der Welt des Islam seither zu einem Gegenstand der Propaganda. Man unterstelle einen Angriff der gesamten Christenheit auf den Islam, sehe im Bosnien-Krieg eine christliche Fortsetzung der Kreuzzüge.306 Es steht zu berurchten, daß durch die Kosovo-Krise, die von Bassam Tibi erwähnte anti-westliche Stimmung in der islamischen Welt trotz des militärischen Einsatzes und Erfolgs der NATO verstärkt worden ist. Erste Reaktionen aus der arabischen Welt und aus dem Iran sind bisher schwer einzuschätzen.307 ln der islamischen Türkei kommt durch die historischen Gemeinsamkeiten eine weitere Sichtweise hinzu: Die Albaner werden von der Türkei vor allem aufgrund der historischen Gemeinsamkeit immer noch als "unsere Leute" betrachtet.308 In der westlichen Türkei leben heute Millionen Menschen, deren Herkunft der Balkan ist. 309 Kein Wunder also, daß die Türkei sich früh dazu
105 Meldung der FAZ vom 23.12.1999 (EU will zügige Verhandlungen über Erweiterung). 106 Zitiert nach Amulf Baring, Ein vorläufiger, trügerischer Friede. Zur Lage auf dem Balkan. Aus politischen Zeitschriften und in der FAZ. 107 Wolfgang Köhler, Die arabische Welt hat Angst vor einem Präzedenzfall, in: FAZ vom 6.4.1999. Siehe auch: Araber uneins über die Bewertung des Kosovo-Konflikts. Unfähigkeit, den Glaubensbrüdern auf dem Balkan zu Hilfe zu kommen. Vergleiche mit dem Golfkrieg, in: FAZ vom 12.4. 1999 und Recht oder Unrecht, mein Glaube. Die arabische Welt streitet um den NATO-Einsatz gegen Jugoslawien, in: FAZ vom 12.4.1999. 10 ~ Türken und Albaner, in: FAZ vom 6.4.1999.
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bereiterklärt hat, albanische Flüchtlinge aufzunehmen und im Kosovo-Kontlikt Bodentruppen zur VerfUgung zu stellen. Auswirkungen der Kosovo-Krise auf die islamische Welt sind daher nicht auszuschließen und es bleibt abzuwarten, ob sich dies für den Westen günstig oder ungünstig auswirkt. Die Gefühlslage in der orthodoxen Welt andererseits wird sehr einprägsam in einem Artikel in Les Dernieres Novelles d'A/sace von Anfang April 1999 wiedergegeben, wo es heißt: ,,An diesen Ostertagen, so symbolbeladen fur die Christen, und angesichts des orthodoxen Osterfestes nächste Woche, gewinnt der Krieg auf dem Balkan eine besondere Dimension. Auch eine religiöse, wie wenn das Schisma von 1054 sich vor unseren Augen erneuern würde. Es ist wahr. Nach dem Beispiel von Johannes Pau\11 betet der Westen um den Frieden. Aber die orthodoxe Welt schart sich um Serbien. Griechenland, Mitglied der NATO und der Europäischen Union, die sein wirtschaftliches Überleben subventioniert, blickt nur auf Belgrad, genauso wie Zypern, das sich aber um die Aufnahme in die EU bewirbt. Die Nachbarn Jugoslawiens wie Rumänien und Bulgarien fllhlten sich befangen. Rußland, sich mit Weißrußland und teils auch mit der Ukraine ablösend, handelt im Namen slawischer und orthodoxer Solidarität. Eine Solidarität, die immer die NA10 verdammen wird."310
Wenn man in Rußland auch nicht unbedingt sehr glücklich über Milosevic und dessen Verhalten ist, und aus realpolitischer Sicht mehr gemeinsame Interessen mit Europa als mit Milosevic und Serbien hae'', so ist der Einfluß der Ereignisse im Kosovo auf die gesamtrussische Stimmungslage nicht zu unterschätzen. Nach Viktor Kriwulin nimmt der "statistische" Durchschnittsrusse (Milosevics) Serbien als verkleinertes Abbild Rußlands wahr und zwar nicht weil ihm dies der Verstand eingibt, sondern ein mythologisches Gespür.312 In das gesamtpolitische Bild paßt es dann hinein, daß Jugoslawien bereits im Januar 1999 durch den stellvertretenden Außenminister Seselj geäußert hat,
m Wolfgang Günter Lerch, Das Pulverfaß Amselfeld, 28.2.1998. ~ 10 Stimmen der Anderen, in: FAZ vom 6.4.1999. ~ 11 So der stellvertretende russische Außenminister Nicolai Afanasiewski beim Treffen des Parlamentarischen Kooperationsausschusses EU-Rußland vom 26.-29. Oktober in Moskau, Bericht der Vorsitzenden des Ausschusses, Constanze Krehl, vom 27.11.1998. m Viktor Kriwulin, Der neue kalte Krieg. Warum wir in Rußland gegen die Angriffe der NA10 auf Serbien sind, in: FAZ vom 27.3.1999. Siehe auch Wolf Oschlies, Slawische Brüder und russische Balkanpolitik, in: Osteuropa, 6/99, S. 555. Der Autor sieht die Möglichkeit einer serbisch-russischen Verbrüderung allerdings eher skeptisch.
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Jugoslawien wolle der Union Rußlands und Weißrußlands beitreten313 , ein Antrag, der später von Jugoslawien offiziell gestellt werden sollte. d) Die Auswirkungen auf die westliche Welt Die westliche Welt und vor allem Europa geraten durch diese Entwicklung in eine schwierige Situation, die erst durch die endgültige Lösung des KosovoKonflikts beendet werden kann. Dennoch, ihr Rezept, Lösung von Konflikten zwischen Völkern durch Integration, das in der Vergangenheit erstaunliche Erfolge im Westen, aber auch im Osten- Lösung der Menschenrechts- und Minderheitenfrage in mehreren Ländern Osteuropas in Zusammenhang mit der Option des Beitritts zur EU - erzielen konnte, bleibt weiterhin gültig. Auf die Dauer gesehen ist dies der Königsweg zur Lösung der Probleme in Südosteuropa, wie es Emil Mintchev in einem Artikel in der Zeitschrift ftir Internationale Politik überzeugend dargelegt hat. 314 In diesem Sinne ist auch die zunehmende Bereitschaft der Europäischen Union zu sehen, den Ländern Südosteuropas eine stärkere Anhindung an die Union315 - über den Stabilitätspakt ftir den Balkan hinaus - anzubieten. Die weitere Entwicklung wird daher entscheidend davon abhängen, ob es gelingen wird, den Kosovokontlikt endgültig zu lösen. Mit jeder Verschärfung wird sich die Radikalisierung in der slawisch-orthodoxen und auch in der islamischen Welt erhöhen und damit die Entfremdung gegenüber dem Westen verstärken. Für Rußland bedeutet dies, daß die Krise um Serbien es in eine Rolle drängen könnte, die zu einer fatalen Wende seiner bisherigen Politik führen könnte und erhebliche Auswirkungen auf seine Nachbarstaaten hätte. Die große Gefahr dieser Entwicklung ftir Rußland besteht darin, daß ein immer größer werdender Teil der russischen Bevölkerung Gefallen finden könnte am serbischen Weg. Für ein Volk, das schwere Enttäuschungen durchgemacht hat und m Jugoslawien will Union Rußlands und Weißrußlands beitreten. Historische Chance für slawische Zivilisation. Beobachterstatus bei Parlamentarischer Versammlung, in: FAZ vom 23.1.1999. 314 Emil Mintchev, Südosteuropa nach der Wende. Das Zusammenleben der Ethnien, in: Internationale Politik, Oktober 97, Nr. 10.. S. 45 ff. Ders.: Friedensordnung nach dem Kosovo-Krieg. Eine integrative Strategie für den Balkan, in: Internationale Politik, 5/99, S. 55 (59). 315 Im Zusammenhang mit der Bekanntgabe der ,.Leitlinien" für die EU-Hilfen zur Stabilisierung der Länder des westlichen Balkans hat der für EU-Außenbeziehungen zuständige Kommissar Patten darauf hingewiesen, daß den Ländern aufbauend auf einer engen Zusammenarbeit auch die Perspektive einer ,.stufenweisen Integration" in die Europäische Union eröffnet werden solle. (Meldung der FAZ vom 9. 12. 1999: Leitlinien für EU-Hilfen zur Stabilisierung des Balkans.)
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dadurch teilweise orientierungslos geworden ist, könnte ein Mythos, wie der serbische, der im Grunde genommen, bedenkt man das Ergebnis der Schlacht auf dem Amselfeld, ein Mythos des Untergangs ist, eine fatale Anziehungskraft besitzen. Viktor Kriwulin316 schreibt dazu: "In der russischen Gesellschaft Baujahr 1999 gibt es im Zuge ihrer sozialen Differenzierung und ihres Zerfalls immer mehr Menschen, die psychisch zur bewaffneten Trennung Rußlands von der Weltgemeinschaft bereit sind. Die Liebesaffäre mit dem Westen hat zu große Enttäuschungen gebracht, und in den Kopf des von der Krise gebeutelten ,kleinen Mannes' schleicht sich der Gedanke ein: Sollten wir nicht alle den serbischen Weg gehen?"
Möglicherweise hat bereits hier das dann später im Tschetschenienkonflikt zu erkennende Umdenken der öffentlichen Meinung in Rußland begonnen, wenn auch die Hauptursache nicht im Kosovokonflikt gesehen werden kann.
/7. Türkei In Anlehnung an die Unterscheidung mittelbar-unmittelbar könnte man von der Türkei sagen, daß sie kein unmittelbarer wohl aber - wegen der Rolle der türkischsprechenden Völker innerhalb der rußländischen Föderation und im sog. "nahen Ausland"- ein mittelbarer Nachbar Rußlands ist. Rußland und die Türkei haben in ihrer Geschichte mehr Gemeinsamkeiten aufzuweisen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Beide haben in der Periode der sog. Neuzeit - wie übrigens fast alle europäischen Völker - ihren Aufstieg erlebt, um spätestens im 20. Jahrhundert - wie alle europäischen Völker - die vorher gemachten Eroberungen wieder zu verlieren. Bei Rußland geschah dies durch die Auflösung der Sowjetunion, bei der Türkei durch das Ende des Osmanischen Reiches. Beide Länder waren aber auch erbitterte Gegner, wobei Rußland im Endeffekt und nach langen Kämpfen als Sieger hervorging. Die Auseinandersetzungen und das damit verbundene allmähliche Vordringen Rußlands nach Süden wird aus der folgenden Zeittabelle deutlich, die einen Zeitraum von genau 200 Jahren umfaßte: 317 14.7.1700
Im Friedensvertrag zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich behält der Zar Asow. Außerdem wird festgelegt: Der Krim-Khan darf von Moskau keinen Tribut mehr fordern.
1722/23
Russischer Feldzug gegen Persien. Der Zar gewinnt persische Provinzen am Kaspischen Meer, unter anderem Derbent und Baku.
~ 16 Viktor Kriwulin, Der neue kalte Krieg, in: FAZ vom 27.3.1999.
Ygl. hierzu die von Peter Scholl-Latour in: Den Gottlosen die Hölle. Der Islam im zerfallenden Sowjetreich aufgestellte Zeittafel (S. 185), die die Auseinandersetzungen von 1700 bis 1898 umfaßt. 317
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1773
Zarin Katharina die Große läßt in Ohrenburg eine "Geistliche Versammlung für die Muslime Rußlands und Sibiriens" gründen.
21 .7. 1774
Der Friede von Kütschük-Kainardschi beendet den Türkenkrieg Rußland erhält Zugang zum Schwarzen Meer, die Straße von Kertsch und die Große und die Kleine Kabardei (Nordkaukasien). Das Osmanische Reich gibt sein Protektorat über das Khanat der Krim-Tartaren auf.
1783
Fürst Poternkin erobert die Krim.
24.1 0.1813 Im Frieden von Gülistan (bei Taschkent) erkennt Persien die russische Einflußsphäre im Kaukasus und am Kaspischen Meer an. Die islamischen Kaukasus-Völker leisten bis 1864 Widerstand unter dem Befehl von Imam ScharniL 1829
Im Frieden von Adrianopel erhält Rußland Teile Armeniens und fast das gesamte Donau-Delta.
1853-1856 Krimkrieg zwischen Rußland auf der einen, der Türkei, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite. 1855
Kapitulation von Sewastopol. Rußland erobert Kars im armenischen Hochland.
1856
Im Frieden von Paris muß Rußland Kars wieder herausgeben, die Donau-Mündung und Teile Bessarabiens abtreten und auf seinen Anspruch, Schutzherr fiir die Christen im Osmanischen Reich zu sein, verzichten.
1865
Der russische General Kaufmann erobert Taschkent, Bukhara ( 1868) und Khiva (1873). Samarkand wird 1868 Hauptstadt des Generalgouvernements Turkestan. Der Emir von Bukhara unterstellt sein Land den Russen als Protektorat.
1876
Das Khanat Kokand wird abgeschafft und dem Generalgouvernement Turkestan angegliedert.
1885
Unter Führung eines Derwisch bricht im Fergana-Becken ein Aufstand aus, der auch die Städte Namagan, Taschkent und Kokand erreicht. Er wird erst 1892 niedergeschlagen.
1898
Die Bruderschaft (.,Tariqa") der Naqschbandiya ruft zum "Schidhad", zum "Heiligen Krieg", auf.
Die besondere geopolitische Lage der Türkei sowie die weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre - Zerfall der Sowjetunion, Erstarken des Islam, wachsende Bedeutung des Rohstoffs Öl - hat die Türkei in eine neue Lage gebracht, bei der noch nicht eindeutig feststeht, welche Entwicklungen sie auslösen wird. Nach Bassam Tibi 318 befinden sich in der türkischen Politik die "exklusiven Optionen des neo-osmanischen Pantürkismus, des islamischen Fundamentalismus und des kemalistischen Säkularismus in einem harten Wettbewerb m Rassam Tibi, Die postkemalistische Türkei. Zwischen EU und pantürkischem lslamismus, in: Internationale Politik, Januar 1998, Nr. I, S. I ff. 9 Peter
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miteinander." Die von Bassam Tibi genannten drei Optionen kommen bei den außenpolitischen Überlegungen der Türkei in verschiedener Form und mit unterschiedlicher Intensität bzw. unterschiedlichem Erfolg zur Geltung. Die wichtigste dieser außenpolitischen Überlegungen ist das Bemühen des für seine Zuverlässigkeit und Loyalität bekannten NATO-Mitgliedstaats um Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union. Die seit 1963 assoziierte Türkei gehört zu den Ländern, die am intensivsten um den Anschluß an Europa und damit an die westliche Zivilisation bemüht sind - ein deutlicher Ausdruck der kemalistischen Option- , wobei der Weg sich als außerordentlich mühsam erweist. Die von der Gemeinschaft mit der Türkei geschlossene Zollunion war in ihrer Anfangsphase vorteilhafter ftir die Gemeinschaft als ftir die Türkei, wenn auch von türkischer Seite (Staatspräsident Demirel) eingestanden wird, daß die Zollunion dazu beigetragen habe, die Auswirkungen der Asien- und Rußlandkrise abzuschwächen. In diesem Zusammenhang wurde auch das türkische Interesse an einem weiteren Ausbau der Zollunion deutlich. Der große Einbruch in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei war nach dem Europäischen Gipfel vom I 2./13. Dezember I 997 erfolgt, als man beschlossen hatte, mit sechs Kandidaten (Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern) Beitrittsgespräche ftir eine Vollmitgliedschaft zu führen, mit vier anderen Kandidaten (Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien) Vor-Beitrittsgespräche informeller Art zu beginnen und ftir die übrigen Interessenten (Slowakei und Türkei) gewissermaßen · in einer dritten Stufe eine ständige Europakonferenz einzuberufen. Diese Entscheidung, die die Türkei auf die unterste Stufe der Beitrittsanwärter setzte, und die auch innerhalb der Europäischen Union kritisiert wurde119, hatte zu erheblichen Verstimmungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union geführt, die sich mittlerweile - nicht zuletzt durch das Engagement der USA zugunsten der Türkei- etwas ausgeglichen haben. Von Seiten der Europäer wird der Türkei entgegengehalten, daß sie die Kopenhagener Kriterien (Gipfel von Kopenhagen von 1993) nicht erfüllte, wobei man sich in der Türkei durchaus bewußt ist, daß man eine größere Übergangszeit brauchen werde. Nach Aussagen europäischer Diplomaten geht man in der Türkei selbst von einem Zeitrahmen von 15 bis 20 Jahren aus. 320 Hinsichtlich der Kriterien der Rechtsstaatlichkeit und der Marktwirtschaft ist das gegenseitige Bemühen aufeinander zuzugehen deutlich sichtbar, wobei vor allem im wirtschaftlichen Bereich erste Erfolge vermeldet 9 Lambeno Dini, italienischer Außenminister, Mit der Behandlung der Türkei )1 unzufrieden, in: FAZ vom 23.12.1997. 320 Manin Peter, Ankara , verabschiedet' sich von Europa, in: Luxemburger Wort vom 15. 12.1997.
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werden. 321 Auch die in jüngster Zeit (Oktober 1999) erkennbare Annäherung Ankaras und Athens sowie der Beschluß der neuen Kommission, dem Europäischen Rat vorzuschlagen, die Türkei als Beitrittskandidat anzuerkennen, ohne bereits Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, gehen in die gleiche Richtung. Die in diesem Sinne getroffene Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf dem Helsinki-Gipfel vom 19.12.1999 können als - wenn auch nicht unumstrittener - Durchbruch bezeichnet werden. Große Schwierigkeiten bestehenjedoch in dem Bereich der Menschenrechte, des Minderheitenschutzes sowie der guten Nachbarschaftsverhältnisse. In zwei der genannten Punkte- Minderheitenschutz und gute nachbarschaftliehe Verhältnisse - besteht sogar die Gefahr, daß sich die Beziehungen eher verschlechtem und die Hindernisse fur eine Mitgliedschaft eher größer werden. In beiden Problembereichen ist übrigens Rußland in irgendeiner Weise involviert. Gemeint sind die Kurdenfrage und die Diskussion um Zypem. 322 Zum Aspekt der Verwicklung Rußlands in den Konflikt zwischen Türken und Kurden und der wichtigen Rolle, die dabei die PKK spielt, meint Wemer Gumpel: 323 "Von großer innen- und außenpolitischer Bedeutung ist die kriegerische Auseinandersetzung der Regierung mit der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Sie verschlingt immense Ressourcen, die an anderer Stelle nutzbringend verwendet werden könnten, und ist ein wesentlicher Grund filr die hohe Inflationsrate in der Türkei, die, wieder zunehmend, bei etwa 95 Prozent liegt. Allerdings muß das PKK-Problem im internationalen Kontext gesehen werden, denn die , kurdische Problematik • ist komplizierter als allgemein dargestellt. Die PKK ist eine kommunistische Kaderorganisation. Folgt man russischen Presseberichten, so wurde sie im Jahr 1978 unter der Patronage des KGB gegründet. Die fiir ihren Kampf erforderlichen Waffen erhielt sie zu Zeiten des Warschauer Paktes vom tschechoslowakischen Geheimdienst. Sie war ein Instrument des Ostblocks zur Destabilisierung des NATO-Partners Türkei. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus lebt das Ziel einer Destabilisierung der Türkei fort. Daran interessiert sind nicht nur jene Mächte, die in den Staudammprojekten der Türkei am Oberlauf von Euphrat und Tigris (besonders im , Südostanatolien-Projekt' - GAP) trotz türkischer vertraglicher Garantien eine Gefahrdung 321 Bericht der Europäischen Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zu einer EU-Mitgliedschaft, in: FAZ vom 13.11.1998, Die Türkei hat einen Teil ihrer Hausaufgaben für Europa gemacht. Siehe auch FAZ vom II . I 1.1998: Erste Reformen öffnen der Türkei den Weg nach Europa. 322 Im ersten Halbjahr 1998 war es zu erheblichen Spannungen im Mittelmeerraum wegen des Plans der griechisch-zypriotischen Regierung, russische Raketen auf Zypern zu stationieren, gekommen. Die Spannungen klangen ab, als dieser Plan aufgegeben bzw. abgeändert wurde. m Wemer Gumpel, An der Nahtstelle von Europa und Asien. Die Mittlerrolle der türkischen Regional macht, in: Internationale Politik, Januar 1998, Nr. I, S. 19.
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ihrer Wasserversorgung sehen (so Syrien und Irak}, sondern auch die rußländische Regierung, die die Türkei als einen Rivalen in den Turk-Republiken und in Aserbaidschan empfindet. Unter der roten Fahne der PKK und dem Bild ihres Führers Abdullah Öcalan sowie unter Leitung des nach Moskau entsandten PKK-Funktionärs Mohir Valat wurde im Oktober 1994 in Moskau eine ,Konföderation der Kurden in der GUS' gegründet. Valat forderte die bedingungslose Unterordnung der Konföderation unter die PKK. Diese betont ihre Fähigkeit, das von Rußland bekämpfte Projekt von Erdöl- und Erdgasrohrleitungen aus Zentralasien und Aserbaidschan durch die Türkei durch Sabotage zu torpedieren. Diese Leitungen würden ja den zentralasiatischen Republiken Unabhängigkeit vom rußländischen Rohrleitungssystem bringen. Die in einer Schlagzeile in Moslcowskie Nowosti Anfang 1995 formulierte Frage , Wird die kurdische Frage zu einem Instrument der Außenpolitik Rußlands?' verdeutlicht einen Teil der internationalen Dimension des Kurdenproblems für die Türkei, und daß dieses Problem von ihr allein nicht gelöst werden kann. Es ist Teil der internationalen Politik und des Kampfes um die Neuverteilung des politischen Einflusses und der wirtschaftlichen Ressourcen im Nahen Osten, im Kaukasus und in Zentralasien. Es wird so lange nicht zu lösen sein, wie die PKK diese Tatsache für ihre Ziele nutzt bzw. sich für die Ziele anderer Staaten und Kräfte nutzen läßt. ..
Wie stark Ankara mittlerweile militärisch durch die Auseinandersetzung um das Siedlungsgebiet der Kurden gebunden ist, wird darin deutlich, daß von den 800.000 Soldaten der türkischen Armee - der zweitgrößten der NATO - mehr als 300.000 in den östlichen Provinzen der Türkei stationiert sind, wo Kurden den größeren Teil der Bevölkerung stellen (der Anteil der kurdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung der Türkei beträgt ein Fünftel).324 Aus europäischer Sicht werden diese Überlegungen Ankara jedoch wenig weiterhelfen. Hier wird eine entscheidende Rolle spielen, wie weit man in der Türkei bereit sein wird, den Kurden vor allem im kulturellen Bereich entgegenzukommen. Im Augenblick sind die Chancen insoweit nicht allzu günstig, ist man doch in der Türkei überwiegend der Meinung, daß kulturelle Konzessionen an die Kurden die Gefahr der Auflösung des türkischen Staates mit sich brächten.m Zur Zypernfrage: Die zweite Frage, die zu einem schwerwiegenden Hinderungsgrund ftir einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu werden droht, ist der Dauerkonflikt mit Griechenland; ohnehin schon schwierig genug wegen der Ausdehnung der territorialen Gewässer Griechenlands um sechs auf zwölf Seemeilen und wegen des Streits um die unbewohnte Ägäis-Insel Imia könnte er sich nunmehr noch zuspitzen bei der Frage um den Beitritt Zyperns Chris Kutschera, Der versteckte Krieg, in: FAZ vom 18.11.1998. Kemal Kirisci in Südosteuropa Mitteilungen, Heft 3/97, zitiert nach Amulf Baring,Riesiger Raum in Burguy. Der Nahe Osten und die Türkei, in: FAZ vom 18.3.1998. 324
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zur Europäischen Union. Alle Seiten beharren dabei auf ihren Grundpositionen:326 auf der einen Seite Griechenland und die griechischen Zyprioten, die einen Beitritt der Insel als Ganzes wollen, andererseits die Türkei und die türkischen Zyprioten, die ein Junktim zwischen EU-Beitritt und der gleichzeitigen, zumindest aber fest terminierten türkischen EU-Mitgliedschaft herstellen. 327 Wie schwierig sich eine Lösung darstellt, wird darin deutlich, daß der amerikanische Sondergesandte Ruland Hoolbroke, dem von vielen Beobachtern verhältnismäßig gute Chancen fiir eine Vermittlung eingeräumt wurden328 , nach Besuchen im Juli 1998 auf Zypern seine Bemühungen erfolglos aufgeben mußte. Mittlerweile ist der Europäischen Union auch in dieser Frage zumindest vorläufig der Durchbruch gelungen. Für die Zypernfrage wurde eine Kompromißformel gefunden, wonach die EU-Partner erstmals die Möglichkeit einer auf den griechischsprachigen Teil der Insel beschränkte EU-Mitgliedschaft anerkennen, sich die Entscheidung hierüber jedoch fiir einen späteren Termin vorbehalten. Die Grenzstreitigkeiten zwischen Athen und Ankara sollen mit politischen Mitteln gelöst werden. Kann bis zum Jahre 2004 keine Einigung erzielt werden, so wird die Angelegenheit dem internationalen Gerichtshof in Den Haag vorgelegt werden. 329 Unabhängig von diesen aktuellen politischen Problemen gibt es aber auch Überlegungen grundsätzlicher Art, die eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union erschweren könnten. Es ist dies neben dem möglichen kulturellen Auseinanderleben von Europa und der Türkei, bedingt durch die zunehmende lslamisierung der Lebensformen330, vor allem das Gewicht, das die Türkei dabei ist zu gewinnen und das wie im Falle Rußlands das innere Gleichgewicht der Europäischen Union negativ beeinflussen könnte. Die Türkei hatte im Jahre 1992 eine Bevölkerung von 58 Millionen, im Jahre 2000 werden es 70 Millionen sein. Da die Bevölkerung alle zehn Monate um eine Million
326 V gl. hierzu Heinz-Jürgen Axt, Zankapfel im Mittelrneer. Zypern vor dem EUBeitritt, in: Internationale Politik, Januar 1998, Nr. I, S. 23 ff. m Axt, S. 26, siehe auch Miclwel Stabenow, Eine geteilte Insel entzweit die EU, in: FAZ vom 15.10.1998. m Axt, S. 28. 329 Meldung der FAZ vorn 11.12.1999 (Sieben neue Beitrittskandidaten rur EU. Zusage an die Türkei ohne Termin). Zu den Einzelheiten der Vereinbarungen vgl. den Kommentar von Horst Bacia, Ich kann Ihnen mitteilen, daß Ihr Land ein Beitrittskandidat der EU ist. Es bedurfte viel guten Zuredens und der Entsendung ranghoher Emissäre, ehe die Türken den Beschluß von Helsinki anerkennen, in: FAZ vorn 13.12. 1999. 330 Vgl. hierzu Bassam Tibi, Die postkemalistische Türkei, S. 1 und 6.
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wächse3 ', werden es im Jahre 2025, dem Zeitpunkt, zu dem sich das Bevölkerungswachstum den europäischen Maßstäben anpassen soll332, hundert Millionen sein. Nimmt man hinzu, daß das Bevölkerungswachstum in den größten EU-Ländern stagniert oder sogar rückläufig ist, so wird die Türkei eine doppelt so große Bevölkerung haben als alle großen europäischen Länder mit Ausnahme Deutschlands. Wenn man sich erinnert, zu welchen Irritationen die Bevölkerungsveränderung Deutschlands nach der Wiedervereinigung bei den europäischen Nachbarn geführt hat, kann man sich durchaus vorstellen, daß eine solche Entwicklung eher nachdenklich macht. Die Nachdenklichkeit wird noch größer, wenn man bedenkt, daß die Türkei eingebettet ist in eine kulturelle Gemeinschaft von ca. 160 Millionen Angehörigen der Turkvölker in Zentralasien, dem Kaukasus und dem südlichen Rußland, die laut UNESCO die flinftverbreitetste Sprache der Welt sprechen.333 Eine zweite wichtige außenpolitische Strategie, bei der sich möglicherweise Ansätze eines neo-osmanischen Pantürkismus entdecken ließen, ist das Bemühen der Türkei um eine enge Zusammenarbeit mit den turksprachigen Republiken in Zentralasien und dem Kaukasus. Dabei spielen viele Elemente eine Rolle: die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Religion, deren Ausübungsformen einander sogar ähneln, und schließlich das Erdöl, das im Kaspischen Becken gefunden und noch vermutet wird. Zweifellos bietet sich mit dem Zusammenbruch der früheren Sowjetunion und der damit verbundenen Öffnung der zentralasiatischen und kaukasischen Republiken ein flir die Türkei lange verschlossen gebliebener Einflußbereich, der türkische Politiker (Turgut Özal) von der Vision einer türkischen Welt ,,zwischen Balkan und Korea" schwärmen ließ334, oder wie es Geopolitiker formulierten, von einer sich formierenden türkischen Welt, die sich vom Balkan bis hin zur nordwestchinesischen, von den Türken "Ostturkestan" genannten Provinz Xinjiang erstreckt.335
m Bassam Tibi, S. 4. 332 Vgl. hierzu die Ausführungen von Müherrem Kayhan, Präsident des Spitzenverbandes der türkischen Winschaft Tüsiad, in: FAZ vom 11.11 .1998: Erste Reformen öffnen der Türkei den Weg nach Europa. In einem Leserbrief an die FAZ vom 3.8.1999 nennt Prof. Cecilia Rentmeister - unter Bezugnahme auf das Datenponer Weltbevölkerung 1999 von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung für das Jahr 2046 sogar die Zahl von 132 Mio. Menschen. m Bassam Tibi, S. 3. H • Wolfgang Günter Lerch, Im Reich der Hotelzimmer. Die Türkei ist in Mittelasien überall präsent, dominienaber nicht, in: FAZ vom 4.7.1998. m Bassam Tibi, S. 3.
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Allerdings ist nach anfangliebem Enthusiasmus bei allen Beteiligten ein eher behutsames Vorgehen eingekehrt, wobei die neuen Republiken in erster Linie bedacht sind, ihre eigene Position zu festigen, was naturgemäß gute Beziehungen zu allen Nachbarn, also auch zu Rußland, China und zum Iran voraussetzt. Andererseits hat sich flir türkische Unternehmen ein neuer Markt ergeben, den sie auch mit größerem Engagement zu gewinnen suchen336; dieses beschränkt sich nicht nur auf Zentralasien und den Kaukasus, sondern betrifft auch die turksprachigen Republiken Rußlands. 337 Eine besondere Rolle spielen dabei das Erdöl des Kaspischen Meeres und die vorhandenen oder geplanten Erdölleitungen, sei es zum Indischen Ozean, zum Persischen Golf, zum Schwarzen Meer und zum Mittelmeer. Diese Situation hat- wie bereits an fiüherer Stelle erwähnt- zu einem Wettlauf aller Beteiligten geführt. Dabei ist offensichtlich geworden, daß Ankara für die von ihm propagierte Erdölleitung von Baku über Georgien durch die Türkei zum Mittelmeerhafen Ceyhan die Unterstützung der USA genießt, für die das Kaspische Meer zum Interessengebiet geworden ist und die in Ankara einen Verbündeten sieht bei dem Bemühen, russischen und persischen Einfluß zurückzudrängen. 338 In dieser Frage hat Ankara durch die Unterzeichnung mehrerer Verträge unter den Anrainern zum Bau der genannten Ölpipeline anläßlich der OSZE-Konferenz Mittel November 1999 in Istanbul einen nicht zu unterschätzenden außenpolitischen Erfolg erzielt (siehe hierzu auch Seite 78). Eine weitere interessante außenpolitische Initiative, die 1992 vom damaligen türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal ausgegangen ist, ist die "Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation". Ihr gehören elf Staaten an: die direkt am Schwarzen Meer liegenden Staaten Bulgarien, Rumänien, Ukraine, Rußland, Georgien und die Türkei sowie Albanien, Moldawien, Aserbaidschan, Armenien und Griechenland. Die Ziele dieser Kooperation sind vielfältiger Natur. Sie sollen die Mängel in den Transport- und Kommunikationssystemen beseitigen, eine Abstimmung in den Infrastrukturprojekten herbeiführen, eine regionale Arbeitsteilung herstellen und den Übergang zur kostensenkenden MasWolfgang Lerch, a.a.O. Peter Scholl-Latour, S. 115. Der wichtigste Partner unter den ehemals sozialistischen Republiken ist allerdings Rußland selbst. Noch 1997 war das Land im Hinblick auf die türkischen Exporte drittwichtigster Handelspartner der Türkei nach Deutschland und den Vereinigten Staaten, s. Werner Gumpe/, Neue Nachbarn -neue Märkte. Die Türkei baut ihre Beziehungen ru den GUS-Staaten aus, in: FAZ vom 4.5.1999. m Gregor M. Manonsakis, Politik und Pipelines am Kaspischen Meer, in: Luxemburger Wort vom 4.11.1998, Unterstützung für die Ölleitung. Schlechte Aussichten für Pipeline von Baku nach Ceyhan, in: FAZ vom 30.10.1998. m
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2. Teil: Rußland als ,.Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
Senproduktion ennöglichen. Eine Reihe von gemeinsamen Projekten ist geplant bzw. in Angriff genommen, wie z.B. eine Autobahn von der Türkei nach Albanien, eine Fernstraße um das Schwarze Meer herum, eine Verbindung der nationalen Elektrizitätsnetze, eine Eisenbahnverbindung vom Nordosten der Türkei über Georgien nach Rußland.339 Die "Schwarzmeer-Kooperation" hat eine eigene Struktur entwickelt. Sie hat sich eine Satzung gegeben. 340 Der Sitz ihres Sekretariats wird lstanbul sein, die Bank der Schwarzmeer-Länder wird in Thessaloniki residieren. An der Spitze der "Schwarzmeer-Kooperation" steht der Rat der Außenminister, der sich jährlich einmal trifft. Daneben gibt es Sitzungen der Fachminister und von 13 Arbeitsgruppen, die vom Generalsekretariat koordiniert werden. Die Schaffung der Kooperation hat wesentlich zum Aufschwung des Handels in der Region beigetragen, der sich zum Beispiel im Falle der Türkei seit 1992 verdreifacht hat. Es ist geplant, Freihandel einzuführen. Allerdings wird nicht vor dem Jahre 2010 mit seiner Verwirklichung gerechnet. 341 Die "Schwarzmeer-Kooperation", die im wesentlichen von privaten Unternehmen gestützt wird, ist ein interessantes Beispiel für die Möglichkeit der Verständigung auch bei politischen Gegensätzen und unterschiedlicher Interessenlage. Sie ist auch nicht ohne Interesse für ein eventuelles allmähliches Zusammenwachsen der Region. Ist die Idee der "Schwarzmeer-Kooperation" zweifellos von kemalistischen (und westlich-europäischen Ideen) beeinflußt, so ist die von den damaligen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Wohlfahrtspartei Erbakan angeregte Gründung der ,,D 8"-Gruppe eher in die Nähe der Option des islamischen Fundamentalismus zu rücken. Die Gruppe der ,,D 8" umfaßt die acht bevölkerungsreichsten islamischen Staaten der Welt. Ihr gehören an die Türkei, Iran, Ägypten, Nigeria, Pakistan, Bangladesch, Malaysia und Indonesien. Sie umfaßt 800 Millionen Menschen und damit 80 %der Muslime auf der Welt. Die Gründung dieser Gruppe, deren Ziel es war, die muslimischen Länder enger zusammenzuführen, hat jedoch schon zu Beginn Zweifel an ihrem Überleben geweckt: Der ägyptische Staatspräsident Mubarak war der Einladung nicht gefolgt wegen der engen Zusammenarbeit der türkischen Militärs mit Israel. Entscheidender war aber, daß Erbakan kurz nach dem ersten Treffen der Gruppe zurück-
m Das Schwarze Meer trennt die Anrainer nicht mehr, sondern verbindet sie wieder, in: FAZ vom 19.8.1998. 340 Zur Satzung der Schwarzmeer-Kooperation vgl. den Artikel von /nes Hartwig, The Black Sea Economic Cooperation Process, in: Eipascope, herausgegeben vom Institut Europeen d' Administration Publique, Maastricht, No. 1/1997, S. 3 ff. 341 FAZ vom 19.8.1998.
B. Die Interessenlage des Landes
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treten mußte und seine Nachfolger kein besonderes Interesse an dieser Form der Zusammenarbeit der islamischen Welt zeigten. Die spätere Politik der Türkei, die enge Anhindung an Israel, der drohende und erst in letzter Minute abgewendete Krieg mit Syrien stand darüberhinaus in krassem Gegensatz zu den möglichen Zielen dieser islamischen Zusammenarbeit. Immerhin ist die Idee nicht ohne Interesse. Zum einen scheint sie auf den .. 342 343 Uberlegungen von Carl Brown und vor allem Samuel Huntingtons aufzubauen, der davon ausgeht, daß die neue Weltordnung einen Kernstaat ftir jede Zivilisation benötigt, der die Führung übernimmt. Huntington war zu dem Ergebnis gekommen, daß die Türkei diese Funktion in der islamischen Welt übernehmen sollte. Ist dieser erste Versuch von Seiten der Türkei auch nicht allzu erfolgreich gewesen, so zeigt er immerhin, in welche Richtung die Türkei gehen könnte, wenn die islamistisch-fundamentalistische Option die Oberhand gewinnen würde.
IV. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten Rußlands 1. Die Ausgangslage Über die wirtschaftlichen Ressourcen Rußlands wurde bereits an früherer Stelle berichtet. Positiv war dabei vermerkt worden, daß Rußland über enorme Bodenschätze vor allem bei Erdöl und Erdgas verfugt, daß es darüber hinaus über eine hochentwickelte Technologie, insbesondere - wie von russischen Kommentatoren immer wieder zu Recht unterstrichen wird - im Bereich des Flugzeugbaus und der Luftfahrt, verfligt. 344 Negative Seiten sind die schlechte Infrastruktur, die ftir ein Riesenreich verhängnisvolle Ausrichtung auf ein Zentrum (Moskau), das Fehlen einer wettbewerbsfahigen Industrie- und Konsumgüterindustrie und schließlich das Fehlen einer flir die Versorgung der Bevölkerung ausreichend entwickelten Landwirtschaft. Wenn der augenblickliche Trend anhält, wird sich die russische Landwirtschaft in eine Art Schrebergartenwirtschaft zurückentwickeln. Schon jetzt steuern die Privatgärten 80 bis 90 Prozent
Zitiert nach Bassam Tibi, S. I. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, Wien 1996, Kapitel 7 über den Kernstaat. 344 Z.B. Serge) Karagonow, Rußland hat immer überlebt, in: FAZ vom 18.2.1999. Karagonow ist Vorsitzender des russischen Beirats für Außen- und Verteidigungspolitik und stellvertretender Direktor des Europa-Instituts in Moskau. 342 343
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2. Teil: Rußland als .,Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
der Gemüse- und Kartoffelernte bei und rund 50 Prozent der Milch- und Fleischproduktion. 345
2. Erfolg und Mißerfolg der Transformation Die Aussichten für einen Erfolg der Transformation konnten bis zum I 7. August 1998 einigermaßen zuversichtlich stimmen. Rußland galt weithin als demokratisiertes, marktwirtschaftlich ausgerichtetes Land mit einer relativ stabilen Währung und ausgeglichenem Wechselkurs zum Dollar, einem sich rasch entwickelnden Wertpapiermarkt, kalkulierbaren Inflationsraten und Haushaltsdefiziten.346 In ihrem elften Bericht zur wirtschaftlichen Lage Rußlands, der im Dezember 1997 erschien, kamen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, das Institut für Wirtschaftsforschung Halle und das Institut fiir Weltwirtschaft der Universität Kiel zu folgendem Ergebnis:347 "Insgesamt sind die Institute aufgrund ihrer Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung für das kommende Jahr erstmals leicht optimistisch. Von privatem Verbrauch dürften wiederum mäßig expansive Effekte ausgehen. Demgegenüber können von den Staatsausgaben keine positiven Impulse erwartet werden. Die Hoffnung auf belebende Effekte von Seiten des Außenhandels scheint derzeit gering. Entscheidend ist daher, ob ausreichend positive Signale gesetzt werden können, um den Rückgang der Investitionen zum Stillstand zu bringen. Je mehr die jüngsten krisenhaften Entwicklungen auf den Finanzmärkten eine reformbeschleunigende Wirkung zeigen, desto weniger ist insgesamt mit einem neuerlichen Rückgang des BIP zu rechnen. Die Institute erwarten für 1998 ein Wachstum in einer Größenordnung von zwei- drei v. H. Werden im kommenden Jahr wieder positive Kapitalzuflüsse registriert, würde dies zwar bei Beibehaltung des Wechselkursziels einen Anstieg der Geldmenge nach sich ziehen. Bei Weiterflihrung der Reformen reduzieren jedoch die Remonetisierung der russischen Volkswirtschaft und ein Anstieg der Geldnachfrage den lnflationsdruck, so daß eine Preissteigerungsrate leicht unterhalb der für das laufende Jahr zu erwartenden 15 v. H. realistisch erscheint." Allerdings hatte die wirtschaftliche Entwicklung eine Kehrseite, die wie eine "tickende Zeitbombe" wirken sollte. Da die inneren Reformmaßnahmen nicht
345 Reni Nyberg, Rußland hat noch nicht wieder Tritt gefaßt, in: FAZ vom 17 .2.1999. Rene Nyberg ist im finnischen Außenministerium mit Ostangelegenheiten befaßt. 346 Elfte Sieg[, Rußland: noch immer eine Staatswirtschaft, in: FAZ vom 21.11.1998. Der Artikel erschien in einer Serie zu den Transformationen in den mittel- und osteuropäischen Ländern. 347 Kieler Diskussionsbeiträge. Elfter Bericht, Institut für Weltwirtschaft Kiel, Die wirtschaftliche Lage Rußlands, Wirtschaftspolitik muß jetzt endlich Wachstumserfolge vorweisen. Dezember 1997. Tübingen 1997.
B. Die Interessenlage des Landes
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die erwünschten Erfolge zeigten, nahmen wechselnde Regierungen, um Haushaltsdefizite und Inflationsrate stabil zu halten, "immer neue Kredite bei internationalen Finanzorganisationen auf, wodurch eine gigantische Pyramide von Staatsverschuldungen geschaffen wurde, deren Zusammenbruch vorausbestimmt schien und dann auch ab dem 17. August zusammenbrach."348
Der 17. August 1998 hat ein anderes Rußland zurückgelassen, dessen Wirtschaftsentwicklung um Jahre zurückgeworfen zu sein scheint und das geprägt ist vom Zusammenbruch der Finanzmärkte, der Zahlungsunfähigkeit des Bankensektors, der Verarmung großer Teile der Bevölkerung und einer zunehmenden Ohnmacht des Staates im wirtschaftlichen Sektor. Es gibt mittlerweile viele Antworten auf die Frage, warum die Transformation in Rußland nicht gelungen ist. Einige der wesentlichen Überlegungen sollen hier angeführt werden. a) Es ist zunächst anzumerken, daß flir eine marktwirtschaftliche Ordnung "in erster Linie eine geistige Prädisposition erforderlich ist. Das heißt eine besondere Einstellung der Menschen zum arbeitsteiligen Wirtschaftsprozeß, eine ausgewogene, verantwortliche und effektive Mischung aus Profitstreben, Kostendenken und Gemeinsinn sind unerläßlich. " 349
Hieran hat es in Rußland gefehlt. Oder anders ausgedrückt: 350 "Entschieden zu wenig Aufmerksamkeit bei allen sogenannten westlichen Konzepten ist zwei Bereichen geschenkt worden: der Hilfe beim Aufbau einer Zivil-
348 Elfte Siegl, Rußland: Noch immer eine Staatswirtschaft, in: FAZ vom 21.11.1998. Zur Problematik der Belastungen Rußlands durch seine Kreditaufnahme siehe auch Elfte Siegel, Rußland leidet an sich selbst, in: FAZ vom 4. 7.1998 und dies., Dollarsegen über Rußland, in: FAZ vom 21.7 .1998, Stephan Bierling. Rußland. der Westen und das Geld. Die Moskau-Hilfe zwischen ökonomischer Rationalität und politischer Opportunität, in: FAZvom 17.9. 1999. Eine eindrucksvolle Darstellung der Verschuldung Rußlands gibt Ognian Hishow, Der Staatsbankrott Rußlands. Seine Auswirkungen auf die Beziehungen zum Westen, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, Juli 1999, S. 657 ff.
Wilhelm Nölling, Ein Mittelweg für Rußland, in: WAMS vom 11.10.1998. Der Autor war von 1982 bis 1992 Präsident der Landeszentralbank Harnburg und anschließend Berater der Europäischen Union für das russische Finanzministerium. Siehe auch Roland Götz, Von der Abwertung des Rubels zum Macht- und Politikwechsel, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, 1199, S. 3 ff. :ZU den Ursachen der gescheiterten Transformation vgl. Wolfram Rohde-Liebenau, Von kommunistischer Planwirtschaft zu globalisierter Marktwirtschaft, in: Osteuropa Wirtschaft, Dezember 1998, S. 327 ff. 350 Gerhard W. Wittkiimper in einem Leserbrief an die FAZ vom 12.9.1998, Rußland in vieler Hinsicht ein reiches Land. Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Münster. So auch Horst Köhler, Präsident der Osteu349
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2. Teil: Rußland als ..Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
gesellschart mit der Fähigkeit zur Subsidiarität, zum anderen der Vermittlung der ethischen Grundlage und praktischen Arbeits- und Organisationstugenden, die beim Konzept der sozialen Marktwirtschaft immer mitgedacht werden müssen." Das Fehlen dieser Voraussetzung wird auch von russischen Autoren gesehen:Jsl "Die hauptsächliche Erklärung, warum Rußland den Durchbruch zur Prosperität nicht geschafft hat, besteht wohl darin, daß die soziokulturelle Bereitschaft Rußlands zu raschem Wandel falsch eingeschätzt wurde. Die Umstellung überflog wesentlich die politischen Umwälzungen. Die Reform hat man in Rußland direkt aus den Theorietraktaten eingepflanzt, ohne allzusehr auf die Besonderheiten des Territoriums, der Bevölkerung, der Geschichte und der industriellen Struktur des Landes zu achten." b) Die zweite wichtige Voraussetzung ftir das Funktionieren der Marktwirtschaft betrifft den ersten der Akteure, d.h. die Verbraucher. Diese müssen die Möglichkeit haben, am Wirtschaftsprozeß teilnehmen zu können. Dies gilt vor allem ftir Länder, die am Anfang der Entwicklung zur Marktwirtschaft stehen. Dazu gehört, daß sie -
über gesichertes Eigentum verfugen, d.h. daß ihr Grund und Boden z.B. dokumentiert ist und damit als Sicherheit flir die Aufnahme von Krediten dienen kann352,
ropabank in einem Gespräch mit der FAZ vom 8.10.1998. Vgl. auch Jörg Jasper, Entstehung, Bedeutung und Tragfähigkeit der Konzeption der Finanz-industriellen Gruppen in der russischen Föderation, in: Osteuropa- Wirtschaft, l/99, S. 28 ff. Zu Erfolg bzw. Mißerfolg der durchgeführten Privatisierungsmaßnahmen vgl. Harald Sondhoff/Markus Mezger, Corporate Governance in Rußland - Probleme und Entwick.lungstendenzen, in: Osteuropa - Wirtschaft, 43. Jhg .• 4/98, S. 338 ff. und Sighelm Thede, Die Entwicklung der Unternehmensstrukturen im Transformationsprozeß der Russischen Föderation, in: Osteuropa- Wirtschaft, 43. Jhg .• l/98. S. 71 ff. Zu den Problemen der russischen Außenhandelspolitik siehe Hanns-D. Jacobsen , Außenwirtschaftliche Handlungsspielräume der Russischen Föderation, in: Osteuropa Wirtschaft, 43. Jhg., 4/98, S. 357 ff. Zur Frage der Eignung der Transformationsmodelle vgl. Roland Götz, Wirtschaftsentwicklung von Transformationsökonomien im Lichte des neoklassischen makroökonomischen Modells, in: Osteuropa - Wirtschaft, 43. Jhg .• 2/98, S. 124 ff. Eine sehr aufschlußreiche Darstellung, die versucht, die tieferen Ursachen für das Scheitern der Transformation aufzudecken gibt Sergej Saizew in seinem Beitrag Über die russische Wirtschaftskultur, in: Osteuropa - Wirtschaft, 43. Jhg.• l/98. S. 36 ff. 31 1 Sergej Karagonow, Rußland hat immer überlebt. in: FAZ vom 18.2.1999. m So der peruanisehe Ökonom Hernando de Soto in einem Gespräch mit der FAZ über Entwicklungshürden in der Dritten Welt, Marktwirtschaft setzt breit gestreutes Eigentum voraus, in: FAZ vom 13.10.1998.
B. Die Interessenlage des Landes
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über gesicherte Einkünfte verfugen, d.h. ihre Löhne und Gehälter als Entgelt für ihre Arbeitsleistung müssen auch tatsächlich ausgezahlt werden.
Beide Probleme sind in Rußland nicht geklärt. So beliefen sich die Lohnschulden noch im Oktober 1998 nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax auf insgesamt 84 Milliarden Rubel. 353 Eine Umfrage in Rußland in 30 Regionen der Föderation, bei der 3.340 Bürger befragt wurden, ergab, daß der durchschnittliche Russe infolge der Finanzkrise kaum leben kann. Wer regelmäßig ein Gehalt bezieht, müsse mit einem Drittel weniger auskommen. Doch lediglich 18 % seien in dieser relativ glücklichen Lage. 25 % würden gelegentlich bezahlt, 57 % überhaupt nicht mehr. 354 Im September 1998 verfugten 54 % der Bevölkerung oder 75 Mio. Menschen über 663 Rubel (umgerechnet weniger als 100 DM und lebten damit an der Schwelle zum Existenzminimum). 355 Einen Mittelstand, der Garant ftir politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität sein könnte, existiere zwar; er setze sich jedoch aus ehemaligen Parteikadern und Arbeitern, ungebildeter Jugend und Kleinkriminellen zusammen und komme wie die Wochenzeitschrift Itagi, die sich in ihrer hundertsten Ausgabe der russischen Mittelklasse und deren Problemen widmete, feststellte, ih~ rer wichtigsten Aufgabe nicht nach: durch Steuerzahlungen die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sozialen Frieden und Stabilität zu sichern. 356
Rußlands Ministerpräsident kündigt Dringlichkeitsmaßnahmen an, in: FAZ vom 8.10. 1998. 314 Kein Vertrauen zum Kreml in der Krise, in: Luxemburger Wort vom 4.11.1998. 311 Angaben des Direktors des Allrussischen Zentrums für Lebensstandard, zitiert nach Elfte Siegt, Rußland: Noch immer eine Staatswirtschaft, in: FAZ vom 21.11.1998. Besonders schwierig ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt für Frauen, vgl. Wendy Rhein, The Feminization of Poverty: Unemployment in Russia, in: Journal of International Affairs, Vol. 52, No I, Fall 1998, S. 351. Ein weiteres schwerwiegendes Problem Rußlands, das im Zusammenhang mit der ungünstigen Wirtschaftsentwicklung gesehen werden kann, stellt die demographische Entwicklung des Landes dar. Vgl. hierzu Roland Scharf/, Transformation und Bevölkerungsbewegung in der Russischen Förderation, in: Osteuropa - Wirtschaft, 43. Jhg., 3/98, S. 253. 116 Sonja Margolina, Was den bösen Nachbarn alles nicht gefällt. Aus russischen Zeitschriften: Die deprimierende Suche nach dem Mittelstand, in: FAZ vom 17.5.1998 . 11 3
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2. Teil: Rußland als .,Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
c) Die dritte wichtige Voraussetzung fiir das Funktionieren der Marktwirtschaft betrifft den zweiten Akteur, die Unternehmer, die ihre Produkte und Leistungen anbieten wollen. Hierzu bemerkte Karen Hom:357 .,Eine Brücke zur modernen Institutionenökonomik, Hoffnungsträger der Branche, hat immerhin der diesjährige Nobelpreisträger geschlagen, der Wohlfahrtstheoretiker und Entwicklungsökonom Amartya Sen: Das gesellschaftliche Regelwerk müsse so gestaltet sein, verlangt er, daß der Wettbewerb seine Wirkung entfalten und jeder, der dies wünsche, an ihm teilnehmen könne. Damit berührt er den wunden Punkt der weniger erfolgreichen Reformstaaten Osteuropas: Die Kraft der Marktwirtschaft ist in jenen Ländern gehemmt, in denen die alten Machtstrukturen erhalten geblieben sind, in denen der Filz von Politik und Wirtschaft nicht aufgebrochen worden ist oder die Mafia regiert." Sie fährt dann fort:m " ....daß eine Mafia nur überwunden werden kann, wenn Rechtsstaatlichkeit und Privateigentum gesichert sind und daß es gegen Besitzstandswahrer hilft, wenn offene Märkte Anpassungsdruck schaffen. Dazu gehört aber auch, daß der Filz von Politik und Wirtschaft nur gelöst werden kann/ 59 wenn Diäten den Politikern Unabhängigkeit verschaffen, ihnen Nebentätigkeit ebenso wie die Kumulierung von Ämtern jedoch untersagt sind." d) Die vierte wichtige Voraussetzung betrifft den Staat, der in einem marktwirtschaftlichen System einen entscheidenden Einfluß bei der Schaffung und der Kontrolle der Spielregeln hat. Es ist eine lang bekannte Erfahrung und sie läßt sich leicht am Beispiel der wirtschaftlich erfolgreichen Länder nachprüfen, daß eine enge Verbindung besteht zwischen den Institutionen eines funktionierenden Rechtssystems (Garantie der Rechtsstaatlichkeit) und einer etTtzienten Verwaltung einerseits und wirtschaftlichem Wohlstand andererseits. 360 Gerade
m Karen Horn, Der ökonomische Rat fehlt nicht. in: FAZ vom 27.11.1998. Der Artikel war der letzte und abschließende in einer Serie zu den Transformationen in den mittel- und osteuropäischen Ländern. 358 Karen Horn, a.a.O. 359 Nach einer von der Nichtregierungsorganisation Transparency International angefertigten Studie gehört Rußland hinter Nigeria mit Bolivien und Pakistan zu den Spitzenreitern unter den Ländern, bei denen eine hohe Korruption festgestellt wurde. zitiert nach Hans-Christian Rößler, Damit die Ehrlichen nicht die Dummen bleiben, in: FAZ vom 4.8.1998. 360 Mit dem Zusammenhang von Institutionen und wirtschaftlichem Wachstum beschäftigt sich vor allem die Institutionenökonomik. Bei ihrer letzten Tagung im September 1998 wurde im Zusammenhang mit China darauf hingewiesen, daß auch die informelle Institution (Familie) eine stabilisierende Wirkung und damit einen positiven Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung haben kann, eine Überlegung, die auch für Rußland wegen der ungeheuren Größe des Landes und die damit ver-
B. Die Interessenlage des Landes
143
diese beiden Institutionen sind es aber, an denen es Rußland mangelt. Es verwundert deshalb nicht, daß alle Kommentatoren einheitlich auf die Schaffung eines funktionierenden Rechtssystems und eine effiZiente Verwaltung verwei361 sen. Nyberg362 hat es so ausgedrückt: "Die Kernfrage ist letztlich rechtsstaatlicher Natur. Es geht um das Einhalten von Gesetzen und das Schaffen von Normen, die eine moderne Verwaltung dieses Riesenlandes gewährleisten." Einer der entscheidenden Faktoren jedoch, damit der dritte Akteur der Marktwirtschaft - der Staat - handeln und die genannten Institutionen schaffen bzw. verbessern kann, ist, daß er über die nötigen Mittel verfugt. Diese muß er sich jedoch - wenn er nicht nur von Krediten leben will, was ohnehin nur zeitlich begrenzt möglich sein wird - über Steuern besorgen. Angesichts der geringen Bereitschaft von Unternehmern wie Privatleuten, Steuern zu zahlen, wird es notwendig sein, mit einer tiefgreifenden Steuerreform zu beginnen. 363 Eine Lösung wie im Falle der Gasprom, die ihre Steuern in Höhe von vielen Millio64 ist im Sinne des Aufurinnen Dollar in Nahrungsmitteln begleichen gens der finanziellen Mittel flir die Stützung der Institutionen nicht sonderlich hilfreich. Wie wichtig diese Stärkung in der konkreten Situation Rußlands ist, wird deutlich am russischen Rechnungshof, der schwerwiegende Fälle von Kor-
darf/
bundene Schwierigkeit der Kontrolle eine Bedeutung haben könnte, in: FAZ vom 22.9.1998. 361 Reni Nyberg, Rußland hat noch nicht wieder Tritt gefaßt, in: FAZ vom 17.2.1999. Erich Staudt, Leiter des Instituts für angewandte Innovationsforschung an der Ruhr-Universität Bochum, Industrie-Ruine Rußland: Reparatur zwecklos - ein Neubau muß her, in: WAMS vom 13.9.1998. Marshall Goldman, Harvard, Der drastische Übergang zur Marktwirtschaft war ein Fehler, Die Welt vom 6.6.1998. Oleg Bogomolov, Institut für internationale Wirtschafts- und Politikforschung der Akademie der Wissenschaften in Moskau, Schlüssel zum Erfolg, Spiegel Nr. 42 vom 12.10.1998. Pau/ We/fens, Präsident des Europäischen Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Potsdam, in: FAZ vom 19.9.1998. 362 Reni Nyberg , Rußland hat noch nicht wieder Tritt gefaßt, in: FAZ vom 17.2.1999. 363 Hierzu auch Oleg Bogomolov und Paul Welfens. Siehe auch Ognian Hishow, Budgetkrise und innere Verschuldung des russischen Staates - eine wachstumshemmende Spirale, in: Osteuropa- Wirtschaft, 43. Jhg., 2/98, S. 162. 3" 4 Elfte Sieg/, Rußland: Noch immer eine Staatswirtschaft, in: FAZ vom 21.11 .1998. Nach Hermann Bohle, Westen auf alles gefaßt, in: Luxemburger Wort vom 18.2.1999 liegen die monatlichen Steuereinnahmen Rußlands mit einer Milliarde Dollar so hoch wie in der Stadt New York.
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2. Teil: Rußland als "Interessent" an einer Zusammenarbeit mit der EU
ruption aufgedeckt hatte, die aber ohne Folgen für die Betroffenen blieben, da die Möglichkeit, Sanktionen anzuordnen, nicht gegeben war. 365 3. Perspektiven
In einer Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament vom Juli 1997 hatte Hans-Hermann Höhmann366 zwei Szenarien fur möglich gehalten: Szenarium 1 bestand im Fortdauern der negativen Tendenzen hin zu emer monopolitischen und interventionistischen Marktwirtschaft, -
Szenarium 2 lief auf den schwierigen Entwicklungs- und Lemprozeß hin zur allmählichen Konsolidierung einer Unternehmerischen Marktwirtschaft.
Leider ist das Szenarium eingetreten, das erbefurchtet hatte. Eine Perspektive läßt sich angesichts der raschen Entwicklung nicht aufstellen. Es ist immerhin auffallend, daß bedeutende Unternehmen ihr Engagement in Rußland nicht nur beizubehalten, sondern eher noch auszubauen scheinen, wie gerade in letzter Zeit die Fälle von General Motors, RWE und BASF -wo es sich um Investitionen in Milliardenhöhe handelt- zeigen. 367 Ende des Jahres 1999 kann man in der Tat von einer leichten Erholung der russischen Wirtschaft sprechen. Diese hat im wesentlichen zwei Gründe: Einmal die Rubelabwertung vom August 1998. Diese hatte zur Folge, daß sich die Importe verringerten und zum Ausgleich heimische Fertigung angekurbelt werden mußte, was in den ersten drei Quartalen des Jahres zu einem Wachsturn der Industrieproduktion um sieben Prozent geftihrt hat. Das
365 In Rußlands System der Macht fehlen die Sanktionen, ein FAZ-Gespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Rechnungshofes, Jurij Boldyrew, in: FAZ vom 9.4.1999. 366 Hans-Hermann Höhmann, Wirtschaftslage und Stand der ökonomischen Systemtransformation in Rußland, Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B. 30-31/1997, 18.7.1997. Bonn. 367 BASF steigt in Rußland in die Öl- und Gasförderung ein. Investitionen in Milliardenhöhe, Das größte deutsch-russische Wirtschaftsabkommen, in: FAZ vom 27 .3.1999. Siehe auch: Bayernwerk will Strom aus Rußland importieren, in: FAZ vom 26.3.1999. Deutsche Investoren zieht es in das russische Gebiet Samara. Eine der wirtschaftlichen Regionen des Landes. Neuengagement von Contineotale und Opel, in: FAZ vom 12.1.1999. Gasprom - Verkauf stützt Rußlands Staatshaushalt. Ruhrgas zahlt 1,1 Milliarden DM für 2,5 Prozent der Aktien, in: FAZ vom 21.12.1998. RWE und russischer Stromkonzern vertiefen Zusammenarbeit, in: l.J.Jxemburger Wort vom 6.4.1999.
B. Die Interessenlage des Landes
145
Bruttoinlandsprodukt soll deshalb den Berechnungen nach bis zum Jah·368 resende um zwet·prozent gesttegen sem. 0
-
Zum anderen die bereits erwähnte starke Erhöhung der Rohölpreise. Für Rußland bedeutet dies einen Preisanstieg von zehn Dollar (im Januar 1999) auf 25 Dollar (im Dezember 1999) pro Faß369, eine erfreuliche Einnahmesteigerung ftir ein vom Export von Energierohstoffen abhängiges Land. Es ist in diesem Zusammenhang noch anzumerken, daß Rußland in der Rangliste der an Primärenergie-Rohstoffen (Erdöl, Erdgas, Kohle und Uran) reichsten Länder an zweiter Stelle hinter den USA und vor China steht.
Es bleibt ftir Rußland allerdings zu hoffen, daß diese Besserung der wirtschaftlichen Lage des Landes nicht wieder wettgemacht wird durch die noch nicht endgültig einzuschätzenden Kosten des Tschetschenienkrieges.
J68
Elfte Sieg/, Der Schattenmann im Rampenlicht, in: FAZ vom 8.12.1999.
Jens Hartmann, Starke Nerven und ein langer Atem. Rußlands Börse vor der Duma-Wahl, in: WAMS vom 12.12.1999. 369
10 Peter
3. Teil
Die Perspektiven ftir eine Zusammenarbeit
mit der Europäischen Union
A. Die denkbaren Szenarien für Rußlands Zukunft Um die Perspektiven fur eine Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Rußland ordnen zu können, ist es sinnvoll, zunächst zu überlegen, welche Szenarien fUr Rußland in Zukunft theoretisch denkbar wären. Nach der Entwicklung der letzten Jahre und Monate - insbesondere nach der Finanzkrise und dem Kosovo-Konflikt - sind drei Szenarien fur die politische Zukunft Rußlands denkbar: -
Rußland als eurasiatische Großmacht,
-
Rußland als Führungsmacht der ostslawisch-orthodoxen Welt,
-
Rußland als europäische Großmacht mit enger Anhindung an den Westen und insbesondere Europa. I. Rußland als eurasiatische Großmacht
Dieses Szenarium geht von der Idee aus, daß Rußland weder rein europäisch noch rein asiatisch, daß es vielmehr ein eurasiatisches Land sei. Es orientiert sich an der fiüheren Rolle der Sowjetunion allerdings unter Berücksichtigung ihres Untergangs und der mit ihr gemachten Erfahrungen. ln der Weltpolitik erkennt Rußland an, daß es nur noch eine einzige Supermacht gibt- die Vereinigten Staaten- , man will jedoch deren Macht ausbalancieren, indem man eine strategische Zusammenarbeit mit anderen Großmächten anstrebt. Besonders begehrt sind dabei China und Indien, aber auch Europa, allerdings mit dem Bewußtsein der dort vorherrschenden Ausrichtung auf Amerika, von der lediglich - als wichtigstes Land - Frankreich eine wenn auch geringfugige - Ausnahme zu machen scheint; um eine Zusammenarbeit mit Frankreich ist Rußland daher besonders bemüht. Als eigenes Einflußgebiet wird der Bereich der ehemaligen Sowjetunion angesehen, d.h. die als ,,nahes Ausland" bezeichneten GUS-Staaten.
A. Die denkbaren Szenarien für Rußlands Zukunft
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Auf eine Annäherung dieser Staaten an andere regionale Zusammenschlüsse wird man empfindlich reagieren und versuchen, sie durch besondere Angebote, aber auch durch Drohungen zu verhindern. Der Integration der mittel- und osteuropäischen Länder in die Europäische Union wird man weniger Schwierigkeiten bereiten, wird allerdings versuchen, Kompensationen zu erhalten. Einen Beitritt dieser Länder zur NATO wird man zu verhindem versuchen, wie man überhaupt der Ausdehnung der NATO, und sei es auch nur zur Stationierung von Truppen aus humanitären Gründen, äußerst kritisch gegenüber auftreten wird. In der Wirtschaftspolitik wird man zu bestimmten Elementen der Planwirtschaft zurückkehren, allerdings die Reformpolitik, wenn auch in gemäßigterer Form, beibehalten. Eine solche Politik ließe sich am ehesten mit der Person des friiheren Ministerpräsidenten Primakov verbinden. Sie würde vermutlich im Parlament die Unterstützung der stärksten Fraktion, der Kommunisten, erhalten. Die Konsequenzen dieses Szenariums sind in positiver Hinsicht eine Stabilisierung der Verhältnisse Rußlands, auch eine gewisse Garantie dafür, daß mit dem Mittel der Gewaltanwendung gegenüber dritten Staaten, wie auch im Innem des Landes, behutsam umgegangen würde. In negativer Hinsicht bedeutet dieses Szenarium, daß Rußland eher in einen Stillstand verfallen würde. Die Chancen für eine strategische Partnerschaft mit anderen Großmächten wie China und Indien sind nicht allzu hoch zu bewerten, zumal diese Länder, die sich selbst eine führende Rolle in der Weltpolitik des kommenden Jahrhunderts ausrechnen, ein nur eingeschränktes Interesse fiir eine solche Partnerschaft erkennen lassen. Die Beziehungen zur Europäischen Union würden sich auf einem neutralen Niveau halten, ohne daß mit Fortschritten im Hinblick auf die enge Zusammenarbeit bzw. eine engere Abstimmung der Politik zu rechnen wäre. Es könnte nach der Erweiterung der Europäischen Union um die mittel- und osteuropäischen Länder sogar zu Spannungen kommen, da die erweiterte Europäische Union mit Sicherheit große Anziehungskraft auf die westlichen GUS-Staaten, insbesondere die Ukraine und Moldawien, ausüben würde. Seinerseits würde Rußland- in Erinnerung an die Zeiten der Sowjetunion versuchen, über die kommunistischen Parteien dieser Länder, aber auch über die russischen Minderheiten, innenpolitischen Einfluß auszuüben, was wiederum zu internen Spannungen fuhren könnte.
II. Rußland als Groß- und Führungsmacht der ostslawisch-orthodoxen Welt Dieses Szenarium geht von der Idee aus, daß die slawisch-orthodoxe Welt eine eigene Identität hat, die sie streng von der (katholisch-protestantisch oder auch von der Aufklärung geprägten) westlichen sowie auch von der islamischen to•
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3. Teil: Die Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der EU
Welt unterscheidet; Rußland sollte hier aufgrund seiner historischen Mission wie auch der Rolle, die es aufgrund seiner Größe spielen kann, die Führungsrolle übernehmen. Diese Idee, die in der Philosophie des 19. Jahrhunderts und in der Politik der vorsowjetischen Zeit (teilweise auch in der sowjetischen Politik) eine Rolle spielte, hat in neuerer Zeit, insbesondere durch die Jugoslawienkrise an Anziehungskraft gewonnen. Äußeres Zeichen ist der Versuch serbischer und weißrussischer aber auch russischer Kreise, Jugoslawien in die Union zwischen Rußland und Weißrußland aufzunehmen. Es steht zu befiirchten, daß bei einem solchen Szenarium Rußland versucht wäre, den Wettkampf mit den Vereinigten Staaten wieder aufzunehmen, selbst in der Gewißheit, ihn verlieren zu müssen. Da ein solches Szenarium eher durch Mythen - auch solche des Untergangs- als durch Rationalität geprägt würde, könnte sich eine gefährliche Entwicklung flir den Weltfrieden ergeben. In seinen Beziehungen zu den Nachbarstaaten, insbesondere zu den Staaten des nahen Auslandes, müßte man mit starkem Druck auf alle Staaten mit slawischer Bevölkerungsmehrheit rechnen, sich dem neuen Staatenverband anzuschließen. Besonders stark würde der Druck dabei auf die Ukraine, vielleicht auch auf das eine oder andere mittel- bzw. osteuropäische Land werden. Bei manchen dieser Länder könnte dies zu einem Auseinanderbrechen der Staaten (in der Ukraine wegen des besonders europäisch orientierten Westteils, in Mazedonien z.B. wegen der starken albanisch-islamischen Minderheit) führen. Der Druck könnte sich aber auch auf nichtslawische aber orthodoxe Länder auswirken wie Rumänien und Moldawien und möglicherweise sogar auf Griechenland. Druck könnte auch ausgeübt werden auf nichtslawische Länder mit starken ethnischen russischen Minderheiten wie Estland, Lettland, Kasachstan sowie - in geringerem Maße - auf Georgien und die restlichen asiatischen GUSStaaten. Dies könnte zu Spannungen mit der Europäischen Union und noch mehr mit der islamischen Welt fUhren. Die Türkei würde vermutlich stärker als bisher als Schutzmacht der Albaner auftreten. Die Kaukasusrepubliken und die zentralasiatischen GUS-Republiken würden sich bemühen, sich noch stärker an den Westen und insbesondere die NATO anzulehnen. Für Rußland selbst jedoch könnte es sich als noch viel gefährlicher auswirken, daß sich die islamisch geprägten Republiken der Russischen Föderation - und dies würde nicht nur die Region des Kaukasus, sondern den breiten Südgürtel Rußlands betreffen - in einem slawisch-orthodox geprägten Rußland nicht mehr vertreten fühlten und deshalb ihre Austritte aus der Föderation betreiben könnten. Die Folge könnten erhebliche Spannungen in ganz Südrußland und den westlichen und südlichen Nachbarstaaten mit nicht auszuschließenden schweren Auseinandersetzungen und einem möglichen Auseinanderbrechen der Russischen Föderation sein. In der Wirtschaftspolitik müßte man mit einer Abwendung von den "westlichen" Reformen rechnen, was dringend notwendige Investitionen verhindem
A. Die denkbaren Szenarien für Rußlands Zukunft
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und zu einer weitgehenden Stagnation des Landes fuhren würde. Für ein slawisch-orthodoxes Szenarium gibt es zur Zeit keinen russischen Politiker, sieht man einmal von Schirinowskij ab, der auch in der neuen Duma - allerdings mit einer kleineren Gruppe von Abgeordneten als bisher - vertreten ist. Als Anhänger des slawisch-orthodoxen Szenariums kann auch der Präsident Weißrußlands, Lukaschenko, gelten. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie weit sein Einfluß auf die russische Politik sein wird.
111. Rußland als europäische Großmacht mit einer engen Anbindung an den Westen, insbesondere Europa Bei diesem Szenarium geht man von der Idee aus, daß Rußland trotz seines riesigen asiatischen Gebietsteils und aufgrund der Tatsache, daß der Schwerpunkt des Landes eindeutig westlich des Urals liegt, und Rußland in seiner Geschichte stark europäisch und damit westlich geprägt ist, zum Westen gehört. Seine Rolle in der Weltpolitik würde bei diesem Szenarium nicht im Wettkampf mit den USA, sondern eher in der Zusammenarbeit mit ihnen liegen. Allerdings ließen sich zu diesem Szenarium zwei Varianten denken, bei der die eine eine starke Ausrichtung auf die Vereinigten Staaten als westliche Führungsmacht erkennen ließe, während sich die andere stärker an Europa ausrichten würde, um somit innerhalb des so vergrößerten westlichen Lagers eine Ausbalancierung des amerikanischen Gewichts zu erreichen. Die Beziehungen zu den Nachbarstaaten, vor allem den westlichen GUS-Republiken, wären weniger verkrampft. Selbst einer Integration dieser Länder in die Europäische Union würde kaum Widerstand entgegengesetzt werden, da im Hintergrund die eigene Integration stünde, die durch eine Weiterentwicklung der Europäischen Union nach Osten eher erleichtert würde. Die engere Zusammenarbeit mit dem Westen würde auch die Voraussetzung dafur schaffen, einen Brückenschlag zum fiüheren Erzrivalen Türkei herzustellen, der sich hinsichtlich seiner Integrationswünsche und Integrationsprobleme in einer vergleichbaren Rolle befmdet. Eine mögliche enge Zusammenarbeit in einem Bereich Brüssel-Ankara-Moskau könnte positive Entspannungswirkungen auf Südosteuropa und Zentralasien haben. Wirtschaftlich würde die Reformpolitik weiter vorangetrieben, wenn auch nicht in dem Maße wie vor der Finanzkrise im August 1998. Es würden sich breite Felder der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ergeben, wie der finnische Vorschlag der nördlichen Dimension der Europäischen Union erkennen läßt. Diese Zusammenarbeit würde in der ersten Zeit im wesentlichen in einer gegenseitigen Ergänzung mit Europa bestehen (dringend benötigte Energierohstoffe und - vielleicht auch - Produkte der Hochtechnologie im Flugzeugbau und der Raumfahrt von Rußland ftir Europa und Industrie- und Kon-
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3. Teil: Die Perspektiven fiir eine Zusammenarbeit mit der EU
sumgüter sowie Produkte für den Ausbau der Infrastruktur von Europa für Rußland). Bei einer westlichen Orientierung Rußlands könnte man sich auch durchaus eine enge Zusammenarbeit mit Japan an der östlichen Grenze des Riesenreiches mit der dort ebenfalls vorhandenen Möglichkeit der wirtschaftlichen Ergänzung denken. Diese Politik könnte die Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit und zunehmende Integration Rußlands in die westliche Welt darstellen. Vom Machtpotential her würde sie bei näherem Hinsehen das ftir Rußland attraktivste Szenarium darstellen. Allerdings ist die politische Konjunktur fiir ein solches Szenarium zur Zeit nicht allzu günstig. Als Politiker, der fiir das dritte Szenarium steht, könnte man an Grigorij Jawlinskij von der Jabloko-Fraktion denken, der im Gegensatz zu den Reformpolitikern den Vorteil hat, bisher nicht mit den Mißerfolgen der russischen Politik in Verbindung gebracht zu werden.
IV. Fazit Nach dem Rücktritt Jelzins als Präsident und der Betrauung Putins mit den Amtsgeschäften bis zu den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im März 2000, bei denen dieser allen Voraussagen nach sehr gute Chancen hat, Rußlands neuer gewählter Präsident zu werden, müssen sich alle Prognosen über den Vorrang eines der drei genannten Szenarien an der Person dieses Mannes orientieren. Seine bisherige Politik hat gezeigt, daß er eher national ausgerichtet ist, daß sein Handeln aber auch von einer gewissen Vorsicht und Rücksichtnahme auf den Westen (seine Reaktion auf den an Amerika gerichteten Hinweis Jelzins, daß Rußland Atommacht sei) geleitet wird. Es kann daher davon ausgegangen werden, daß in seine Politik Elemente aller drei Szenarien einfließen werden, immer unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit fiir die Stärke Rußlands.
8. Könnte Rußland der Europäischen Union beitreten? Es wurde bereits an früherer Stelle auf die Bedingungen hingewiesen, die ein Land erfüllen muß, um beitreten zu können. Danach muß es -
ein europäisches Land sein,
-
ein rechtsstaatliches System und
-
eine wettbewerbsfaltige marktwirtschaftliche Ordnung besitzen,
-
bereit sein, das gemeinsam Erreichte der Europäischen Union (acquis communautaire) zu übernehmen und
B. Könnte Rußland der EU beitreten?
151
-
die Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Minderheiten, zu achten sowie
-
mit seinen Nachbarn ein friedliches Zusammenleben aufweisen.
I. Ist Rußland ein europäisches Land? Die Frage, wann ein Land ein europäisches Land ist und damit einen grundsätzlichen Anspruch auf Aufnahme in die Europäische Union hat, hat in der Vergangenheit mehrfach Anlaß zu Diskussionen gegeben (im Zusammenhang mit Marokko, aber vor allem mit der Türkei). Die Frage ist zweifellos von großem Reiz. Vier Ansatzpunkte lassen sich denken: l. Ein geographischer: Nach den geographischen Gegebenheiten wird der Kontinent Europa als die vom Atlantik bis zum Urat reichende Landmasse einschließlich der vorgelagerten Inseln gesehen. Nach diesen Kriterien ergäbe sich ftir Rußland eine Streitfrage, da das Land geographisch gesehen mehr asiatische als europäische Landfläche aufweist. Die Streitfrage müßte letztlich jedoch zugunsten von Rußland entschieden werden, da der Schwerpunkt des Landes aus der Sicht der Besiedlung wie auch aus der wirtschaftlichen Kraft eindeutig im europäischen Teil liegt. 2. Ein kultureller Ansatzpunkt: In Anlehnung an die von Huntington370 aufgestellten Theorien der Aufteilung der Welt in kulturelle Einflußzonen, überschneiden sich in Europa mehrere Kulturkreise, wobei an dieser Stelle nur zwei interessieren, der westliche nämlich, der alle Länder Europas mit katholischer oder protestantischer Prägung um faßt, und den orthodoxen Kulturkreis, der die Länder begreift, die von der orthodoxen Religion geprägt sind. Die Scheidelinie zwischen beiden Kreisen verläuft östlich der baltischen Staaten durch Weißrußland, die Ukraine und schließt Länder wie Moldawien, Rumänien, Bulgarien, Mazedonien, Jugoslawien und den größten Teil von Bosnien-Herzegovina aus dem westlichen Kulturkreis aus. 371 Interessanterweise verläuft sie etwa genau an der Grenzlinie, die entstehen wird, wenn die Staaten der ursprünglich ersten Beitrittsgruppe aufgenommen sein werden.372 Nach einer solchen Unterscheidung hätte Rußland wie auch die anderen genannten Länder, von denen zumindest zwei Beitrittsanwärter sind, keine Chance.
Samuel Huntington, S. 252. Samuel Huntington, S. 252. 112 Vgl. hierzu auch Markus Wehner, Im Jahre zehn, in: FAZ vom 12.4.1999, der eine Verbindung zwischen winschaftlicher Entwicklung und onhodoxem Glauben herstellt. 110 171
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3. Teil: Die Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der EU
3. Ein politischer Ansatzpunkt: Dieser geht von der Ausbalancierung der Macht innerhalb der Europäischen Union aus und spricht gegen den Beitritt von Ländern, die entweder das innere Gleichgewicht der Union stören oder die Union durch ihren Beitritt zu einem unübersichtlichen und damit nicht mehr leitbaren Koloß machen würden. 373 Auch hiernach müßte dem Beitrittswunsch Rußlands mit Bedenken begegnet werden. 4. Ein philosophischer Ansatzpunkt, der davon ausgeht, daß Europa die Idee einer Wertegemeinschaft ist und daß alle Länder, die sich dieser Wertegemeinschaft zurechnen, aufgenommen werden sollten. Nach diesen Kriterien müßte Rußland den Nachweis erbringen, daß es dieser Wertegemeinschaft zugerechnet werden könnte. Es fallt auf, daß man mit den Kriterien der Abgrenzung sehr behutsam umgeht374,wohl wissend, daß es letztlich das Interesse der Europäischen Union ist, das ausschlaggebend fiir die Festlegung der Aufuahmekriterien sein wird. Interessant ist allerdings in diesem Zusammenhang die von der FriedrichEbert-Stiftung herausgegebene Studie375 zur russischen Identität, bei der die Befragten auf die Frage "Welchen Gruppen und Ländern steht Rußland kulturell und wirtschaftlich näher?" antworteten: USA 9,3 %, Deutschland 14,9 %, aber China 23,5 %, auf die Frage der wirtschaftlichen Nähe antworteten: USA 2,4 %, Deutschland 5,3 %, aber China 25,9 %, Japan 10,2 % und Indien 12,9 %. Allerdings wird die Frage eines Beitritts Rußlands zur Europäischen Union zur Zeit nicht ernsthaft erwogen, wenn auch Jelzin beim Treffen mit Bundesm Klaus-Dieter Frankenberger, Bis an Europas Grenzen, in: FAZ vom 12.3.1998. 374 Vgl. z.B. Bd. 5 der Bonner Schriften zur Integration Europas: Auf der Suche nach der europäischen Identität, hrsg. von Wilhelm Henrichsmeyer/Klaus Hildebrand/Burkhard May, Bonn 1995 oder Klaus Pöhle, Ist europäische Identität unmöglich?, in: Politik und Gesellschaft, Bd. 3/1998, hrsg. von der Friedrich-EbertStiftung. Ludger Kuehnhardt/Hans-Gert Poettering, Kontinent Europa: Kern, Übergänge, Grenzen. Zürich 1988. Siehe auch Rodric Braithwaite, La Russie, pays europeen, in: Politique etrang~re, 2/99, S. 269. Ebenso Raimund Krämer, Zwischen Kooperation und Abgrenzung - Die Ostgrenzen der Europäischen Union, in: Welttrends, Nr. 22, Frühjahr 1999, S. 9. Siehe auch das Interview mit dem früheren Kornmissionpräsidenten Jacques Delors, der die Grenzen der Europäischen Union an der Westgrenze der früheren Sowjetunion sieht, in: Frankfurter Rundschau vom 19.11.1999 (Europa braucht eine Avantgarde). m Herkunft und Gesellschaft im neuen Rußland. Russische Identität, Werte, gesellschaftliche Vorstellungen und politische Identifikationen im postsowjetischen Rußland, Moskau, September 1998. Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Durchgeführt vom Unabhängigen Russischen Institut für nationale und soziale Probleme.
B. Könnte Rußland der EU beitreten?
153
kanzler Sehröder in dessen Eigenschaft als Ratspräsident im März 1999 sein Bedauern dariiber ausgesprochen hat, daß Rußland nicht der EU angehöre. Immerhin hält der russische Politiker Jawlinskij, Vorsitzender der Jabloko-Fraktion einen Beitrittsantrag Rußlands im Zeitraum 2008-2012 ftir denkbar. 376
II. Ist Rußland ein demokratischer Rechtsstaat? Der Begriff demokratischer Rechtsstaat enthält zwei Elemente: -
einmal die Eigenschaft "demokratisch",
-
zum anderen die Bedingung der formellen (und materiellen) Rechtsstaatlichkeit.
Demokratisch ist ein Staat dann, wenn das Staatsvolk bei der Bestimmung der Legislative (und zumindest mittelbar auch der Exekutive) über freie und geheime Wahlen mitwirkt. Von einem formellen Rechtsstaar17 kann man dann sprechen, wenn die Staatsgewalt an Recht und Gesetz gebunden ist und staatliche Maßnahmen durch unabhängige Gerichte überprüft werden können. Sachlich werden diese Bedingungen konkretisiert durch Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtssicherheit, Allgemeinheit und Bestimmtheit des Gesetzes, Verfahrensrecht, Gewaltenteilung und Gewährleistung der Grundrechte. Die beiden Elemente des demokratischen Rechtsstaates sind daher voneinander zu unterscheiden, wobei das eine Element (demokratisch) das Verfahren, nach dem Regierungen ausgewählt werden, bezeichnet, beschreibt das andere (Rechtsstaat) Ziele und Vorgehensweise dieser Regierungen. 378 Daß Rußland ein demokratischer Staat ist - Parlament (Duma) und Präsident wur-
376 Chrisriane Hoffmann, Im Jahre 2008 ein Antrag auf EU-Beitritt?, in: FAZ vom 17 .II. 1998.
m Erhard Denninger, Rechtsstaat, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft 1/2, Harnburg 1974, S. 344-349. 318 Forced Zakaria, Geschäftsführer der in New York erscheinenden politikwissenschaftlichen Zeitschrift Foreign Affairs, hat in einem Aufsatz in der FAZ vom 11.12.1997 (Ein beunruhigender Trend. Die Demokratie blüht, nicht jedoch der konstitutionelle Liberalismus) auf diese Unterscheidung hingewiesen, wobei er jedoch für das, was der juristische Begriff Rechtsstaat beinhaltet, den politikwissenschaftlichen Begriff konstitutioneller Liberalismus gebraucht und dabei seine Besorgnis darüber ausdrückt, daß viele junge Demokratien keine Rechtsstaaten seien, was die fatale Wirkung habe, daß in diesen Fällen demokratisch gewählte Regierungen die Tendenz hätten, ihre Bürger oder bestimmte Gruppen dieser Bürger von ihren Rechten auszuschließen.
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3. Teil: Die Perspektiven fiir eine Zusammenarbeit mit der EU
den in freier und geheimer Wahl gewählt- wird nicht bestritten. Schwieriger ist die Frage hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit zu beurteilen. Rußland hat sich im Dezember 1993 eine neue Verfassung gegeben (nach Abstimmung durch die Bevölkerung am 12.12.1993)379, die nach Auffassung mehrerer Kommentatoren weitgehend der ftinften französischen Republik nachgebildet ist. 380 Die Verfassung orientiert sich an einem Präsidialsystem, in welchem sich präsidentielle und parlamentarische Elemente mischen.381 Der Präsident ist das beherrschende Verfassungsorgan, d.h. er ist das an der Spitze aller Verfassungsorgane und noch vor dem Parlament stehende "Staatsoberhaupt" (Art. 80, Abs. 1).382 Der Präsident soll sicherstellen, daß die Verfassungsorgane "koordiniert funktionieren und zusammenwirken" (Art. 80, Abs. 2). Er ist flir den Schutz, die Unabhängigkeit und Integrität Rußlands insgesamt verantwortlich. ,,Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine allgemeine Funktionsbeschreibung der Präsidialmacht, sondern zugleich um eine Bestimmung, die den Präsidenten unmittelbar und ,blanko' zu allen Maßnahmen ermächtigt, die ihm nicht durch 'd" Ve1-c.1assung o der Gesetz dfi.. e m1t1v versagt sm . 383 379
sung.
58 %der Wahlberechtigten, die ihr Votum abgaben, stimmten für die Verfas-
Hans Peter Haarland/Hans Joachim Niessen, Der Transformationsprozeß in Rußland. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Schriftenreihe zur Onlnungspolitik 3, F 10, Forschungsinstitut für Ordnungspolitik, Bonn 1997. Eine neuere Darstellung hinsichtlich der Entwicklung in den Regionen findet sich bei Vladimir Gel'man, Regime Transition. Uncertainty and Prospects for Democratisation: The Politics of Russia's Regions in a Comparative Perspective, in: Europe-Asia Studies, Vol. 51, No 6, September 1999, S. 939 ff. 381 Eines der großen Probleme der russischen Föderation ergibt sich aus dem latent vorhandenen Spannungsverhältnis zwischen Föderation einerseits und den Teilrepubliken andererseits. Die Gefahr des Auseinanderbrechens der Föderation wird von vielen russischen Politikern (Beispiel: der frühere Ministerpräsident Primakov) befürchtet. Die Wirtschaftskrise des Jahres 1998 hat die Risiken noch erhöht. Vgl. hierzu Graeme P. Herd, Russia: Systemic Transformation or Federal Collapse, in: Journal of Peace Research, Vol. 36, No 3, May 1999, S. 249. Zur unteren Ebene des Staatsaufbaus - der Kommunalverwaltung - siehe Thomas Kralinski, Die russische Kommunalverwaltung im Wandel: Im Osten was Neues?, in: Osteuropa - Wirtschaft, Stuttgart, März 1999, S. 51 ff. Der Autor, der seine Überlegungen vor allem auf Moskau konzentriert, sieht trotz einiger Schwierigkeiten durchaus positive Entwicklungen zu einer funktionsfähigen, die Interessen der Bürger berücksichtigenden Kommunalverwaltung. 380
Otto Luchterhandt, Präsidentialismus in den GUS-Staaten, in: Neue Regierungssysteme in Osteuropa und der GUS. Probleme der Ausbildung stabiler Machtinstitutionen. Osteuropaforschung, Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Band 37, Berlin 1996, S. 253. 383 Otto Luchterhandt, a.a.O. 182
B. Könnte Rußland der EU beitreten?
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Was die bereits oben zitierten wesentlichen Elemente der Rechtsstaatlichkeit betreffen, so befinden sie sich in dieser Verfassung: -
Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes in den Artikeln 4.2, 15, 16, 18;
-
Überprüfbarkeil staatlicher Maßnahmen durch unabhängige Gerichte in den Artikeln 45, 46, 47;
-
die Gewaltenteilung in Artikel 10, wobei man allerdings wegen der herausragenden Rolle des Präsidenten von vier Gewalten sprechen sollte;
-
das Demokratieprinzip in Artikel 1/3;
-
die Grundrechte in den Artikeln 13, 14, 29, 35 und 37.
Demnach kann Rußland formell gesehen als Rechtsstaat bezeichnet werden. Weit schwieriger ist die Situation allerdings in materieller Hinsicht. Besonders skeptisch zeigt sich Leonhard3&4, der sein Buch über Rußlands Weg zur Demokratie mit dem Titel Spiel mit dem Feuer versehen hat. Wie bereits im Teil zur Wirtschaft dargestellt, ist es in Rußland aus verschiedenen Gründen nicht gelungen, funktionierende Institutionen, ein wirksames Rechtssystem und eine effiziente, gegen Korruption gefeite Verwaltung aufzubauen. Die Konsequenzen dieses Scheiteros haben die staatliche Ordnung erschüttert und teilweise unberechenbar gemacht.385 Dieser Mangel wiederum - und damit öffnet sich der Teufelskreis- hat mit anderen Gründen zusammen dazu geführt, daß der Staat nicht in der Lage war, dafür Sorge zu tragen, daß die Bevölkerung mit dem lebensnotwendigen Minimum versorgt werden konnte. Diese mangelnde Leistungsfähigkeit des Staates im wirtschaftlichen Bereich wiederum hat dazu geführt, daß in der Bevölkerung- wie Ziemer schlußfolgert386 - in teilweise dramatischer Weise die Zustimmung zur Tätigkeit der Parlamente (und damit auch zu den übrigen staatlichen Organen) gesunken ist. Einen sehr hilfreichen Anhaltspunkt für die Frage, wie weit Rußland die Erfordernisse der Rechtsstaat384 Wolfgang Leonhard, Spiel mit dem Feuer - Rußlands schmerzhafter Weg zur Demokratie. Bergisch-Giadbach 1996, S. 52, 73, 80. m Vgl. auch Hannes Adomeit, Der Zerfall staatlicher Ordnung in Rußland, Internationale Politik, Februar-März 1999, Nr. 2-3, S. 93 ff, (97). Zu den Schwierigkeiten der Zusammenarbeit der Entscheidungsträger vgl. Silvia von Steinsdorff, Kalkulierter Konflikt und begrenzte Kooperation. Zum Verhältnis von Präsident, Regierung und Parlament in Rußland, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, l/99, S. 16 ff. 386 Klaus Ziemer, Struktur- und Funktionsproblem der Parlamente, in: Neue Regierungssysteme in Osteuropa und der GUS. Osteuropaforschung, Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Band 37, Berlin 1996, S. 178. Zum Auseinanderdriften in den Einstellungen von Elite und den Massen sei auf Judith S. Kullberg/William Zimmermann, Liberal Elites, Socialist Masses and Problems of Russian Democracy, in: World Politics, Vol. 15, No 3, April 1999, S. 323 verwiesen.
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3. Teil: Die Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der EU
lichkeit erftillt, gibt der vom Europarat in Straßburg im Juni 1998 veröffentlichte Zwischenbericht zu den Verpflichtungen beim Beitritt zum Europarat Dieser Zwischenbericht, ausgearbeitet von dem Abgeordneten Ernst Muehlemann (Liberale, Schweiz) und Rufolf Binding (SPD, Deutschland), kommt zu dem Ergebnis, Rußland habe seit seiner Aufnahme in den Europarat im Februar 1996 Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie und bei der Gesetzgebung zur Verbesserung seiner Rechtsstaatlichkeil gemacht, daß aber in der Praxis die Reformbemühungen noch wenig Wirkung zeigten.387 Im einzelnen kam der Bericht (der nur in englischer und französischer Sprache vorliegt) zu folgendem Ergebnis (Auszug aus der Zusammenfassung):388 "The progress achieved by Russia towards the rule of law and democracy for several years is undeniab1e, as witnessed by the various p1uralistic and democratic elections that marked Russia's political Iandscape in recent years. Political pluralism, freedom of opinion and the transition to a market economy are being achieved in spite of understandable difficulties. Russia's ratification, on 5 May 1998, of the European Convention on Human Rights, the Anti-Torture Convention and the European Charter of Local Self-Government represents a historical step in the enshrinment of this immense country in the system of values fostered by the Council of Europe. The forthcoming transfer of responsibility for the penitentiary system to the Ministry of Justice, the entry into force of new civil and criminal codes and the respect for the presidential moratorium on the death penalty since August 1996, represent further fundamental steps forward. Nevertheless, in many fields Russia must make further efforts to fulfil the obligations and commitrnents it entered into when joining the Council of Europe; this obviously justifies the need to continue the monitoring process as weil. The Monitoring Committee agreed that the attention should be directed in particular to the implementation of the following obligations and commitments: implementation of the law across the country's entire territory; implementation of freedom of movement and of choice of residence; respect for social rights, in particular the payment of salaries and pensions, in conformity with the European Social Charter, which Russia is called upon to ratify in the near future; complete abolition of the death penalty; Iifting of the reservations to the European Convention on Human Rights; implementation of freedom of religion;
387 Siehe auch Rußlands dorniger Weg zur Rechtsstaatlichkeit, in: Neue Zürcher Zeitung vom 24.6.1998. In diese Richtung gehen auch dieneueren Kommentare im Schrifttum, vgl. insoweit Falk Bomsdorf, Rußland: Viel Schatten, wenig Licht, in: Liberal, Heft 2, Mai 1999, S. 34. m Honouring of obligations and commitments by the Russian Federation, Zwischenbericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarals vom 2.6. 1998 (Doc. 8127).
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adoption of a code of criminal procedure, compatible with European Standards; reform of the Prosecutor's Office; reform of the penitentiary system, improvement of prison conditions and increased use of non custodial sentences; fight against ill-treatment of conscripts and adoption of a law on alternative military service; fight against corruption and organised crime in the economy; reform of the secret services with a view to removing the Federal Security Service's right to conduct criminal investigations and run their own pretrial detention centres; speeding up of the prosecution of human rights violations during the contlict in Chechnya and search for a political settlement of the conflict; maintaining friendly relations with neighbouring states."
Die Duma-Wahlen am 19. Dezember 1999 haben in den westlichen Medien zu einer heftigen Debatte darüber geftihrt, ob man bei Rußland von einer funktionierenden Demokratie sprechen kann. Die Kommentare - unter Hinweis auf den Ablauf der Wahlen, die einseitig eingesetzten Mittel der Medien sowie den Aufstieg der von Putin unterstützten Partei Einheit/Bär - waren in den westlichen Medien überwiegend kritisch. Allerdings wird auch anerkannt, daß die Wahlen zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse geführt haben und vor allem zu einem möglichen Ende der Lähmung des Landes durch den Dauerkonflikt zwischen Duma einerseits und Präsident andererseits.3K9
111. Besitzt Rußland eine wettbewerbsfähige marktwirtschaftliche Ordnung? Die wirtschaftlichen Probleme Rußlands wurden bereits ausfUhrlieh im Kapitel "Wirtschaft" abgehandelt. Für die Frage, ob Rußland eine Marktwirtschaft ist, ist zu bemerken, daß es nach wie vor von der EU und den USA als Staatshandelsland und nicht als Land mit einer marktwirtschaftliehen Ordnung eingestuft wird. 390 Die Aussichten, als Marktwirtschaft anerkannt zu werden, waren bis zur Finanzkrise im Sommer 1998 sehr günstig. Vor allem von seiten der JM 9 Siehe hierzu Markus Wehner, Gut für das Land, schlecht für die Demokratie, in: FAZ vom 22. 12.1999 und Wladimir Putin, Rußlands Wahl ist ein Signal an den Westen, in: WAMS vom 26.12.1999. 390 Elfter Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin, des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle und des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel zum Thema Die wirtschaftliche Lage Rußlands, Institut für Weltwirtschaft Kiel. Dezember 1997, S. 29.
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3. Teil: Die Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der EU
EU war eine zunehmende Bereitschaft erkennbar geworden, Rußland als Marktwirtschaft einzustufen. Die Finanzkrise hat diese Überlegungen zerstört, insbesondere deshalb, weil Rußland sich gezwungen sah, das Refonntempo zu drosseln und teilweise eine Stärkung der Rolle des Staates vorzunehmen. 391
IV. Wäre Rußland bereit und in der Lage, das gemeinsam Erreichte der Europäischen Union (acquis communautaire) zu übernehmen? Zur Bedeutung der Übernahme des "acquis communautaire" wird in dem oben zitierten Bericht der drei Wirtschaftsinstitute (Berlin, Halle und Kiel) angemerkt: "Sie (die EU) leistet im Rahmen der gemeinsamen Agrar- und Strukturpolitik nicht nur umfangreiche Transfers, sie bietet mit dem ,acquis communautaire' auch ein gemeinsames Institutionssystem und, im Falle der Realisierung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, künftig auch eine gemeinsame Währung fllr die Mitgliedsländer an. Anders als bei einer Freihandelszone hängt das Angebot dieser Leistungen und damit die Wohlfahrt der Gemeinschaft von den politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Bedingungen in den einzelnen Mitgliedsländern ab. Hier liegen die Probleme eines Beitritts Rußlands und anderer Transformationsländer. So kann ein fehlender politischer Grundkonsens die Entscheidungsprozesse und damit das Angebot der Leistungen der EU schwächen. Unvollkommene rechtliche und administrative Institutionen eines Mitgliedslandes können die Durchsetzung des ,acquis communautaire' insgesamt gefahrden (Brücker und Schrettl 1998). Der Europäische Rat hat daher zu Recht auf seinem Kopenhagener Gipfel 1993 strikte Kriterien für eine Aufnahme von Ländern in die EU formuliert."
Der Bericht kommt abschließend zu dem Ergebnis, daß Rußland gegenwärtig ( 1997) weit davon entfernt sei, die Kriterien des Europäischen Rates zu erflillen.392 Man kann davon ausgehen, daß nach der Wirtschafts- und Finanzkrise im August 1998, die das wirtschaftliche Leben Rußlands schwer erschüttert 391 Nach dem Treffen der Präsidenten Clinton und Jelzin Ende August 1998 sagte Kremlsprecher Jastrembskij: Das Land wird den Weg zur Schaffung einer Marktwirtschaft und einer demokratischen Gesellschaft weitergehen. In einer später vom Pressedienst des Kreml veröffentlichten Stellungnahme hieß es allerdings, daß unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage taktische Veränderungen des allgemeinen Kurses vorgenommen werden könnten, darunter auch eine Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, in: FAZ vom 2.9.1998. m Elfter Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin, des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle und des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel zum Thema Die wirtschaftliche Lage Rußlands, Institut für Weltwirtschaft Kiel. Dezember 1997, S. 37. Vgl. hierzu auch Roland Götz, Die Modernisierung Rußlands: Wunsch und Wirklichkeit, in: Osteuropa, Juli 1999, S. 701 (717).
B. Könnte Rußland der EU beitreten?
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hat, die ,,Entfernung" eher noch gewachsen ist. AIJerdings muß man sich auch bewußt sein, daß Rußland (wie auch die Europäische Union) nicht ernsthaft auf einen Beitritt hingearbeitet hat und daß andererseits - wie es die Erfahrung in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern zeigt - die Perspektive auf einen EU-Beitritt starke Anreize ftir wirtschaftliche Reformen und die Anpassung der Institutionensysteme an die Normen der EU schaffen kann. Angesichts der noch nicht überwundenen Wirtschaftskrise Rußlands wie auch angesichts der neusten politischen Entwicklung im Tschetschenienkonflikt müssen solche Überlegungen allerdings zur Zeit noch auf eher "taube Ohren" stossen.
V. Ist Rußland bereit, die Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Minderheiten, zu achten? Im Bereich der Menschenrechte zeigt der von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats aufgestellte und bereits zitierte Zwischenbericht über die Einhaltung der durch Rußland eingegangenen Beitrittsverptlichtungen, daß Rußland in den vergangeneo Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat. Unabhängig davon, daß es die zu Zeiten der Sowjetunion üblichen Verfolgungen von Menschen durch den Staat aufgrund ihrer politischen und religiösen Überzeugungen nicht mehr gibe93 , ist besonders herauszuheben, daß Rußland die Europäische Menschenrechtskonvention mit allen Protokollen ratifiziert hat (am 5. Mai 1997), daß es zum l. Januar 1997 ein neues Gesetzbuch erlassen hat, das in weitem Maße mit den internationalen Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention übereinstimmt, und daß gute Aussichten dafür bestehen, daß in Kürze bereits ein neues Verfahrensrecht (Prozeßrecht) in Kraft treten kann.394 Die Todesstrafe wurde zwar- entgegen der Aufforderung durch den Europarat - nicht abgeschafft, ist jedoch nur noch ftir ftinf, anstatt bisher 28 Delikte, vorgesehen. Außerdem gilt seit August 1996 ein von Präsident Jelzin verfugtes inoffizielles Moratorium, wodurch die Vollstreckung der Todesstrafe aufgehoben wird.m Auf der Negativseite wird vermerkt, daß bisher nichts getan worden sei, um den Geheimdienst zu reformieren, daß die Zustände in den Strafanstalten unhaltbar seien, daß Übergriffe in der Armee an der Tagesordnung seien, daß schließlich die Waffengleichheit in Strafprozessen nicht 391 Ygl. hierzu Markus Wehner, Was für den Westen gilt, ist für uns nicht immer ideal, in: FAZ vom 10.12.1998. 194 Zwischenbericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarals zur Einhaltung der durch Rußland eingegangenen Beitrittsverpflichtungen (Dokument Nr. 8127) vom 2.6.1998, S. 27 f. 195
Markus Wehner, a.a.O.
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3. Teil: Die Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der EU
gegeben sei wegen des institutionellen Übergewichts der Staatsanwaltschaft und daß schließlich die im Tschetschenienkrieg begangenen Kriegsvemrechen bisher nicht geahndet worden seien.396 Hinsichtlich der Wahrung der Rechte der Minderheiten bedauert der Bericht des Buroparats zwar, daß Rußland die Konvention zum Schutze nationaler Minderheiten unterschrieben, nicht aber bisher ratifiziert habe, kommt aber trotzdem zu einem positiven Gesamtergebnis, indem er darauf hinweist, -
daß keinerlei Beschwerden bisher vorlägen, aus denen sich ergäbe, daß Rußland seine nationalen Minderheiten nicht entsprechend der Empfehlung 1201 der Parlamentarischen Versammlung behandele und
-
daß darüber hinaus ein Gesetz über die kulturelle Autonomie der besonders kleinen Minderheiten (unter 50.000 Personen) angenommen worden sei, was ein besonders positiv zu vermerkender Punkt sei.397 Der Bericht des Buroparats stammt allerdings aus der Zeit vor dem Tschetschenienkrieg. Man kann davon ausgehen, daß er nunmehr zu einem anderen Ergebnis kommen würde. VI. Weist Rußland ein friedliches Zusammenleben mit seinen Nachbarn auf?
Die Beziehungen zu den Nachbarstaaten wurden bereits ausfUhrlieh bei der Beschreibung der geostrategischen Lage des Landes behandelt. Es kann deshalb auf die dort gemachten Ausführungen Bezug genommen werden. Es läßt sich jedoch zusammenfassend folgendes sagen: -
Mit allen Nachbarstaaten, die früher nicht zur Sowjetunion gehörten, hat sich Rußland bemüht, ein gutes, wenn nicht sogar freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Beispiele h1erfiir sind Japan, China und der Iran. Eine Ausnahme bildet vielleicht Afghanistan, wobei aber die Aggression nicht von Rußland ausgeht (Tadschikistankonflikt).
-
In einer Reihe von Staaten, die früher der Sowjetunion angehörten und jetzt Mitglied der GUS sind, kam es zu Auseinandersetzungen, sei es interner Art (wie in Moldawien, Georgien und Tadschikistan), sei es durch Konflikte unter Nachbarn (wie zwischen Armeoien und Aserbeidschan). Rußland wurde mehrfach aufgefordert, in diese Konflikte einzugreifen und hat dies in den meisten Fällen auch mit einem gewissen Erfolg (Untemrechung der
w6 Vgl. Zwischenbericht des Europarats, S. 28 und Markus Wehner, a.a.O. 391
Zwischenbericht des Europarats., S. 22.
C. Die aktuelle Zusammenarbeit Rußlands mit Westeuropa im allgemeinen 161
Kampfhandlungen) getan, was übrigens im Zwischenbericht des Europarats auch ausdrücklich gewürdigt wird. 398 -
Schwieriger gestaltet sich die Lage gegenüber den beiden baltischen Nachbarn Lettland und Estland. Hier wird das russische Verhalten- die Weigerung, die Grenzverträge zu unterschreiben - obwohl die beiden Länder mit Gesetzesreformen auf die Wünsche Rußlands bezüglich der Behandlung der russischen Minderheiten eingingen, wenig verständlich.
VII. Fazit Die drei großen Krisen der letzten anderthalb Jahre (Finanzkrise im Sommer 1998, Kosovokonflikt im Frohjahr 1999 und Tschetschenienkrieg Winter 1999) haben dazu gefuhrt, daß Rußland heute keines der sechs Kriterien uneingeschränkt erftillt. Es ist deshalb auch still geworden um die Frage eines möglichen Beitritts des Landes zur Europäischen Union, wenn sie auch noch nicht endgültig entschieden zu sein scheint. 399 Alles wird davon abhängen, wie sich die Politik in der Zukunft entwickeln wird, wenn auch die Aussichten zur Zeit keineswegs günstig zu sein scheinen.
C. Die aktuelle Zusammenarbeit Rußlands mit Westeuropa im allgemeinen Die Überlegungen im vorausgegangenen Kapitel haben gezeigt, daß ein Beitritt Rußlands zur Europäischen Union zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus verschiedenen Griinden nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden kann, daß es aber nicht völlig ausgeschlossen ist, daß die Frage sich in einigen Jahren erneut stellen könnte. Denkbar ist, daß neue Modelle entwickelt werden, die den besonderen Gegebenheiten stärker Rechnung tragen. Bei der eher abwartenden (teilweise auch ablehnenden) Haltung gegenüber Rußland, sollte nicht vergessen werden, daß die Zusammenarbeit zwischen dem wiedererstandenen Rußland und Europa in den letzten Jahren eine Entwicklung genommen hat, wie sie mit Sicherheit im Jahre 1980 noch niemand ftir denkbar gehalten hätte. Die Zusammenarbeit erfolgt dabei in drei parallel zueinander verlaufenden Bahnen, die einmal die Beziehungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union zu Rußland betreffen, zum anderen die Zusammenarbeit Rußlands mit internationalen Einrichtungen, zu deren Mitgliedern auch die Gemeinschaft und/oder ihre MitZwischenbericht des Europarats, S. 26-27. Siehe hierzu Michail Gorbatschow, Europa ist noch längst nicht vereint, in: WAMS vom 7.11.1999. 398 399
II Peter
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3. Teil: Die Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der EU
gliedsstaaten zählen, und schließlich die Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft bzw. mit der Europäischen Union selbst. 1. Die Chancen einer Zusammenarbeit mit Rußland werden besonders deutlich am Beispiel Finnlands, aber auch die Beziehungen zu Österreich, Italien, Griechenland und vor allem Deutschland haben einen besonderen Aufschwung erlebt, der durch die Finanzkrise Mitte 1998 leider gebremst worden ist, ohne daß dies das Ende der sich ankündigenden Möglichkeiten bedeuten würde. Ruft man sich die oben zitierten Länder ins Gedächtnis, so wird deutlich, daß das Interesse an Rußland (wie übrigens am übrigen Mittel- und Osteuropa) besonders groß an der Ostgrenze der Europäischen Union ist. Hier wird erneut einer der Erfahrungssätze europäischer Politik der letzten Jahrzehnte deutlich, wonach mit jeder Erweiterung des integrierten Europas dessen Ausstrahlungskraft auf die unmittelbaren Nachbarn zunimmt, eine Beobachtung, die zuversichtlich stimmt, denkt man an die zukünftige Zusammenarbeit mit Rußland. 2. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit internationalen Einrichtungen und Organisationen, der zweiten Verbindungsschiene mit Rußland, ist festzustellen, daß es dort Verbindungen ethnisch-kultureller, militärischer und wirtschaftlicher Art gibt. a) Die wichtigste ethnisch-kulturelle Verbindung ist zweifellos die Mitgliedschaft Rußlands im Europarat Mit seinem Beitritt hat Rußland seine Entschlossenheit kundgetan, zur europäischen Wertegemeinschaft zurückzukehren. Weiche praktischen Auswirkungen dies hat, wurde bereits bei der Behandlung der Menschenrechtsfragen und des Minderheitenschutzes im Zusammenhang mit den zu erfiillenden Beitrittsbedingungen deutlich, insbesondere bei der Rolle, welche die von Rußland eingegangenen Beitrittsverpflichtungen und die Überprüfung ihrer Einhaltung durch den Europarat betreffen. b) Ein weiteres Forum der Zusammenarbeit, in dem vor allem der Sicherheitsaspekt eine Rolle spielt, ist die insbesondere von Rußland geforderte und auch immer wieder ins Spiel gebrachte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die mit Wirkung vom 1.1.1995 auf der Grundlage der fiüheren Konferenz fiir Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) entstand. Nach dem Vorbild der Vereinten Nationen reformiert, soll sie deren größte regionale Unterorganisation mit dem Anspruch einer besonderen Wertegemeinschaft werden. Stabilität und Sicherung des Friedens sollen durch Stärkung der Demokratie, des Wohlstandes und der Marktwirtschaft erreicht werden.400
400 Europa und Deutschland. Ein aktuelles Lexikon wichtiger Begriffe, IMK, Institut für Medienentwicklung und Kommunikation GmbH, Frankfurt am Main, OSZE.
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c) Eine weitere Einrichtung der Zusammenarbeit mit den europäischen Ländern, aber auch mit Amerika, ist der NATO-Rußland-Rat, der nach ,,heftigen Geburtswehen" im Zusammenhang mit der Osterweiterung der NATO Mitte 1997 zustandekam. Am 27. Mai 1997 unterzeichneten die Präsidenten der NATO-Mitgliedsstaaten und Rußlands die "NATO-Rußland-Grundlagenakte" über gegenseitige Beziehungen, Kooperation und Sicherheit. Sie sieht regelmäßige Konsultationen und Koordinationen sowie gemeinsame Aktionen vor. Aus den Abschnitten der Akte ergeben sich die mit ihr verbundenen Prioritäten: in der Präambel wird betont, daß sich die NATO und Rußland nicht als Gegner betrachten, im ersten Abschnitt werden die Prinzipien der gegenseitigen Beziehungen dargelegt, im zweiten wird ein permanenter NATO-Rußland-Rat geschaffen und dessen Funktionsweisen festgelegt, im dritten wird eine Reihe von Themen, die Rußland und die NATO diskutieren sollen (wie z.B. Konfliktverhütung, Friedenserhaltung, die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie der Informationsaustausch über Sicherheitsfragen), beschrieben und im vierten Abschnitt wird die militärische Dimension des Vertrages erläutert. Die erste Tagung des Ständigen Gemeinsamen Rats NATO-Rußland (PJC) fand am 18. Juli 1997 in der Brüsseler NATO-Zentrale mit den Botschaftern der NATO-Bündnisländer und Rußlands statt. Der Rat besteht aus einem Dreiervorsitz des NATO-Generalsekretärs, des russischen Botschafters und eines Botschafters aus einem Mitgliedsstaat. Der NATO-Rußland-Rat könnte zur Grundlage militärischer Zusammenarbeit zwischen Rußland und den NATaStaaten werden, zu denen eine Reihe von Staaten der Europäischen Union gehören. Dies hätte damit auch eine enge Anhindung Rußlands an Europa im Bereich der Verteidigung zur Folge. Allerdings muß der NATO-Rußland-Rat erst seine Bewährungsprobe bestehen; als eine solche kann inzwischen- mit positivem Ausgang die Jugoslawienkrise gelten. d) Im wirtschaftlichen Bereich konnte Rußland seinen möglicherweise größten Erfolg, durch seine Aufnahme in die Gruppe der sieben führenden Industrienationen G-7 erzielen, die heute deshalb oft als die Gruppe G-8 bezeichnet wird. 401 Der große Durchbruch gelang Rußland beim G-7-Gipfel in Denver, der vom 20.-22. Juni 1997 stattfand. Dieser stellte eine neue Etappe in den Beziehungen zu Rußland dar, denn zum ersten Mal wurde Rußland auch an den finanziellen Gesprächen beteiligt und zum Abschluß wurde eine ofTlzielle G-8Erklärung erlassen. Rußland wurde allerdings noch nicht als volles Mitglied akzeptiert, insbesondere wegen des Widerstandes der Japaner (Kurilen-Frage); 401 So Staatspräsident Chirac bei senem Besuch in Moskau im September 1997. der davon sprach, daß er Rußland als volles Mitglied einer Achtergruppe G-8 der führenden Industrieländer ansehe.
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in letzter Zeit hat Japan jedoch seine Abwehrhaltung in diesem Punkt aufgegeben. Ein weiterer Erfolg Rußlands ist der Beitritt zum sogenannten .,Pariser Club", der die weltweit größten Geberländer umfaßt. 402 e) Der Beitritt zur WTO (Welthandelsorganisation) sowie der OECD ist dagegen - trotz des Drängens Rußlands und der Unterstützung durch die europäischen Länder - bisher noch nicht erreicht worden. Diese Entwicklungen zeigen einerseits das Bemühen Rußlands an einer Einbindung in die internationale, vor allem aber westlich bestimmten Vertragsstrukturen und andererseits die Bereitschaft der westlichen Länder - insbesondere der europäischen -, ihm dabei behilflich zu sein.
D. Die aktuelle Zusammenarbeit Rußlands mit der Europäischen Union In ihrem Bericht über die Mitteilung der Kommission ,,Die künftigen Beziehungen der Europäischen Union zu Rußland" und dem Aktionsplan ,,Die Europäische Union und Rußland: die künftigen Beziehungen" vom 12.2.1998 hat die Berichterstatterin, Catherine Lalumiere, die folgenden drei Aktionen der Europäischen Union zugunsten Rußlands besonders hervorgehoben: -
das Partnerschafts- und Kooperationsprogramm,
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das TACIS-Programm,
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den Aktionsplan. I. Das PartnerKhafts- und Kooperationsprogramm
Um Rußland wirtschaftlich und politisch stärker an die EU zu binden, ohne aber ein Assoziierungsabkommen bzw. Europa-Abkommen (mit einem Beitritt zur EU in absehbarer Zukunft) abzuschließen, wurde am 24. Juni 1994 das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (abgekürzt PKA) zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Russischen Föderation unterzeichnet. Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen regelt den Handel und die handelspolitische Zusammenarbeit, die Zusammenarbeit im sozialen Bereich, im Bereich der beruflichen Bildung, in den Bereichen Wissenschaft und Technik, Verkehr, Telekommunikation, Fremdenverkehr, Kultur sowie im Bereich der Verhinderung von Straftaten sowie ferner den politischen Dialog.
002 Erwähnt werden könnte auch noch die Zusammenarbeit mit den Internationalen Währungsfonds. der Weltbank und dem Londoner Club.
D. Die aktuelle Zusammenarbeit Rußlands mit der EU
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Außerdem ist der Abschluß weiterer Abkommen vorgesehen. Die Ziele des politischen Dialogs sind die Stärkung der Bindungen zwischen Rußland und der EU und die Intensivierung der politischen Beziehungen, die Annäherung der Standpunkte in internationalen Fragen der Demokratie und der Menschenrechte (Art. 6 PKA). Für den politischen Dialog sieht Art. 90 PKA einen Kooperationsrat auf Ministerebene, Art. 92 PKA einen Kooperationsausschuß auf der Ebene hoher Beamter sowie Art. 95 PKA einen Parlamentarischen K