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German Pages 446 [444] Year 2012
Mike Rapport
1848 Revolution in Europa Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Hahn
Natürlich für Helen und für Michael H. Rapport (1917–2007) sowie John Bell (1964–2008) de mémoire glorieuse et éternelle
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Englische Originalausgabe: 1848, Year of Revolution © 2008 by Mike Rapport First published in Great Britain in 2008 by Little Brown Books Group All rights reserved.
© 2011 Konrad Theiss Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Übersetzung aus dem Englischen: Andrea Hahn Lektorat: Cristina Knüllig, Hamburg Kartographie: Peter Palm, Berlin Satz und Gestaltung: Satz & mehr, Besigheim Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-8062-2430-6 Besuchen Sie uns im Internet www.theiss.de
Lizenzausgabe für die WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt ISBN 978-3-534-23963-4 www.wbg-wissenverbindet.de
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-2484-9 eBook (epub): 978-3-8062-2485-6 eBook (PDF): 978-3-534-72576-2 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534- 72577-9 (für Mitglieder der WBG)
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Ein Wald von Bajonetten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Zusammenbruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Völkerfrühling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Glutroter Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Herbst der Gegenrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1849 – Winterzeit der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 56 125 201 275 340 398
Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellenangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VORWORT
1848 fegte ein gewaltiger Revolutionssturm über Europa hinweg. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit stürzten in Paris, Mailand, Venedig, Neapel, Palermo, Wien, Budapest, Krakau und Berlin Zehntausende radikaler Arbeiter und liberaler Bürger die alten Regierungen und machten sich ans Werk, eine neue, liberale Ordnung zu schaffen. Seit der Französischen Revolution von 1789 hatte Europa keine derart dramatischen politischen Ereignisse mehr erlebt – und sollte sie auch bis zu den Umwälzungen von 1989 in Ost- und Mitteleuropa oder vielleicht bis zur weniger weitreichenden bolschewistischen Revolution von 1917 nicht mehr erleben. Die Lawine zerschmetterte die konservative Ordnung, die seit dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 auf dem Kontinent für Frieden gesorgt, in vielen Ländern allerdings auch die Träume von nationaler Freiheit und konstitutioneller Regierung unterdrückt hatte. Das festgefügte Gebäude der Macht, seit fast zwei Generationen den Europäern aufoktroyiert, brach unter dem Gewicht der Aufstände zusammen. Die Geschichte von 1848 wurde viele Male erzählt.1 Sie ist kompliziert, und ihre Darstellung birgt einige interessante Herausforderungen. Ein Historiker beschrieb dies als Problem »historischer Synchronisation«,2 die Italiener haben einen sehr viel farbigeren Ausdruck dafür: »un vero quarantotto« – »ein echtes 48« –, was soviel bedeutet wie »ein wahrhaft königliches Chaos«.3 Deshalb soll hier in erster Linie die Geschichte als solche erzählt werden, und zwar so, dass sie hoffentlich mit Genuss zu lesen ist. Dieses Buch wird aber auch von der Überzeugung getragen, dass die Revolutionen von 1848/49 es wert sind, einmal mehr aufgearbeitet zu werden, weil sie auf entsprechende Resonanz in der Gegenwart stoßen. Im Allgemeinen erlaube ich der Leserin, dem Leser, aus den Beweisen und dem Erzählten eigene Schlüsse zu ziehen, doch gelegentlich gebe ich einen, wie ich hoffe, hilfreichen Fingerzeig. 1848 standen die Revolutionäre vor dem Problem, freiheitliche konstitutionelle Regierungen bilden zu müssen, wobei sie sich mit erstaunlich modernen Fragestellungen konfrontiert sahen. Für die Deutschen, Italiener, Ungarn, Rumänen, Polen, Tschechen, Kroaten und Serben sollte dieses Jahr der »Völkerfrühling« sein, eine Chance, ihr
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eigenes Nationalbewusstsein zum Ausdruck zu bringen und politische Anerkennung zu finden. Im Fall der Deutschen und Italiener war es zugleich eine Gelegenheit zur nationalen Einigung in einem liberalen oder sogar demokratischen Geist. Daher war Nationalismus eines der Themen, die 1848 an die Oberfläche der europäischen Politik drängten. Obwohl im Konstitutionalismus und in den Bürgerrechten verwurzelt, handelte es sich um einen Nationalismus, der verhängnisvollerweise kaum den legitimen Ansprüchen anderer nationaler Gruppen Rechnung trug. Vielerorts führte diese enge Sichtweise zu einem erbitterten ethnischen Konflikt, der letztlich dazu beitrug, die revolutionären Herrschaftsordnungen in Mittel- und Osteuropa zu zerstören. Ein weiteres Problem stellten die Themen »Verfassung« und »Demokratie« dar. Fast überall trugen die Revolutionen von einer harten, oft gewaltsamen politischen Polarisierung Narben davon. Gemäßigte strebten nach einer parlamentarischen Regierungsform – ohne allerdings allen das Wahlrecht zu gewähren – und sahen sich unverzüglich von Radikalen herausgefordert, die eine Demokratie anstrebten – häufig im Verein mit einschneidenden sozialen Reformen. Die Kluft zwischen Liberalen und Demokraten trennte die revolutionäre Allianz, die so mühelos die konservative Herrschaft gestürzt hatte. Der daraus entstehende Antagonismus zeitigte dramatische Folgen für die Zukunft liberalen Regierens und der Demokratie, und zwar nicht nur im Jahr 1848, sondern in vielen Teilen Europas bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Ein drittes Thema, das 1848 an die Oberfläche brodelte und nie wieder von der politischen Tagesordnung Europas verschwand, war die »soziale Frage«. Während der rund dreißig Jahre seit den napoleonischen Kriegen hatte sich das bittere Elend der städtischen und ländlichen Bevölkerung bedrohlich verschärft. Grund für die Armut war ein Bevölkerungswachstum, dem noch kein entsprechendes Wirtschaftswachstum ausgleichend gegenüberstand. Die Regierungen unternahmen nichts gegen die soziale Notlage, deren Bekämpfung sich dann 1848 eine recht neue politische Strömung – der Sozialismus – auf die Fahnen schrieb. So wurde durch die Revolutionen die soziale Frage mit aller Macht und unwiderruflich auf das Feld der Politik geworfen. Alle späteren Regime, egal wie konservativ oder autoritär, konnte sie nur unter hohen Risiken ignorieren; 1848 aber sollte sich die Frage, was gegen die Armut zu unternehmen sei, als schicksalhaft für die liberalen revolutionären Regierungen erweisen. Die Revolutionen von 1848 waren zudem europaweit – sie flammten auf dem ganzen Kontinent auf. Selbst Länder wie Großbritannien und Russland,
VORWORT
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die nicht direkt von Aufständen heimgesucht wurden, blieben von den Auswirkungen nicht ganz verschont. Diese europäische Dimension wirft die Frage auf, ob Europas geschichtliche Entwicklung lediglich die Summe seiner verschiedenen nationalen Teile ist oder ob diese Teile durch gegenseitige Erfahrungen, gemeinsame Probleme und Ähnlichkeiten in Idealen und Erwartungen miteinander verbunden sind. Auch dieser Aspekt ist von großer Bedeutung für die heutige Zeit. Die genannten Themen werden im vorliegenden Buch, eingebettet in die Darstellung der Ereignisse von 1848/49, untersucht, wobei auf Augenzeugenberichte, Memoiren und eine umfangreiche Auswahl an Sekundärliteratur zurückgegriffen wird. Außerhalb der Forschung wurde diese Periode europäischer Geschichte nur wenig beleuchtet, dabei hat sie eine ganz eigene Dramatik: Viele Bildmotive aus europäischen Revolutionen – Arbeiter und Studenten auf Barrikaden, rote Flaggen, Trikoloren – stammen aus dieser Zeit. Die Aufstände und ihre Niederschlagung brachten eine beeindruckende Besetzung auf die Bühne: darunter Metternich, den Architekten der alten konservativen Herrschaftsordnung; Louis-Napoleon Bonaparte (später Napoleon III.), der das Schicksal der Zweiten Französischen Republik besiegelte, indem er Profit aus dem Namen seines berühmten Onkels schlug; Garibaldi, den Helden mit dem roten Hemd aus dem Kampf um Italiens Einheit; Mazzini, die beinahe religiös anmutende Inspirationsquelle hinter dem demokratischen Republikanismus Italiens; Bismarck, das machiavellistische stille Wasser der deutschen Geschichte; und Radetzky, den gerissenen österreichischen Feldmarschall von achtzig Jahren, der zu Recht hätte behaupten können, der Retter des Habsburgerreichs gewesen zu sein. Doch es gibt noch andere, deren Namen vermutlich nicht so vertraut sind, die aber trotzdem Teil der Besetzung sind: der kroatische Kommandeur Jelačić; der hitzige ungarische Revolutionär Kossuth; der bebrillte und geistreiche Republikaner Manin aus Venetien; der französische Historiker und Dichter Lamartine mit seinem Gespür für Dramatik. Die Revolutionen von 1848 stellen eine vielschichtige und faszinierende Geschichte dar, die die hohe Politik der Diplomatie, Staatenbildung und Verfassungsgebung mit der menschlichen Tragödie von Revolution, Krieg und sozialem Elend verbindet. Parallel dazu gab es wahrhaft erhebende und begeisternde Augenblicke: 1848 war sowohl eine Revolution der Hoffnung wie auch eine der Verzweiflung.
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Europa im Jahr 1848 KGR. NORWEGEN
Habsburgerreich Königreich Ungarn Cisleithanien
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Kristiana (Oslo)
Deutschland Preußen Bayern Großherzogtum Baden Sachsen Grenze des deutschen Bundes
Edinburgh
KGR. DÄNEMAR Nordsee
Irland
Schleswig
Dublin
Holstein
VEREINIGTES KGR. VON GROSSBRITANNIEN UND IRLAND
Italien Königreich Sardinien Kirchenstaat Königreich beider Sizilien Großherzogtum Toskana
KGR. NIEDERLANDE
Hambur
Amsterdam
London
Rhein
Düsseldorf Brüssel
Boulogne
KGR. BELGIEN
K G R . Frankfurt
Rouen Paris
Straßburg
Atlantischer Ozean
Lo
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Nantes
Basel
KGR. FRANKREICH
SCHWEIZ
Lyon
KGR.
Mailand
P
Turin
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Bordeaux
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SARDINIEN Genua
Toulouse Marseille
Toulon
Eb ro Korsika
KGR. PORTUGAL Lissabon
Barcelona Madrid
KGR. SPANIEN Balearen
Sevilla
Ceuta
100
200
Mittelmeer
Gibraltar (engl.) Algier
(span.) 0
Sardinien
300 km
Tunis
E U R O PA I M J A H R 18 4 8
St. Petersburg
Stockholm Moskau
KGR. SCHWEDEN Riga
Memel
Ostsee
Kopenhagen
Tilsit
Wilna Minsk
Königsberg
RUSSISCHES REICH
Berlin
S
Potsdam
E U P R
N
E
S
Weichse l
Posen
Warschau Kiew
Od e
Dnjepr
r
KGR. SACHSEN
Breslau
Böhmen
Lemberg
Krakau
Prag
Galizien
Mähren Slowakei
KGR. BAYERN
KGR. UNGARN
Wien
Bratislava
München
Debrezin
Bukowina Moldawien
Budapest Innsbruck
Vojvodina
Transsilvanien/ Siebenbürgen
Banat Dona u
Kroatien
Venedig
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Bosnien
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Schwarzes Meer
Belgrad Serbien
c
he
Sarajewo
Walachei
KIRCHENSTAAT
Gr
en
ze
Adria
OSMANISCHES REICH
Konstantinopel
Rom Gaeta
Neapel
Tarent Smyrna
KGR. BEIDER SIZILIEN Palermo
Athen
GRIECHENLAND (unabhängig seit 1830)
Sizilien
© Theiss Verlag/Peter Palm
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1 EI N WALD VON BA JON ET TEN
Unter einem dämmrigen Januarhimmel zog ein Konvoi aus Pferdeschlitten über die leuchtende, schneebedeckte Ebene. Die Prozession endete an einem Schlagbaum, ein Feldwebel inspizierte die Pässe der Reisenden, und ein grauhaariger alter Soldat, zusammengekrümmt unter einem mit Wachstuch überzogenem Dreispitz, das Gewehr schwer von der Schulter hängend, öffnete die Schranke: Es war die russische Grenze zu Preußen. Erneut knirschten die Schlitten über den Schnee. Als er den Kopf wandte, hörte der die Gruppe anführende Alexander Herzen, wie ihm ein Kosak – in der Hand die Zügel eines Reitpferdes, dessen zottiges Fell mit lauter Eiszapfen bedeckt war – eine gute Reise wünschte.1 Herzen ahnte damals nicht, dass er Russland nie wiedersehen sollte. Es war Januar 1847, und in Begleitung seiner Frau Natalie, ihrer drei Kinder, seiner Mutter und zweier Kindermädchen sollte er sich auf eine Reise durch Europa begeben. Obwohl ein Angehöriger des niederen russischen Adels, war er auch ein Sozialist, der den erdrückenden Lebensumständen unter Zar Nikolaus I. entfloh und darauf brannte, mehr über »den Westen« zu erfahren, um Vergleiche mit Russland ziehen zu können und – eine vergebliche Hoffnung – mit den Früchten seiner Erkundungen heimzukehren.2
I Die Herzens traten die Reise durch ein Europa an, das am Rande einer unsicheren Zukunft stand. Politisch gesehen wurde es von konservativen Kräften dominiert. Von den fünf Großmächten – Österreich, Preußen, Russland, Frankreich und Großbritannien – besaßen nur die beiden Letzteren Parlamente, die die königlichen Befugnisse beschränken sollten, trotzdem waren sie weit von der Demokratie entfernt. In Großbritannien hatte sich, allerdings unter Blutvergießen und politischem Widerstand, seit Generationen ein parlamentarisches System herausgebildet. 1832 war es zu einer ersten großen Modernisierung dieses
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Systems gekommen, wodurch männliche Stadtbewohner mit einem gewissen Besitzstand das Wahlrecht erhielten, während die Städte – viele von ihnen waren bisher noch nicht oder nur unzureichend in Westminster vertreten – die Möglichkeit erhielten, Abgeordnete ins Parlament zu wählen. Dies war keine Demokratie, da in England und Wales nur einer von fünf erwachsenen Männern (Frauen waren selbstverständlich ausgeschlossen) und in Schottland einer von acht Männern an die Wahlurne treten durften und die Zusammensetzung des Parlaments, das aus Gentry* und landbesitzendem Hochadel bestand, faktisch unangetastet blieb. 1814 hatte sich Frankreich zu einer konstitutionellen Monarchie entwickelt, nachdem Napoleon in sein vornehmes Exil auf Elba abgeschoben worden war. Ab 1815 schließlich wurde der gestürzte Kaiser auf dem fernen Eiland Sankt Helena bis zu seinem Tod 1821 unter strengen Bedingungen verwahrt. Nun erstand die Herrschaft der Bourbonen neu, zunächst unter Ludwig XVIII., dem jüngeren Bruder des guillotinierten Königs Ludwig XVI., und nach dessen Tod im Jahr 1824 unter dem ultrakonservativen Karl X. In der französischen Verfassung, der Charte constitutionelle von 1814, war ein Parlament vorgesehen, dessen Abgeordnetenkammer von den 110 000 reichsten Steuerzahlern gewählt wurde. 1830 führte Karls königliche Kompromisslosigkeit angesichts wiederholter Wahlsiege der Liberalen zum endgültigen Sturz der Bourbonen. Angeblich hatte er einmal erklärt, er sei lieber ein Holzklotz, als dass er wie der britische Monarch regieren wolle. Insofern kam es einer Ironie des Schicksals gleich, dass seine Höflinge auf dem Weg ins Exil (Karl sollte im Edinburgher Holyrood Palast leben) bei einem Zwischenstopp einen Tisch kürzen mussten, damit das gesamte königliche Gefolge in dem kleinen Speiseraum untergebracht werden konnte. In Paris wurde die Charte von dem neuen Regime unter König Louis-Philippe, Spross aus dem rivalisierenden Haus Orléans, beibehalten. – Das war die »Julimonarchie«, benannt nach dem Monat, in dem die Revolution stattgefunden hatte. Sie wurde leicht modifiziert, so dass die Wählerschaft auf 170 000 der reichsten französischen Männer anwuchs, was gerade einmalº,5 Prozent der französischen Bevölkerung und einem Sechstel derjenigen entsprach, die nach 1832 in Großbritannien in den Genuss des Wahlrechts kamen.3 Die übrigen drei großen europäischen Mächte waren absolute Monarchien, und von diesen wiederum war Österreich in vielerlei Hinsicht maßgeblich ver*
Die Gentry bestand aus niederem Adel und gehobenem Bürgertum (Anm. d. Übers.)
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Der gesetzgebende Bauch. Die Revolution von 1848 hatte die Charte constitutionelle von 1814 nur minimal verändert. Honoré Daumiers Satire auf das parlamentarische Leben spiegelt die Enttäuschung der Republikaner wider. (akg-images)
antwortlich für die konservative europäische Ordnung. »Österreich«, das war das habsburgische Kaiserreich, eine vielsprachige Ansammlung von Territorien, die insgesamt nicht weniger als elf verschiedene Nationalitäten bargen: Deutsche, Ungarn, Rumänen, Italiener und die slawischen Völker – Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainer (damals bekannt als Ruthenen), Slowenen, Serben und Kroaten. Zusammengehalten wurde dieser wahre Turm von Babel durch die Dynastie der Habsburger, die von ihrer Reichshauptstadt Wien aus regierte. Die dominante Gestalt der österreichischen Politik zwischen dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 und dem Jahr 1848 war zugleich einer der ganz Großen des 19. Jahrhunderts: Klemens von Metternich. Dieser altgediente österreichische Diplomat war seit 1809 Außenminister der habsburgischen Monarchie und seit 1821 auch Staatskanzler. Er war intelligent, arrogant, unnahbar und, wie ein britischer Diplomat es einmal nannte, »ganz unerträglich frei und leichtsinnig mit den Frauen«.4 Aus Österreich kam er nicht. Er wurde 1773 in Koblenz geboren, das damals vom geistlichen Kurfürstentum Trier, einem der vielen Staaten des Rheinlandes, regiert wurde. Wie die ande-
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Der Architekt der konservativen Ordnung: Klemens Lothar Fürst von Metternich kurz vor seinem Tod im Jahr 1859. (akg-images)
ren kleinen deutschen Fürstentümer ruhte Kur-Trier unter dem schützenden Mantel des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. An dessen Spitze stand der Kaiser, der von den Kurfürsten gewählt wurde und lange Zeit fast ausnahmslos aus dem Hause Habsburg stammte, das über Jahrhunderte die mächtigste und somit geeignetste Dynastie zur Verteidigung des Deutschen Reichs darstellte. Im Herbst 1794 hatten die französischen Revolutionstruppen das Rheinland besetzt, und mit dem Triumph der in Blau gehüllten Horden kam die republikanische Vergeltung über den ansässigen Adel. Die Metternich’schen Besitztümer wurden konfisziert, und Klemens floh nach Wien, wo er von einer kaiserlichen Pension sowie den Einkünften aus dem letzten ihm verbliebenen Besitz in Böhmen lebte. Als er 1801 die Stelle des österreichischen Gesandten in Sachsen annahm, begann sein unaufhaltsamer Aufstieg auf der Karriereleiter des diplomatischen Dienstes Österreichs. Mit Napoleons Sturmlauf durch Mitteleuropa – bei dem er 1806 das tausend Jahre alte Heilige Römische Reich auslöschte – entwickelte Metternich die Vorstellung, der Vielvölkerstaat der Habsburger, zusammengehalten von einer starken kaiserlichen Regierung in Wien, könne die neuen »Grundlagen eines europäischen Systems«5 schaffen.
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Metternichs Hintergrund und seine unmittelbare Erfahrung weckten in ihm die Überzeugung, dass die habsburgische Monarchie nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa von zentraler Bedeutung sei. Er glaubte, dass ein starker Staat in Mitteleuropa einerseits die kleineren deutschen Staaten zu schützen und andererseits eine führende Rolle bei der Erhaltung der sozialen und politischen Stabilität des gesamten Kontinents zu spielen vermochte. Sollte dagegen die habsburgische Monarchie scheitern, würde der Vielvölkerstaat im Herzen Europas zerfallen und dort, wo einst Ordnung herrschte, würden innere Unruhen, revolutionäre Auseinandersetzungen und ein Schreckensregime herrschen – Konsequenzen, denen zu entgehen kein europäischer Staat hoffen könne. Metternich war der führende Architekt der gesamten konservativen Ordnung. Als sein bedeutendster Erfolg kann wohl die diplomatische Funktion gelten, die er auf dem Wiener Kongress von 1815 einnahm. Diese große internationale Konferenz versuchte nach dem langen Leiden und den Metzeleien der napoleonischen Kriege erneut ein politisches System in Europa zu etablieren. Eines, das nicht nur darauf abzielte, den internationalen Frieden zu wahren, sondern die doppelte Gefahr von Liberalismus und Nationalismus in eisernen Schranken zu halten. Metternichs Diplomatenkollegen teilten seine Auffassung. Das Erbe Napoleon Bonapartes und das Blutbad jener Kriege, die heute seinen Namen tragen (und die relativ gesehen ebenso vielen Europäern das Leben kosteten wie der Erste Weltkrieg), lasteten schwer auf den politischen Entscheidungsträgern. Nicht anders verhielt es sich mit dem grauenhaften Schatten der Guillotine. Für die Konservativen Europas waren Liberalismus und Nationalismus gleichbedeutend mit Revolution – und die wiederum konnte nur der düstere Vorbote von Zerstörung und Tod sein. Ganz egal ob sie in Gestalt von Revolutionstruppen kam, die quer über den Kontinent ausschwärmten und kein Leben, keine Religion, keinen Besitz respektierten, oder in Form eines blutigen Bürgerkrieges, der von sensenschwingenden Bauern oder den verzweifelten, besitzlosen Massen aus den Städten gegen die Herrschaft geführt wurde. Die Vertreter der politischen Ordnung der nachnapoleonischen Zeit, die sich der möglichen Folgen des Scheiterns nur allzu bewusst waren, versuchten deshalb angesichts der existenziellen Bedrohung der staatlichen Ordnung, ihre Muskeln spielen zu lassen. Dem Hauptorganisator dieser Ordnung schien nur die absolute Monarchie eine Monarchie zu sein, die diesen Namen verdiente. Aus Angst, Alexander I. von Russland würde mit der haarsträubenden Idee, eine Verfassung einzuführen, liebäugeln, richtete Metternich 1820 sein »Politisches Glaubensbekennt-
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nis« an den Zaren. Monarchen, so argumentierte er, müssten »außerhalb der Atmosphäre der Leidenschaften stehen, die die Gesellschaft aufhetzen«: » … gerade in Zeiten der Krise sind sie grundsätzlich dazu aufgefordert … sich als das zu zeigen, was sie sind: Väter, die all die Autorität besitzen, die Familienoberhäuptern zusteht; um so zu beweisen, dass sie in finsteren Zeiten verstehen, gerecht, weise und allein dadurch stark zu sein und ihr Volk, das zu regieren ihre Pflicht ist, nicht dem Spiel von Aufrührern sowie Irrtümern und deren Folgen, die unwiderruflich in die Zerstörung führen, überlassen.«6 Zu den »Aufrührern«, die die »Gesellschaft« bedrohen würden, zählten Liberale und Nationalisten, die nach Verfassungen, nationaler Unabhängigkeit und politischer Einheit riefen. Die Souveräne sollten diesen Forderungen nicht nachgeben, ja noch nicht einmal versuchen, schnelle Zugeständnisse zu machen, um eine Revolution zu verhindern: »Respekt für alles Lebendige; Freiheit für alle Regierungen, über das Wohlergehen ihres eigenen Volkes zu wachen; eine Allianz aller Regierungen gegen die Aufrührer in sämtlichen Ländern; Misstrauen gegenüber Worten, die ihres Sinnes entleert [der Ruf nach »Verfassungen«] und zu Parolen der Aufrührer geworden sind«. Uneingeschränkte Herrschaft hieß für Metternich nicht Despotismus, ein Regieren unter den wechselnden Launen eines einzigen Mannes, im Gegenteil, Monarchen hätten mittels eines Rahmenwerks aus Gesetzen und rechtlich verankerten Institutionen zu regieren: »Das Erste und Wichtigste … ist die Unverrückbarkeit der Gesetze, ihr ununterbrochenes Funktionieren und ihre Unveränderlichkeit. Mögen Regierungen so regieren, mögen sie die elementaren Grundlagen ihrer Körperschaften, alten wie neuen, bewahren; da es immer gefährlich ist, an ihnen zu rütteln, kann es jetzt, in der allgemeinen Unruhe dieser Tage, nicht nützlich sein.«7 Die Herrschaft der Habsburger war im Grunde nicht sonderlich restriktiv – zumindest nicht im Vergleich zu heutigen Diktaturen. Ihre Bürokratie war zumeist leistungsfähig und nicht korrupt. Zudem (und trotz seines Rates an den Zaren) nutzte Metternich seinen beträchtlichen diplomatischen Einfluss, um weniger aufgeklärte absolute Regenten, deren Unnachgiebigkeit einen gewaltsamen Widerstand heraufzubeschwören drohte, zu sanften Reformen zu bewegen. So versprach er 1821 König Ferdinand I. von Neapel militärische Unterstützung gegen seine aufrührerischen Untertanen, vorausgesetzt er mache einige kleinere Zugeständnisse. Trotz all ihres Redens von der Herr-
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schaft des Gesetzes und den Segnungen der Monarchie fürchteten Metternich und andere Konservative, dass die Unversehrtheit des Reichs gefährdet sei, sollten unter den verschiedenen Völkern der habsburgischen Monarchie konstitutionelle oder revolutionäre Bewegungen aufkommen. In der Theorie wurde das Reich zusammengehalten von der Loyalität der Untertanen gegenüber dem Herrscherhaus, den öffentlichen Institutionen der Monarchie (einschließlich Regierung und kaiserlichem Heer), und – auch wenn es religiöse Minderheiten wie Juden und Protestanten gab – dem Katholizismus der meisten österreichischen Untertanen. 1815 wiesen wohl nur die Deutschen, die Ungarn, die Polen und die Italiener ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein auf. Insbesondere die ersten drei dominierten zudem politisch wie sozial die übrigen nationalen Gruppierungen. In Ungarn herrschte der magyarische Adel über die Bauernschaft, die im Norden aus Slowaken, im Osten aus siebenbürgischen Rumänen und im Süden aus Serben oder Kroaten bestand. In Galizien neigten die polnischen Grundherren dazu, die ukrainischen Bauern wie Lasttiere zu knechten. Und die Tschechen mit ihrem hohen Bildungsstand und dem (1848) fortschrittlichsten Industriewesen des Habsburgerreichs fingen an, die deutsche Vormachtstellung in Böhmen infrage zu stellen. Eines der gärenden Ärgernisse unter den Nichtdeutschen war die – nicht zuletzt durch ihre Konzentration in Wien hervorgerufene – Zusammensetzung des Staatsapparats aus deutschen Beamten, deren Sprache normalerweise das offizielle Medium in den Bereichen Justiz, Bildung und Verwaltung war. Ein starkes Bewusstsein für nationale Identität gab es vor allem in der adeligen Oberschicht und der städtischen Bürgerschaft, deren Angehörige am meisten darüber enttäuscht waren, dass sie in der Bürokratie, der Justiz und im höheren Bildungswesen keine Möglichkeiten hatten, wenn sie nicht Deutsch sprachen. Bisher war dies noch nicht bis zu der Masse der Bauern durchgedrungen, von denen viele den Kaiser als ihren Beschützer vor der Ausbeutung durch die Grundherren ansahen. Doch die Tatsache, dass die sozialen Unterschiede mit der ethnischen Herkunft korrelierten, sollte die häufig blutigen Konflikte zwischen den Nationalitäten Mitteleuropas verschärfen. Die Verstimmung der Ungarn angesichts der vermeintlichen deutschen Vorherrschaft und den anmaßenden habsburgischen Machthabern war für das Reich potenziell sehr gefährlich. Denn anders als die übrigen Nationalitäten besaßen sie ein verfassungsrechtliches Organ: einen Landtag bzw. ein Parlament, in das die Magnaten, der Klerus und die Bürger der freien königlichen Städte Abgeordnete entsandten. Folglich bestand die »ungarische Nation« –
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womit in zeitgemäßer Begrifflichkeit diejenigen gemeint sind, die im Parlament vertreten waren – nur aus einem kleinen Teil der Gesamtbevölkerung. Der Rest wurde juristisch als das misera plebs contribuens bezeichnet – als die armen steuerzahlenden Plebejer (Latein war zum Verdruss der patriotischen Ungarn noch immer die offizielle Sprache der ungarischen Politik und Verwaltung). Im Vergleich mit dem vorrevolutionären Frankreich, für das nur ein Prozent geschätzt wurde, machten die Magnaten mit etwa fünf Prozent einen recht ansehnlichen Teil der ungarischen Bevölkerung aus. Manche von ihnen waren allerdings so arm, dass sie als »Sandalen tragende Adelige« bezeichnet wurden, weil sie sich angeblich keine Stiefel leisten konnten. Da sich diese Männer nur durch ihre Privilegien und Titel von der übrigen, schwer arbeitenden Masse abhoben, wehrten sie sich oft am stärksten gegen jegliche Reform, die ihren Status gefährdete. Obwohl der habsburgische Kaiser, der auch den Titel eines Königs von Ungarn innehatte, den Landtag nach Belieben einberufen und auflösen konnte (Kaiser Franz weigerte sich zwischen 1812 und 1825 beleidigt, das lästige Parlament zu versammeln), war es schwer, Steuern zu erheben, ohne den Landtag einzubeziehen. Deshalb musste er 1825, 1832–36, 1839/40, 1843/44 und – auf äußerst dramatische Weise – 1847/48 einberufen werden. Doch auch wenn das Parlament nicht tagte, vertiefte der ungarische Adel seine Opposition zur habsburgischen Monarchie in den fünfundfünfzig Verwaltungsbezirken (Komitaten). Dort wählte und bezahlte er die kommunalen Beamten, dort beanspruchte er in den jährlichen Zusammenkünften immer wieder das Recht, die kaiserliche Gesetzgebung zu missachten.8 1815 gerieten die Italiener der Lombardei und Venetiens unter die Herrschaft der Habsburger. Auch sie besaßen ein institutionelles Ventil und zwar in Form von Versammlungen, die sich aus Vertretern der ansässigen Landbesitzer und der Städte rekrutierten, sowie der vereinigten »Zentralkongregation«, in der die Delegationen beider Provinzen zusammenkamen. Diese Versammlungen hatten das Recht zu entscheiden, wie Gesetze umgesetzt wurden, die von der Regierung – vertreten durch den in Mailand residierenden Vizekönig – verabschiedet worden waren, konnten selbst aber keine Gesetze erlassen. Die Habsburger mussten vorsichtig agieren, denn Norditalien gehörte zu den Kronjuwelen: Die fruchtbaren, wasserreichen Ebenen der Lombardei waren ein bunter Teppich aus Weizen, gepflegten Weinstöcken und Maulbeerbäumen, an denen Seidenraupen ihre kostbaren Fäden spannen. Die Hauptstadt des Herzogtums und – zur Verärgerung der stolzen Venezier – der beiden vereinten Provinzen war Mailand, kulturell eine der dynamischsten Städte Europas, was
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es dem, im Vergleich zum übrigen habsburgischen Imperium, milderen Zensor zu verdanken hatte. Lombardo-Venetien zählte ein Sechstel der Bevölkerung der Monarchie, brachte aber fast ein Drittel des Steuereinkommens auf – eine Tatsache, die den italienischen Patrioten nicht entging. Die Österreicher bemühten sich sehr um eine gute und gerechte Regierung in Norditalien, dennoch nahmen die unvermeidlichen Spannungen zu. Gebildete Lombarden und Venezier murrten, weil die Österreicher etwa 36 000 Regierungsposten besetzten und damit die Italiener um den Genuss ihres gerechten Anteils an staatlicher Patronage brachten.9 Außerhalb Ungarns und Lombardo-Venetiens existierten im habsburgischen Imperium keine repräsentativen Organe, die diesen Namen verdient hätten. Seit 1835 war der als geistig zurückgeblieben geltende Ferdinand I. Kaiser (in einem berühmt gewordenen Ausbruch schrie er seine Höflinge an: »Ich bin der Kaiser und will Knödel!«). Seine Untertanen, die ihn liebevoll »Gütinand der Fertige« nannten, waren ihm sehr zugetan, doch das notwendige Übel des Regierens wurde einem Rat (bzw. einer Staatskonferenz) überlassen, in dem Metternich das Sagen hatte. Dessen politische Vision erlaubte keinerlei rechtmäßige Opposition, und die Verweigerung einer verfassungsrechtlichen Regierung brachte fast unweigerlich Repressalien mit sich. So gab es eine Geheimpolizei, die aus Büros in der Wiener Herrengasse heraus agierte. Doch sie bestand aus nur wenigen Beamten – etwa fünfundzwanzig, darunter fünf Zensoren –, weshalb man sich in der Hauptstadt des Kaiserreichs auf die reguläre Polizei stützte (die darüber hinaus eine Fülle anderer Aufgaben zu erfüllen hatte). In der Provinz hatten kleine Einheiten sowohl die Aufgaben der regulären wie der Geheimpolizei zu leisten. Besonders intensiv war die Kontrolle nicht, aber es muss auch gesagt werden, dass etwa die Arbeit von Setzern, Verlegern und Autoren mittels einer Fülle kleinlicher und lästiger Vorschriften behindert wurde.10 Da nur eine von vier Büchergattungen uneingeschränkt erlaubt war, förderte dies ein Klima, in dem eine Publikation als verboten galt, wenn sie nicht ausdrücklich genehmigt wurde.11 Besonders heftig war die Unterdrückung in Russland, dem zweiten bedeutenden absolutistischen Regime in Europa. Dachte Metternich Österreich die Rolle des mitteleuropäischen Polizisten zu, so verstand sich Zar Nikolaus I. als Gendarm des gesamten Kontinents. Das russische Reich befand sich seit dem Tod Alexanders I. 1825 in seinem eisernen despotischen Griff. Nikolaus hatte mit der »Dritten Abteilung« die berüchtigte Geheimpolizei ins Leben gerufen, eine Organisation mit nur wenigen Beamten, die aber mithilfe der Gendarme-
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rie und einer größeren Anzahl von Informanten arbeitete, die wiederum bis zu fünftausend Denunziationen im Jahr tätigten. Allein schon die Existenz von Polizeispitzeln schuf eine Atmosphäre, in der man einer mutigen Seele bedurfte, wollte man offen Widerspruch ausdrücken. Die Legende besagt, dass es in einem Büro im Sankt Petersburger Hauptquartier der Dritten Abteilung eine Falltür gab: Wenn in einer scheinbar harmlosen Unterhaltung eine völlig unschuldige Person sich auch nur im Geringsten verdächtig machte, wurde daraufhin ein Hebel betätigt und das Opfer in ein darunterliegendes Verlies geworfen, wo es unaussprechlicher Gräuel ausgesetzt war. So der Mythos, doch schon die reale Unterdrückung war schlimm genug für jene, die es wagten, ihre Gedanken zu laut zu äußern. 1836 traf den liberalen Intellektuellen Peter Tschaadajev, der Russland für seine Rückständigkeit anprangerte, ein Schicksal, das später sowjetische Dissidenten des 20. Jahrhunderts mit ihm teilen sollten: Die Regierung erklärte ihn für unzurechnungsfähig und wies ihn in eine Anstalt ein.12 Selbst (oder angesichts seines Jähzorns vielleicht ganz besonders) der große Dichter Puschkin musste auf der Hut sein; er wurde toleriert, weil der Zar seine Werke mochte, aber auch ihm wurde gelegentlich auf die Finger geklopft. Intellektuelle und Autoren zeigten ihre Manuskripte aus Vorsicht zuerst Freunden, bevor sie sie ihrem Verleger gaben. Das zaristische Regime befürchtete nicht nur Widerspruch russischer Intellektueller, es hatte – weit stärker gerechtfertigt – Angst vor einem möglichen Aufstand der Bauern. Zwanzig Millionen von ihnen waren Leibeigene, die sich in der Vergangenheit schon mit erschreckender Rachlust erhoben hatten, zuletzt unter dem abtrünnigen Donkosaken Jemeljan Pugatschow in den frühen 1770er-Jahren. Darüber hinaus gab es Befürchtungen vor einer Opposition der unterdrückten Nationalitäten im Reich, allen voran der Polen, die ihre Unterjochung nur zwischen Anfällen von Aufsässigkeit ertrugen. Die dritte große absolute Monarchie in Europa, Preußen, wurde seit 1840 von König Friedrich Wilhelm IV. regiert, der nach seiner Thronbesteigung schnell die Hoffnung der Liberalen auf die Einführung einer Verfassung zunichtemachte. Sein Vater Friedrich Wilhelm III. hatte seinen erwartungsvollen Untertanen des Öfteren versprochen, die absolute Herrschaft abzuschaffen, doch das war während der napoleonischen Kriege, als er den Patriotismus seiner loyalen Preußen gegen die verhassten Franzosen wecken wollte. Eine Generation später erklärte Friedrich Wilhelm IV. einem enttäuschten liberalen Regierungsbeamten: »Ich fühle mich ganz und gar von Gottes Gnaden«, eine Verfassung, »ein Stück Papier«, würde die gesamte Idee des Königtums zu
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Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen. Gemälde von Franz Krüger um 1845. (akg-images)
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»einer Fiktion, einem abstrakten Begriff« werden lassen, stattdessen sei »ein väterliches Regiment […] deutscher Fürsten Art«.13 Zwar gab es in Preußen Provinziallandtage, aber die Zusammensetzung dieser Vertretungsorgane begünstigte vor allem Aristokratie und Großgrundbesitzer. Zudem war es ihnen nicht gestattet, untereinander Kontakt aufzunehmen, um schon die Idee, sich in einem nationalen Parlament zu vereinen, im Keim zu ersticken. Insbesondere den Liberalen, von denen viele jüngeren Jahrgangs waren, stieß dies bitter auf. Die Rheinprovinz mit ihrer fortschrittlichen Wirtschaft und vergleichsweise guten Erfahrung mit der napoleonischen Herrschaft war 1815 an Preußen abgetreten worden, um Deutschland gegen Frankreich zu stärken. Dadurch wurde Preußen zu einem Königreich der zwei Hälften – dem Osten, dominiert vom Adel mit seinen großen Gütern und Bauern, die bis 1807 Leibeigene waren, und dem Westen mit seiner leistungsfähigen Industrie und seinem aufstrebenden Bürgertum. Dort hatte man 1815 angesichts der drohenden preußischen Annexion des Rheinlandes die Nase ob dieser Einheirat in eine arme Verwandtschaft gerümpft, womit der agrarisch geprägte und vom Adel beherrschte Osten gemeint war – so überrascht es wohl nicht, dass die liberale Führungsschicht der preußischen Revolution von 1848 dem Rheinland entstammte. Neben seinem hervorragenden Heer war es vor allem sein industrieller und landwirtschaftlicher Reichtum, der Preußen zu einer der größten Mächte nicht nur Deutschlands, sondern Europas machte. Mit der Wiener Friedensordnung von 1815 waren Mittel- und Osteuropa unter die Oberhoheit dieser drei absoluten Monarchien gezwungen worden. Seit 1795 war das alte Königreich Polen (mit Ausnahme des napoleonischen Intermezzos eines Herzogtums Warschau, das 1807 errichtet wurde) von den Landkarten getilgt und zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt – auf dem Friedenskongress wurde dies bestätigt. Die drei »östlichen Monarchien« bemühten sich in der Folge, den polnischen Nationalismus unter ihrem vereinigten Gewicht zu ersticken. Ebenso entschlossen waren sie, Deutschlands Nationalismus in Pandoras Büchse verborgen zu halten. Österreich teilte sich mit Preußen die Vormachtstellung in Deutschland, das jetzt – nach der Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und einer drastischen territorialen Neuordnung unter Napoleon – in neununddreißig Staaten (darunter Österreich und Preußen) geteilt und in einem Staatenverbund, dem Deutschen Bund, locker vereint war. Dessen repräsentatives Organ, die Bundesversammlung, trat in Frankfurt zusammen. Es war jedoch kein Parlament mit gewählten Volksvertretern, sondern ein
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Kongress von Diplomaten, die von den einzelnen Staaten entsandt wurden – eine Art »Vereinte Nationen« Deutschlands. Sinn und Zweck des Deutschen Bundes war nicht etwa die Ermutigung Deutschlands zu einer engeren Einheit, ganz im Gegenteil: Er sollte die konservative Ordnung bewahren und für die friedliche Lösung von Konflikten zwischen den Staaten sorgen, um den kleineren »Mittelstaaten« das beruhigende Gefühl zu geben, vor der Herrschsucht Preußens und Österreichs geschützt zu sein. Darüber hinaus war er ermächtigt, die verschiedenen deutschen Regierungen zum Entsenden von Soldaten aufzufordern, um Deutschland vor einem Einmarsch fremder Truppen, aber auch gegen inländische revolutionäre Bedrohungen zu verteidigen. 1819 erließ er die repressiven Karlsbader Beschlüsse gegen die radikalen und liberalen Bewegungen in Deutschland und vor allem gegen die national gesinnten studentischen Organisationen, die Burschenschaften. Diese Maßnahmen wurden 1830 als Reaktion auf eine Welle revolutionärer Bewegungen und Proteste, die über Europa hinwegrollte, wiederbelebt. Hinter den Erlassen stand Metternich, der misstrauisch mitansah, wie der Konstitutionalismus unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen anfing, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. In den süddeutschen Staaten Baden, Württemberg, Bayern, Nassau und Hessen-Darmstadt waren Verfassungen erlassen worden. Ein Vorgang, der allerdings mit der Schaffung des Deutschen Bundes in Einklang stand, erklärte doch die Bundesakte, dass alle deutschen Staaten »eine landständische Verfassung« erhalten sollten. Dabei handelte es sich allerdings um eine bewusst mehrdeutige Formulierung, da damit entweder eine moderne parlamentarische Monarchie gemeint sein konnte (so interpretierten es die süddeutschen Staaten) oder eine eher konservative Form von traditionellen »Landtagen«, in denen die Adeligen, der Klerus und die vermögenden Bürger der Städte gesondert vertreten waren, was im Grunde die Dominanz der konservativen Interessen in den Landtagen garantierte. Metternich hatte seinen Einfluss auf König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und anschließend auf den Deutschen Bund geltend gemacht, um erstens dafür zu sorgen, dass Preußen sich nicht in den Verfassungstanz einreihte, und zweitens, dass die »Wiener Schlussakte«, die Verfassung des Deutschen Bundes, von 1820 den Begriff »Verfassung« in Metternichs Sinn interpretierte, was eher auf Landtage als auf Parlamente hinauslief – und selbst dann noch wurden ihre Rechte zugunsten des »monarchischen Prinzips« eingeschränkt, so dass das Staatsoberhaupt immer in den Genuss der größten Machtfülle kam.14 Die stärkste gegenrevolutionäre und antiliberale Strategie verfolgte Metternich aber in Italien. Bekanntlich verhöhnte er die Forderungen der italieni-
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schen Nationalisten nach staatlicher Einheit mit der Bemerkung, Italien, das in zehn Königreiche, Herzogtümer und Kleinstaaten zersplittert war, sei nichts weiter als »ein geografischer Begriff«.15 Österreichs Rolle war seiner Meinung nach, es in diesem Zustand zu halten. Der Wiener Kongress hatte aufgrund der Annexion der Lombardei und Venetiens im Norden nicht nur für eine starke unmittelbare Präsenz Österreichs in Italien gesorgt, er hatte die italienischen Angelegenheiten auch dahin gehend geregelt, dass Österreich auf der gesamten Halbinsel die tonangebende Macht war. Nach den Erfahrungen der langen napoleonischen Besetzung sollte, so die anfängliche Absicht, der französische Einfluss abgewehrt werden. Doch schon bald entwickelte sich dieses Vorhaben zu einer Unterdrückung des italienischen Liberalismus und Nationalismus. Die Toskana wurde von einem Großherzog der Habsburger regiert, in den Herzogtümern Parma und Modena standen ebenfalls Verwandte des Kaisers an der Spitze. Zusätzlich zu den dynastischen Banden erhielten die Österreicher das Recht, die im Kirchenstaat gelegene Festung von Ferrara besetzt zu halten. Der bourbonische König der »beiden Sizilien« (Süditalien und die gleichnamige Insel, die seit 1816 ihres eigenständigen Parlaments beraubt und direkt von Neapel aus regiert wurde) unterzeichnete einen Allianzvertrag und ein Militärabkommen mit Österreich, das das Königreich straff an die habsburgische Politik band. Nur das nordwestliche Königreich Sardinien (das die Insel gleichen Namens und auf dem Festland Piemont und Genua umfasste) blieb völlig unabhängig: Militärisch war es der mächtigste italienische Staat und bildete einen kräftigen Puffer zwischen Frankreich und den Österreichern in der Lombardei. Dennoch reichte Österreichs Macht in Italien aus, um 1820/21 militärisch gegen liberale Erhebungen in Neapel und sogar in Piemont vorzugehen. In der Folge stellte es neunzig führende lombardische Liberale vor Gericht (obwohl sie mit den Aufständen wenig zu tun hatten) und verurteilte vierzig von ihnen dazu, in der finsteren böhmischen Festung Spielberg zu vermodern. Unter ihnen befand sich Silvio Pellico, der nach seiner Freilassung Le mie prigioni (Meine Gefängnisse) verfasste, Zeugnis sowohl der österreichischen Unterdrückung wie auch der Kraft des Glaubens in der Not. Das Buch wurde zum Bestseller und hatte Anteil an der »schwarzen Legende« von Österreichs Tyrannei in Italien. Als Metternich 1831/32 Truppen in den Süden schickte, die die Aufstände in Modena, Parma und im Kirchenstaat (wo die Österreicher die Dreistigkeit besaßen, bis 1838 an Bologna festzuhalten) niederschlagen sollten, bekräftigte er nur das düstere Bild germanischer Zwangsherrschaft.
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Die österreichische Macht- und Einflusssphäre breitete sich von Deutschland bis in den italienischen Stiefelabsatz und nach Osteuropa aus. Es handelte sich, wie Graf Anton von Kolowrat-Liebsteinsky abfällig sagte, um einen »Wald von Bajonetten«. Kolowrat war kein Liberaler, aber er war Metternichs großer Gegenspieler in der Staatskonferenz. Er stimmte dem Kanzler zu, dass »man Konservatismus anzustreben hat und alles tun muß, dahin zu gelangen. Aber über die Mittel sind wir entschieden anderer Meinung. Ihre Mittel sind ein Wald von Bajonetten und ein starres Festhalten an den Dingen, wie sie sind. Dadurch spielen wir, meiner Meinung nach, den Revolutionären in die Hände.«16 Metternichs rigide Form des Konservatismus, stellte er besorgt fest, würde einzig und allein einen solchen Druck erzeugen, dass »ihre Mittel […] zu unserem Untergang« führen. Der britische Staatsmann Lord Palmerston kritisierte freiheraus Österreichs »repressive und erstickende Politik«, weil sie »ebenso sicher zur Explosion führen [wird] wie ein zugesperrtes Druckventil bei einem hermetisch verschlossenen Dampfkessel«.17 Auch Kolowrat war tief beunruhigt über die finanziellen Kosten, die der Erhalt von Österreichs Machtstellung in Europa auf dem bisherigen Niveau verursachte: Zwischen 1815 und 1848 entfielen etwa 40 Prozent des Regierungsetats auf das Heer, und allein die Zinsen für die Staatsschulden verschlangen weitere 30 Prozent. Eine der größten Schwächen des Metternich’schen »Systems« sollte, wie sich 1848 herausstellte, darin bestehen, dass nur wenig Geld in den Truhen verblieben war, um mit dem schlimmsten wirtschaftlichen Abschwung des 19. Jahrhunderts fertig zu werden. Und so konnte kaum etwas getan werden, um die Not der Menschen zu lindern.
II Die politischen Restriktionen, die Europa aufoktroyiert waren, mussten unweigerlich zum Widerstand führen. So wie Metternich und seinesgleichen das Gewicht der jüngsten Geschichte bei ihren politischen Erwägungen zu spüren bekamen, stellte sich ebendiese Geschichte auch als Inspirationsquelle für ihre Gegner heraus. Die Französische Revolution von 1789 und ihr napoleonisches Nachspiel hatten die Konservativen in Angst versetzt. Gleichzeitig konnte die Erinnerung daran – um im Stil der damaligen Romantik zu reden – das Blut der Liberalen, Radikalen und Patrioten in Wallung bringen, die sich in der erstickenden Atmosphäre des Metternich’schen Europa eingeengt fühlten. Die erste
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Nachkriegsgeneration europäischer Liberaler hatte sich persönlich in den Kämpfen der revolutionären Ära engagiert. Mit dem 1815 erzielten Sieg der Allianz hatten sie entweder verloren, weil sie Napoleons Herrschaft – und seine oft genug leeren Versprechungen von Freiheit – unterstützt oder weil sie als Gegner der Franzosen vergeblich gehofft hatten, aus den Ruinen der alten europäischen Ordnung würde ein neues, ein konstitutionelles System erstehen. 1820/21 kam es zu erfolglosen revolutionären Erhebungen in Italien, die in Neapel von liberalen Armeeoffizieren (unter ihnen Guglielmo Pepe, vormals napoleonischer Offizier, der 1848 eine zentrale Rolle spielen sollte) getragen wurden, sowie Mitgliedern der Carbonari, eines revolutionären Geheimbundes, der die Zerschlagung der österreichischen Vormachtstellung sowie die Errichtung einer liberalen Ordnung in Italien anstrebte. Das französische Pendant, die Charbonnerie, erstarkte nicht zuletzt dank des brodelnden Unmuts ehemaliger Staatsdiener des napoleonischen Imperiums, die während der royalistischen Reaktion – dem gewaltsamen »Weißen Terror« von 1815, so genannt, um ihn von dem »Roten« Terror der Jakobiner 1793/94 zu unterscheiden – entlassen worden waren. Zu denen, die sich dem im Untergrund agierenden Widerstand anschlossen, gehörte der noch minderjährige Louis-Auguste Blanqui, dessen Familie schwere Zeiten erlebt hatte, nachdem sein Vater, unter Napoleon Präfekt der Alpes-Maritimes, mit der im Friedensvertrag von 1815 festgelegten Rückgabe des Gebiets (besser bekannt als Nizza) an Piemont entlassen worden war. Es war der Anfang eines Lebens voller revolutionärer Aktivitäten, die bis zu Blanquis Tod 1881 anhalten sollten. In Spanien sehnten sich die Spanier nach der Verfassung von 1812, geschaffen in Cádiz von einem Parlament, das nur unweit von den feindlichen Kanonen der belagernden französischen Armee tagte. Doch als König Ferdinand VII. 1814 im Triumph zurückkehrte, fegte er die Verfassung vom Tisch und schickte viele der Liberalen ins Exil. 1820 dann kam ihre Rache, sie rissen die Macht an sich und zwangen Ferdinand drei Jahre lang, als konstitutioneller Monarch zu regieren, bis sie im Gegenzug von französischen Truppen überwältigt wurden (den »100 000 Söhnen des heiligen Ludwig«), die Ludwig XVIII. über die Pyrenäen geschickt hatte, um die absolute Monarchie seines bourbonischen Gefährten wiederherzustellen. Selbst das autokratische Russland konnte sich dem explosiven Erbe der napoleonischen Ära nicht ganz entziehen. Russische Armeeoffiziere, die während des Kriegs durch Europa marschiert waren, um letztlich Paris zu besetzen,
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hatten ihre französischen, deutschen und britischen Kollegen kennengelernt. Im Verlauf der gepflegten und gebildeten Unterhaltungen mit diesen Offiziersgenossen hatten sie angefangen, sich über die Rückständigkeit ihres eigenen Landes Gedanken zu machen, während sie zugleich die westlichen Ideen von konstitutioneller Regierung und Bürgerrechten in sich aufsogen. Die keimende Saat trug ihre bittere Frucht in der ersten russischen Revolution, dem Dekabristenaufstand (auch Dezembristenaufstand genannt) des Jahres 1825. In jenem Monat, dem die Erhebung ihren Namen verdankt, nutzten liberale Armeeoffiziere die Verwirrung, die der plötzliche Tod des Zaren Alexander I. ausgelöst hatte, und erhoben die Fahne der Rebellion gegen seinen Nachfolger Nikolaus I. Der Aufstand wurde zuerst in Sankt Petersburg, danach in der Ukraine mühelos von loyalen Truppen niedergeschlagen, doch ebendiese Erfahrung im Augenblick seiner Thronbesteigung lenkte den neuen Zaren für den Rest seiner Regentschaft auf einen reaktionären Kurs – wobei gelegentlich die Hoffnung auf eine Reformierung der Leibeigenschaft aufglimmte. Einige Jahre später dann kam es zur größten Revolutionswelle. 1830 wurde der Bourbone Karl X. während eines dreitägigen Aufstands in den Straßen von Paris gestürzt und durch den liberaler gesinnten Louis-Philippe ersetzt. Dem folgte eine Revolution in Belgien auf dem Fuß, wo Liberale die (1815 aufoktroyierte) Herrschaft der (nördlichen) Niederlande zu Fall brachten, um endlich einen unabhängigen Staat mit einer konstitutionellen Monarchie zu schaffen. In Deutschland regte das französische Beispiel liberale Gegner der althergebrachten Ordnung dazu an, von ihren Regenten Verfassungen zu verlangen – oder zu erzwingen –, so dass Hannover, Sachsen und noch ein paar andere Länder sich der noch immer kleinen Gruppe deutscher Staaten anschlossen, die Vertretungsorgane ihr Eigen nannten. Die Opposition drang auf mehr und entfesselte eine Protestbewegung, die 1832 ihren Höhepunkt in der größten Massenversammlung fand, die es in Deutschland vor 1848 gab: dem Hambacher Fest. Hier wurden politische Reformen und die Einheit Deutschlands eingefordert, und diese Demonstration demokratischen Muskelspiels sollte Metternich zur Verschärfung der Karlsbader Beschlüsse veranlassen. Am dramatischsten verlief der Widerstand gegen die konservative Ordnung in Polen, wo im November 1830 der patriotischen polnischen Aristokratie der Geduldsfaden riss, als der Zar in Antwort auf die Revolutionen in Westeuropa die Mobilmachung des polnischen Heeres anordnete. Der Novemberaufstand dauerte zehn Monate und wurde – nach blutigen und erbitterten Kämpfen – von einem 120 000 Mann starken russischen Heer unter dem Oberbefehl von
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General Iwan Paskewitsch (der 1849 dabei helfen sollte, eine weitere Revolution zu unterdrücken) niedergeschlagen. In dem darauffolgenden Vergeltungsakt wurde die horrende Anzahl von 8000 Polen in Ketten nach Sibirien abgeführt. Auch in Italien gab es Revolten, doch diese wurden, meistens von österreichischen Truppen, unterdrückt. Die Revolutionen der 1830er-Jahre waren nirgends so ausgedehnt wie die von 1848; doch wurde durch sie der Metternich’sche Griff um die konservative europäische Ordnung gelockert. Als der österreichische Staatskanzler die ersten Nachrichten von der Revolution in Frankreich vernahm, brach er an seinem Schreibtisch zusammen und stöhnte: »Die Arbeit meines ganzen Lebens ist zerstört.«18 Seine Verzweiflung war übertrieben, denn das zögerliche Vorgehen der Julimonarchie, die sich sehr schnell auf einen konservativen Kurs einpendelte, trug viel dazu bei, seine schlimmsten Befürchtungen abzumildern. Doch noch ein anderer Riss in dem konservativen Gebäude bereitete ihm Sorgen: die griechische Unabhängigkeit. Nach einem brutalen Krieg voller Gräueltaten, der achteinhalb Jahre, von 1821 bis 1829, dauerte, erlangten die Griechen ihre Freiheit von der türkischen Vorherrschaft. Dennoch löste dies keine Krise in Metternichs internationalem System aus, da der endgültige griechische Sieg zuerst durch das militärische Eingreifen Russlands, Großbritanniens und Frankreichs, und schließlich im Londoner Protokoll von 1830 auch durch die diplomatische Anerkennung der Großmächte gesichert wurde. Das neue Königreich Griechenland wurde somit rasch unter den Schutzmantel der nachnapoleonischen Ordnung geholt. Revolution war für Metternich im Grunde eine französische Krankheit. Gegen Ende des Jahres 1822 hatte er dem Zaren geschrieben: »Nationalität, politische Grenzen all das ist für die [revolutionären] Sektierer verschwunden. Zweifellos sitzt das Leitungskomitee der Radikalen aus ganz Europa heute in Paris.«19 Einmal mehr überschätzte Metternich den Fall, aber er illustriert auch den Gemeinplatz, dass wenn jemand paranoid ist, es nicht heißt, dass er sich alles einbildet, es also durchaus Verfolger geben kann. In den 1830er-Jahren bildeten sich neue im Untergrund agierende revolutionäre Netzwerke, die sehr effektiv und flexibel waren. Angetrieben wurden sie von einer Generation von Intellektuellen, Romantikern und Patrioten, die zu jung waren, um sich wirklich an die Französische Revolution zu erinnern, sich aber dem ruhmreichen Andenken ihres Freiheitsversprechens mit Leib und Seele hingaben. Für den französischen Historiker Jules Michelet, der 1798 geboren wurde und 1847 das Vorwort zu seiner monumentalen Geschichte der Französischen Revolution schrieb, wurde dieser große Augenblick der Geschichte vom ganzen Volk getra-
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gen – einer schicksalhaften Macht, die nicht aufzuhalten und deren Bestimmung es sei, die Heilsbotschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit über die ganze Erde zu verbreiten.20 Dem berauschenden Beispiel von 1789 folgend, glaubten Visionäre, Revolution sei das Mittel, eine freiere, gerechtere Welt zu schaffen, und so widmeten sie ihr ganzes Leben dem Zweck, diesen glorreichen Tag heraufzubeschwören. Es überrascht daher nicht, dass diese Epoche den »Berufsrevolutionär« hervorbrachte, der unermüdlich Pläne zum Umsturz der konservativen Ordnung schmiedete. Bei der Revolution von 1789 wurden die Menschen unerwartet – nicht selten aus einem düsteren, eintönigen Leben in der Provinz heraus – in den Strudel geschleudert, der Europa mehr als zwei Dekaden lang erschütterte. Während sie sich zufällig und oft recht widerwillig zu Revolutionären wandelten, versuchte die neue Generation bewusst und aktiv, eine Revolution zu provozieren. Führend war der geistreiche, doch etwas weltfremd-idealistische Giuseppe Mazzini. Geboren 1805 in Genua und ab 1829 Mitglied der Carbonari, widmete er sein Leben nicht nur der Vertreibung der Österreicher aus Italien, sondern auch der Einigung des Landes in einer demokratischen Republik. Obwohl dieser italienische Patriot weit davon entfernt war, der Revolution von 1789 uneingeschränkte Bewunderung zu zollen, war er der Ansicht, dass die Franzosen die Rechte des Einzelnen verkündet und zugleich bewiesen hatten, dass große Revolutionen allen Widrigkeiten zum Trotz sogar an ganz unerwarteten Orten stattfinden konnten. Selbst fehlgeschlagene Aufstände, so Mazzini, hätten ihren Sinn, da »Ideen schnell reifen, wenn sie mit dem Blut von Märtyrern genährt werden« – und sie würden selbst dann gären, wenn die Aufständischen von Kanonen und Musketen niedergemäht werden.21 Die heutigen Revolutionäre, schrieb er 1839, »sind weniger für die Generation tätig, die um sie herum lebt, als für die zukünftige Generation; der Sieg der Ideen, die sie in die Welt werfen, kommt langsam, aber sicher und entschieden«.22 Mazzini war überzeugt, dass die nächste große Revolution allen unterdrückten Völkern in Europa die wahre Freiheit bringen würde. In seiner Vision teilte er den Italienern die führende Rolle zu – dieses Volk sei, sobald es sich von seinen österreichischen und fürstlichen Gebietern befreit hätte, prädestiniert, seine gewaltigen, aber bisher ungenutzten Energien und Ressourcen zum Wohle des gesamten Kontinents zu entfesseln: »In Italien muss der europäische Knoten gelöst werden. Italien gebührt das hohe Amt der Befreiung. Italien wird seine zivilisatorische Mission erfüllen«23. Mazzini träumte von einem Europa der Nationalitäten, die alle gleichermaßen frei waren und ihren eigenen Charakter
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aufwiesen. Allerdings benutzte er ab Mitte der 1830er-Jahre den Begriff »Nationalismus« als missbrauchten Begriff und erklärte, dass Kämpfe gegen fremde Unterdrücker für die nationale Freiheit zwar notwendig seien, doch der Patriotismus dürfte nie »der Brüderschaft der Völker« im Weg stehen, »die unser vorrangiges Ziel ist«.24 Mazzinis Ideen hatten großen Einfluss auf seine Landsleute. Seine Untergrundorganisation »Junges Italien«, die 1831 nach dem Scheitern der Carbonari-Bewegung während seines Exils in Marseille gegründet worden war, hatte wahrscheinlich (nach Metternichs Einschätzung 1846) in Italien selbst nicht mehr als tausend aktive Mitglieder, doch viele weitere Tausend boten moralische Unterstützung und lasen deren verbotene Schriften. Auch unter den italienischen Exilanten, darunter etwa fünftausend Abonnenten seiner Zeitschrift in Montevideo und Buenos Aires, genoss Mazzini uneingeschränkt Rückhalt. Einer von ihnen war ein Berufsrevolutionär, der 1833 aus Piemont ins Exil geflohen war und sich jetzt in Brasilien und Uruguay an Aufständen beteiligte: Giuseppe Garibaldi. Seine Heldentaten machten ihn in ganz Italien berühmt. Mazzini erwies sich als wahrhaft inspirierende Figur für Revolutionäre aller Nationalitäten. Alexander Herzen traf ihn bei verschiedenen Anlässen (in diesem Fall 1849): »Mazzini stand auf, sah mir mit seinem durchdringenden Blick offen ins Angesicht und streckte mir freundschaftlich beide Hände entgegen. Selbst in Italien findet man selten einen solchen bei allem Ernst und aller Strenge doch feinen und schönen Kopf von antiker Prägung. Zuweilen nahm sein Gesicht einen harten und finsteren Ausdruck an, aber es wurde sofort wieder weich und heiter. Eine ununterbrochene konzentrierte Gedankentätigkeit belebte seine wehmütigen Augen. Aus ihnen, sowie aus der gefalteten Stirn sprach ein Abgrund von Starrsinn und Hartnäckigkeit. Diese Züge trugen den Abdruck langjähriger schwerer Sorgen, schlafloser Nächte, furchtbarer Stürme, mächtiger Leidenschaften, oder richtiger, einer starken Leidenschaft; es lag etwas Phantastisches, ich möchte sagen etwas Asketisches in diesem Gesicht.«25 Mazzini sah sich durch seine Anziehungskraft als Theoretiker und Bote der Revolution in der Lage, Revolutionäre aller Länder in einer paneuropäischen Bewegung zu vereinen. Während seines Exils in Bern sammelte er 1834 eine kleine Gruppe von politischen Flüchtlingen aus Polen, Deutschland und Italien
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um sich, um eine Organisation mit dem Namen »Junges Europa« zu gründen, deren Ziel die Befreiung der unterdrückten Nationen und letztlich – auf dem Weg der Überzeugung – eine friedliche Beilegung der Konflikte unter den europäischen Nationen war. Diese herrliche Vision erwies sich traurigerweise als nicht umsetzbar, aber das »Junge Italien« und das »Junge Europa« regten eine Vielzahl von Nachahmungen in anderen Ländern an: Es gab ein »Junges« Irland, Polen und Deutschland sowie eine »Junge Schweiz«, und später sollte sich die Welt mit einem »Jungen Argentinien« und einer »Jungen Ukraine« rühmen. Insofern war Metternich nicht ganz verrückt, wenn er angesichts der Existenz eines revolutionären Netzwerks schlaflose Nächte hatte, es war nur so, dass dieses seine Befehle nicht aus Paris erhielt. Dagegen traf er ins Schwarze, wenn er den Italiener als gefährlichsten Mann Europas brandmarkte – und gewiss stimmen ihm so mancher besorgte Herrscher aus vollem Herzen zu. 1834 wurden Mazzini, Garibaldi und andere Mitglieder des »Jungen Italien« von einem piemontesischen Militärtribunal in Abwesenheit zum Tode verurteilt, während der Papst seine Polizei anwies, ein wachsames Auge auf die »ungeheuren Pläne dieses außergewöhnlichen Mannes« zu haben.26 Selbst in den belgischen und holländischen Regierungen brach manchen der Angstschweiß aus, als sie erfuhren, dass Mazzinis Propaganda in den Niederlanden die Runde machte, dennoch hatten sie als parlamentarisch regierte Staaten seinen Einfluss weit weniger zu fürchten. Bis zum Krisenjahr 1847 war Mazzini für die Mächtigen ein solches Schreckgespenst geworden, dass man ihn gleichzeitig auf Malta, in der Schweiz, in Deutschland und Italien gesehen haben will.27 Dennoch: Als er sich mit den ungeahnten Möglichkeiten von 1848 konfrontiert sah, erwies sich der große Visionär als durchaus in der Lage, sie mit politischem Pragmatismus beim Schopf zu packen. Die Revolutionäre waren nicht nur romantische Träumer, sie waren auch bereit, mit der Arbeit an der schönen neuen Welt große persönliche Risiken einzugehen. Viele von ihnen opferten zudem Behaglichkeit und finanzielle Sicherheit: so war Mazzini vollständig auf das Geld seiner Eltern angewiesen (die in der Hoffnung zahlten, dass er – eines Tages – eine »ordentliche« Stelle erhalten würde). In den gut zehn Jahren vor 1848, während seines Londoner Exils, lebte er genügsam; so irritierte er seine englischen Freunde und Gönner, weil er die Kosten für eine Droschke scheute und bespritzt mit dem Schlamm der schmutzigen Stadtstraßen bei gesellschaftlichen Anlässen erschien. Herzen ging es da besser, da er von seinem väterlichen Erbe lebte, doch sein Freund, der Anarchist Michail Bakunin, ein weiterer Abkömmling aus russischem Adel,
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hatte die Brücken zu seiner wohlhabenden Familie abgebrochen und die lästige Angewohnheit angenommen, seine neuen Bekannten um Kredit zu bitten. Wurde er in Südamerika nicht für seine Militärdienste entlohnt, verdiente sich Garibaldi, der von Nizzaer Seefahrern abstammte (Nizza gehörte damals zu Piemont), seinen Lebensunterhalt abwechselnd als Seemann, Rinderhändler in der argentinischen Pampa oder als Schiffsmakler.28 Diese Revolutionäre schufen nicht etwa die Bedingungen für die Revolution von 1848, auch waren sie nicht für die impulsgebenden ersten Ausbrüche der Gewalt in jenem Jahr verantwortlich – diese entstanden aus einem Zusammentreffen weiterer Faktoren. Aber sie waren bereit zu handeln, als der Augenblick gekommen war, und, noch wichtiger, sie konnten auf die Unterstützung von Organisationen bauen, die genügend Aktivisten mobilisieren konnten, als die Zeit für Aufstände reif war. Der organisierte revolutionäre Widerstand gegen das konservative System hätte nicht gedeihen können, wäre er nur das Werk von ein paar tausend fanatischen Einzelkämpfern gewesen, er wurzelte in der Enttäuschung einer breiteren Zivilgesellschaft. Die große Mehrheit der Europäer hatte nicht die Absicht, zu aktiven Revolutionären zu werden – in Wirklichkeit fürchteten sie die Gewalt und soziale Entwurzelung, die ein Aufstand mit sich bringen würde –, trotzdem trafen die Klagen und Ziele der Aktivisten bei der eher passiven Bevölkerung auf ein wohlwollendes Echo. Auf diese Weise geriet das reißerische Bild einer blutrünstigen revolutionären Bewegung, das die Konservativen zeichneten, um ihre Repressalien zu rechtfertigen, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Eine Gesetzgebung, ausgerichtet auf die eigentlichen Revolutionäre, hätten die meisten Menschen vielleicht akzeptiert, aber häufig griff sie – wie bei den Karlsbader Beschlüssen in Deutschland – auf breiterer Basis an: gegen Presse, Pädagogik, Interessenvertretungen der Arbeiter und kulturelle Vereinigungen. In vielen Ländern enttäuschten Zensur, politische oder kirchliche Einflussnahmen in Sachen Erziehung, Beschränkungen bei der Versammlungsfreiheit und der Bildung von Vereinen sowie der freien Meinungsäußerung viele gebildete, meinungsfreudige und ehrgeizige Leute, die das aufrichtige Bedürfnis empfanden, sich konstruktiv an Staat und Gesellschaft zu beteiligen. Hinzu kam, dass gesellschaftliche Gruppierungen wie Fabrikanten, Handwerker, Akademiker – etwa Juristen und Professoren – sowie rangniedrigere Beamte der Meinung waren, dass sie einerseits Funktionen innehatten, die dem Staat nützlich waren, dieser andererseits aber nicht darauf eingestellt war, ihre Interessen zu schützen oder zu fördern, weshalb sie das Gefühl hatten, kein Regierungssystem – egal ob kons-
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titutionell oder absolut – würde ihre Anliegen vertreten. Infolgedessen hatten breite Teile der Bevölkerung zumindest für die Argumente der Revolutionäre Verständnis und teilten deren Ziele, obwohl sie die Aussicht auf Revolution und soziale Unruhen verschreckte. Dieser Unzufriedenheit weiter Kreise mit der bestehenden Ordnung lag eine zunehmend sich ausprägende öffentliche Meinung zugrunde. Seit dem 18. Jahrhundert kamen neue Vorstellungen von einer »Bürgergesellschaft« auf, die der Idee Vorschub leisteten, dass es einen kulturellen und sozialen Raum gebe – oder geben sollte –, der vom Staat unabhängig war und in dem sich einzelne Bürger bei allen Themen, von der Kunst bis zur Politik, in Gesprächen und Debatten einbringen und Kritik üben konnten. Die Bürgergesellschaft sollte der autonome Schiedsrichter in Sachen Kunstgeschmack und die gesetzmäßige Quelle für politische Meinungsbildung und politisches Urteilen sein. Dies setzte natürlich die Existenz eines gebildeten, kultivierten und politisch bewussten Bevölkerungsteils voraus, der diese Interessen auch vertreten konnte. Im 19. Jahrhundert gab es diesen tatsächlich überall in Europa, auch wenn er in Reichweite und Größe differierte. Unter den Großmächten war er wohl in Großbritannien und Frankreich, wo die Zensur milder (oder zu umgehen) und die Alphabetisierung höher war, am größten. 1848 konnten in Frankreich immerhin 60 Prozent der Bevölkerung lesen (knapp gefolgt vom Habsburger Kaiserreich, das sich ganzer 55 Prozent rühmte), während Russland bei nur 5 Prozent lag. In Preußen, wo es eine gut eingeführte Tradition staatlicher Schulbildung gab, konnten beeindruckende 80 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben.29 Die öffentliche Meinung drückte sich nicht nur in Druckerzeugnissen aus, sondern auch in Gesellschaften und Klubs, die ihre Mitglieder aus dem fortschrittlichen Bürgertum und Adel rekrutierten. Diese verhüllten ihre politischen Absichten oftmals mit harmloseren Aktivitäten, darunter wissenschaftliche Entdeckungen (besonders gern in Italien), Turnen (beliebt bei den immer gesunden Deutschen), Musik und Schießübungen (wobei Letzteres selbstverständlich für die Revolution zu gebrauchen war). »Das öffentliche Leben«, schrieb ein Beobachter, »tobte und wütete im Theater und im Konzertsaal, da es keinen anderen Ort hatte, um zu toben und zu wüten.«30 Alexander Herzen, der in Russland seit Langem an die Atmosphäre von Unterdrückung gewöhnt war, empfand sogar diese beschränkte Freiheit als erholsam. Kurz nach seiner Ankunft in Preußen besuchte er ein schmuddliges Theater und kehrte ganz erregt davon zurück, erregt nicht etwa wegen des Stücks, sondern »durch das
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Publikum, das zum größten Teil aus Arbeitern und jungen Leuten bestand. In den Zwischenpausen sprach alles laut und frei durcheinander.« Die Karikaturen vom Zaren, die in einer Buchhandlung angeboten wurden, begeisterten ihn derart, dass er »einen ganzen Vorrat davon« kaufte.31 Von 1839 an versammelte der jährlich stattfindende Kongress der italienischen Gelehrten Hunderte der gebildetsten Häupter aus dem ganzen Land, um die neuesten Entwicklungen in Technik, Medizin und Naturwissenschaften zu diskutieren. In dem ausgesprochen spannungsgeladenen Jahr 1847 fand er im Dogenpalast von Venedig statt. So oft wie nur möglich fiel der Name von Papst Pius IX., selbst Diskussionen über Landwirtschaft boten Gelegenheit, gegen die Österreicher loszuwettern, da die Norditaliener traditionell die österreichischen Soldaten als »Kartoffeln« bezeichneten.32 Als die Regierungen zu regeln versuchten, was und wie die Menschen lesen oder diskutieren durften oder nicht, konnte auch der Umstand, dass es Wege gab, diese staatlichen Restriktionen zu umgehen, den Unmut nicht beschwichtigen. Deutsche Liberale spotteten gern, auf dem für die Konservativen typischen Schild stehe: »Es ist gestattet, dieses Feld zu betreten«, was soviel hieß wie: Den Leuten war nichts erlaubt, was nicht ausdrücklich genehmigt wurde. Mit anderen Worten: Zwischen dem konservativen Staat und der Bürgergesellschaft tat sich eine Kluft auf. In den absoluten Monarchien war das vielleicht keine Überraschung, aber es traf auch auf das liberale Frankreich zu, weil die Julimonarchie die Erwartungen eines großen Teils der Bevölkerung nicht erfüllte. König Louis-Philippe I. konnte solide liberale Referenzen vorweisen: Als »Général Égalité«, wie er kurzzeitig genannt wurde, hatte er an den ersten Feldzügen des Koalitionskrieges von 1792 teilgenommen, bevor er Ende des Jahres – als Ludwig XVI. vor Gericht gestellt und schließlich zum Tode verurteilt – nach Belgien floh. Nachdem er 1830 dazu überredet worden war (allen voran durch seine starke und ihm sehr verbundene Schwester Adélaïde),33 den Thron zu besteigen, hielt Louis-Philippe zunächst an seinen liberalen Überzeugungen fest. Bei seiner Ankunft in Paris umarmte er auf dem Balkon des Hôtel de Ville, dem Sitz der Pariser Stadtverwaltung, symbolisch den betagten Lafayette, den Helden sowohl der Amerikanischen wie der Französischen Revolution. Eine Anbindung der Julimonarchie an das revolutionäre Erbe Frankreichs erfolgte zudem auch über die Wiedereinführung der Trikolore: Nie wieder sollte das weiße Banner der Bourbonen als Nationalflagge im Wind flattern. Es gab keine prächtige Krönung, nur eine einfache Zeremonie, in der der neue »Bürgerkönig«, gekleidet in die Uniform der Nationalgarde, den Eid auf die Charte von 1814
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leistete. Diese jedoch enthielt ein paar Änderungen, so etwa die leichte Ausweitung des Wahlrechts, die Aufhebung der königlichen Notstandsgesetze sowie die Tilgung von Formulierungen in der Präambel, die sich auf die von Gott gegebene Legitimation der Monarchie bezogen. Diese moderaten liberalen Reformen konnten jedoch die Kleinhandwerker, die 1830 am meisten an den Barrikaden gekämpft hatten, nicht zufriedenstellen. In ihren Augen war Louis-Philippes Dynastie, das Haus Orléans, nicht besser als die der Bourbonen, die gerade eben abgesetzt worden war. Während des Aufstands waren über das Knallen der Musketen hinweg die beiden Rufe »Lang lebe Napoleon!« – womit der kränkelnde Sohn des Kaisers, Napoleon II., gemeint war, der in Wien im goldenen Käfig seiner faktischen Gefangenschaft saß – und »Lang lebe die Republik!« zu hören. Mit Louis-Philippes Inthronisation erhielten die Kleinhandwerker sehr wenig als Entschädigung dafür, dass sie ihr Blut vergossen hatten, denn das neue System wollte die – ihrer Meinung nach – Extreme von Demokratie (was Erinnerungen an den kreischenden Pariser Pöbel der Revolution von 1789 weckte) und Absolutismus der Bourbonen vermeiden. Unter der Bevölkerung hatte sich das starke Gefühl breitgemacht, »ihre« Revolution sei ihr von selbstgefälligen reichen Landbesitzern, Industriellen und Finanziers »geraubt« (escamotée) worden. Es gab aber auch noch andere Untergruppierungen in der französischen Gesellschaft, die über ihren Ausschluss aus dem politischen Leben aufgebracht waren, zu ihnen zählten Berufstätige aus dem Bürgertum, Beamte, kleinere Grundbesitzer und Unternehmer, deren Väter und Großväter das Rückgrat der 1789er-Revolution gebildet hatten. Deren Opposition fand entweder Ausdruck im Republikanismus mit seinem wehmütigen Zurückschauen auf die demokratischen Tage der Ersten Republik der 1790er-Jahre oder im Bonapartismus mit seinem Wunsch, die Dynastie wieder einzusetzen, die ein Stück weit das Erbe der Revolution bewahrte und zugleich an die glorreichen Tage erinnerte, als Napoleon Europa im Sturm genommen hatte. Diese nationalistische Vision eines Frankreich, das die freiheitlichen Prinzipien von 1789 an die Welt weitergeben könnte, besaß eine breit gestreute Anziehungskraft. Die Gegner der Julimonarchie erduldeten die Demütigungen der Friedensverträge von 1815, die Frankreich (nach zwanzig Jahren Krieg) in die Grenzen von 1792 zurückverwiesen, nur widerwillig. Doch die Julimonarchie versuchte im Großen und Ganzen Abenteuer außerhalb ihrer Grenzen zu vermeiden; ja sie bemühte sich sehr darum, unheroisch und gemäßigt zu erscheinen. Zurückzuführen war dies auf den verständlichen Wunsch, im Ausland Frieden und zu Hause Stabilität zu haben,
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damit sich Frankreich erholen konnte. Die Regierung unternahm deshalb kaum etwas, um die Friedensordnung von 1815 rückgängig zu machen, doch stattdessen konnte sie das Land zum größten Wirtschaftswachstum seiner Geschichte anspornen. In den späten 1830er-Jahren wurde das Straßennetz verbessert und ausgebaut; 1842 startete die Regierung den Bau eines Eisenbahnnetzes und ließ etwa 1500 Kilometer Gleise verlegen, was wiederum neue Anforderungen an Schwerindustrien wie Kohle, Eisen, Stahl sowie den Maschinenbau stellte, die nun ihrerseits expandieren konnten. Manche Wirtschaftshistoriker sehen deshalb die 1840er-Jahre als die Periode des Take-off der französischen Industrialisierung.34 Karl Marx beschrieb die Julimonarchie vernichtend »als eine Aktienkompanie zur Exploitation des französischen Nationalreichtums«. Tatsächlich repräsentierte Louis-Philippes in persona die phlegmatische »bourgeoise« Art des Regimes. Normalerweise erschien er in bürgerlicher und nicht in königlicher Aufmachung in der Öffentlichkeit: mit einem einfachen Anzug, einem schwarzen Gehrock, in der Hand das Symbol bürgerlicher Ehrbarkeit schlechthin – einem Schirm. Genau das entsprach dem Bild der Sicherheit, das die Monarchie der Welt demonstrieren wollte; die Republikaner allerdings beeindruckte es nicht, sie schäumten vor Wut über die wenig unternehmenslustige Außenpolitik auf der einen und den Widerstand gegen eine breitere politische Teilhabe auf der anderen Seite. Republikanische Revolten 1832 in Paris und zwei Jahre später in Paris und Lyon wurden niedergeschlagen. Der Pariser Aufstand vom April 1834 – der Victor Hugo Inspiration für den Aufstand in Les misérables (Die Elenden) war – endete mit einem Massaker auf der Rue Transnonain, wo wütende Nationalgardisten einen Wohnblock von revolutionären Heckenschützen säuberten und dabei Zimmer für Zimmer wahllos zwölf Zivilisten abschlachteten, die dort Schutz gesucht hatten. Die Tötung von Zivilpersonen hinterließ einen unauslöschlichen Makel auf der Julimonarchie, doch die Regierung konnte auf die Unterstützung der wohlhabenden Wählerschaft zählen, die panische Angst vor einer weiteren Revolution hatte. Folglich fühlte sie sich stark genug, um republikanische Zeitungen zu belangen und Einschränkungen gegenüber politischen Gruppierungen und Arbeitervereinen zu verhängen. Zu den verbotenen Organisationen gehörte die paramilitärische »Société des Droits de l’Homme et du Citoyen«, die 1832 gegründet wurde und sich aus Arbeitern rekrutierte. Sie war in kleine revolutionäre Zellen, die sogenannten sections, aufgeteilt – ein Begriff, der an die alten Pariser Distrikte erinnerte, die Brutstätten für den allgemeinen Kampfgeist der 1789er-Revolution. Dies hier war keine Organisation, die sich mit friedlichem
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Überreden abgab, vielmehr bemühte sie sich, ihre aus dem Handwerk kommenden Mitglieder zu drillen und zu disziplinieren, um sie auf eine Revolte zur Errichtung einer demokratischen Republik vorzubereiten. Sie plante den Pariser Aufstand von 1834, und entsprechend hatte sie bei dessen Niederschlagung zu leiden: Nicht weniger als 1156 Festnahmen tätigte die Polizei während des ersten Gegenschlags, wobei 736 Gefangene innerhalb von fünf Monaten wieder freikamen.35 Die Republikaner reagierten mit einem Mehr an Gewalt, darunter 1835 ein entsetzliches Attentat auf den König, bei dem aus einem als »Höllenmaschine« titulierten, aus fünfundzwanzig Läufen bestehenden Gewehr rund 14 Menschen getötet wurden – nicht aber Louis-Philippe, der mit einem Bluterguss davonkam. Es war einer von insgesamt acht Anschlägen auf das Leben des Königs – eine Häufung, die die satirische Zeitschrift Charivari einmal zu dem Bonmot veranlasste, der König und seine Familie seien von einem Ausflug zurückgekommen, »ohne irgendwie ermordet worden zu sein«.36 Die Jahre 1834 und 1835 stellten den Beginn eines Teufelskreises aus Gewalt und Unterdrückung dar, in dessen Verlauf die Republikaner zunehmend verbittert auf die Regierung reagierten, während die Monarchie ihre ursprünglichen liberalen Prinzipien aufgab und noch repressiver wurde. Mit den Septembergesetzen von 1835 wurden Pressebeschränkungen eingeführt: Zeitungen konnten strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie ein anderes Regierungssystem propagierten oder den König beleidigten – was allerdings den dreisten Karikaturisten Honoré Daumier (der für seine Karikaturen bestraft wurde) nicht davon abhielt, Louis-Philippes Gesichtszüge samt Hängebacken in Birnenform zu zeichnen. Zudem wurde das Strafrecht geändert, um politische Verfahren zu erleichtern.37 Die liberale Monarchie hatte, obwohl der König selbst Bedenken hegte, einige der Prinzipien aufgegeben, die sie gerade von den Bourbonen unterschieden hatten. Diese Umwandlung scheint in der Parole verdichtet, die zugunsten der Septembergesetze ausgegeben wurde: »Die Legalität wird uns umbringen.«38 Gleichzeitig spalteten Gewalt und Repressionen die republikanische Opposition in das Lager der Gemäßigten, das mit legalen Methoden das Regime zu politischen Reformen bewegen wollte (diese Richtung nannte sich nach ihrer Zeitung Le National), und das der Radikalen, das die Monarchie durch eine Revolution zerstören wollte. Am äußersten Rand dieser militanten Richtung gründeten Louis-Auguste Blanqui und sein Freund Armand Barbès die aufständische »Société des Saisons«, Gesellschaft der Jahreszeiten, die ihren Namen aus ihrer Struktur ableitete. Um die Identität ihrer Mitglieder vor den neugieri-
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gen Augen der Polizei geheim zu halten, bestanden ihre Zellen aus sieben Revolutionären, jede war nach einem Wochentag benannt. Vier Wochen wurden zu einem Monat gebündelt, und drei Monate wurden zur größten Einheit von allen zusammengefasst – einer Jahreszeit. In dem Katechismus, den die Mitglieder unterschreiben mussten, wurde die Gesellschaft als vom »Wundbrand« befallen beschrieben, was »heroische Heilmittel« rechtfertige, »um einen gesunden Zustand zu erreichen«. Mit diesen war nicht nur eine Revolution, sondern auch eine Zeit »revolutionärer Kraft« gemeint – was so viel heißt wie: eine Form autoritärer Herrschaft bis die »Menschen« für eine Demokratie bereit und die alten Herrschaftseliten ausgelöscht seien. Es handelte sich um einen frühen, unheimlichen Vorläufer von Karl Marx’ und Friedrich Engels’ »Diktatur des Proletariats«. In der Tat begann Blanqui daraufhin zu insistieren, dass mit der Garantie auf das »Recht zu leben« für alle Bürger eine gewisse Umverteilung des Vermögens verbunden sei.39 Die »Saisons« stand innerhalb der republikanischen Bewegung extrem links und zeichnete im Mai 1839 verantwortlich für einen erfolglosen Aufstand, in dem Barbès eine blutende Kopfverletzung davontrug. Trotz des Fehlschlags – und der darauffolgenden Verhaftung – war Blanqui weiterhin davon überzeugt, dass Revolutionen aus einem Willensakt heraus entstehen können: Ein Aufstand allein würde ausreichen, um die Ausrottung der alten Ordnung einzuleiten und die Welt neu zu erschaffen. Doch der Rest der republikanischen Linken war sich da nicht so sicher: 1843 wurde La Réforme, die Zeitung des linken Flügels, ins Leben gerufen – mit dem Geld Alexandre Ledru-Rollins im Rücken, der reich genug war, um in die Deputiertenkammer gewählt zu werden, dessen Sympathien aber der Linken gehörten. Die Herausgeber und Beiträger der Zeitung sahen sich selbst als »Generalstab« der kommenden Revolution, doch ihre eigentliche Waffe war die Überzeugungsarbeit durch Propaganda. La Réforme trat nicht nur für Demokratie ein (wie die National), sondern für eine Sozialreform. 1845 prangerte sie das an, was sie »Kommunismus« nannte (während Blanqui und seine Gefolgsleute das Blatt als »aristokratisch« kritisierten), spielte aber eindeutig mit sozialistischem Gedankengut. In Italien, Deutschland und dem habsburgischen Kaiserreich ging der Liberalismus mit Nationalismus einher. Die Vorstellung von einer italienischen Vereinigung hatte sich unter der Auswirkung der Französischen Revolution von 1789 und der Erfahrung der napoleonischen Herrschaft entwickelt, unter der zuvor getrennte Staaten nun gemeinsam verwaltet wurden. Doch gab es nun zwei Strömungen: die der Gemäßigten, die das Überleben der Regenten innerhalb einer italienischen Konföderation garantieren wollte, und die der Republikaner wie
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Giuseppe Mazzini, die einen vereinten demokratischen Staat anstrebte. Andere wiederum, die an ihrer Heimatstadt oder -region hingen, konnten sich eine republikanische Revolution in ihrem eigenen Staat vorstellen, der, wie sie hofften, mit allen übrigen Staaten – egal ob Monarchien oder Republiken – in einer lockeren Föderation verbunden wäre. Zu den Befürwortern dieser Lösung gehörte der Mailänder Lehrer und Intellektuelle Carlo Cattaneo. Der führende Intellektuelle hinter der gemäßigten monarchistischen Vision war wohl Vincenzo Gioberti, der 1843 ein einflussreiches Buch mit dem Titel Del primato morale e civile degli italiani (»Über die moralische und zivile Vorherrschaft der Italiener«) veröffentlichte, von dem bis 1848 nicht weniger als 80 000 Exemplare verkauft wurden, was es für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts zum Bestseller machte. Allein schon der Titel musste unweigerlich ein Volk ansprechen, das sich auf die eine oder andere Art unter fremder Oberherrschaft duckte. Gioberti hatte als Modell für das Risorgimento – Italiens »Wiedergeburt« – nicht die Französische Revolution vor Augen, denn der französische Einfluss in Gestalt Napoleon Bonapartes hatte Italiens nationale Entwicklung unterbrochen, nicht befördert. Die Franzosen seien nicht das große Volk, für das viele sie hielten, denn (so argumentiert Gioberti vernichtend) »Frankreich ist nicht erfinderisch, nicht einmal auf der Ebene des Irrtums«. Italiens Vorherrschaft basiere nicht auf bedeutenden Ideen nationaler Einheit, sondern auf dem Papsttum, da Religion durch ihre Wesensart alles Menschliche beherrsche. Deshalb schlug Gioberti einen Bund der italienischen Staaten unter der politischen und moralischen Führung Roms vor: Dies würde Italien, der »kosmopolitischsten aller Nationen«, den ihr von Rechts wegen zustehenden Platz in der Welt verschaffen.40 Die unitarische republikanische Vision wurde natürlich von Mazzini in Worte gekleidet, und zwar in der Erklärung der Ziele des »Jungen Italien«: »Die Giovine Italia ist republikanisch und für die Einheit. Republikanisch – weil, der Theorie nach, alle Männer einer Nation, nach dem Gesetz Gottes und die Menschen berufen sind, frei, gleich und verbrüdert zu sein; und die republikanische Staatsform die einzige ist, welche diese Zukunft sichert, − weil die Herrschaft hauptsächlich in der Nation ruht, dem einzigen fortschreitenden und beständigen Dolmetscher des höchsten sittlichen Gesetzes […] Die Giovine Italia ist für die Einheit – weil, ohne Einheit, es keine wahre Nation – ohne Einheit keine Kraft giebt, und Italien, umgeben von geeinigten, mächtigen und eifersüchtigen Nationen, bedarf vor allem der Stärke.«41
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Doch auch der deutsche Nationalismus war in einen liberalen und einen radikalen Flügel gespalten, was sich 1832 auf dem Hambacher Fest deutlich zeigte. Dort verkündeten republikanische Redner unter wehenden schwarz-rot-goldenen Fahnen das Ziel einer vereinten demokratischen deutschen Republik. Die Liberalen entsetzte diese Vorstellung, denn wie ihre italienischen Pendants wollten sie die bestehenden deutschen Staaten zur Garantie von Verfassungen und zum Zusammenschluss in einem deutschen Bundesstaat überreden, was wiederum die individuellen und politischen Rechte gewährleisten sollte. Diese Vision wurde teilweise von dem aufrichtigen Glauben getragen, dass dies der beste Weg sei, Freiheit und Einheit miteinander in Einklang zu bringen, oder wie ein badischer Liberaler es mit einem Zungenbrecher formulierte: »Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit«.42 Nach Meinung der Liberalen würde die radikale Version einer geeinten Republik zu einer derart unsicheren Zukunft führen, dass konstitutionelle und individuelle Freiheiten auf dem Spiel stünden. Manche wollten deshalb einfach die von Preußen unterstützte Zollunion, den Zollverein (den es seit 1833 gab und der Österreich ausschloss), so entwickeln, dass er mehr sei als bloß ein gemeinsamer deutscher Markt. Die Kluft zwischen den Radikalen und Liberalen sollte sich sowohl in der italienischen als auch in der deutschen nationalistischen Bewegung als größte Schwäche erweisen. Im multiethnischen Habsburgerreich hatte Metternich ursprünglich die regionalen Eliten dazu angeregt, sich ins literarische Leben einzubringen, die Sprache ihres Volkes zu erforschen und ihre eigene Geschichte zu untersuchen, schien ihm dies doch eine harmlose Ablenkung von politischen Aktivitäten zu sein.43 Es stellte sich heraus, dass er mit dem Feuer spielte, denn genau dieses kulturelle Leben führte unter den Ungarn, Tschechen, Kroaten, Serben, Rumänen und anderen zur Entwicklung eines eigenen Nationalgefühls. Früher oder später sollte diesem Gefühl politischer Ausdruck verliehen werden und dadurch 1848 die Grundfesten des habsburgischen Reiches in Gefahr geraten. Schon vor der Katastrophe begann Metternich das zu verstehen. Besonders heftig fiel er deshalb über die ungarischen Liberalen her. Der aus dem Adel stammende Rechtsanwalt Lajos Kossuth, von 1832 bis 1836 Abgeordneter des ungarischen Landtags, hatte das Manuskript seiner »Berichte aus dem Landtag« herumgehen lassen, in dem er seine Gründe für radikale Reformen der ungarischen Gesellschaft im Besonderen wie der habsburgischen Monarchie im Allgemeinen darlegte. 1837 wurde er gefangen genommen und für drei Jahre inhaftiert. Davon unbeeindruckt veröffentlichte er ab 1841 seine eigene Zeitung, die Pesti
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Hírlap (Pester Zeitung), und entwickelte sich zu einem der temperamentvollen Wortführer der ungarischen Revolution. Um ein Gegengewicht zur ungarischen Opposition zu schaffen, ließ Metternich 1835 dem kroatischen Intellektuellen Ljudevit Gaj Unterstützung bei der Veröffentlichung seiner Zeitschrift Danica horvazka (Kroatischer Morgenstern) zukommen, die sich für die »illyrische Idee« oder ein vereintes Königreich der Südslawen (Serben, Kroaten und Slowenen) einsetzte. Doch 1842 war auch der südslawische Nationalismus schon zu einer Belastung Metternichs geworden, so dass er es sich anders überlegte und Gaj nicht weiter förderte. Liberalismus und Radikalismus mögen in jedem Land auf ein paar Tausend Intellektuelle, auf abtrünnige Angehörige des Adels und des Bürgertums beschränkt gewesen sein, doch der Widerstand gegen die Restauration wurde durch eines der drängendsten Probleme der Zeit verbreitet: die »soziale Frage«, womit das Problem der Armut und sozialen Verwerfungen gemeint ist, das die damaligen wirtschaftlichen Umwälzungen mit sich brachten. Die Massenarmut rührte größtenteils von dem anhaltenden Bevölkerungswachstum her, das Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen und seitdem unvermindert angehalten hatte. Letzten Endes sollte das Wirtschaftswachstum, stimuliert durch den industriellen Kapitalismus, die Bedrängnis mildern, indem ein breites Spektrum an Berufen geschaffen und der Lebensstandard gehoben wurde. Doch fast überall in Europa kamen diese Vorteile erst nach 1850, im Wesentlichen sogar erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum Tragen. Die Jahrzehnte vor 1848 erlebten den Beginn der Industrialisierung (definiert als Einsatz komplexer Technologien in Herstellungsprozessen, vor allem in Fabriken, was dauerhaftes Wirtschaftswachstum zur Folge hat). Die europäische Landschaft, durch die Alexander Herzen 1847 mit seiner Familie reiste, steckte noch in den Anfängen eines Wandels, der sich erst Jahrzehnte später beschleunigen sollte: Fabriken am Rand der Städte stießen Rauchwolken in den Himmel, die sich mit dem vertrauteren Rauch aus den Kaminen der bald schon überfüllten Arbeiterwohnhäuser mischten. Telegrafie war gerade im Entstehen, und Eisenbahnschienen mit Lokomotiven, die mit einer Geschwindigkeit fuhren, die den meisten bis dahin als undenkbar erschien, breiteten sich wie ein Spinnennetz immer weiter über Europa aus. Der Boom der Schwerindustrie, die den Eisenbahnbau und die Mechanisierung der Webereien (die im Westen die erste Phase der Industrialisierung durchliefen) beförderte, war besonders in bestimmten Gebieten ausgeprägt: namentlich in Großbritannien, in Belgien, in Teilen von Nord- und Südost-
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Die Not der schlesischen Weber, 1844: Ein Fabrikbesitzer lehnt die Waren der Weber ab. Gemälde von Carl Wilhelm Hübner 1844. (akg-images) frankreich, einigen Gegenden Deutschlands (vor allem im Rheinland und in Schlesien) sowie in tschechischen Enklaven des habsburgischen Kaiserreichs und um Wien. Kleinhandwerker, die früher als eine Art Kleinunternehmer existieren konnten, mussten feststellen, dass ihre Fähigkeiten und ihre Unabhängigkeit nicht nur durch die Einführung von Maschinen bedroht wurden, sondern auch durch neue Organisationsformen, in denen un- oder angelernte Arbeiter – darunter Frauen – die gleichen Produkte in größerer Zahl und zu niedrigeren Kosten herstellten, wenn auch, wie die angeschlagenen Handwerker argumentierten, in schlechterer Qualität. Die Verzweiflung trieb manche zum Aufstand. So erhoben sich im Juni 1844 die schlesischen Handweber, die im Konkurrenzkampf mit der britischen Textilindustrie und den zuvor errichteten polnischen Fabriken untergingen, gegen die Händler, die Profit aus dieser Situation schlugen, indem sie die Abnahmepreise für die handgewebten Waren so weit senkten, dass rund drei Viertel der 40 000 Weber nicht genug Geld verdiente, um ihre Familien zu ernähren. Fabriken und Lager wurden geplündert, verletzt wurde dabei niemand, bis das preußische Heer einschritt, um die
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Weber niederzuzwingen, und zehn von ihnen tötete.44 Kleinhandwerker, die sich mit der Aussicht konfrontiert sahen, gegen das Fabriksystem zu unterliegen, fanden jedoch wenig, was ihnen ein Leben im Dienst der Maschine schmackhaft gemacht hätte. Der Arbeitstag, der vormals sanfteren Rhythmen gefolgt war, wurde nun rücksichtslos von der Uhr diktiert. Die Einführung der Gasbeleuchtung mochte ein Segen im häuslichen Umfeld sein, für die europäischen Arbeiter bedeutete es aber, dass sie regulär vierzehn oder fünfzehn Stunden am Tag an der Maschine zubrachten, gab es doch keinen Grund mehr, Feierabend zu machen, wenn das Tageslicht schwand.45 Die Industrialisierung war indessen nicht so verbreitet, um ein Besitzbürgertum zu schaffen, das sein Vermögen hauptsächlich dem Großunternehmertum verdankte. Eine solche Bourgeoisie existierte natürlich, doch der europäische Mittelstand war eine bunt gemischte und alles andere als sozial einheitliche Bevölkerungsgruppe. Viele waren Grundbesitzer, die oft protzig den Lebensstil der Aristokratie imitierten. In Frankreich verschmolzen die reichsten Land besitzenden Bourgeois mit den älteren Adelsgeschlechtern und bildeten eine 15 000 Mann starke Kaste der superreichen notables, die das politische Leben unter der Julimonarchie dominierten. In Preußen gehörten über 40 Prozent des Grundeigentums Nichtadeligen. Unterhalb dieser großbürgerlichen Landbesitzer gab es eine Fülle von weniger vermögenden Eigentümern, Akademikern, Beamten und Geschäftsleuten sowie ein Kleinbürgertum aus Händlern und Handwerksmeistern. Größtes Problem für das Bürgertum war, dass viele eine sehr gute Bildung genossen hatten, aber nicht genug Stellen in akademischen Berufen und im öffentlichen Dienst vorhanden waren, um allen die Erwerbstätigkeit zu ermöglichen; das Bürgertum erfuhr somit den Druck, der von der Bevölkerungszahl ausging, in Form eines »Überschusses an gebildeten Männern«. Ein französischer Satiriker drückte es folgendermaßen aus: Es müsse eine Bevölkerungsexplosion gegeben haben, denn »es gab zwanzig Mal mehr Anwälte, als es Prozesse zu verlieren gab; mehr Maler, als es Bildnisse zu malen gab; mehr Soldaten, als es Siege zu erringen gab, und mehr Ärzte, als es Patienten zu töten gab«.46 Um einen Begriff aus der Soziologie zu verwenden: Der Zusammenbruch der Restauration, der konservativen Ordnung im Jahr 1848 war eine Krise der »Modernisierung« und zwar im Sinne einer Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft, diese aber waren noch nicht so weit umgewandelt, um den extremen Druck, der aus dem Bevölkerungswachstum resultierte, abzufedern und vor allem um auf die Verzweiflung der Kleinhandwerker und Kleinbauern ein-
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zugehen. In manchen ländlichen Gegenden Europas drohte die Übervölkerung zu einer Krise malthusianischen Ausmaßes* zu führen, denn dort lebte ein großer Teil der Menschen am Rande der Existenz und war im Falle von Missernten besonders anfällig für Hungersnöte. Da sich Unternehmer aus einem ständig anwachsenden Reservoir an Arbeitern aus ländlichen Gegenden bedienen konnten, die verzweifelt nach Arbeit suchten, mussten landlose Arbeiter erleben, wie ihre Löhne nach unten gedrückt wurden. Das Wachstum der Landbevölkerung führte etwa in Preußen dazu, dass zwischen den napoleonischen Kriegen und 1848 die Zahl der Landarbeiter ohne eigenen Grund und Boden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung fast doppelt so schnell anstieg. Selbst Bauern, die ein bisschen Land besaßen, hatten zu kämpfen, um ihren Lebensunterhalt zu erringen: Das Aufteilen ihrer Felder unter den Kindern brachte es mit sich, dass ihr Besitz immer weiter zerstückelt und damit immer unrentabler wurde, und zwar solange, bis ihnen nichts anderes übrigblieb, als die Parzellen an einen reichen Landbesitzer zu veräußern. Es gab Schätzungen, wonach 100 000 preußische Landbesitzer auf diese Weise verschwanden und sich den Massen grundbesitzloser Landarbeiter anschlossen.47 Auch das ländliche Frankreich kannte diesen Druck. Dort konnten um 1820 die landwirtschaftlichen Kapazitäten nicht länger mit dem Bevölkerungswachstum mithalten und die französischen Familien ernähren; Nahrungsmittelimporte wurden notwendig und Arbeiter und Bauern dadurch besonders den Auswirkungen von Preiserhöhungen ausgesetzt. Hinzu kam das Problem der geknechteten Bauernschaft in Mittel- und Osteuropa. Diese bestand entweder aus Leibeigenen (wie im russischen Reich und im österreichisch regierten Galizien) oder war verpflichtet, den Grundherren hohe Abgaben zu zahlen und gleichzeitig Frondienste (robot) auf ihrem Land zu leisten (so in Böhmen und Ungarn). Neben dem robot waren tschechische Kleinbauern auch mit der Zahlung von Geld und Naturalien belastet – dazu kamen die Steuern, die die Bauern dem Staat, und der Zehnte, den sie der Kirche geben mussten. Außerdem hatten Bauern unterwürfig zu sein: Bis 1848 mussten sie Staatsdiener mit »Euer Hochwohlgeboren« anreden, auch konnten *
Nach dem englischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766–1834) entwickeln sich in einem natürlichen Zyklus das exponentiell verlaufende Bevölkerungswachstum und das linear anwachsende Nahrungsmittelangebot auseinander, wodurch die Preise für Nahrungsmittel steigen und die Realeinkommen sinken, so dass es zu Verarmung und Verelendung weiter Kreise kommt. Die dadurch bedingte Bevölkerungsreduzierung führt wiederum zu einer Angleichung von Nahrungsmittelangebot und -nachfrage.
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Grundherren Bauern nach Belieben mit der Faust schlagen, wobei das Schlagen mit dem Stock der formellen Zustimmung der zuständigen Behörden bedurfte.48 Außerhalb des russischen Kaiserreichs mussten von allen Bauern Europas wohl die Ukrainer Galiziens die schlimmsten Bedingungen ertragen. Im Durchschnitt verbrachten sie mehr als ein Drittel des Jahres mit der Ableistung der robot auf den Besitzungen ihrer (überwiegend polnischen) Grundherren, doch sie mussten auch für die Regierung arbeiten, indem sie Straßen reparierten und ihre Zugtiere als Transportmittel einsetzten. Die Leibeigenschaft (denn um eine solche handelte es sich) wurde mit Gewalt erzwungen: Seit 1793 war es den Grundherren nicht mehr erlaubt, ihre Leibeigenen mit Prügeln zu schlagen. Doch das Verbot wurde fast immer ignoriert, sodass es mehrfach ausgesprochen werden musste, das letzte Mal 1841. Ein polnischer Demokrat, der mit ansehen musste, wie seine adeligen Landsleute ihre ukrainischen Untergebenen behandelten, schrieb entsetzt: »In den Augen des Magnaten war der Bauer kein Mensch, sondern ein Ochse, dessen Bestimmung es war, für seine Behaglichkeit zu arbeiten, und der notwendigerweise wie ein Tier angeschirrt und mit der Peitsche geschlagen werden musste.«49 Im Vergleich zu den Bauern waren Arbeiter sehr viel besser dran, doch auch sie hatten Anlass zur Sorge. Das Wachstum der Industrie war unbeständig und nicht vorhersehbar. Es kam zu Boom-Bust-Zyklen, in denen das Angebot die Nachfrage überstieg, was zu einem Einbruch der Preise und des Handels und infolgedessen zu Arbeitslosigkeit und Verzweiflung führte. Eine dieser Krisen trat vor den Revolutionen von 1830 auf, die schlimmste von ihnen schlug in den Jahren vor 1848 zu. Selbst außerhalb dieser Krisenzeiten waren die Bedingungen, unter denen die ärmsten Leute vegetierten, für die Beobachter schockierend. Ländliche Armut hieß für viele Bauern hungern – möglicherweise bis hin zum Tod – oder ihr Heil in den Städten und in der Auswanderung nach Nordamerika zu suchen (etwa 75 000 verließen Deutschland in der Krise des Jahres 1847)50. Keines von beidem war leicht: Während in den Fabriken im Vergleich zu dem, was Landarbeiter zusammenscharren konnten, bessere Löhne angeboten wurden, waren auch die Lebenshaltungskosten höher. Eine Schätzung geht davon aus, dass Essen und Trinken 60 bis 70 Prozent des Einkommens verschlangen, was wenig für Miete und Kleidung übrigließ.51 Tatsächlich ergaben Studien, die in den 1840er-Jahren von besorgten Philanthropen aus dem Bürgertum durchgeführt worden waren, dass deutschen Arbeitern nicht einmal halb so viel dessen zur Verfügung stand, was nötig war, um ein annehmbares Leben zu führen. Manche merkten an, dass diese im Wesentlichen von
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Kartoffeln und Schnaps lebten, was einem Lebensstandard entsprach, der unter dem von Gefängnisinsassen lag – eine Beobachtung, die sich auch in entsprechenden Studien in Prag widerspiegelte. Deutsche Arbeiter trugen sommers wie winters dieselben Kleider – ohne zusätzliche Schichten gegen die beißende Kälte. Die Städte und Metropolen wimmelten von Bitterarmen, die in vollkommen überfüllte Mietskasernen gestopft waren. Der Bau von erschwinglichen Unterkünften, die Bereitstellung von sanitären Anlagen und die Auslieferung von sauberem Wasser hielten nicht Schritt mit dem Zustrom der armen Landbevölkerung. Man schaute fassungslos auf halbnackte Kinder, die in dreckigen engen Straßen spielten und von denen knapp die Hälfte nicht den fünften Geburtstag erlebten, während die, die durchkamen, im Schnitt eine Lebenserwartung von vierzig Jahren hatten.52 1832 beschrieb ein Bericht über die nordfranzösische Industriestadt Lille das Elend, in dem die ärmsten Arbeiter lebten: »In ihre finsteren Keller, in ihre Zimmer … kommt nie frische Luft, sie ist verpestet; die Wände sind mit Müll zugepflastert … Wenn es ein Bett gibt, dann besteht es aus ein paar schmuddligen, schmierigen Brettern; feuchtem, verfaultem Stroh … Die Möbel sind schief, wurmstichig, mit Schmutz bedeckt.«53 Einem Bewohner der Elendsviertel in den überfüllten Pariser Distrikten standen im Durchschnitt etwa sieben Quadratmeter Wohnraum in einer der dunklen, dreckigen und feuchten Mietskasernen des Stadtzentrums zur Verfügung. »Nirgends sonst«, wurde in einer Zeitung erklärt, »ist der Raum beschränkter, die Überfüllung größer, die Luft ungesünder, das Wohnen gefährlicher und die Einwohnerschaft heruntergekommener.«54 Das war vor der Umgestaltung der Innenstadt durch Baron Haussmann unter Napoleon III., Präfekt des Départements de la Seine und ab den 1850er-Jahren zuständig für die Beseitigung der Elendsviertel und den Bau der luftigen, eleganten Boulevards, für die die französische Hauptstadt bis heute berühmt ist. Erbärmliche Unterkünfte, verseuchtes Wasser und eine offene Kanalisation, die in der Mitte enger Straßen entlanglief, boten die unhygienischen Bedingungen, auf denen 1832 zum ersten Mal in Westeuropa eine schreckliche neue Krankheit aufkeimte: die Cholera. Diese erbärmlichen Zustände brachten Moralisten und Reformer zu der Überzeugung, dass Städte Brutstätten für Laster und Verbrechen seien. In Berlin, das 1848 400 000 Einwohner zählte, gab es nicht weniger als 6000 Bedürftige, die vom Staat Hilfe erhielten, 4000 Bettler, 10 000 Prostituierte, 10 000 »Vagabunden« ohne festen Wohnsitz und den Schätzungen nach weitere 10 000, die sich kriminell betätigten. Insgesamt gab es in der preußischen Hauptstadt doppelt
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so viele, die am Rande der Existenz lebten, wie normale Bürger.55 Da Armut von Liberalen wie Konservativen nicht als Symptom wirtschaftlicher Umstände, sondern als Ausdruck von Faulheit, Verdorbenheit und sogar Dummheit angesehen wurde, existierte weder der Wohlfahrtsstaat noch ein soziales Versorgungsnetz. In Zeiten schwerer Krisen gab es durch öffentliche Notstandsarbeiten eine gewisse Entlastung, ansonsten mussten die Bedürftigen auf Arbeitshäuser mit ihren harten Bedingungen oder Almosen setzen, die beide eher auf kirchlicher als auf staatlicher Ebene organisiert wurden, womit sie von der Zahlungsbereitschaft der Gemeinden abhängig waren. Schließlich konnten die Bedürftigen noch bei privaten Wohltätigkeitsorganisationen betteln gehen. Angesichts dieser Zustände setzten sich Intellektuelle gedanklich mit diesem Elend auseinander und entwickelten eine Vielzahl von Ideen, die in ihrer Summe als »Sozialismus« bekannt wurden. Dieser Begriff, der zum ersten Mal im Jahr 1832 von dem französischen Radikalen Pierre Leroux verwendet wurde, ergab sich aus der Prioritätensetzung seiner Anhänger, die eher die Lösung der »sozialen Frage« als politische Reformen in den Vordergrund stellten. Manche »utopische« Sozialisten, so zum Beispiel Étienne Cabet und Charles Fourier, entwickelten Vorstellungen von einem idealen Gemeinwesen, in dem es keine Vermögensunterschiede mehr geben sollte. Doch es gab auch andere »wissenschaftliche« Sozialisten, etwa Karl Marx und Henri de Saint-Simon, die versuchten, die Gesellschaft in ihrem Istzustand zu analysieren und eine realistische Zukunftsvision anzubieten. Die Armut – und die Tatsache, dass es Leute gab, die sie für politische Zwecke nutzen wollten – beunruhigte alle jene, die durch eine soziale Revolution etwas zu verlieren hatten. In den 1840er-Jahren warnte ein britischer Beobachter eindringlich vor den Massen in Hamburg, deren »Mangel an Wohlbefinden die krankhafte Lust an der Zerstörung befördert, die … sich gegen die Besitztümer der Bessergestellten richtet«.56 Ängste unter den Begüterten wurden durch handfeste Beweise in Form einiger heftiger Gewaltausbrüche innerhalb der Arbeiterklasse untermauert. 1844, im Jahr des schlesischen Weberaufstandes, erhoben sich die Prager Kattundrucker. Die Obrigkeit verlor vier Tage lang die Kontrolle über die Stadt, bis Truppen unter General Alfred Windischgrätz erfolgreich intervenierten – ein Akt, der den General in Verruf brachte und von den Tschechen noch nach Jahren nicht vergessen war. Doch die Arbeiter wurden zu solch extremen Mitteln getrieben, weil Mitte der 1840er-Jahre entsetzliche wirtschaftliche Not herrschte. Ein zyklischer
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Konjunkturrückgang bei gleichzeitigen Missernten führte dazu, dass diese düstere Epoche als »die hungrigen Vierziger« in die Erinnerung einging. Zum wirklichen Ernstfall entwickelte sich die Krise, die fast bis zum Ende des Jahrzehnts unvermindert anhielt, jedoch im Jahr 1845. Auslöser für die große Tragödie war zum einen der Ausfall der Getreide- und zum anderen der Ausfall der Kartoffelernte, Kartoffeln aber waren die Hauptnahrungsquelle. Die Pflanzen wurden von einem Pilz, bekannt als »Kartoffelfäule«, befallen, der die Knollen in fauligen Brei verwandelte. Die Krankheit ereilte fast ganz Europa, angefangen von Polen bis nach Irland, das am schlimmsten betroffen war: Dort entfesselte die Fäule die sogenannte Große Hungersnot, bei der bis zu 1,5 Millionen Menschen starben. In Deutschland kam es zu einer Welle von Hungeraufständen und Hungermärschen,57 während in Frankreich der Brotpreis – Brot war das wichtigste Grundnahrungsmittel des größten Teils der Bevölkerung – um fast 50 Prozent in die Höhe schoss, was zu wütenden Szenen in den Bäckereien sowie Hungerrevolten führte. Die Menschen mussten nun noch mehr ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, und zugleich führte die einbrechende Nachfrage nach Industriegütern zu einem gefährlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit in industrieller Fertigung und im Handwerk. In den nordfranzösischen Textilstädten erreichte die Zahl der Erwerbslosen katastrophale Ausmaße: In Roubaix wurden etwa 8000 der 13 000 Arbeiter auf die Straße gesetzt; in Rouen ertrugen die Menschen Lohnkürzungen von 30 Prozent, um das Desaster der Arbeitslosigkeit abzuwehren.58 In Österreich wurden 1847 allein in Wien 10 000 Arbeiter entlassen, was in Zeiten, in denen die Nahrungsmittelpreise Rekordhöhen erreichten und es keine staatliche Hilfe für die Armen gab, verheerend war. Um das Ganze noch zu verschlimmern, kam es in vielen Städten des Reiches auch noch zum Ausbruch von Typhus.59 Im Januar 1847 schrieb ein preußischer Gesandter, der das tiefgehende und weitverbreitete Elend untersuchte: »Ist das alte Jahr mit Teuerung geschieden, so hat das neue mit Hunger begonnen. Geistige und körperliche Armut durchziehen in fürchterlichen Gestalten Europa – die eine ohne Gott, die andere ohne Brot. Wehe, wenn sie sich die Hände reichen!«60 Die Möglichkeit, dass sich Gegner der bestehenden Herrschaftsordnung die wirtschaftliche Misere zunutze machen könnten, war nicht nur ein konservatives Hirngespinst. Die allgemeine Wut konzentrierte sich, was nicht unnatürlich war, gegen die überkommene Ordnung – und die Liberalen zögerten nicht, daraus Kapital zu schlagen. Die wirtschaftliche Verzweiflung, die immer schon bedrohlich unter der zerbrechlichen Oberfläche der sozialen Ordnung gebrodelt hatte, erreichte nun ein Ausmaß, auf des-
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sen Eindämmung die politischen Strukturen des alten Regimes kaum eingerichtet waren. Die ersten Monate des Jahres 1848 sollten zu einem kurzen, aber entscheidenden Zeitraum werden, in dem das Elend der Massen mit den lange schwärenden Enttäuschungen, Ängsten und Erwartungen der liberalen Opposition im Angesicht der Restauration verschmolz. Metternichs Europa, das 1815 triumphiert zu haben schien und seitdem so viele Stürme überstanden hatte, wirkte plötzlich ausgesprochen verletzlich – ein gefundenes Fressen für die Liberalen. Das Zusammentreffen einer akuten gesellschaftlichen Krise mit dem Gefühl, dass jetzt eine politische Wende möglich sei, veranlasste sogar die gemäßigten Opponenten der alten Ordnung dazu, auf Reformen, wenn auch nicht auf eine Revolution, zu drängen. In Frankreich war die Feindseligkeit gegenüber der Julimonarchie von der republikanischen Bewegung in einen Propaganda-Feldzug für eine parlamentarische Reform mit der Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht für Männer umgewandelt worden. Seit 1840 beherrschte François Guizot die politische Landschaft Frankreichs, dessen Ministerressorts zu unterschiedlichen Zeiten Bildung sowie innere und äußere Angelegenheiten umfasst hatten, der aber 1848 im Grunde Premierminister war. Der Historiker gab sich bürgerlich, war Protestant, redegewandt, intelligent und ziemlich überheblich: Als er mit den Forderungen nach einer Ausdehnung des Wahlrechts konfrontiert wurde, reagierte er mit dem bekannten Ausspruch: »Enrichissez-vous« – »Werdet reich« – um die Voraussetzungen für das Wahlrecht zu erfüllen. Ein Hinweis darauf, in welchem Ausmaß die bürgerliche Gesellschaft vom formalpolitischen Leben ausgeschlossen war, kann in der Tatsache gesehen werden, dass in Paris auf jeden Mann, der wahlberechtigt war, zehn Männer kamen, die eine Zeitung abonniert hatten. In anderen Worten: Sehr viele Menschen hatten eine politische Meinung, konnten aber nicht direkt am parlamentarischen System teilhaben. Guizots Uneinsichtigkeit trug deshalb viel dazu bei, die Julimonarchie der öffentlichen Meinung zu entfremden. 1847 drangen die Regierungsgegner – sowohl Republikaner als auch Mitglieder der »dynastischen Opposition« (womit jene gemeint sind, die die Monarchie nicht stürzen, sondern den Platz der derzeitigen Minister einnehmen wollten) – auf ihre Forderungen. Sie umgingen ein offizielles Verbot politischer Zusammenkünfte, indem sie landesweit eine Reihe von Banketten organisierten. Auf diesen oft großen Zusammenkünften richteten die Redner ihre Appelle nach Reformen an die Feiernden. In Großbritannien hätte eine solche Aktivität sicher harmlos gewirkt, in Frankreich dagegen, wo es zwischen Regierung und öffentlicher Meinung eine
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Kluft gab, war sie brisant.61 Unter den gesuchteren Rednern war auch der Historiker und Schriftsteller Alphonse de Lamartine, dessen Histoire des Girondins (Geschichte der Girondisten), eine Schilderung der 1789er-Revolution, die 1847 veröffentlicht wurde, den Zeitgeist traf und zum Bestseller avancierte. Im Juli jenes Jahres wandte sich Lamartine auf einem brechend vollen und regennassen Bankett in Mâcon an die Leute, die zugleich seine Wählerschaft bildeten (er war ihr Vertreter in der Deputiertenkammer). Mit Bezug auf die große Revolution von 1789 erklärte er: »Es wird stürzen, dieses Königtum, seid dessen sicher … Und nachdem ihr die Revolution der Freiheit und die Gegenrevolution des Ruhmes hattet, werdet ihr die Revolution des öffentlichen Bewusstseins und die Revolution der Missachtung erleben.«62 Damit drückte Lamartine aus, was viele Menschen über die Julimonarchie und das Schicksal, das sie verdiente, dachten. Anderswo in Europa bekam die liberale Opposition die Stärke der Restauration zu spüren – manchmal mit tragischen Folgen. In der habsburgischen Provinz Galizien versuchten 1846 polnische Adelige die patriotische Revolte gegen die österreichische Herrschaft auf ein höheres Niveau zu heben. Obwohl sie dafür ihren Leibeigenen die Befreiung versprachen, hörten die meist ukrainischen Bauern nicht auf sie, töteten und verstümmelten stattdessen rund 1200 polnische Adelige – Männer, Frauen und Kinder ohne Unterschied – und plünderten oder brandschatzten um die 4000 Herrensitze. Die Loyalität der Leibeigenen gehörte weiterhin dem Kaiser, der, wie es hieß, seine von Gott gegebene Autorität dazu benutzt habe, die Zehn Gebote auszusetzen, damit die Bauern ungestraft ihre verhassten Grundherren umbringen konnten.63 Ergebnis dieses gescheiterten polnischen Aufstands war die Annektierung der letzten Bastion polnischer Unabhängigkeit: der freien Stadt Krakau, die das Epizentrum der Revolte gewesen war. Günstiger für die europäischen Liberalen endete 1847 in der Schweiz ein Bürgerkrieg zwischen den liberalen und den konservativen Kantonen. Letztere hatten sich zum sogenannten Sonderbund zusammengeschlossen, den Metternich mit österreichischem Geld und österreichischen Waffen unterstützt hatte, doch Erstere gingen siegreich aus dem Kampf hervor. In Italien wurde die patriotische Begeisterung entfacht, als 1846 ein »liberaler« Papst, Pius IX., gewählt wurde. Von »Pio Nono« wusste man, dass er Giobertis beliebte Bücher gelesen hatte, und als er in Rom die Macht übernahm, lockerte er sofort die Zensur, befreite alle politischen Gefangenen und versprach, die Möglichkeit von politischen Reformen zu prüfen. In den Augen der italienischen Nationalisten war er
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eine Galionsfigur, die alle Fäden italienischer Meinung zusammenführen, die geistige Führung der Kampagne zur Befreiung Italiens von der österreichischen Herrschaft übernehmen und dem Land zu einer gewissen politischen Einheit verhelfen konnte. Metternich reagierte 1847 mit der Wiederbewaffnung der österreichischen Festung in Ferrara, was aber Pius die Chance gab, durch heftigen Protest seine liberalen und patriotischen Überzeugungen zu demonstrieren; sein Stern unter den italienischen Liberalen stieg nur noch höher. In Norditalien engagierte sich die Opposition zunächst im »rechtmäßigen Kampf«, der lotta legale, indem sie über die Provinzversammlungen versuchte, Reformen von den Habsburgern zu erwirken. Allerdings sollte Metternichs Kompromisslosigkeit die italienischen Patrioten zwingen, sich zwischen dem Abbruch dieses Kampfes und einem revolutionären Kurs zu entscheiden. In der Lombardei wurde die Opposition vom Adel getragen, der einerseits enttäuscht war über den Mangel an Möglichkeiten, am Hof des Vizekönigs und in der Mailänder Bürokratie zu Rang und Stellung zu gelangen, der aber andererseits das Rückgrat der liberalen Bewegung bildete, die sich in den Städten zu verschiedenen Gesellschaften formiert hatte. Führend war hier der »Jockey Club«, die Nachahmung eines britischen Klubs, der zugleich eine ernsthafte politische und kulturelle Zielsetzung verfolgte. An anderer Stelle des Habsburgerreiches, in Ungarn, brachten die Wahlen zum Landtag 1847 ein Parlament zurück, in dem radikale Liberale wie Kossuth saßen und bereit waren, über Bauernbefreiung und die Steuerprivilegien der Adeligen zu debattieren. In Österreich berief eine Monarchie, die knapp bei Kasse war, für den März 1848 die niederösterreichischen Landstände ein. Das wiederum ließ die Liberalen hoffen, die die Augsburger Allgemeine Zeitung, eine der wenigen ausländischen Zeitungen, eingehend auf Nachrichten aus der Welt durchstöberten und sich unter anderem im »Wiener Juridisch-Politischen Leseverein« trafen. In Deutschland, wo der Nationalismus 1840 durch antifranzösische Kriegsangst (ausgelöst durch ein in der Julimonarchie seltenes Säbelrasseln der Franzosen) den Siedepunkt erreicht hatte, war die Mitgliedschaft in liberalen Vereinigungen drastisch angestiegen: Allein die »Turnvereine« von 1847 zählten 85 000 Mitglieder in 250 Abteilungen, während Chöre sich 100 000 Anhängern rühmen konnten, die zwischen 1845 und 1847 alljährlich bei nationalen Sängerfesten zusammenkamen. In Staaten mit einer Verfassung, etwa Baden, Württemberg und Bayern, begannen die Liberalen ihr parlamentarisches Muskelspiel; die dramatischsten Auswirkungen allerdings sollte ihr Wiedererstarken in Preußen zeitigen. König Friedrich Wilhelm IV. benötigte
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Geld für eines seiner Lieblingsprojekte, den Bau der Eisenbahn, doch ein Gesetz von 1820 legte fest, dass die Monarchie, wollte sie neue Staatsschulden machen, die »Reichsstände« befragen musste. Deshalb trat 1847 der Vereinigte Landtag, gewählt aus Mitgliedern der Provinziallandtage, zusammen. Diese Versammlung wurde zur Plattform, von der aus die preußischen Liberalen auf eine Reform der Verfassung dringen konnten. Im Juni wurde der Landtag vom verärgerten König wieder aufgelöst, doch das öffentliche Interesse war jetzt geweckt, und das Problem der preußischen Landtage und einer konstitutionellen Reform wurde in den Kaffeehäusern und Salons des ganzen Landes zum Thema hitziger und erwartungsvoller Diskussionen. Im September rief der radikale Flügel der Opposition auf Betreiben des mitteilsamen und wortgewandten Friedrich Hecker und des abtrünnigen Adeligen (und Vegetariers) Gustav von Struve weitere Demokraten in Offenburg zusammen, das zum Großherzogtum Baden gehörte. Vor der Forderung einer vereinigten deutschen Republik schreckte man zurück, verlangte aber unter anderem eine Aufhebung der repressiven Beschlüsse, die vom deutschen Bundestag verabschiedet worden waren, dazu die Abschaffung der Zensur und eine gewählte Vertretung für ein bundesstaatlich organisiertes Deutschland. Die gemäßigten Liberalen – unter ihnen der unerschütterliche Heinrich von Gagern – antworteten im darauffolgenden Monat mit einer Tagung im hessischen Heppenheim. Sie sprachen sich für die Umwandlung der bereits existierenden Zollunion, des Deutschen Zollvereins, in eine politische Körperschaft aus, in der das Volk durch gewählte Repräsentanten ein Mitspracherecht erhalten sollte, was später zu einer umfassenderen deutschen Einheit führen sollte. Angesichts des Drucks auf die bestehende Ordnung – und der Breschen, die nun in ihre Befestigungsanlagen geschlagen wurden – erwartete fast jeder, dass eine große revolutionäre Krise über Europa hinwegfegen würde. Bald würde sich eine »Revolution« erheben, »die den ganzen Globus zu umfangen drohe«, wie ein Priester 1847 auf der Beerdigung des großen irischen Reformers Daniel O’Connell in Rom erklärte.64 Das war für manchen eine Quelle großer Hoffnung, darunter für Alexander Herzen, der später über einen »Traum« schrieb, den er bei seiner Ankunft in Paris 1847 noch geträumt, der sich aber als eine Illusion herausgestellt habe, zersplittert wie Glas: » … die Ereignisse, die sich in meiner Nähe abspielten, rissen mich mit sich fort. … der Wirbel, der alles empor trug, trieb auch mich mit sich fort. Ganz Europa nahm sein Bett und wandelte in einem Anfall von
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Somnambulismus, den wir für ein Erwachen nahmen … Wie? sollte dies alles nur ein Rausch oder ein Fiebertraum gewesen sein? Wer weiß, – aber ich beneide die Menschen nicht, die sich diesem herrlichen Traum nicht hingaben.«65
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So mancher Zeitzeuge der Ereignisse von 1848 erwachte am Neujahrsmorgen im Gefühl düsterer Vorahnungen. Krisen, die in den letzten zwei Jahren sporadisch aufgetreten waren, erreichten plötzlich einen Höhepunkt. Am 29. Januar erhob sich Alexis de Tocqueville in der Abgeordnetenkammer und warnte seine Kollegen davor, dass sich das Murren der französischen Massen früher oder später in einer Revolution entladen würde: »Ich glaube, daß wir zur Stunde auf einem Vulkane schlafen … Fühlen Sie nicht auch intuitiv …, daß der Boden Europas aufs neue erzittert? Merken Sie … den Revolutionssturm nicht, der in der Luft liegt?« Er forderte das Parlament auf, parlamentarische Reformen zuzulassen und den Ruf der Korruption und Unnachgiebigkeit abzuschütteln, der ihm, dem Parlament, den Verlust des öffentlichen Vertrauens beschere. Tocqueville war kein Panikmacher, doch seine Rede wurde von der Regierungsmehrheit, die die Dramatik seines Einwurfs ins Lächerliche zog, verspottet, die liberale Opposition dagegen beklatschte höflich den Angriff eines unerwarteten konservativen Verbündeten gegen das Ministerium. Selbst Tocquevilles Freunde glaubten, er hätte seine Schauspielerei übertrieben.1 Doch der große Historiker und Sozialtheoretiker sollte Recht behalten: Fast der ganze Kontinent stand vor dem revolutionären Abgrund.
I Die erste gewaltsame Auseinandersetzung des Jahres 1848 ging einher mit der vielleicht ersten konzertierten Anti-Raucher-Kampagne der Moderne in Mailand. Dort hatten sich die jungen Adeligen von Mailand im Jockey Club versammelt. Schon lange waren ihnen die wenigen Aufstiegsmöglichkeiten, die das deutschsprachige Regime ihnen bot, ein Dorn im Auge. Dazu noch von den liberalen Tönen aus dem Vatikan ermutigt, wollten sie die Österreicher dort treffen, wo es am meisten weh tat: am Staatssäckel. Da die italienischen Provin-
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zen zu den lukrativsten Steuerquellen Österreichs gehörten, organisierten die italienischen Adeligen, angeregt vom Beispiel der Boston Tea Party des Jahres 1773, einen Boykott von Tabak, dessen Besteuerung die Wiener Staatskasse einen beträchtlichen Teil ihrer Einkünfte verdankte. Die Notabeln wussten zudem, dass das Steuerwesen unter den einfacheren lombardischen Bürgern eine Quelle des Unmuts darstellte, und so hatten sie keine Probleme, breite Unterstützung zu finden. Am Neujahrstag gaben die Mailänder das Rauchen auf. In Reaktion darauf fing die österreichische Besatzung, ermutigt von ihren Offizieren, mit Genuss das Rauchen an. Spätestens seit dem vergangenen Herbst waren die Beziehungen zwischen den Italienern und Österreichern angespannt, sodass das Temperament – sicherlich waren sie durch den Nikotinentzug gereizt – fast schon zwangsläufig mit ihnen durchging. Am 3. Januar schlug ein Mailänder, provoziert durch einen österreichischen Offizier, der demonstrativ eine Zigarre paffte, ihm diese von den Lippen. Es folgte ein Handgemenge, bei dem ein paar Bürger von Soldaten zusammengeschlagen wurden. Daraufhin versammelte sich eine Menschenmenge und rächte sich mit einem Angriff auf die Truppe. Die Garnison rückte in großer Zahl aus und schlug den »Zigarrenstreik« nieder, indem sie sechs Bürger tötete und fünfzig verwundete.2 Der Oberbefehlshaber über die österreichischen Truppen in Italien, Feldmarschall Joseph Radetzky, ermahnte Metternich, ihm Verstärkung zukommen zu lassen, um weitere Gewaltausbrüche in Grenzen zu halten, wurde jedoch nicht gehört. Genau genommen wollten die Mailänder Notabeln keine Revolution provozieren, ihre Ziele waren prosaischer: Ein Mailänder Adeliger erklärte Metternich, dass sich die lombardischen Eliten vor allem bessere Zugangsmöglichkeiten zu den höheren Staatsämtern, die normalerweise den Österreichern vorbehalten waren, wünschten. Im benachbarten Venetien versuchten Daniele Manin und Nicolò Tommaseo die lotta legale weiterzuverfolgen und überreichten der Zentralkongregation der österreichischen Provinzen Petitionen für eine politische Reform, doch die österreichische Obrigkeit warf am 18. Januar beide Männer ins Gefängnis. Der Zigarrenstreik und die Arretierung zweier beliebter venezianischer Wortführer erweckten viel Aufsehen und verschafften den Liberalen Zulauf. Inzwischen waren die Österreicher sicher, es mit Venedig und Mailand aufnehmen zu können. Am 16. Januar versicherte der unbeugsame, über achtzigjährige Radetzky seinen Männern, dass der italienische Liberalismus (»die Maschinerie des Fanatismus«) an ihrer Tapferkeit »wie Glas an einem Felsen«
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zerspringen werde.3 Die festgefahrenen Positionen beider Seiten führten dazu, dass Norditalien sich im »Stadium eines unerklärten Krieges« befand.4 Die Explosion sollte, als es soweit war, weitaus mehr nach sich ziehen als die begrenzten Reformen, die ursprünglich von der liberalen Führungsriege gefordert wurden. Die Fronten im Norden hatten sich zum Teil in Reaktion auf Entwicklungen im Süden verschärft, wo in Sizilien die erste ausgewachsene Revolution des Jahres stattfand. Die erbittert nach Unabhängigkeit strebenden Insulaner waren schon seit Langem davon überzeugt, dass die autokratische bourbonische Monarchie in Neapel absichtlich ihre Interessen überging. Dieser Eindruck wurde noch durch das Unvermögen des Staates verstärkt, auf die extreme Armut, die sich in einem fürchterlichen Winter verfestigt hatte, einzugehen. Am 12. Januar »feierte« eine Menschenmenge in Palermo den Geburtstag des neapolitanischen Königs Ferdinand II., indem sie quer über die Straßen Barrikaden baute, die italienische Trikolore entfaltete und »Lang lebe Italien, die sizilianische Verfassung und Pius IX.!« rief. Zwielichtige Gestalten mit weniger hehren Motiven schlossen sich an. Kriminelle Kleinbauern aus der verarmten ländlichen Umgebung und Squadristen, Vorläufer der Mafia, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, von glücklosen Dorfbewohnern Schutzgelder zu erpressen, schlichen sich in die Innenstadt. Sie waren bis an die Zähne mit selbst gefertigten Gewehren, Fanghaken und Äxten aller Art bewaffnet und dabei, die neapolitanische Besatzung im Straßenkampf einzuschüchtern. Die Regierungstruppen bombardierten Palermo von der finsteren Bourbonen-Festung Castellamare aus, während Kanoniere ihre tödlichen Kartätschenladungen in die Menge vor dem Königspalast und der Kathedrale schleuderten, bevor die Aufständischen sie überwältigten. Das Hauptquartier der Polizei wurde gestürmt und alle Berichte wurden verbrannt. Etwa sechsunddreißig Menschen fanden den Tod, bevor sich die Armee aus der Stadt zurückzog. Als sich Bauern der Revolution anschlossen und in den Gemeindehäusern die Steuerakten und Grundbuchkataster in Brand steckten, stand innerhalb weniger Tage das sizilianische Hinterland buchstäblich in Flammen. Schließlich blieben als Einzige die königlichen Soldaten auf der Insel zurück, die in der Zitadelle von Messina belagert wurden. Unter dem Vorsitz des liberalen Fürsten Ruggero Settimo, Principe di Fitalìa, der ein Veteran des 1812 nach englischem Vorbild geschaffenen Parlaments war und an der Revolution von 1820 teilgenommen hatte, übernahm in Palermo ein Generalkomitee die Zuständigkeiten einer provisorischen Regierung. Es setzte sich sowohl aus gemäßigten Liberalen als auch
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aus radikaleren Demokraten zusammen, die zumindest vorübergehend zusammenarbeiten wollten, um das Leben der Menschen und den Besitz vor den marodierenden Bauern und den Armen aus den Städten zu schützen. Auch sahen sie sich mit der schwersten Aufgabe überhaupt konfrontiert: der Durchsetzung einer Herrschaft nach Recht und Gesetz dort, wo die Squadristen das Sagen hatten. Die revolutionäre Führungsspitze verlangte Wahlen zum sizilianischen Parlament, dem es seit der Vereinigung Siziliens mit Neapel im Jahr 1816 nicht mehr erlaubt worden war, zusammenzutreten.5 Als via Dampfboot die Nachrichten von der sizilianischen Revolution Neapel erreichten, ging dort die Bevölkerung auf die Straße. Inzwischen hatte König Ferdinand etwa 5000 Soldaten auf Dampfbooten in Richtung Sizilien eingeschifft, um den Aufstand niederzuschlagen, wodurch er das Festland gerade in dem Moment von Truppen entblößte, in dem die Revolution dorthin übergriff. Die Menge vergrößerte sich erheblich durch die berüchtigten lazzaroni, jene bitterarmen Massen aus den Elendsvierteln, die laut Herzen, der im Februar in der Stadt ankam, »verwilderte Züge … die niederträchtigen Manieren des neapolitanischen Pöbels« zeigten; sie seien eine Mischung aller Sklaven, die untere Schicht aller Verlorenen, das Relikt von zehn Nationen, vermischt und degeneriert.6 Normalerweise wurden sie durch staatliche Almosen in einem Zustand relativer Ruhe gehalten, doch die katastrophale wirtschaftliche Situation hatte sie äußerst hart getroffen, und – dieses Muster sollte sich in den kommenden Monaten andernorts wiederholen – die Regierung sich als unfähig erwiesen, ihnen aus den Tiefen ihres Elends herauszuhelfen. So wendeten sich die Lazzaroni gegen die Obrigkeit, und mittlerweile taten das auch die Bauern des Cilento gegen ihre Grundherren. Dieses – dazu das Gerücht, Zehntausende von ihnen würden auf die Stadt zumarschieren – weckte bei der verständnislosen Stadtbevölkerung die Angst vor einem Landpöbel mit schwingender Sense und reichte, um die neapolitanischen Adeligen und Großbürger zu Forderungen nach politischer Veränderung zu bewegen, durch die der Krise begegnet werden sollte. Auch der Hof selbst verfiel in Panik, und Ferdinand, der erkennen musste, dass seine Soldaten bestenfalls widerwillig kämpften, holte den liberalen Führer Carlo Poerio aus dem Gefängnis. Dadurch bekamen die Liberalen eine Leitfigur. Am 27. Januar organisierten sie auf der großen Piazza vor dem Königspalast eine Demonstration mit 25 000 Teilnehmern. Als die Kavallerie ausritt, um sie zu vertreiben, strömte die Menge auf die Reiter zu und überredete sie abzuziehen; der Kommandant bot sogar an, König Ferdinand eine Petition zu übergeben.7 Aus Angst, sein Königreich zu verlieren, ver-
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sprach Ferdinand eine Verfassung, die am 10. Februar veröffentlicht wurde und zu großen Teilen auf der französischen Charte von 1814 basierte, also weit entfernt war vom allgemeinen Wahlrecht. Die Sizilianer blieben unversöhnlich, forderten sie doch die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1812 sowie eine politische Selbstständigkeit, die sie mit Neapel allenfalls dynastisch verband. Neapolitanische Liberale allerdings hofften, Neapel würde sich am Ende dem unaufhaltsamen Strom anschließen, der in die italienische Einigung münden würde. Luigi Settembrini, einst Republikaner, jetzt gemäßigter Liberaler, kehrte am 7. Februar aus seinem Exil auf Malta in die Stadt zurück und fand einen unter lauter italienischen Trikoloren erblühten Hafen vor.8 Der Zusammenbruch der absoluten Monarchie im Süden strahlte über den bergigen Rücken Italiens nach Norden aus. Im Kirchenstaat verstärkte sich der öffentliche Druck auf Papst Pius IX., der jetzt das Tempo der Reform reduzieren wollte. Mit einem Gebetstag für den Frieden im Königreich beider Sizilien löste er lediglich eine nächtliche Demonstration auf dem Corso aus. Die Prachtstraße loderte geradezu im Fackelschein, als die Römer jubelten: »Viva Pio Nono«, dann jedoch hinzufügten: »e la costituzione e la libertà!« Die Zivilgarde, 1847 als Zugeständnis an die Liberalen ins Leben gerufen, riss provokativ die weiß-gelben päpstlichen Kokarden von ihren Hüten und steckte sich stattdessen die dreifarbigen an. Wenige Tage später sorgte das Gerücht, die Österreicher wollten mithilfe einer Armee die Ordnung in Italien wiederherstellen, für eine weitere große Protestaktion, die die Piazza del Popolo füllte. Diesmal verlangten die Demonstranten vom Papst die Aufstellung einer Armee zur Verteidigung der Grenzen. Dem belgischen Botschafter zufolge waren auch die Rufe »Tod den Kardinälen! Tod den Priestern!« zu hören. Der so zur Einsicht gebrachte Papst, der jedoch kaum Zwangsmittel zur Verfügung hatte, versprach, eine neue Regierung zu berufen, in der Laien wie Geistliche als Minister vertreten sein würden. Dennoch, schloss der belgische Diplomat am 12. Februar, werde »die Partei des Fortschritts, nun Herr des Geschehens, sich mitten in einer solch günstigen Entwicklung nicht selbst Einhalt gebieten, und ihr letztes Wort … ist eine Verfassung«.9 Etwa einen Monat bevor die Römer diese am 14. März von ihrem Papst erhielten, rettete weiter im Norden Leopold von Toskana seinen großherzoglichen Thron, indem er am 11. Februar eine Verfassung garantierte. Drei Tage zuvor hatte König Karl Albert von Sardinien-Piemont ebenfalls eine versprochen, der er am 4. März endgültig zustimmte. Für die italienische Politik kam dies einem Erdbeben gleich, denn die mächtigste Monarchie des Landes, das
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Haus Savoyen, hatte seine uralte absolutistische Tradition aufgegeben. Für die weitere Entwicklung Italiens würde dies schwer ins Gewicht fallen. Der Verkündung folgte eine farbenprächtige Reaktion der Turiner: Patriotische Frauen in schwarzen Reitkleidern schoben ihre Röcke hoch, unter denen sie rot-weißgrüne Unterröcke enthüllten. Die Kirchenglocken läuteten dermaßen überschwänglich, dass die Bauern der Umgebung zu den Waffen griffen, glaubten sie doch, das Läuten sei Warnung vor einer österreichischen Invasion.10 Die Herzöge von Modena und Parma gaben vorerst nicht nach, allerdings nur weil sie unter dem Schutz der österreichischen Truppen standen, während die Lombardei und Venetien unentschieden waren. Es bedurfte größerer europäischer Ereignisse, bevor diese beiden Provinzen davon betroffen waren – und als das der Fall war, bekamen die Italiener endlich die lange ersehnte Möglichkeit, um die italienische Einheit zu kämpfen.
II Das erste dieser europäischen Ereignisse war die Revolution in Paris, wo die Republikaner und die Opposition um politische Reformen kämpften. Im Parlament kamen sie aufgrund einer unnachgiebigen Regierung nicht weiter, mithilfe der Bankett-Kampagne hielten sie jedoch den Druck aufrecht. Eine dieser Zusammenkünfte geriet zum unerwarteten Funken für die Revolution in Frankreich und entzündete dabei auch die Explosionen, die Europa erschütterten. Das Bankett sollte im 12. Arrondissement von Paris abgehalten werden, das damals die Gegend um das Panthéon sowie eine der Hochburgen des Pariser Republikanismus umfasste und dessen radikale Tradition bis in die Tage der 1789er-Revolution zurückreichten. Diese Ortswahl weckte bei den Gemäßigten die Befürchtung, das Bankett könne Gelegenheit zu einer lautstarken Demonstration bieten. Aus diesem Grund hatte der Führer der dynastischen Opposition, Odilon Barrot, dem es zwar nicht an Mut mangelte, der aber politisch vorsichtig war, das Bankett für den 22. Februar auf den eleganten Champs-Elysées angesetzt, was die Republikaner dazu veranlasste, an jenem Tag zu einem Protestmarsch aufzurufen. Die Gemäßigten reagierten mit der kompletten Absetzung der Veranstaltung, was auf einem hastig für den Abend des 21. Februar angesetzten Treffen aller oppositionellen Abgeordneten und Journalisten in Barrots Haus beschlossen wurde. Selbst Armand Marrast, Herausgeber der republikanischen National, war einverstanden; alle schreckten vor einem
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Zusammenstoß mit der Obrigkeit und vor den radikalen Kräften zurück, die ein solch gewaltsames Vorgehen entfesseln konnte. Doch es war zu spät: Marrasts eigenes Blatt hatte den Protestmarsch angekündigt, und die radikalen Republikaner bestanden nun darauf, dass er stattfand. In derselben Nacht willigten die Radikalen auf einer Krisensitzung der Republikaner des linken Réforme-Flügels ein, dass der Protestzug zwar wie geplant abgehalten, beim ersten Anzeichen einer Machtdemonstration seitens der Staatsmacht aber aufgelöst werden solle, denn selbst sie wollten eine unkontrollierbare, unberechenbare Kollision mit der Regierung unbedingt vermeiden. Niemand sah eine Revolution voraus.11 Am nächsten Morgen erwachte Paris unter einem grauen, regenschweren Himmel, Windböen fegten Sprühregen über die Straßen, trotzdem fanden sich um 9 Uhr eine Menge Demonstranten – arbeitslose Arbeiter, Frauen und Kinder – am Ausgangspunkt der Demonstration, der Place de la Madeleine, ein. Die Obrigkeit hatte die Nationalgarde aufgeboten, doch die Ankunft von rund siebenhundert Studenten, die den Fluss mit der »Marseillaise« auf den Lippen überquert hatten, stärkte der Menge den Rücken. Laut Marie d’Agoult, Schriftsteller und Aktivist des linken Flügels, lud sich die Atmosphäre auf.12 Durch die Verstärkung ermutigt, drängte die Menge über die Place de la Concorde zur Deputiertenkammer, um Reformen einzufordern, musste aber erleben, wie sie von der Nationalgarde und den Dragonern zurückgedrängt wurde. Bei dem Kampf, der an diesem Nachmittag auf der Place de la Concorde vor- und zurückwogte, war es die Munizipalgarde, die die Enttäuschung der Leute am meisten zu spüren bekam: »Dieses Elitekorps [erklärte Marie d’Agoult], das sich aus erfahrenen Männern zusammensetzte, die der Regierung dank eines hohen Solds treu ergeben waren, weckten wegen ihren Privilegien den Neid der Linientruppen und wurden wegen ihren Polizeifunktionen von den Menschen gehasst. Sie waren äußerst diszipliniert und führten ihre Befehle mit Härte aus. Ihre häufigen Zusammenstöße mit der Pariser Bevölkerung führten zu Feindseligkeiten, die sich unter Umständen wie diesem nur verschlimmern konnten.«13 Die Gewalt explodierte, als die Menge Steine gegen die Gardisten schleuderte, die sich daraufhin mit gezückten Säbeln den Weg durch den Tumult erzwangen und dabei Leute umstießen. Eines der Opfer, eine alte Frau, starb, als ihr Kopf
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auf das Pflaster prallte. Das erste Blut war vergossen, und jetzt brachen überall in der Stadt Kämpfe aus: in der Rue des Capucines vor Guizots Residenz im Außenministerium, auf den Champs-Elysées, auf der Place de la Bastille und bei der Börse. Zunächst hatten sich die Aufständischen mit Eisengittern bewaffnet, die sie aus Zäunen gerissen hatten, anschließend mit erbeuteten Waffen aus einem Waffengeschäft.14 Die Soldaten schafften es, die öffentlichen Gebäude zu schützen, doch die Leute zogen sich einfach in die labyrinthartigen Straßen der Handwerkerviertel zurück. Während sich Paris im Aufruhr befand, sah sich Guizot mit Barrots Forderung nach Amtsenthebung wegen Korruption und Verrat an der Verfassung konfrontiert. Doch angesichts des Schreckgespensts einer Revolution, das jetzt über ihnen schwebte, waren die wenigsten oppositionellen Abgeordneten in der Stimmung, die Obrigkeit zu schwächen, und so standen unter dem Antrag nur dreiundfünfzig Unterschriften. Guizot erlaubte sich, die Anklagepunkte mit einem herablassenden Lächeln anzuhören.15 Hinzu kam, dass die Republikaner selbst nicht recht wussten, was zu tun sei, war es doch unerwartet und spontan zum Ausbruch der Kämpfe gekommen. Am Abend trafen sich die Journalisten von La Réforme diskret im Schatten der Arkaden des Palais Royale, konnten sich aber nicht auf eine Vorgehensweise einigen. Manche Republikaner wollten lieber abwarten, andere kehrten in ihre Stadtviertel zurück, um die revolutionären Geheimgesellschaften zu mobilisieren und sich den Aufstand zunutze zu machen. Über Nacht wuchsen in den engen Straßen des Pariser Zentrums und des Ostens Barrikaden in die Höhe. Allein schon durch ihre Überzahl hätten die Ordnungskräfte weiterhin die Herrschaft über die Stadt behaupten können: Sie bestanden aus etwa 31 000 regulären Soldaten, 3000 Munizipal- und 85 000 Nationalgardisten aus Paris und den Vorstädten. Sie konnten allerdings nur auf Befehl des Polizeipräfekten hin handeln – und der königliche Rat empfahl aus Angst vor einer breit gestreuten Gegenreaktion klugerweise Besonnenheit.16 Was die Nationalgarde betrifft, so war sie eine Bürgermiliz, die sich aus Steuerzahlern zusammensetzte – eine bürgerliche Macht, von der Louis-Philippe dachte, dass er sich auf sie verlassen könne. Doch selbst die, die aus den westlichen Stadtteilen kamen, scheuten davor zurück, ein unpopuläres Ministerium zu verteidigen und bei der äußerst unangenehmen Aufgabe, die Aufständischen niederzukämpfen, Hilfe zu leisten. So mancher, der dem Aufruf gefolgt war, wurde umhergetrieben und dann durch eine Arbeitermenge abgeworben. Andere, vor allem die Angehörigen der radikalen Zwölften Legion, die das Ban-
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kett beim Panthéon zu besuchen vorgehabt hatten, beantworteten den Aufruf zur Bewaffnung mit dem herausfordernden Ruf »Vive la réforme!«. Die Nationalgarde trat daher nur in sehr kleinen Gruppen an und ließ die Munizipalgarde im Kampf um die Herrschaft über die Straßen fast allein. Die Aufständischen schnitten deren Wachposten, sofern sie abseitsstanden, von den anderen ab, griffen sie an und entwaffneten sie, während sich ihre Kameraden den regulären Truppen anschlossen. Die verbrachten eine schlimme Nacht bei Lagerfeuer und Regen.17 Am nächsten Tag spielten die Nationalgardisten bei der Schlichtung zwischen Aufständischen und Munizipalgardisten eine Schlüsselrolle. So verteidigte zum Beispiel eine Abteilung der Letzteren an einer Kreuzung der Rue Bourg l’Abbé das Waffengeschäft der Gebrüder Lepage, das sich mit seinen vielen Musketen als wahres Wespennest herausstellte: Am Nachmittag des 23. Februar wurde eine Straßenecke so unter Beschuss genommen, bis nur noch ein Haufen Bauschutt übrig war. Der Kampf endete erst, als ein Kommando der Nationalgarde einschritt und die beiden Seiten trennte, wobei es Étienne Arago, einem der Gründer der La Réforme, gelang, für die Munizipalgarde eine Kapitulation auszuhandeln.18 Da seine militärische Position schwächer war, als von ihm erwartet, entschloss sich Louis-Philippe, der sich bisher hartnäckig gegen Zugeständnisse verwahrt hatte, widerwillig dazu, seinen verhassten ersten Minister zu opfern. Am frühen Nachmittag des 23. Februar wurde Guizot in den Tuilerienpalast gerufen, wo ihm der König enttäuscht die Entlassung überbrachte. Als Guizot ins Parlament zurückkehrte, schien sein Atem laut d’Agoult »von einem inneren Gewicht erstickt« zu werden,19 doch er warf den Kopf in den Nacken, als hätte er, so Tocqueville, Angst, ihn hängen zu lassen. Die Opposition quittierte seine Entlassung so frenetisch, dass Guizot übertönt wurde, während er von regierungsnahen Abgeordneten, für die sein Fall den Verlust von Schutz, Stellung und Macht bedeutete, belagert wurde wie von einer Hundemeute, der man die Beute entrissen hatte: – so mit Bitterkeit Tocqueville.20 Die Führer der dynastischen Opposition, Barrot und Adolphe Thiers, gratulierten sich dazu, einen – wie sie glaubten – Ministerwechsel ohne Sturz der Monarchie erzwungen zu haben. Für ein paar Stunden schien diese Vorstellung nicht unbegründet. Als Nationalgardisten und Abgeordnete von Barrikade zu Barrikade liefen und die Neuigkeit von Guizots Entlassung verbreiteten, wurde allmählich das Feuer eingestellt und die Menge begann zu feiern. Die Schicksalswaage der Regierung war aber
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noch nicht endgültig ausbalanciert. Der König hatte der Menge seinen Minister geopfert, doch die eigentliche politische und soziale Spannung blieb davon unberührt. Die Republikaner spürten, dass sie vielleicht mehr als nur den Sturz eines Ministers erreichen konnten. Sie redeten weiter auf die Handwerker und Nationalgardisten ein, die nicht so recht wussten, ob es an der Zeit war, die Barrikaden abzubauen. Wie so oft in solch prekären Momenten der Geschichte senkte ein Zufall die Waagschale gegen die Regierung. Während noch am Abend des 23. Februars bunte Lichtergirlanden die Boulevards schmückten, auf denen sich Trikolore schwingende Pariser versammelten hatten, um Guizots Entlassung zu feiern, traf dort um 21 Uhr 30 eine geordnete Phalanx von sechs- bis siebenhundert Arbeitern aus den radikalen östlichen Stadtteilen auf diese fröhliche Gesellschaft. Mit patriotischen Liedern schlossen sich die Feiernden dem Zug an. Nach François Pannier-Lafontaine, einem ehemaligen Armee-Zahlmeister, der in vorderster Reihe marschierte, schrien die Leute »Vive la Réforme! A bas Guizot!«, ohne aber die Stimme gegen den König zu erheben. Vor dem Büro des Le National blieben sie stehen, um Marrast zuzuhören, der die Menschen drängte, Reformen und die Amtsenthebung weiterer Minister einzufordern, doch davon, die Monarchie abzuschaffen, war nicht die Rede. Dennoch lag ein Zusammenstoß in der Luft, denn weiter den Boulevard hinunter hörten etwa zweihundert Männer des 14. Regiments, die Guizots Unterkunft im Außenministerium bewachten, die Gesänge und sahen, als die stark angewachsene Menschenmenge die Rue de Capucines erreichte, durch die Rauchschwaden den Schein von Fackeln. Aus reiner Vorsicht befahl der Kommandeur seinen Männern, den Boulevard abzuriegeln. Die Demonstranten kamen zum Stillstand, wobei sie sich gegen die Soldaten drängten. Offensichtlich in der Absicht sie ein wenig zurückzudrängen, gab der Offizier den Befehl »Präsentiert das Gewehr!«. Als die Truppe den Befehl ausführte, platzte ein mysteriöser Schuss durch die Nachtluft. Reflexartig feuerten die Soldaten daraufhin eine Salve ab. Die Kugeln töteten und verwundeten etwa fünfzig Menschen. Pannier-Lafontaine wurde niedergeschlagen und lag unter einem der Gefallenen begraben, während einer seiner Kameraden verwundet wurde. Panik machte sich breit, die Menschen flohen in alle Richtungen und suchten Schutz vor einer weiteren Salve, die aber nie erfolgte.21 Die Nachricht über das Gemetzel kursierte nun in der Stadt: Für die Pariser konnte das nur bedeuten, dass die Obrigkeit ihre Macht mit bloßer Gewalt wiederherzustellen versuchte. Nach Mitternacht wurden die Menschen, die sich verängstigt hinter geschlossenen Läden zusammenkauerten, von einem Schauspiel nach draußen gelockt, das, wie d’Agoult schrieb, eines Dante’schen Infer-
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nos ebenbürtig war: Pferd und Wagen, gezogen von einem muskulösen, nacktarmigen Arbeiter, transportierten fünf leblose Körper, darunter »die Leiche einer jungen Frau, deren Hals und Brust von einer langen, breiten Blutspur befleckt waren«. Die Szene wurde von den flackernden, rötlichen Lichtreflexen einer Fackel erleuchtet, die hochgehalten wurde von »einem Kind jener Leute, mit blasser Hautfarbe und brennenden Augen, die starrten …, als würde man den Racheengel vor sich sehen«. Hinter dem Karren schüttelte ein anderer Arbeiter seine Funken sprühende Fackel und »ließ einen grimmigen Blick über die Menge wandern: ›Rache! Rache! Sie schlachten unsere Leute ab!«. Erneut angestachelt, bereiteten sich die Aufständischen auf einen weiteren Kampf vor und eilten zurück zu den Barrikaden. »In diesem Augenblick«, so hielt d’Agoult fest, »besaß die Leiche einer Frau mehr Macht als die tapferste Armee der Welt.«22 Als Louis-Philippe von dem Massaker erfuhr, war er zu einem weiteren Opfer bereit, und rief Thiers und Barrot dazu auf, eine neue Regierung zu bilden, wohl wissend, dass dies nichts weiter war als ein Tropfen auf den heißen Stein. Zugleich zeigte er jedoch seine gepanzerte Faust, indem er Marschall Thomas Robert Bugeaud das Kommando über alle Truppen in Paris übertrug. Bugeaud war ein Veteran der gerade ausgefochtenen Kolonialkriege in Algerien und stand in dem üblen Ruf des »Schlächters« der Rue Transnonain. Thiers und Barrot verkündeten ihr neues Ministerium in der Hoffnung, der Regierungswechsel werde ausreichen, um die Pariser zur Einstellung des Feuers zu überreden. Mutig ritt Barrot von einer Befestigung zur nächsten, bat die Aufständischen, sich zurückzuhalten, wurde aber durch höhnische Rufe wie »Wir wollen keine Feiglinge! Keinen Thiers mehr! Keinen Barrot! Das Volk regiert!« zum Verstummen gebracht. Die Pariser hatten zu viele Opfer gebracht, um es zu einer Wiederholung von 1830 kommen zu lassen, jetzt stahlen sich die Journalisten der La Réforme von Barrikade zu Barrikade und sprachen das Zauberwort »République« aus. In den frühen Stunden des 24. Februar sendete der entfesselte Bugeaud seine Soldaten und schickte vier große Truppenkolonnen durch die Stadt, die versuchen sollten, die Barrikaden wegzuräumen. Der König, dem klar war, dass weiteres Blutvergießen die Lage völlig aussichtslos machen würde, hatte allerdings die diensthabenden Offiziere angewiesen, nicht gleich auf die Aufständischen zu schießen, sondern erst zu verhandeln. Infolgedessen kam es überall in der Stadt zu Pattsituationen, die nicht weiterführten. Der Mangel an Entschiedenheit an der obersten Spitze zeigte, dass das Selbstvertrauen der Regierung
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ins Wanken geraten war. Bis zum Vormittag sollte selbst Bugeaud seine Strategie infrage stellen, und auch seine Offiziere sahen ein, dass ein Sieg über die Barrikaden nicht ohne Blutbad vonstattengehen würde. Die Nationalgardisten hatten sich entweder den Aufständischen angeschlossen oder wollten nicht gegen sie kämpfen, viele Barrikaden wurden belagert. Zudem hatten die Revolutionäre es geschafft, einen Konvoi mit Munition aus dem Arsenal in Vincennes in ihre Gewalt zu bringen. Der Marschall befahl deshalb den Truppen, sich der besseren Verteidigung des Königspalastes wegen in die Tuilerien zurückzuziehen. Tocqueville wurde Zeuge des schmählichen Rückzugs einer Infanteriekolonne, die unter dem Kommando von General Alphonse Bedeau stand: Er glich »einer Flucht. Die Reihen waren aufgelöst, die Soldaten marschierten in Unordnung, mit gesenktem Kopf und verlegenen und furchtsamen Mienen. Sobald einer von ihnen sich einmal aus der Masse löste, wurde er sofort umringt, gepackt, umarmt, entwaffnet und fortgeschickt; das alles geschah in einem Augenblick..23 Weiter östlich davon wurde das Hôtel de Ville, Sitz der Stadtregierung, von Nationalgardisten eingenommen, die sich mit den Revolutionären zusammengetan hatten. Westlich davon entging Tocqueville, der auf der Place de la Concorde von einer Gruppe Aufständischer erwischt worden war, den Prügeln oder noch Schlimmerem, in dem er gerade rechtzeitig ausrufen konnte: »›Es lebe die Reform! Wissen Sie, daß das Ministerium Guizot gestürzt ist?‹ – ›Jawohl, mein Herr, ich weiß es‹«, antwortete spöttisch ein kleiner, stämmiger Arbeiter, indem er auf die Tuilerien zeigte, ›aber wir wollen mehr als das‹.«24 Sowohl das Massaker von der Rue de Capucines als auch der Rückzug von Bedeaus Kolonne waren Symbole für den schrittweisen Verlust an Legitimation und Macht, den die Julimonarchie erlitt.25 Als die Revolutionäre sich dem Palast näherten, drängte Thiers den König, sich aus der Stadt zu entfernen, weitere reguläre Truppen aufzubieten und die Revolution mit Kraft von außen zu zerschlagen. Sehr viel später sollte Thiers diese Strategie gegen die Pariser Kommune von 1871 anwenden. 1848 jedoch wurde er von seinen entsetzten Kollegen, darunter Barrot, in die Schranken verwiesen, und Thiers, der noch keinen ganzen Tag im Amt war, gab nach und schlich sich aus dem Palast. Später wurde er von einer bedrohlich wirkenden Menschenmenge entdeckt und konnte sich nur durch einen Sprung in einen Einspänner retten, der ihn in Sicherheit brachte; während der ganzen Fahrt »gestikulierte, schluchzte und stieß [er] unzusammenhängende Worte aus«.26 Vor dem Palast, auf der Place du Carrousel, war der königliche Gelehrte und Diplomat Adolphe de Circourt mit einem Bataillon der Nationalgarde aufgezo-
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gen – einer jener fünf Einheiten (aus den reicheren, konservativeren westlichen Stadtteilen), die das Regime noch verteidigten. Louis-Philippe ritt an der Spitze dieser loyalen Truppen hinaus, wirkte auf Circourt aber »bleich und wie zu Stein erstarrt«. Nur wenige Hundert Meter entfernt tobte der Straßenkampf, »ein Gewitter aus Gebrüll und Sturmgetöse … Man hatte das vage Gefühl, dass hinter den ersten Einheiten, die sich ein Gefecht lieferten, eine unermessliche Menschenmenge dräute, die weder von einer moralischen noch von einer geistigen Macht länger aufgehalten oder zum Umkehren gebracht werden konnte.«27 Der vorerst letzte Widerstand erhob sich beim Château d’Eau, das eine der Hauptzufahrtsstraßen zu den Tuilerien bewachte. Das zweistöckige Wachhaus mit vergitterten Fenstern gleich bei der Brunnenanlage, von der es seinen Namen hatte, wurde von mehreren Hundert Männern des jetzt verhassten 14. Regiments und zehn Munizipalgardisten verteidigt. In dem erbitterten Kampf, lebhaft von Gustave Flaubert geschildert, schwirrte es von Kugeln, die Luft wurde von den Schreien der Verwundeten und den Trommelwirbeln zerrissen.28 Weil das Mauerwerk des Brunnens durch das Gemetzel der Musketen schwer beschädigt wurde, strömte nun das Wasser über den Platz, um sich mit dem Blut der Gefallenen und Verwundeten zu mischen. Daraufhin trafen die Aufständischen die schreckliche Entscheidung, den mörderischen Kampf zu beenden, indem sie Fuhrwerke, beladen mit brennendem Stroh und Petroleum, in das Wachhaus fahren ließen. Als dieses brannte, öffnete ein Offizier, der wegen des Feuers am Ersticken war, die Tür, um zu fliehen – und wurde erschossen. Seine Männer drängten hinter ihm hinaus und warfen die Waffen zu Boden, um verzweifelt ihre Kapitulation anzuzeigen. Die siegreichen Angreifer stürmten indessen vorwärts und bemühten sich, das Feuer zu löschen, wobei sie über geschwärzte Leichen und verkohlten Schutt stolperten.29 Unter den Verwundeten der revolutionären Seite befand sich der Schneider Buacher, der von mehreren Musketenkugeln getroffen worden war. Sein zerschmetterter Arm wurde später amputiert, und seine Unterschrift unter dem im Archiv aufbewahrten Testament weist das typische Zittern einer Schrift auf, die mit der falschen Hand geschrieben wurde.30 Während das Château d’Eau brannte, sackte der König unter den Augen seiner hilflosen Höflinge auf einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer zusammen. Die Politiker erteilten ihm widersprüchliche Ratschläge, und es war der gerissene Zeitungsmann Émile Girardin, Herausgeber der La Presse, der am Mittag vortrat und Louis-Philippe barsch drängte: »Dankt ab, Sire!« Als man ihm sagte, dass eine weitere Verteidigung unmöglich sei, setzte sich der erschöpfte König
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Die letzten Stunden der Julimonarchie: Die Kämpfe rund um das brennende Château d’Eau, Paris 24. Februar 1848. Gemälde von Eugène Hagnauer. (Bridgeman Art Library)
an Napoleons alten Ahornschreibtisch und trat formal seinen Thron ab, den er nun seinem Enkel, dem zehnjährigen Grafen von Paris, überließ, wobei die Mutter des Jungen, Hélène, Herzogin von Orléans, als Prinzregentin fungierte. Gekleidet (wie er es so gern tat) in eine einfache bürgerliche Aufmachung, schritt Louis-Philippe mit seiner Gemahlin Marie-Amélie zügig durch die Gärten der Tuilerien. Dort bestiegen beide eine Kutsche, die schon auf der Place de la Concorde wartete, von wo aus sie abreisten, von königstreuen Kavalleristen eskortiert. Am 26. Februar erreichten sie Honfleur, wo ihnen der britische Vizekonsul (ob aus Fantasielosigkeit oder Sarkasmus) den Decknamen »Mr und Mrs Smith« gab. Am 3. März landeten sie in England, wo Louis-Philippe im August 1850 verstarb.31 Unterdessen stürmten die Revolutionäre triumphierend den verlassenen Palast. Dazu wieder Flaubert: »Schwindelerregende Wogen von bloßen Köp-
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fen, Kappen, roten Mützen, Bajonetten und Schultern stürzten in […] gewaltigem Anprall die Treppen herauf.« Arbeiter nutzten die Gelegenheit, sich auf den Thron zu setzen (der Erste, so Flaubert, »mit dem heiter-stumpfsinnigen Aussehen eines häßlichen Affen«). Auf dem königlichen Sitz stand geschrieben: »Die Menschen von Paris an ganz Europa: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 24. Februar 1848«. Danach nahmen die Dinge eine unschöne Wendung: Die Menschenmenge zerstörte Möbel, Porzellan und Spiegel.32 Am nächsten Tag wurde der Thron zur Place de la Bastille gebracht und feierlich verbrannt. Die Herzogin von Orléans hatte mit ihrem Sohn Zuflucht in der Abgeordnetenkammer gesucht, wo sie Zeugin der Abdankung der letzten Monarchie Frankreichs wurde, »in Trauerkleidung, blass und still«, wie Tocqueville festhielt, der ihren Mut bewunderte. Nationalgardisten mit wehenden Fahnen, drängten sich Seite an Seite mit begeisterten Parisern, die Säbel, Musketen und Bajonette schwangen. Als sie vom Zuschauerrang aufs Parkett strömten, wurde Barrot, der die Prinzregentin schützen wollte, übertönt. (Später sah man ihn ziellos, verwirrt und ungepflegt durch die Straßen irren.) Lamartine, mit »seiner langen, geraden und schlanken Gestalt«, kletterte auf die Tribüne.33 Obwohl kein Republikaner, wusste er doch als Historiker, dass in der französischen Vergangenheit Regentschaften zumeist katastrophal verlaufen waren.34 Unter dem Beifall der Menge verlas er eine Liste der Mitglieder einer provisorischen Regierung – zusammengestellt nach einer früheren Übereinkunft mit den Republikanern der National-Richtung. Zugleich war er gezwungen, die Rolle der Pariser bei der Revolution anzuerkennen, so reagierte der Schriftsteller auf den Ruf »Auf zum Hôtel de Ville!«, indem der vom Podium stieg und in den Gleichschritt des sympathischen, linksgerichteten und redegewandten Republikaners Alexandre Ledru-Rollin einfiel. Während sie zusammen zum traditionellen Sitz des Pariser Radikalismus marschierten, hatte der korpulente Ledru-Rollin Mühe, mit Lamartines langen Beinen Schritt zu halten. Auf seine atemlosen Klagen entgegnete Lamartine: »Wir ersteigen den Kalvarienberg, mein Freund.«35 Minister für Minister wurde nun aus den Fenstern des Ratssaals die provisorische Regierung verkündet, die einen Kompromiss zwischen der National- und der Réforme-Richtung darstellte. Die gemäßigte Mehrheit wurde durch Lamartine als Außenminister, François Arago, Astronom und Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften, als Zuständigen für Heer und Marine, sowie Louis-Antoine Garnier-Pagès als Minister für Finanzen vertreten. Der Réforme-Richtung als starker Minderheit gehörten an: Ledru-Rollin als Innenminister und zwei Minister ohne Ressort – der Sozialist Louis Blanc und
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ein Arbeiter namens Alexandre Martin, bekannt als »Albert«, der sich seine republikanischen und revolutionären Sporen im Untergrund verdient hatte. Mit der symbolischen Ernennung des betagten republikanischen Veteranen Jacques-Charles Dupont de l’Eure zu einem weiteren Minister ohne Ressort war die lebende Rückbindung zur Ersten Republik geschaffen. In den frühen Morgenstunden des 25. Februar trat Lamartine theatralisch auf den Balkon und erklärte: »Die Republik wurde ausgerufen!« Seine Worte entfesselten begeisterten Jubel.
III
Beschleunigt durch die Wunder der modernen Welt – Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraf – verbreitete sich die Nachricht von den Februartagen in Paris wie ein ein Lauffeuer und brachte Europa in Wallung. In den Worten von William H. Stiles, amerikanischer Chargé d’Affaires in Wien, »fiel sie wie eine Bombe unter die Staaten und Königreiche des Kontinents; und wie widerwillige Schuldner, denen man mit einer Klage droht, beeilten sich die Monarchen, ihren Untertanen die Verfassung zu entrichten, die sie ihnen schuldeten«.36 Die Neuigkeiten gelangten rasend schnell nach Deutschland. An der Universität Bonn wurde der achtzehnjährige, den Radikalen angehörende Student Carl Schurz in seiner Dachstube bei der Arbeit von einem Freund unterbrochen, der ihm die Neuigkeiten überbrachte. Kurzerhand warf der seine Feder hin und schloss sich einer Schar Studenten auf dem Marktplatz an: »Man war von einem vagen Gefühl beherrscht, als habe ein großer Ausbruch elementarer Kräfte begonnen, als sei ein Erdbeben im Gange, von dem man soeben den ersten Stoß gespürt habe, und man fühlte das instinktive Bedürfnis, sich mit andern zusammenzuscharen.« Das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Einheit, früher als revolutionär verbannt, flatterte nun öffentlich, und selbst die anständigen, gemäßigten Bürger der Stadt trugen diese Farben an ihren Hüten.37 Der Enthusiasmus unter den deutschen Liberalen und Radikalen wirkte ansteckend. In Mannheim, zum Großherzogtum Baden gehörig, organisierte der republikanische Anwalt Gustav Struve eine politische Versammlung, auf der eine Petition entworfen wurde, die Pressefreiheit, Schwurgerichte, ein Volksheer, Verfassungen für jeden deutschen Staat und Wahlen zu einem
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gesamtdeutschen Parlament forderte. Angesichts einer großen Demonstration in seiner Hauptstadt Karlsruhe gab der Großherzog zwei Tage später nach, ernannte ein liberales Ministerium und erlaubte die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Struves Petition wurde in ganz Deutschland gedruckt, verteilt und dann den deutschen Herrschern während der beflügelnden Märztage vor die Füße geworfen, daher auch der Name »Märzforderungen«. Die Regenten von Württemberg und Nassau lenkten ein, und in Hessen-Darmstadt dankte der Großherzog lieber zugunsten seines Sohnes ab, als sich zu fügen. Der zweite deutsche Monarch, der 1848 seinen Thron verlor, war der unglückselige König Ludwig I. von Bayern, dessen Geliebte, schillernd und umstritten, die Tänzerin und Femme fatale Lola Montez, zur Zielscheibe der Opposition geworden war. Während sich Lola am 12. Februar dem Hass der Münchner durch Flucht außer Landes entzogen hatte, schlugen die Liberalen im darauffolgenden Monat zu, solange das Eisen der Revolution noch heiß war. Am 4. März wurde das königliche Zeughaus gestürmt, und zwei Tage später nahm Ludwig die Märzforderungen an. Doch seine Beziehung zu Lola hatte katholische Empfindlichkeiten am Hof brüskiert, und selbst die Konservativen ließen ihn fallen. Die Situation wurde allein durch den klugen Prinzen Karl von Leiningen geklärt, der ihn überredete, abzutreten und seinem Sohn Maximilian zu erlauben, das Ruder des freien Staates zu übernehmen. Während Leiningen der bayerischen Monarchie diesen Dienst tat, waren Bauern in seine eigenen Besitzungen in Amorbach eingedrungen und hatten dort alles geplündert. Weiter östlich, in Dresden, zwangen am 6. März Demonstrationen, die von dem radikalen Robert Blum und dem gemäßigten, liberalen Journalisten Karl Biedermann organisiert wurden, König Friedrich August II. von Sachsen zur Einberufung des Landtags, um Reformen zu verfügen und seinen unbeliebten konservativen Minister Falkenstein zu entlassen. Während sich die einzelnen Staaten reformierten, witterten Liberale und Radikale die Gelegenheit, Deutschland eine neue, einheitlichere Form zu geben. Am 5. März fegte eine Versammlung aus 51 Delegierten der eben befreiten Staaten die Bundesversammlung des alten Deutschen Bundes davon – sie protestierte nur schwach – und bahnte sich den eigenen Weg in die Zukunft. Wie im Fieber beschloss sie die Einberufung »einer vollständigeren Versammlung von Männern des Vertrauens aller deutschen Volksstämme«,38 ein »Vorparlament«, das in Frankfurt zusammenkommen sollte, um die Wahlen für eine deutsche Nationalversammlung vorzubereiten, die ihrerseits eine gesamtdeutsche Verfassung ausarbeiten sollte.
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Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die deutsche Revolution nur das »dritte Deutschland« erfasst – die kleineren Staaten zwischen den großen Machtblöcken Preußen und Österreich. Letztere hatten dem Sturm zunächst standgehalten. Im Westen wurde das preußische Rheinland von der Strömung mitgerissen, sodass es Delegierte zur Heidelberger Versammlung entsandte. Am 3. März kam es in Köln zu einer Demonstration von Arbeitern, an deren Spitze der radikale Sozialist Andreas Gottschalk stand, der unter anderem den Schutz der Arbeit, eine kostenlose Erziehung und Maßnahmen zum Schutz der Armen einklagte. Das Heer schritt ein, trieb die 3000 Protestierer auseinander und verhaftete die Anführer. Preußens Fundament war also noch intakt. Genauso verhielt es sich bei der anderen großen deutschen Macht Österreich, wo zwar der Griff der absoluten Monarchie lockerer wurde, doch nach wie vor das europäische Imperium zusammenhielt. Aus diesem Grund sollte ein Aufstand in der habsburgischen Hauptstadt Wien nicht nur der Revolution in Deutschland, sondern in ganz Europa frische Schwungkraft verleihen. Die Februarrevolution in Paris hatte zur ersten großen Erschütterung der Restauration im Jahr 1848 geführt, der zweite ebenso fundamentale Schlag gegen das alte Regime brachte den Sturz Metternichs. Der alternde Kanzler wurde in einem Telegramm seines Freundes, des Bankiers Salamon Rothschild, von der Revolution in Frankreich unterrichtet. Dieses traf am 29. Februar um 17 Uhr bei ihm ein – und damit kurz bevor die Wiener Bevölkerung selbst aus einer der wenigen zugelassenen ausländischen Zeitungen, der Augsburger Zeitung, die Nachricht erfuhr. Der Diplomat William Stiles beobachtete damals, wie sich »die Menschen in Gruppen auf den Straßen, in den Cafés und Lesesälen zusammenfanden und sich mit einer Freizügigkeit und Ernsthaftigkeit mitteilten, wie es den Gewohnheiten der ruhigen und phlegmatischen Deutschen sonst fremd war«.39 Der Kanzler selbst indessen blieb optimistisch: Während der ersten zehn Märztage versicherte ihm der Polizeipräsident Graf Josef von Sedlnitzky, der das Risiko eines Umsturzes bestimmt nicht herunterspielen wollte, dass es in Wien keinen Grund zur Besorgnis gebe. Die Ereignisse im gewohnt schwierigen Ungarn sollten seine Vorhersage allerdings widerlegen. Am 1. März erreichte die Nachricht von der Pariser Revolution den ungarischen Landtag, der seit November in Preßburg tagte. Dort hatte man quälende Debatten um die Leibeigenschaft hinter sich, doch nun schien eine umfängliche Reform erstmals in Reichweite. Am 3. März erhob sich Lajos Kossuth im Abgeordnetenhaus und hielt eine Rede, die sich als »Antrittsrede der Revolution«40 erweisen sollte. Der Habsburger Absolutismus,
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so erklärte er, sei »verpestete Luft […], die unsere Nerven und sogar unsern Geistesflug bannt«. Ungarn solle »unabhängig, national und frei von fremder Einmischung« sein, an Österreich nur durch ein dynastisches Band gebunden, durch das der Kaiser weiterhin König von Ungarn sei. Kossuth ging weiter und führte aus, dass eine politische Generalüberholung Ungarns ohne eine Reformierung des übrigen Reiches nichts bringe, alle Untertanen des Kaisers bedürften des Wandels. »Das Haus Habsburg«, donnerte er, »muß also wählen zwischen seinem Eigeninteresse und der Aufrechterhaltung eines morsch gewordenen Systems.«41 Der Donnerhall sollte Folgen haben, erreichte er doch Wien als ein ins Deutsche übersetztes Manuskript, adressiert an den Juridisch-Politischen Leseverein. Schnell druckte man geheime Kopien davon und brachte sie in der Reichshauptstadt in Umlauf. Zunächst waren die Hoffnungen der Liberalen auf den niederösterreichischen Landtag gerichtet, der für den 13. März angesetzt war. In gespannter Erwartung sammelte eine radikale »Fortschrittspartei« unter Führung von Alexander Bach mehrere Tausend Unterschriften in einer Petition (die von Bach zu Pferd durch die Straßen befördert wurde), in der eine parlamentarische Regierungsform und die österreichische Beteiligung bei der Reformierung des Deutschen Bundes verlangt wurde.42 Doch die Staatskonferenz – der innere Kreis aus Familienmitgliedern und Ministern, der als beratende Körperschaft im Namen des Kaisers Ferdinand fungierte – war in sich gespalten: Die einen rieten zu Konzessionen, die anderen, darunter Metternich, drängten darauf, keine Schwäche zu zeigen. Zunächst setzten sich Letztere durch. Dank Studenten der Wiener Universität erhielt die liberale Opposition eine Verjüngungskur. Viele der jungen Leute waren typische verarmte Studenten, die in Dachstuben lebten, die verbotene politische Literatur schmökerten, sich Geheimgesellschaften anschlossen und von angestaubten konservativen Professoren unterrichtet wurden. Berauscht von der politischen Erregung ließen sie jetzt eine »Adresse« zirkulieren, in der Rede- und Pressefreiheit, freie Religionsausübung, Lehrfreiheit, Verbesserungen im Bildungssektor, eine repräsentative Regierung und die Teilhabe aller deutschsprachigen Reichsteile am neuen Deutschland gefordert wurde. Sie begeisterten sich noch mehr, als am 12. März der liberale und beliebte Theologe Anton Füster in der sonntäglichen Frühmesse eine leidenschaftliche Predigt hielt, in der er erklärte, dass die Fastenzeit eine Zeit der Hoffnung sei und die Wahrheit siegen werde, solange die Studenten mutig handelten.43 Schließlich besetzten sie die Aula der Universi-
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tät, wo die Petition in tumultartiger Begeisterung bald ganz mit Unterschriften bedeckt war. »Die Gewitterluft durchzog alle Herzen«, erinnert sich ein Student. »Die Studirenden[!] geboten zum ersten Male den Professoren, die verkehrte Welt trat ein, Zöpfe faßten sich bei den Haaren und meinten, die Welt gehe zu Grunde oder die ganze Jugend müsse beim nächsten Examen eine ›Zwei‹ bekommen … war doch am nächtlichen Himmel endlich ein Schein, ein Abglanz einer Morgenröte angebrochen! – Ob der Morgen wirklich kommen würde?«44 Die Studenten kamen überein, dass sie am folgenden Tag en masse zur Eröffnung des Landhauses marschieren wollten, um ihre Petition den niederösterreichischen Landständen zu präsentieren. Noch in der Nacht stahlen sich Studenten durch die Stadttore hinaus in die ärmeren Vororte, wo sie die Wiener Arbeiter weckten, um Schlagkraft für ihre Sache zu gewinnen. Um dem entgegenzutreten, stellten die Behörden die Tore unter strenge Bewachung, während es dem Hof allmählich dämmerte, dass Zugeständnisse womöglich nötig seien. Doch es war bereits fünf nach zwölf. Früh am Morgen des 13. März strömten etwa 4000 Studenten aus ihren Vorlesungen, taub für die Warnungen ihrer Professoren, und marschierten zum Landhaus, das gleich um die Ecke von Metternichs Kanzleramt auf dem Ballhausplatz lag. Respektable, überwiegend bürgerliche Akademiker – darunter gut situierte Anwälte, Ärzte, Unternehmer, kauzige Bohèmedichter und extravagante Künstler – schlossen sich erwartungsvoll dem Pulk an, als die Ständeversammlung eröffnet wurde. Von ihrem Beobachtungsposten an einem Fenster des Kanzleramtes aus bemerkte Metternichs dritte Ehefrau Melanie verächtlich: »Sie brauchen nichts anderes als einen Würstchenstand, um glücklich zu sein.«45 Schließlich brachte ein blasser und bärtiger Arzt namens Adolf Fischhof das richtungslose Tohuwabohu zur Ruhe. Auf den Schultern von vier Genossen stehend, erklärte er lauthals: »Es ist ein großer, bedeutungsvoller Tag, an dem wir uns hier zusammenfinden«, worauf er die Leute drängte, den Landständen die Forderungen der liberalen Opposition zu übermitteln.46 Jetzt kletterte ein Sprecher nach dem anderen – »blass vor Schreck über die eigene Courage«,47 wie Stiles scharfsinnig feststellte – auf Brüstungen oder Balkone, um Ansprachen an das Publikum zu richten, das seinerseits die Redner bejubelte und seiner Wut auf Metternich Luft machte. Gerade als der Präsident der Landstände, Graf Albert Montecuccoli, die Menge beruhigen wollte, indem er einer Abordnung die Übergabe der Petition erlaubte, kam ein Tiroler Journalist mit Namen Franz Putz auf den Platz. Er hielt Kopien von Kossuths Rede hoch und kletterte auf den Brunnen in der
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Mitte. Jeder wusste von der Rede des großen Ungarn, doch nur wenige kannten ihren Inhalt. Jetzt rief Putz aus vollem Hals die bedeutsamen Worte – darunter »Freiheit«, »Rechte« und »Verfassung« – über die Köpfe der Menge hinweg. Dann öffnete sich das Fenster des Landhauses quietschend und Kopien der Bittschrift, die die Landstände selbst eingereicht hatten, segelten auf die Menschenmenge hinunter. Diese war im Vergleich enttäuschend zahm und »jeder Paragraf … wurde mit schallendem Gelächter willkommen geheißen«.48 Die Katze der Verfassung war jetzt aus dem Sack: Verärgert zerrissen Studenten das Gesuch der Landstände. Rufe wie »Keine halben Sachen!«, »Kein Aufschieben!« und »Verfassung! Verfassung!« wurden in der Menge laut. Die Stimmung begann sich ins Bedrohliche zu wenden, und ein unbedeutender Fehler ließ sie in Gewalt umschlagen. Mit vorbildlicher, aber unter diesen Umständen unangemessener Tüchtigkeit erfüllte der Pförtner seine mittägliche Pflicht und schloss die Seitentür des Landhauses. Für die Leute, die nicht wussten, dass das Routine war, konnte dies nur bedeuten, dass man ihre zwölf Delegierten eingesperrt hatte. Eine Horde von Studenten und, wie Baron Carl von Hügel es ausdrückte, »Eindringlinge der besseren Klasse«49 schlugen die Tore ein und stürmten den Sitzungssaal. Um die Gemüter zu beruhigen, stimmte Montecuccoli zu, das liberale Programm zu billigen, zur königlichen Residenz in der Hofburg zu fahren und die Forderungen dem Kaiser vorzulegen. Inzwischen hatte der kaiserliche Hof seine Soldaten unter dem Kommando von Erzherzog Albert aus den Kasernen beordert. Dessen Befehl lautete auf Zerstreuung des Auflaufs, aber wenn möglich ohne Verlust von Menschenleben. Die Menschenmenge strömte jetzt vom Landhaus über den Ballhausplatz und ergoss sich in Richtung Hofburg, wo sie Kanonenmündungen und einer Reihe aufgepflanzter Bajonette gegenüberstand. Sofort hagelte es für Soldaten Beleidigungen und Geschosse. Wien holte nun Atem für eine gewaltsame Auseinandersetzung: Händler vernagelten ihre Geschäfte mit Brettern, Arbeitergruppen, aus den Vorstädten hereingekommen, vagabundierten durch die Straßen, bewaffnet mit Werkzeugen, Eisenstangen, Mistgabeln und Holzdeichseln. Gegen diesen proletarischen Zustrom stemmte sich die Obrigkeit, indem sie alle Tore für den Verkehr schloss, doch die Arbeiter versuchten, sich den Weg freizuschlagen: Laternenpfosten, die das Glacis – den freien Platz vor den Stadtmauern – erhellten, wurden herausgerissen und als Rammböcke benutzt. Das zischend entweichende Gas entzündete sich und verbreitete bald darauf einen gespenstischen Schein über der Stadt. Die erste Schlacht um die Stadttore gewannen die Soldaten, die sofort Kanonen auf die Bastionen rollten. Aus-
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geschlossen von der Revolution, die innerhalb der Mauern stattfand, ließen die Arbeiter jetzt ihrer Frustration über die wirtschaftlichen Missstände freien Lauf. Sie brachen in Fabriken ein und zerschlugen die Maschinen, plünderten Bäckereien und Lebensmittelläden oder griffen die Anwesen der Großgrundbesitzer an.50 Vor der Hofburg wurde Erzbischof Albert von einem Stein getroffen, als er an die Bürger appellierte, nach Hause zurückzukehren. Schließlich rückten die Soldaten vor und wurden mit einem Bombardement aus Steinen empfangen, selbst Möbel schleuderte man aus den oberen Stockwerken. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, brüllte ein Regimentskommandeur schließlich den Befehl: »Mit aufgepflanztem Bajonett vorwärts und Feuer!« Die ersten Schüsse der österreichischen Revolution sollten vier Menschenleben kosten, eine Frau wurde zu Tode getrampelt, als die Menge in Panik vor den rauchenden Musketen floh.51 Überall in der Stadt begannen nun Straßenkämpfe, und nur das rechtzeitige Eingreifen seiner Soldaten bewahrte Erzherzog Albert davor, vom Pferd geschleudert zu werden.52 Schließlich durchbrachen die Arbeiter der Vorstädte eines der Stadttore – das Schottentor – und versuchten erfolglos, das Arsenal zu stürmen. Die Soldaten konnten die Plätze und Hauptdurchfahrtsstraßen unter Kontrolle halten, doch die Studenten, Bürger und Arbeiter verteidigten mit Barrikaden die Seitenstraßen. Um 17 Uhr wurde ein instabiler Waffenstillstand ausgehandelt, die Bürgergarde versprach, die Ordnung aufrechtzuerhalten, vorausgesetzt die Truppen würden aus Wien abgezogen, die Studenten dürften ihre eigene Miliz gründen (eine »Akademische Legion«) und Metternich würde bis 21 Uhr entlassen. Allem stimmte die Regierung zu, mit Ausnahme von Metternichs Kopf. Der Bürgergarde und der Akademischen Legion gaben die Wiener bereitwillig nach, denn die Gewaltbereitschaft der Fabrikarbeiter hatte sie in Angst und Schrecken versetzt. Dieser Umstand und die revolutionäre Begeisterung waren auch der Grund dafür, dass die Zivilgarde sofort durch neue, dem Bürgertum entstammende Rekruten verstärkt wurde, die umgehend 40 000 Waffen aus dem Arsenal schafften. Die Zeit verstrich, während die Staatskonferenz über das Schicksal Metternichs beriet. Der Kanzler, der unter Bewachung vom Ballhausplatz in die Hofburg gelangt war, prächtig anzusehen in seinem grünen Frack und mit Seidenkrawatte, den Gehstock mit Goldknauf in der Hand, wurde auf qualvolle Weise zum Rücktritt gedrängt. Minuten vor Ablauf des Ultimatums verließ er heimlich die Hofburg, in einem unauffälligen Fiaker reisten er und Melanie in der Nacht aus Wien ab, bestiegen außerhalb der Stadt eine neue Kutsche und fuh-
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ren zu dem Zug, der sie durch halb Europa bringen sollte. Fast vierzehn Tage brachten sie in Den Haag zu, wo sie darauf warteten, dass in London die revolutionäre Bedrohung durch die Chartisten vorbeiging. Am 21. April verkündete die Times ihre Ankunft auf einem Dampfboot aus Rotterdam.53 Als der 14. März anbrach, feierten die Wiener den Sturz Metternichs, bezweifelten aber völlig zu Recht, dass die Regierung auch nur einen weiteren Millimeter nachgeben würde, vielmehr glaubten sie, dass sie die Ordnung mittels Kriegsrecht wiederherzustellen hoffe. In einer letzten Amtshandlung hatte denn auch Metternich die Staatskonferenz überredet, dem feuerspeienden Prinzen Alfred Windischgrätz volle zivile und militärische Gewalt einzuräumen, um die kaiserliche Autorität in Wien wiederherzustellen. Vor den Stadtmauern war das Heer noch immer präsent, und, abgesehen von der Pressefreiheit und einer neuen Nationalgarde waren bürgerliche Freiheiten nicht in Sicht, geschweige denn eine Verfassung. Doch das Gleichgewicht der Kräfte wurde endgültig gestört, als Windischgrätz am 15. März den Ausnahmezustand über Wien verhängte. Die schwelende Revolution wurde einmal mehr angefacht – wobei sie in den Vorstädten nie erloschen war, da die Angriffe auf Fabriken und Geschäfte fast ungehindert weitergingen. Mittags wurde Ferdinand überredet, durch die Stadt zu reiten und die Gemüter zu beruhigen, und tatsächlich ließen ihn die versammelten Menschen hochleben. Doch seine Parade war nur ein Placebo, denn die Leute drückten sich am Nachmittag noch immer erwartungsvoll um die Hofburg herum. Schließlich wurde der Staatskonferenz, darunter auch Windischgrätz, klar, dass es besser sei, eine Verfassung zu garantieren und dann weiteren Forderungen zu widerstehen, als einen Massenaufstand zu riskieren. Am 15. März, um 17 Uhr, ritt ein Bote vor die Palasttore und verlas das kaiserliche Patent. Ganz Österreich wurde darin aufgefordert, Abgeordnete zu entsenden, um »die Verfassung, die Wir uns entschlossen haben, zu gewähren« zu besprechen.54 Die Reichshauptstadt jubelte: »In Wien schien sich die ganze Angelegenheit gewendet zu haben, gleichsam wie von Zauberhand … Die Geheimpolizei war gänzlich aus den Straßen verschwunden; die Schaufenster in Buchhandlungen waren jetzt vollgestopft mit verbotenen Schriften, die wie Verbrecher lange Zeit vom Tageslicht ferngehalten worden waren; Jungen verkauften überall auf den Straßen Reden, Gedichte und Stiche, Anschauungsmaterial zur Revolution – die ersten Resultate einer von ihren Fesseln befreiten
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Nach Aufhebung der Zensur verbreiteten sich Zeitungen rasant: Menschen (und ein Hund) aus allen Gesellschaftsschichten und allen Teilen des Habsburgerreichs, darunter auch ein Ungar, der seinen Schnurrbart zwirbelt, und ein bewaffneter Tiroler, strömen in Wien zusammen, um die Früchte der freien Presse zu genießen. (akg-images)
Presse. Währenddessen formierten sich die neubewaffneten Bürger zu einer Nationalgarde, marschierten Schulter an Schulter mit dem regulären Heer und hielt in Einklang mit diesem die öffentliche Ordnung aufrecht.«55 Ein Wiener schrieb aufgeregt, dass »das Wort ›Verfassung‹ dem Strom der Zeit eine neue Bewegung verleiht – eine Bewegung, die auf dem gesamten Globus zu spüren sein und manche Säule des Absolutismus mit Blitz und Donner schlagen wird«.56 Und während die Länder Mitteleuropas die Kunde aus Paris mit leisem Brodeln quittiert hatten, genügte nun ein Wort aus Wien, um sie zum Überschäumen zu bringen.
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In den frühen Morgenstunden des 14. März wurde Erzherzog Stephan, Vizekönig beziehungsweise Palatin von Ungarn, von einem Boten aus Wien geweckt. Jener war auf donnernden Hufen herbeigeeilt, um die Nachricht von Metternichs Sturz zu überbringen. Stephan, dem an Ungarn gelegen war, berief sogleich eine Krisensitzung der Magnatentafel* des ungarischen Landtags in Preßburg ein. Sofort war man sich dort einig, dass der Landtag eine eigene ungarische Regierung fordern solle, ebenso eine Reform der Verwaltungsbezirke, eine breitere Volksvertretung und (hier kam das Thema Nationalismus zum Tragen) die Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn. Zudem kam man überein, dass Delegationen beider Gremien nach Wien reisen und dem Kaiser persönlich eine Petition überreichen sollten. Noch am gleichen Abend wurde Kossuth von Studenten in einer Fackelprozession als Held bejubelt und dazu ermutigt, den liberalen Grafen Lajos Batthyány als nächsten ungarischen Ministerpräsidenten vorzustellen. Am nächsten Tag ging bei stürmischem Wetter eine 150 Mann starke ungarische Abordnung – darunter der feurige Kossuth und der gemäßigte Graf István Széchenyi – an Bord zweier Donaudampfschiffe mit Ziel Wien. Ihre Ankunft um 14 Uhr, gerade einmal zwei Stunden bevor der Kaiser seinen österreichischen Untertanen die Verfassung versprach, war triumphal. Wegen ihrer Ankunft per Schiff als »Argonauten« betitelt, glänzten die Magnaten mit federgeschmückten Pelzmützen, goldbortenbesetzten Gehröcken, roten Hosen, reich verzierten Schwertscheiden und kniehohen Stiefeln, an denen die Sporen klirrten. Am 16. März wurde Kossuth morgens auf den Schultern jubelnder Österreicher zur Hofburg getragen. Am Hof stellten die Ungarn fest, dass der Kaiser – angeschlagen, blass und mit hängendem Kopf – von der Staatskonferenz schon präpariert worden war, allem zuzustimmen, was die Ungarn forderten. Tatsache war, dass Széchenyi und Batthyány in der Nacht in aller Stille Erzherzog Stephan dazu bewegt hatten, den Erzkonservativen am Hof gegenüber hart zu bleiben, denn nachzugeben sei besser, als einen Aufstand für die ungarische Unabhängigkeit zu riskieren. Jetzt gingen die Ungarn sogar noch weiter und
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Bei der Magnatentafel handelte es sich um die erste Kammer des ungarischen Landtags, sie bestand aus vom König berufenen oder von Amts wegen delegierten Mitgliedern (Anm. d. Übers.)
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forderten, dass Batthyány mit der Regierungsbildung beauftragt werde und jedes Gesetz, das vom ungarischen Landtag verabschiedet werde, automatisch ratifiziert sei. Dies ging dem inneren Kreis des Kaisers zu weit, er lehnte diese Forderungen rundheraus ab. Nun passierte das, was später dazu führen sollte, dass Batthyány sein Leben vor einem Exekutionskommando und Stephan seine politische Karriere im Exil beendete. Unter Umgehung der gesamten Staatskonferenz eilte Stephan direkt zum Kaiser und entlockte dem geistesschwachen Herrscher die persönliche Zustimmung, dass Batthyány zum Ministerpräsidenten von Ungarn ernannt würde. Somit gewährte der kaiserliche Erlass vom 17. März Ungarn eine eigene, dem Landtag verantwortliche Regierung und bestellte Stephan, ausgestattet mit voller Machtbefugnis, die Reformen durchzuführen, zum Statthalter des Kaisers. Unverzüglich ernannte er Batthyány zu seinem Ministerpräsidenten. Das neue Kabinett umfasste ein breites politisches Spektrum, angefangen bei Széchenyi, einem Verfechter schrittweiser Reformen, bis hin zum radikalen Kossuth. Ersterem sträubten sich bei dem Gedanken die Haare, zusammen mit Letzterem im Dienst des Landes zu stehen: »Ich habe eben mein Todesurteil unterschrieben«, notierte er und fügte später hinzu: »Ich werde mit Kossuth zusammen gehängt werden.«57 Die Staatskonferenz war deshalb so verhalten, weil ihre Macht allerorten am Schwinden schien – ob in Budapest oder Prag, ob in Mailand oder Venedig. Die Konzessionen wurden daher aus schierer Überlebensnotwendigkeit gemacht. Während die politischen Führer der Ungarn Wien weitreichende verfassungsrechtliche Konzessionen abrangen, fand derweil in Budapest eine Revolution statt, die ihrem Namen Ehre machte. Nachdem Kossuth am 3. März seine berühmte Rede gehalten hatte, eröffnete er nun in Erwartung einer harten konservativen Opposition eine zweite Front, indem er die Radikalen der Hauptstadt – darunter aufgeheizte Studenten und Journalisten – drängte, seiner vor dem Parlament gehaltenen Rede mit einer allgemeinen Petition mehr Gewicht zu verleihen. Die Radikalen setzten für den 19. März, den Tag einer großen Handelsmesse und somit ideal für das Unterschreiben der Petition durch Tausende, ein riesiges Bankett im französischen Stil an. Die Aufgabe, das Dokument zu entwerfen, fiel der »Gesellschaft der Zehn« zu, die sich aus dem »Jungen Ungarn« rekrutierte, einem Kreis demokratischer ungarischer Schriftsteller. Deren Anführer war der Dichter Sándor Petöfi, doch die Petition wurde von dem jungen Journalisten József Irinyi niedergeschrieben, dessen »Zwölf Punkte« sich zum Revolutionsprogramm der Ungarn entwickelten. Sie beinhalteten die klassischen Forderungen von 1848 – Redefreiheit, Minister-
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verantwortlichkeit (Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament) und regelmäßig einberufene Landtage, bürgerliche Gleichberechtigung und freie Religionsausübung, eine Nationalgarde, Steuergleichheit und Schwurgerichtsverfahren. Sie verlangten eine Amnestie für alle politischen Gefangenen und das Ende jeglicher Feudallasten für die Bauern. Auch radikale nationalistische Inhalte waren darin zu finden: etwa ein eigenständiges Parlament in Budapest sowie der Abzug aller nicht ungarischen Soldaten von ungarischem Boden. Siebenbürgen sollte ohne Rücksicht auf die Ansichten der Rumänen ein Teil Ungarns werden. Dass Ungarn eigentlich ein Vielvölkerstaat war, ließ die Forderung nach einer Bürgerwehr noch einmal besonders akut werden. Schließlich betrachteten die Radikalen die ungarische Armee als reaktionäre Kraft, rekrutierte sie sich doch vor allem als Offizierskorps aus nicht magyarischen Bauern des Königreichs und deutschsprachigen Offizieren aus Adelskreisen.58 Während man die zwölf Punkte noch diskutierte, erreichte Budapest am 14. März per Dampfschiff die Nachricht von Metternichs Abreise. Am folgenden Tag beschloss eine kleine Gruppe Radikaler auf einer frühmorgendlichen Sitzung in Petöfis Wohnung, unverzüglich zu handeln. Später am Morgen gingen sie durch den strömenden Regen zu ihrem Stammlokal, dem Café Pilvax, wo sich eine jubelnde Menschenmenge erwartungsfroh versammelt hatte. »Im Café«, schrieb ein Augenzeuge, »gab es einen Riesenauflauf, hitzige Debatten und tumultartige Szenen.« Die zwölf Punkte wurden unter Hurrarufen und Applaus verlesen. Anschließend rezitierte Petöfi ein Gedicht, das er zwei Tage zuvor geschrieben hatte, das »Nationallied«, dessen Refrain großen Beifall fand: »Schwören wir beim Gott der Ahnen: / Nimmermehr / beugen wir uns den Tyrannen!«59 Um 15 Uhr sprach Petöfi vor dem Nationalmuseum zu 10 000 Menschen, anschließend führte er sie zum Pester Rathaus. Dort füllte die Menschenmenge den Platz »wie ein tosendes Meer vor dem Sturm«.60 Der entsetzte Präsident unterschrieb die »Zwölf Punkte«, und ein neuer Magistrat – das Komitee zur Aufrechterhaltung der Ordnung und allgemeinen Sicherheit – wurde berufen, in dem Radikale wie Petöfi, Adelige, die für Kossuth waren, sowie Liberale der alten Ratsversammlung saßen. Die Nationalgarde wurde gegründet, doch da sie eine Bürgermiliz war, gab es keine Uniform, abgesehen von Armbinden und Schärpen in den ungarischen Farben Rot, Weiß und Grün.61 Schließlich marschierten die Revolutionäre über eine Pontonbrücke (Széchenyis berühmte Kettenbrücke befand sich noch im Bau) zur Budaer Burg, wo der Rat des Vizekönigs tagte. »Wir marschierten«, schrieb der Radi-
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kale Alajos Degré, »mit grenzenloser Begeisterung zur Festung hoch, wo wir Artilleristen mit brennenden Zündschnüren in der Hand neben ihren Kanonen stehen sahen, während die Menge vor ihnen ›Lang lebe die Freiheit! Lang lebe die Gleichheit!‹ rief.«62 Da sich dort inzwischen immerhin 20 000 Menschen eingefunden hatten und in Ermangelung klarer Weisungen aus Wien, konnten die Räte des Palatins nichts anderes tun als nachzugeben. Genau genommen schienen beide Parteien von der Situation völlig überrascht. Der Sprecher des Sicherheitskomitees trug die »Zwölf Punkte« vor – »so untertänig und zitternd gestammelt wie ein Schuljunge vor dem Lehrer«, erinnerte sich Petöfi später spöttisch und fügte hinzu: »Die Exzellenzen, die Mitglieder der Statthalterei, waren bleich und geruhten zu zittern und willigten nach einer Beratung von fünf Minuten in alles ein.«63 Da sich Habsburgs Herrschaft nun auf ganzer Linie im Rückzug befand, konnten sich auch die Tschechen behaupten. Am 29. Februar feierte die Spitze der Prager Intellektuellen einen Maskenball, als spät in der Nacht die ersten Briefe aus Paris eintrafen und die Neuigkeiten der Republik übermittelten. Um die Spitzel der Polizei zu umgehen, wurde die Nachricht unter den Feiernden von Ohr zu Ohr geflüstert. Leise fanden sich Freunde zusammen und stießen an auf die Revolution.64 Die allgemeine Erwartung steigerte sich noch, als die Nachricht von Kossuths Rede hinzukam. Am 8. März hängte die liberale Organisation »Repeal« Plakate auf, auf denen für den 11. März zu einer öffentlichen Versammlung im St. Wenzelsbad eingeladen wurde. Der Veranstaltungsort lag gefährlich nah am Arbeiterviertel Podskalí, und der Zeitpunkt, 18 Uhr an einem Samstag, ließ den Arbeitern genügend Zeit, um vor dem Besuch ihren Lohn abzuholen und sich auf die Schnelle mit Alkohol zu versorgen. Die Zerstörungswut der Arbeiter hatte sich vier Jahre zuvor brutal gezeigt (und war ebenso brutal bekämpft worden), sodass sich einmal mehr Angst unter den Besitzenden breitmachte. Selbst die führenden Liberalen Böhmens, der Historiker František Palacký und der Journalist Karel Havlíček, standen den politischen Aktivitäten distanziert gegenüber, weil sie nur widerstrebend den Pfad der »Legalität« verließen. Der Bürgermeister Josef Müller rief die ehrbare Bürgerwache zusammen, lehnte aber die Forderungen der reichsten Prager – überwiegend deutschsprachige Industrielle – ab, allen Bürgern das Tragen von Waffen zu gestatten. Die Fabrikanten verlangten darüber hinaus, dass die Behörden die Versammlung ganz verboten. Der Statthalter von Böhmen, Rudolf Graf Stadion, kam dem, aus Angst eine Auseinandersetzung zu provozieren, nicht nach, versetzte aber die Garnison in Alarmbereitschaft.
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Mehrere Tausend Menschen fanden sich am festgelegten Tag ein. Achthundert der »anständigen« Demonstranten – junge Intellektuelle, Beamte, Bürger, Handwerker, fast alles Tschechen – wurden von den Repeal-Saalordnern in das Bad eingelassen. Die ausgesperrten Arbeiter dagegen drängten sich bei strömendem Regen auf der Straße. Das fast gänzliche Fehlen von Deutschen bei der Versammlung lässt vermuten, dass sie eher Sympathisanten der tschechischen Nationalbewegung ansprach und jene das Gefühl hatten, von der politischen Mitbestimmung in Böhmen ausgeschlossen zu sein.65 Man verlas eine Petition, in der eine Verfassung, Pressefreiheit und Schwurgerichtsverfahren gefordert wurden sowie, radikaler noch, die Regelung von Arbeit und Entlohnung für die Arbeiter sowie die Abschaffung des Frondienstes (robot) und der grundherrschaftlichen Gerichtsbarkeit für die Bauern. Nationalistische Töne kamen in dem Wunsch nach einer Vertretung aller Länder der alten tschechischen Krone – Böhmen, Mähren und Schlesien – durch eine gemeinsame Ständeversammlung zum Ausdruck, weiterhin in der amtlichen Gleichstellung des Tschechischen mit dem Deutschen sowie der Verkleinerung des stehenden Heeres und im Ausschluss von »Auswärtigen«, dieser Begriff war doppeldeutig, von öffentlichen Ämtern. Die Versammlung endete mit der Wahl eines zwanzigköpfigen Ausschusses, der die Petition zur Unterschriftsreife bringen sollte. Erst jetzt fügte Palacký den Forderungen sein beträchtliches intellektuelles Potential hinzu. Unter klarem blauem Himmel unterzeichneten am 15. März Tausende Menschen das Gesuch. Und während alles noch festlich gestimmt war, traf am gleichen Abend ein Zug aus Wien ein und brachte die Nachricht der kaiserlichen Zusage einer Verfassung. Wie eine Zeitung berichtete, »floss Sekt in Strömen«, auf den Straßen umarmten völlig Fremde einander. Plötzlich wurde das Wort »Verfassung« salonfähig, Handwerker machten sich daran, »Verfassungshüte und -sonnenschirme« herzustellen, während in den Öfen der Bäcker »Verfassungsgebäck« aufging. Die Zeitung Bohemia verwies darauf, dass es nicht mehr länger höflich sei, den Hut zum Gruß zu lüften, da es der Gleichheit, die eine Verfassung verhieß, zu widersprechen scheine und so oder so bei schlechtem Wetter unangenehm sei.66 Wie schon in Wien wurden nun auch in Böhmen und Mähren eine Nationalgarde und eine akademische Legion ins Leben gerufen, um für Ordnung zu sorgen. Beide rekrutierten sich aus Deutschen und Tschechen, aber der Wenzelsbad-Ausschuss gründete mit Svornost auch eine ausschließlich tschechische Miliz. Studenten fanden sich unterdessen zu einer politischen Verbindung zusammen, der Slavia oder auch Slawischen Linde.
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Am 22. März empfing Kaiser Ferdinand eine Delegation aus Böhmen, die ihm das Wenzelsbad-Gesuch überreichte. Doch am Wiener Hof spürte man sehr wohl, dass die Deutschen aus Böhmen und Mähren nur widerstrebend dem tschechischen Nationalismus zustimmten, und so kam man noch einmal mit vagen Versprechungen auf Zugeständnisse davon. Die Feierlichkeiten, die man für Prag geplant hatte, wurden daraufhin abgesagt, und die allgemeine Wut über die vereitelten Hoffnungen richtete sich sogleich gegen die Delegierten, von denen so manchen die Fenster eingeworfen wurden.67 Am 28. März kam es zu einer stürmischen Versammlung, bei der die Mitglieder des Wenzelsbad-Ausschusses sich anstrengen mussten, um sich angesichts der lauten Rufe »Republik!« und den Schlachtrufen gegen den böhmischen Adel noch Gehör zu verschaffen. Der Ausschuss entwarf eine schärfere Petition, in der er die Vereinigung aller tschechischen Länder und deren Repräsentanz in einer modernen nationalen Volksvertretung forderte, gewählt auf der Basis eines breiten bürgerlichen Wahlrechts – die Landstände wurden bei der Gelegenheit als altmodisch über Bord geworfen. Wie die Ungarn strebten die Tschechen ein eigenes vereintes Königreich an, das nur noch dynastisch mit der habsburgischen Monarchie verbunden war. Diese neue Liste der Forderungen wurde von einer bewaffneter Miliz zu Stadions Amtsräumen gebracht. Der gänzlich aufgebrachte, gedemütigte Statthalter musste sein Siegel unter das Dokument setzen; kurz darauf trat er deshalb zurück – nicht ohne noch Baron Pillersdorf, den Innenminister im neuen österreichischen Kabinett, davor zu warnen, dass er »für nichts garantieren kann, wenn nicht alles bewilligt wird«.68 Diesmal sollte Wien nachgeben, allerdings nicht vollständig. Die kaiserliche Antwort vom 8. April versprach keine gesamttschechische Volksvertretung, sondern trennte die böhmischen und mährischen Landstände. Auch wurde das Wahlrecht auf Bürger mit Grundbesitz, Angestellte und Steuerzahler eingeschränkt, schloss also die städtische Arbeiterschaft, Hausangestellte und Landarbeiter aus. Die tschechische Sprache sollte neben der deutschen in allen Schulen gelehrt und innerhalb der tschechischen Länder auf allen Verwaltungsebenen verwendet werden.69 Diese Zugeständnisse bildeten zusammen mit der späteren Abschaffung der Fronarbeit der Bauern den Höhepunkt der revolutionären Errungenschaften von 1848.
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V Während der Absolutismus im österreichischen Kaiserreich zusammenbrach, konnte sich auch der zweite bedeutsame Pfeiler der restaurativen Ordnung in Deutschland, Preußen, nicht mehr lange halten. Damals war Adolphe de Circourt gerade frisch von den Pariser Straßenkämpfen weg zum französischen Botschafter in Berlin ernannt worden, wo er am 9. März eintraf. Weil nun eine deutsche Regierung nach der anderen kapitulierte, war er der Ansicht, dass Preußen von »einem Feuerkreis« umgeben sei.70 Als es schließlich zur Explosion kam, sollte die preußische Hauptstadt Schauplatz der heftigsten revolutionären Ausbrüche vom März 1848 werden. Vor allem Studenten hatten die Kaffeehäuser besucht, wo man von den europäischen Neuigkeiten lesen konnte, doch von den etwa tausendfünfhundert Studenten der Universität waren nur etwa hundert ernsthaft politisch engagiert. Der Fokus der allgemeinen Hoffnungen nämlich, der ständische Ausschuss des Vereinigten Landtags, der seit Januar tagte, wurde am 6. März vom König mit dem Argument entlassen, dass er in der Krise Einheit und keinen »Parteienzwist« brauche: »Schart euch um euren König, um euren besten Freund, wie eine eiserne Mauer.«71 Dies und Friedrich Wilhelms Zusage, dass der Landtag alle vier Jahre zusammentreten würde, war bald schon das Thema Nummer eins. Sonntags wanderten die Berliner – Handwerker, Arbeiter, Studenten, Büroangestellte, Journalisten – für gewöhnlich zu den Cafés, Wirtschaften und Würstchenbuden »In den Zelten« (gemeint sind die Zelte, die auf einem Platz im Tierpark als Bewirtungszelte standen und später durch feste Gebäude ersetzt wurden). Auch am 7. März fand sich dort eine Menschenmenge ein, als Journalisten und Studenten das Musikpodium bestiegen, um über die Zusage des Königs zu sprechen.72 Man setzte eine Petition auf, in der die sofortige Wiedereinberufung des Landtags und die Pressefreiheit verlangt wurden, und die an Ort und Stelle Tausende unterzeichneten. Als sich der König weigerte, diese Forderungen in Empfang zu nehmen, wurden sie ihm per Post zugestellt. Am nächsten Tag wuchs die Menge »In den Zelten« noch an. Der Polizeipräsident warnte den König, er wisse nicht, ob er die Situation unter Kontrolle halten könne, und schlug vor, die 12 000 Mann starke Garnison zur Unterstützung anzufordern. Damit aber war das Schicksal Friedrich Wilhelms besiegelt.73 Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Versammelten verträglich gestimmt, ja sogar in Feierstimmung, doch das Auftauchen der Heerespatrouillen, die durch die Straßen polterten, ließ die Atmosphäre kippen. Darüber hinaus hatte der König die
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Garnison mit frischen Truppen aus anderen Provinzen verstärkte, wodurch die Militärpräsenz am Ende auf 20 000 Mann angewachsen war. Die Berliner jedoch hatten es noch nie gemocht, von Soldaten Befehle entgegenzunehmen, und als sich nun zwischen dem 13. und dem 18. März ein gewaltsamer Zwischenfall nach dem anderen ereignete, wurden die Leute allmählich wütend. Mit den ersten Ausschreitungen konnte die Armee, wie General Leopold von Gerlach, Generaladjutant des Königs, festhielt, noch leicht fertig werden. Genau das aber beförderte, wie er später notierte, eine gewisse Sorglosigkeit bei der Obrigkeit, von der man am 18. März mit Beginn des Aufstands prompt überrascht wurde.74 Der Anblick der Soldaten, die Versammlungen mit der flachen Säbelklinge auflösten oder Plätze mit der Bajonettspitze räumten, ließ die öffentliche Stimmung umschlagen. Auch Circourt fiel dieser Umschwung auf: »Überall gab es Zusammenkünfte, Rufe, Gepfeife oder Vagabunden, die auf ihren nächtlichen Streifzügen einen finsteren Eindruck machten.«75 Die Berliner buhten und warfen Steine auf die Soldaten, von denen viele aus den ländlichen Provinzen Ostpreußens abgezogen worden waren; sie waren nicht an das Stadtleben gewöhnt und standen der städtischen Lebensart argwöhnisch gegenüber. Der Druck verstärkte sich, als am 16. März die Nachricht von Metternichs Entlassung in der preußischen Hauptstadt eintraf. Um die Lage zu entschärfen, überredete man Friedrich Wilhelm zu Konzessionen – allerdings erst nach einer scharfen Diskussion unter seinen Ministern, darunter eingefleischte Konservative wie Gerlach und der Prinz (der 1871 Kaiser des neuen vereinten Deutschland werden sollte), die laut ihre Überzeugung verkündeten, dass die Erschießung rebellischer Untertanen Eindruck machen würde. Stattdessen ließ Friedrich Wilhelm am 18. März verlautbaren, dass eine Bekanntmachung bevorstehe. Und tatsächlich las um 14 Uhr ein Bote der erwartungsvollen Menge, die sich vor der königlichen Residenz versammelt hatte, zwei Proklamationen vor: Mit der ersten wurde die Zensur abgeschafft, in der zweiten die Einberufung des preußischen Landtags für den 2. April sowie eine Reform des Deutschen Bundes versprochen, dazu ein Gesetzbuch, eine Fahne und die Schaffung einer deutschen Marine (Letzteres war ein sehnlicher Wunsch der Nationalen). Drinnen im Schloss tobte Gerlach: »Ich hätte mir eher die Hand abhacken lassen, bevor ich diese Edikte unterzeichnet hätte«,76 doch als Friedrich Wilhelm selbst auf dem Balkon erschien, wurde er von der Menschenmenge bejubelt. Nur ein Versprechen war nicht gegeben worden: der Abzug der Soldaten aus der Stadt. Eine Gruppe von etwa zwanzig Bürgern in gepflegter Kleidung
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begann im Chor zu rufen: »Das Militär zurück!« – ein Schlachtruf, der bald allgemein übernommen wurde. Dies war der revolutionäre Dolchstoß in das Herz der preußischen Monarchie, denn die vordringlichste Rolle des Königs war der Oberbefehl über das preußische Heer, im Grunde ein Staat im Staate. Natürlich hätten die Liberalen es am liebsten gesehen, wenn der König seine Legitimität vom Volk und seinen Bürgern bezogen hätte, doch das hier bedeutete, an Friedrich Wilhelm gerichtet, die tragende Säule der preußischen Monarchie wegzuschlagen. Diese revolutionäre Herausforderung bestärkte denn auch Friedrich Wilhelms Entschlossenheit und die der Ultrakonservativen, den zögerlichen General Ernst von Pfuel durch den Zuchtmeister General von Prittwitz als Oberbefehlshaber der Truppen zu ersetzen. Diese bittere Pille wurde mit der Berufung eines neuen Kabinetts versüßt, dem auch der aus dem Rheinland stammende liberale Geschäftsmann Ludolf Camphausen angehörte. Von Prittwitz schließlich traf die schicksalhafte Entscheidung, den Schlossplatz räumen zu lassen. Die Dragoner ritten in leichtem Trab vorwärts, angeführt wurden sie durch von Prittwitz selbst, der seinen Säbel zog, um über den Tumult hinweg seine Befehle deutlich zu machen. Die Reiter folgten seinem Beispiel, wodurch ihr Vorstoß wie ein Angriff wirkte. Einige Zivilisten stürmten mit dem Ruf »Militär fort!« nach vorn, um die Zügel der Pferde zu packen. Als auch noch zwei Kompanien Infanteristen ausrückten, wurden zwei Schüsse abgegeben. Zwar gab es keine Verletzten, doch das Knallen der Musketen reichte aus, um die Menge in alle Richtungen auseinanderfahren zu lassen. Die Rufe »Verrat!« und »Sie bringen auf dem Schlossplatz Leute um!« waren zu hören. Der neu ernannte Ministerpräsident Graf von Arnim-Boitzenburg versuchte erfolglos, die Situation zu entschärfen, indem er – eine weiße Flagge schwenkend – auf dem Platz erschien. Man schenkte ihm keine Beachtung.77 Innerhalb von Stunden waren in den Straßen Hunderte von Barrikaden aufgetürmt und mit schwarz-rot-goldenen Bannern bedeckt. Provokativ wurde in Sichtweite des königlichen Schlosses eine Fahne auf der luxuriösen Konditorei d’Heureuse gehisst. Männer, Frauen und Kinder legten Hand an beim Bau der Barrikaden, der »mit staunenswürdiger Virtuosität, als wenn die Bevölkerung nie ein anderes Geschäft betrieben hätte, zustande gebracht ward«. Als Material nutzten sie alles, was die Stadt hergab: »Droschken, Omnibuswagen, auch ein angehaltener Postwagen, Wollsäcke, Balken, umgestürzte Brunnengehäuse«.78 Schwere Pflastersteine wurden aus Straßen gestemmt, Holzbretter von Häusern abgerissen. Ob Regenrinnen, Fässer, umgedrehte Kutschen oder Verkaufsstände: alles fand Verwendung. Der Platz vor dem Rosenthal-Tor glich
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So mancher sehr verlustreiche Kampf fand in Berlin statt: Hier die beeindruckende Barrikade auf dem Alexanderplatz, die gegen die preußischen Soldaten standhält. (akg-images)
einer Festung, mit Barrikaden vor jedem Durchgang. Die Schlacht, die nun folgte, war eine von Zivilisten gegen Soldaten, hier entlud sich der Zorn beider Seiten. Prittwitz selbst schrieb später: »die Soldaten wären froh gewesen, […] einen ganz bestimmten Feind vor sich und das Ende der bis dahin bestehenden Geduldsprobe erreicht zu haben.«79 Handwerker kletterten in die Kirchtürme und läuteten die Glocken, die Sturmglocken der Revolution. Besitzbürger, anständig gekleidet in Zylinder und schwarzen Gehrock, Journalisten und Akademiker, kleinbürgerliche Ladeninhaber, Beamte, Lehrer, an die hundert Studenten und natürlich Arbeiter bestiegen nun die Barrikaden. Durch die Glocken herbeigerufen, nahmen die Arbeiter der Borsig-Werke ihre Eisenstangen und Hämmer und schritten, noch immer in öligen Kitteln, zu etwa Neunhundert resolut Richtung Kampfgeschehen. Frauen und Kinder brachten den Aufständischen Essen und Trinken.
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Die Schlacht um Berlin war eine der erbittertsten Schlachten in Europa von 1848. Während sie frontal auf die Befestigungen zumarschierten, setzten die Soldaten Geschütze ein. Gerlach, der die Truppen kommandierte, berichtet von Kanonenkugeln, die entlang der Straßen abprallten. Eine Barrikade nach der anderen mussten die Soldaten überwinden. »Man konnte drei, auch wohl vier Barrikaden hintereinander erkennen, an denen fortwährend in unserer Gegenwart gebaut worden war«, so Gerlach. »Auf das Artilleriefeuer lief Alles aus der ersten […] und auch aus der zweiten Barrikade davon; als die Truppen aber gegen die folgende Barrikade vordrangen, wurden sie mit einem heftigen Gewehrfeuer und mit sehr zahlreichen Steinwürfen aus den Häusern, vorzüglich aus den Enthäusern empfangen.« Auf der gegnerischen Seite schrieb ein Zeuge: »Der Donner der Kanonen ertönte in immer rascher folgenden Schlägen, einzelne Barrikaden begannen schon in dieser Straße zusammenzustürzen, und die immer erbitterter und wüthender vordringenden Soldaten begannen ein gräßliches Gemetzel […]. Die ganze Straße schwimmt in Blut, die Häuser sind mit Todten und Verwundeten überfüllt. An der Ecke der Spandauer Straße werden Kanonen aufgefahren, deren Kugeln die Straße vollends säubern sollen. Die Häuser selbst werden unaufhörlich von Flintenkugeln bestrichen und zersetzt. Durch die Stadt begann um diese Zeit ein schauerliches Sturmläuten, welches von bewaffneten Handwerkern, die die Kirchthürme erstiegen hatten, die ganze Nacht unterhalten wurde.«80 Selbst die erfahrensten Offiziere waren nicht an so eine Schlacht gewöhnt, wie sie nun in den engen Berliner Straßen geführt wurde. Weil die Aufständischen erbittert kämpften, feuerten die frustrierten Soldaten wahllos auf Häuser, durch Türen und Fenster. Zwar hatten Gerlachs Männer Werkzeug dabei, mit dem sie in Gebäude eindringen konnten, aber sobald sie drinnen waren, wurden die Angreifer aus kürzester Entfernung niedergestochen oder erschossen.81 Häuser gingen in Flammen auf und brannten die ganze Nacht über. Insgesamt wurden an einem Nachmittag und in einer Nacht der Kämpfe rund neunhundert Menschen getötet – achthundert davon auf der Seite der Aufständischen. Am Ende hatte das Heer die Hauptzugangsstraßen unter Kontrolle, und anders als in Paris bestand kaum die Gefahr, dass die Soldaten ob ihrer ländlichen Herkunft und eisernen Disziplin von den Revolutionären bekehrt werden
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würden. Trotzdem war sich von Prittwitz bewusst, dass die schreckliche Erfahrung des Straßenkampfes die Moral der Männer beeinflussen würde. In dieser Nacht berichtete er dem König, dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als seine Truppen abzuziehen, die Stadt zu belagern und sie bis zur Aufgabe zu bombardieren, sollte der Aufstand nicht binnen Tagen niedergeschlagen sein. Der König war hin und her gerissen. Die Berliner waren rebellisch, aber ihr Blut auf diese Weise zu vergießen war für Friedrich Wilhelm absolut unmöglich. Als von Prittwitz das erste Mal um den Befehl zum Vordringen bat, hatte der König geschrien: »Nun ja, nur nicht schießen!«82 Beim ersten Krachen der Geschütze hatte er geweint. Und so kam es, dass Georg von Vincke, gemäßigter westfälischer Aristokrat und Anführer der Liberalen im Vereinigten Landtag, der in gestrecktem Galopp nach Berlin geeilt war, bereitwillig Audienz bei Friedrich Wilhelm erhielt, als er, noch in Reisekleidern, im Schloss erschien. Vincke brachte vor, dass der Kampf solange nicht enden würde, wie die Menschen kein Vertrauen zu ihrem König hätten. Würde man jedoch durch einen Truppenrückzug Zivilisten die Sicherheit des Königs anvertrauen, könnte das aufs Neue ihre Loyalität bestärken. Gerlach, der dies mit anhörte, schloss sich dem höhnischen Gelächter über die, wie er es nannte, »elende Kopffechterdialektik« des Politikers an, worauf der wütende Vincke fauchte, jetzt hätten sie noch gut lachen, aber nicht mehr lange.83 Diesem Argument folgend, befahl Friedrich Wilhelm von Prittwitz um Mitternacht, die Kampfhandlungen einzustellen, worauf er sich an seinen Schreibtisch setzte und eine weitere Proklamation, »An meine lieben Berliner«, verfasste, die eilig gedruckt und in den frühen Morgenstunden überall in der Stadt verteilt wurde. Der König versprach, die Truppen zurückzuziehen und nur noch zur Verteidigung des Schlosses, des Arsenals und anderer Regierungsgebäude einzusetzen, sobald die Untertanen »zum Frieden« zurückgekehrt und die Barrikaden geräumt hätten: »Hört die königliche Stimme Eures Königs, Bewohner meines treuen und schönen Berlin.«84 Die Berliner, übel zugerichtet und blutbefleckt, waren skeptisch. Dennoch wurde an diesem Sonntagmorgen in der ganzen Stadt ein prekärer Waffenstillstand eingehalten. Als Prittwitz selbst hinausging, um sich ein Bild zu machen, war die erste Person, die ihm begegnete, nicht etwa ein Aufständischer, sondern ein Dienstmädchen, das ausgesandt worden war, Kuchen zu kaufen.85 Auch den Kirchgängern gewährten die Revolutionäre freien Durchgang auf ihrem Weg zum Gottesdienst. Dadurch ermutigt, gab der König bei einer Zusammenkunft mit von Prittwitz und dem Prinzen von Preußen im Roten Eckzimmer des Berliner Schlosses den
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Befehl zum Rückzug aller Truppen in die Kasernen.86 Voller Verachtung warf der Prinz daraufhin sein Schwert auf den Tisch. Nun, da das Schloss fast ganz von Soldaten geräumt war, bahnten sich die Aufständischen ihren Weg durch schuttbeladene Straßen und versammelten sich vor dem Palais. Dieses Mal waren sie nicht in der Stimmung, den König hochleben zu lassen. Dafür zogen sie Bahren hinter sich her, auf denen die blumenbedeckten Leichen der Gefallenen lagen. »Gebt ihn raus, oder wir werfen diese Toten direkt vor seine Tür!«, schrien sie zu den Fenstern hoch.87 Der König trat auf den Balkon, an seiner Seite die besorgte Königin. Die Bahren wurden näher herangebracht, worauf der König in einer symbolischen Geste der Demut den Hut zog und die Königin in Ohnmacht fiel. An diesem Punkt stimmte die Menge im Beisein des Königspaares den Choral »Jesu, meine Zuversicht« an, worauf die Prozession sich entfernte. Inzwischen marschierte die Armee zum Schlag der Trommeln aus der Stadt hinaus. Um die Ordnung aufrechtzuerhalten, musste nun schnell eine Bürgerwehr organisiert werden. Am 12. März traf der König, selbstbewusst mit Armbinde in den deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold, die Kommandeure, um ihnen für die Wiederherstellung des Friedens in der Hauptstadt zu danken. Man salutierte ihm mit dem Ruf »Lang lebe der deutsche Kaiser!«. Von der allgemeinen Stimmung getragen, erließ er am Abend eine weitere Proklamation, in der er erklärte: »Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des deutschen Reichs gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf.«88 Dies war bewusst vage, doch im Augenblick die Antwort auf den Ruf nach preußischer Führung in einem vereinten Deutschland. Am 22. März wurden die Toten der Straßenkämpfe beigesetzt. An diesem Trauertag verkündete Friedrich Wilhelm endlich, dass er eine Verfassung gewähren werde. Trotzdem passte die Rolle eines revolutionären Monarchen nicht zu einem König, der die meisten Zugeständnisse nur unter Zwang gemacht hatte. Nicht zuletzt deshalb verließen er und seine Familie drei Tage später unter dem Schutz des Garderegiments die Stadt in Richtung Potsdam und Schloss Sanssouci. Sicher in seinem Palast angekommen, wurde dem König klar, welche Demütigung die Märzrevolution letztlich bedeutet hatte.89 Hier nun war er von Hardlinern umgeben, darunter der Prinz von Preußen oder Gerlach, die alle auf eine Konterrevolution brannten.90 Auch Otto von Bismarck gehörte dazu, der von seinem Anwesen in Schönhausen nach Potsdam gereist war, um dem König den Dienst seiner gehorsamen, bewaffneten Bauern anzubieten. Als von Prittwitz die Frage stellte, was am besten zu tun sei, um die
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königliche Autorität wiederherzustellen, begann der Junker, auf einem Klavier den Infanteriemarsch zum Angriff zu spielen.91
VI Von allen Verfassungen, die man den italienischen Herrschern in den ersten Monaten des Jahres 1848 abnötigte, sollte sich die piemontesische Verfassung, Statuto genannt, als die bedeutendste für die Zukunft Italiens erweisen. Am 4. März 1860 wurde sie zur Verfassung des vereinigten Italien und blieb das tragende Grundgesetz des Landes bis 1946. In ihr wurde die Macht zwischen dem König und der Volksvertretung, die aus einem Senat und einer Abgeordnetenkammer bestand, aufgeteilt. Der Monarch behielt die Oberhoheit über Streitkräfte und Außenpolitik und konnte zudem das Parlament einberufen oder entlassen. Alle Finanzen jedoch, einschließlich der Besteuerung, mussten von beiden Kammern gebilligt werden. Sollte der König das Parlament aussetzen, musste es innerhalb von vier Monaten wieder einbestellt werden, damit kein Machtvakuum entstehen konnte. Die Bürgerrechte waren garantiert.92 Das Statuto fand über die Grenze hinweg Widerhall in der österreichisch regierten Lombardei, wo Mailänder Liberale nun von der Möglichkeit einer militärischen Invasion durch die piemontesische Armee zu träumen wagten, die die Österreicher unter Androhung von »100 000 Bajonetten« vertreiben würde. Die Lombarden gefielen sich darin, in Nachahmung der Uniformen von Karl Alberts Armee graue Umhänge zu tragen. Um die Träume in Erfüllung gehen zu lassen, drängten Graf Carlo d’Adda, ein lombardischer Exilant, der Zuflucht in Turin gesucht hatte, und Graf Enrico Martini als Agenten des liberalen Mailänder Adels den König, einen entschlossenen Schlag gegen die österreichische Herrschaft zu führen.93 In Mailand und Venedig, den großen Städten von Österreichs beiden italienischen Provinzen, brodelte es seit dem Zigarrenstreik Anfang Januar. Während seiner letzten Wochen im Amt wurde Metternich immer stärker von den italienischen Angelegenheiten in Anspruch genommen, doch er war entschlossen, dort dem Vordringen der Revolution zu widerstehen. Zu diesem Zweck wollte er sichergehen, dass alle österreichischen Befehlsgewalten, militärische wie zivile, ihre Bemühungen koordinierten, und zwar nicht nur untereinander, sondern auch mit jenen italienischen Staaten, die von der Strömung noch nicht mitgerissen worden waren. Dazu benötigte er einen vertrauenswürdigen Dip-
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lomaten, der in ständigem Kontakt mit den verschiedenen italienischen Regierungen bleiben konnte, um sie zu ermutigen, sich der Revolution zu widersetzen, sie des militärischen Beistands durch Österreich zu versichern und über die Presse die österreichische Perspektive zu verbreiten. Der Mann, den er für diese Aufgabe auswählte und der am 21. Februar in Wien seinen Einsatzbefehl erhielt, war Graf Joseph Alexander von Hübner. Mit der Bemerkung, dass ihn Metternichs Vertrauen in seine Fähigkeiten »mehr erschrecke, als schmeichle«, bestieg dieser am 2. März den Zug in Wien, wechselte dann auf Postpferde und kam zweiundsiebzig Stunden später in Mailand an. Noch wusste er nicht, dass die Kunde von der Pariser Revolution die Liberalen ermutigt hatte, in friedlichem Protest Österreich aufzufordern, der Lombardei größere Eigenständigkeit innerhalb der habsburgischen Monarchie zu gewähren – einschließlich Pressefreiheit und Bürgermiliz. Am 25. Februar wurde der Ausnahmezustand über die Lombardei und Venedig verhängt, und so fand Hübner die Stadt in gespannter Atmosphäre und die österreichische Obrigkeit in einem Zustand der Lähmung vor. Graf Ficquelmont, den Metternich im August des zurückliegenden Jahres zu Verhandlungen nach Mailand geschickt hatte, erzählte ihm am 5. März beim Abendessen: »Man hat […] von mir das Unmögliche verlangt. Alles was ich that und was Sie thun werden, war und wird vergebene Mühe sein.«94 Wenige Tage später verließen Ficquelmont und seine Gattin Mailand in Richtung Wien, wo er Außenminister der ersten Nach-Metternich’schen Regierung wurde. Als nun die Nachrichten von Metternichs Sturz und der kaiserlichen Zusage einer Verfassung Mailand am 17. März erreichten, wurde alles nur noch schlimmer: An diesem Abend trafen sich die Anführer der liberalen Opposition, um ihre Reaktion zu besprechen. Einerseits konnten sie abwarten und zusehen, welchen Gewinn die in Aussicht gestellte Verfassung bringen würde, oder sie konnten die Schwäche des Regimes ausnutzen und versuchen, die Österreicher hinauszuwerfen. Letztere Möglichkeit barg große Risiken: Der Oberbefehlshaber über die österreichischen Streitkräfte in Italien, der verschlagene und gefürchtete Marschall Joseph Radetzky, herrschte über eine 13 000 Mann starke Garnison. Deren kaiserliche Soldaten waren der eisernen Disziplin unterworfen, zugleich sie ihrem Kommandanten jedoch loyal und respektvoll verbunden. Der republikanische Lehrer und Intellektuelle Carlo Cattaneo warf ein, dass es gegen eine solche Übermacht keine Erhebung geben könne: Weder hätten die Leute die militärische Führung noch die Waffen für ein solches Vorhaben. Später gab er offen zu, dass er die Gemäßigten im Verdacht hatte, einen
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vorzeitigen Aufstand provozieren zu wollen, welcher geeignet war, Karl Albert von Piemont zu einer Intervention gegen die Österreicher zu provozieren, um so der Revolution einen monarchischen Stempel zu verpassen und damit die Entwicklung einer republikanischen Bewegung zu schwächen. Nach langer Debatte stimmten die Mailänder schließlich einer friedlichen Demonstration unter der Führung von Graf Gabriel Casati, dem Bürgermeister (podestà) von Mailand, zu. Als der ranghöchste Italiener in einer Kommunalverwaltung hatte er eng mit den Österreichern zusammengearbeitet, war aber auch Patriot. Dieser Loyalitätskonflikt hatte ihn schließlich dazu veranlasst, einem Sohn den Dienst in der piemontesischen Artillerie zu erlauben, dem anderen ein Studium an der Universität von Innsbruck. Dazu bemerkte Cattaneo ironisch, dass »Casati sich am liebsten halbiert hätte, um gleichzeitig beiden Höfen zu dienen; doch da er das nicht konnte, teilte er stattdessen seine Familie«.95 Dennoch leistete Cattaneo früh am nächsten Morgen einen erstklassigen Dienst, als er den Vizepräsidenten Enrico O’Donnell davon überzeugen konnte, die Garnison nicht ausrücken zu lassen, hätte dies die Lage doch nur verschärft. Sicherheitshalber ließ Radetzky seine Männer gefechtsbereit machen, die Stadttore durch Artillerie befestigen und die Wachen auf den Mauern verstärken. Am 17. März fiel Hübner die unheimliche Stille in den nächtlichen Straßen auf: »Hier und da standen wohl einige Männer beisammen die leise sprachen und bei unserem Herannahen auseinander gingen.«96 Der österreichische Vizekönig, Erzherzog Rainer, brach zu seiner eigenen Sicherheit klugerweise nach Verona auf. Am 18. März erscholl der Ruf: »Männer auf die Straßen, Frauen an die Fenster!« Etwa 15 000 Menschen marschierten, angefeuert und bewunken mit roten, weißen und grünen Taschentüchern. Casati selbst, obwohl ordentlich mit schwarzem Anzug bekleidet, trug eine dreifarbige Rosette, über seinem Kopf flatterte eine italienische Flagge. Frauen warfen dreifarbige Bänder aus den Fenstern. Beim Palazzo del Governo wurde eine Handvoll Wachposten von der allgemeinen Flut mitgerissen. Hunderte von Menschen strömten die Treppen hinauf und fanden O’Donnell im Ratsaal. Der hatte in letzter Minute eingewilligt, die Zensur aufzuheben, doch jetzt, wo ihm eine potenziell gefährliche Menschenmenge gegenüberstand, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als den Befehl zur Einberufung einer Bürgerwehr zu geben, die sich aus vermögenden Mailändern zusammensetzen würde. Zur Sicherheit wurde der glücklose Vizepräsident als Geisel mitgenommen. Nun aber schlug der enttäuschte Radetzky zurück, hatte er doch die Ereignisse von der Seitenlinie aus vor Wut schäumend verfolgen müssen. Schon eil-
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ten seine Truppen im Sturmschritt durch die Straßen, um Gebäude wie das Polizeipräsidium, den Gerichtshof und das Heeresdepot für Geräte zu schützen. Tiroler Scharfschützen wurden hoch über den marmornen Spitzen des Mailänder Doms postiert, von wo aus sie aus dem Hinterhalt auf alles und jeden schossen – egal ob Aufständische oder Bürger, die ins Kreuzfeuer geraten waren. Schnell türmten die Mailänder in den engen Straßen der Altstadt Barrikaden auf. Von den Kirchtürmen läuteten die Glocken, um die Menschen zu den Verteidigungsanlagen zu rufen. Anfangs waren diese Befestigungen Notbehelfe aus umgedrehten Kutschen, Fässern und hastig gefällten Bäumen. Doch schon bald wurden sie mit Pflastersteinen, Sofas, Betten, Klavieren und Kirchenmobiliar verstärkt. Unter den Ersten, die sie erklommen, waren junge demokratische Republikaner wie der siebenundzwanzigjährige Enrico Cernuschi, Spitzname »der kleine Robespierre«. Der hatte Jura studiert, bevor er das Studium für die Arbeit in einer Zuckerraffinerie aufgab.97 Handwerker und Arbeiter schlossen sich ihnen an. Sie bildeten die Basis dieser spontanen Erhebung. Der Republikaner Carlo Osio etwa eilte von der Demonstration nach Hause, griff eine Pistole, ein Stilett und eine Eisenstange – was ihm mehr das Aussehen eines Straßenräubers als das eines Arztes verlieh, der er eigentlich war. Dann rannte er zurück und half seinem Bruder Enrico und den anderen beim Barrikadenbau. Dabei raste er geradewegs in eine Polizeipatrouille, entkam knapp ihren Kugeln, trat wieder den Rückzug nach Hause an, dieses Mal um Gewehr, Bajonett und Munition zu holen, die er dort deponiert hatte. Er war ein lebendes Arsenal.98 Die konservativen Patrizier hingegen beschworen die Aufständischen, sich zurückzuhalten und das »unvermeidliche Massaker« abzuwenden.99 Doch kaum jemand hörte auf sie – weder die gut betuchten Kaufleute, die ihre Lager öffneten, um den Revolutionären den Zugriff auf Waffen und Wehrmaterial zu erlauben, noch die Apotheker, die bei der Herstellung von Schießpulver halfen, und auch nicht die Studenten, Arbeiter, Frauen und Kinder, die Barrikaden bauten und sich später bei den Kämpfen beteiligten. Als Hübner die Piazza vor dem Dom überquerte, wurde er von einer Menge eingeholt, die mit Schlagstöcken bewaffnet war, »hie und da finstere hohläugige Gestalten, wie man deren in Paris vor Ausbruch eines Aufstands sieht«. Der Himmel, der vom dumpfen Lärm widerhallte, »war bleifarbig, und ein feiner Regen, der später in Strömen fiel, vermehrte das unheimliche der Scene.«100 Während die Mailänder die engen Straßen des Altstadtkerns besetzten, hatten sich die habsburgischen Streitkräfte – größtenteils Kroaten und Ungarn – in
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den wichtigsten Gebäuden verschanzt und die Stadt eingekreist, indem sie die Mauern besetzt hielten. In den ersten Tagen war das Schicksal des Aufstands, der weder Plan noch Führung folgte, äußerst ungewiss: »Die Gegenden der Stadt, in denen die Erhebung am meisten Fortschritt zeigte, standen nicht alle miteinander im Austausch … darunter befanden sich sehr breite Straßen, die kaum besiedelt und sehr schwer zu verbarrikadieren waren, auf die das gegnerische Feuer fallen konnte … Man rechnete aus, dass in der ganzen Stadt in jener ersten Nacht nur drei- bis vierhundert Gewehre aller Art zur Verfügung standen.«101 Von der Casa Vidiserti aus wurde eilig eine Bürgerwehr organisiert. Die Villa fungierte anfangs als improvisiertes Hauptquartier der Aufständischen, weil dort Casati, ihr Anführer wider Willen, Zuflucht gesucht hatte. Osio, der wie viele der Aufrührer dort auftauchte, um Befehle entgegenzunehmen, wurde in der neuen Streitmacht zum Korporal ernannt und schließlich dem jungen, demokratischen Adeligen Luciano Manara unterstellt, dessen Abteilung die nächsten vier Tage fast pausenlos im Einsatz war. Zu den ersten Aufgaben Osios gehörte es, den gefangen genommenen Vizepräsidenten O’Donnell zu bewachen, der in die sicherere Casa Taverna in der Contrada de’Bigli überstellt worden war.102 Hier versuchten die Republikaner unter Cattaneo am 19. März die politische Initiative zu übernehmen, indem sie einen vierköpfigen Kriegsrat ins Leben riefen, dem unter anderem Cattaneo selbst und Cernuschi angehörten. Anfangs war dessen Hauptzweck die Einrichtung einer ständigen Führung und die Koordination der militärischen Vorgehensweise: Cattaneo musste seine ganze große Überredungskraft einsetzen, um die jüngeren Hitzköpfe davon abzubringen, hier und jetzt eine Mailänder Republik auszurufen. Wie, so fragte er, solle die Lombardei in diesem Fall die Unterstützung der übrigen italienischen Staaten gewinnen, die noch unter der Herrschaft von Monarchien standen und deren Verfassungen gerade erst das Licht der Welt erblickten? Statt die Freiheit zu genießen, würde Italien in einem Bürgerkrieg versinken. Das war eine kluge Analyse, doch der Kriegsrat schuf dennoch ein republikanisches Machtzentrum – einen Gegenentwurf zu Casatis liberaler monarchistischer Stadtverwaltung.103 Am 20. März war schon bei Sonnenaufgang klar, dass die kaiserlichen Truppen im Straßenkampf alle Mühe hatten. Hübner, der aufgrund der Kämpfe seit dem 18. März nahe des Doms in einer Wohnung festsaß, warf gelegentlich
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einen Blick über die Balkonbrüstung, von wo aus er Zeuge eines Blutbades wurde. Er sah nämlich, wie zwei berittene ungarische Soldaten durch Gewehrfeuer niedergestreckt wurden und kroatische Infanteristen stoisch in einen Hagel aus Musketenkugeln marschierten. Unter den Aufständischen »konnte keiner gesehen werden: Da gab es Männer, die mit Gewehren, Frauen, die mit Steinen und Kannen voll kochendem Wasser bewaffnet waren, verborgen hinter geschlossenen Fensterläden, sehend, ohne selbst gesehen zu werden. Dieser unsichtbare Feind war es, der eher zu töten als zu kämpfen schien, der auf die Fantasie eines Soldaten einwirkte, die wiederum seine Nerven reizte und ihn demoralisierte.« Der Lärm war ohrenbetäubend: »der Höllenlärm der Schreie, die Evviva-Rufe vermischt mit dem lästigen Läuten der Glocken und dem Maestoso der Kanonen von Vater Radetzky«. Am dritten Tag waren die Fensterläden der Wohnung von Geschossen durchlöchert, von der Straße wehte Pulverqualm herein. Auf dem Dach und im obersten Stockwerk waren Rebellen und feuerten auf die Österreicher hinunter, während die Soldaten ihrerseits nach oben schossen. Ab und an zerrissen Querschläger die Luft um die verängstigten Bewohner, allesamt Frauen. Zu ihrer eigenen Sicherheit brachte Hübner sie in einen innenliegenden Raum, wo sie sich hinter Matratzen zusammenkauerten. (Besonders faszinierte den jungen Österreicher die Gelassenheit einer jungen Schweizerin, »auf deren Beruf ich nicht neugierig war«, die aber an die rauen Sitten des Straßenlebens gewöhnt zu sein schien.)104 Die Zeugen auf der Mailänder Seite waren nicht weniger entsetzt von den Schrecken des Kampfes. Als der Aufstand auf die östlichen Stadtteile übergriff, musste Cattaneo über einen Kanal rudern, um die Lage in der Gegend der Porta Ticinese zu erkunden. Dort bot sich ihm ein hoffnungsloser Anblick. Abseits der Barrikaden »lagen die breiten Straßen leer und verlassen da, alle Häuser waren verschlossen; Geschützdonner … und das unaufhörliche Krachen von Gewehrsalven drangen in die Totenstille; dicker Rauch warf über alles eine trostlose Blässe«. Die Österreicher hatten Mauerlöcher in Wohnungen, Gärten und Stallungen geschlagen, um unbehelligt vom Gewehrfeuer der Straße vorrücken zu können. Frauen und Kinder, die zwischen die beiden Parteien geraten waren, kauerten sich angstvoll in den Häusern zusammen und verstellten Türen und Fenster, um sich vor abprallenden Geschossen zu schützen.105 Später klagten sich beide Seiten begangener Gräueltaten an. Die Mailänder hatten angeblich einen österreichischen Soldaten entdeckt, der eine Frauenhand wegtrug, die der Ringe an ihren Fingern wegen abgetrennt worden war. Ganze Familien sollen den Berichten nach von den habsburgischen Streitkräf-
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ten eingeschlossen und bei lebendigem Leib verbrannt worden sein. Die Österreicher behaupteten, einer ihrer Soldaten sei an ein Wachhäuschen gekreuzigt worden, auch hätten Mailänder Gefangene geblendet. So wie die Kampfhandlungen sich zugetragen hatten, ist es schwierig, die Behauptungen zu verifizieren, sie beweisen jedoch in jedem Fall, wie aufgeheizt die Stimmung auf beiden Seiten war.106 Immer mehr Aufständische kamen nun an Waffen, entweder weil sie sie gefallenen österreichischen Soldaten abnahmen oder weil sie mit bloßer Übermacht gleich ganze Abteilungen überfielen. Der Bedarf an Munition ließ nach, als eine österreichische Kaserne nach der anderen fiel.107 Radetzky war gezwungen, sein Palais zu verlassen und sich im Schloss einzurichten. Die Barrikaden zu verringern, so sein Entschluss, war nicht möglich, da das Heer für eine zerstörte sofort eine weitere vorfand. Er zog deshalb seine Truppen an die Stadtmauer zurück, von wo aus er die Stadt belagern wollte. Nachdem sich das Kampfgeschehen nun in Richtung Peripherie verlagert hatte, kämpften sich Hübner und die Frauen durch die Straßen und brachten sich im Haus eines Tiroler Bankiers in Sicherheit. Der einzige Weg aus Mailand hinaus führte für den österreichischen Diplomaten Hübner über Verhandlungen mit der Stadtregierung. Dadurch aber wurde er letztlich doch noch zum Gefangenen der Aufständischen. Am 21. März wurde er verhaftet, musste durch Straßen marschieren, in denen die Trikolore flatterte und ein »Lang lebe Italien! Lang lebe Pius IX.!« erschallte.108 Doch schon bald wurde die Kluft zwischen den Mailänder Monarchisten und den Republikanern größer. Als noch am selben Tag Radetzky einen seiner Offiziere für Verhandlungen um einen Waffenstillstand sandte, zögerte Casati, der in dem Angebot vielleicht eine Möglichkeit sah, Zeit zu gewinnen, bis Karl Albert endlich die Zusage machen würde, sein Heer gegen die Österreicher zu schicken. Aus ebendiesem Grund weigerte sich Cattaneo, Verhandlungen über eine Kampfpause auch nur in Erwägung zu ziehen.109 Der Machtkampf zwischen liberalen Monarchisten und Republikanern – die Bruchstelle, die sich durch die ganze italienische Revolution von 1848/48 ziehen sollte – nahm hier bereits Gestalt an. Mittlerweile brachten die Mailänder ihren ganzen Einfallsreichtum ins Spiel, um den Belagerungszustand aufzubrechen: »Astronomen und Optiker stiegen die Observatorien und Glockentürme hinauf, um die Bewegungen des Feindes auf den Bastionen auszukundschaften und schickten stündlich Bulletins. Um keine Zeit mit Treppen-
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steigen zu vergeuden … hefteten sie ihre Berichte an einen kleinen Ring, den sie am Ende eines Eisendrahtes nach unten ließen. Cernuschi organisierte auf der Stelle ein Nachrichtensystem, das von den Schülern der Waisenhausschulen bedient wurde … An ihren Uniformen erkennbar, schlüpften sie schnell durch die Menschenmassen, die sich um die Barrikaden sammelten und erfüllten diese Aufgabe mit eben soviel Intelligenz wie Genauigkeit. Bald darauf kam jemand auf den Gedanken, kleine Ballons mit Proklamationen steigen zu lassen, die in der ländlichen Umgebung verteilt werden sollten. Die Kroaten, die auf den Bollwerken campierten, feuerten ihre Gewehre umsonst danach ab … Man unternahm den Versuch, hölzerne Kanonen herzustellen, die von Eisenringen zusammengehalten wurden und eine kleine Anzahl von Schüssen abzugeben vermochten.«110 Mailands originelle Luftpost trug Appelle zu den Lombarden, den Aufstand zu unterstützen. Manche trieben nach Piemont, während andere bis in die Schweiz geweht wurden. Schon wurde dem Ruf Folge geleistet, denn die unabhängig gesinnten Bauern der oberen Lombardei hatten sich erhoben und marschierten in Provinzstädten wie Como und Monza ein, wo sie die Besatzungen der kleinen österreichischen Garnisonen zwangen, schnell den Rückzug anzutreten. Inzwischen hatten Casati und die Gemäßigten durch das überraschende Auftauchen Graf Martinis, der heimlich in die belagerte Stadt gelangt war, Auftrieb erhalten. Dieser und d’Adda hatten am 19. März mit König Karl Albert gesprochen und um militärische Unterstützung gegen Österreich gebeten. Der piemontesische Monarch war bereit, sein Heer zu schicken, vorausgesetzt der Mailänder Magistrat bitte offiziell um Hilfe. Schließlich würde er seine Invasion den anderen europäischen Mächten gegenüber rechtfertigen müssen. Zudem sah sich Karl Albert vor einer heimischen Herausforderung durch piemontesische Radikale, die mit einer eigenen Revolution drohten, sollte der König sich nicht in den Dienst der italienischen Einigung stellen und Soldaten gegen Österreich schicken. Sein wichtigstes Motiv aber waren seine dynastischen Ambitionen: ein norditalienisches Königreich unter der Herrschaft der Savoyer durch eine Annektierung der Lombardei und Venetiens. Auch aus diesem Grund war es nötig, die republikanische Bewegung im Keim zu ersticken, denn diese würde für eine weitergehende italienische Vereinigung auf demokratischer Basis eintreten. Und so kam es, dass Martini zurück nach Mailand kam, die Botschaft des Königs im Gepäck. Verkleidet als
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Arbeiter, der Salz zu liefern hat, stahl er sich in der Nacht vom 21. zum 22. März in die Stadt.111 Nachdem er die Führungsriege nicht dazu bewegen konnte, Karl Alberts Angebot abzulehnen, fügte sich Cattaneo dem Magistrat und willigte in einen Kompromiss ein. Daraufhin erging die Bitte um Beistand im Namen Mailands an »alle Völker und alle Fürsten Italiens, insbesondere jene von Piemont, ihren streitbaren Nachbarn«.112 Bewaffnet mit diesem Appell kehrte Martini nach Turin zurück. In den frühen Morgenstunden des 22. März bildete Casati schließlich eine provisorische Regierung, die unmissverständlich die Führung des Aufstands beanspruchte. Cattaneo erkannte sie sofort an. Darüber hinaus unterschrieb er eine Bekanntmachung der provisorischen Regierung, in der erklärt wurde, dass politische Auseinandersetzungen bis nach dem Ende der Kämpfe verschoben würden: »Nach dem Sieg [A causa vinta] wird es an der Nation sein, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen.« – »A causa vinta« lautete Cattaneos großes Zugeständnis, es sei, sagte er, »der einzige Befehl, der die Explosion politischer Leidenschaften hinauszuzögern vermochte«.113 Doch die Zeit war auf der Seite der Monarchisten. Es dauerte nicht lange, bis die piemontesische Armee auftauchte und das politische Gleichgewicht entschieden zu ihren Gunsten verschob. Nicht zum letzten Mal hatte ein italienischer Republikaner die Chance auf Machtübernahme vertan. Warum Cattaneo es tat, ist eine interessante Frage. Rückblickend erklärte er es damit, dass die Republikaner ihr Eigeninteresse und ihre Ideale zum Wohle des übergeordneten Kampfes um Unabhängigkeit zurückzustellen bereit waren.114 Wahrscheinlich stimmt es, dass Cattaneo um jeden Preis einen Bürgerkrieg vermeiden wollte, und es scheint, als habe er erkannt, dass die republikanische Bewegung gegenüber den Monarchisten in der Minderheit war. Trotzdem hat er vielleicht das Ausmaß an Unterstützung und Ansehen, das die Radikalen inzwischen genossen, unterschätzt: Der Aufstand hatte die republikanische Bewegung popularisiert, es gab sogar Hinweise auf republikanische Gesinnung in den kleinen Städten und Dörfern der Umgebung. Dennoch war es nicht einfach, diese aufkeimende Sympathie in eine wahrhaft revolutionäre Bewegung zu überführen. Die Handvoll radikaler Anführer in den ländlichen Gegenden konnte sich nicht gegen den dominanten konservativen Einfluss der Großgrundbesitzer und Priester durchsetzen, die die Monarchisten unterstützten. In Mailand selbst konnte sich die provisorische Regierung »a causa vinta« etablieren und die politischen Früchte des Siegs über die Österreicher ernten.115
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Höhepunkt der fünf Mailänder Tage: Der Sturm auf die Porta Tosa am 22. März. Das Gemälde zeigt die Einheit unter den Aufständischen: Ein Priester schwenkt die italienische Trikolore, ein Bürger mit Zylinder schließt sich neben Handwerkern dem Kampfgeschehen an, Frauen leisten Unterstützung. (akg-images)
Dieser Sieg wurde untermauert, als die Mailänder am 22. März in einer eintägigen Schlacht einen beherzten Vorstoß gegen die Porta Tosa unternahmen. An der Tosa kamen die österreichischen Bastionen dem Stadtkern am nächsten, und Mailänder Offiziere gaben den entschiedenen Rat, den Feind genau an dieser Stelle zurückzudrängen. Dahinter stand die Idee, nicht nur die Innenstadt zu sichern, sondern das Tor für die lombardischen Rebellen zu öffnen, die man schon in der Ferne erspäht hatte und die nun zu Hunderten die Berge herunterströmten. Nachdem Carlo Osio von den Hausdächern herab die Lage inspiziert hatte, konnte der Kampf beginnen. Um 7 Uhr feuerten die Italiener mit Kanonen und Gewehren Salven aus Fenstern, von Dächern und hinter Gartenmauern hervor auf die österreichischen Posten auf dem Tor, in der Zollstation und
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der nahegelegenen Casa Tragella. Die kaiserlichen Truppen antworteten mit Congreve-Raketen, wobei ein Haus in Flammen aufging. Der letzte Angriff fand unter dem genialen Schutz beweglicher Barrikaden statt. Was nun folgte, war ein erbitterter Schusswechsel – Osio berichtete später, er allein hätte 150 Kartätschen abgefeuert.116 Manara und ein weiterer Aristokrat mit demokratischen Prinzipien, Enrico Dandolo, waren die Ersten, denen der finale Schlag gegen das Zollhaus gelang. Manara schwenkte die Trikolore, während die restlichen Angreifer hinter ihnen nachdrängten. Frauen, die von benachbarten Balkonen aus zuschauten, feuerten sie an. Schließlich gelang es ihnen, das Tor einzuschlagen. Am Ende konnten die siegreichen Mailänder, die nur noch den Graben auf der anderen Seite des Bollwerks überqueren mussten, endlich die lombardischen Bauern und kleinstädtischen Handwerker in die Arme schließen, die, angeführt von Akademikern und Priestern ihrer Heimat, nun in die Stadt strömten. Radetzkys Belagerung war durchbrochen. Ab jetzt musste jener also mit der drohenden piemontesischen Invasion und dem Bauernaufstand in den nördlich liegenden Bergen fertig werden. Seine erschöpften Truppen waren zwar noch geordnet, nicht aber imstande, zugleich Mailand zurückzuerobern, der Erhebung auf dem Land zu begegnen und einer Übermacht von Karl Alberts Armee standzuhalten. Um angesichts dieser nicht an die Mauern der Stadt gedrückt zu werden, befahl Radetzky seinen Truppen den Rückzug – nachdem seine Artillerie zur Vergeltung ein Trommelfeuer auf die Stadt hatte niederprasseln lassen. Hübner, der mit seinen Entführern in einem Keller Schutz gesucht hatte, verbrachte dort eine ungemütliche Nacht, während er auf das dumpfe Dröhnen der Gewehre lauschte, auf das »ein eigenthümliches Getöse folgte, etwa wie das Klappern der Holzschuhe eines Mannes, welcher rasch eine Wendeltreppe herabläuft« − das Geräusch einstürzenden Mauerwerks. Das Bombardement dauerte bis ein Uhr nachts, und zu den schlimmsten Zerstörungen kam es in der Nähe des Schlosses, wo die meisten österreichischen Gewehre in Stellung gebracht waren. Der Dom, Kirchen und öffentliche Gebäude indessen wurden nicht beschädigt, hatte Radetzky doch seinen Schützen befohlen, sie zu verschonen. Für ihn stand außer Frage, dass die Österreicher sie schon bald wieder besetzen würden.117 Trotzdem war die Innenstadt mit Bauschutt übersät, Mauern waren mit Einschüssen durchsetzt. Platten lagen über die Straßen verstreut, und noch immer stieg Rauch aus verkohlten Häusern auf. Am 23. März zogen Radetzkys Truppen nach Norden zum sogenannten Festungsviereck Verona–Peschiera–Mantua–Legnano, das den Weg nach Österreich versperrte. Am selben Tag erklärte Karl Albert dem Kai-
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serreich den Krieg und schickte seine Armee über den Fluss Ticino, seinen persönlichen Rubikon, der ihn von seinen herrschaftlichen Ambitionen trennte. Die ruhmreichen »fünf Tage von Mailand« waren vorbei. Unter den Feiernden befand sich auch Giuseppe Verdi, der noch in Paris weilte, als er die Kunde vernahm. Zügig eilte er nach Mailand zurück, kam aber erst Anfang April dort an. Sogleich schrieb er einem Freund: »Ja, ja, noch ein paar Jahre, vielleicht nur noch ein paar Monate und Italien wird frei, vereint und eine Republik sein. Was sollte es auch sonst sein?«118 Er war nicht allein, denn ein anderer großer Italiener war ebenfalls in Mailand angekommen: der republikanische Revolutionär Giuseppe Mazzini. Der Aufstand war vorbei, doch die komplizierte Politik der italienischen Revolution hatte eben erst begonnen. Mit ihrer Verhaftung im Januar hatten sich die Venezianer um die beiden Berühmtheiten Daniele Manin und Nicolò Tommaseo geschart. Sobald die Nachricht von Metternichs Sturz am 17. März Venedig mit Lloyds Liniendampfer aus Triest erreichte, konnte nichts mehr die Versammelten zurückhalten. Wie eine Flut brandete die Masse auf den Markusplatz und forderte die Freilassung der beiden politischen Gefangenen. Dann stürmte sie den Sitz des Zivilgouverneurs auf der Piazza, wo sie an der Treppe die verängstigten Bewohner traf, Aloys Graf Pálffy und dessen erschütterte Gattin. Freunde von Manin hasteten unterdessen zum nahe gelegenen Gefängnis, um die beiden Männer zu befreien. Die Kerkermeister dachten sich klugerweise, dass es sicherer sei, zu kapitulieren als Widerstand zu leisten, und brachten die beiden Gefangenen herbei. Manin konnte davon überzeugt werden, dass die Zeit für die Befreiung Venedigs von der österreichischen Herrschaft günstig sei. Als am 18. März kroatische und ungarische Soldaten versuchten, die italienischen Trikoloren einzuholen, die seit dem Tag zuvor auf dem Markusplatz wehten, wurden die Einsätze erhöht. Nun lachte die Menge die Soldaten aus, worauf ein wütender Offizier den Befehl zum Schießen erteilte. Nachdem sich der Rauch von zwei Salven verzogen hatte, lagen neun Venezianer tot oder verwundet da. Weil die Stimmung der Massen jederzeit in Raserei umschlagen konnte, trat Manin mit dem Vorschlag an Pálffy heran, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Verteidigung des Besitzes, eine Bürgergarde ins Leben zu rufen. Als gemäßigter Republikaner wünschte sich Manin aufrichtig, eine Revolution zu vermeiden, doch natürlich hoffte er auch darauf, die neue Bürgergarde gegen die Österreicher einzusetzen, sobald die Zeit dafür reif war. Pálffy, der hoffte, dass Radetzky schon bald Soldaten zu seiner Hilfe schicken würde, versuchte Manin mit dem Versprechen hinzuhalten, den Vizekönig, Erzherzog Rainer, der gerade in
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Verona weilte, zurate zu ziehen. Manin durchschaute die List und organisierte trotzig eine zweitausend Mann starke Miliz. In jener Nacht patrouillierten Männer mit weißen Schärpen in den Straßen der Stadt.119 Man hätte den österreichischen Behörden nachsehen können, dass sie meinten, den Sturm vom 19. März überstanden zu haben, als das Versprechen einer kaiserlichen Verfassung aus Triest eintraf. Unter den Rufen »Lang lebe Italien! Lang lebe der Kaiser!« verlas Pálffy der begeisterten Menge die Proklamation Ferdinands. In dieser Nacht ließ das Publikum ihn und seine Frau bei einem Konzert im Theater La Fenice hochleben. Doch es war eben nicht alles in Ordnung! Niemand mochte glauben, dass der habsburgische Kaiser freiwillig eine Verfassung garantierte. Noch immer war die Garnison stark besetzt, und man munkelte, die Armee werde versuchen, die Stadt vom Arsenal aus durch ein Bombardement in die Knie zu zwingen. In diese Angst mischte sich jedoch auch neue Hoffnung: Geschichten über den Aufstand in Mailand machten inzwischen die Runde und hielten den Enthusiasmus der Venezianer am Leben. Manin entschied, dass es jetzt an der Zeit sei, zu handeln, zumal er erfuhr, dass die kroatischen Truppen im Arsenal bald Verstärkung erhalten sollten. Am Abend traf er sich mit anderen venezianischen Revolutionären, sie sondierten ihre umstürzlerischen Kontakte zur kaiserlichen Marine, darunter ein Offizier namens Antonio Paolucci, der versuchen sollte, die italienischen Matrosen für die Unterstützung eines Anschlags auf das Arsenal zu gewinnen. Entscheidend aber waren die fünfzehnhundert Arbeiter – die arsenalotti –, die mit ihren österreichischen Arbeitgebern unzufrieden waren. Dies betraf vor allem ihren Arsenalkommandanten Kapitän Marinovich, der sich geweigert hatte, Zulagen zu gewähren, und den Arbeitern verbot, ihr Einkommen in überlieferter Manier durch das Reparieren von Gondeln und die Beschaffung »herrenloser« Marinevorräte aufzubessern. Das Datum für den Aufstand wurde auf den 22. März festgesetzt. Dann sollte die Bürgergarde mittags durch die Tore des Arsenals einfallen und es mithilfe der Arbeiter zur Kapitulation zwingen. An diesem Tag agierten die arsenalotti zunächst spontan, sie waren einfach wütend auf Marinovich. Der Kapitän stand praktisch wehrlos da, als der Marineoberkommandant Venedigs, Admiral Martini, aus Angst, die Massen zu provozieren, der kroatischen Wache befahl, sich zurückzuhalten. Paolucci versuchte Marinovich zu helfen, der in einer überdachten Gondel vor den arsenalotti fliehen wollte, doch der glücklose Kapitän wurde gesichtet und auf das Dach gejagt. Man schleifte ihn die Treppen hinunter, schlug ihn zusammen und ließ ihn sterbend in einem Bootshaus zurück. Entsetzt angesichts dieser Brutalität,
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schickte Manin einen Vortrupp der Bürgerwehr los, um weitere Gewalttaten zu verhindern. Als er selbst mit dem Rest der Miliz eintraf, zitierte er die Arbeiter durch das Läuten der großen Arsenalglocke herbei und übernahm von einem einsichtigen Martini die offizielle Leitung. Ein österreichischer Versuch, das Arsenal zurückzuerobern, misslang, weil die überwiegend italienischen Soldaten sich weigerten, den Befehlen zu gehorchen. Stattdessen richteten sie ihre Gewehre gegen ihren ungarischen Offizier, der dem sicheren Tod nur dank der Vermittlung durch einen Verbündeten Manins entging. Angesichts dieser Meuterei gab der Rest der Italiener in der Garnison auf, sie schlossen sich der Revolution an, rissen sich den österreichischen Adler von den Kappen und ersetzten ihn durch die italienische Trikolore: Die schwarz-goldenen habsburgischen Embleme sah man später zu Hunderten in den Kanälen der Stadt treiben. Eine Abteilung der Bürgerwehr nahm mühelos die Kanonen ein, die vor dem Markusdom aufgereiht standen. Ihre Geschütze wurden so lange herumgerollt, bis sie auf den Dogenpalast zeigten, wo ein verzweifelter Pálffy Venedigs Magistrat versammelt hatte – fast alles Adelige, die die Stadt davor bewahren wollten, in die schmutzigen Hände von Bürgern und Republikanern wie Manin zu fallen. Während Räte und Zivilgouverneur noch über das beste Vorgehen diskutierten, drang immer mehr Lärm von draußen zu ihnen hinein. Manins Gefolgsleute hatten eine riesige Trikolore mit einer Jakobinermütze obendrauf entfaltet, während Manin selbst vor dem Café Florian auf einem Tisch stand und begeistert »Lang lebe die Republik! Lang lebe Sankt Markus!« rief. Der einzige Republikaner unter den Ratsherren, der freimütige Anwalt Gian Francisco Avesani, forderte den Rückzug aller nicht italienischen Truppen aus Venedig sowie die Übergabe der Festungen, einschließlich der Geschütze, Waffen und Regimentskassen. Außer sich vor Wut legte Pálffy sein Amt als Zivilgouverneur nieder und übergab die Verantwortung dem Kommandeur der österreichischen Garnison, Graf Ferdinand Zichy. Glücklicherweise war der nicht so uneinsichtig wie Radetzky: Er schreckte vor dem Gedanken zurück, Venedig in Schutt und Asche zu schießen, liebte er doch die Stadt. Deshalb übergab er um 18 Uhr 30 die Kontrolle dem Magistrat, dessen Führung jetzt an Avesani fiel. Doch schnell war klar, dass die Venezianer eine Regierung ohne Manin, dem Helden des Tages, niemals akzeptieren würden. Deshalb trat Avesani in den frühen Morgenstunden des 23. März zurück und Daniele Manin wurde zum Präsidenten der neuen Übergangsregierung der Repubblica di San Marco ernannt. Die kaiserliche Armee verließ die Stadt, der offizielle Bericht nach Wien sollte mit den Worten beginnen: »Venedig ist tatsächlich gefallen.«
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Kurz bevor Daniele Manin intellektueller Kopf der venezianischen Republik werden sollte, wird er am 17. März aus der Haft befreit und auf den Schultern getragen. Gemälde von Napoleone Nani 1874–76. (akg-images)
VII Nicht alle europäischen Staaten erlebten im Jahr 1848 eine gewaltsame Revolution. Über die Pyrenäen zum Beispiel drangen nur Ausläufer der französischen Revolutionswellen: In Katalonien gab es gewisse Regungen, in Madrid einen verpfuschten Aufstand und in Sevilla eine Meuterei beim Militär, doch (außer in Madrid) ist nicht klar erkennbar, welchen Anteil die republikanische Bewegung daran hatte. So stellte in Katalonien eine »Carlisten-« oder ultramonarchistische Revolte die größte Bedrohung für die Regierung dar. Die damalige Regierung unter General Ramón María Narváez reagierte auf die europäischen Märzrevolutionen, indem sie in den Cortes* die Aussetzung der Bürgerrechte, Sondermittel zur Bekämpfung möglicher Erhebungen und die zeitweilige Auflösung des Parlaments (was schließlich neun Monate lang dau*
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ern sollte) durchsetzte.120 Mitunter schien Narváez den reaktionären spanischen Militarismus zu verkörpern. Auf seinem Totenbett entgegnete er auf die Bitte, seinen Gegnern zu verzeihen: »Das muss ich nicht, weil ich sie alle erschossen habe.« Doch wenn er auch von autoritären Methoden nicht frei war, hatte er auch liberalere Seiten: So versuchte er zeitlebens, einen gemäßigten konstitutionellen Kurs zwischen katholischem Royalismus und republikanischer Revolution zu halten, allerdings handelte es sich um einen Konstitutionalismus, der – das war seine tiefe Überzeugung – nur den vermögenden Eliten die Macht übereignen sollte. Durch die Unterstützung von Königin Isabella und dem Ruf, Garant politischer und sozialer Stabilität zu sein, schaffte es Narváez, Spanien durch die Revolutionsstürme von 1848 zu führen. Das benachbarte Portugal wiederum stand seit 1846 mit Rückendeckung durch England, Frankreich und Spanien unter der Führung von General Saldhanha, der wie Narváez eine konservative konstitutionelle Ordnung mit der Brechstange gegen Reaktionäre wie Radikale verteidigte.121 England, das zur selben Zeit mit einem kleineren Aufstand in Irland konfrontiert war, verließ sich auf die Stärke seiner Verfassung und die breite Zustimmung seitens der Bürgerlichen, um der radikalen Herausforderung durch die Chartisten zu begegnen, die in den fünf Punkten ihrer People’s Charter von 1838 forderten: allgemeines Wahlrecht für Männer, geheime Wahlen einmal jährlich, gleichmäßig eingeteilte Wahlbezirke, Diäten für Parlamentsabgeordnete, die Abschaffung der Vermögensqualifikation für Abgeordnete. Die Stärke der Chartisten lag in dem politischen Radikalismus der britischen Handwerker und Facharbeiter, doch die Bewegung umfasste verschiedene, manchmal sich widerstreitende Richtungen. Ein radikaler Flügel, verkörpert von Männern wie Bronterre O’Brien und Feargus O’Connor, zog Streiks und Gewalt – oder zumindest ihre Androhung – als notwendige Taktik in Betracht, während eine gemäßigtere Seite, etwa der Londoner Möbelschreiner William Lovett (einer der Autoren der People’s Charter), Druck durch Erziehung, Weiterbildung und Überzeugungsarbeit ausüben wollte. Auf der linken Seite wies die Bewegung eindeutig eine rosafarbene, sozialistische Schattierung auf, auch war sie mit der nationalistischen Opposition in Irland verbunden. In der wirtschaftlichen Not der 1840er-Jahre konnte O’Connor mit scharfer Rhetorik und seiner Zeitung Northern Star, die in einer Auflage von 30 000 erschien, Boden gewinnen.122 Obwohl vieles bloß revolutionäre Rhetorik war, lösten die Nachrichten von der Februarrevolution in Paris in den offiziellen Kreisen die Sorge aus, dass die
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chartistische Agitation an Schärfe zunehmen und nicht mehr auf Propaganda oder geduldige Eingaben für eine parlamentarische Reform allein setzen würde. Die Alarmglocken läuteten schriller, als es am 6. März in Glasgow und London im Zuge eines parlamentarischen Antrags für eine (tatsächlich zurückgezogene) Erhöhung der Einkommenssteuer zu Gewaltausbrüchen kam. In Glasgow war die Lage ernster: Die meisten Demonstranten waren arbeitslose Arbeiter, die Bäckereien plünderten und Geländer herausrissen, um sie als Waffen zu benutzen, bevor die Obrigkeit schließlich Soldaten aufbot, um ihnen die Leviten zu lesen. Bei der anschließenden Schießerei wurde ein Demonstrant getötet, zwei wurden tödlich verwundet. »Wie ein Buschfeuer«, berichtete die Times, »verbreitete sich der Weckruf in der Stadt und führte im Verbund mit den letzten Ereignissen in Paris überall zur Sorge vor politischen Unruhen.«123 Die Londoner Krawalle spielten sich auf dem Trafalgar Square ab, wo eine Kundgebung, obwohl von der Polizei verboten, rund zehntausend Leute anzog. Sie lauschten den chartistischen Rednern, die von den Herrlichkeiten der französischen Republik erzählten und mit Hochrufen auf die People’s Charter und das neue Regime in Frankreich schlossen. Es folgten Handgemenge mit der Polizei, und eine kleine Gruppe von etwa zweihundert Protestlern warf Schaufenster ein und Straßenlaternen um. Die Kutsche einer Dame wurde zum Stehen gebracht und sie selbst als »Aristokratin« beschimpft. Doch da ihr Ehemann erst kürzlich in den Adelsstand erhoben worden war, verzeichnete sie dies als Lob. Alles in allem zeigte dieser Tag, dass der »Londoner Pöbel zwar weder heroisch noch poetisch, weder patriotisch, aufgeklärt noch sauber, eine vergleichsweise gutmütige Gesellschaft ist«, kommentierte die Times mit patriotischer Distanziertheit.124 Doch die Gefahr war wohl noch nicht gebannt, denn drei Tage später riefen die Chartisten für den 10. April 200 000 Menschen zu einer Kundgebung auf dem Kennington Common im Süden Londons auf, von wo aus die Demonstranten zum Parlament marschieren wollten, um der geforderten Parlamentsreform Nachdruck zu verleihen. Sollte dies, wie der sozialistische Chartist Ernest Jones meinte, in anderen Städten Nachahmung finden, dann würde das Parlament unter dem großen Druck nachgeben und die People’s Charter zum Gesetz erhoben. Die Angst vor einer drohenden Revolution befiel nun die Öffentlichkeit, und das umso mehr, als am 4. April in London eine Versammlung der Chartisten stattfand. Einer Bevölkerung, die in der Presse über die Pariser Revolution und deren sozialistische Clubs gelesen hatte, erschien dies als unheilvoller Versuch einer britischen Nachahmung. Und die Rhetorik der Char-
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tisten trug das Ihre dazu bei, diese Ängste zu schüren: Am Vorabend der Demonstration sagte Jones der jubelnden Versammlung: »So wahr mir Gott helfe, ich werde morgen in der ersten Reihe marschieren, und sollten sie irgendwie Gewalt ausüben, werden sie keinen Tag länger im Abgeordnetenhaus sitzen.«125 Die Regierung war so weit alarmiert, dass sie Königin Viktoria und ihre Familie bat, sich auf ihren Landsitz Osborne House auf der Isle of Wright zu begeben. Unter Mitwirkung des betagten Herzogs von Wellington bereitete sich die Obrigkeit auf eventuelle Schwierigkeiten vor, indem sie auf den Themsebrücken Polizisten stationierte, während sie die Truppen diskret außer Sichtweite, aber doch nahe an strategisch wichtigen Punkten beließ. Die Bank von England wurde mit Sandsäcken und Kanonen bewehrt. An die 85 000 Einwohner wurden als Sonderpolizisten vereidigt, was Charles Dickens dazu veranlasste, diese Angelegenheit mit der Begründung abzulehnen, dass »Sonderpolizisteritis« ansteckend sei.126 In der Tat machte die überwältigende Unterstützung der Regierung durch den Mittelstand, angefangen bei den Wohlhabendsten bis hinunter zum Kleinbürgertum der Ladenbesitzer, Angestellten und dergleichen, die Situation in London vom April zu einer gänzlich anderen als die vom Februar in Paris.127 Auch die Chartisten selbst übten Zurückhaltung. Trotz der starken Worte wollte der Protest in erster Linie Druck erzeugen und nicht die Säuberung des Parlaments oder den Sturz der Regierung bewirken. Jetzt, da man sah, welche Machtmittel aufgeboten wurden, zeigte sich selbst der hitzköpfige Feargus O’Connor einigermaßen erleichtert, als er von der Polizei erfuhr, dass die Massenveranstaltung, nicht aber der Marsch zum Parlament genehmigt worden sei, während er noch auf ein Fuhrwerk kletterte und den angespannten Chartisten befahl, »ihre Sache nicht durch Unbeherrschtheit und Unfug zu gefährden«. Auch ein widerwilliger Jones stimmte zu, da er den Eindruck hatte, die Bewegung sei noch nicht reif für den »Versuch eines Zusammenstoßes mit der Obrigkeit«.128 Am Ende wurden die Forderungen der Chartisten von einer kleinen Delegation unter der Führung O’Connors überreicht. Im Parlament verspottete man die Petition – insbesondere amüsierten sich die Abgeordneten über die gefälschten Unterschriften (ein Witzbold hatte als »Königin Victoria« unterzeichnet). Es könnte allerdings sein, dass das Gelächter weniger dem Spott als vielmehr der Erleichterung geschuldet war. Ein erleichterter Palmerston, damals englischer Außenminister, erklärte den 10. April zum siegreichen »Waterloo des Friedens und der Ordnung«.129 Und auch wenn es nicht sofort deutlich wurde, so war den Chartisten doch der Wind aus den Segeln genom-
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men worden, und während noch ein radikaler Flügel im Sommer auf Gewalt setzen sollte, wurden doch die meisten ihrer Anführer, darunter Jones, inhaftiert. Die Niederlage der Chartisten 1848 war auf jeden Fall für das Scheitern des Widerstands in Irland mitverantwortlich, denn nun brauchte die Whig-Regierung in London keine Zugeständnisse an die irischen Nationalisten zu machen, als sie mit ganzer Kraft gegen eine revolutionäre Bedrohung in Großbritannien vorging. Fast augenblicklich verstärkte auch der Lord Lieutenant im Dublin Castle den Druck: Im März wurden die Anführer der nationalistischen Bewegung des »Jungen Irland« – William Smith O’Brien, Thomas Francis Meagher und John Mitchel – inhaftiert und der Volksverhetzung angeklagt. Unruhestifter wollte die Regierung zum Schweigen bringen, bevor sie einen Revolutionssturm unter einer Bevölkerung entfachen konnten, die durch die Hungersnot am Boden lag (O’Brien hatte die britische Regierung bereits beschuldigt, dass sie Hunderttausende von Iren absichtlich habe sterben lassen).130 Der Präventivschlag war jedoch kontraproduktiv, denn dadurch wurden die drei Männer zu Nationalhelden. Der Prozess gegen die ersten beiden indessen scheiterte, weil die Geschworenen zu keinem Urteil fanden, und als Mitchel zu vierzehn Jahren Deportation verurteilt wurde, wurde die zuvor in sich zerstrittene nationalistische Bewegung zur Einigkeit gedrängt. Die Gemäßigten der »Repeal Association« (sie wurde so genannt, weil sie die seit 1800 bestehende Union Irlands mit Englands rückgängig machen wollte) unter John O’Connell verbanden sich mit dem eher militanten »Jungen Irland« zur »Irish League«. Die mehr als siebzig »Confederate Clubs« des »Jungen Irland«, mit insgesamt rund 20 000 Mitgliedern, die meisten davon aus Städten (etwa die Hälfte aus Dublin) durften sich bewaffnen und fungierten als irische »Nationalgarde«. Im Falle eines Falles waren die Waffenbestände jedoch knapp, zudem hatten die Konföderierten nicht genug Zeit für eine angemessene Ausbildung. Dennoch provozierte das ganze Gepolter eine weitere Phase der Unterdrückung seitens der Regierung: Im Juli verbot sie in Dublin den Besitz von Waffen, setzte die Habeas-Corpus-Akte aus und inhaftierte mehrere Konföderierte. In Anbetracht der Repressionen war es für diese schwer, einen Kurs der Mitte zu halten, doch die Führungsriege der League stimmte – wenn auch mit sehr knappem Vorsprung – dafür, auf eine bessere Gelegenheit zum Aufstand zu warten. Sie autorisierte die konföderierten Clubs, sich mit Waffengewalt zu verteidigen, aber nicht, sich zu erheben. Nur Smith O’Brien und ein paar andere Mitglieder des Jungen Irland, darunter Meagher, machten unermüdlich weiter. Ende Juli versuchten
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sie, die Gegend um Kilkenny zu einer Revolte aufzustacheln, konnten aber nur ein paar Hundert Rekruten zusammenbringen. Smith O’Brien und seine engsten Mitstreiter zogen letztlich in einem Gehöft und seinen Kohlbeeten Stellung. Es kam zu heftigen Schusswechseln, bei denen die Blitze aus den Polizeimusketen das Dunkel erleuchtet haben sollen. Meagher, der später mit Auszeichnungen auf der Seite der Union im Amerikanischen Bürgerkrieg diente, behauptete rückblickend, die irischen Revolutionäre hätten an diesem Tag so viel gefeuert wie er in Gettysburg.131 Die Aufständischen zerstreuten sich, Smith O’Brien aber wurde später an einem Bahnhof aufgegriffen und nach Tasmanien deportiert.132 Die überkommene Ordnung auf den Britischen Inseln ging somit aus dem Trauma von 1848 unbeschadet hervor. Andere europäische Regierungen – etwa die der Niederlande und Belgiens – machten rechtzeitig Zugeständnisse, bevor die oppositionelle Dünung zu einer ernsthaften Flutwelle anschwellen konnte. Russland schlug indessen den entgegengesetzten Kurs ein und unterdrückte schonungslos das Aufflackern jedweder revolutionären Opposition, auch die schwedische Regierung setzte Gewalt ein, um Forderungen nach einer Reform eine Abfuhr zu erteilen. In den Niederlanden hatte König Wilhelm II., der unter parlamentarischen Einschränkungen regierte, die in der Verfassung von 1815 so nicht existierten, im Vorfeld der europäischen Revolutionen erklärt, dass er bereit sei, sich die Vorschläge der Generalstaaten über eine sanfte konstitutionelle Reform anzuhören. Als jedoch die Zeit für die Debatte am 9. März gekommen war, ergoss sich gerade die Revolutionswelle einer Kaskade gleich über den Kontinent. Wilhelm ignorierte den Rat einer Kabinettsminderheit und stemmte sich gegen jede Reform, die über den ursprünglichen Verfassungsentwurf hinausging. Die allgemeine Enttäuschung darüber fasste der Führer der Liberalen, Johan Thorbecke zusammen, indem er das Gesetz »einen kleinen, armseligen Löffel voll aus unserem Wasserkessel« nannte.133 Doch vier Tage später, unter dem Einfluss von (unglaubwürdigen) Berichten, nach denen die Einwohner von Amsterdam unruhig würden, schwenkte der König, ohne zuvor sein Kabinett konsultiert zu haben, um und berief die Abgeordnetenkammer ein, um ein tiefgreifenderes Reformprogramm zu diskutieren. Seine konservativen Minister traten geschlossen zurück und lösten damit allgemeinen Jubel aus, der sich vom 14. bis 16. März in Den Haag schon bald in eine friedliche Demonstration verwandelte, um Thorbeckes Forderung nach einer unabhängigen Reformkommission Nachdruck zu verleihen. Nach langem Zögern (nicht zuletzt aus-
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gelöst durch den plötzlichen Tod seines Sohnes) ernannte der König eine Kommission, die ihrerseits ein neues Kabinett einsetzte und weitreichende Reformen formulierte, darunter Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit. (Dieser letzte Punkt war für die große katholische Minderheit, die sich bisher als Bürger zweiter Klasse gefühlt hatte, wesentlich.) Die Minister sollten dem Parlament verantwortlich sein, das – wenn auch mit eingeschränktem Wahlrecht – direkt und in gesetzlich festgelegten Abständen gewählt werden sollte. Als diese Vorschläge am 19. Juni dem Parlament vorgelegt wurden, lehnten die Konservativen das meiste davon ab. Damit befanden sich die Holländer in der (für 1848) eigentümlichen Situation, eine Regierung zu besitzen, die versuchte, ein politisches Reformprogramm umzusetzen, aber von einer gewählten Volksvertretung abgeschmettert wurde. Am Ende wurde ein Kompromiss herausgeschlagen, und die verschiedenen Zusatzvorschläge wurden alle durch das neue Parlament verabschiedet, das im September gewählt worden war. Das bedeutete, dass die Niederlande von 1848 bis 1853 eine liberale Regierung unter Thorbecke besaßen, während sich überall in Europa die Reaktion durchsetzte. Dem amerikanischen Botschafter zufolge bot dies »den Freunden der Freiheit in ganz Europa ein tröstendes Schauspiel«.134 Die Ereignisse von 1848 bestärkten die Niederlande außerdem in der Überzeugung, gerade weil sie ein kleines und schwaches europäisches Land ohne große internationale Mission waren (auch wenn sie noch immer zu den Kolonialmächten zählten), von der Notwendigkeit einer starken Regierung mit entsprechenden Sanktionen entbunden, und es sich leisten zu können, ihren Untertanen größere Freiheiten zu gewähren. So gesehen ermöglichten die Ereignisse von 1848 den Holländern, sich über den (seit dem späten 18. Jahrhundert) offensichtlichen Abstieg der Niederlande als Weltmacht hinwegzutrösten, durften sie doch annehmen, dass ebendiese Tatsache die holländischen Freiheiten überhaupt erst möglich gemacht hatten.135 Im benachbarten Belgien kam es indessen unter anderem deshalb zu keiner Revolution, weil die Verfassung (1831), hervorgegangen aus dem Kampf um Unabhängigkeit von den Niederlanden, noch sehr jung war: Vor 1848 wurde sie allerorten von Liberalen als Modell bewundert. Gerüstet mit einer parlamentarischen Ordnung, die überall in Europa oppositionelle Maßstäbe erfüllt hätte, wurde die konstitutionelle Monarchie Belgiens deshalb kaum von der republikanischen Bewegung erschüttert. Lediglich im Februar und März gab es hier ein kleines Strohfeuer. In dem am stärksten industrialisierten Land Europas herrschte viel Armut. Sozialistische Agitation und Märzkrawalle wurden aller-
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dings unter der Regierung des klugen Liberalen Charles Roger schon am Zweiten des Monats mit einer Ausweitung des Wahlrechts beantwortet, was die potenzielle bürgerliche Führungsschicht der Opposition beschwichtigte. Die wirtschaftliche Not wurde durch Investitionen in öffentliche Bauvorhaben, die Gewährung von Armenhilfe und die Verbesserung des Armenhaussystems sowie der öffentlichen Pfandhäuser angegangen. Diese zeitlich beschränkten Maßnahmen halfen, die allgemeine Not zu lindern, und nahmen der radikalen Opposition den Stachel. Als sich die Regierung mit dem Einzug von ausgebürgerten Republikanern konfrontiert sah, die Ende März über die französische Grenze kamen, konnte sie dieser Bedrohung mühelos begegnen und ihr ein Ende bereiten. Auch fühlte sich die Obrigkeit stark genug, um die siebzehn Todesurteile, die über die Aufständischen verhängt wurden, nicht auszuführen. Bei den Wahlen im Juni siegte sie dennoch. Hinzu kommt, dass noch keine flämische Nationalbewegung existierte, die Belgien mit einem ethnischen Konflikt hätte bedrohen können.136 Der König von Dänemark, Friederich VII., setzte die Verfassungsreformen um, in die sein Vater Christian VII. gegen Ende seines Lebens unter dem Druck der Liberalen eingewilligt hatte. Er schuf die Vereinigte Ständeversammlung, die mit legislativer und fiskalischer Macht ausgestattet war. Als der neue König das Edikt unterschrieb, das den Absolutismus abschaffte, herrschte eine »so große Stille, dass die Striche der Feder deutlich zu hören waren«. Das war am 29. Januar 1848. Der Zeitpunkt war reiner Zufall.137 Während in den Niederlanden und Dänemark Zugeständnisse gemacht wurden, sah es in Russland und Schweden ganz anders aus. In Stockholm wurde am 18. März ein Bankett abgehalten, bei dem auf Bannern Reformen und eine Republik gefordert wurden. Sofort wurde die Armee aufgeboten. Dreißig Menschen wurden getötet, und die Hauptstadt blieb mehrere Tage lang unruhig, bevor wieder Stille einkehrte. König Oskar I., der vor 1848 im dem Ruf stand, liberal zu sein, stellte sich jetzt gegen eine politische Reform, und es sollte mehr als zehn Jahre lang keine Ausweitung des Stimmrechts in Schweden geben. In Norwegen, das sich seit 1815 in einer politischen Union mit Schweden befand, tagte in Oslo (damals Christiania genannt) eine Delegiertenversammlung, die die Sektionen einer den Chartisten ähnlichen Bewegung repräsentierte und unter der Führung des Sozialisten Marcus Thrane das allgemeine Wahlrecht für Männer sowie eine Sozialreform verlangte. Die Tagung wurde gewaltsam aufgelöst, 117 Anwesende wurden gefangen genommen, darunter Thrane, der vier Jahre bekam, bevor er in die USA ausreiste.138
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Reagierten die Obrigkeiten in Schweden und Norwegen schon mit Härte, dann waren die anfänglichen Repressionen in Russland sogar noch stärker. Als er von der Februarrevolution in Paris erfuhr, stürzte Zar Nikolaus I. angeblich in einen Ballsaal des Palastes und verkündete: »Meine Herren, sattelt die Pferde! In Frankreich wurde eine Republik ausgerufen.«139 Tatsache war, dass sich der Zar weigerte, überstürzt zu handeln – zumindest in Sachen auswärtiger Politik. Er mobilisierte einen Teil der Streitkräfte entlang der westlichen Grenzen des Reiches und erklärte seine Bereitschaft, sich den Feinden zu stellen, »wo immer sie auftauchen«. Doch das war eine rein defensive Haltung, denn er erklärte auch, dass Russland in Europa nicht intervenieren werde, »solange nicht die Anarchie die Grenzen überschritt«.140 Nikolaus’ Ankündigungen legen nahe, dass er in auswärtigen Angelegenheiten besonnen verfahren würde, doch gleichzeitig wird deutlich, dass er besorgt war, die »politische Krankheit« könnte in sein Reich vordringen, das alles andere »als immun gegen Ansteckung« war, wie der preußische Gesandte schrieb.141 Aus diesem Grund war die russische Teilmobilmachung kein Vorbote eines gegenrevolutionären Angriffs auf Europa, sondern der Versuch, den kriegsähnlichen Tönen aus Deutschland zu begegnen, wo übereifrige Liberale, um Polen zu befreien und Deutschlands Einheit zu verfestigen, zu einem Revolutionskrieg gegen Russland aufriefen. Zugleich zielte sie darauf ab, den unterdrückten Polen deutlich zu machen, dass eine Erhebung, wie sie 1831 versucht worden war, nicht der Wiederholung wert sei. Obwohl viele Europäer (was vielleicht zu verstehen ist) Russlands Pläne fürchteten, hatte Nikolaus nicht die Absicht, einen großen europäischen Krieg zu provozieren. Ihm war sehr wohl bewusst, dass sich England zunehmend über die Ausweitung der russischen Einflusssphäre, insbesondere im Mittleren Osten und in Asien, beunruhigt zeigte; auch sah er England als die einzige Großmacht an, die von der Revolution unberührt geblieben war und als möglicher diplomatischer Partner bei der Wiederherstellung der Stabilität auf dem Kontinent infrage kam. Darüber hinaus fürchtete er, dass das Revolutionsvirus Russland infizieren könnte. Instinktiv zielte er deshalb nicht auf einen Schlag nach außen, sondern auf die Isolation seines Reiches vom restlichen Europa und eine Wendung nach innen, um jede Form von innerstaatlichem Protest zu unterdrücken. Ende März verbot er die Veröffentlichung von Nachrichten, die die europäischen Revolutionen betrafen, beorderte alle russischen Untertanen, die sich im Ausland aufhielten, nach Hause zurück (was sich als kontraproduktiv erwies, weil nun mehr als 80 000 aufgebrachte oder auch besorgte Leute bei
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ihrer Heimkehr einfach die Geschichten, deren Zeuge sie geworden waren, zum Besten gaben). Ferner untersagte er allen Russen das Verlassen des Reiches und verbot Ausländern die Einreise (ausgenommen waren Kaufleute und solche, die die ausdrückliche Erlaubnis des Zaren besaßen). So wie er versucht hatte, Russland durch einen Kordon zu isolieren, versuchte Nikolaus jede Äußerung der Abweichung im Innern zwar sanft, aber zu unterbinden. Am 2. April (nach dem damals geltenden russischen Kalender, der zwölf Tage hinter der gregorianischen Version datiert) rief er ein Komitee ins Leben, das die staatlichen Zensoren überwachen sollte, die jetzt als zu locker galten. Zu den Ersten, die das Brennen des zaristischen Peitschenhiebs zu spüren bekamen, gehörten somit nicht die Revolutionäre, sondern treue Diener der Regierung. Einer der Gründe für die Einsetzung des »Komitees des 2. April« war, dass der Minister für Volksaufklärung, Sergei Uwarow, als zu »liberal« empfunden wurde – obwohl er der Schöpfer der vom Regime vertretenen Ideologie des »offiziellen Nationalismus« war, demzufolge ein treuer Untertan christlichorthodox, gehorsam gegenüber dem Zaren und voller Liebe für Russland zu sein hatte. Uwarow mag durchaus zu den weniger naiven Ministern Nikolaus’ gehört haben, doch ein verrückter Radikaler war er nicht.142 Intellektuelle mussten schon immer sehr darauf achten, auf welche Weise sie ihre Ideen formulierten, aber Puschkin, Gogol, Lermontow und ihresgleichen gegenüber war man eher nachsichtig gewesen. Jetzt wurde es ausgesprochen eng. Den langfristig größten Schaden richtete allerdings an, dass Nikolaus, der scheinbar ernsthaft nach Wegen gesucht hatte, das Problem der Leibeigenschaft zu lösen, und zumindest eine Reihe von Erlassen auf den Weg gebracht hatte, die das Leben der Bauern erleichtern sollten, sich jetzt von jeglicher Reform distanzierte. 1849 wurden die Daumenschrauben sogar noch fester angezogen: Die Obrigkeit holte zu einem harten Schlag gegen einen Kreis von St. Petersburger Intellektuellen aus, an deren Spitze Michail Petraschewski stand. Während der 1840er-Jahre hatte sich diese Gruppe, zu der auch der angehende Schriftsteller Fjodor Dostojewski gehörte, getroffen, um über den Zustand der russischen Gesellschaft, über neue Ideen und die Zukunft − darunter sozialistische Lösungen für Armut, Leibeigenschaft und Unterdrückung − zu diskutieren. Mit der Publikation eines Fremdwörterbuchs hatten sich die Autoren 1845 einen Freiraum geschaffen, um ihre Konzepte zu besprechen und auch ihre Bedeutung zu definieren und so einige ihrer Ideen in Umlauf zu bringen. Trotz allem handelte es sich um keine revolutionäre Vereinigung. Es gab ein paar
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Hitzköpfe, allen voran Nikolai Speschnew, der bei der Nachricht von der Februarrevolution in Paris sofort einen Staatsstreich und die Ermordung des Zaren in Gang setzen wollte. Die meisten Petraschewzen, wie die Mitglieder des Kreises genannt wurden, waren begeisterte Revolutionäre, erinnerten sich aber an das Schicksal der Dekabristen – liberale Armeeoffiziere, die mit ihrem Versuch, den Zaren 1825 in einem Militärputsch zu stürzen, gescheitert waren. Diese vorsichtigere Mehrheit, zu der auch Petraschewski selbst gehörte, plädierte für eine langsame fabianische Vorgehensweise, sie wollte durch nachhaltige Propagandakampagnen bei den Bauern den Boden bereiten, die Herzen gewinnen und das Bewusstsein wandeln, damit die Revolution, wenn sie in der fernen Zukunft endlich ausbrechen würde, auf die Unterstützung der Massen zählen konnte. Es kam zu einer scharfen Spaltung, und Speschnew und die Extremisten begannen, sich auf eine bevorstehende Bauernrevolution vorzubereiten. Doch die Zurückhaltung der Mehrheit ihrer Mitglieder nützte den Petraschewzen nichts. Seit Februar 1748 standen sie unter scharfer Beobachtung, und nur die langsame Beweisaufnahme verzögerte das unausweichliche Durchgreifen von Regierungsseite. Ein verdeckter Ermittler der Dritten Abteilung (der Geheimpolizei des Zaren) enthüllte 1849 seinen Vorgesetzten Speschnews Pläne. In der Nacht zum 23. April schlugen die Verantwortlichen zu und verhafteten 252 Leute, die alle verhört wurden. 51 wurden des Landes verwiesen und 21 zum Tode verurteilt.143 »Eine Handvoll unbedeutender, meist junger und sittenloser Menschen hat versucht, die heiligen Rechte der Religion, des Gesetzes und des Eigentums mit Füßen zu treten«, hieß es in der Urteilsbegründung.144 Die Todesurteile wurden umgewandelt, aber erst am Tag ihrer Vollstreckung, am 16. November. Zu den Opfern der Scheinexekution gehörte auch ein traumatisierter Dostojewski, sein Urteil wurde auf vier Jahre Zwangsarbeit in Sibirien verringert. Zu den Geschädigten im Umfeld der Petraschewzen gehörte auch Uwarow, der gezwungen wurde, als Minister für Volksbildung zurückzutreten, nachdem Nikolaus die Zulassungen zum Studium drastisch beschränkt hatte, da er die Universitäten als Brutstätte der politischen Abweichung betrachtete. In der Konsequenz kam es in Russland zu keiner Revolution, aber langfristig gesehen zahlte das zaristische Regime wohl einen hohen Preis, handelte es sich doch um einen »Pyrrhussieg«.145 Bis 1848 hatten die Vertreter des politischen Systems und die Intelligenzija (Publizisten, Dichter, Historiker und andere, die meisten adeliger Herkunft, die für die bürgerliche Gesellschaft standen) zwar in
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einer Atmosphäre der geistigen Enge gelebt, aber wenigstens gab es in der beiderseitigen Beziehung ein gewisses Geben und Nehmen. Nach der kompromisslosen Unterdrückung wurde nun aus »getrennten Wegen«146 zwischen Staat und Intellektuellen ein beinahe unüberbrückbarer Abgrund. Die gescheiterte Aufhebung der Leibeigenschaft (Nikolaus hatte bereits deutlich gemacht, dass er sie nicht gänzlich abschaffen konnte) sorgte dafür, dass Russland hinter dem restlichen Europa zurückblieb, welches diese Einrichtung 1848 endgültig abschaffte. Hinzu kam, dass Nikolaus dadurch, dass er die nicht russische Bevölkerung seines Reiches unter der Knute hielt, die Feindseligkeit der Polen, Ukrainer und anderer ihm Untergebener schürte. Diesen politischen Sprengstoff hinterließ der Zar seinen Nachfolgern. Die Defizite des zaristischen Staates und der russischen Gesellschaft wurden in dem verheerenden Krimkrieg von 1854 bis 1856 deutlich, und es war an Zar Alexander, die Scherben aufzusammeln. Dieser unternahm bewundernswerte Schritte, schaffte 1861 die Leibeigenschaft ab und führte weitere Reformen durch. Doch Nikolaus’ harter Kurs gegen politisch Andersdenkende hatte auf beiden Seiten, zwischen dem Staat und dem harten Kern der Opposition, für eine Verhärtung der Positionen gesorgt. Der kompromisslose Charakter der Unterdrückung überzeugte die radikale Intelligenzija ein für alle Mal davon, dass es mit dem Regime keine konstruktive Verständigung geben könne und ein wirklicher Fortschritt nur mit Gewalt zu erreichen sei.147 Die Härte von Nikolaus’ Reaktion auf 1848 sollte dafür sorgen, dass die Kritiker des politischen Systems, die ab den 1860er-Jahren wieder auftauchten, ihrer Enttäuschung diesmal durch eine offene Revolution Luft machten. Auch wenn diese Länder am Rand Europas nicht die Turbulenzen im Zentrum des Kontinents erlebten, zeigt sich doch, dass sie weder ganz unberührt blieben noch unbeschadet aus der Revolution hervorgingen. Doch trotz dieser Ausnahmen war das, was in den wenigen Wochen zwischen Ende Januar und Ende März geschah, in seiner Schnelligkeit und geografischen Ausdehnung atemberaubend. All diesen Revolutionen lag die Wirtschaftskrise der ausgehenden 1840er-Jahre zugrunde: Auch wenn sich die europäische Wirtschaft von einer Region zur nächsten deutlich unterschied und auch wenn die sozialen Strukturen und politischen Institutionen der Länder variierten, weckte der enorme wirtschaftliche Druck, dem fast alle Menschen auf dem Kontinent unterworfen waren, das allgemeine Gefühl der Not und der Enttäuschung über die Unfähigkeit der Regierungen, die Krise zu meistern. Dennoch erklärt das nicht die revolutionäre Natur der Reaktionen an so vielen Orten in so kurzer Zeit und auch nicht, warum die Revolutionen so erfolgreich waren.
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Der erste Grund könnte darin liegen, dass den Aufständen von 1848 die flächendeckende – ja fast universale – Forderung nach politischen Reformen voranging, und zwar in ganz Europa, selbst in Ländern wie England, Schweden und Norwegen, Spanien und den Niederlanden, die es schafften, ohne größere revolutionäre Turbulenzen durch dieses stürmische Jahr zu steuern. Der politische Treibsatz von 1846/47, zu dem der galizische Aufstand, der Sonderbundskrieg in der Schweiz, die Wiederbelebung des Liberalismus in Deutschland, die Spannungen in Italien und die Bankettkampagne in Frankreich gehörten, war symptomatisch für die wachsende Unzufriedenheit der bürgerlichen Gesellschaft mit den Beschränkungen der Restauration. Das waren die Vorboten. Durch die Eruption in Paris baute sich zunächst eine ordentliche Spannung zwischen den tektonischen Platten auf. Die französische Hauptstadt schickte Schockwellen durch Europa, weil die inzwischen etablierte revolutionäre Tradition Frankreich zur wichtigsten Quelle der Inspiration oder auch der Sorge (je nach Blickwinkel) gemacht hatte. Ob Reaktionäre, Reformer oder Revolutionäre: Alle hatten die große Französische Revolution von 1789 auf positive oder negative Lehren hin befragt. In den ersten drei Monaten von 1848 gab das historische Beispiel so mancher Regierung Anlass zu düsteren Prognosen. Würde es ihnen gelingen, die steigende Oppositionsflut einzudämmen? Dann wieder war es die Erinnerung an das revolutionäre Frankreich von 1790, das seine Dämme gesprengt und die Revolution in die Nachbarländer fluten ließ, welche andere Regierungen zu Zugeständnissen im eigenen Haus bereit machte, um so den erwarteten Herausforderungen durch die Franzosen besser begegnen zu können. So kam es, dass die Februarrevolution in Paris – eher als die Eröffnungsschüsse, die im Januar in Palermo und Neapel zu hören waren – einen Flächenbrand in Europa entfachte. Die Forderungen, Ideale und selbst einige der Institutionen, die von den 1848er-Revolutionären ins Leben gerufen wurden, nahmen manches aus den Modellen von 1789 in sich auf: Sicherheitsausschuss und Nationalgarde der Budapester Märzrevolution sind einschlägige Beispiele. Doch auch gemäßigte Liberale hatten Erinnerungen an 1789, sie bewunderten die Freiheiten, die damals errungen wurden, waren aber ängstlich darauf bedacht, dass es nicht zu einer Wiederholung der Ereignisse von 1792–94 kommen würde, hatte es sich doch gezeigt, dass Terror und soziale Konflikte die möglichen Konsequenzen einer Revolution – und vielleicht sogar der Demokratie – waren.148
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Die Pariser Ereignisse waren 1848 nicht der einzige Impuls. Bezeichnend ist, dass die Februarrevolution in Frankreich in kleineren deutschen »Mittelstaaten« revolutionäre Bewegungen entzündete, nicht aber in der einen Hauptstadt der beiden im Bund dominierenden Mächte, in Berlin. Dagegen war es die aus der zweiten großen deutschen Metropole, aus Wien, kommende Nachricht vom Sturz Metternichs, die den politischen Druck in der preußischen Hauptstadt verstärkte, bis er am 18. März in einem Aufstand explodierte. Die Märzrevolution in Wien – nicht die Februarrevolution in Paris – brachte zudem die Auflösung der konservativen Ordnung im habsburgischen Reich mit sich. Es stimmt zwar, dass die Bürger von Budapest, Prag, Mailand und Venedig durch die Nachrichten aus Frankreich in Erregung gerieten, doch es bedurfte der Amtsenthebung Metternichs und des kaiserlichen Versprechens einer Verfassung, um die Liberalen zum entscheidenden revolutionären Schub anzutreiben. Die Ereignisse von Paris und Wien waren zweifellos Initialzündungen, doch schon vor den Revolutionen vom Februar und März 1848 war überall die Opposition gewachsen, wenn auch unterschiedlich stark. Soziale und wirtschaftliche Not im Verein mit den konstitutionellen Forderungen, die ab Mitte der 1840er-Jahre an Dynamik gewannen – dazu die Schwäche und der Vertrauensmangel, die in den Reaktionen der Regierungen zutage traten –, verliehen den Revolutionen ihre explosive Macht und stellten ihren anfänglichen Sieg sicher. Doch die Geschwindigkeit, mit der die Revolution durch Europa fegte, verdankte sie auch der modernen Technologie. 1789 brauchte es – schnell zu Pferde oder unter Segeln – Wochen, bis die Neuigkeiten vom Fall der Bastille ganz Mittel- und Osteuropa erreicht hatten; 1848 wurden solche Nachrichten durch Dampfschiffe und das aufkommende Fernmeldewesen innerhalb von Tagen oder gar Minuten bekannt. Zudem war die liberale Opposition in der Lage, sich die momentane Schwäche des alten Regimes zum Vorteil zu machen. Dessen Mängel – insbesondere seine Weigerung, etwas anderes zu gewähren als Reförmchen und die allernotwendigsten sozialen Eingriffe – wurden durch das wirtschaftliche Elend noch verstärkt. Das starke Absinken des Steueraufkommens als Folge der hohen Arbeitslosigkeit, des landwirtschaftlichen Desasters und des Abschwungs im Produktionsbereich ließ die Regierungen um den unbegrenzten Einsatz ihrer Streitkräfte fürchten. Doch die Vertrauenskrise war mehr als ein Problem von Finanzkraft und Stärke. Vielmehr hatten die offenere Atmosphäre und die Erwartungen der späteren 1840er-Jahre möglicherweise Minister und sogar
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einige Militärführer daran zweifeln lassen, ob es ihnen gelingen würde, der Krise zu begegnen. Das Versagen des alten Systems war daher ebenso ein Versagen der Führung, wie es ein Strukturproblem war, das sich in der wirtschaftlichen Krise zeigte sowie in der Kluft zwischen Regierung und bürgerlicher Gesellschaft. Vor entschlossenen Protest gestellt, der durch die reale oder unterschwellige Drohung eines Aufstands noch untermauert wurde, verloren die Obrigkeiten oft genug die Nerven und lenkten entweder kampflos ein oder zeigten konfuse, widersprüchliche Reaktionen auf die Herausforderung seitens der Opposition. Friedrich Wilhelms Schwanken während der Berliner Straßenkämpfe kommentierte General Leopold von Gerlach: »Wir waren damals sämmtlich in dieser Art der Kriegführung so unerfahren, daß wir nicht bedachten, wie jeder Aufschub die Sache verschlimmerte.«149 Der französische Gesandte Adolphe de Circourt, der den Rückzug der preußischen Armee aus Berlin beobachtete, bemerkte, dass die Soldaten »niedergeschlagen, gereizt, aber gehorsam« waren, »noch nie zuvor waren gute Truppen so unverdient von ihren Anführern im Stich gelassen, ja sogar verleugnet worden«.150 Selbst entschlossene und disziplinierte Soldaten wurden oft genug in die Schlacht entlassen, ohne die dahinterstehenden Ziele oder Strategien, für die sie kämpften, zu kennen. Das traf auf alle Fälle auf Paris zu, wo Louis-Philippe (aus redlichen Gründen) befahl, dass kein Blut vergossen werden dürfe und vor jedem Angriff gegen die Barrikaden Verhandlungen stattzufinden hätten. Solche Befehle verunsicherten die Kommandeure im Hinblick auf ihre nächsten Schritte, sobald die Gespräche gescheitert waren: Sollten sie endlich die Straßen mit Gewalt räumen oder in Reserve bleiben, bis die Regierung entschieden hatte, was als Nächstes zu tun sei? Der Orléanist Charles de Rémusat, der an Louis-Philippes Seite war, als er am 24. Februar abdankte, bemerkte, dass das Selbstbewusstsein des Königs innerhalb weniger Stunden verflogen war: »Wenn ich darüber nachdenke«, resümierte er später, »so ist es unsere Gesinnung, die Kraftlosigkeit unseres Willens, die mich demütigt.«151 Graf von Hübner in Mailand indessen zweifelte nicht an Radetzkys Führungskompetenz, stattdessen gab er dem Mangel an logistischer und moralischer Unterstützung aus Wien oder dem Unvermögen, die Stadt zu halten, die Schuld. Metternich, schrieb Hübner vor den ruhmreichen »Fünf Tagen von Mailand«, »spricht von Intervention, aber ich sehe nicht, daß hierzu militärische Vorkehrungen getroffen werden. Ich weiß nur, daß Feldmarschall Radetzky […] einige von ihm (Radetzky) als unentbehrlich bezeichnete
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Verstärkungen verlangt und daß er sie nicht erhalten hat. […] Fürst Metternich steht allein, ist gelähmt, machtlos. Halbe Maßregeln wird man ihm gestatten, schüchterne Versuche hingehen lassen, aber wohin können diese führen? Zu Enttäuschungen, wenn nicht zu Katastrophen.«152 Dennoch war es nicht nur die Schwäche der alten Ordnung, die für den Erfolg der Aufstände verantwortlich war. Die Revolutionäre verfolgten ein gemeinsames Ziel, selbst über soziale und politische Uneinigkeiten hinweg, was ihnen ermöglichte, sich durchzusetzen. In Mailand betonte Cattaneo, der normalerweise das Bürgertum als Triebkraft der nationalen Bewegung sah (ungerechtfertigterweise, da die meisten Wortführer der liberalen Opposition vor 1848 dem Adel entstammten), die gesellschaftliche Geschlossenheit während der »Fünf Tage«. Er beschrieb den Augenblick, in dem unzählige Bauern nach Mailand hineinstürmten, um auf »elegante Frauen zu treffen, die eigenhändig Barrikaden gebaut und Waffen geladen hatten«.153 Als Republikaner war es in Cattaneos Interesse, die soziale Einheit der Mailänder Revolution herauszustreichen, in der um der Unabhängigkeit willen die Grenzen von Reichtum, Armut und Geschlecht überwunden wurden. Seine Sichtweise wird von der anderen Seite der Barrikaden her bestätigt. Hübner, der als Gefangener durch die Straßen von Mailand marschierte, entdeckte bewaffnete Bauern, die Barrikaden bewachten, junge Frauen, die beim Bau von Befestigungsanlagen Hand anlegten, Priester in »großer Anzahl, die Cocarde auf dem breitgekrempten Hute des italienischen Geistlichen, den gezückten Degen in der Hand«, Adelige und Bürger: »Die Flinte schoben sie von einer Schulter zur andern und schienen mehr verwundert als erfreut über die kriegerische Rolle welche die neue Ordnung dem Bürger zuweist.«154 Namentlich die Kirche spielte in Italien eine wichtige Rolle: Als Galionsfigur schaffte es Pius IX., soziale und politische Spaltungen zu überwinden und eindrucksvolles Bindeglied der italienischen Aufständischen zu sein. Doch auch der örtlichen Priesterschaft kam eine wichtige Funktion zu. Als es in Mailand am 18. März zum Ausbruch der Gewalt kam, »erregte« der Erzbischof »unbeschreibliche Begeisterung«, als er angetan mit den drei italienischen Farben in der Öffentlichkeit erschien und, so behauptet Carlo Osio, die Begleitung des Kirchenmanns unter den Ersten war, die Befehl zum Errichten der Barrikaden gaben.155 In Ungarn dagegen rekrutierte sich fast die gesamte revolutionäre Führungsschicht aus Adeligen, Rückhalt fanden sie bei der städtischen Bevölkerung Budapests und durch einen drohenden Bauernaufstand.
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Die Bauernschaft verlieh den Revolutionen eine Massenbasis – vorübergehend, wie sich zeigen sollte − und sorgte dafür, dass sich die alte Ordnung nicht auf den ländlichen Raum stützen konnte: In Frankreich, im Westen Deutschlands, in der Lombardei, in Venetien und im Süden Italiens trugen Unruhen unter der Landbevölkerung der Revolution eine breite Basis ein und den Konservativen einen Vertrauensverlust. Bei den städtischen Revolten dagegen bildeten Arbeiter und Handwerker das starke Rückgrat. Ein sympathisierender, aber anonymer Bericht über die Märzrevolution in Berlin behauptet über die neunhundert Borsigarbeiter: »Ihrer heldenmäßigen Tapferkeit und Ausdauer hinter den Barrikaden war es vornehmlich zuzuschreiben, daß in der Nacht des 18. März ein Kampf gekämpft wurde, der die Volkssache in ihrer nicht mehr zurückzustellenden Bedeutung erscheinen ließ.« 156 Allerorten nahmen Frauen an den ersten friedlichen Demonstrationen teil, und als die Kämpfe ausbrachen, halfen sie beim Bauen und Reparieren der Barrikaden, luden Waffen, brachten den Aufständischen zu essen, versorgten die Verwundeten oder feuerten die Revolutionäre an, indem sie ihnen zujubelten, Flaggen schwenkten und Parolen riefen – oft mitten im Kampfgeschehen. Ausschlaggebend war nicht selten das Überlaufen der normalerweise ruhigen Besitzbürger. Am 24. Februar begegnete Tocqueville einem Bataillon der Nationalgarde aus seiner eigenen wohlhabenden Nachbarschaft, die der Julimonarchie abtrünnig wurde: »Die Regierung ist schuld, sie hat die Gefahr zu tragen. Wir wollen uns nicht totschlagen lassen für Leute, die die Geschäfte so schlecht geführt haben.«157 Die Julimonarchie scheiterte, weil ihre Hauptunterstützer – Besitzende, Unternehmer und kleine Geschäftsinhaber, bei denen der Konservativismus auch liberale Züge hatte – in einem Augenblick der Krise weggebrochen waren. Dieselben Leute sollten in den nächsten beiden Jahren Stabilität und Ordnung die sie als Schutzschild vor den die radikalen Kräfte, die im Februar 1848 gleichfalls entfesselt worden waren geltend machen. Wenn auch der Mittelstand manchmal nur halbherzig bei der revolutionären Sache war, vielerorts erwies er sich als entscheidend für den Erfolg der Revolution, denn er stellte die Basis der vielen Bürgermilizen, die entweder schon existiert hatten (wie in Paris, Prag und Wien) oder nun gebildet wurden (wie in Budapest, Venedig und Berlin). Da sich die Bürgermilizen in erster Linie aus Besitzenden und Bürgern rekrutierten, die mit Gesetz und Ordnung in Verbindung standen, schwächte ihr Vertrauensverlust in das alte Regime massiv dessen Fähigkeit, die Straße zu kontrollieren, wodurch dies nur noch durch den (wie sich zeigen sollte) kontraproduktiven Einsatz von regulären Truppen zu
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bewerkstelligen war. Liberale Adelige, Kleriker, Bürger, Handwerker, Arbeiter, Studenten, Bauern, Frauen, Männer und Kinder, alle trugen auf die eine oder andere Weise ihren Anteil zur Unterstützung der Revolution bei. Diese soziale Einheit konnte allerdings nicht von Dauer sein. Die Revolutionen von 1848 beruhten in gewisser Weise auf einer, wie Georges Duveau es formulierte, »schwärmerischen Illusion«.158 Diese »Illusion« basierte zum einen auf der Vorstellung, dass die Menschen tatsächlich über das alte Regime triumphiert und sogar seine bewaffneten Streitkräfte besiegt hatten. Daran ist etwas Wahres, doch in den meisten europäischen Staaten, die von Revolutionen infiziert wurden, waren die Strukturen der alten Ordnung angeschlagen und ernsthaft beschädigt, wenn auch nicht völlig zerstört – abgesehen von Frankreich, dem einzigen Land, in dem die Revolution die Monarchie vernichtete. Überall sonst blieb die Monarchie erhalten, und mit ihr Minister und Berater, die entschlossen waren, weitere Reformen aufzuhalten oder die Revolution ganz rückgängig zu machen. Auch behielt jene die Kontrolle über die Streitkräfte – ein Umstand, der, wie noch vor Ende des Jahres deutlich wurde, ausschlaggebend war. Zum Zweiten basierte die »schwärmerische Illusion« auch auf der Idee, dass die Revolutionen einen Neuanfang markieren würden, auf dem dank der Einheit aller Klassen und Menschen das zarte Pflänzchen einer neuen Freiheit und einer neuen, liberalen Ordnung wachsen könne. Dass diese Hoffnung, gelinde gesagt, problematisch war, zeigte sich beinahe sofort, denn die neuen liberalen Regierungen wurden in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise von zwei grundlegenden Schwierigkeiten bedrängt, die sie am Ende zerrissen. Die erste war die »nationale Frage« – das Problem der politischen Einheit und des Platzes der ethnischen Minderheiten innerhalb einer neuen liberalen Ordnung. Die zweite war die »soziale Frage« – der Umgang mit bitterer Armut, von der breite Bevölkerungsteile zum einen betroffen waren, weil die Wirtschaft einen Strukturwandel durchmachte, und zum anderen, weil in den 1840er-Jahren eine akute Wirtschaftskrise herrschte. Diese beiden Aspekte bilden die Themen der nächsten beiden Kapitel.
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»Eine neue Ära beginnt«, schrieb Fanny Lewald am 28. Februar in ihr Tagebuch. »Was wird sie den Franzosen bringen? Neue Kämpfe? Mord und Guillotine? Eine kurze Epoche der Freiheit und dann neue Tyrannei? – Ich kann’s nicht glauben. … Der Krieg gebildeter Völker untereinander ist der letzte Rest thierischer Rohheit und muß verschwinden von der Erde. Ich glaube an die Menschheit, an die Zukunft, an das Bestehen der Republik.«1 Deutsche Liberale nannten das Jahr 1848 den »Völkerfrühling« – Ausdruck liberaler Hoffnungen aus den ersten Revolutionswochen, als plötzlich nationale Ziele greifbar schienen. Am 5. März erklärte die Heidelberger Versammlung, dass Deutschland nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten eingreifen dürfe und: »Die Deutschen dürfen nicht veranlasst werden, die Freiheit und Selbständigkeit, welche sie als ihr Recht für sich selbst fordern, anderen Nationen zu schmälern oder zu rauben.«2 Dennoch gab es auch eine dunkle Seite des liberalen Nationalismus von 1848. Zwar boten die Revolutionen den europäischen Liberalen die einzigartige Gelegenheit, das Ideal der Unabhängigkeit und nationalen Einheit umzusetzen; doch dabei gerieten sie oft in Konflikt mit den Nachbarvölkern oder mit nationalen Minderheiten innerhalb der Grenzen der neuen freiheitlichen Staaten. Die meisten Patrioten von 1848, die Anspruch auf nationale Rechte und Freiheiten für ihr eigenes Volk erhoben, waren gleichzeitig bereit, die Freiheit anderer Völker mit Füßen zu treten. Allzu schnell setzten sich die harten Interessen nationaler Selbstbestimmung durch gegen die zarteren, universellen Prinzipien von 1848. Dadurch aber bekamen die Europäer dort, wo die »nationale Frage« aufkam, die Brutalität ethnischer Konflikte zu spüren. Hier wurden aus Revolutionären Widersacher, die den restaurativen Kräften Gelegenheit boten, die Konterrevolution zu schüren. Zunächst war es Frankreich, auf das sich der Blick Europas richten sollte. Obwohl von der Februarrevolution beflügelt, waren sich die Liberalen doch auch im Klaren, dass die Erste Französische Republik einen aggressiven Expansions-
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drang an den Tag legte. So stark waren die europäischen Ängste, dass Piemont seine Streitkräfte nicht gegen Österreich, sondern entlang der französischen Grenze aufmarschieren ließ. Belgien und Holland überwanden ihr Misstrauen, um eine gemeinsame Verteidigung gegen Frankreich zu planen. Und auch die preußischen Truppen im Rheinland wurden in Alarmbereitschaft versetzt, andere deutsche Staaten, große wie kleine, folgten dem Beispiel.3 Den Grenzstaat Baden suchte die »französische Panik« heim, so hielten etwa Bauern das entfernte Schlagen von Militärtrommeln für die Geräusche einer marodierenden französischen Armee.4 Ganz gewiss erwarteten französische Radikale von der provisorischen Regierung eine energische Außenpolitik, um die Demütigung von 1815 auszulöschen. Für die republikanische Rechte bedeutete das eine Rückbindung an das revolutionäre Erbe der 1790er-Jahre, ferner das Entsenden patriotischer Armeen, um Italien und Polen zu befreien und das Evangelium der Demokratie zu verbreiten.5 Der neue sozialistische Polizeipräfekt Marc Caussidière schrieb, dass die Februarrevolution »gewissermaßen ein heiliges Versprechen der Befreiung aller europäischen Völker« sei, was erklärte, warum das Hôtel de Ville mit »enthusiastischen Adressen aus allen Theilen der Welt« bombardiert wurde.6 Vor allem die politischen Flüchtlinge aus dem Ausland hielten den revolutionären französischen Bekehrungseifer am Kochen. Während Städte wie Paris und Lyon in besseren Zeiten wirtschaftlich brummten und damit viele ausländische Arbeiter anzogen (1848 lebten rund 184 000 in der Hauptstadt)7, waren nun viele von ihnen arbeitslos und damit untätig. Ihre Armut war der fruchtbare Boden für die revolutionäre Saat, ausgesät von ihren Genossen. Die größte dieser ausländischen Gruppen waren die Deutschen mit 55 000 Mitgliedern; die Polen, obwohl sie nur 4000 zählten, waren vermutlich die tatkräftigste. In Paris organisierte der im Exil lebende Schriftsteller Georg Herwegh eine paramilitärische Einheit mit etwa achthundert deutschen Exilanten und Arbeitern, um sich an die Spitze einer republikanischen Revolution in Deutschland zu stellen. »In drei herrlichen Tagen«, sagte er zu seinen französischen Gastgebern, »habt ihr mit der Vergangenheit gebrochen und das Banner für alle Menschen des Erdballs erhoben.«8 Im Laufe des Frühjahrs schließlich entdeckten die französischen Radikalen die Außenpolitik als Möglichkeit, die politische Initiative, die sie seit der Schaffung einer provisorischen Regierung an die Gemäßigten verloren hatten, wieder zurückzugewinnen. Am 26. März führten etwa siebenhundert polnische Demokraten einen Protestzug von rund 20 000 radikalen Pariser Klubmitgliedern zum Hôtel de Ville an und ignorierten damit
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Frankreich verkündet die Freiheit, 1848. Der Geist von Lamartines »Manifest an Europa« in den hoffnungsvollen frühen Tagen der Revolution von 1848: Frankreich erklärt die Freiheit aller Völker. (Bridgeman Art Library)
Lamartines Bitte vom Abend zuvor, die Demonstration abzusagen. In diesem Fall endete der Protest, bei dem von der französischen Regierung Waffen gefordert wurden, friedlich, nachdem der Außenminister den Polen das Mitgefühl der Franzosen versichert, jedoch nichts weiter versprochen hatte als finanzielle Unterstützung für die Rückkehr nach Hause.9 Lamartine befand sich damit in einer undankbaren Situation, war es doch seine Aufgabe, Frankreichs Nachbarn von den friedlichen Absichten der neuen Republik zu überzeugen. Wie heikel sich der Balanceakt gestaltete, den er zu vollführen hatte, zeigte sich deutlich am 25. Februar, als er radikale Demonstranten von ihrer Forderung abbrachte, die rote Fahne als Banner der Zweiten Republik aufzugeben: »Die rote Fahne … wurde rund um den Champ de Mars in Blut gebadet10 … Die Trikolore ist, die Freiheit in ihren Falten tragend, um die Welt gegangen.«11 Der englische Gesandte Lord Constantine Normanby sah Lamartines symbolischen Sieg aber positiv und glaubte nach London melden
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zu können, dass die meisten Franzosen die neue Regierung wohl unterstützten und »den Versuchen vertrauten, die Gefühle der Bevölkerung zu beschwichtigen sowie Ordnung und Vertrauen wiederherzustellen«.12 Lamartines Mitstreiter taten in den nächsten Tagen ebenfalls das Ihre und bemühten sich, alle Erinnerungen an den Terror der Ersten Republik zu vermeiden, etwa indem sie die Todesstrafe für politische Vergehen abschafften. Doch wichtiger ist noch: Lamartines »Manifest an Europa« vom 4. März schaffte geschickt die Gratwanderung zwischen dem ehrlichen Wunsch, den Frieden zu sichern, und der tatsächlichen Notwendigkeit, den Druck der Radikalen abzufedern. Monarchien und Republiken seien durchaus imstande, Seite an Seite zu leben, so die beruhigenden Worte. Obwohl er die Gerechtigkeit der Friedensverträge von 1815 infrage stellte, erklärte er, dass Frankreich sie »als durch einen gemeinschaftlichen Vertrag zu regelnde Thatsachen« akzeptiere. Trotz allem versteckte sich unter dem samtenen Handschuh eine eiserne Faust. In dem Versuch, dem Druck seitens der Nationalisten nachzugeben, erklärte er, dass Frankreich, würde es angegriffen, ein ernst zu nehmender Gegner wäre: sein »kriegerischer Geist, sein Thatendrang, seine […] Kriegsmacht es daheim unüberwindlich, jenseits seiner Gränzen vielleicht furchtbar machen würde«. Es würde nicht zögern, Nachbarn in ihrem Bemühen, sich zu demokratisieren oder zur Einheit zu gelangen, zu schützen – insbesondere die Schweiz und Italien –, sollten sie von restaurativen Mächten angegriffen werden. Die Republik hoffe aber, durch das Beispiel, nicht durch Gewalt anzuführen: »Sie wird keine geheime mordbrennerische Propaganda bei ihren Nachbarn machen. Sie weiß, daß es keine dauerhafte Freiheit gibt als die, welche von selbst aus ihrem eignen Boden erwächst. Aber sie wird durch das Licht ihrer Gedanken, durch das Schauspiel von Ordnung und Frieden, das sie der Welt zu geben gedenkt, das einzig ehrenvolle Bekehrungsgeschäft mittels eingeflößter Achtung und Zuneigung ausüben.«13 Doch die Aufwiegler hörten nicht darauf, stattdessen unterstützten sie die ausländischen Revolutionäre dabei, die eigene Regierung zu stürzen. Und die provisorische Regierung war viel zu zögerlich, den Export der republikanischen Revolution ins Ausland mit allen Mitteln zu verhindern. Eine Großdemonstration am 17. März, an der rund hunderttausend Mitglieder der linksgerichteten Pariser Klubs teilnahmen, geriet zur Machtprobe und drängte die Minister in die Defensive. So kam es, dass die Regierung mit Verspätung auf die Radikalen
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von Lyon reagierte, welche Exilanten aus Savoyen, damals unter piemontesischer Herrschaft, bei dem Versuch unterstützten, das Herzogtum auf eine Annexion durch Frankreich vorzubereiten. Eine fünfzehnhundert Mann starke Legion marschierte in Savoyen ein und besetzte am 3. April Chambéry. Die Bauern dort nahmen jedoch die zerlumpten, armselig bewaffneten Invasoren nicht sehr freundlich auf. Schon am nächsten Tag kamen sie von den Bergen herab, vertrieben die Legion, töteten dabei fünf Männer und nahmen einige Hundert gefangen.14 Noch bedenklicher war ein bewaffneter Zusammenstoß an der Grenze zu Belgien, als etwa zweitausend belgische Arbeitslose aus Paris, die von im Exil lebenden Republikanern zu Legionen formiert worden waren, gen Norden reisten, um die Monarchie in Brüssel zu stürzen. Aus Vorsicht gewährten die französischen Behörden keine weitere Unterstützung als den Bahntransport der unbewaffneten Belgier bis zur Grenze. Dem ersten Zug wurde allerdings versehentlich erlaubt, über die Grenze zu rollen, sodass er seine Ladung mit Möchtegernrevolutionären in die offenen Arme der belgischen Obrigkeit entließ. Eine zweite belgische Legion, bestehend aus zwölfhundert Mann, erhielt die Erlaubnis, sich in Lille mit Waffen zu versorgen; am 28. März stahl sie sich nachts heimlich nach Belgien und marschierte geradewegs auf die Gewehrmündungen der vorbereiteten belgischen Streitkräfte zu. In einem einstündigen Scharmützel bei einem Dorf mit dem treffenden Namen Risquons-tout, wurde die Legion von Musketenfeuer und Kartätschen auseinandergenommen.15 Lamartine hatte ganze Arbeit zu leisten, um diese diplomatischen Bomben zu entschärfen. Ein Fiasko vermied er durch das (wohl überflüssige) Angebot militärischer Unterstützung für Karl Albert, um die Legion aus Savoyen zu vertreiben.16 Der Angriff auf Belgien konnte unter Umständen verheerender sein, da England als Garant für die belgische Neutralität jede französische Einmischung als ernst zu nehmende Bedrohung seiner eigenen lebensnotwendigen Interessen wertete. Lamartine beschwichtigte die Gemüter, indem er offen eingestand, dass die provisorische Regierung noch nicht ausreichend gefestigt sei, um mit gewaltsamen Mitteln gegen radikale Unruhestifter in Frankreich vorzugehen, doch er akzeptiere, dass andere Regierungen voll und ganz im Recht seien, sie »mit Kanonenschüssen« zu empfangen.17 Dank der geschickten Handhabung dieser grundlegenden Probleme machte Lamartine diplomatischen Boden gut. Während nur der amerikanische Gesandte in Paris, Richard Rush, der Zweiten Republik die sofortige und bedingungslose Anerkennung zukommen ließ, beschwichtigte das »Manifest an Europa« die unvermeidlichen
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Ängste in Bezug auf die französischen Absichten. Unter vier Augen legte Lamartine verschiedenen europäischen Gesandten seine Argumente genauer dar, und ein europäischer Staat nach dem anderen – selbst Russland – versprach, nicht gegen die neue Republik vorgehen zu wollen.
I Aufgrund einer potenziellen Bedrohung durch Frankreich und der Aussicht, möglicherweise direkt im Weg einer russischen Armee zu stehen, die vorhatte, die Revolution in Europa niederzuschmettern, konzentrierten sich die Deutschen zunächst darauf, durch nationale Einheit Stärke aufzubauen. Die Mannheimer Petition vom 27. Februar umschrieb geschickt das deutsche Empfinden, zwischen dem französischen Hammer der Revolution und dem russischen Amboss der Reaktion gefangen zu sein: »Vielleicht in wenigen Tagen stehen französische Heere an unseren Grenzmarken, während Rußland die seinigen im Norden zusammenzieht […] Deutschland darf nicht länger geduldig zusehen, wie es mit Füßen getreten wird.«18 Doch den deutschen Drang nach Einheit befeuerte nicht nur die Angst, so kurz nach der Märzrevolution nährten ihn auch die Hoffnung und Erwartungen. Der deutsche Republikaner Carl Schurz erinnerte sich später an den »Völkerfrühling« wegen seiner »begeisterten Opferwilligkeit für die große Sache, die damals mit seltener Allgemeinheit fast alle Gesellschaftsklassen durchdrang … Ich kannte in meiner Umgebung viele redliche Männer … [die] damals jeden Augenblick bereit [waren], Stellung, Besitz, Aussichten, Leben, alles in die Schanze zu schlagen für die Freiheit des Volks und für die Ehre und Größe des Vaterlandes.«19 Als Erstes stellte sich die Frage, wie die »Freiheit« überhaupt aussehen solle: Sollte das neue, freie Deutschland eine demokratische Republik sein oder eine parlamentarische Monarchie? Die andere Frage hieß: Wo waren die Grenzen des »Vaterlandes« genau? Dieses Problem drehte sich zum einen um die nationalen Minderheiten, die innerhalb der Grenzen der existierenden deutschen Staaten lebten – insbesondere die Dänen und Polen –, und zum anderen darum, inwieweit Österreich eingeschlossen sein sollte. Über der ersten Frage gerieten Liberale und Radikale bei der Zusammenkunft des »Vorparlaments« in Frankfurt zunächst politisch aneinander und danach mit Gewalt im Großherzogtum Baden. Das Vorparlament setzte sich aus 574 Mitgliedern zusammen. Diese wurden direkt aus den bestehenden deutschen Ständeversammlungen entsandt oder
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eingeladen, weil sie in dem Ruf standen, fortschrittlich zu sein. Wieder andere waren spontan bei Volksversammlungen gewählt worden. Dank ihrer Netzwerke, die schon darauf vorbereitet waren, jede sich nur bietende Möglichkeit in der bestehenden Krise zu ergreifen, konnten die Radikalen eine beachtliche Anzahl von Delegierten entsenden. Die Namhaftesten innerhalb ihrer Führung waren der Preuße Johann Jakoby, der Sachse Robert Blum und die Badener Gustav Struve und Friedrich Hecker.20 Der Bruch zwischen den Liberalen und den Radikalen vollzog sich bei der allerersten Tagung am 31. März. Unter den Augen von 2000 ehrfürchtigen Zuschauern auf den vollgestopften Galerien, stand Struve auf, pochte auf sein republikanisches Programm und damit auf einen vereinigten und demokratischen deutschen Staat. Am darauffolgenden Tag stemmte sich Heinrich von Gagern, ein gemäßigter, liberal gesinnter Adeliger aus Hessen (der mit sechzehn Jahren bei Waterloo gekämpft hatte), gegen den Angriff der Radikalen. Fanny Lewald, die sicherlich nicht zu seinen Bewunderern gehörte, beschrieb ihn als »groß und stark gebaut … seine Haltung, sein Organ, seine Ausdrucksweise tragen das Gepräge eines männlichen Wesens«.21 Von Gagern glaubte an Gesetz, Ordnung und die Monarchie, aber er sah die Notwendigkeit, den Radikalen die Initiative zu entreißen, »revolutionär« zu werden, »um eine Revolution zu verhüten«, wie ein Beobachter es nannte.22 Er und andere Gemäßigte respektierten die deutschen Teilstaaten, glaubten aber auch, dass es einer übergeordneten politischen Einheit bedürfe, wenn Deutschland stark und erfolgreich bei der Umsetzung seiner Mission eines großen kulturstiftenden Einflusses sein wollte. Die Liberalen wünschten sich Deutschland als einen Bund von konstitutionellen Monarchien und einem von seinem Parlament gewählten Monarchen. Von Gagern bestieg am 1. April die Rednertribüne und brachte die lärmende Versammlung zum Schweigen, als er sie mit hartem Blick fixierte; sein Sieg aber war beinahe ausgemachte Sache, denn etwa 425 Deputierte waren überzeugte liberale Monarchisten. Die Gemäßigten nutzten ihren Vorteil, als sich das Vorparlament am 3. April trennte, nachdem es einen »Fünfzigerausschuss« gewählt hatte, der bis zur Zusammenkunft des eigentlichen deutschen Parlaments im Mai als Überbrückung fungierte. Weder Hecker noch Struve wurden in diesen Ausschuss gewählt; Hecker stürmte hinaus und nahm einen Rest an Delegierten mit sich, während der konziliantere Blum und die übrigen Demokraten in der Hoffnung blieben, für ein föderiertes Deutschland zu arbeiten, das die Koexistenz von Fürstentümern wie Republiken erlaubte. Blum stach aus dem Gros seiner Mitdemokraten heraus, und das nicht nur wegen seiner Eloquenz (mit der er die verarmten Massen erreichte, da er
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auf entsprechende Kindheitserfahrungen zurückgreifen konnte), seines zerzausten Bartes und des Arbeiterkittels, den er manchmal trug, sondern auch, weil er die Klugheit des politischen Kompromisses erkannte.23 Trotzdem wurde die radikale Linke besiegt, wenn nicht unwiederbringlich zerschlagen. Diese frühen Niederlagen ließ Radikale glauben, dass die »Reaktion« bereits an Stärke gewann und, wie Carl Schurz sich erinnerte, »es für die bürgerliche Freiheit keine Sicherheit gebe als in der Republik«.24 Es gab aber keine Möglichkeit, mit legalen Mitteln eine Republik zu errichten. Hecker war wütend: »In Frankfurt kann nichts erreicht werden. Wir müssen in Baden zuschlagen.« Das Großherzogtum war politisch gesehen seit 1815 einer der liberalsten Staaten, doch sein Territorium umfasste große Ländereien, die Fürsten oder Edelleuten des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches gehörten. Diese hatten während der territorialen Verschiebungen des napoleonischen Zeitalters ihre politische Macht verloren, belasteten aber ihre Bauern noch immer mit Relikten der Grundherrschaft. Während der Märzrevolution hatten sich Bauern aus dem Schwarzwald des Eigentums ihrer Herren bemächtigt und Waffen verlangt, um ihrem Anspruch Nachdruck zu verleihen. Solche Rebellen besaßen ein offenes Ohr für republikanische Propaganda,25 doch die Badener Republikaner wurden von mehr als der bäuerlichen Wut getragen. Hinter der Schweizer Grenze rekrutierte ein deutsches »Nationalkomitee« unter den 20 000 Ausgewanderten eine paramilitärische Einheit, während der frühere Soldat Franz Sigel in Mannheim sein eigenes Freikorps organisierte. Und in Paris brüstete sich Georg Herwegh, Anführer der achthundert Mitglieder umfassenden »Deutschen Demokratischen Legion«, damit, dass er eine Truppe von fünftausend Deutschen ausheben könne. Schon warnte der preußische Gesandte in Baden, dass sich »mit einem Worte, was vielleicht schon ausgesprochen ist, […] ein Heer von mehr als 20 000 verzweifelter und fanatisierter Proletarier unter seinem [Heckers] Befehl vereinigen könnte«.26 In Baden selbst war eine neue Revolution sicherlich machbar, doch Hecker und seine Mitstreiter überschätzten die Anziehungskraft ihrer demokratischen Ideen in Deutschland gewaltig. Mit einem einzigen entscheidenden Vorstoß im Großherzogtum, so glaubten sie, könnte man den Zusammenbruch des gesamten monarchistischen Systems in Deutschland herbeiführen. Die Märzrevolutionen jedoch hatten die alte Ordnung gar nicht so stark beschädigt – im Gegenteil – schon ließ diese Zeichen neuer Lebenskraft erkennen. So bat die liberale Regierung Badens, beunruhigt wie sie war, am 4. April den Deutschen Bund nachdrücklich um militärische Unterstützung, und die Bundesversammlung
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sollte sie bewilligen. Inzwischen reisten Karl Mathy und der gemäßigte Demokrat Adam von Itzstein, beides badische Mitglieder des Fünfzigerausschusses, nach Baden, um Hecker vom Entfachen eines Bürgerkriegs abzuhalten. Doch der Aufstand sollte sich entzünden, als der kompetente republikanische Propagandist Joseph Fickler auf dem Karlsruher Bahnhof gefangen genommen wurde – Mathy hatte den Journalisten erspäht und den Bahnhofsvorsteher angewiesen, die Abfahrt des Zuges zu verhindern. Mit diesen Neuigkeiten im Gepäck fuhr Hecker nach Konstanz, wo er sich mit Struve traf. Angetan mit blauem Arbeiterkittel, Schlapphut mit Hahnenfeder und Pistolen im Gürtel, rief er am 12. April die Republik aus und forderte alle wehrtauglichen Männer auf, sich ihm beim Marsch auf Karlsruhe anzuschließen. Während sie sich nordwärts bewegten, wuchs Heckers kleine Gruppe von sechzig auf etwa achthundert Männer an, die im Großen und Ganzen einen Querschnitt städtischen oder kleinstädtischen Lebens repräsentierten: Akademiker, Geschäftsleute, Handwerksmeister, Wandergesellen, Studenten und Arbeiter.27 Viele von ihnen waren mit Sensen statt mit Gewehren ausgestattet, zudem konnten sich Heckers Männer nicht mit den anderen Truppen vereinen. So wurde etwa die deutsche Legion in der Schweiz von der Schweizer Armee aufgehalten, die nicht zuließ, dass die Neutralität verletzt würde. In Frankreich war die Regierung versucht, ihre Hände in Bezug auf Herweghs aufrührerische Legion in Unschuld zu waschen, gefährdete diese doch Lamartines sorgsam ausbalancierte Außenpolitik. Obwohl er die Regierungen von Baden und Bayern warnte, versprach Lamartine, die Legion nicht mit Waffen auszustatten, fügte aber hinzu, dass die provisorische Regierung noch nicht die Gewalt habe, sie zur Auflösung zu zwingen.28 Inzwischen schickte Herwegh seine unermüdliche Frau Emma nach Deutschland, um Kontakt zu Heckers Leuten aufzunehmen. Sie fand Hecker auf dem Marsch und konnte ihm berichten, dass das zwölfhundert Mann starke Korps ihres Mannes wohl an der französischen Grenze bereitstünde. Sie fragte Hecker, wann und wo sich die beiden Legionen zusammentun könnten. Hecker war überraschend vage – vielleicht, weil er glaubte, dass Herweghs Truppe nur aus Ausländern bestehe, was ihren Einfall wie eine Invasion erscheinen lassen würde. Mittlerweile marschierte Franz Sigel mit seinen gut gedrillten dreitausend Leuten durch Südbaden, ebenfalls um Hecker zu finden. Dieser jedoch lehnte zornig ab, als ihn eines Abends, nach zermürbendem Fußmarsch durch Schnee, Matsch und Regen, mit dampfenden Kleidern die Wärme eines Wirtshauses genießend, der Fünfzigerausschuss bat, sein Vorhaben aufzugeben.29
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Die liberale badische Regierung hatte nun eine vernichtende Übermacht an Berufssoldaten aufgebracht. Während Großherzog Leopolds Armee womöglich nicht loyal war, hatte der Deutsche Bund Streitkräfte aus Hessen und Nassau entsandt, die mit Truppen aus Württemberg und Bayern vereint wurden. Diese Armee von 30 000 Männern wurde dem Kommando von Friedrich von Gagern, Heinrichs Bruder, unterstellt, der darauf bestand, sich in Zivil zu kleiden, um den Eindruck eines »Bürgergenerals« zu erwecken. Im Grunde genommen handelte es sich hier nicht um eine Schlacht zwischen Revolution und Gegenrevolution, sondern um einen Kampf zwischen Gemäßigten und Radikalen. Die beiden Truppen trafen am 20. April bei dem Dorf Kandern aufeinander. Da er vorneweg ritt, fiel von Gagern als Erster, doch die Professionalität und zahlenmäßige Überlegenheit der Bundestruppen wirkten sich bald aus. Heckers Korps wurde in alle Richtungen zerstreut, er selbst flüchtete schnell über die Schweizer Grenze, die gut zehn Kilometer entfernt lag. Einige seiner Männer stießen auf Sigels Truppe, die endlich und zu spät Heckers Spuren folgte. Der besonnene General schaffte es, die Flüchtigen zu sammeln, doch seine Streitmacht wurde bei Freiburg aufgerieben, als ihr, von drei Seiten attackiert, die Munition ausging. Sigel selbst konnte fliehen. In der Nacht zum 24. April überschritt Herweghs Legion heimlich die Grenze von Frankreich nach Baden, wo sie von den Katastrophen von Kandern und Freiburg erfuhr. Emma und Georg Herwegh entschieden, den Aufstand aufzugeben, die Legion in die Schweiz marschieren zu lassen, die verstreuten Republikaner zu sammeln und es, sobald der Zeitpunkt günstig war, noch einmal zu versuchen. Auf ihrem Weg durch den Schwarzwald jedoch wurde ihre Truppe überfallen und besiegt. Flüchtende, die in der Dunkelheit aufgebracht wurden, erschoss oder hängte man kurzerhand, ihre Körper baumelten von den Ästen dunkler Bäume. Emma und Georg entkamen, als Bauern verkleidet, über die Grenze.30 Die republikanische Revolution in Baden hatte die deutschen Revolutionäre unwiederbringlich gespalten. Blums Reaktion auf den Aufstand war vernichtend: »Hecker und Struve haben das Land verraten nach dem Gesetz – das wäre eine Kleinigkeit. Aber sie haben das Volk verraten durch ihre wahnsinnige Erhebung und es mitten im Siegeslauf aufgehalten; das ist ein entsetzliches Verbrechen.«31 Diese Analyse radikaler politischer Möglichkeiten hatte Schwachstellen, aber sie veranschaulichte den Graben innerhalb der radikalen Bewegung. Für die Liberalen war der Aufstand ein Angriff auf die im Entstehen begriffene konstitutionelle Ordnung, zudem hatten sie den Radikalen bewiesen, dass sie bereit waren, die Konsolidierung dessen, was sie im März erreicht
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hatten, mit Waffengewalt durchzusetzen. Ein schlimmes Vorzeichen war für sie, dass die Streitkräfte von deutschen Fürsten auf Anweisung des Deutschen Bundes bereitgestellt worden waren, ein Beweis dafür, dass die alte Ordnung nach dem anfänglichen Schock über die Revolution noch längst nicht am Ende war. Vorerst jedoch konnte das Blutvergießen im Schnee des Schwarzwalds die revolutionäre Begeisterung der radikaleren Republikaner nicht dämpfen: Zwar hatten sie eine Schlacht verloren, aber der Krieg um die Revolution war noch zu gewinnen. Die Unterstützung, die Hecker gefunden hatte, war ein Hinweis darauf, dass es innerhalb breiterer Bevölkerungskreise noch immer große wirtschaftliche Not und politische Unzufriedenheit gab, die man sich nur zunutze machen musste.32 Karl Marx’ Mitarbeiter Arnold Ruge versuchte den revolutionären Elan am Leben zu erhalten, als er sich auf den Straßen Frankfurts, Berlins und Kölns an die Arbeiter und Armen wandte. Die Reform rief offen zu einer zweiten Revolution auf, um eine Diktatur nach Art der Jakobiner zu errichten, die den Grundstein für eine Republik und eine egalitäre Demokratie legen sollte. Während sich die liberalen Monarchisten und Republikaner in den Haaren lagen, zeigte sich das Problem der nicht deutschen Nationalitäten in aller Schärfe. Mit den Dänen kam es über die Herzogtümer Schleswig und Holstein zu Querelen. Lord Palmerston bemerkte einmal mit typischer Ironie, er habe nur drei Menschen gekannt, die diese Angelegenheit vollständig durchdrungen hätten: Der eine sei tot, der zweite wahnsinnig geworden, und der dritte, Palmerston selbst, habe vergessen, worum es eigentlich ging.33 1460 hatte der König von Dänemark die beiden Herzogtümer unter der Bedingung übernommen, dass sie für immer untrennbar seien. Tatsache war, dass sich Holstein (mit seiner deutschen Mehrheit) an das Heilige Römische Reich anschloss und 1815 Mitglied des Deutschen Bundes wurde. Der dänische Herrscher blieb Herzog, doch selbst die überschwänglichsten dänischen Patrioten stimmten mit den deutschen Nationalisten in einem Punkt überein: Holstein würde immer ein Teil von Deutschland bleiben. Der eigentliche Streit drehte sich um Schleswig, das eine dänische Mehrheit aufwies. Die »eiderdänischen« Nationalisten behaupteten, dass sich Dänemark bis zur Eider, der südlichen Grenze von Schleswig, ausbreite; die heikle Frage lautete also, ob Schleswig von Holstein abgetrennt und restlos Dänemark einverleibt werden könne. Die deutsch-nationalen Opponenten erklärten hingegen, dass sich Schleswig von Dänemark lösen und zusammen mit Holstein Deutschland beitreten solle. Für beide Seiten
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war es eine stark emotionale Angelegenheit: Die Februarrevolution in Frankreich hatte die Dänen enthusiasmiert. Die Liberalen wollten auf ein »modernes« parlamentarisches System drängen, in dem – anders als in der Vereinten Ständeversammlung, die König Friedrich VII. zugesagt hatte – Schleswig kein Sonderstatus zukommen würde; vielmehr sollte es wie andere auch als Provinz mit einer seiner Bevölkerungszahl entsprechenden Vertretung in Dänemark integriert werden. Holstein dagegen sollte dem neuen Deutschland beitreten. Das heißt, dänischer Nationalismus und dänischer Liberalismus waren nicht voneinander zu trennen,34 auch wenn Ersterer größeren emotionalen Einfluss zu besitzen schien. Im März marschierten denn auch aufgebrachte Nationalisten durch Kopenhagen und riefen: »Dänemark bis zur Eider!« In den Herzogtümern war die Lage besonders angespannt, denn Friedrich VII. hatte keine Erben. Für die deutschen Nationalen stellte der Herzog von Augustenburg die naheliegende Wahl dar – ein Deutscher der jüngeren Linie des in Dänemark herrschenden Hauses Oldenburg, der beide Herzogtümer in den Deutschen Bund einbringen würde. Die Unstimmigkeit zwischen den beiden Seiten verstärkte sich: Am 18. März wurden bei einer Zusammenkunft deutscher Nationalisten in Rendsburg die deutschen Ansprüche auf beide Herzogtümer provokant wiederholt. Die Dänen nahmen den Fehdehandschuh auf und zwangen am 21. März den König in Kopenhagen durch eine große Demonstration, die konservative Regierung zu entlassen und ein liberaleres Kabinett zu berufen, darunter den starken Orla Lehmann. Neben der Pressefreiheit und der Entlastung der Bauern durch die Abschaffung von Frondienst und Körperstrafen erklärte die neue Regierung die »Wiedervereinigung« Schleswigs mit Dänemark »unter einer allgemeinen, freiheitlichen Verfassung«. Diese bekam am 5. Juni (der noch immer als Dänemarks »Verfassungstag« begangen wird) die Zustimmung des Königs. Darin enthalten war ein recht umfassendes Wahlrecht: Alle Männer über Dreißig, die eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit aufweisen konnten – »ihre eigenen Kleider und ihren eigenen Tisch«, wie das Gesetz es bildlich ausdrückte –, erhielten das Wahlrecht, wobei durch den weiteren Verlauf die Einwohner von Schleswig von der Teilnahme an den auf Oktober festgesetzten ersten Wahlen abgehalten wurden. In Vorahnung dessen, was folgen sollte, führte man zudem eine allgemeine Wehrpflicht ein.35 Am 24. März erklärten die deutschen Adeligen der beiden Herzogtümer die Unabhängigkeit und richteten in Kiel eine provisorische Regierung ein: »Wir werden die Opferung von deutschem Territorium als Beute Dänemarks nicht hinnehmen!«36 Der Fall befeuerte den
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deutschen Nationalismus. Der Fünfzigerausschuss in Frankfurt erkläre Schleswig zu einem Mitglied des Deutschen Bundes, während deutsche Patrioten im ganzen Land zu den schwarz-rot-goldenen Flaggen eilten, um die militärischen Vorbereitungen, die in beiden Herzogtümern getroffen wurden, zu unterstützen. Carl Schurz erinnert sich an Studenten, die sich in hastig gemusterten Freiwilligenkorps einschrieben, wobei er selbst sich von seinem Professor und Freund Gottfried Kinkel, der klug argumentierte, dass Berufssoldaten die Sache sehr viel besser verstünden als ein Haufen begeisterter Amateure, davon abbringen ließ. Einer von Schurz’ Freunden, der ins Feld zog, war so kurzsichtig, dass er seine Muskete auf seine eigene Linie abfeuerte, bevor er von einer dänischen Kugel getroffen und gefangen genommen wurde.37 Auf die dringende Bitte der provisorischen Regierung in Kiel ersuchte die Bundesversammlung des Deutschen Bundes am 4. April Preußen, gegen Dänemark zu intervenieren, und stellte Kontingente anderer deutscher Staaten in Aussicht. Zehn Tage später überquerte die preußische Armee die Eider, die vom Bund zusammengestellten Truppen unter dem Kommando des preußischen Generals Friedrich von Wrangel folgten. Am 3. Mai marschierten die deutschen Streitkräfte in Dänemark ein und lösten eine internationale Krise aus. König Friedrich Wilhelm, der sowieso ernsthafte Bedenken hatte, Rebellen zu unterstützen, geriet vonseiten Englands, Russlands und Schwedens, die eine Ausweitung der preußischen Macht auf der Halbinsel zwischen Nord- und Ostsee befürchteten, schnell unter diplomatischen Druck. Außerdem schwebten die Deutschen in der Gefahr, sich zu übernehmen, denn die dänische Marine rüstete zu einer Blockade Norddeutschlands, der die Deutschen nichts entgegenzusetzen gehabt hätten. In dieser Sackgasse versuchten die europäischen Mächte ein Friedensabkommen auszuhandeln; als sie damit Erfolg hatten, sollte dies eine Krise innerhalb der deutschen Revolution von 1848 zur Folge haben. Der Konflikt enthüllte einmal mehr, dass die alte Ordnung noch immer intakt war, denn es waren der alte Bund und die preußische Armee und nicht der Fünfzigerausschuss, die das militärische Rückgrat der Kriegsführung bildeten. Auch zeigte sich, dass die Revolutionäre nur allzu gern »Deutschland« mit »Freiheit« verwechselten: Hier wurde der Aufstand des Adels in Herzogtümern, die ihren eigenen Leuten keinerlei Reformen in Aussicht stellten, mit der gesamtdeutschen Frage verbunden.38 Die deutsche (und auch die dänische) Reaktion auf die Krise bewiesen, dass, sobald die kosmopolitische Blüte des »Völkerfrühlings« auf nationale Interessen stieß, Letztere den Sieg davontrugen.
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Noch viel stärker zeigte sich dieser Umstand bei dem fast unlösbaren Problem der deutsch-polnischen Beziehungen. Die Polen gehörten zu jenen europäischen Nationalitäten, die das Jahr 1848 kaum politisch verändert hatte.39 Auf den ersten Blick überrascht dies, denn die Polen hatten mit zu den engagiertesten Revolutionären Europas gehört und zusammen mit den Italienern die meisten Sympathien erhalten. Die Flamme der polnischen Revolution wurde durch die »Große Emigration« der Exilpolen am Leben erhalten; deren Aktivitäten liefen vor allem in Frankreich zusammen, doch war man untereinander gespalten. Die eher konservativen Adeligen um Fürst Adam Czartoryski, »dem ungekrönten König von Polen«, der seine Geschäfte von seinem Zuhause, dem Hôtel Lambert, aus führte, glaubten, dass ihr Land seine Unabhängigkeit nur zurückgewinnen könne, wenn es auf breiter Basis diplomatische und militärische Unterstützung aus Europa erhielt.40 Die eher radikale Richtung wurde durch die Polnische Demokratische Gesellschaft repräsentiert, die 1832 in Paris von Republikanern gegründet worden war. Diese fürchtete Czartoryskis monarchische Ambitionen und war der Ansicht, Polen solle in erster Linie auf seine eigenen revolutionären Ressourcen vertrauen. In der Hoffnung, sich für den nächsten Aufstand den Beistand der Bauern zu sichern, votierte die Gesellschaft für die Abschaffung der Leibeigenschaft und aller Adelsprivilegien. Am Vorabend der 1848er-Revolutionen konnte sie sich der Mitgliedschaft von etwa fünfzehnhundert Exilanten rühmen, die meisten davon in Frankreich, aber auch mit Ablegern in Brüssel, London und New York.41 Die Märzrevolutionen in Berlin und Wien sollten das preußisch regierte Posen und das österreichische Galizien für die Aktivitäten der polnischen Patrioten öffnen. Am 24. März bestieg Czartoryski mit seinen achtundsiebzig Jahren noch einmal hoffnungsfroh einen Zug nach Berlin, um die preußische Regierung zu einem Krieg gegen Russland zu drängen. In Paris fand am 26. März eine große Demonstration statt, hinter der die Demokratische Gesellschaft steckte, und auf der Geld und Waffen für Polen gefordert wurden. Während der darauffolgenden Woche verließen patriotische Polen zu Fuß oder mit dem Zug Paris und durchquerten Deutschland (dank des freien Eisenbahntransports, den der Deutsche Bund bereitstellte, damit nur ja kein polnischer Revolutionär zurückblieb), um nach Posen und Galizien zu gelangen. Schließlich wurden die deutsch-polnischen Interessenkonflikte in Letzterem ausgefochten. Die revolutionären Beziehungen zwischen Deutschen und Polen begannen vielversprechend. Etwa hundert politische Gefangene aus Polen, die wegen ihrer Teilnahme an der fehlgeschlagenen Revolte von 1846 in Preußen einsa-
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ßen, wurden am 20. März freigelassen. Wie es sich für den Frühling der Völker gehörte, drückten die meisten Deutschen ihre Solidarität mit den Polen aus. Am 23. März empfing König Friedrich Wilhelm eine Abordnung aus dem Großherzogtum Posen (oder Pozna´n, wie die polnische Mehrheit es nannte). Diese Provinz gehörte zum preußischen Teil des geteilten Polen und besaß eine ansehnliche deutsche Minderheit (die Zahlen variieren je nach nationaler Ausrichtung, aber es kamen knapp zwei Polen auf einen Deutschen). Unter Führung des Erzbischofs von Posen erklärte die Delegation dem König, in Anbetracht der Vereinigung Deutschlands »nach dem Prinzip der Nationalität« schlage auch »die Stunde für Polens Auferstehung«.42 Daher bat sie um eine »nationale Reorganisation«. Am folgenden Tag gab das liberalisierte Kabinett des Königs dem Ersuchen statt und berief ein aus Deutschen und Polen bestehendes Komitee, das sich über eine Form der Autonomie für das Großherzogtum beraten sollte. Nachdem man wohlwollend eine weitere Erklärung des polnischen »Nationalkomitees« in Posen angehört hatte – »wir als Polen können und wollen nicht dem Deutschen Reich beitreten« –, erklärte das Vorparlament am 4. April »die Teilung Polens zu einem schreienden Unrecht« und erkannte an, dass es »die heilige Pflicht des deutschen Volkes sei, Polen wiederherzustellen«.43 Das aber war gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung an die schlagkräftigste der drei beteiligten Mächte: an Russland. Viele deutsche Revolutionäre fanden diese Vorstellung reizvoll: Das wiedererstandene Polen würde ein Bollwerk zwischen dem neuen Deutschland und dem reaktionären Russland sein und mit Blick auf den gemeinsamen östlichen Feind helfen, die deutsche Einheit zu schmieden. Ein Krieg zwischen Preußen und Russland war auch genau das, was Czartoryski, der am 28. März in Berlin eintraf, entfachen wollte, doch er musste feststellen, dass der preußische König entsetzt vor dieser Aussicht zurückwich. Sobald ihm die Folgen seines früheren Entgegenkommens klar wurden, rief Friedrich Wilhelm aus: »Bei Gott, nie, nie werde ich das Schwert gegen Russland ziehen!«44 Adolphe de Circourt, der täglich mit dem Fürsten zusammentraf und inzwischen französischer Gesandter in Berlin war, hatte Anfang April den Eindruck, dass Czartoryski »ewig wartete … da weder der König von Preußen noch seine Minister sich persönlich mit ihm treffen wollten«. Eingedenk der pazifistischen Außenpolitik seines Freundes Lamartine entschuldigte sich Circourt außerdem bei dem polnischen Magnaten dafür, ihm keinerlei konkrete französische Hilfe für seine nationale Angelegenheit zusagen zu können.45 Die Russen ihrerseits machten, klug genug, keine feindselige Geste Richtung Preußen: Wenn die polnischen Freiwilligen die russische
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Grenze überschritten, würden diese und nicht die Russen als Aggressoren dastehen. Die Entschlossenheit aller Großmächte, einen allgemeinen europäischen Konflikt napoleonischen Ausmaßes zu vermeiden, stellte somit die Hauptursache für das Scheitern der polnischen Nationalbewegung im Jahr 1848 dar. Nachdem Czartoryskis diplomatische Offensive ins Leere lief, richtete sich das Augenmerk auf revolutionäre Bemühungen an der Basis. In Schlesien hatten sich polnische Bauern gegen ihre deutschen Grundherren erhoben und auch polnische Grubenarbeiter probten den Aufstand. Die ersten polnischen Zeitungen erschienen, und Forderungen nach polnischen Schulen und Polnisch als Amtssprache wurden laut. Dennoch kam es zu keiner direkten Herausforderung für den aufkeimenden deutschen Staat.46 Anders verhielt es sich in Posen, hier hatten patriotische polnische Adelige ein Nationalkomitee gegründet, doch nicht etwa die Wiederherstellung des ganzen polnischen Staates, sondern nichts weiter als die Autonomie für das Großherzogtum verlangt. Mit der Ankunft von Agenten der Polnischen Demokratischen Gesellschaft radikalisierte sich die Bewegung und versuchte die Energien auf wahrhaft nationale Ziele zu lenken. An der Spitze der Delegierten stand Ludwik Mierosławski, der die Befreiung von Polen als seine Bestimmung ansah. Mierosławski, dessen Mutter Französin war und dessen polnischer Vater aufseiten Napoleons gekämpft hatte, hatte sich der unter den damaligen Nationalisten Europas allzu verbreiteten Ansicht verschrieben, dass ein Krieg kräftigend wirke und der Dekadenz vorbeuge. Kaum, dass er mit anderen polnischen politischen Gefangenen am 20. März aus der Haft im Berliner Gefängnis Moabit entlassen war, schickte er Agenten nach Posen und Galizien, um die Polen für einen Krieg mit Russland zu bewaffnen und zu drillen. Doch das zarte Band der Solidarität zwischen deutschen und polnischen Liberalen war in Posen schon zerrissen. Unter Zuspruch des Nationalkomitees rissen die Polen im Großherzogtum die Macht an sich, begannen unbeliebte Amtspersonen zu ersetzen und Milizen zu organisieren. Bei seiner Ankunft erhielt Mierosławski den Oberbefehl über diese Truppen, die sich Anfang April auf zehntausend Mann beliefen. Als die Folgen einer Trennung von Preußen allmählich schmerzlich spürbar wurden, legte die deutsche Minderheit in Frankfurt Protest ein: »Wir sind Deutsche und wir wollen Deutsche bleiben … Ihr könnt uns nicht im Stich lassen.« In Posen begannen die Deutschen eigene Milizen und Bürgerkomitees zu bilden: »Die deutsche Sache«, schrieb ein einheimischer Lehrer, »stand auf dem Spiel.«47
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Polen und Deutsche befanden sich nun eindeutig auf Kollisionskurs. Zwar wollte ein beunruhigter Friedrich Wilhelm nun mit den Polen verhandeln und entsandte deshalb Anfang April General Wilhelm von Willisen nach Posen, um die Spannungen zu entschärfen. Doch konservative Kreise im Umfeld des Königs überredeten ihn, General von Colomb, den preußischen kommandierenden General in diesem Territorium, in Alarmbereitschaft zu versetzen; dieser brachte bald doppelt so viele Männer wie Mierosławski auf, obwohl Zehntausend der Preußen nur mit Jagdgewehren und Sensen bewaffnete Zivilisten waren. Von Willisen schloss am 11. April ein Abkommen mit den Polen, aber da war es schon zu spät. Am 14. April stellte der König klar, dass nur den »rein polnischen« Distrikten im Osten Posens Autonomie gewährt werde. Einige kühle polnische Rechner wären durchaus bereit gewesen, die von Deutschen mehrheitlich bewohnten westlichen Gebiete aufzugeben, auch wenn diese substanzielle polnische Minderheiten hatten. Das Nationalkomitee jedoch lehnte eine solche Teilung strikt ab. Am 19. April ließ Colomb seine Armee marschieren. Mierosławskis Freiwilligenkorps fochten einen geschickten Verteidigungskampf und wehrten bei einem Scharmützel am 29. April Colombs Truppen ab, bevor es zu zwei größeren Schlachten kam: die erste am Folgetag, bei der die Polen es schafften, die Preußen zu besiegen, und die nächste am 2. Mai, bei der es zu einem Patt kam. Mierosławski wurde erst besiegt, als preußische Artillerie seine Truppen auf offenem Feld erwischte und zerschlug. Die letzten Einheiten kapitulierten am 9. Mai, das Nationalkomitee löste sich auf. Mierosławski selbst wurde gefangen genommen und, nachdem er gerade einmal einundfünfzig Tage in Freiheit gekostet hatte, auf die Festung Posen verbracht. In Frankfurt war nun der frühe deutsche Weltbürgergeist verflogen: In einer neuen Resolution sprach der Fünfzigerausschuss zwar noch immer brav von der Wiederherstellung Polens, allerdings nur, sofern in keiner Weise deutsche Interessen verletzt würden.48 Als die deutsche Nationalversammlung vom 24. bis 27. Juli 1848 über Posen debattierte, stimmte sie dafür, den Polen ein »Herzogtum Gnesen« anzubieten, das nur ein Drittel des ursprünglichen Territoriums des Großherzogtums und ein Viertel von dessen Bevölkerung umfasst hätte. In einer Rede, die von Lewis Namier als »Weckruf des deutschen Nationalismus« bezeichnet wurde, fragte Wilhelm Jordan, ob »eine halbe Million Deutscher« unter der Herrschaft »einer andern Nationalität« leben soll, »die nicht so viel humanen Inhalt hat, als das Deutschthum gegeben«? Düster fügte er hinzu: »Die Übermacht des deutschen Stammes gegen die meisten slavischen Stämme … ist eine Tatsache.« Die Existenz eines Volkes allein gebe die-
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sem nicht das Recht auf Unabhängigkeit, sondern erst »die Kraft, sich als Staat unter andern zu behaupten«. Einer der wenigen, die widersprachen, war der schlesische Pole Jan Janiszewski, der konterte: »Die Bildung, welche uns keine Freiheit zu geben […] versteht, muß noch viel verhaßter und verächtlicher sein, als die Barbarei selbst.«49 Robert Blum, einer der klügsten und eloquentesten deutschen Radikalen, schüttelte seine Mähne und sprach traurig von »der übertriebenen Eroberungslust unserer jungen und zweifelhaften Freiheit«.50
II Das andere heiße Eisen, das die deutschen Nationalisten anzufassen hatten, war die Frage, inwieweit Österreich in das neue Reich einbezogen werden solle. Diese stand in den Jahren 1848 und 1849 die ganze Zeit über zur Debatte und wurde erst 1866 gelöst, als Otto von Bismarck mit preußischem Blut und Eisen Österreich aus Deutschland verjagte. 1848 aber gingen die Wiener Aufständischen noch davon aus, dass sie Teil des vereinten Deutschlands sein würden. In der Nacht vom 1. auf den 2. April kletterten deshalb Studenten auf den Turm des Stephansdoms und entfalteten ein riesiges schwarz-rot-goldenes Banner. William Stiles, amerikanischer Diplomat in Wien, sah, dass »ein vereintes Deutschland jetzt zum Schlagwort des Tages geworden und … jedes Haus in Wien … von einer deutschen Nationalflagge gekrönt ist. Die Studenten marschierten nicht nur unter deutschen Fahnen, sondern paradierten in den Straßen, die mit deutschen Kokarden und Bändern geschmückt waren. Es war bemerkenswert, wie alle einstimmig auf einmal ihr eigenes nationales Banner aufgaben. Österreicher zu sein, ist bereits zum Schimpfwort geworden, und das altehrwürdige ›Schwarz-Gelb‹ […], die einzigen anerkannten Farben des Kaisertums … wurde von diesen neuen restlos verdrängt.«51 Selbst der heißgeliebte Kaiser Ferdinand wurde dabei entdeckt, wie er auf dem Balkon der Hofburg vergnügt die deutsche Trikolore schwenkte. Graf Karl zu Leiningen-Westerburg, ein ungarischer Adeliger deutscher Herkunft, beobachtete sogar, dass mancher auf Nummer sicher ging und gleich alle drei Flaggen, die deutsche, die österreichische und die kaiserliche Flagge flattern ließ, »sodass sie, sollte es nötig sein, mühelos die überflüssigen entfernen und sich
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dem Triumph der siegreichen Idee anschließen konnten«.52 Tatsache war, dass die Einbeziehung Österreichs in das vereinigte Deutschland für gravierende Probleme sorgen würde: Nicht alle – protestantischen und wirtschaftlich unabhängigen – Norddeutschen etwa wünschten sich ein Deutschland, das das konservative, katholische und protektionistische Österreich mit einschloss. Die, die Österreich ausschließen wollten, wie Heinrich von Gagern, schlugen deshalb eine »kleindeutsche« Lösung vor. Indes gab es viele österreichische Monarchisten und süddeutsche Katholiken, die nicht wollten, dass Österreich auf den Status einer bloßen südlichen Provinz des vereinigten Deutschland reduziert oder der neue Staat durch das protestantische Preußen dominiert würde. Da sie nach wie vor Österreich dabei haben wollten, dachten sie an einen sehr viel lockereren Staatenbund, in dem sowohl die politischen Strukturen der existierenden Staaten als auch die konfessionellen Ausrichtungen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Untertanen gewahrt blieben. Ihrem Vorschlag eines »großdeutschen Reiches« unter Einschluss Österreichs schlossen sich die Radikalen an, obwohl sie sich eine demokratische, vereinigte Republik aller Deutschen erträumten. Die großdeutsche Idee musste allerdings mit einem ganz eigenen, zentralen Problem kämpfen: Hatte sie zur Folge, dass die deutschsprachigen Teile Österreichs aus dem habsburgischen Reich herausgerissen und dieses zerschlagen würde? Oder sollte sich Österreich als Vielvölkerstaat in Deutschland einbringen und damit eine Art föderativer Superstaat in Mitteleuropa entstehen? Mit anderen Worten: Was sollte aus den anderen Nationalitäten der polyglotten Monarchie werden? Diese Streitfrage wurde mit dem Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen im österreichischen Kaiserreich besonders verdeutlicht. Dort hatten sich in Böhmen die beiden ethnischen Gruppen anfangs noch im Licht revolutionärer Brüderlichkeit gesonnt. Der erste Widerstand gegen die Nationalbewegung der Tschechen kam dann auch nicht von den Deutschen, sondern von dem reformierten mährischen Landtag, der aus einem eng verstandenen Nationalismus heraus gegen eine Union mit Böhmen votierte, obwohl er selbst aus Tschechen und Deutschen bestand. Dies war ein schwerer Schlag für die tschechischen Nationalisten, die immer schon eines wollten: die Vereinigung der alten tschechischen Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien. Inzwischen schlossen sich Tschechen und Deutsche fürs Erste zusammen, um den WenzelsbadAusschuss zu unterstützen, der sich zu Böhmens inoffizieller Regierung und dem geistigen Zentrum der tschechischen Revolution entwickelt hatte, seit der österreichische Beamtenapparat in Verruf geraten war. Rudolf Stadion ver-
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suchte, ein alternatives konservatives Machtzentrum zu schaffen, indem er Anfang April unter den tschechischen und deutschen Größen von Prag sein eigenes Komitee zusammenstellte, dem unter anderem der gemäßigte liberale Historiker Franz Palacký und einige Mitglieder des Wenzelsbad-Ausschusses angehörten. Das Komitee wurde allerdings am 10. April Letzterem untergeordnet. Drei Tage später sollte Stadion, konservativer Staatsdiener Habsburgs, staunen, dass er einer Körperschaft vorstand, die jetzt den Titel »Nationalausschuss« trug. Die neue effiziente Regierung, in der sowohl Tschechen wie Deutsche saßen, bereitete sich auf die Wahlen zum böhmischen Landtag vor, der kraft kaiserlicher Genehmigung am 8. April zusammengerufen wurde. Auf der Straße hatte die Zeitung des Liberalen Karel Havlíček den Stachel im Fleisch der tschechisch-deutschen Kooperation berührt, forderte sie doch alle Tschechen auf, deutsche Symbole von den Arbeitsplätzen zu entfernen. Jedoch zwangen ihn Proteste mit einer unterwürfigen Entschuldigung zurückzurudern.53 Der tschechisch-deutsche Konflikt schaukelte sich auf, denn hier liefen zwei mächtige Strömungen zusammen – der deutsche Nationalismus und der Austroslawismus. Deren Aufeinandertreffen wurde bei einem berühmten Austausch zwischen dem Frankfurter Fünfzigerausschuss und Palacký elegant auf den Punkt gebracht. Am 6. April lud der Fünfzigerausschuss den großen tschechischen Historiker ein, sich ihnen anzuschließen. In der Tat gingen die deutschen Nationalisten davon aus, dass die tschechischen Länder, da sie sowohl dem Heiligen Römischen Reich als auch dem Deutschen Bund angehörten, Teil eines vereinigten Deutschland sein würden. Immerhin sprachen die kulturtragenden Eliten dieselbe Sprache, selbst Palachýs Werke waren auf Deutsch geschrieben. Doch am 11. April verblüffte der Historiker den Ausschuss in einem offenen Brief mit der Ablehnung der Einladung.54 Er begann mit einer Stellungnahme zur nationalen Identität der Tschechen: »Ich bin ein Böhme slawischen Stammes … Dieses Volk ist zwar ein kleines, aber von jeher ein eigenthümliches und für sich bestehendes.« Palackýs Statement kam nicht aus heiterem Himmel, es war das Resultat der tschechischen Kulturrenaissance des 19. Jahrhunderts55 und brachte zum ersten Mal die Idee einer tschechischen Nationalität auf die europäische Ebene. Doch obwohl Palacký dem deutschen Nationalismus die tschechische Version entgegensetzte, suchten weder er noch die tschechischen Patrioten die volle Unabhängigkeit von Österreich. Der Historiker legte dar, dass die Vereinigung des gesamten deutschen Volkes (was die österreichischen Deutschen einschloss) das habsburgische Imperium auseinan-
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derreißen würde. Dies wiederum würde die kleineren Nationen Mittel- und Osteuropas dem Giganten aus dem Osten – Russland – ausliefern, der »längst eine drohende Stellung nach Außen angenommen hat«. Nur dank der schützenden Hülle des österreichischen Imperiums würden die Tschechen und andere Völker im Herzen Europas vor einer russischen Expansion bewahrt: »Wahrlich, existirte der österreichische Kaiserstaat, nicht schon längst, man müsste im Interesse Europa’s, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.« Palacký erteilte somit nicht nur dem deutschen Nationalismus im Allgemeinen, sondern auch der großdeutschen Idee im Besonderen eine Abfuhr. Sein Austroslawismus – die Vorstellung, dass die slawischen Stämme Mitteleuropas Freiheit und Sicherheit nur innerhalb des österreichischen Kaiserreichs finden könnten – begeisterte die Regierung in Wien so sehr, dass sie ihm die Position des Erziehungsministers anbot (die er ablehnte). Aber der Austroslawismus ging davon aus, dass die habsburgische Monarchie nach Grundsätzen reformiert wurde, die allen Völkern des Reiches gleiche Rechte und gleichen Status gewährten und es in einen multinationalen Staatenbund verwandelten. Doch es war nicht sicher, ob dieses Vertrauen berechtigt war. Die Austro-Deutschen indessen standen einer solchen Idee ausgesprochen feindselig gegenüber. Sie hatten sich lange als »Staatsvolk« betrachtet, das vermöge, seiner sozialen Stellung und Sprache, die es als »Staatssprache« ansah, entsprechend, den österreichischen Staat zu bestimmen.56 Diese Dominanz sollte nun durch die Forderungen anderer Nationalitäten nach offizieller Anerkennung ihrer eigenen Sprachen, gleichberechtigtem Zugang zu Regierungsämtern und bis zu einem gewissen Grad nach politischer Autonomie herausgefordert werden. Schon Anfang April hatten in den tschechischen Ländern Deutsche, die sich durch ihre Stellung als Minderheit besonders bedroht sahen, reagiert, indem sie eine deutsche Liga »zur Wahrung ihrer Nationalität« gründeten. Diese lehnte viele Forderungen der tschechischen Revolution ab und verlangte das Aufgehen der tschechischen Länder in »Großdeutschland«. Palackýs Brief sollte nun die Kluft zwischen den beiden Nationalitäten noch betonen; bis zum Ende des Monats konnte die Liga achthundert Mitglieder vorweisen, die alle Propagandaschriften zur Unterstützung des Frankfurter Parlaments verteilten. Auch begannen die Deutschen das Nationalkomitee zu verlassen, womit es erst recht zu einer Stimme des tschechischen Nationalismus werden sollte. Schon wurden die wechselseitigen Anfeindungen immer heftiger: »Vorwärts gegen
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die Deutschen, vorwärts gegen die Mörder, gegen Frankfurt«, lautete der Refrain eines beliebten tschechischen Liedes, während man die Deutschen in gewissen Zeitungen als beschränkt und mordgierig, ihre Sprache als Gestammel darstellte.57 Doch die Deutschen zahlten in gleicher Münze zurück. In Frankfurt sollte sich der Fünfzigerausschuss am 3. Mai Arnold Schillings Feststellung anhören: »Ich glaube, da Böhmen nicht durch Überzeugung im Deutschen Bund gehalten werden kann, muss es mit der Schwertklinge an Deutschland gebunden werden.«58 Als die Habsburger schließlich im Juni ihre Autorität in Prag wiederherstellen konnten, wurde ihnen von den deutschen Nationalisten fast jeder politischen Richtung Beifall bekundet. Palackýs Beteuerungen der slawischen Loyalität und seine Ablehnung des deutschen Nationalismus zeigten schließlich den Weg auf, durch den die Habsburgermonarchie die Revolution zerschlagen und ihre Autorität wiederherstellen konnte: Für jeden deutschen, italienischen oder ungarischen Nationalisten, der die Einheit des Kaiserreiches bedrohte, gab es einen Slawen oder Rumänen, der seine ethnische Identität durch den siegesgewissen Nationalismus unter den Deutschen oder Ungarn gefährdet sah. Dies erlaubte nun den Habsburgern, die nationalen Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Doch das war weitaus mehr als eine zynische Politik des »Teilens und Herrschens«, vielmehr war es eine Politik, die auf der schlichten Loyalität der habsburgischen Untertanen basierte, die das Gefühl hatten, dass ihre Sicherheit und Interessen am besten durch das Kaiserreich verteidigt werden konnten.59 Doch wenn dies für die Tschechen galt, dann erst recht für die anderen nationalen Gruppen, die den Stachel des ungarischen oder deutschen Nationalismus zu spüren bekamen. Der Völkerfrühling des habsburgischen Kaiserreichs sollte in den Abgrund des Bürgerkrieges fallen. Die Wiederherstellung kaiserlicher Macht im Jahr 1848 war umso erstaunlicher, als sich die neuen Minister des Kaisers noch im Frühling gegen den anbrandenden revolutionären Aufruhr in Wien machtlos gezeigt hatten. Den Kern der radikalen Bewegung hatten dort Studenten der Akademischen Legion gebildet, bürgerliche Intellektuelle, Angehörige der städtischen Unterschicht (etwa Handwerksmeister, Händler und Angestellte) und Arbeiter der Vorstädte, allesamt bereit, der politischen Führung der Studenten zu folgen. Die Leitung hatte der Zentralausschuss übernommen, ursprünglich Bindeglied zwischen Akademischer Legion und gemäßigterer Nationalgarde. Doch die Radikalen spalteten sich endgültig von den Liberalen ab, als der Kaiser am
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25. April die von ihm versprochene Verfassung erließ. Die Liberalen brannten nun darauf, Erreichtes zu festigen, und so waren sie glücklich mit einer Verfassung, die ihnen durch indirekte Wahlen ein Parlament bescherte, das erstmals am 26. Juni zusammentreten sollte. Der Kaiser jedoch behielt die Kontrolle wichtiger Bereiche und umging damit das, was als Fallstrick der Demokratie betrachtet wurde. Die meisten Wiener begrüßten die Verfassung freudig, für die Radikalen dagegen war sie eine bittere Enttäuschung. Sie war vom Kaiser »bewilligt«. Der behielt nicht nur ein absolutes Vetorecht, dazu die Kontrolle über Krieg und Frieden, sondern das Recht, alle Staatsämter zu besetzen. Ein allgemeines Wahlrecht für die männliche Bevölkerung gab es nicht; denn wie die Wahlen zu dem neuen Parlament aussehen sollten, würde von der Regierung noch festgelegt werden. Als Antwort darauf gingen die Studenten wie gewohnt auf die Straße; in den beiden Nächten des 2. und 3. Mai gab es »Ständchen« für den neuen Ministerpräsidenten Graf Ficquelmont, dargebracht von einer kampfbereiten Menge von Akademischen Legionären, Nationalgardisten und Arbeitern. Sie veranstalteten ein heilloses Spektakel vor seinem Haus, sangen aus voller Kehle, schleuderten Beschimpfungen zu den Fenstern hoch und forderten seine Absetzung, bevor sie das Außenministerium stürmten, wo eine Abordnung dem entsetzten Ficquelmont so lange drohte, bis er versprach, innerhalb von vierundzwanzig Stunden zurückzutreten. Am 4. Mai hielt der Ministerpräsident sein erzwungenes Wort und reichte den vergifteten Kelch an Franz Freiherr von Pillersdorf weiter. Für die Studenten war es ein durchschlagender Erfolg, der »die bemerkenswerte Tatsache« veranschaulichte, »dass eine Regierung, die noch ein paar Wochen zuvor … zu den mächtigsten in Europa gehört hatte …, so schwach geworden war, dass sie den höchsten Staatsbeamten nicht vor Beleidigungen und Demütigungen durch den Mob zu schützen vermochte«.60 Danach wandten sich die Radikalen der Verfassung zu, und das vor allem, weil das Wahlrechtsgesetz, erlassen am 11. Mai, den Bediensteten und all jenen, die Tages- oder Wochenlohn erhielten, das Recht zur Stimmabgabe verweigerte. Damit aber schloss es praktisch alle Arbeiter aus. Schnell organisierte der Zentralausschuss eine »Sturmpetition«, die neben der Androhung von Gewalt verschiedene Forderungen enthielt (darunter ein Einkammernparlament, wählbar durch alle erwachsenen Männer). Am 13. Mai reagierte die Regierung recht unbeholfen, indem sie die Nationalgarde von der Teilnahme am Zentralausschuss ausschloss. Die Spannung in der Stadt nahm daraufhin zu. Beide Parteien bereiteten sich auf einen weiteren Zusammenstoß vor: Die
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Regierung schloss die Stadttore »und um den Palast wurde nach allen Seiten hin Militär zur Bewachung stationiert, dazu Kanonen, die mit Kartätschen geladen waren und bereits entzündete Fackeln«. Trotzdem triumphierten einmal mehr die Radikalen: Während der Nacht vom 14. auf den 15. Mai, »drängten die Studenten und Nationalgardisten von allen Seiten zum Palast, während Arbeiter zu Tausenden, bewaffnet mit Sensen und Äxten, gegen die Stadttore donnerten, um Einlass zu erhalten … Die Regierung, eingeschüchtert von dem eindrucksvollen Schauspiel gegen sie, lenkte ein – obwohl eine einzige Kartätschenladung oder ein einziger Angriff der Kavallerie in die dicht gedrängten Massen jegliche Opposition niedergemäht hätte.«61 Nun würde es also ein allgemeines Wahlrecht für Männer und ein Einkammernparlament geben. Und nur die Bitten Ferdinands hielten die gedemütigten Minister davon ab, en masse zurückzutreten. Doch nun, die Radikalen hatten ihr Ziel erreicht, schlug in Wien die Stimmung um. Nach einem Tag der unsicheren Waffenruhe erwachte die Stadt am Morgen des 17. Mai, nur um eine Proklamation zu lesen, die die kaiserliche Familie in der Nacht erlassen hatte, bevor sie den Hof nach Innsbruck verlegte. Erinnerungen an die Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes während der Revolution 1789 in Frankreich wurden wach. Der Auftakt zu einer Republik, die die wenigsten Wiener haben wollten, schien gemacht. Angst, Beklommenheit und fast Panik machten sich breit. »In befremdlicher Aufregung«, schrieb Stiles über die Wiener, »waren sie auf einem unbekannten Weg gewandert und hatten sich plötzlich sozusagen an dem äußersten Rand eines Abhangs wiedergefunden … wovon sie sich entsetzt zurückzogen.«62 Der Konservatismus der Mehrheit der kaiserlichen Untertanen hatte sich zurückgemeldet. Wie zur Ergänzung wurde am 20. Mai aus Innsbruck in Ferdinands Namen ein Manifest verkündet, in dem jener sich über das Verhalten der Akademischen Legion und der Nationalgarde beschwerte und versprach, »den billigen Wünschen Meiner Völker im gesetzlichen Wege Gehör zu geben«, vorausgesetzt, es handle sich um »wirklich allgemeine« Wünsche, die »in legaler Weise vorgetragen« und im kommenden Reichstag beraten würden.63 Die beschämten Wiener antworteten mit einem Gegenschlag gegen die Radikalen. Das Zentralkomitee löste sich selbst auf, und der gemäßigtere Wiener Bürgerausschuss (der am 20. April gegründet worden war, um das Thema Recht und Ordnung anzugehen) schuf einen Sicherheitsausschuss, um »die bestehenden
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Gesetze aufrechtzuerhalten, öffentliche Sicherheit, Frieden und Ordnung zu gewährleisten sowie die Persönlichkeits- und Vermögensrechte aller Einwohner«, gegen solche, die »den Umsturz der gesamten Rechtsordnung und … die Auflösung der gesamten Zivilgesellschaft« anstrebten.64 Akademische Legion und Nationalgarde unterstellten sich dem Kommando von Graf Auersperg, dem Befehlshaber der Wiener Garnison. Den ersten Triumph allerdings sollte die Reaktion nicht in Wien, sondern in Galizien feiern. War ein polnischer Nationalismus in Posen vor allem gescheitert, weil er mit dem deutschen Nationalismus kollidierte, dem eine preußische Militärmacht den Rücken stärkte, sollte er in Galizien auf den Widerstand der Bauern stoßen, die im Osten mehrheitlich Ukrainer waren (damals Ruthenen genannt) und gute Gründe dafür hatten, den Kaiser zu unterstützen. Der Landadel, der an der Spitze der polnisch-patriotischen Bewegung stand, sah sich in einer gefährlichen Zwickmühle gefangen: Sollte er seine gesellschaftlichen Interessen der nationalen Sache opfern, indem er die Leibeigenschaft aufgab und sich dadurch die Unterstützung der Bauern sicherte? Oder sollte er die Forderungen eines romantischen Nationalismus ignorieren und seine Vorherrschaft absichern? Nachdem die Nachrichten aus Wien die Provinzhauptstadt Lemberg erreicht hatten, unterschrieben am 19. März zwölftausend Menschen – zumeist Polen, aber auch Juden und ukrainische Intellektuelle – eine Petition, in der die Unabhängigkeit der Provinz innerhalb des Kaiserreichs gefordert wurde. Der österreichische Statthalter Franz Stadion, der bereits versuchte hatte, sich gegen die Protestwelle zu stemmen, indem er die Zensur abschaffte und eine Nationalgarde zuließ, erlaubte den Polen, dem Kaiser die Bittschrift vorzulegen. Die Delegation reiste über Krakau, wo ein Bürgerausschuss einberufen wurde, und bot an, auch im Namen der Stadt zu sprechen, wenn sie Ferdinand traf. Mit der rot-weißen Flagge Polens in der Hand, erreichte sie schließlich Wien, wo ihr ein begeisterter Empfang durch die Bevölkerung zuteilwurde – damals noch immer trunken von revolutionärer Brüderlichkeit. Die österreichischen Zeitungen begrüßten die Aussicht, dass die Habsburger Monarchie die Führung bei der Einigung Polens übernehmen würde, und sahen – wie schon die preußischen Liberalen – dem Krieg gegen Russland mit Vorfreude entgegen. Am 6. April gab es bei Ferdinand eine Audienz, bei der die Delegierten ihrer Hoffnung Ausdruck gaben, dass Österreich dank eines autonomen Galizien die Wiederherstellung der polnischen Unabhängigkeit in die Wege leiten würde.
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Inzwischen waren in Krakau Agenten der Demokratischen Gesellschaft angekommen: Die Stadt wimmelte nur so von zwölfhundert unverbrauchten Revolutionären, die Zeitungen gründeten, patriotische Demonstrationszüge organisierten oder den nüchterneren Bürgerausschuss bedrängten, radikale Mitglieder aufzunehmen und seinen Namen in »Nationalausschuss« zu ändern. Dass die radikale Stimmung jetzt die Provinz erreichte, beunruhigte den einheimischen polnischen Landadel aufs Stärkste, saß ihm doch noch immer der Schock von 1846 in den Gliedern, als man den Sensen ukrainischer Bauern zum Opfer fiel. Die Erinnerungen an jenes Jahr riefen die Abneigung der Grundherren wach, dem Ruf der polnischen Demokraten nach einer Revolution nachzugeben. Allerdings lähmten die Frage der Leibeigenschaft und die alte Loyalität der Bauern dem Kaiser gegenüber die polnische Revolution in Galizien von Anfang an. Da alle Exilanten, gemäßigte wie demokratische, nun den Landadel drängten, Leibeigenen die Freiheit zu geben, fürchteten die galizischen Grundherren, dass solche Appelle die Bauern nur zu einer Revolte anstacheln würden. Schon erklärte der Nationalausschuss in Krakau den 23. April, einen Ostersonntag, zum »Befreiungstag«. Doch weil die Demokraten die galizischen Eliten nicht zu gewinnen vermochten, sollte es der österreichischen Obrigkeit nicht gelingen, die Polen zu spalten, Kräfte zu sammeln und die Revolutionäre auszubooten. Vermutlich hatten die konservativen Polen mit Erleichterung von den österreichischen Behörden die Befehle erhalten, die Nationalgarde in Lemberg zu entwaffnen und die Militärpräsenz in Galizien zu verstärken. Am 17. April erteilte der Wiener Hof in dem Bemühen, seinen beschädigten Ruf zu retten, dem Statthalter die Erlaubnis, in Galizien die Bauern zu befreien. Am 22. April – dem Tag, bevor die Frist der Polen ablief – verkündete Stadion im Namen Kaiser Ferdinands die Befreiung der Leibeigenen, geltend ab dem 15. Mai, mit Entschädigungen für die Grundherren. Mit diesen wenigen, doch sorgfältig gewählten Worten sollte Stadion bewirken, dass die Bauern dem Kaiser die Treue hielten, sich einmal mehr immun zeigten gegenüber den Schmeicheleien der polnischen Demokraten, die mit ihren Appellen an das Gewissen der Grundherren grandios gescheitert waren. Nach der Reform kam die Reaktion und die Spannungen in Krakau und Lemberg sollten den Höhepunkt erreichen. In Krakau entkam am Ostersonntag der Beauftragte der österreichischen Regierung nur knapp der Lynchjustiz; drei Tage später gerieten die Soldaten der Garnison mit polnischen Demokraten aneinander, als sie Verstecke von Spießen und Speeren aushoben. Auf den Straßen wurden Barrikaden errichtet, viertausend Soldaten zogen sich ins Schloss
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zurück. Von dort aus dröhnten dann zwei Stunden lang die österreichischen Kanonen, beschossen die Stadt bis zur Aufgabe: achtundzwanzig Polen und acht Österreicher fanden den Tod. Am 27. April wurde der Nationalausschuss aufgelöst, die Exilanten wurden ausgewiesen. Die Österreicher hatten den ersten Gegenangriff auf die Revolutionen von 1848 erfolgreich ausgeführt.65 In Ostgalizien wiederum nutzte Stadion die Spannungen zwischen Ukrainern und Polen gnadenlos aus. Hier überlagerte sich Ethnizität mit einer gesellschaftlichen Spaltung, denn Erstere waren in der Regel Bauern, Letztere dagegen Grundherren. Und während sich die Ukrainer grundsätzlich argwöhnisch gegenüber der unteren österreichischen Beamtenschaft verhielten, betrachteten sie den Kaiser in der Ferne traditionell als ihren gütigen Schutzherrn. Daher war Stadions kaiserliches Dekret zur Befreiung der Bauern ein Geniestreich, denn er machte sich nicht nur das Elend der Leibeigenen zunutze, sondern konnte auch die aufkeimende Nationalbewegung der Ukrainer gegen die polnischen Patrioten ausspielen. Binnen einer Woche nach der Ausschaltung Krakaus gewährte Stadion die erstmalige Tagung des Ruthenischen Hauptrates in der St.-Georgs-Kathedrale von Lemberg. Dieser forderte unter anderem eine eigene ukrainische Verwaltung, was jedoch die polnische Autorität in Galizien untergraben hätte. In Windeseile gründete der Rat in der gesamten Provinz Ortsverbände (bis Oktober gab es dreiundvierzig), und am 15. Mai erschien, mit Stadions Segen, die erste ukrainische Zeitschrift, von der das ganze Jahr hindurch pro Woche viertausend Exemplare verkauft wurden. Das waren Entwicklungen von großer Bedeutung für die Zukunft, denn sie verliehen dem nationalen Bewusstsein der Ukrainer eine offizielle Stimme. Darüber hinaus erhielten die Bauern durch die Räte einen Vorgeschmack auf die Politik und lernten das Gefühl einer nationalen Identität kennen; mancherorts setzte sich ein Drittel der Mitglieder aus Bauern zusammen. Vor 1848 hatten die Bauern ihre Klagen immer von ihrer gesellschaftlichen Stellung her formuliert und den Kaiser in Wien um Schutz gebeten. Jetzt begannen sie, ihre Ansprüche vom nationalen Standpunkt her zu formulieren: So erklärte ein Bauer, der einen der örtlichen Räte aufsuchte, er habe erfahren, dass »das ruthenische Volk bedeutend, groß und mächtig, dass es die Urbevölkerung Galiziens sei und dazu noch zahlreich, und obwohl wir bis jetzt verachtet und gedemütigt worden sind, ist das hier ein ruthenisches Land, und von uns Ruthenen leben mehr hier als Polen«.66 Die Spannungen zwischen polnischen Grundherren und ukrainischen Bauern sollten das größte Hindernis für die polnische Nationalbewegung in Galizien darstellen. Doch die schrecklichen Erinnerungen an 1846 erklären,
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warum selbst polnische Demokraten der Bewaffnung der Bauern für die nationale Sache so zögernd gegenüberstanden.67
III Besonders in einem Land sollte sich der Appell an die Loyalität der untergebenen Völker des Kaiserreiches als erfolgreich erweisen: in Ungarn, dem am stärksten umkämpften Schlachtfeld der Monarchie. Hier erhielten denn auch die verfassungsrechtlichen Zugeständnisse Wiens aus den Märztagen mit den »Aprilgesetzen« eine konkrete Form. Ende März hatte die österreichische Regierung versucht, sich ein Stück weit die Macht über Ungarn zurückzuerobern, teils indem sie ihre früheren Zusagen verwässerte. Doch einem Kossuth gegenüber war sie machtlos. Der hatte im Landtag eine wortgewaltige Rede gehalten und zwischen dem 27. und 30. März in Pest den Rückhalt von zwanzigtausend Menschen bekommen, als diese unter der Leitung des städtischen Ausschusses für Sicherheit ihre Macht demonstrierten. Auch Sandor Petöfi hielt mit Reden und radikaler Lyrik die Gemüter am Kochen. So schrieb er zum Beispiel, der Jüngste Tag stehe für alle Könige bevor, und die habsburgische Monarchie sei ein Baum, dessen Früchte am Ast verfaulten. Die Straßen hallten wider von Rufen wie »Wir wollen keine deutsche Regierung!« und sogar »Lang lebe die Republik!«.68 Wien, das nicht imstande war, seine Autorität mit Gewalt durchzusetzen, lenkte einmal mehr ein. Sowohl der ungarische Landtag als auch die Radikalen – die große Allianz von Parlament und Straße – waren die Sieger. Die einunddreißig Aprilgesetze schenkten Ungarn Autonomie innerhalb des Kaiserreichs. Ein Habsburger würde König von Ungarn bleiben, mit dem Recht, Gesetze zu erlassen oder abzulehnen. Sein ungarisches Kabinett sollte den Sitz in Budapest haben. Die Minister wären dem neuen ungarischen Kabinett verantwortlich, das im Vergleich zum alten Landtag in einem erweiterten Wahlrecht gewählt werden sollte; Frauen, Juden und Menschen, die in Bezug auf Vermögen, Wohnsitz und Arbeit nicht die Bedingungen erfüllten – also in erster Linie Lohnarbeiter und landlose Bauern – blieben ausgeschlossen. Insgesamt erhielt ein Viertel der erwachsenen männlichen Bevölkerung das Recht zur Stimmabgabe. Die Steuerprivilegien des Adels wurden abgeschafft und allen Staatsbürgern die bürgerlichen Rechte eingeräumt. Darüber hinaus schlossen die Gesetze die Aufhebung von Leibeigenschaft und Zehntem ein.
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Einflussreicher Tribun der ungarischen Revolution: Lajos Kossuth im Jahr 1848 als Abgeordneter. Gemälde von August Prinzhofer. (akg-images) Trotzdem gab es einige Punkte, die sich verhängnisvoll auf die österreichischungarischen Beziehungen auswirkten: Dem König war als Einzigem die Berufung von Armeeoffizieren vorbehalten, er konnte entscheiden, ob ungarische Heereseinheiten außer Landes (gemeint war außerhalb von Ungarn) entsandt wurden. Hinzu kam die Frage, ob die Militärgrenze, bisher unter direkter Kontrolle des österreichischen Kriegsrats, nun der Kontrolle der ungarischen Zivilregierung unterstellt werden solle. Das war eine heikle Angelegenheit, da die besten Soldaten der Monarchie, Kroaten und Serben, aus dem Grenzgebiet kamen. Erst nach viel gutem Zureden gab der Hof nach, allerdings unter der Bedingung, dass die österreichische Regierung dort die Oberhoheit über das Militär behielt und den Ban (Vizekönig) ernannte. Das war das Äußerste, was die Ungarn von den Habsburgern letztlich erwirken konnten.69 Der alte ungarische Landtag wurde am 11. April im Vorfeld der Wahlen zur neuen Nationalversammlung aufgelöst. Zur Feier des Tages hingen die ungarischen Landesfarben aus allen Fenstern, und während die Bürger die Nationalkokarde trugen, waren die Radika-
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len an ihren langen roten Federn zu erkennen. Alle trugen nun Schwerter zum Zeichen der Gleichheit, dies war nicht länger ein Statussymbol des Adels. Obwohl die Aprilgesetze nicht an die Märzprogramme heranreichen konnten, waren die Führer der Radikalen bereit, sich der neu konstituierten Obrigkeit zu unterstellen: Das Komitee für öffentliche Sicherheit löste sich am 15. April freiwillig auf. Diese Unterstützung war allerdings an Bedingungen geknüpft: Als am 14. April Batthyánys Minister in Budapest ankamen und ihr Dampfschiff verließen, wurden sie von Pál Vasári, dem Sprecher der Radikalen, willkommen geheißen. Vor einer gewaltigen Menschenmenge ermahnte dieser die neue Regierung, dass die Einwohner von Budapest »die Macht der Revolution nun in Eure Hände legen … Ihr werdet einer wiedererstandenen Nation für Eure Handlungen Rechenschaft ablegen müssen«.70 Zunächst schien es, als wäre die ungarische Revolution damit vorbei und der Weg offen für eine friedliche, konstitutionelle Reform, aber dem war nicht so. Zu den Problemen, denen sich die liberale Regierung gegenübersah, gehörten die Forderungen der ungarischen nationalen Minderheiten: Slowaken, Rumänen, Serben und Kroaten. Die Beziehungen zwischen den Ungarn und dem Rest waren ein wunder Punkt, der von Wien geschickt ausgenutzt wurde. Am 25. April hatte der Kaiser ein Versprechen abgegeben, dass den nicht magyarischen Minderheiten Anlass gab, sich der Dynastie gegenüber loyal zu verhalten: »Allen Volksstämmen [der Monarchie] ist die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität und Sprache gewährleistet.« Obwohl in sich vage, war dies eindeutig mehr, als das, was die Aprilgesetze vorsahen. Der liberale ungarische Nationalismus wurzelte nämlich in der Gewissheit, dass die Nation aus dem fruchtbaren magyarischen Boden erwachse, und Ungarn alle historischen Länder der Stephanskrone, also auch Territorien wie die Slowakei, Siebenbürgen und die Militärgrenze, umfasse. Außerdem setzte er voraus, dass die verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Staat, der zwar allen Bewohnern gleiche Rechte bot, in dem jedoch die Magyaren dominierten, zufrieden leben und sich der freiheitlichen Ordnung anpassen würden. Am 8. April warnte denn auch Kossuth eine serbische Delegation: »Der wahre Sinn der Freiheit ist, daß sie keine Kasten, keine Privilegien, sondern die Gesamtheit der Bewohner des Landes kennt und diesen den Segen der allgemeinen Freiheit ohne Unterschied der Sprache und der Religion zukommen läßt.«71 Er fügte noch hinzu, dass die »Einheit« des Königreichs es erfordere, dass Ungarisch die offizielle Amtssprache sei. Für die ungarischen Liberalen war damit die Einheit der historischen Länder gleichbedeutend mit der Gewährung von Bürgerrechten unter Verzicht
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auf eine eigene nationale Identität bei den Nichtungarn. »Nie werde ich unter der heiligen Krone Ungarns eine andere Nation und Nationalität als die ungarische anerkennen«, hatte Kossuth im Dezember 1847 erklärt.72 Zu den Ersten, die ihr Terrain absteckten, gehörten die Slowaken, die innerhalb des Königreichs Ungarn lebten und von tschechischen Nationalisten, die sie als Landsleute ansahen, Rückhalt erhielten. Einige ältere slowakische Patrioten wie etwa der Dichter Jan Kollár waren der Meinung, die beiden Völker sollten sich enger aneinanderschließen und die Slowaken das Tschechische als eigene Sprache annehmen. Die jüngere Generation widersprach jedoch. Sie wurde von dem Schriftsteller L’udovít Štúr angeführt, der hart dafür gearbeitet hatte, das Slowakische als eigenständige literarische Sprache zu fördern. Die kleine slowakische Nationalbewegung traf sich zum ersten Mal am 28. März; die Forderungen, die sie der ungarischen Regierung vorlegte, beinhalteten nur den Unterricht des Slawischen in den Schulen, den Gebrauch als offizielle Sprache innerhalb der Slowakei und das Hissen der slowakischen Fahne neben den ungarischen. Die Regierung wies diese bescheidenen Forderungen kurzerhand »als Manifest der panslawistischen Aktion« zurück. In dem Bewusstsein, dass die slowakischen Bauern sich noch immer wenig um Fragen der Nationalität scherten, organisierten Štúr und seine Mitstreiter im Mai eine größere Zusammenkunft in Liptovský Svätý Mikuláš, bei der sie ein umfassenderes Programm ausarbeiteten, das das Recht der Bauern auf die eigene Scholle und größere politische Autonomie innerhalb des Königreichs Ungarn einforderte. Budapest reagierte mit dem Verhaftungsbefehl dreier slowakischer Anführer, darunter Štúr, der sich nach Prag absetzte. Später schlossen sich slowakische Freiwillige den habsburgischen Kampagnen gegen Ungarn an, indem sie die Österreicher mit einem Partisanenkrieg unterstützten. Allerdings schafften sie es nicht, die Bauernschaft zu mobilisieren, die den patriotischen Appellen der Slowaken skeptisch gegenüberstand. Eine weitaus größere Herausforderung für die Magyaren stellten die Rumänen dar. Die 2,5 Millionen Rumänen, die in Siebenbürgen, in der im Norden gelegenen Bukowina und dem Banat im Süden lebten, unterhielten starke wirtschaftliche und kulturelle Bande zu den rumänischen Donaufürstentümern Moldawien und der Walachei. Diese standen theoretisch unter osmanischer Oberhoheit, wurden aber faktisch durch das repressive »organische Statut« regiert, das Zar Nikolaus I. 1832 erlassen hatte. Das Großfürstentum Siebenbürgen hatte lange Zeit innerhalb des Habsburgerreichs einen Sonderstatus genossen: Es besaß in Klausenburg (oder Kolozsvár auf Ungarisch, Cluj-Napoca auf Rumänisch) seinen
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eigenen Gouverneur, eine eigene diplomatische Vertretung in Wien und einen Landtag, in dem jedoch die ungarischen Großgrundbesitzer dominierten. Auch gab es ein Heer in Form der rumänischen Grenzregimenter, die sich aber zumeist aus der ethnischen Gruppe der magyarischen Székely rekrutierten. In religiöser Hinsicht gehörten die Rumänen entweder zu den katholischen Ostchristen, die den ungarischen Bischöfen, oder zu den orthodoxen Christen, die dem serbischorthodoxen Patriarchat unterstanden. Als Bedingung für eine Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn verlangten die rumänischen Nationalisten zumindest einen eigenen Status für ihre beiden Kirchen sowie die Anerkennung ihrer Sprache und Kultur. Durch Kontakte und den grenzüberschreitenden Schmuggel von Büchern und Flugblättern unter rumänischen Intellektuellen, Lehrern, Studenten und Journalisten in Siebenbürgen, der Walachei und Moldawien hatte sich der rumänische Nationalismus radikalisiert. Im Mai 1848 publizierte ein Banater Priester namens Daniel Roth einen Traktat, der das Bild eines neuen rumänischen Königreichs auf der Grundlage der antiken römischen Provinz »Dacia« entwarf.73 In Siebenbürgen wurde die Idee einer nationalen rumänischen Einheit naturgemäß mit einer Ablehnung der Union mit Ungarn gleichgesetzt, während sie in den Fürstentümern als Abschütteln der russischen Dominanz und der osmanischen Lehnshoheit verstanden wurde. Zunächst hatten Magyaren wie Rumänen in Siebenbürgen die Märzrevolution enthusiastisch gefeiert. Die Einzigen, die sich bedroht fühlten, waren die ungarischen und deutschen Magnaten, die Angst um ihre Privilegien hatten. Die ungarische Gentry in Siebenbürgen begrüßte zwar die Vorstellung einer Union mit dem ungarischen Königreich, nahm aber dem ungarischen Landtag die Abschaffung der Leibeigenschaft äußerst übel. Da die meisten Rumänen in Siebenbürgen Bauern waren, befürchteten die Adeligen, dass die rumänischen Nationalisten ihren Hass vielleicht gegen die Ungarn richten könnten. Andererseits gingen die Rumänen Siebenbürgens in der revolutionären Brüderlichkeit der Märztage so weit, eine Union mit Ungarn als Schritt in die richtige Richtung zu deuten, wurden sie doch dadurch stärker an ihre Landsleute im Banat gebunden. So argumentierte der Herausgeber der einflussreichen Gazeta de Transilvania, George Bariţu, dass eine Union mit Ungarn fruchtbar sein könne, wenn man den Rumänen erlaubte, in den Kommunalverwaltungen, der Kirche und den Schulen ihre eigene Sprache zu sprechen, und sie in eigenen kulturellen Organisationen die Basis für ihr Nationalitätsbewusstsein legen ließe.74 Doch genau das war der Haken, denn es lief der Vision der magyarischen Liberalen zuwider, die die Rechtmäßigkeit nationaler Ansprüche innerhalb
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Ungarns abstritten. In einem Artikel des Organs der Budapester Radikalen, Fünfzehnter März, wurden die Rumänen dafür gelobt, anders als die Russen zu sein, auch sei ihre Sprache wunderschön, obwohl man daran arbeiten müsse, damit sie so angenehm wie das Italienische klinge. Gegen alle Fakten wurde die Behauptung aufgestellt, dass die Rumänen »es als Ehre betrachten würden, Magyaren zu werden«.75 Bald wachten die rumänischen Nationalisten auf und stellten fest, dass es sehr schwer sein würde, ihre eigenen Träume von nationaler Identität im Verein mit den Ungarn zu verwirklichen. Schon am 24. März erklärte der radikale Anwalt Simion Baˇ rnuţiu seinen Landsleuten, dass die rumänischen Patrioten, anstatt auf den guten Willen der Magyaren zu bauen, einen Kongress abhalten und dabei ein nationales Programm erstellen sollten – und das müsse die Vertretung der Bauern mit einschließen. Nun folgten Wochen hektischer Aktivität: Rumänische Journalisten, Studenten, Lehrer und Priester reisten kreuz und quer durch Siebenbürgen, das Banat und die Bukowina, um die große Versammlung vorzubereiten, die in Blaj (deutsch: Blasendorf) abgehalten werden sollte, mit seinen Schulen und Seminaren das intellektuelle Zentrum Siebenbürgens. Die Behörden sahen dies mit Sorge, ganz besonders die Delegationen aus Moldawien und der Walachei. Doch in diesem Stadium wollte keiner einen Konflikt mit Ungarn oder einen Aufstand unter den Bauern auslösen. Auf einer Versammlung von sechstausend Bauern in Blaj am 30. April ermahnte Baˇ rnuţiu sein Publikum eindringlich, den unumgänglichen Reformprozess nicht zu gefährden, indem es die Sache in die eigene Hand nähme. Die Befreiung würde ebenso sicher kommen wie die nationale Freiheit – doch beides bedürfe legaler, verfassungsgemäßer Mittel und Wege. Eine Einheit mit Ungarn lehnte er dennoch ab und warnte ein Komitee, dass die rumänischen »Nationalforderungen« ausarbeitete, den ungarischen Versprechungen zu misstrauen, denn diese wollten nichts anderes, als die Rumänen in Bürger eines »Großungarn« zu verwandeln.76 Der große Kongress fand schließlich vom 15. bis 17. Mai auf dem Feld der Freiheit außerhalb von Blaj statt und wurde von 40 000 Menschen, meist Bauern, besucht: »Ein ganzes Volk, das dieselbe Tracht trug und dieselbe Sprache sprach wie unsere Leute zu Hause, stand da, herrlich anzusehen, gebadet in Sonnenschein; unter den Bauernkitteln konnte man hier und da Menschen in Stadtkleidung entdecken. Diese Stadtkleidung wurde von jungen Intellektuellen getragen … eine junge Generation mit großem Mut und tiefer Liebe für das rumänische Volk.«77
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Revolution in Siebenbürgen: Die Versammlung der rumänischen Bauern in Blaj am 15. Mai 1848. (Bridgeman Art Library)
Die Nationalforderungen waren sowohl an die siebenbürgische Ständeversammlung als auch an Kaiser Ferdinand gerichtet – aber ausdrücklich nicht an die ungarische Regierung. Sie verlangten die Abschaffung der Leibeigenschaft sowie ein eigenes Parlament, Militär und Schulen für die Rumänen. Als provisorische Regierung wurde ein ständiger Ausschuss eingerichtet, unter dessen Mitgliedern sich auch Baˇ rnuţiu befand, außerdem stellte man eine Nationalgarde auf. Zur Forderung einer vollständigen Unabhängigkeit von Ungarn kam es nicht, auch wenn es auf die Magyaren so wirkte. So klagte denn auch der ungarische Gouverneur Jósef Teleki den Ausschuss öffentlich der Staatsgefährdung an, um ihn zu verbieten.78 Dabei hatte er die Unterstützung der siebenbürgischen Ständeversammlung in Klausenburg, dominiert von magyarischen und sächsischen Eliten, erhalten, die die Blajer Forderungen am 30. Mai ablehnten und ohne Rücksicht auf rumänische Gefühle für eine Vereinigung mit Ungarn votierten. Die politische Eingliederung ging zügig vonstatten, versüßt wurde die bittere Pille durch die Abschaffung der bäuerlichen Pflichten und Frondienste. Am 10. Juni ratifizierte Kaiser Ferdinand auf Druck Ungarns das Gesetz vom 30. Mai. Damit konnte Batthyány von Rechts wegen darauf
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bestehen, dass die Nationalforderungen dem ungarischen Parlament vorgelegt werden mussten und nicht dem Kaiser. Als die rumänische Abordnung die Forderungen pflichtgemäß in Budapest vorlegte, wurde sie mit der inzwischen vertrauten Begründung zurückgewiesen, dass sie als freie und gleichgestellte Bürger in einem freien Land keinen Anspruch auf besondere nationale Rechte hätten. Die Ablehnung ließ den Rumänen zwei Alternativen: eine Union mit den Donaufürstentümern oder die Bildung eines eigenen Staates innerhalb des österreichischen Kaiserreichs mit direkter Verbindung zur habsburgischen Krone. Tatsächlich sollte Ersteres im Juni 1848 plötzlich möglich werden, weil just in dem Moment jenseits der Karpaten und der transsilvanischen Alpen eine Revolution ausbrach. Die südliche Grenze des Königreichs Ungarn bildete die Militärgrenze. Dort hatte man seit dem 16. Jahrhundert zur Verteidigung des Habsburgerreichs gegen die Türken zwischen der Adria und dem Fluss Drau den Serben und Kroaten als Gegenleistung für ihren Militärdienst Land angeboten, das von Frondiensten befreit war. Dieses System wurde stufenweise ausgedehnt, bis es die gesamte Grenzregion von Ungarn bis hinauf nach Siebenbürgen umfasste. Den größten Beitrag zum Militär leisteten die Kroaten, die allein acht Grenzregimenter mit Hauptquartier in Zagreb unterhielten, während entlang der restlichen Grenze nur noch neun weitere Regimenter stationiert waren. Allerdings hatten die Kroaten ihre eigenen Nöte: Wenn sie sich nicht im Krieg befanden, bewirtschafteten sie ihr Land in einer Art von Großgenossenschaften, den zadrugas, was für die Soldatenrekrutierung zwar gut funktionierte, sich aber als hinderlich erwies, sobald es um die ausreichende Produktion von Nahrungsmitteln ging. Die aber war nötig, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten. Insbesondere das westliche Kroatien war 1848 hoffnungslos verarmt, was allerdings die Menschen nicht davon abhielt, der österreichischen Krone treu zu bleiben. Immerhin verschaffte ihnen die Befreiung von der Fronarbeit einen vergleichsweise hohen Status in diesem Teil »Zivilkroatiens«, das zu Ungarn gehörte und in dem normalerweise Leibeigenschaft bestand. Der kroatische Adel war bislang in der glücklichen Lage gewesen, dass der ungarische Landtag die Interessen der Elite gegen die Ansprüche des Kaiserreichs verteidigt hatte, doch nun sollten die ungarische Einmischung in kroatische Angelegenheiten und der ungarische Nationalismus die serbischen und kroatischen Intellektuellen gleichermaßen in Alarmzustand versetzen. Schon arbeiteten Kroaten an einem Plan, alle slawischen Provinzen zum »Dreieinigen Königreich« zu vereinen, so wie in der Vergangenheit geschehen, oder sie propagier-
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ten wie Ljudevit Gaj das »illyrische« (später »jugoslawische«) Ideal, das von der Vereinigung aller Südslawen ausging. Anfangs reagierten sowohl Serben als auch Kroaten positiv auf die ungarische Revolution vom März 1848: Wer noch Leibeigener war, hoffte auf Befreiung, während man in den Gegenden an der Militärgrenze auf die Abschaffung des obligatorischen Militärdienstes hoffte. Der kroatische Landadel, der sich verzweifelt an seine Privilegien klammerte, erklärte, dass nur der kroatische Landtag, der Sabor, – und nicht die ungarische Nationalversammlung – die Leibeigenschaft in Kroatien abschaffen könne, worauf die Bauern rebellierten, ihre Abgaben nicht zahlten und die Fronarbeit einstellten. Am 25. März trat in Zagreb ein kroatischer Nationalkongress zusammen, der die Leibeigenschaft aufhob und die gleichen Rechte einforderte, die die Ungarn in Wien erwirkt hatten – im Wesentlichen die volle Autonomie innerhalb der Habsburgermonarchie. Diese liberalen Ansprüche waren für Österreicher, Ungarn und die konservativen Kroaten gleichermaßen gefährlich. Letztere waren insofern »patriotisch«, als sie die herkömmlichen Strukturen innerhalb der kroatischen Gesellschaft gegen die revolutionären Impulse, die von den Ungarn ausgingen, verteidigen wollten. Der Weg dazu führte über die Loyalität zur habsburgischen Monarchie. Die angeschlagenen Habsburger sollten denn auch einen ihrer Sachwalter in den Reihen dieser patriotischen, konservativen Adeligen finden: Joseph Graf Jelačić. Als stolzer Kroate, der den richtigen »illyrischen« Ton anschlug, erhielt er die Unterstützung der antimagyarischen Liberalen im Zagreber Kongress, als treuer Anhänger der Monarchie war er aber auch geschätzter Anführer der Konservativen. Zudem galt er als der starke Mann, der die Rebellion der Bauern, die die Gegend erfasste, unter Kontrolle zu bringen vermochte. Mit anderen Worten, er stand für die Hoffnung des kroatischen Adels auf größere Autonomie von Wien und den Erhalt ihrer Vorherrschaft über die Bauern. Und auch von den Grenzregimentern wurde Jelačić als Kommandeur respektiert. Der habsburgische Hof hatte inzwischen begriffen, dass die Militärgrenze von unschätzbarem Wert war, wollte er in Ungarn seine Oberherrschaft wiederherstellen. Jelačić, der ursprünglich als Oberst des 1. Banater Regiments diente, war von einem österreichischen Militärkommissar in Zagreb entdeckt und in Wien empfohlen worden, wo er bald als scharfsinniger und entschlossener Führer galt. Der kaiserlichen Regierung schien er der geeignete Mann, der sich den kroatischen Patriotismus gegen die Magyaren zunutze machen konnte, und so wurde er rechtzeitig am 23. März zum Ban von Dalmatien, Kroatien und Slawo-
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nien ernannt. Ungarn setzte er eine forsche und entschiedene Haltung entgegen, indem er den Befehl erteilte, dass bis zum Zusammentreten des kroatischen Parlaments alle Bezirke ausschließlich seinen eigenen Befehlen zu gehorchen hätten, war er doch der Bevollmächtigte des Kaisers.79 Zwei Tage später wurde ihm das Kommando über die Militärgrenze anvertraut. Anfang Mai versetzte er – nachdem er das Gerücht einer türkischen Bedrohung lanciert hatte – Einheiten in Alarmbereitschaft und weigerte sich dazu noch, das Budapester Parlament anzuerkennen. Dann bat er den Kriegsminister in Wien, militärischen Nachschub von Österreich nach Kroatien zu verlegen, und der neue konservative Kriegsminister Theodor Graf Baillet von Latour tat ihm den Gefallen gern. Als die Ungarn gegen Jelačićs aggressive Trotzhaltung Protest einlegten, gewann man aufseiten der österreichischen Regierung den Eindruck, dass Jelačić zu weit und zu schnell vorgegangen war – auch war man sich einer gewissen eigenen Schwäche bewusst und wollte auf jeden Fall gute Beziehungen zu den Ungarn pflegen. Der Kaiser fügte sich am 7. Mai der ungarischen Regierung und unterstellte alle Truppen in Ungarn und innerhalb der Militärgrenze dem Befehl des neuen Kriegsministers in Budapest. Dadurch konnte Ungarn Baron János Hrabovszky einsetzen, damit der an der Spitze der kaiserlichen Streitkräfte die Ordnung entlang der südlichen Grenze wiederherstellte.80 Doch sein erstes Ziel sollten nicht die Kroaten sein, sondern die Serben. Diese hatten Jelačićs Berufung zum Ban unterstützt. Am 13. Mai trafen sich mit der Rückendeckung des unabhängigen Fürstentums Serbiens, das seinen Sitz in Belgrad hatte, 8000 ungarische Serben in Karlowitz (serbisch Sremski Karlovci, ungarisch Karlóca) und riefen eine autonome Provinz Vojvodina aus, die einem gewählten Exekutivkomitee unterstellt war, dem Glavni Odbor, sowie dem Fürsten (Voivoden) Stevan Šupljikac, Oberst eines Grenzregiments. Wie Kroatien erkannte die Vojvodina als höchsten Souverän den habsburgischen Kaiser an, nicht aber die Autorität der ungarischen Regierung. Als die Serben jedoch darangingen, den orthodoxen Bischofssitz von Karlowitz wieder einzurichten und Josip Rajačić zum Metropoliten* wählten, verweigerte die kaiserliche Regierung beidem die Zustimmung. Darüber hinaus begann der Glavni Odbor seine Macht im südlichen Ungarn auszubauen, indem er die serbischen, doch auch ungarische, rumänische und deutsche Bauern gleichermaßen gegen die magyarischen Grundherren aufhetzte. Die Krise entwickelte sich *
Ursprünglich in der Ostkirche Bischof einer Provinzhauptstadt (Anm. der Übers.)
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zu einem offenen Krieg zwischen Ungarn und den Serben der Vojvodina, wobei sich beide Seiten auf ihre Loyalität zum Kaiser beriefen. Die Serben unterstützten ihre eigenen Soldaten aus den Grenzregimentern, behaupteten sich gegen die Ungarn und wehrten am 12. Juni einen Angriff auf Karlowitz ab. Im Banat (einer Region mit Serben, Rumänen und Deutschen im Süden von Ungarn) hätten sich die Serben und Rumänen fast gegenseitig angegriffen, da sich die rumänische Mehrheit um die Anerkennung ihrer eigenen orthodoxen Kirche bemühte, die Serben dagegen nur Rajačić als ihren Metropoliten anerkannten. So überrascht es nicht, dass die Banater Rumänen (anders als ihre Landsleute in Siebenbürgen, an deren Spitze Eftimie Murgu stand), ihre Loyalität gegenüber Ungarn erklärten und um Erlaubnis für einen eigenen Kongress baten, was die Ungarn, die ein Gegengewicht zu den Serben suchten, bereitwillig gewährten. Der Kongress der rumänischen Orthodoxen fand am 27. Juni in Lugosch (Lugoj) statt, wo zehntausend Delegierte betonten, das Banat sei keine serbische Provinz, seine Amtssprache und Kirche seien rumänisch, auch wenn man weiterhin zum Königreich Ungarn gehöre.81 Für Jelačić lag die Herausforderung darin, zuerst seinen Einfluss auf die serbischen Rebellen auszudehnen und sie anschließend seinen eigenen Zwecken dienlich zu machen. Einige der Grenzregimenter sammelten sich selbstverständlich um den Ban, andere aber zogen es vor, den Glavni Odbor zu stützen. Inzwischen drängte der ungarische Kriegsminister Hrabovzky, der mit dem offiziellen militärischen Oberbefehl ausgestattet war, die Grenzbewohner zu erneutem Gehorsam, folglich war der serbische Abschnitt der Militärgrenze zwischen drei Machtzentren hin und her gerissen. Die Sache wurde noch verworrener, als am 5. Juni in Zagreb der kroatische Sabor eröffnet wurde und, vom illyrischen Ideal abweichend, dafür stimmte, die Delegation aus der Vojvodina einzuladen. Dieser Schachzug musste die Ungarn provozieren, und genau das war der Grund, warum Jelačić ein solches Verhalten förderte. Bei der Parlamentseröffnung leistete er seinen Eid keinem anderen als dem Metropoliten Rajačić. Als Kroate besuchte er im Anschluss die katholische Messe, aber auch einen Dankgottesdienst in der orthodoxen Kirche von Zagreb. All das sollte der Öffentlichkeit zeigen, dass er der Vorstellung anhing, Serben und Kroaten seien »eine Nation von einem Blut und zweierlei Glauben«.82 Beide Seiten – Magyaren und Südslawen – sollten sich nun sputen, den kaiserlichen Segen für ihre miteinander im Widerspruch stehenden Ansprüche zu erhalten. Als der Sabor eine Abordnung zu Kaiser Ferdinand schickte, musste diese bei ihrer Ankunft in Innsbruck feststellen, dass Batthyány schneller gewe-
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sen war. Am 10. Juni erfolgte per Dekret des Kaisers Jelačićs Absetzung, Hrabovszkys Befugnisse dagegen wurden bestätigt, und Latour klopfte man auf die Finger, um den österreichischen Kriegsminister daran zu erinnern, dass die Kontrolle über die Militärgrenze in die Zuständigkeit von Budapest und nicht von Wien fiel. Trotzdem ließ Latour den Sommer über der Finanzkasse der Militärregion recht offen Geld zufließen. Er mochte gute Gründe dafür haben, denn die Ungarn zögerten verständlicherweise, die Kroaten mit Geld und Nachschub zu versorgen, während die Österreicher zwar die Kroaten nicht unbedingt gegen die Ungarn, jedoch als verlässliche Rekruten für den Krieg in Italien brauchten.83 Auf alle Fälle hatte die Entlassung Jelačićs den Widerstand der Südslawen nicht gebrochen: Jelačić, entschlossen, den Habsburgern seine Treue zu beweisen, hatte angefangen, seine Truppen an der Drau zusammenzuziehen, und der Sabor, durch den Druck der Magyaren bereits wachgerüttelt, schloss in Unterstützung für den Ban die Reihen. Nun sahen sich die Ungarn mit der Möglichkeit einer ausgewachsenen Invasion durch Kroatien konfrontiert.84 Die kaiserliche Regierung aber war noch immer nicht bereit, zu solch drastischen Mitteln zu greifen, um ihre Macht wiederherzustellen – sie kämpfte bereits in Norditalien.
IV Waren die frühen Tage der italienischen Revolution für die Österreicher bedrückend, so waren sie für die italienischen Liberalen beglückend. Noch im April waren die Österreicher zum Festungsviereck im Norden zurückgedrängt worden, während weiter südlich Papst Pius IX. sein früheres Versprechen einlösen sollte und einem verjüngten Italien seine Führung anbot. Nachdem er im November 1847 eine Zollunion angeregt hatte, schlug er jetzt eine Art Verteidigungsliga der italienischen Staaten vor, der die Toskana und Neapel sofort beitraten. Inzwischen gab es in ganz Italien die allgemeine Bereitschaft, sich dem Krieg gegen Österreich anzuschließen, was Pius massiv unter Druck setzte, sich gleichfalls zu engagieren. Der gemäßigte Liberale Pellegrino Rossi, der Vincenzo Giobertis Ideal eines italienischen Staatenbundes unter der Führung des Papstes teilte, aber kein Befürworter des Krieges war, erklärte: »Das nationale Empfinden und die Begeisterung für den Krieg sind ein Schwert, eine Waffe, eine schlagkräftige Macht; entweder Pius IX. packt sie mit beiden Händen oder die feindlichen Lager packen sie und wenden sie gegen ihn und das Papst-
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tum.«85 Und Alexander Herzen, der sich mit seiner Familie in Raman aufhielt, meinte unverblümt: »Da bleibt keine Wahl; man muß entweder dem Strom der Ereignisse ausweichen, oder sich unrühmlich umwerfen, oder wider Willen fortschleppen und zertreten lassen. Der Papst wollte Zeit gewinnen.«86 Tatsache war, dass Pius die frühen Niederlagen der Österreicher als glückliche Vorsehung betrachtete, das Papsttum aber die moralische und religiöse Verpflichtung hatte, allenfalls einen Verteidigungskrieg zu führen. Also sicherte er sich ab, darauf hoffend, dass Österreich restlos besiegt sei, bevor er päpstliche Streitkräfte gegen eine immerhin katholische Monarchie in Bewegung setzen würde.87 Das Dilemma des Papstes erklärt seine ambivalenten Anweisungen gegenüber dem piemontesischen General Giacomo Durando, dem er den Befehl über seine Truppen gegeben hatte. Diese Männer – insgesamt 7000 – wurden an die nördliche Grenze des Kirchenstaates verlegt, von wo aus sie dem piemontesischen Einmarsch unter König Karl Albert ihre Unterstützung anbieten sollten – Umfang und Ausmaß waren jedoch absichtlich im Unklaren belassen worden. Die patriotische Begeisterung in Rom wurde durch einen beliebten Anführer der Radikalen, den Großkaufmann Angelo Brunetti, besser bekannt unter seinem Spitznamen Ciceruacchio, und den hitzigen Geistlichen Alessandro Gavazzi am Kochen gehalten. Gavazzi, ein Barnabitenmönch, der wie ein mittelalterlicher Bettelmönch das Land durchstreift hatte, pflegte seine Zuhörer mit dem Schlachtruf »Fuori i barbari!« (»Raus mit den Barbaren!«) aufzurütteln. Als nun die Kunde von den »Fünf Tagen Mailands« in Rom eintraf, standen Gavazzi und Ciceruacchio einer Feier im Kolosseum vor, die Herzen so beschrieb: »Die untergehende Sonne leuchtete in bunten Streifen durch die äußern Bogen in das Innere; eine unzählige Volksmasse füllte die Arena, die Bogen, die Wände, die halb zertrümmerten Logen; überall standen, saßen und lagen Menschen. In einer der hervorragendsten Logen wartete schon Pater Gavazzi, ermüdet und den Schweiß abwischend, aber doch bereit zu sprechen.« Gavazzi, der der jungen römischen Legion seinen Dienst als Kaplan angeboten hatte, erklärte, dass das christliche Kreuz und die italienische Trikolore in diesem Kampf Seite an Seite stünden: Es war ein heiliger Krieg. Unter einem der Bögen, die mit den Flaggen Italiens und der Lombardei geschmückt waren, schrieben sich junge Männer für die Armee ein. »Es war schon dunkel, man zündete Fackeln an, die Vögel, nicht daran gewöhnt, so viel Gäste zu sehen, und so viel Lärm zu hören, flogen unruhig in Kreisen über unsern Häuptern, die jungen Männer, die schon eingeschrieben waren, jubelten. Sonder-
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bare Rekrutirung! Und das Alles umfaßt vom gigantischen Rahmen des Coliseums!« Zwei Tage später beobachtete Herzen den Aufbruch der ersten Freiwilligenkorps und fragte sich, obwohl Revolutionär, wie viele der jungen Männer wohl nicht wiederkehren würden: »Krieg − grausamer, widerwärtiger Beweis des menschlichen Wahnsinns, verallgemeinerte Plünderung, gerechtfertigter Mord, Apotheose der brutalen Gewalt! … Und doch wird sich die Menschheit noch lange genug herumschlagen, bis sie einsehen wird, daß man zum Danke für das Blutvergießen keine Triumphbogen und Lorbeerkränze zuerkennt.«88 Die römischen Freiwilligen, mit dem Spitznamen crociati (Kreuzfahrer), verließen Rom am 25. und 26. März. Mit 10 000 unerfahrenen Rekruten und Zivilgardisten unter dem republikanischen Oberst Andrea Ferrari erhöhten sie die Kriegsbeteiligung des Kirchenstaates auf 17 000 Soldaten.89 Währenddessen schlossen sich in der Toskana Gemäßigte wie Baron Bettino Ricasoli der Kritik der florentinischen Demokraten am Vorsitzenden des Ministerrats von Großherzog Leopold, Marchese Ridolfi, an. Seine Haltung zum Krieg erschien ihnen halbherzig. Am 16. März peitschte Ricasoli auf einer großen Versammlung unter Anwesenheit von Leopold die Emotionen für den »Kreuzzug« auf, und Leopold konnte die Gemüter nur wieder beruhigen, indem er zustimmte, sich mit der Entsendung einer Streitmacht von 7770 Männern der Kampagne der Piemonteser in der Lombardei anzuschließen.90 Doch auch Süditalien leistete einen Beitrag: Selbst die widerspenstigen Sizilianer, die eigentlich zunächst von Neapel unabhängig sein wollten, bevor sie Teil eines vereinigten Italien würden, schickten eine symbolische Streitmacht von 100 Männern gen Norden.91 In Neapel charterte die patriotische Prinzessin Cristina di Belgiojoso, selbst aus der Lombardei stammend, ein Dampfschiff, das sie nach Norditalien zurückbringen sollte, und fand ihr Domizil von Neapolitanern belagert, die lautstark baten, mit ihr reisen zu können, um sich dem Kampf anzuschließen. Am 29. März legte ihr Schiff aus dem Hafen ab: um sie herum viele kleine Schiffe und Boote, die der Prinzessin, gehüllt in die italienische Trikolore, und den 184 Kriegsfreiwilligen salutierten.92 Ihnen sollte sich schon bald eine sehr viel größere, reguläre neapolitanische Einheit hinzugesellen. Diese stand unter dem Kommando von General Guglielmo Pepe, einem Veteran der napoleonischen Kriege und Exilanten der Revolution. Mit seinen mittlerweile achtundsechzig Jahren trug Pepe einen Dreispitz mit weißer Feder, an der Seite einen riesigen Säbel, ein Relikt aus vergangenen Tagen.93 Amnestiert von König Ferdinand von Neapel, kehrte er am Tag von Belgiojosos Abfahrt zurück. Der Monarch, der unbedingt die Libe-
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ralen mit ihren Forderungen zum Schweigen hatte bringen wollte, indem er einen der ihren berief, forderte ihn zunächst auf, eine Regierung zu bilden. Pepe jedoch ging für den Geschmack des Königs viel zu weit, als er etwa den sofortigen Abmarsch des Heeres in die Lombardei forderte. Zwar konnte Ferdinand Pepe zum Rücktritt bewegen, dem allgemeinen Druck, gegen Österreich in den Krieg zu ziehen, konnte er indessen nicht widerstehen. Am 7. April schloss er sich deshalb offiziell an und bat Pepe, sein 40 000 Mann starkes Heer zu befehligen. Pepe stimmte zu, musste dann aber erleben, wie seine Bemühungen, die Truppen zu organisieren, auf Hindernisse stießen; später behauptete er, der auf Zeit spielende König »war entschlossen, alles ihm nur Mögliche zu tun, damit das Heer zahlenmäßig schwach, in allem unterversorgt und insgesamt unfähig blieb, um der italienischen Sache kraftvolle Unterstützung zukommen zu lassen«. Ganz sicher widerstrebte es Ferdinand, Truppen für einen Krieg einzusetzen, durch den erstens das Ansehen seines großen Rivalen Karl Albert gesteigert werde, während zweitens die neapolitanischen Kräfte von der weitaus dringlicheren Aufgabe abgelenkt würden, den sizilianischen Separatismus zu zerschlagen. Trotzdem segelten die Truppen drei Wochen später los und gingen in Ancona von Bord, um gen Norden zu marschieren.94 Nachdem dies erledigt war, nahm das neapolitanische Geschwader, bestehend aus sieben Fregatten, fünf davon Dampf-, zwei Segelschiffe, und zwei Zweimastern, Kurs auf Venedig, um beim Aufbrechen der österreichischen Seeblockade zu helfen. Als die Schiffe am 16. Mai in der Lagune vor Anker gingen, wurden sie begeistert empfangen.95 An Land war die Lage allerdings weniger vielversprechend. Am 3. Mai, dem Tag, an dem er zu den Truppen stieß, erhielt ein verärgerter Pepe den Befehl vom neuen Kriegsminister des Königs, bei Erreichen des südlichen Poufers, das die Grenze zum Kirchenstaat bildete, auf weitere Befehle zu warten. Pepe war außer sich vor Wut: Welcher General, so fragte er, könne denn auf der einen Seite eines Flusses sitzen, wenn sich auf der anderen die Piemonteser und Venezianer für die Ehre Italiens opferten? Es sollte noch schlimmer kommen, denn als Pepes Truppen den Po erreichten, zählten sie nur 14 000 und nicht die vollen 40 000 Mann, wie er erwartet hatte.96 Das Zögern des Papstes und des Hauses Bourbon von Neapel war allerdings nicht so bedenklich wie die zweideutigen Absichten König Karl Alberts von Piemont. In der Öffentlichkeit befleißigte sich der König der verlockenden Rhetorik italienischer Einheit. Die Entscheidung des Monarchen zum Krieg war aber nicht dem hehren Ziel der Vereinigung Italiens entsprungen, vielmehr waren
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Karl Alberts Ambitionen dem politischen Druck seiner Heimat geschuldet, vor allem aber seinem eigenen politischen Ehrgeiz. Zu Hause in Piemont bestand mittlerweile die große Gefahr eines republikanischen Gegenschlags, sollte es dem König nicht gelingen, sich im antiösterreichischen Kampf an die Spitze zu stellen. Die guten Neuigkeiten von den »Fünf Tagen« Mailands hatten die demokratische Bewegung in Turin und Genua elektrisiert: Schon sammelten sich die Anhänger Giuseppe Mazzinis in der Hafenstadt, um gegen die Einschränkungen der Verfassung vom 4. März zu protestieren. Gleichzeitig griffen antiklerikale Gruppen aus Piemont Häuser der Jesuiten an. Der Ministerpräsident, der moderate Cesare Balbo, warnte den König, dass ein Nichthandeln mit ziemlicher Sicherheit die öffentliche Meinung gegen die Monarchie aufbringen und in die Arme der Republikaner treiben werde. Außerdem bestehe ohne die Militärpräsenz der Piemonteser die Gefahr, dass sich das benachbarte Lombardo-Venetien unter Cattaneo und Manin zu einem Hort der Republikaner entwickle. Angesichts der Revolutionen, die schon die Herzogtümer von Parma und Modena heimgesucht hatten, ließ sich Karl Albert deshalb überzeugen, dass nur eine Invasion der Lombardei einzudämmen vermochte, was er als republikanische Flut ansah. Immerhin waren es Gemäßigte wie der Mailänder Bürgermeister Casati, die um eine Invasion in Piemont gebeten hatten, und zwar nicht nur, um die Österreicher zu besiegen, sondern auch, um die Republikaner von der Machtergreifung abzuhalten. Doch darüber hinaus hegte der König auch persönliche Ziele: die Ausweitung seines Staates durch die Annektierung von Lombardo-Venetien und die Schaffung eines norditalienischen Königreichs unter der Herrschaft seines Hauses. Seine Parole »Italia farà da sé« (»Italien schafft es selbst«) war kein leeres Schlagwort, sondern eine Warnung an die italienischen Republikaner, nicht auf eine französische Intervention zu setzen, was seine Sache sicher geschwächt hätte. Ein Krieg zur Ausweitung dynastischer Ansprüche hätte die anfängliche nationalistische Bewegung beschnitten und schließlich erstickt. Im Augenblick aber wurde Karl Albert durch die allgemeine Unterstützung für seine Intervention getragen. Am 23. März ließ sich sogar der politische Fuchs, der gemäßigte piemontesische Liberale Camillo Benso Graf von Cavour, in seiner Zeitung Il Risorgimento hinreißen: »Die große Stunde der sardischen Monarchie hat geschlagen … Angesichts der Ereignisse in Lombardo-Venetien sind Zögern, Zweifel, Verzögerungen nicht möglich; sie wären die beklagenswertesten aller Strate-
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gien. Wir sind Männer mit kühlem Kopf, daran gewöhnt, den Befehlen des Verstandes statt den Impulsen des Herzens zu gehorchen, und nachdem wir jedes Wort abgewogen haben, müssen wir jetzt nach bestem Wissen und Gewissen erklären, dass es für die Nation, für die Regierung, für den König nur einen Weg gibt. Krieg! … Wehe uns … wenn wir nicht rechtzeitig da sind!97 Es überrascht nicht, dass die Republikaner dem König mit Misstrauen, ja fast schon offener Feindseligkeit gegenüberstanden. Mazzini, der via Frankreich und der Schweiz aus seinem Exil nach Italien eilte, schrieb am 28. März einem englischen Freund: »Meine Landsleute in der Lombardei haben Wunder vollbracht; doch in dem Augenblick, in dem sie fast gewonnen haben, schreitet K. Albert ein und möchte die Früchte, die aus italienischem Blut erwachsen sind, ernten. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«98 Das Dilemma der Republikaner bestand darin, dass die Piemonteser durchaus die militärische Stärke besaßen, um die Österreicher aus dem Land zu vertreiben, eine solche Hilfe anzunehmen aber auch bedeutet hätte, sich den monarchistischen Ambitionen Karl Alberts zu beugen. Die Mailänder Rebellen waren dagegen übereingekommen, den Streit zwischen Monarchisten und Republikanern a causa vinta auf Eis zu legen, und Mazzini stimmte, trotz persönlicher Bedenken zu. Während er am 31. März durch Paris kam, veröffentlichte er im Namen der Italienischen Nationalen Gesellschaft (einer Organisation, deren Ziel es war, die unterschiedlichen Exilmeinungen zu bündeln) eine Bekanntmachung an die Lombarden: »Im Glauben an das Fortschrittsprogramm beansprucht die Nationale Gesellschaft nicht die Autorität, Ratschläge bezüglich des Charakters der politischen Ordnung zu geben, die am besten zu unseren Traditionen und den europäischen Entwicklungen passt. Aber wählt frei, wie es jenen zukommt, die ohne eine andere Hilfe als ihre eigene Stärke triumphierten; sorgfältig, wie es von denen erwartet wird, die die Schmiede ihres eigenen Schicksals sind.«99 Dennoch konnte Mazzini nicht widerstehen, eine kaum verhohlene Warnung vor den Monarchisten auszusprechen: Die Mächtigen hätten die Angewohnheit, jenen die Rechte zu entreißen, die zu gewährend oder leichtsinnig sind. Die Lombarden sollten ihre Rechte nicht an die Mächtigen abtreten; das zu tun,
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hieße die nationale Sache aufzugeben. Schließlich akzeptierte Mazzini den politischen Waffenstillstand, war doch die piemontesische Armee der erste Schritt auf dem Weg zur nationalen Einheit. Unabhängigkeit und Einheit jedoch sollten an erster Stelle stehen, während Republik und Demokratie (das waren Worte, die Mazzini in seiner Proklamation geflissentlich vermied) warten könnten, falls sie den Kampf gegen die Österreicher gefährdeten. Die Republikaner sollten ihre politische Kampagne für die Demokratie lostreten, sobald der Krieg gewonnen sei.100 Doch der politische Waffenstillstand sollte den Monarchisten in die Hände spielen. Die Lombarden waren nämlich begeistert, als am 25. März 23 000 piemontesische Soldaten den Fluss Ticino überquerten. Am nächsten Tag marschierte die Vorhut in strömendem Regen in Mailand ein, flankiert von jubelnden Menschenmassen. Mazzini kam am 7. April an, und die nächsten beiden Tage ließ ihn die Menge, die sich unter seinem Fenster versammelt hatte, hochleben. Diese Demonstration mag ihn beflügelt haben, doch die Republikaner waren sich allzu bewusst, dass sie in der Minderheit waren. Zwar konnten sie Studenten und Handwerker aus der Stadt zu ihren festen Anhängern rechnen, doch die eigentliche Herausforderung war das Erreichen der Bauern. Dass ein Kompromiss zwischen Republikanern und Monarchisten, egal welcher Art, auf Dauer unmöglich war, zeigte sich deutlich am 11. April, als Karl Albert Mazzini aufforderte, die Monarchie zu akzeptieren, wofür er im Gegenzug Einfluss bei der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung für Norditalien erhalten sollte. Mazzini wies diesen Vorschlag mit gleichermaßen unmöglichen Forderungen zurück: »Lasst Karl Albert offen jedes diplomatische Band, jede Verbindung mit anderen Fürsten brechen: Lasst ihn eine Proklamation zur absoluten Einheit Italiens, mit Rom als Hauptstadt, und zum Staatsstreich gegen alle anderen italienischen Fürsten unterzeichnen: Wir werden Soldaten unter seinem Banner sein, se no, no [wenn nicht, dann eben nicht].«101 Mazzinis Festhalten am politischen Waffenstillstand wurde von anderen Republikanern aufs Heftigste abgelehnt, darunter auch dem reumütigen Cattaneo, der Karl Albert als einen reaktionären, religiösen Fanatiker betrachtete, unterdrückerischer noch als die Österreicher. In einem Anfall von Enttäuschung ging Cattaneo so weit zu sagen, dass er, müsste er sich zwischen Österreichern und Piemontesern entscheiden, für Erstere stimmen würde. Der entscheidende Unterschied zwischen Mazzini und Cattaneo lag in ihrer Prioritätensetzung: Mazzini wollte selbst dann noch an der nationalen Einheit festhalten, wenn das die Schaffung einer demokratischen Republik verzögert hätte. Cattaneos Loya-
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Giuseppe Mazzini: der Prophet der demokratischen Revolution, gleichermaßen geliebt wie gefürchtet. (Bridgeman Art Library)«
lität dagegen galt in erster Linie der Lombardei, weshalb er die Umsetzung politischer Freiheit dort über den Traum von nationaler Einheit stellte.102 Während sich also die republikanische Opposition mit inneren Machtkämpfen schwächte, gingen die Monarchisten daran, den politischen Waffenstillstand zu brechen. Nun begannen die Piemonteser den lombardischen Gemäßigten die Daumenschrauben anzuziehen. Am 16. April warnte Graf Di Castagnetto vom Turiner Hof aus Casati in einem Brief, dass der König über den republikanischen Unfug in Mailand alles andere als erfreut sei: »Das, mein lieber Casati, ist zu viel. Scheinbar spricht man in Mailand von nichts anderem als von einer Republik; und man will sogar, dass auch Genua eine wird. Auf diese Weise schleichen sich Misstrauen und Intrigen aus dem Ausland ein, genau wie das Geld.« Er appellierte an Casati, »Ihr Land und auch meines zu retten! Retten Sie es ein zweites Mal, denn diese Gefahr ist nicht kleiner, als die, die Sie vor einem Monat bestanden haben«.103 Auf welche Weise die lombardischen Liberalen ihr Land retten wollten, sollte sich nun zeigen: Sie würden das Problem einer »Fusion« mit Piemont einer Volksbefragung überantworten. Das aber war
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leicht zu bewerkstelligen: Ende März war Mailands Kriegssausschuss aufgelöst und durch eine provisorische lombardische Regierung ersetzt worden, die herzlich wenig Republikaner aufwies. Am 12. Mai erklärte diese überstürzt, dass innerhalb der nächsten siebzehn Tage ein Referendum abgehalten werde; nur noch der Zeitpunkt der »Fusion« war fraglich: Sollte sie sofort oder erst nach Ende des Krieges stattfinden? Keine andere Alternative – sei es Staatenbund oder Republik – wurde angeboten. Das einzige Zugeständnis, das die Republikaner der provisorischen Regierung abringen konnten, war das Versprechen einer verfassunggebenden Versammlung, um über Änderungen der piemontesischen Verfassung zu diskutieren – doch selbst diese Zusage verärgerte den Hof in Turin. Mazzini, dessen neue Zeitung Italia del Popolo am 13. Mai die Druckerpresse verließ, lehnte sofort und rundweg sowohl den Bruch des Waffenstillstands als auch den Plan eines norditalienischen Königreichs ab.104 Als man die Frage den lombardischen Bauern vorlegte, schien die Wahl schon entschieden. Ein Beobachter schrieb, dass die »Fusionisten« »unter den Bauern, Kaufleuten und all den einfachen Leuten herumgingen und die Wahlmöglichkeit, die es zwischen Karl Albert und den Österreichern geben würde, verkündeten: Man könne sich entweder sofort den Piemontesern anvertrauen oder zur österreichischen Herrschaft zurückkehren. Ich habe sie mit meinen eigenen Ohren vernommen. Natürlich setzten die einfachen Leute, mit einer solchen Alternative konfrontiert, ihren Namen oder ihr Kreuz dorthin, wo es die Regierung und die Provinzausschüsse haben wollten.«105 Als sich die Abstimmung dem Ende zuneigte, bat ein verzweifelter Cattaneo Mazzini eindringlich, sich ihm und den anderen Republikanern anzuschließen und die provisorische Regierung der Lombardei zu stürzen. Mazzini jedoch, der den Prinzipien der Legalität treu blieb, weigerte sich. Am 29. Mai, dem letzten Wahltag, sahen die Mailänder Demokraten den Ausweg nur noch darin, die Verwaltungsräume zu stürmen, doch die Zivilgarde hielt stand. In der Italia del Popolo wurde der Aufstand verurteilt: Gewalt, so argumentierte Mazzini, sei kein Ersatz für die Freiheit, zu sprechen und zu überzeugen, und sollte nicht »den Gang unserer friedlichen Bekehrungstätigkeit stören«.106 Bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent war das Ergebnis eindeutig: 560 000 Stimmen waren für einen sofortigen Zusammenschluss und nur 700 dagegen. Schon bald folgten Mailand die Herzogtümer Parma und Modena, die für die Annek-
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tierung durch Piemont votierten. Nun wartete Norditalien auf die Entscheidung aus Venedig.107 Der frühe Entschluss Mailands, Karl Alberts Hilfe anzunehmen, ließ Daniele Manins Venedig politisch isoliert zurück: Wenn auch mit gewissem Unbehagen sah sich die neue Republik Venedig lieber von Anhängern Piemonts umgeben, als sich mit einer Schwesterrepublik in der Lombardei zu verbinden. Manin versuchte Venedigs Entscheidung hinauszuzögern, indem er die Politik a causa vinta übernahm und politische Diskussionen bis nach dem Krieg verschob. Dabei hoffte er, dass dies die italienischen Staaten bis zur Vertreibung der Österreicher zum Schulterschluss ermutigen würde – und Venedig stand immerhin sehr exponiert an vorderster Front. Herben Widerspruch erntete er jedoch von seinem Kollegen und Rivalen Niccolò Tommaseo, der wie Manin Karl Albert nicht traute, dagegen aber fest an die Zusagen Pius’ IX. von Truppen aus dem Süden, glaubte. Die neapolitanischen, toskanischen und päpstlichen Truppen waren jedoch noch weit und gelangten nur äußerst langsam nach Norden. Inzwischen war die militärische Hilfe dringend nötig. Manin war im Grunde Diktator in einem Staat, der kein eigenes Heer besaß und deshalb Zeit brauchte, um die Einwohner zu rekrutieren und auszubilden. Schon Ende März kursierten Berichte, dass entlang der östlichen Grenze österreichische Truppen unter Laval Graf Nugent aufmarschieren würden. Wenn Nugent es schaffte, durch das ländliche Venetien vorzudringen und sich mit Radetzky zu vereinigen, der im Festungsviereck seine Wunden leckte, dann konnten die Österreicher die venezianische Republik mit Übermacht zerschmettern. Aus diesem Grund war Manin beinahe dazu verpflichtet, seine republikanischen Skrupel hintanzustellen und einen Kniefall vor den Piemontesern zu machen, die nur langsam durch die Lombardei auf das Festungsviereck vorrückten. Sollten die Piemonteser Radetzky aus Italien verjagen, konnten sie Nugent allein gegenübertreten und seine schnell zusammengestellte bunte Truppe nach Kroatien zurücktreiben. Somit kam es zwischen Karl Albert und Nugent zu einem Wettrennen auf das Festungsviereck. Letzterer begann am 17. April mit seinem Vormarsch und erreichte nach fünf Tagen die Stadt Udine. Als Udine nach nächtlichem Beschuss kapitulierte, musste Manin in äußerster Eile an Karl Albert appellieren: »Im Namen Italiens, der Humanität und der Gerechtigkeit fordern wir sofortige Unterstützung an.«108 Die letzte Hoffnung der Venezianer richtete sich auf einen lockeren Staatenbund eines vereinigten Italiens, in dem Venedig neben den Monarchien existieren konnte, allerdings war es wenig wahrscheinlich, dass Karl Albert ein sol-
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ches Ergebnis dulden würde: Die Piemonteser wollten sich die Lombardei peu à peu einverleiben und anschließend als »weiteres Blatt der italienischen Artischocke« Venedig.109 Venezianischen Abordnungen, die im Hauptquartier des Königs erschienen, erklärte der Kriegsminister freiheraus, dass »Piemont nicht einfach von ritterlichem Geist beseelt ist und für seine großen Opfer daher Entschädigung erwartet«. Es war klar, dass der Preis eine »Fusion« war. Anfangs scheute Manin vor einem derart hohen Preis zurück, aber als ein militärischer Rückschlag nach dem anderen gemeldet wurde, hatte die monarchistische Propaganda ihr Ziel erreicht. In der Meinung, dass Manins republikanische Uneinsichtigkeit piemontesische Hilfe gefährde, begannen sich die Menschen der terra firma gegen die Stadt zu wenden. Schon wurden in Padua antivenezianische Parolen an die Mauern gemalt, und der Provinzialausschuss in Rovigo, verweigerte Venedig die Steuerzahlungen, da es sich »vom restlichen Italien isoliere«. Während die ärmeren Viertel der Stadt hinter Manin standen, tendierten Bürgertum und Adel in Richtung Karl Albert, zum einen wegen seiner Zusage, Soldaten zu schicken, zum anderen in der Hoffnung, dass er eine weitergehende Revolution durch die Republikaner verhindere. Spontan hielten Provinzbeamte in der Region eigene Plebiszite zur Fusion ab. Manin konterte, indem er republikanische Redner aufs Land schickte, um die Einheimischen von einem derart drastischen Schritt abzubringen. Jedoch ignorierte man hier die Republikaner, und stimmte Provinz für Provinz dem Zusammenschluss zu. Bis zum 5. Juni hatten deshalb eine vorrückende österreichische Armee sowie die Provinzen, die mit einer Annexion durch Piemont einverstanden waren, Manins Republik auf Stadt und Lagune reduziert. Am 4. Juli schließlich stimmte auch die verfassunggebende venezianische Versammlung der »Fusion« zu. Damit war Norditalien nominell ein vereintes Königreich.110 Doch das piemontesische Entblättern der Artischocke weckte die Eifersucht und Feindseligkeit der anderen Fürsten. Kurz bevor sich Karl Albert für den Krieg entschied, schickten die Toskaner, die vermeintlichen Verbündeten Piemonts, Truppen, um einen Streifen Land, der das Herzogtum Modena mit dem Meer verband, sowie den kleinen, ehemals unabhängigen Staat Massa-Carrara zu besetzen. Karl Albert hatte selbst ein Auge auf diese Regionen geworfen, da sich die toskanischen Freiwilligen hier Gefechte mit piemontesischen Soldaten zu liefern pflegten. Bei einem späteren Vorfall, als die Toskana und Piemont theoretisch auf derselben Seite standen, weigerten sich die Piemonteser denn auch, einer kleinen toskanischen Einheit zu Hilfe zu kommen, die von den Österreichern überrannt worden war.111
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Doch überall auf der Halbinsel erwies sich die Einheitsbewegung als brüchig, und als Staaten begannen, ihre eigenen Interessen vor das Ziel der nationalen Einheit zu stellen, begann sie wieder auseinanderzufallen. Zudem hatten nicht alle Revolutionäre ein geeintes Italien nach der Art Mazzinis im Sinn. Cattaneo etwa kämpfte in erster Linie für eine Republik in der Lombardei, während die Piemonteser, die noch am meisten von einem Krieg profitierten, Angst hatten, ihre Hauptstadt Turin könne ihre Vorrangstellung an Mailand verlieren. Auch Venedig wurde beschuldigt, seinen lokalen Republikanismus über die italienische Sache zu stellen: Manin selbst hisste das Banner der venezianischen Republik, weil er wusste, dass die Revolution größeren Rückhalt unter den Venezianern finden würde, wenn er die alte »Markusrepublik« heraufbeschwor, was – zu seinem Bedauern – der wichtigste Schlachtruf der venezianischen Revolutionäre in den Märztagen wurde. Auch die Sizilianer kümmerten sich mehr um ihre Unabhängigkeit als um die Sache der Nation. Am 25. März verkündete in Palermo das Parlament, dass die alten Rechte der Insel wiederhergestellt seien, man aber bereit sei, Teil der italienischen Föderation zu werden. Am Ende mussten die Insulaner mehr Kraft in die Verteidigung ihrer Unabhängigkeit von Neapel stecken als in den weiter reichenden Kampf um die Einheit. Später sollten italienische Patrioten Sizilien beschuldigen, einen separatistischen »Bürgerkrieg« riskiert zu haben, während die Sache der italienischen Einheit ins Schlingern geriet. Der erste bedeutende Schlag gegen den Unabhängigkeitskampf war allerdings der Rückzug des Papstes aus dem Konflikt. Pius hatte sehr schnell seine Entscheidung bereut, Truppen gegen die tief katholischen Habsburger marschieren zu lassen, was vielleicht zu einem Schisma innerhalb der Kirche führen würde. Als Durando am 5. April einen Befehl erließ, der ihn zwang, als Pontifex und nicht als italienischer Patriot zu handeln, war für Pius der entscheidende Punkt gekommen, sich gegen den Krieg auszusprechen. In einer taktlosen Verlautbarung, geschrieben von Massimo d’Azeglio, rief Durando seine Männer quasi zum heiligen Krieg auf: Pius »hat eure Schwerter gesegnet, die … dazu bestimmt sind, die Feinde Gottes und der Italiener auszulöschen … Solch ein Krieg ist nicht nur national, sondern in höchstem Maße christlich.«112 Die Mischung aus Religion und Nationalismus war nicht nur ein tückischer, sondern auch ein tödlicher Cocktail, mehr, als Pius bereit war zu schlucken. Sorgfältig hatte er bislang eine Kriegserklärung (die mit seiner Stellung als Papst in Konflikt geraten wäre) vermieden, und jetzt hatte Durando nicht nur Österreich den Krieg erklärt und damit den Papst als Aggressor erscheinen lassen,
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sondern von den Dächern herab verkündet, dass das katholische Österreich samt seiner katholischen Soldaten »Feinde Gottes« seien. Schon bald erfuhr Pius von der erbosten Reaktion der deutschen Bischöfe, das befürchtete Schisma lauerte im Hintergrund. Mehr als zwei Wochen wurde erbittert gestritten, doch schließlich überquerte Durando gegen alle Befehle am 22. April die Grenze. Aufhalten konnte ihn der Papst nicht, nur noch sich von ihm distanzieren. Am 29. April veröffentlichte er eine »Allokution«, in der er »den verräterischen Rat … jener [zurückwies], die wollten, dass der römische Papst Kopf und Vorsteher einer neuartigen Republik des ganzen italienischen Volkes« sei.113 Darüber hinaus informierte er die anderen Fürsten darüber, dass er den Plan eines italienischen Staatenbundes fallenlasse. Der »liberale« Papst hatte einen Weg eingeschlagen, der ihn zur Ablehnung sowohl der Einheit Italiens als auch des Liberalismus führte: An dieser Stelle sollten sich deshalb die Wege des italienischen Nationalismus und des römischen Katholizismus trennen, eine Trennung, die bis ins 20. Jahrhundert hinein fortdauerte. Die Reaktion in Rom war zunächst Fassungslosigkeit, die langsam in Wut überging; ein Republikaner schäumte: »Das Papsttum ändert sich nie, es ist der größte Feind Italiens, und Rom darf es nicht länger ertragen.«114 Die römischen Demokraten waren so außer sich, dass Pius am 1. Mai gezwungen wurde, ein neues Kabinett zu berufen, an dessen Spitze der linksgerichtete Liberale Terenzio Graf Mamiani stand. Dieser war als Befürworter des Krieges bekannt, und für seine Überzeugung, dass die neue Verfassung »ausgeweitet« werden müsse – was hieß, dass das Parlament mehr Macht gegenüber dem Papst erhalten müsse. Allerdings war er kein Anhänger Mazzinis: Er fürchtete die »Ex-tremisten« genauso, wie er die Ultrakonservativen innerhalb der Geistlichkeit ablehnte. Inzwischen hatten Durandos Truppen bereits die Grenze des Kirchenstaates überschritten und sich piemontesischem Oberbefehl unterstellt. Dagegen erreichte kaum einer von Pepes Neapolitanern das Schlachtfeld, denn am 15. Mai wurde die Revolution in Neapel von König Ferdinand II. niedergeschlagen. Der liberalen Regierung im Königreich Neapel war es nicht gelungen, das eigene Überleben zu sichern und vor allem Ordnung und Stabilität in Stadt und Land wiederherzustellen. Der Zusammenbruch der königlichen Macht zu Beginn des Jahres hatte ein Vakuum hinterlassen, in dem Radikale wie Gemäßigte sich gegenseitig bekämpften. In Neapel forderten die demokratischen Vereine die Abschaffung des Oberhauses und eine Ausweitung des Wahlrechts,
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was dazu führte, dass die Liberalen, nimmermüde den König an seine Versprechen zu erinnern, nun einen Zweifrontenkrieg führten, um die Verfassung zu verteidigen. Hinzu kam noch, dass sich die Liberalen – deren Klientel die nicht adeligen Grundbesitzer auf dem Land sowie Kaufleute und Fabrikanten in den Städten waren – mit sozialen Unruhen konfrontiert sahen. Handwerker und Lehrlinge, die durch die Einführung neuer Technologien fürchteten, arbeitslos zu werden, randalierten in den Werkstätten von Neapel und Salerno und zerstörten auch Maschinen. Noch ernsthafter war der Aufstand auf dem Land: Bauern besetzten Grund und Boden, insbesondere Gemeindeland, das wohlhabendere Landbesitzer eingezäunt hatten, und beanspruchten es für sich. Radikale, darunter ein »roter« Priester aus der Gegend von Salerno, predigten, die großen Landgüter sollten aufgelöst und die Beute unter den Leuten verteilt werden. Die Grundherren wurden von der neuen Nationalgarde geschützt, doch die Unterschiede zwischen Liberalen und Demokraten waren nicht mehr zu überbrücken, was die Revolution insgesamt schwächte und König Ferdinand Handlungsmöglichkeiten bot. Der moderate Ministerpräsident Carlo Troya, ein Historiker, hatte keine Erfahrung. Seine Regierung und die Nationalgarde konnten das Schreckgespenst einer Revolution nicht in Schach halten, und seine Unterstützung des Krieges ließ die Konservativen am Hof, im Offizierskorps und beim Klerus das Gerücht verbreiten, die Liberalen wollten Italien den verhassten Piemontesern in die Hände spielen. Mit Pius’ Allokution im Rücken konnten Priester und Mönche dem konterrevolutionären Arsenal auch noch das religiöse Element beifügen: Die Liberalen, so erklärten sie, würden sich dem Papst widersetzen. In Anbetracht der vergifteten Atmosphäre überrascht es wohl kaum, dass bei den Parlamentswahlen nur ein Fünftel der zugelassenen Wähler an die Urnen ging. Parlamentseröffnung sollte am 15. Mai sein, und die Mehrheit der Deputierten, die in Neapel eintrafen, um ihre Sitze einzunehmen, waren Gemäßigte, hinzu kamen eine lautstarke Minderheit von Radikalen und ein Rest Konservative. Man bezweifelte die Lauterkeit des Königs, und die allgemeine Radikalität erfuhr noch Verstärkung, als Anhänger des Königs in der Stadt eintrafen, darunter Truppen der Nationalgarde. Als der König vom Parlament den Eid verlangte, dass es die bestehende Verfassung beibehalten werde, und 12 000 Soldaten in der Innenstadt zusammenzog, wurden Barrikaden errichtet. Gemäßigte versuchten vergeblich, die Radikalen zur Zurückhaltung zu bewegen, und auch der König war inzwischen entschlossen, die Revolution gewaltsam zu zerschlagen.115
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Am Morgen des 15. Mai wurden die ersten Schüsse abgegeben, die rote Flagge des Ausnahmezustands flatterte auf der Festung Sant’Elmo, und Ferdinands Truppen – darunter Schweizer Garde und Artillerieeinheiten – bewegten sich die Via Toledo hinunter. In Nahkämpfen, bei denen die Schweizer den Angriff führten, wurden die Barrikaden durch Kanonenfeuer zerbombt, bevor die Rebellen getötet oder mit Bajonetten zurückgedrängt wurden. Auf beiden Seiten der breiten Straße brachen die Soldaten in Häuser ein und räumten die Zimmer und Dächer. Um 15 Uhr versuchte ein Ausschuss von siebzig Delegierten vom Sitz der Stadtverwaltung in Monteolivieto aus, den Widerstand zu organisieren. Die Soldaten schlugen sich den Weg frei und nahmen um 19 Uhr die Stadtverwaltung ein. Lord Napier, der britische Gesandte, war Zeuge der Kämpfe und berichtete, dass etwa zweihundert Soldaten getötet und vierhundert verwundet wurden, in der Hauptsache die Schweizer. Aufseiten der Aufständischen sei die Zahl der Toten nicht zu ermitteln gewesen, aber sechs- oder siebenhundert wurden gefangen genommen. Nach Napier »besteht kein Zweifel daran, dass etliche unschuldige Personen und sogar einige Frauen und Kinder den Soldaten bei ihrem ersten Eindringen in das Innere der Häuser zum Opfer fielen. Die neapolitanischen Truppen verübten im Lauf des Abends und der Nacht Exzesse, erpressten Geld durch Androhung von körperlicher Gewalt und verwundeten und beleidigten sogar friedliche Menschen mutwillig.« Manche Gefangenen wurden kurzerhand erschossen und hinter den königlichen Truppen hielten die gefürchteten Armen der Stadt Einzug – die lazzaroni. Als die Macht des Königs im Januar zusammenbrach, hatten sie sich zurückgehalten, doch jetzt nutzten sie die Zerstörung und plünderten die von Schüssen durchsiebten Häuser. Sie bekundeten dem König ihre Loyalität, entwaffneten die Nationalgardisten, paradierten, die weiße Flagge der Bourbonen schwenkend, durch die Straßen und riefen »Lang lebe der König!« sowie – in einer unzweideutigen Zurückweisung der italienischen Einheit – »Tod der Nation!«. Am 17. Mai löste Ferdinand das Parlament mit der Begründung auf, Abgeordnete hätten einen »Ausschuss der nationalen Sicherheit« gegründet, um das Land in den Bürgerkrieg zu stürzen.116 Die Reaktion in Neapel hatte Folgen für die süditalienische Beteiligung am Unabhängigkeitskrieg. General Pepe, dessen Truppen sich an der Straße zum Po aufreihten, war in Bologna, als er von der Gegenrevolution des 15. Mai
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erfuhr. Von der neapolitanischen Regierung erhielt er den Befehl, nach Neapel zurückzukehren; Pepe, verärgert über die offensichtliche Freude, mit der sein Vorgesetzter, General Statella, die Nachricht überbracht hatte, legte sein Kommando nieder und überließ es Statella, den unbeliebten Befehl auszuführen. Schon witterten die Patrioten von Bologna den bevorstehenden Rückzug der Neapolitaner, und die Nationalgarde der Stadt sammelte sich um Pepe. Mit der Hand am Heft gelobten sie: »Dieses Schwert ist für Euch, italienischer General.« Gerührt packte Pepe sein eigenes Schwert und rief: »Dieses hier wird für Italien sein, solange ich lebe!« Mit Bologna im Aufruhr nahm Pepe sein Kommando wieder auf, Statella fühlte sich zum Rücktritt verpflichtet. Pepe widerrief den Befehl zum Rückzug, doch letztlich waren nur zweitausend Soldaten der ursprünglichen Streitmacht bereit, sich dem Befehl des Königs zu widersetzen. Am 17. Juni überquerte der furchtlose General schließlich den Po und startete seinen Befreiungsmarsch auf Venedig.117 Trotz der Begeisterung der italienischen Patrioten hatte der Krieg einen schlechten Verlauf genommen. In der ersten Schlacht drängten die Piemonteser am 8. April bei Goito die Österreicher zurück, überquerten den Fluss Mincio und drangen in die Region vor, die vom Festungsviereck gehalten wurde. Doch der Sieg wurde ihnen leicht verdorben, als die österreichische Garnison flussabwärts in der Nähe von Genua die Kapitulation verweigerte. Karl Albert jedoch belagerte am 28. April eine der anderen Festungen, Peschiera, während der Rest seiner Truppen weitermarschierte, um Radetzky aus Verona zu vertreiben. Noch ein einziges Mal sollten die Piemonteser Ende des Monats bei Pastrengo siegen, dann bissen sie auf den Granit österreichischen Widerstands. Aufgrund der Falschinformation, dass die Einwohner von Verona zum Aufstand bereit seien, schickte Karl Albert seine Soldaten los, um die Festung, in der Radetzky sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, einzunehmen. Am 6. Mai erfolgte der Angriff, doch wurden sie durch die entschlossene Gegenwehr der Österreicher zurückgeschlagen. Nun würde der Krieg dadurch entschieden werden, ob Nugent es schaffte, sich mit Radetzkys Truppen zu vereinen; das aber hieß, die piemontesischen Kräfte hätten effizienter und besser daran getan, Nugent den Weg zu versperren. Die einzige Streitmacht, die ihn jetzt noch aufhalten konnte, waren die päpstlichen Divisionen, die unter Durando und Ferrari vom Süden her im Anmarsch waren. Die Soldaten bewegten sich schnell, erreichten den Fluss Piave im letzten Augenblick, wo sie eine Brücke gerade noch rechtzeitig verbrannten, bevor Nugents Vorhut eintraf. Der durchtriebene Nugent allerdings
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ließ Gepäck und eine Division als Lockvogel zurück und begab sich anschließend mit dem Rest seiner Einheiten auf einem Gewaltmarsch gen Norden, wobei er die römischen Truppen umging. Seine draufgängerischen Österreicher fielen daraufhin am 9. Mai bei Cornuda über die Freiwilligen von Ferrari her: Das Versprechen im Ohr, Durando sei im Sturmschritt auf dem Weg, kämpften die Freiwilligen den ganzen Tag über, die Verstärkung traf aber nicht ein. Allmählich schwanden die Freiwilligen dahin, doch in dem Versuch, Nugent erneut einzuholen, bestiegen Durandos Berufssoldaten, einschließlich der Schweizer, den Zug nach Vicenza. Dieses südwestliche Manöver öffnete den Raum zwischen den Österreichern und Venedig. Am 25. Mai verstärkte Nugents 18 000 Mann starke Truppe Radetzkys 51 000 Mann in Verona. Durandos Entschluss, Vicenza zu halten, drohte, die österreichischen Nachschublinien zu gefährden, doch Radetzky beschloss, dieses Problem nicht weiter zu beachten und stattdessen direkt gegen Karl Albert loszuschlagen. Zuerst fiel er über die tapferen toskanischen Verbündeten des Königs her, die sich am 29. Mai bei Curatone und Montanara erbittert wehrten: Einer der Freiwilligen war Giuseppe Montanelli, ein kleiner, bärtiger, durch und durch patriotischer Professor von der Universität Pisa, der neben seinen Studenten stand. Er kämpfte weiter, bis ihm Kroaten unter dem höhnischen Ruf »Viva Pio Nono!« (»Lang lebe Pius IX.!«) einen Durchschuss an der Schulter verpassten. Nach diesen zwei Gefechten war die Toskana in diesem Krieg aus dem Rennen. Am folgenden Tag wurde Radetzky in der zweiten Schlacht bei Goito abgewehrt, worauf die erschöpfte Garnison bei Peschiera aufgab. Dennoch zog Radetzky seine Truppen einfach nach Mantua zurück, ließ sie ein paar Tage ausruhen und führte dann einen Teil davon nach Osten, um Durando in Vicenza auszuschalten. Am 10. Juni stürmten die Österreicher die Stadt, und nach mehreren Stunden heftiger Kämpfe (bei denen Massimo d’Azeglio am Bein verwundet wurde) gab Durando auf. Seinen Männern wurde gestattet, mit allen militärischen Ehren die Stadt zu verlassen, sie hatten sich bis südlich des Po zu begeben und zu geloben, drei Monate lang nicht zu kämpfen. Nun konnten sich die Österreicher ganz darauf konzentrieren, Venedig unschädlich zu machen und die Piemonteser zu besiegen.118 Das Blatt schien sich zugunsten Österreichs zu wenden. Doch dann tauchte ein neuer Hoffnungsträger auf der Bühne auf: Giuseppe Garibaldi, der im Dienste der republikanischen Sache in Südamerika gekämpft hatte. Als sie die Nachrichten von der Revolution in Italien hörten, stachen er und dreiundsechzig weitere italienische Rebellen am 15. April vom Río de la
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Plata aus in See. Am 23. Juni kamen sie in Nizza an (damals zum Königreich Sardinien gehörig und Garibaldis Geburtsort), wo sich Garibaldi mit seiner aus Brasilien stammenden Frau Anita Ribeiro da Silva und den Kindern traf. Garibaldi reiste nach Genua weiter, um sich der Armee von Karl Albert – ebenjenes Mannes, der ihn 1834 zum Tode verurteilt hatte – anzuschließen und für das zu kämpfen, was der vom Matrosen zum Soldaten gewandelte Republikaner als nationale Sache betrachtete. »Ich machte mich auf den Weg nach Roverbella, wo sich sein Hauptquartier befand, um ihm meine Dienste und die meiner Kameraden anzubieten. Ich traf ihn und sah das Misstrauen, mit dem er mir begegnete; das Zögern und die Unentschlossenheit eines Mannes, dem Italiens Schicksal anvertraut worden war, machten mich traurig. Ich hätte den Befehlen des Königs genauso Folge geleistet, wie ich es in einer Republik getan hätte … Karl Alberts Stellung als König, die Umstände der Zeit und der Wunsch der Mehrheit der Italiener – all das bewog ihn, sich an die Spitze des Loslösungskriegs zu stellen, eine Rolle, für die er nicht geeignet war. So wusste er nicht, wie er die riesigen Streitkräfte unter seinem Kommando einsetzen sollte; er war in der Tat der Hauptgrund für deren Zerstörung.«119 Ganz gewiss hatte der König Schwächen als Kommandeur, aber Garibaldis Urteil an dieser Stelle ist zu hart. Der Feldzug wurde auch deshalb verloren, weil der Gegenangriff der Österreicher gekonnt und entschlossen ausfiel, was zum Großteil dem alten Fuchs Radetzky zu verdanken war, obwohl ihn schon frühzeitig unklare Vorgaben aus Wien behindert hatten. Die politische Krise in der kaiserlichen Hauptstadt und die Unsicherheit über die Zukunft des restlichen Reichs ließen die Regierung anfänglich zögern, sich in großem Stil auf eine Kampagne in Italien einzulassen. Zudem gab es Minister, die der Meinung waren, die Habsburger sollten Italien als Ganzes aufgeben, da diese Region einen strategischen Schwachpunkt darstelle. Graf Ficquelmont und die Mehrheit waren dennoch nicht an einem solchen Rückzug interessiert, weshalb sich Wien im Februar für eine zweigleisige Politik entschied: zum einen diplomatische Verhandlungen mit der Lombardei, der im Gegenzug zur Anerkennung der habsburgischen Krone Autonomie angeboten wurde, zum anderen die Rückeroberung von Venedig. Am 11. Juni befahl der österreichische Außenminister Johann Freiherr von Wessenberg, »den kostspieligen Krieg in Italien« zu
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beenden, und zwar durch einen Waffenstillstand, basierend auf einer lombardischen Unabhängigkeit – nicht jedoch Venedigs, das zum großen Teil zurückerobert worden war. Radetzky war trotzdem überzeugt, dass sich die Situation vor Ort zu seinen Gunsten entwickeln würde: »Wir sind tief gesunken, aber, bei Gott, noch nicht so tief, dass wir Befehle von Casati entgegennehmen müssten.«120 Radetzky missachtete die Order und weigerte sich, Verhandlungen zu führen. Schließlich zog er in Wien einige Falken, darunter den Kriegsminister Latour, auf seine Seite. Radetzkys Argumente und Latours Rückendeckung führten nun zu einem Umschwung in der Regierung: Ende Juni erteilte sie dem Feldmarschall den Befehl, schnell auszurücken, Karl Albert aus der Lombardei zu vertreiben und die rebellischen Untertanen Norditaliens zum Gehorsam zu zwingen.
V Eines der zentralen Probleme des Nationalismus im Jahr 1848 war – wie heute auch –, dass er schwierige Fragen über das Verhältnis der Nationalitäten untereinander und das Verhältnis zwischen nationalen Forderungen und politischen Freiheiten aufwarf. Im Fall der jüdischen Emanzipation waren sie sogar gar nicht zu trennen. In den verschiedenen nationalen Entwürfen gab es zunächst einmal Platz für eine jüdische Minderheit im neu zu schaffenden liberalen Staat (zumindest auf dem Papier). So lautet denn auch das Argument dagegen, die deutsche Geschichte als einen Strom zu betrachten, der unaufhaltsam auf die nationalsozialistischen Gaskammern zuströmt, dass 1848 der deutsche Nationalismus trotz gewisser Unterströmungen nicht direkt zum Antisemitismus führte. Viele deutsche Staaten hatten den Juden Jahrzehnte zuvor die vollen bürgerlichen Rechte eingeräumt (Preußen etwa 1812). Der Umstand, dass Eduard Simson, der Nachfolger Heinrich von Gagerns auf dem Präsidentenstuhl des Frankfurter Parlaments, ebenso wie der Vizepräsident Gabriel Riesser Juden (oder jüdischer Herkunft) waren, beweist das Fehlen der üblichen Vorurteile unter den Abgeordneten – und dabei war Riesser ein lautstarker Befürworter der jüdischen Rechte. Die deutschen Juden in Böhmen zeichneten sich ebenfalls dadurch aus, dass sie gegen die Tschechen für die deutschen Belange in Böhmen eintraten: Ignaz Kurunda etwa war Verleger des Grenzboten, einer Zeitschrift, die in ihren Äußerungen besonders für den deutschen Nationalismus eintrat.121 Die deutsche Verfassung
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Im Fokus des liberalen Deutschland: Die Eröffnung der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 18. Mai mit Philipp Veits Darstellung der Germania, die die Abgeordneten mahnen sollte. Den Vorsitz hat Heinrich von Gagern.(akg-images)
schaffte mit Artikel 13 des Abschnitts »Grundrechte« die Bindung der bürgerlichen Rechte an die kirchliche Zugehörigkeit ab, was die jüdische Emanzipation einen großen Schritt voranbrachte. Bei der Debatte über diesen Artikel tappte ein Liberaler, Moritz Mohl, in ein klassisches antisemitisches Fettnäpfchen, als er sich beklagte, dass die Juden aufgrund ihrer internationalen Beziehungen nie vollständig in das deutsche Volk integriert werden könnten. Man solle ihnen, so Mohl, die politischen Rechte nicht nehmen, doch solle das neue Reich die Vollmacht haben, per Gesetz ihre wirtschaftlichen Aktivitäten so zu regulieren, dass die Juden vom »Wucher« weg in die Landwirtschaft und andere gesunde Berufstätigkeiten gelockt werden könnten. Bezeichnenderweise wurde Mohls Rede durch Zurufe von allen Seiten der Kammer unterbrochen, sein Antrag fand nur sehr wenig Unterstützung. Als sich Riesser (der Mitte-links angesiedelt war) erhob, um sofort darauf zu antworten, erhielt er Rückendeckung von einem katholischen, Mitte-rechts gerichteten Abgeordneten aus Preußen, einem katholischen Juristen aus Hessen und dem protestantischen
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Sprecher der verfassunggebenden Versammlung des Parlaments. Und das war keine Ausnahme: Die Unterstützung der jüdischen Emanzipation zog sich quer durch alle konfessionellen und politischen Richtungen.122 Das soll allerdings nicht heißen, dass die deutsche Gesellschaft keinen Antisemitismus kannte, im Gegenteil: Die jüdische Bevölkerung in Deutschland, die eine halbe Million umfasste, wurde immer wieder von Arbeitern und Bauern angegriffen, deren Motive sich sowohl aus religiösen Vorurteilen speisten als auch dem wirtschaftlichen Elend geschuldet waren. Im süddeutschen Raum etwa wurden in achtzig Städten jüdische Geschäfte angegriffen,123 da man glaubte, die Juden würden die Kunden mit hohen Preisen betrügen (obwohl in Wirklichkeit die Agrarkrise die Ursache war) und als Geldverleiher zahlungsunfähige Bauern mit Strafzinsen belegen. Diese Gewalt wurde aber durch die liberale Meinung in Frankfurt nicht befördert; so lautete denn auch einer der Vorbehalte dem Artikel 13 gegenüber nicht, dass dieser selbst falsch wäre, sondern die fehlende Akzeptanz bei der weniger aufgeklärten Bevölkerung. Der Abgeordnete, der diese Bedenken erhob – ein katholischer Priester namens Georg Kautzer – begrüßte den Artikel dennoch und versicherte, dass die jüdische Emanzipation einen Prozess in Gang setzen würde, der dem Abbau von Vorurteilen diene.124 In der habsburgischen Monarchie waren Juden per Gesetz diskriminiert, dazu gehörten etwa die Zahlung einer Sondersteuer als Gegenleistung für ihre »Tolerierung« im Kaiserreich sowie das Verbot, Grundeigentum zu besitzen. In Wien etwa war es nur ortsansässigen Juden erlaubt, ein Geschäft zu betreiben, alle anderen durften sich nur drei Tage am Stück in der Hauptstadt aufhalten. So überrascht es nicht, dass sich viele Juden in der Hauptstadt an die Spitze der Revolution stellten: Adolf Fischhof, der junge Arzt, dessen temperamentvolle Rede am 13. März die Wiener begeistert hatte, war Jude; er wurde zu einem der führenden Köpfe der Revolution und Präsident des Sicherheitsausschusses, der nach dem Aufstand vom 15. Mai eingerichtet wurde. Dennoch spotteten die Wiener über die revolutionären Aktivitäten seiner Glaubensgenossen, denn viele sahen in den Juden noch immer Wucherer und Hausierer. Auf Flugblättern erschienen denn auch heftige antisemitische Entgegnungen auf jüdische Eingaben zur Emanzipation, und als Arbeiter im Zuge der Märzrevolution die Industrievorstädte in Brand setzten, wurden jüdische Geschäfte angegriffen. Doch auch in anderen Städten war das Leben von Juden bedroht: So verhinderte nur das rechtzeitige Eintreffen der studentischen Miliz in Raab ein ausgewachsenes Pogrom. In Prag hatte das Ende der Zensur der Straße eine Flut von antisemitischer Propaganda gebracht, die wiederum während des Frühlings
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Angriffen seitens der Arbeiter auf jüdische Händler Vorschub leistete. Ihren Höhepunkt fanden diese am 1. und 2. Mai, als es zu Krawallen gegen jüdische Ladenbesitzer kam, denen man eine Überteuerung der Waren vorwarf.125 Verständlicherweise verbarrikadierten die Bewohner des jüdischen Ghettos in Prag bei Ausbruch des Juniaufstands ihre Straßen nicht zur Unterstützung der Revolte, sondern um im Kampf zwischen Revolution und Gegenrevolution die jüdische Neutralität zu wahren. So verbreitet war der Antisemitismus in Österreich, dass Franz Freiherr von Pillersdorf, dessen Erstversion der Verfassung vom 25. April allen Einwohnern die freie Religionsausübung garantierte, von den niederösterreichischen Landständen gedrängt wurde, diese Regelung auf die christlichen Konfessionen zu beschränken, und zwar »nicht aus Prinzip, sondern wegen der allgemeinen Stimmung«.126 Man überließ es dem Parlament, eine Entscheidung über die Rechte der Nichtchristen zu treffen, jedoch stellte sich heraus, dass dieses zu kurzlebig war, um sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Als die Verfassung durch die Reaktion verrissen wurde, blieben die Gesetze zur Religionstoleranz zwar erhalten, die Juden aber waren weiterhin ausgeschlossen und mussten bis 1868 warten, um in Österreich von allen Beschränkungen befreit zu werden. In Ungarn versäumte man in den Aprilgesetzen die Befreiung der jüdischen Bevölkerung, hier spiegelte sich die Angst der Elite vor einer allgemeinen Antisemitismuswelle wider, die das Land im Frühling 1848 überflutet hatte – die Gewalt der Arbeiter richtete sich gegen jüdische Gebäude, was die Obrigkeit zwang, zum Schutz ihrer Besitzer die Nationalgarde einzusetzen. Auslöser war ein Antrag im ungarischen Landtag vom 21. März gewesen, bei Kommunalwahlen jedem, der wohlhabend genug war, ohne Rücksicht auf seine Religion das Wahlrecht zu erteilen. Die antisemitische Gewalt kam zuerst in Preßburg zum Ausbruch, wo Juden zusammengeschlagen und ihre Läden demoliert wurden. Von dort breitete sie sich auf andere Städte aus und erreichte im April ihren Höhepunkt. Die Folge war, dass die meisten Liberalen im Landtag – nach Kossuths Protesten – widerwillig zustimmten, die Emanzipation der Juden aufzuschieben, um die allgemeine Wut einzudämmen.127 Trotzdem kam es schon wenig später zu weiteren Ausbrüchen: am 19. April in Budapest, wo (wie durch ein Wunder) kein Toter zu beklagen war, wenn auch viele Verwundete, als »Angehörige der niedrigeren Stände, bewaffnet mit Stöcken, Messern und Äxten«, mit dem eindeutigen Ziel, sie aus der Stadt zu vertreiben, über die Juden herfielen. In Preßburg wurden ungefähr zehn Juden Opfer von Selbstjustiz und weitere vierzig verwundet. Auch wenn Batthyány und Kossuth ent-
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setzt waren, glaubten sie doch, dass nur weitere Konzessionen an den Pöbel Leben retten konnten: Laut Kossuth würde jedes weitere Drängen auf Emanzipation die ungarischen Juden zum Schlachthaus befördern. Am 25. April wurden deshalb die Juden vom Militärdienst »entschuldigt«. Damit aber wurde nur die Ablehnung vom 18. März rückgängig gemacht, bei der der radikalere Budapester Ausschuss für öffentliche Sicherheit eine antisemitische Forderung zurückgewiesen hatte, in der die Entlassung der Juden aus dem Militär gefordert worden war. Angeführt von Petöfi gründeten die Radikalen einfach ein spezielles Bataillon für die Juden. Sie beschuldigten die Deutschen (»die Handlanger der alten Ordnung«) und das Lumpenproletariat, hinter den antisemitischen Gewaltausbrüchen zu stehen. Dieses Urteil war Ausdruck der Scham und des Gefühls, dass die Pogrome die Revolution in Verruf brachten oder, wie Petöfi es ausdrückte, »Schmutz auf die jungfräuliche Fahne vom 15. März« warfen.128 Zwar stimmte es, dass bei Gewaltakten die Deutschen an der Spitze standen, doch es gibt keinen Beweis, dass der Antisemitismus einer gegenrevolutionären Motivation entsprang oder ausschließlich von der Unterschicht der städtischen Armen getragen wurde. Vielmehr hatte er wirtschaftliche Ursachen und wurde von durchaus angesehenen Mitgliedern der Handwerkerzunft vertreten, die die leise Zuwanderung von Juden in die Städte, das Errichten von Geschäften neben und in Konkurrenz zu den ungarischen und deutschsprachigen Rivalen übelnahmen. Die Juden sollten sich als äußerst loyal gegenüber der liberalen Regierung in Ungarn erweisen – so loyal, dass sie noch Jahre später von den Slawen mit einem ungezügelten ungarischen Liberalismus gleichgesetzt wurden. 1849 schließlich, als Juden zu denen gehörten, die für die ungarische Unabhängigkeit kämpften, sollte der Landtag seinen alten Idealen treu bleiben und sie vollständig befreien. Kossuth wollte keinen Unterschied zwischen Juden und anderen ethnischen Minderheiten in Ungarn: Sie würden sich mit ihrem Status als freie Bürger mit denselben Rechten wie alle anderen zufriedengeben; unter solchen Umständen hätten sie keine Sonderbehandlung als eigene nationale oder religiöse Gruppierung nötig. Nach Kossuth sollten sich die Juden auf ihre eigene Emanzipation vorbereiten, indem sie akzeptierten, dass ein Leben unter eigenen Institutionen, die nach mosaischem Gesetz regiert werden, im Grunde genommen integraler Bestandteil ihrer Identität sei.129 Das war im Übrigen auch die deutsche Ansicht, aber die jüdische Emanzipation und Assimilation in einem liberalen Staat schuf so etwas wie eine Krise in ihren eigenen Gemeinden, wo traditionelle Juden fürchteten, dass ihre Eigenheiten immer mehr verloren gingen.130
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Das Jahr 1848 brachte somit einen der großen Zielkonflikte des modernen liberalen Staates ans Licht: Sollten ethnische oder religiöse Minderheiten dazu verpflichtet werden, sich voll und ganz in die politische Ordnung einzufügen und sich im öffentlichen Leben jeder eigenen Identität, außer der, ein Bürger zu sein, zu enthalten? Oder sollte der Staat auf einem Pluralismus (oder Multikulturalismus) ruhen, der allen Gruppierungen erlaubte, ihre Eigenart bedingungslos auszuleben, allerdings unter der Vorgabe, dass gegenseitiger Respekt und Rechtsstaatlichkeit garantiert würden? Die Antwort darauf ist nicht einfach, denn erstere Möglichkeit birgt die Gefahr, dass rücksichtslos über religiöse und ethnische Sensibilitäten hinweggegangen wird, die zweite dagegen das Schreckgespenst einer zersplitterten Gesellschaftsordnung. Die französischen Republikaner hegten da keine Zweifel: Seit der Emanzipation der Juden im Jahr 1791 waren auch sie Bürger der neuen Republik. Trotzdem flackerte der Antisemitismus immer wieder auf, etwa im traditionell dafür bekannten Elsass. 1848 war das in Frankreich die Ausnahme, hier aber sahen Bauern und Arbeiter in den Juden eine starke Konkurrenz und verdächtigten sie des Wuchers. Dazu kam, dass im Grenzgebiet die Menschen besonders reizbar reagierten, sahen sie doch die Leichtigkeit, mit der Nahrungsmittel noch immer exportiert wurden131 – woran man den Juden ungerechterweise die Schuld gab. Anfang März plünderten und brandschatzten Bauern aus dem Oberelsass jüdische Häuser und Synagogen und zwangen ihre Besitzer, in der Schweiz Zuflucht zu suchen. In Altkirch gab es Beweise dafür, dass die örtlichen Honoratioren wegschauten und sogar aktiv zu den Gewalttaten ermutigten. Einem der jüdischen Oberhäupter zufolge, war der Hauptgrund »schlichtweg religiöses Vorurteil und Verdruss über Wucherei, nichtsdestotrotz fielen in dem kleinen Ort Oberdorf Bauern über Juden her, obwohl sie dort fast alle mittellos waren … außerdem begannen die Angriffe überall bei den Synagogen, obwohl die Synagogen nichts mit Handel oder Wucher zu tun haben. Was die meisten Einwohner hier betrifft, kann alles auf eine Frage der Religion reduziert werden: Die Leute hier sind eher Katholiken oder Protestanten als Republikaner, Philippisten [d. h. Orléanisten] oder Legitimisten.« Eine Gruppe von jüdischen Flüchtlingen in Porrentruy appellierte erfolgreich an die republikanischen Werte des neuen Regimes: »Wenn es jemals eine Zeit für Toleranz und gesetzlichen Schutz der Religion ebenso wie Respekt vor Men-
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Verkündung der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien am 23. April 1848. Gemälde von François Auguste Biard 1849. (Bridgeman Art Library)
schen und Eigentum gab … dann ganz gewiss jetzt, wo die Nation sich gerade frei und von sich aus zu einer Republik gebildet hat.« Adolphe Crémieux, der neue Minister für Justiz und Religion, versprach den jüdischen Flüchtlingen denn auch materielle Hilfe und die Verfolgung der Urheber »solch brutaler Anschläge«. Dem Beauftragten der provisorischen Regierung in Colmar schrieb er: »Ich bin bestürzt darüber, dass in Frankreich, im alten Elsass, einem Ort so patriotisch, dass es dort genug erbärmliche Leute geben soll, die Bürger angreifen, deren einziges Verbrechen es ist, Juden zu sein.« Den Juden versprach er Gerechtigkeit vor Gericht und den Einsatz der Armee, denn »die Regierung will nichts lieber, als das Eigentum und das Leben der Bürger schützen«. Die Einheit, die die antisemitische Gewalt in Altkirch eindämmte, stand unter dem Kommando eines gewissen Louis Eugène Cavaignac, eines Generals, der tadellose republikanische Referenzen vorweisen konnte, aber im Sommer traurige Berühmtheit erlangen sollte.132 Die meisten Revolutionen wollten den Juden die gesellschaftliche Gleichberechtigung garantieren, und auch in den Kolonialreichen war das nicht anders.
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Dort stellte der wichtigste Meilenstein die endgültige Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien. Sklaverei war schon einmal als illegal verboten worden – 1794 durch die Erste Republik –, aber Napoleon Bonaparte hatte sich den Interessen der Plantagenbesitzer in den französischen Karibikkolonien gebeugt und versucht, sie 1802 wieder einzuführen. Auf den Inseln Guadeloupe und Martinique war er erfolgreich gewesen, auf Haiti jedoch, wo die freigelassenen Sklaven siegreich um ihre Unabhängigkeit kämpften, scheiterte er auf ganzer Linie. Mit dem revolutionären Haiti (und den Britischen Inseln, wo die Sklaverei 1833 abgeschafft worden war) als Beispiel ließ sich das Fortbestehen dieser Institution in den übrigen französischen Kolonien den Kritikern gegenüber deshalb nicht mehr so einfach rechtfertigen. Unter der Julimonarchie, in der Sklaverei als »Eigentumsrecht« erhalten geblieben war, hatten Republikaner wie Victor Schoelcher und Ledru-Rollin die Abschaffung der Sklaverei zu ihrer Sache gemacht. Schoelcher wurde in der Zweiten Republik Marineminister und trug dadurch die Verantwortung für die überseeischen Departements. Am 27. April beförderte er das Dekret, das die Sklaven des französischen Reiches befreite: 87 000 auf Guadeloupe, 74 000 auf Martinique. Diese Menschen schlossen sich den kolonialen Eliten aus Weißen und freien Schwarzen (die trotz Bildung und relativem Wohlstand Rassendiskriminierung erfuhren) an und wurden offiziell zu Bürgern Frankreichs, samt Wahlrecht. Bei den ersten Wahlen stand Schoelcher auf beiden Inseln auf Platz eins der Kandidatenliste – und erhielt alle sechs Sitze.133 Auch die Dänen und Schweden hoben in ihren karibischen Kolonien die Sklaverei auf (Schweden besaß 1848 noch Saint-Barthélemy), dennoch gab es keine ernsthaften Überlegungen, das Kolonialreich ganz aufzugeben. Das holländische Parlament hatte zwar eine gewisse Kontrolle über die Kolonien, doch blieb der Handel Monopol der Krone. Algerien indessen blieb französische Kolonie. (Zum ersten Mal war es 1830 vom letzten Bourbonenkönig Karl X. besetzt worden, der sich mit einem Überseeabenteuer allgemeine Sympathien erwerben wollte.) Und während man den europäischen Kolonisten das Recht zum Urnengang verlieh, blieb es der einheimischen Bevölkerung vorenthalten. Doch der »Völkerfrühling« wies noch eine weitere große Einschränkung auf – das war die mangelnde Emanzipation der Frauen. Nirgendwo in Europa erhielten sie das Wahlrecht, was hauptsächlich daran lag, dass es ein hartnäckiges Vorurteil dagegen nicht nur unter den meisten Männern, sondern auch unter vielen Frauen gab, die die üblichen Geschlechterrollen verinnerlicht hat-
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ten. Mitte des 19. Jahrhunderts hielt die europäische Gesellschaft daran fest, dass die Frau für die häusliche Sphäre geschaffen sei: Sie war die Erzieherin der Kinder, züchtige Hausfrau und »Bewahrerin des Herdes«. Man glaubte sie unter männlicher Autorität, sei es durch ihren Vater oder ihren Ehemann, am ehesten geschützt. Die Politik blieb besser Sache der Männer, die angeblich vernunftbetonter als Frauen waren und somit besser disponiert für das öffentliche Leben − eine Arena, der Frauen nicht zustreben sollten. In dieser Hinsicht typisch, selbst für den linken Flügel der Revolutionäre, war der Mainzer Demokrat Ludwig Bamberger, der sich gegen die »parfümierte Sklaverei« der Frauen aussprach, jedoch fragte: »Wer möchte schon Unterschiede auslöschen, die in der Natur liegen?« Jedes Geschlecht, so argumentierte er, solle nur »seiner Natur entsprechend« einbezogen werden.134 Selbst von den wenigen Stimmen, die sich für die Emanzipation der Frauen aussprachen, konnte man nicht behaupten, dass sie voll und ganz hinter der Gleichberechtigung der Geschlechter standen. So erklärte ein hessischer Demokrat: Den Frauen das Stimmrecht vorzuenthalten, sei gleichbedeutend damit, ihnen die Freuden des »Kochens, Nähens, Strickens, Stopfens, Tanzens und Spielens« zu verwehren.135 Dennoch nahmen Frauen auf ganz unterschiedliche Weise am politischen Geschehen der Revolution teil. So beteiligten sie sich fast überall – unabhängig von ihrer Herkunft − unterstützend an den Straßenkämpfen im Februar und März. Frauen der Arbeiterklasse nahmen sogar an späteren Aufständen teil: im Juni in Paris und Prag sowie bei den Erhebungen der Radikalen 1849 im Rheinland. In Paris halfen Frauen beim Bau der Barrikaden, brachten den Kämpfern Essen, Botschaften und Munition − oftmals indem sie diese in ausgehöhltem Brot oder in Milchkannen versteckten. Die Bilder von französischen Frauen, die mit der Fahne in der Hand auf den Barrikaden standen, sind kein Mythos: Zwei Pariserinnen wurden von der Nationalgarde niedergemetzelt, als sie am 23. Juni 1848 genau das taten. Auch die Barrikadenfrauen in Prag hinterließen einen bleibenden Eindruck − als Symbole für den Heroismus und die Opfer der slawischen Frauen. Darüber hinaus agierten Frauen als wichtige Berichterstatterinnen der Ereignisse oder verfassten einflussreiche Kommentare über die Umstürze: Zum Beispiel verfasste Marie d’Agoult unter dem Pseudonym Daniel Stern eine Geschichte der 1848er-Revolution in Frankreich, die bis heute eine wichtige Quelle darstellt; Fanny Lewald schrieb eine Reihe bedeutender Briefe über die Revolution; in Italien wurde die amerikanische Journalistin Margaret Fuller faktisch zum ersten Kriegskorrespondenten der Vereinten Staaten, als sie für
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Horace Greeleys New York Tribune über die Ereignisse in Rom berichtete.136 In Paris gründete die Sozialistin Eugénie Niboyet eine feministische Zeitschrift mit dem Titel La Voix des femmes (»Die Stimme der Frauen«). Oder die tschechische Schriftstellerin Božena Němcová: Sie sprach vom Los der Armen, verurteilte den Antisemitismus, kritisierte den deutschen Nationalismus und drängte auf die Gleichberechtigung der Frauen durch Bildung: »Die Frauen sind hinter der Zeit zurück, hinter dem Banner der Freiheit und Kultur. Lasst uns das bekennen, ohne Scham, denn die Schuld daran haben nicht wir, sondern diejenigen, die die Bildung der Menschen vernachlässigten und die Unterweisung des weiblichen Geschlechts voll und ganz dem Zufall überließen.«137 So sprachen politisch engagierte Schriftstellerinnen, nicht aber distanzierte Beobachterinnen. Frauen riefen auch politische Vereinigungen ins Leben oder traten ihnen bei. In Paris erkannte die »Brüderliche Gesellschaft beider Geschlechter« Männer und Frauen als gleichberechtigt an, während der »Club zur Befreiung der Frauen« und die »Union der Frauen« nachdrücklich für die Rechte der Frauen einstanden − im Allgemeinen nicht für die politische Emanzipation, sondern für Erziehung und Bildung, Scheidung, Kontrolle über ihr eigenes Vermögen − sowie für ein Netz von Werkstätten, die erwerbslosen Frauen wie Männern Arbeit boten. Inzwischen ließen radikale Vereinigungen wie der »Club der Montagnards« und Adolphe Blanquis »Zentrale republikanische Gesellschaft« ebenfalls Frauen zu, wobei die meisten sozialistischen Clubs ihnen zwar Anwesenheit gestatteten, nicht aber ein Rederecht. Zwischen 1849 und 1851 spielten in Frankreich Frauen bei der Verbreitung der radikalen Propagandaschriften auf dem Land eine Rolle, indem sie ihre Wohnräume als Versammlungsorte für die Radikalen zur Verfügung stellten oder den Analphabeten die Zeitschriften des linken Flügels vorlasen. Tausende von deutschen Frauen sammelten Geld für eine deutsche Marine und in Städten wie Berlin, Mannheim und Mainz wurden eigens Frauenvereine gegründet. Im Rheinland ließ man Frauen ab dem Sommer 1848 in manchen demokratischen Vereinen zu, in ländlichen Gebieten besuchten sie Massenveranstaltungen in großer Zahl. Im Mai 1849 gründete Kathinka Zitz-Halein in Mainz den »Humania-Verein für vaterländische Interessen«, weil Bambergers »Demokratische Gesellschaft« Frauen keine Redeerlaubnis erteilte. Ihre Absicht war es, während der Erhebung der Radikalen im Sommer »bedürftige Patrioten« mit Geld, Kleidung, Verbänden und Krankenpflege zu versorgen. Ähnliche Organisationen entstanden in Sachsen, Nassau, Frankfurt und Heidelberg. Prager Bürgerinnen gründeten den »Verein
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Politischer Verein in Berlin. Frauen sind eindeutig von der Teilnahme ausgeschlossen: Sie müssen von der Gallerie aus zusehen. (akg-images)
der slawischen Frauen«, um die weibliche Erziehung zu fördern; er organisierte im August 1848 zwei öffentliche Veranstaltungen, um gegen die militärische Besetzung der Stadt durch die Österreicher zu protestieren. Auf der zweiten wurde eine Delegation nach Wien entsandt, die für die Freilassung einiger politischer Gefangener, die seit der Revolte im Juni einsaßen, sorgen sollte. Erscheinen diese Aktivitäten aus heutiger Sicht, wenig an der Ungleichheit zu verändern, wurden sie von konservativen Zeitgenossen doch als gefährlich betrachtet. Am 17. Mai 1849 erließ die österreichische Regierung ein Gesetz, das innerhalb des Habsburgerreiches Frauen in den Vereinen und Gesellschaften jegliche politische Betätigung verbot. Es war sogar illegal, politischen Zusammenkünften als stille Beobachterin beizuwohnen. Manche Frauen gingen sogar soweit zu versuchen, sich bei Wahlen aufstellen zu lassen. Im Mai 1849 bemühte sich in Paris Jeanne Déroin für die Sozia-
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Zur Rolle der Frau – die heroische Variante: »Episode aus den fünf Tagen Mailands auf der Piazza Sant’Allessandro« von Carlo Stragliati. Museum del Risorgimento, Mailand. Mailänder Frauen riskieren ihr Leben, um den Aufstand zu unterstützen. (www.immaginidistoria.it)
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Zur Rolle der Frau – die satirische Variante: Die sozialistischen Frauen – eine ironische Betrachtung von Honoré Daumier über die Weigerung der demokratischen Sozialisten, Jeanne Déroin bei den Wahlen vom Mai 1849 zu unterstützen. In der Bildlegende ist zu lesen: »Die Abgeordneten des Club central socialiste haben einstimmig die Kandidatur von Jeanne Déroin abgelehnt!« »Oh! Die Aristokraten! ...« (Bridgeman Art Library)
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listen um eine Kandidatur, doch die Regierung erklärte diese für verfassungswidrig und warnte, dass keine der für sie abgegebenen Stimmen zählen würde. Auch wenn ihre Unterstützer unter den Republikanern des linken Flügels sogleich zurückruderten, war dies doch ein symbolträchtiger Augenblick in der französischen Geschichte. Die berühmte Schriftstellerin George Sand argumentierte indessen eher reformerisch: Im April 1848 ließ sie verlauten, dass Frauen eines Tages politisch beteiligt würden, zuerst aber müsse sich die Gesellschaft ändern. Doch bis das geschehe, seien Frauen zu sehr auf eine Heirat angewiesen und durch Gesetze, die die männliche Autorität innerhalb der Familie wiederherstellten, zu unterdrückt, um sich wirklich unabhängig auf dem Feld der Politik zu bewegen. Aus diesem Grund erteilte sie Bewunderern, die sie bei den bevorstehenden Wahlen als Kandidatin hatten vorschlagen wollen, eine Abfuhr. Aufgabe der Zweiten Republik sei nicht, den Frauen das Stimmrecht zu verleihen, so führte sie aus, sondern die Stellung der Frauen innerhalb der Familie zu verbessern138 – ein seltsames Argument für jemanden, der eng mit Ledru-Rollin, dem Innenminister der Republik, zusammenarbeitete.
VI Es scheint, dass die Ereignisse von 1848 den europäischen Liberalen eine beispiellose Gelegenheit boten, ihre lang gehegten Ziele von nationaler Einheit und Unabhängigkeit zu verwirklichen. Mehr noch, der plötzliche Zusammenbruch der alten Ordnung gab einigen Nationen erstmalig die Gelegenheit, ihrem Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen. Doch die verschiedenen Nationalitäten waren sowohl durch innere Verwerfungen als auch Konflikte untereinander gespalten. Ersteres war etwa in Italien überdeutlich, wo viele Patrioten weniger um die nationale Einheit als um die Freiheit ihres eigenen Staates kämpften: Venedig, die Lombardei, die Toskana, Sizilien und andere. Und die Loyalität konnte sogar noch begrenzter sein: So sahen die Bewohner der kleinen und großen Städte der terra firma in Venetien die Dominanz Venedigs mit Misstrauen, ja mit Feindseligkeit. In der Toskana war Livorno, die Hafenstadt, schlecht auf Florenz, die Hauptstadt, zu sprechen, was später zu Unruhen führen sollte. Campanilismo (die Liebe zu seinem eigenen campanile oder Glockenturm) – war das Gebot der Stunde; im Vergleich dazu nahm sich eine breitere »italienische« Identität viel abstrakter aus. Darüber hinaus waren die
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Fürsten der italienischen Staaten gegen jedwede Einheit, die ihre dynastischen Interessen untergraben hätte. Doch allein sie hielten den entscheidenden Trumpf in der Hand: Soldaten, die es Karl Albert erlaubten, den Revolutionären die Bedingungen zu diktieren, und die andere Herrscher je nach Interessenlage zur Verfügung stellten oder abzogen. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die polnischen Radikalen, die sich im Exil ein geeintes, demokratisches Polen vorgestellt hatten, stießen auf den pragmatischeren und weniger ambitionierten Provinzialismus der patriotischen Bewegung Posens und Galiziens. Die polnische Elite an der Spitze der nationalen Bewegung hatte auch ihre eigenen sozialen Interessen zu verteidigen und die Vorstellung, ihrer Sache sei am ehesten gedient, wenn sie zunächst mit den preußischen und österreichischen Machthabern auf eine Reform hinarbeitete, bevor sie versuchen würde, Polen wieder zusammenzufügen. Selbst in Deutschland, wo der Nationalismus viel weiter verbreitet war, besaßen die Liberalen wenig oder keine Erfahrung mit der Arbeit auf nationaler Ebene. In der deutschen Gesellschaft waren die Einzelstaaten tief im Bewusstsein verwurzelt, und die Revolutionäre trugen vielerlei Loyalitäten, was Staat und Region anging, mit sich herum, was wiederum 1848 ihre Vorstellungen zu den Themen von nationaler Tragweite prägte.139 Die »Achtundvierziger« wurden zudem mit der Tatsache konfrontiert, dass ihre eigenen nationalen Erwartungen mit denen anderer ethnischer Gruppen in Konflikt standen, ob es sich nun um Nachbarvölker handelte oder um Minderheiten innerhalb ihrer angenommenen Staaten. Kamen diese ans Licht, fiel es den Revolutionären sehr schwer, die »nationale Frage« unabhängig von ihren eigenen nationalen Interessen her zu betrachten. Selbst Karl Marx’ intellektueller Partner Friedrich Engels argumentierte 1852, dass Böhmen »künftig nur mehr als ein Bestandteil Deutschlands existieren könne«, und wies jegliche Vorstellung einer tschechischen Nationalität als »im Absterben nach allen bekannten Tatsachen ihrer Geschichte in den letzten vierhundert Jahren« begriffen zurück.140 Engels ließ sich von der Vorstellung leiten, dass die Slawen des österreichischen Kaiserreichs im Grunde genommen Konterrevolutionäre seien, weil sie sich im Falle eines Interessenkonfliktes mit den Deutschen oder Ungarn an die Habsburger um Unterstützung wandten. Dagegen sympathisierte er mit den Polen und verurteilte im selben Artikel den Hohn, den 1848 die Preußen mit ihnen getrieben hatten, doch der Verkünder des Kommunismus hatte offensichtlich wenig übrig für die »zahlreichen kleinen Überbleibsel jener Völker […], die, nachdem sie längere oder kürzere Zeit auf dem Schau-
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platz der Geschichte aufgetreten sind, schließlich als Bestandteile in diese oder jene mächtigere Nation eingingen«. Doch genau diesen Nationen wurde 1848 – manchmal zum ersten Mal – eine politische Ausdrucksmöglichkeit für ihre Ziele gegeben. Für Engels waren gewisse Nationalitäten durch die Geschichte dazu verurteilt, unterworfene Völker zu sein, da sie weder die Kultur noch die Stärke zu einem unabhängigen Überleben besäßen. Diese intellektuelle Position – eine Variante des »Schwellenprinzips« als Grundlage der Nationalität, das davon ausgeht, dass eine bestimmte ethnische Gruppe zur »Nation« wird, sobald sie groß und mächtig genug ist, um sich selber zu versorgen – erlaubte es Engels, die nationalen Interessen der Deutschen gegen die der Tschechen zu unterstützen und sogar die Wiederherstellung Polens einzufordern, allerdings nur, falls sie auf Kosten der weiter östlich lebenden Völker, der Litauer, Weißrussen und Ukrainer, ging – und nicht auf die der Deutschen.141 Zur Tragik des Jahres 1848 gehört es somit, dass sich hier der europäische Liberalismus sehenden Auges seinen dunkleren, nationalistischen Impulsen ergab. Der Grund dafür war, dass sich die meisten Liberalen, sobald widerstreitende strategische und territoriale Interessen deutlich wurden, mit aller Kraft hinter ihr eigenes Land stellten. Nur selten nahmen sie einmal die Perspektive anderer ethnischer Gruppen ein, hätte das doch bedeutet, dass die Vorstellungen der anderen Seite ebenfalls gerechtfertigt waren. Stattdessen zogen es die Liberalen vor, anderen Völkern genau die Rechte und Freiheiten zu verweigern, die sie für sich selbst beanspruchten. Die daraus entstehenden Konflikte zeitigten langfristige Konsequenzen für die Entwicklung des Nationalismus in Europa. Fachleute unterscheiden häufig zwischen »staatsbürgerlicher« und »ethnischer« Form der nationalen Identität. Die »staatsbürgerliche« Form definiert die Nation politisch als eine ausdrückliche oder unausgesprochene Entscheidung ihrer Bürger, als Nation zusammenzuleben, oder wie der französische Gelehrte Ernest Renan es 1882 bekanntlich formulierte: Die Nation ist ein stillschweigendes »tägliches Plebiszit«.142 In diesem Fall ist die Nation einfach eine Gemeinschaft: Die Nationalität des Einzelnen speist sich aus dem Wunsch, gleiche politische und bürgerliche Rechte mit anderen zu teilen und unter denselben Gesetzen zu leben, die speziell diesen Staat regieren. Diese Form von Nationalismus vermag dank seiner ausgesprochen reifen Bürger, andersgeartete ethnische Gruppen zu integrieren, deren neue Nationalität ihre ursprüngliche Identität überwinden, wenn auch nicht ganz auslöschen soll. Der »ethnische« Nationalismus dagegen rühmt sich der kollektiven kulturellen Wurzeln und des Erbes eines Volkes, das von gemeinsamen – realen oder mythischen –
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Vorfahren abstammt. Man bleibt »organischer« Teil einer bestimmten Nation, ganz gleich, was man getan oder wohin man gegangen ist; oft werden »Blutsbande« oder kulturelle Bande ins Feld geführt, um dieses unwandelbare Zugehörigkeitsgefühl zu rechtfertigen oder zu erklären. Nach dieser Definition konnten Fremde, die innerhalb der Staatsgrenzen lebten, aber nicht dieselbe Ethnizität oder »Rasse« wie die einheimische Bevölkerung aufwiesen, niemals gleichberechtigte Bürger sein. Fachleute wie Anne-Marie Thiesse und Anthony D. Smith haben darauf verwiesen, dass jedes europäische Nationalgefühl in der Praxis Elemente sowohl der staatsbürgerlichen wie der ethnischen Form von Nationalismus in sich trägt, wenn auch in unterschiedlichen Kombinationen. Nach Smith repräsentieren die beiden Arten »den grundlegenden Dualismus im Kern jedes Nationalismus«.143 Deutlich wird diese These im Fall des ungarischen Nationalismus der Liberalen im Jahr 1848, der anfangs seine territorialen Ansprüche durch einen staatsbürgerlich geprägten Nationalismus anmeldete, aber letztlich eine ethnische, ausschließlich ungarische Identität annahm. Liberale wie Kossuth argumentierten, dass die nicht magyarischen Nationalitäten sich damit zufriedengeben sollten, die gleichen Rechte wie die Bürger des neuen Staats zu genießen, anstatt irgendeinen nationalen Sonderstatus in diesem zu beanspruchen. Dies war, mit anderen Worten, der Versuch, das Problem der nationalen Minderheiten mit einem Appell an den staatsbürgerlichen Nationalismus zu lösen. Dabei gingen sie davon aus, dass die Ungarn die Vorherrschaft in diesem liberalen Staat innehaben und sich die Nichtungarn fügen würden. Langfristig gesehen hoffte man sogar, dass diese Nationalitäten die Sprache und Identität der Magyaren übernehmen würden. Folgerichtig setzte die Integration in die liberale Ordnung Ungarns Dominanz der ungarischen Identität innerhalb der Länder der heiligen Stephanskrone und den möglichen Verfall anderer Formen nationalen Selbstverständnisses voraus. Da den rumänischen und slawischen Nationalisten, das Versprechen von individuellen Bürgerrechten verständlicherweise nicht ausreichte, reagierten sie mit der Betonung einer eigenen, klar abgegrenzten ethnischen Identität, was wiederum die Ungarn provozierte. Das aber führte zur immer stärkeren Verankerung des ethnisch begründeten Nationalismus. Tatsächlich aber war es das Versagen der neuen verfassungsrechtlichen Ordnung, ihr Minderheitenproblem zu lösen. Der französische Nationalismus wird normalerweise als Beispiel für die staatsbürgerliche Variante genannt. Er stellt die Ausnahme von 1848 dar, weil er der ethnischen Tendenz nicht nachgibt. Das ist sicherlich auch dem Umstand
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geschuldet, dass Frankreich – trotz des Drucks vonseiten der Radikalen – innerhalb seiner bestehenden Grenzen verblieb und sich innerhalb seines Territoriums keinen Herausforderungen gegenübersah. Die Republikaner verurteilten Angriffe gegen Juden, die dank der Revolution von 1789 die gleichen Bürgerrechte genossen wie alle anderen auch. Auch ist richtig, dass die französischen Republikaner – zumal die linksgerichteten – 1848/49 nie ihren Eifer verloren, alle unterdrückten Völker Europas zu befreien; allerdings setzte dieser messianische Traum die Überlegenheit des französischen Modells von Demokratie und nationaler Selbstbestimmung voraus. Auch lauerten hinter diesem Kosmopolitismus die alten Territorialansprüche Frankreichs auf seine 1815 verlorenen »natürlichen Grenzen«, die die Einverleibung Belgiens und des Rheinlandes vorsahen. Derlei Annexionen aber hätten das Problem aufgeworfen, die flämisch- und deutschsprechenden Einwohner dieser Gebiete assimilieren zu müssen, was der Zweiten Republik womöglich die gleichen Schwierigkeiten eingebracht hätte wie dem liberalen Ungarn. Glücklicherweise gab es 1848 keinen Krieg, der die französische Revolution noch ausgeweitet hätte, und so konnte der republikanische Nationalismus in Frankreich an seinen zivilen Antriebskräften festhalten und allen Bürgern gleiche Rechte gewähren, ungeachtet ihrer religiösen oder (im Fall der Bretonen oder der seit dem 19. Jahrhundert hinzugekommenen Einwanderer) ethnischen Herkunft. Die beiden Beispiele des ungarischen und des französischen Nationalismus indessen zeigen, dass alle Ausdrucksformen des Nationalismus, seien sie »ethnischer« oder »staatsbürgerlicher« Natur, potenziell aggressiv oder ausschließend waren: So war das »staatsbürgerliche« Ideal tief in der Annahme verwurzelt, dass Nationalität eine Frage der Wahl sei – einer Entscheidung des einzelnen Bürgers, in einem bestimmten Staat zu leben und seinen Gesetzen zu folgen und dafür im Gegenzug die bürgerlichen und politischen Rechte dieser Staatsbürgerschaft zu genießen. Der Preis, den man zu zahlen hatte, war, dass die Identität des Einzelnen als Staatsbürger (etwa als Wähler, Soldat, Beamter, Schüler einer staatlichen Schule) an erster Stelle zu stehen hatte. Daneben waren andere Zugehörigkeiten, wie die zu einer Konfession, Klasse, Provinz oder Ethnie zweitrangig. Diese Aspekte der Identität, die die gesellschaftliche Ordnung zu sprengen drohten, mussten Privatsache des Staatsbürgers sein. In Mittel- und Osteuropa dagegen verhielt es sich anders. Hier basierte der Nationalismus auf einem exklusiven »ethnischen« oder »kulturellen« Selbstverständnis, wahlweise einer gemeinsamen Sprache und Religion oder einem historisch begründeten Anspruch auf »Blutsbande« oder »Rasse«. Dabei kam
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es fast unweigerlich dazu, dass jenen die staatsbürgerlichen Rechte verweigert wurden, die innerhalb der Grenzen des vermeintlichen Staates lebten, aber nicht Teil derselben ethnischen Gruppe waren – wie bis 1849 die Juden in Ungarn. Andernfalls bestand etwa der ungarische Nationalismus bei Rumänen und Slawen darauf, dass diese den privilegierten Status der ungarischen Mehrheit zu akzeptieren hatten. Diese 1848 zu beobachtende Entwicklung kam nun nicht etwa in Gang, weil Ost- und Mitteleuropäer engstirniger gewesen wären als ihre westlichen Zeitgenossen, vielmehr hatte sie historische und politische Gründe, die während der Revolutionen jenes Jahres deutlich zum Tragen kamen. Während die westlichen Staaten Europas wie Frankreich, England und Spanien für mehr als zwei Jahrhunderte (mehr oder weniger) stabile Landesgrenzen besessen hatten, verhielt es sich im Osten und in der Mitte anders. Hier waren 1848 die Nationalisten mit der heiklen Aufgabe betraut, aus Vielvölkerstaaten neue Nationen zu bilden. Die Grenzen ihrer potenziellen Staaten waren noch nicht festgelegt, und wo historische Erinnerungen an lange verlorene Grenzen vorhanden waren, wurden diese nun von anderen nationalen Gruppen womöglich bestritten. Angesichts der fließenden Grenzen und der sich überlappenden Ansprüche rivalisierender Nationalitäten auf dasselbe Territorium sahen sich die Bewohner solcher Regionen einer unsicheren Zukunft gegenüber. So waren zum Beispiel die siebenbürgischen Rumänen 1848 politisch Untertanen des Habsburger Kaisers, gleichzeitig aber sahen die ungarischen Liberalen sie als ungarische Staatsbürger und feierten die rumänischen Revolutionäre in Moldawien und der Walachei als Mitbürger, obwohl diese ihrerseits eigentlich Untertanen des türkischen Sultans waren. Die Rumänen von 1848 waren, kurz gesagt, wie die Polen, Ruthenen und andere slawische Völker eine staatenlose Nation innerhalb der habsburgischen Monarchie. In Ermangelung eines eigenen Staates, der vielleicht über ein klar abgegrenztes Territorium mit festen politischen Grenzen regiert hätte, wurden nun die Kultur des Volkes, seine Sprache, seine Religion, seine gemeinsame Geschichte und eine angenommene gemeinsame Abstammung zum roten Faden, der sich durch die Wirrungen von Fremdherrschaft und Eroberung zog. Die Samen dieser Vorstellung sollten bis ins späte 20. Jahrhundert hinein ihre bitteren Früchte tragen und – soweit es den Balkan betrifft, wohl solange, bis eine »postnationale« Lösung für die Probleme gefunden wird, die dort durch die Schaffung der neuen Nationalstaaten entstanden war. Die Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa oder die ethnischen Säuberungen, deren Zeuge ein zerfallendes Jugoslawien in den 1990er-Jahren wurde, sind ent-
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fernte, doch nicht minder schreckliche Echos der dunklen Seite des Nationalismus von 1848. Der Völkerfrühling sollte nationale Unterschiede herausstellen und sie noch verschärfen, die daraus entstehenden Konflikte alle Versuche des europäischen Nationbuildings bis weit ins 20. Jahrhundert hinein begleiten. Auch spalteten sie die freiheitlichen Revolutionen von 1848 und öffneten der Konterrevolution Tür und Tor. Die ethnischen Konflikte waren dort umso schärfer ausgeprägt, wo, wie häufig in Osteuropa, die nationalen Spannungen mit sozialen Unterschieden einhergingen: So ließen sich die Ukrainer in Galizien von den Habsburgern nicht in erster Linie wegen ethnischer Unterschiede gegen die Polen aufwiegeln, sondern weil Letztere die Grundherren und Erstere ihre Leibeigenen waren. Allein die nationalen Konflikte stellten die liberalen Revolutionen vor ein gewaltiges Hindernis, das beim Aufbau einer konstitutionellen Ordnung erst noch überwunden werden musste. Hinzu kamen noch andere Herausforderungen, die die Politik zu polarisieren und die sozialen Verhältnisse zu vergiften drohten. Sehr greifbare Ängste vor einer neuerlichen Revolution, dieses Mal eher sozialer als politischer Natur, zeigten sich, als der Frühling in den Sommer überging. In diesen Monaten des Jahres wanden sich die liberalen Revolutionen in schmerzvollen sozialen Konflikten, von denen sie sich nicht wieder erholen sollten.
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Am 15. Mai um 11 Uhr machten sich an die zwanzigtausend Mitglieder der radikalen Pariser Klubs von der Place de la Bastille zur Nationalversammlung auf. Angeführt wurden sie von Aloysius Huber, dem Präsidenten des Club des Clubs, Dachorganisation der revolutionären Vereinigungen. Es war eine Sympathiekundgebung für Polen, wo kurz zuvor in Posen und auf den Straßen Krakaus die Revolution niedergeschlagen worden war. Huber und die meisten Mitglieder des Präsidiums hatten auf einer friedlichen Demonstration bestanden. Die Exekutivkommission, die neue, von der kürzlich gewählten Nationalversammlung berufene Regierung, kannte die Pläne der Revolutionäre, entschied aber, eine Machtdemonstration und Konfrontation zu vermeiden, wenn auch das Corps législatif, die gesetzgebende Körperschaft, durchaus mit militärischen Mitteln hätte verteidigt werden können. Dieser Zurückhaltung war es sicher zu verdanken, dass der Tag ohne Blutvergießen endete; wie leicht hätte es zu einem Fiasko kommen können. Als die Demonstranten am Palais Bourbon, dem Versammlungsort der Legislative, ankamen, drängten etwa dreitausend Klubmitglieder in den Saal. »Ich hätte niemals gedacht, daß der Zusammenklang menschlicher Stimmen einen so gewaltigen Lärm erzeugen könnte«1, schrieb später ein erstaunter Tocqueville, der dort auf seinem Abgeordnetenstuhl saß. Lamartine schritt auf und ab, während er vergeblich versuchte, mit den Eindringlingen zu verhandeln. Als die Menge nicht mehr zu halten war, marschierte Alexandre Raspail in den Saal. Zuvor hatten die Demonstranten seine zornige Petition eilig angenommen, da Huber gedankenlos die offizielle vergessen hatte. Nun war Raspail in dem Lärm kaum zu verstehen. Die Situation verschärfte sich, als der bleiche Louis-Auguste Blanqui, der revolutionäre Sozialist, ans Rednerpult trat. Blanqui zählte zu den leidenschaftlichsten republikanischen Verschwörern und war nach dem fehlgeschlagenen Aufstand von 1839 zusammen mit Armand Barbès zum Tode verurteilt worden. Nach einem öffentlichen Aufschrei, angeführt von Lamartine und Victor Hugo, war das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt worden. Bei Aus-
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bruch der Revolution stand Blanqui (der bei seinem Tod im Jahr 1881 insgesamt dreiunddreißig Jahre in Gefangenschaft verbracht hatte, was ihm den Spitznamen »l’Enfermé« oder »der Eingekerkerte« einbrachte) in Blois unter Hausarrest. Nach seiner Freilassung war er gleich nach Paris zurückgekehrt und hatte, in der Absicht, einen Aufstand anzuzetteln, der in einer richtigen Revolution münden würde, den Republikanischen Zentralverein ins Leben gerufen. Tocqueville, der ihn hier zum ersten und einzigen Mal sah, schrieb, Blanqui »hatte abgezehrte und zerfurchte Wangen, bleiche Lippen und machte durch seine schmutzige Blässe einen krankhaften, bösartigen und abstoßenden Eindruck. Sein Äußeres war wie von Schimmel überzogen; Wäsche war nicht zu sehen, ein alter schwarzer Mantel umschloß eng seine dünnen und mageren Glieder; er sah aus, als habe er in einer Kloake gelebt und sei von dort hierher gekommen.«2 Angesichts von Blanquis Politik und Charakter – kompromisslos, asketisch, hitzig, manchmal sarkastisch, sozialistisch und revolutionär – überrascht es kaum, wenn Anhänger der Gemäßigten vor ihm zurückschreckten. Allerdings hatte er einen guten Grund für seine finstere Erscheinung: Seine Frau war gestorben, während er im Gefängnis saß, und seitdem kleidete er sich von Kopf bis Fuß in Schwarz. Nicht einmal ein weißes Hemd milderte seine Trauer ab, und selbst die Hände steckten in schwarzen Handschuhen. Blanqui besaß politische Fähigkeiten, die ihm unter den Linken glühende Bewunderer einbrachten: »Seine präzisen, eindringlichen und nachdenklichen Worte … schnitten scharf wie Skalpelle.«3 Die Loyalität, die er unter seinen Anhängern zu wecken vermochte, war im April auf die Probe gestellt worden, als der Journalist Jules Taschereau (einer der Gemäßigten, die im Februar das Bankett aus dem 12. Arrondissement verlegt hatten) ein Dokument veröffentlichte, mit dem er zu beweisen suchte, dass Blanqui im Jahr 1839 seine Genossen betrogen habe. Barbès, der sich während des Aufstandes mit Blanqui zerstritten hatte und den starken Mann hinter der provisorischen Regierung spielte, hatte diesen nur zu gern für schuldig befunden. Letzterer schlug mit einer leidenschaftlichen Verteidigungsschrift zurück, von der hunderttausend Exemplare verkauft wurden: »Ihr greift mich wegen meiner Unbeugsamkeit in Sachen Revolution und meiner unbeirrbaren Hingabe an meine Ideale an«.4 Sein Klub scharte sich um ihn: Rund sechshundert Mitglieder versammelten sich vor seinem Haus und trugen ihn mit Rufen wie »Nieder mit der National!« im Triumphzug zu ihrem Versammlungsort zurück. Die Authentizität von Taschereaus Dokument konnte nie einwandfrei ermittelt werden. Zwar schädigte es Blanquis’ Ruf, die Loyalität des harten Kerns seiner Anhänger konnte es aber
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nicht erschüttern. Solcherart gerüstet, konnte er seinen Gegnern weiterhin Angst einjagen. Jetzt, am 15. Mai, forderte er die Wiederherstellung Polens, doch als er seine Rede gehalten hatte, wurde er, Augenzeugenberichten zufolge, von »Männern mit grimmigen Gesichtern umgeben«, die ihre Fäuste hoben und schrien: »Rouen! Rouen! Sag was zu Rouen!«5 – womit sie auf ein Massaker anspielten, das im April in der normannischen Stadt an Arbeitern verübt worden war. Das Chaos steigerte sich zu wahrer Anarchie, als verschiedene Redner, darunter Barbès, Forderungen stellten: einen Krieg für Polen; die Ächtung von »Vaterlandsverrätern«; die Entlassung der neuen konservativen Minister und die Schaffung eines Gremiums zur Beaufsichtigung der neuen Regierung. Als schließlich die Nationalgarde eintraf, um den Saal zu räumen, drohte ein Demonstrant spontan, den Präsidenten der Nationalversammlung zu töten, würde sich das Militär nicht zurückziehen. Im Eifer des Gefechts verlor Huber seinen kühlen Kopf und vergaß alle Bemühungen um eine friedliche Kundgebung. Er erhob seine Faust in Richtung Präsident und schrie, die Nationalversammlung hätte die Menschen betrogen und sei nun »aufgelöst«. Den Demonstranten aber eröffnete sich damit die Möglichkeit, eine neue Regierung auszurufen, die aus der republikanischen Linken, darunter Barbès, Louis Blanc, Ledru-Rollin, Caussidière und Albert, bestand. Nachdem der Saal durch die Nationalgarde geräumt worden war, begaben sich drei- bis vierhundert Menschen unter der Führung von Barbès zum Rathaus und begannen, Verordnungen zu erlassen. Als schließlich die Nationalgarde auch hier eintraf, erklärte Barbès, er sei zu beschäftigt, um sich festnehmen zu lassen, denn er sei jetzt Regierungsminister. Davon unbeeindruckt, führten ihn die Soldaten ab und brachten ihn zum Schloss Vincennes, wo er zusammen mit Albert, Raspail und Huber inhaftiert wurde. Blanqui schaffte es, der Polizei zu entkommen, und blieb bis zum 26. Mai auf freiem Fuß. Die journée vom 15. Mai war vorbei: Was als geordnete Demonstration begann, hatte sich fast zu einem Aufstand entwickelt und wäre womöglich der unbeholfene Versuch eines coup d’état gewesen. Das Ganze endete jedoch in einer Farce, die allerdings tragische Auswirkungen auf die Zweite Republik insgesamt haben sollte.6 Gibt es einen Tag, der europaweit als Wendepunkt für das Jahr 1848 gelten kann, dann war dies der 15. Mai. Neben der »roten« Welle in Paris wurde an jenem Tag in Wien die Sturmpetition überbracht; in beiden Fällen versuchten die Radikalen, die Revolution stärker nach links zu drängen, forderten aber lediglich den konservativen Gegenschlag heraus. Und auch das andere Ereignis
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des Tages – die Gegenrevolution in Neapel – war aus Sorge vor einer Radikalisierung entstanden. Hinter dieser Sorge verbargen sich tief verwurzelte Ängste davor, dass die Revolution in Terror und soziale Unruhen abgleiten könnte. Während der Märztage in Wien hatten Arbeiter Fabriken niedergebrannt und Geschäfte geplündert und auch in Prag wurden tschechische Liberale von der Erinnerung an die Arbeiteraufstände des Jahres 1844 heimgesucht, bei denen die Obrigkeit eine Woche lang ganze Viertel verloren hatte. Dabei waren die politisch militanten Arbeiter Europas im Allgemeinen eher die gelernten Arbeiter aus den Handwerksbetrieben und nicht etwa die Proletarier aus den Fabriken oder Eisenbahnunternehmen. Erstere waren belesener und besaßen ihre eigenen Berufsverbände, dazu Traditionen sozialen und politischen Handelns. Ihre Unabhängigkeit jedoch war durch die Industrialisierung, das Fabrikwesen und modernere und kostengünstigere Produktionsformen bedroht. 1848 sollten sich nun die Forderungen der Handwerker nach Schutz vor dem harten Wettbewerb mit den utopischen Ideen sozialistischer Theorien verbinden. In Frankreich waren die Städte wie Paris, Lyon, Rouen und Limoges voll von derart politisch denkenden Arbeitern, aber auch in Deutschland gab es sie, vor allem in Sachsen, Württemberg, Preußen, Frankfurt und im Rheinland. In italienischen Städten dagegen fielen bei Handwerkern und Facharbeitern nicht so sehr die neuen sozialistischen Theorien als vielmehr Mazzinis republikanische Propaganda auf fruchtbaren Boden. In Wien schließlich hatten die Arbeiter kein eigenes politisches Programm entworfen, doch indem sie sich der Führung von Studenten und Journalisten anvertrauten, bildeten sie die proletarische Schlagkraft hinter der radikalen Mittelstandsbewegung. Die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse und die radikale Linke schienen nicht nur die Adligen und das gut betuchte Großbürgertum zu bedrohen, sondern jeden, der Besitz vorzuweisen hatte, darunter auch die landbesitzenden Bauern und die vermögenderen Handwerker. Tocqueville, der Mitte März in die heimatliche Normandie zurückgekehrt war, um dort Wahlkampf für die verfassunggebende Versammlung zu machen, stellte in Bezug auf seine ländlichen Wähler fest: »Die Angst, die sich zunächst nur der oberen Gesellschaftsklassen bemächtigt hatte, ergriff auch das Volk und ein allgemeiner Schrecken verbreitete sich im ganzen Lande.«7 Das Schreckgespenst einer Revolution weckte den angestammten Konservatismus jener, die noch in der einen oder anderen Form von den Februar- und Märzrevolutionen profitiert hatten, für die jetzt aber die Zeit der Stabilisierung gekommen war. Doch letztlich sollte es sich als unmöglich erweisen, die politischen Errungenschaften der 1848er-
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Revolution zu bewahren und gleichzeitig wieder »Ordnung« herzustellen. Die Panik (für manche Gegenden ist dieser Ausdruck nicht übertrieben) vor weiterer revolutionärer Gewalt, sozialem Umsturz und dem »Sozialismus« erwies sich stärker als die Bindung an die liberalen Erfolge des Frühjahrs. Konfrontiert mit der Wahl zwischen neuer politischer Freiheit oder damit, Leben und Besitz beziehungsweise ihr Gemeinwesen an »Anarchie« und »Kommunismus« zu verlieren, entschieden sich die meisten der Sicherheit zuliebe, ihre Freiheit zu opfern. Deshalb spielten die Ängste, die der Aktivismus des linken Flügels schürte, den Konservativen in die Hände. In ihrem Bemühen, eine zweite Revolution zu verhindern, gaben Liberale, Gemäßigte und Unabhängige viel von der Mitte preis, indem sie zu autoritäreren Mitteln griffen. Der »glutrote Sommer« spaltete die Revolution in links und rechts und verursachte einen unwiederbringlichen Bruch, der die Konservativen in die Lage versetzte, zurückzuschlagen.
I In Paris hatten die gemäßigten Republikaner bereitwillig anerkannt, dass die Februarrevolution eine Massenbasis besaß. Sie gratulierten sich und den Pariser Arbeitern dazu, die Ordnung in der Stadt aufrechterhalten zu haben. Trotzdem schäumte immer wieder sozialistisches Gedankengut an die Oberfläche. Arbeiter gründeten politische Klubs, denen radikale Republikaner und Sozialisten vorstanden. Diese breite Bewegung war entschlossen, es nicht zur Wiederholung der 1830er-Revolution kommen zu lassen, von der sie nicht profitiert hatten. Folglich verzeichneten die Klubs, deren Ziel es war, den Verlauf der Revolution zu beeinflussen, starken Zulauf unter den Arbeitern. Allein in Paris zählte man im März und April etwa zweihundert solch »volksnaher« Vereinigungen,8 in denen Arbeiter über die »demokratische und soziale Republik« diskutierten – eine neue Regierungsform, die ihnen nicht nur politische Freiheiten gewähren, sondern auch eine aktive Rolle bei der Neuordnung der Gesellschaft zuteilen würde, sodass Armut und die harte Wirklichkeit eines Lebens in der Arbeiterklasse ein Ende hätten. Aus diesem Grund nahm die republikanische Linke schnell die Bezeichnung »demokratische Sozialisten« – démoc-socs – für sich in Anspruch. Am 25. Februar wurde in einer Petition an die kommissarische Regierung »das Recht auf Arbeit« verlangt, »eine garantierte Mindestversorgung für den Arbeiter und seine Familie im Krankheitsfall« und die »Organi-
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sation von Arbeit«,9 womit im Allgemeinen eine vom Staat subventionierte Reform der Arbeitsbedingungen, der Löhne und der Beziehungen zur Industrie sowie die Gründung von Produktionsgenossenschaften gemeint war. Den Liberalen des 19. Jahrhunderts, durchdrungen wie sie waren von der Wirtschaftslehre des Laisser-faire, schienen diese Forderungen gefährlich sozialistisch und ökonomisch kontraproduktiv. Der Besitzer der gemäßigten Zeitung Le Constitutionnel erinnert sich: »An dem Tag, der auf die Februar-Revolution folgte, zitterte der Bourgeois von Paris um seinen Kopf, und sobald er sicher war, ihn zu behalten, zitterte er um seine Geldbörse.«10 Die kommissarische Regierung hatte Lösungskonzepte verabschiedet, mit deren Hilfe die verzweifelte wirtschaftliche Situation der Arbeiter gemildert werden sollte, aber die Ergebnisse erwiesen sich als ebenso ungeeignet, das Elend abzumildern, wie, die ehrgeizigeren Erwartungen der Linken zu befriedigen. Der Beschluss, der schließlich am meisten Verärgerung auslösen sollte, obwohl er zunächst gar kein Streitpunkt war, war der Beschluss vom 25. Februar zur Gründung von Nationalwerkstätten. Er versprach »das Recht auf Arbeit für alle Bürger«, indem den Bedürftigen Arbeitsplätze bei (oft mühsamen) öffentlichen Bauvorhaben zur Verfügung gestellt werden sollten. Für eine Regierung, deren Zusammensetzung weder eine radikale sozialistische Antwort auf das Problem der Arbeitslosigkeit erlaubte, noch das freie Spiel des Marktes zugestehen konnte, war dies eine naheliegende Lösung. In Erwiderung auf die Arbeiterproteste am 28. Februar schuf die Regierung zudem im ehemaligen Plenarsaal der Pairs im Palais du Luxembourg eine Kommission für die Belange der Arbeiter unter Vorsitz von Blanc und Albert. Die »LuxembourgKommission«, die sich aus Delegationen verschiedener Branchen zusammensetzte, sollte sich mit den Belangen der Arbeiter und Handwerker befassen, womit sie zu deren Forum und Sammelpunkt wurde. Die meisten ihrer Forderungen waren weniger sozialistisch, vielmehr spiegelten sie die vertrauten Anliegen von Arbeitern wider, die von der Geschwindigkeit sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen bedrängt wurden: höhere Löhne, Mindestpreise für Waren, bessere Arbeitsbedingungen, das Recht, Gewerkschaften zu gründen, die Schaffung eines Schiedswesens für gewerbliche Beziehungen, die Aufhebung der marchandage (oder Subunternehmertums, das ein Instrument der Ausbeutung war, da der Subunternehmer durch niedrigere Vergütung seiner Arbeiter seinen Gewinn maximierte), die Einschränkung des Maschineneinsatzes und der Konkurrenz durch Frauen und ungelernte Arbeiter (deren Löhne niedriger waren), die Schaffung von Nationalwerkstätten für alle Berufe sowie
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staatliche Unterstützung der Industrie. Am ersten Versammlungstag der Kommission verbot diese – unter Zustimmung der Arbeitgeber – die marchandage und verkürzte den Arbeitstag von durchschnittlich fünfzehn Stunden auf zehn Stunden in Paris und elf in den Provinzen. Außerdem wurde ein Schiedsausschuss aus zehn Arbeitnehmern und zehn Arbeitgebern eingerichtet, der sich mit gewerblichen Konflikten befassen sollte. Was das Regieren in dieser Zeit ungleich schwerer machte, war eine äußerst schwierige Haushaltslage mit katastrophalen Auswirkungen, was die Steuereinnahmen betraf. Das neue Regime war entschlossen, dem Defizit zugunsten der finanziellen Stabilität Rechnung zu tragen. Schnell beglich es die geschuldeten Zinsen, konnte dies aber nur mittels einer Erhöhung der direkten Steuern um 45 Prozent bewerkstelligen – was sofort als »45-Centimes-Steuer« bezeichnet wurde. Dadurch wurde ein großer Teil der vermögenden Bevölkerung verprellt, der in der Wirtschaftskrise ohnehin zu kämpfen hatte. Während die Regierung triftige finanzpolitische Gründe für den Steuerzuschlag hatte, schien es den Betroffenen, als müssten sie für die Nationalwerkstätten aufkommen. Im Verein mit der Angst vor einem Aufstand wurden durch diesen Unmut die Fronten für einen Zusammenstoß zwischen den Radikalen und den Gemäßigten abgesteckt. Der Pariser Aufstand vom 15. Mai indessen wirkte als Katalysator einer Radikalisierung. Zwar waren die republikanischen Sympathien für Polen (»das Frankreich des Nordens«) aufrichtig, zugleich aber boten sie eine Gelegenheit, der revolutionären Linken neues Leben einzuhauchen. Was die démoc-socs brauchten, war Adrenalin, denn bei den Wahlen am 23. April hatten sie eine herbe Niederlage einstecken müssen. Von 900 Sitzen waren gerade einmal 150 linksgerichtet. Gemäßigte Republikaner bildeten nun einen Block von etwa 500 Sitzen; die Rechte, die sich aus Legitimisten (Royalisten, die die alte Dynastie der Bourbonen unterstützten) und Orléanisten zusammensetzte, zählte 250 Sitze. Weil überhaupt nur Männer wahlberechtigt waren, bestand die überwältigende Mehrheit der Wähler aus Bauern. Die Ergebnisse spiegelten somit den anhaltenden Einfluss der ländlichen Eliten wider. So geleitete Tocqueville am Wahltag rund 170 »seiner« in der Normandie lebenden Dorfbewohner zu den Urnen. Bescheiden hielt er fest: »Ich habe Grund zur Annahme, daß sie fast alle den gleichen Kandidaten wählten.«11 Viele Bauern unterstützten ihre Honoratioren, aber ihr Votum ging über einfache Ehrerbietung hinaus, es war Ausdruck des Unmuts über die »45-Centimes-Steuer«. Eine Zeitung erklärte, das Landvolk sei »es müde, faule Leute zu ernähren …, die … aus dem
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Umgehen von Arbeit ein Geschäft machen«.12 Darüber hinaus zeigte die Abstimmung die allgemeine Angst vor dem Chaos, die die Männer naturgemäß dazu verleitete, gemäßigte oder konservative Abgeordnete zu wählen und nicht solche, die für noch mehr Unruhe standen. Somit war es bezeichnend, dass die radikalen Republikaner erst jetzt versuchten, die breitere Bevölkerung zu erreichen – dass die Wahlen schon zwei Monate nach der Februarrevolution abgehalten wurden, bedeutete nur, dass ihnen wenig Zeit blieb, Wechselwähler zu gewinnen. Die Wahlergebnisse versetzten dem linken Flügel einen schweren Schlag. Hinzu kam, dass die Arbeitslosen der Städte allen Grund hatten, um das Weiterbestehen der Nationalwerkstätten zu fürchten. Als sich nun herauskristallisierte, dass in Limoges die Konservativen die Wahl für sich entscheiden würden, stürmten Arbeiter die Präfektur: Bewaffnet mit Hacken, Spießen, Stöcken und Stangen fegten sie die Nationalgarde beiseite und zerrissen die Unterlagen für die Stimmenauszählung. Ende April hatten die Arbeiter zwei Wochen lang die Stadt unter Kontrolle. Mit Äxten und Schlagstöcken bewaffnet, patrouillierten sie in Gruppen durch die Straßen und bewachten die strategisch wichtigen Punkte.13 Schließlich beruhigten sich die Gemüter, und die Rebellen gaben der rechtmäßigen Obrigkeit die Herrschaft zurück. In Rouen gestaltete sich die Situation weitaus schwieriger. Die in der Normandie gelegene Textilstadt litt besonders schwer unter Arbeitslosigkeit, und die Arbeiter demonstrierten lautstark gegen die Wahlergebnisse vom 26. April. Ihnen stellte sich die Nationalgarde entgegen, deren Kavallerie in die Menge sprengte. In dem Handgemenge wurde ein Demonstrant tödlich verletzt und dadurch ein regelrechter Aufstand ausgelöst. Arbeiter rissen Pflastersteine heraus, um damit Barrikaden zu bauen, bewaffneten sich mit Eisenstangen und Werkzeugen. Am nächsten Tag fuhr das Militär Artillerie auf und sprengte die Verteidigungseinrichtungen, was dreiundzwanzig Menschenleben kostete. Die Ereignisse in den Provinzen sollten schließlich in Paris zum Aufstand führen. Blanquis Republikanischer Zentralverein verurteilte das Gemetzel als »Bartholomäus-Massaker an Arbeitern«. Die Tatsache, dass der Beamte, der die Vorgänge untersuchen sollte, ebenjener Staatsanwalt war, der 1839 Blanquis Todesurteil erwirkt hatte, war nicht eben dienlich. Die Gesellschaft für Menschenrechte warnte ihre Mitglieder, dass »morgen Paris an der Reihe ist, wenn heute die Reaktionäre in Rouen zu den Waffen greifen«.14 In dieser aufgeheizten Stimmung trat am 4. Mai zum ersten Mal die gemäßigt ausgerichtete Nationalversammlung zusammen.
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Was zu der Demonstration elf Tage später führte, ob es die aufgeheizte Atmosphäre nach den Wahlen war, ist nicht mehr klar zu ermitteln. Blanqui war von Anfang an dagegen, weil er glaubte, die früheren Kundgebungen hätten die öffentliche Meinung zum Nachteil beeinflusst und eine erneute Demonstration der Stärke würde potenzielle Sympathisanten eher abschrecken.15 Keiner der Hauptorganisatoren schien zunächst einen Aufstand geplant zu haben. Joseph Sobrier, der Stellvertreter des sozialistischen Polizeipräfekten Caussidière, erklärte dem Sozialisten Victor Considérant am 12. Mai, dass die gesetzgebende Körperschaft es sich nicht leisten könne, die »öffentliche Meinung« (gemeint waren die Demonstranten) zu verletzen. Denn »ihre Würde erfordere es zwingend, nicht den Eindruck zu erwecken, als würde man dem Druck der Leute nachgeben«. Stattdessen müssten sie die Einheit mit ihnen darstellen wie in einer »feierlichen Abordnung aller Völker in einem spontanen und glorreichen Augenblick des Patriotismus und dem Sieg der Demokratie«.16 Mit anderen Worten: Die gemäßigten Republikaner sollten moralisch unter Druck gesetzt werden, damit sie sich mit den Radikalen vereinten und ihre Forderungen respektieren und nicht den autoritären Schmeicheleien der Konservativen erliegen sollten. Die verheerende Wendung, die die Ereignisse am 15. Mai jedoch nahmen, versetzte den démoc-socs einen schweren Schlag. Ihre bekanntesten Führer wurden verhaftet, und Caussidière – der Einzige, der seit den Aprilwahlen noch an einer Machtposition festhalten konnte – verlor seine Stelle bei der Polizeipräfektur, da seine Volksgarde nichts gegen die Stürmung der Nationalversammlung unternommen hatte. Seine Männer, die Caussidière bis zum Letzten ergeben waren, verbarrikadierten sich in der Präfektur, gaben aber nach einer kurzen Belagerung unter dem Oberbefehl von General Bedeau auf. Das Verhalten der Radikalen erlaubte es den Konservativen Misstrauen zu schüren, sogar gegenüber dem gemäßigten Flügel der Réforme-Richtung, der sich nicht an dem Aufruhr beteiligt hatte und demokratisch gesinnt war. Blanc und LedruRollin, die weder mit der Planung noch mit der Durchführung des Aufruhrs zu tun hatten, gerieten sofort unter Druck. Ersterer konnte sich nur knapp der Festnahme entziehen, obwohl er am 15. Mai von Demonstranten grob behandelt worden war; er wurde vor einem parlamentarischen Ausschuss angeklagt, überstand aber die Schlussabstimmung in der Nationalversammlung. LedruRollins talentierte Assistentin, die Zigarre rauchende, Hosen tragende Feministin George Sand, die während seiner Zeit als Innenminister bei der Herausgabe seines Bulletin de la République geholfen hatte, war so enttäuscht, dass sie Paris
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verließ und Zuflucht auf dem Land suchte. Die Mitte zerbröckelte unter den Füßen jener Republikaner, die eine friedliche Sozialreform anstrebten – ein Kompromiss zwischen »Ordnung« und »sozialer Republik« wurde immer unwahrscheinlicher, und das war gefährlich. Am 5. Juni verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz, das ein hartes Vorgehen gegen Versammlungen erlaubte. Die politischen Klubs dümpelten noch vor sich hin, aber die Verhaftungen hatten sie ihrer prominentesten Führer beraubt: die revolutionäre Linke war faktisch »enthauptet« worden. Im Anschluss sollte es zur größten Tragödie der Französischen Revolution von 1848 kommen. Als die Exekutivkammer die Luxembourg-Kommission auflöste, die angeblich »das Gift ihrer Theorien«17 unter den Arbeitslosen der Nationalwerkstätten »versprüht« hatte, sollte der Weg beginnen, der schließlich in der Agonie der Junitage mündete. Doch zunächst traf man Vorbereitungen zur Stilllegung der Nationalwerkstätten: Ab dem 20. Mai wurden sie einer Überprüfung unterzogen. Ein Untersuchungsausschuss stellte fest, dass sie unglaubliche 115 000 Menschen beschäftigten, und erklärte, sie wären eine Bedrohung für die soziale Ordnung – eine Behauptung, der durch die Tatsache Vorschub geleistet wurde, dass am 15. Mai drei Viertel der Demonstranten Arbeiter der Nationalwerkstätten waren. Der königstreue Comte de Falloux, Mitglied des Ausschusses, folgerte daraus, dass die Nationalwerkstätten »aus wirtschaftlicher Sicht nichts weiter als ein Dauerstreik« seien, »der am Tag 170 000 Francs kostet … aus politischer Sicht eine Quelle drohenden Aufruhrs«.18 Am 27. Mai wurde ihr Leiter Émile Thomas entlassen, was weithin als erster Schritt zu ihrer Schließung angesehen wurde. Die Gemäßigten schienen sich auf eine endgültige Abrechnung mit der radikalen Linken einzustellen. Der neue Polizeipräfekt berichtete, dass »alle Bürger, die gewerbliche oder kommerzielle Interessen verfolgen, lieber eine gewalttätige Auseinandersetzung wollten, bevor sich die Sache noch länger hinziehe … Man sagt, die Regierung hätte angesichts all der mannigfaltigen Missstände, die sich durch die Nationalwerkstätten ergeben, entschiedene Maßnahmen ergreifen müssen.«19 Am 20. Juni unternahm die Nationalversammlung den erwarteten, doch gefürchteten Schritt: Sie schloss die Nationalwerkstätten und ordnete an, dass die Arbeiter entweder zur Armee eingezogen oder zum Entwässern der Sümpfe in die Sologne geschickt werden sollten. Die Antwort der Arbeitslosen kam schnell: »Wer, wenn nicht der Staat«, schrieben die Vorarbeiter der Werkstätten, »wird uns Arbeit geben in einer Zeit, in der die Wirtschaft überall ihre Werkstätten, Geschäfte und Fabriken
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geschlossen hat?«20 Nacht für Nacht kam es auf den Boulevards zu Demonstrationen, bei denen nicht nur das »Recht auf Arbeit« gefordert wurde, sondern auch eine demokratische und soziale Republik. Auch ein obskurer Louis-Napoleon Bonaparte wurde angerufen. Die Proteste gewannen bis zum Donnerstag, dem 22. Juni, an Dynamik, als zwei Kolonnen mit Demonstranten – insgesamt achthundert Menschen – durch Paris marschierten. Man schrie, dass man sich nicht in die Sologne schicken lassen und stattdessen die Waffen gegen die Nationalversammlung erheben würde. Aus den Schlachtrufen ging deutlich hervor, dass die Arbeiter auf die Unterstützung der Mobilgarde (garde mobile) setzten, die – zum Teil als Gegengewicht zu Caussidières gut gedrillter Polizeitruppe – kurz nach der Februarrevolution aus arbeitslosen jungen Männern gebildet worden war. Außerdem waren Rufe wie »Auf ewig Napoleon! Wir werden nicht gehen!« zu hören. Am späten Mittag zerstreuten sich die beiden Menschenmengen, doch schon um 18 Uhr wollte man sich erneut auf dem Platz vor dem Panthéon treffen. Zur verabredeten Zeit füllte sich der Platz innerhalb einer Stunde, bis er brechend voll war mit rund fünftausend aufgebrachten Arbeitern, die sich einmal mehr in zwei Kolonnen in Bewegung setzten, um sich in den Arbeitervorstädten Faubourg Saint-Michel im Süden und Faubourg SaintAntoine östlich des Flusses zu sammeln. Um 21 Uhr schätzte die Polizei die zweite Kolonne auf acht- bis zehntausend Leute. Diese riesige Menge traf sich schließlich erneut beim Panthéon. Flauberts Freund Maxime du Camp war in jener Nacht gerade auf dem Heimweg, als er ein unheilvolles Geräusch, »in der Dunkelheit, aus den Tiefen der Rue Saint-Jacques« wahrnahm: »Es war eine Art erstickter Gesang, in dem unaufhörlich dieselben düsteren, tiefen, unvergleichlich traurigen Töne wiederholt wurden. Verängstigte Leute kamen aus ihren Häusern und versuchten wie ich, mit Blicken die Dunkelheit zu durchdringen, die das untere Ende der Straße umgab, von wo das seltsame Murmeln herkam. Bald legte sich unsere Ungewissheit. Ein Trupp von Männern – mindestens zweitausend – marschierte in Dreierreihen heran und erklomm die steilen Kurven der Rue Saint-Jacques. Als sie vorbeikamen, schlossen alle Geschäfte und sorgenvolle Gesichter waren in den Fenstern zu sehen; sie beachteten sie nicht. Geordnet marschierten sie vorbei, ein wenig gebeugt, unbewaffnet. Ohne Geschrei oder Gezeter wiederholten alle nur denselben Satz: ›Brot oder Blei! Brot oder Blei!‹ Es war unheimlich und richtig beängstigend.«21
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Die Angst vor einer Revolution hielt die Stadt gefangen. Eine Menschenmenge versammelte sich unter der Kuppel des Panthéons, die im Dunkeln lag, und hörte den Abgesandten der Nationalwerkstätten zu. Darunter befand sich ein Louis Pujol, der sie aufforderte, sich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Um 23 Uhr hatten sich die Arbeiter zerstreut – allerdings nur, um Kraft für den bevorstehenden Zusammenstoß zu schöpfen.22 Die Obrigkeit war sich sehr wohl bewusst, dass die Proteste Fahrt aufnahmen, unternahm aber nichts. Caussidière ging so weit, zu fragen: »Wollte man vielleicht die Emeute wachsen lassen, um die insurgirten Arbeiter mit Einem Schlage zu vernichten?«23 Kein Geringerer als Karl Marx, der kurz nach den Ereignissen alles festhielt, behauptete, die Nationalversammlung sei nach dem Aufstand vom 15. Mai zu einer endgültigen Lösung entschlossen gewesen: »Il faut en finir! Diese Situation muß endigen! In diesem Schrei machte die Nationalversammlung ihrem Entschlusse Luft, das Proletariat zum entscheidenden Kampfe zu zwingen.«24 So wie es aussah, war die Verordnung zur Auflösung der Nationalwerkstätten überhastet erlassen worden: Selbst die liberale königstreue Zeitung Le Constitutionnel – ansonsten keine große Befürworterin der Nationalwerkstätten – bekundete am 23. Juni unverblümt, dass »man größere Anstrengungen hätte unternehmen können … um die öffentliche Meinung auf diese Ankündigung vorzubereiten; man hätte mehr Umsicht walten lassen können«. Sie kritisierte die Regierung insbesondere dafür, die Verordnung erlassen zu haben, ohne die Betroffenen zu beruhigen.25 Es ist richtig, dass der Aufstand Zeit und Raum hatte, sich zu entwickeln, wie schon Caussidière und Marx meinten. Doch mit dem Wunsch, es möge zu einer gewaltsamen Konfrontation mit der Linken kommen, hatte er nichts zu tun. Auch wenn es ganz gewiss viele Konservative gab, die nur allzu gern alte Rechnungen beglichen hätten, so versuchte der freimütigste aller Gegner der Nationalwerkstätten, der Comte de Falloux, angesichts der zunehmenden Radikalisierung eilig ein Paket mit Reformen vom Parlament verabschieden zu lassen. Ein Mann, der auf eine Konfrontation versessen ist, handelt wohl kaum so.26 Vielmehr war der Raum, der dem Aufruhr anfänglich gegeben wurde, der Preis für die Art und Weise, wie die Obrigkeit mit den zu erwartenden Protesten umging. Die Lehre vom Februar 1848 war nämlich, dass Polizeitruppen oder die Bürgerwehr – aufgelöst in kleine Einheiten, um auf den Straßen für Ordnung zu sorgen und die Errichtung von Barrikaden zu verhindern – mühelos von den Aufständischen eingekreist und entwaffnet werden konnten. Aus diesem Grund wollte Kriegsminister General Louis Eugène Cavaignac, der am
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Mittag des 22. Juni die Pariser Militärgarnison in Alarmbereitschaft versetzt hatte, jeder Erhebung entgegentreten, indem er seine Kräfte zu drei schlagkräftigen Kolonnen zusammenzog, jede bestehend aus Infanterie, Artillerie, Nationalgardisten und Mobilgarde. Diese sollten sich gewaltsam den Weg ins Herz des Aufstandes bahnen. Aus militärischer Sicht mochte das sinnvoll sein, aber wie Alexander Herzen später unglücklich feststellte: »Zu diesem Zeitpunkt hätte man noch alles verhindern können, damals konnte man noch die Republik retten, die Freiheit ganz Europas retten, damals konnte man noch Frieden schließen. Die dumme, ungeschickte Regierung war nicht imstande, es zu tun«.27 Am frühen Morgen des 23. Juni marschierten sieben- bis achttausend Arbeiter ungehindert zur Place de la Bastille, wo Pujol, ergriffen vom Symbolcharakter des Ortes, die Arbeiter bat, die Häupter zu entblößen und »am Grab des ersten Märtyrers der Freiheit niederzuknien«. Seine strenge Stimme tönte über die Stille hinweg: »Die Revolution fängt aufs Neue an«, sprach er zu den gesenkten Köpfen. »Freunde, unsere Sache ist die Sache unserer Väter. Auf ihre Fahnen hatten sie die Worte geschrieben: Freiheit oder Tod. – Freunde! Freiheit oder Tod!«28 Die Menge erhob sich und donnernd erschallte: »Freiheit oder Tod!« Feierlich brachte Pujol sie dazu, mit dem Bau von Barrikaden zu beginnen. »Wie heute sehe ich die ernst dreinblickenden Gestalten vor mir, die Steine schleppten; Frauen und Kinder halfen ihnen«, schrieb später Herzen. Er kam an ein paar Arbeitern vorbei, die einstimmten, als ein Student die »Marseillaise« sang: »Der Chor dieses gewaltigen Liedes, der hinter den Steinen der Barrikaden hervorklang, griff ans Herz«, doch gleichzeitig konnte der russische Sozialist auch das Unheil verkündende Gerassel der Artillerie hören, die über den Fluss setzte. Er sah, wie General Bedeau die »feindliche Stellung« mit dem Feldstecher absuchte.29 Am Abend war fast der gesamte Pariser Osten unter Kontrolle der Aufständischen. Man schätzte ihre Zahl auf 40 000 bis 50 000, während die regulären Truppen 25 000 und die Mobilgarde 15 000 Mann stark waren. Bei Letzteren waren viele sehr jung – manche nicht älter als sechzehn. Da sie sich aus dem gleichen Heer arbeitsloser Männer rekrutierten wie die Aufständischen, war nicht klar, ob auf sie Verlass wäre. Die Nationalgarde indessen, die man in der Zweiten Republik demokratisiert hatte, wies beeindruckende 237 000 Mann auf, doch die unsicheren einfachen Soldaten erwiesen sich beim Ruf zu den Waffen als wenig tapfer.30 Einer der wenigen, die sich zu seinem Bataillon begaben, war Maxime du Camp. Viele seiner Kameraden »übertrieben es mit der
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Zurückhaltung«, wie er Jahre später freundlich formulierte.31 Am ehesten folgten die Angehörigen der mittelständischen Einheiten (die tendenziell in den westlichsten Distrikten der Stadt stationiert waren) dem Schlag der Trommeln. Die Einheiten aus den inneren Bezirken, unter deren Einwohnern es viele Handwerksmeister und Ladenbesitzer gab, wurden durch »übertriebene Zurückhaltung« ernsthaft ausgedünnt. Ihre Kampfunwilligkeit war kein Zeichen von Feigheit, sondern Ausdruck ihrer sozialen Position: Das Kleinbürgertum war von der Wirtschaftskrise stark betroffen, und obwohl es ein Interesse an Recht und Ordnung hatte, wollte es keineswegs in einen Kampf gegen Leute verstrickt werden, die oft genug Kunden, Angestellte oder Nachbarn waren. Von den 64 000 Mitgliedern der Nationalgarde aus den inneren Arrondissements rückten nur 4000 aus. Inzwischen waren Tausende von Männern der östlichen Distrikte zu den Widerständlern übergelaufen. Von den 7000 Nationalgardisten Bellevues schlossen sich 3000 dem Aufstand an. Die Waage neigte sich somit nicht unbedingt auf die Seite der Regierung. Und immer noch wurden letzte Anstrengungen zu einer Schlichtung unternommen: François Arago stand auf der Rue Soufflor, nahe dem Panthéon, vor der Barrikade und versuchte die Aufständischen zum Rückzug zu bewegen. Die verbitterte Antwort zeigte, dass die Barrikaden nicht nur der militärischen Befestigung dienten, sondern eine gesellschaftliche Spaltung innerhalb der republikanischen Bewegung selbst symbolisierten: »Monsieur Arago, bei aller Hochachtung für sie, sie haben nicht das Recht, uns Vorhaltungen zu machen. Sie haben noch nie gehungert. Sie wissen nicht, was Armut ist.«32 Niedergeschlagen und überzeugt davon, dass »Gewalt die Entscheidung treffen muss«, zog sich Arago schließlich zurück. Die ersten Toten waren am 23. Juni zu beklagen, als die Barrikade an der Porte Saint-Denise von Nationalgardisten angegriffen wurde. Es wird kolportiert, dass zwei wunderschöne Prostituierte die Röcke hoben, die Truppen mit Obszönitäten aufreizten und sie zum Feuern herausforderten: Sofort fielen sie im Kugelhagel.33 Die Nationalgardisten schafften es, die Verteidigungsanlagen zu überwinden, doch verloren sie in heftigen Kämpfen dreißig Männer. Am Ende gewann die Regierung die Oberhand, weil sie die überlegenen Feuerwaffen besaß. Als sich Lamartine in der Abenddämmerung dem Kampf anschloss, sah er, wie die Kanone, von Cavaignac gezündet, die Befestigung im nordöstlich gelegenen Faubourgh du Temple dem Erdboden gleichmachte. »Vierhundert tapfere Männer, die – tot oder verstümmelt – das Faubourgh übersäten«, zählte er. Es war ein Gemetzel. Cavaignac selbst überwachte den
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M. Thibaults bemerkenswerte Daguerreotypie der Barrikaden auf der Rue SaintMaur in Paris, kurz nach dem Angriff durch Regierungstruppen im Juni 1848. (Bridgeman Art Gallery)
erfolgreichen Angriff auf eine besonders standfeste Barrikade in der Rue SaintMaur. In seiner Abwesenheit hatte kein anderer als Ledru-Rollin – kein Sozialist, aber eindeutig ein Republikaner des linken Flügels – in dessen Namen in die Provinzen telegrafiert und diese um Unterstützung durch ihre Nationalgarde-Einheiten gebeten. Dies zeigt, wie tief sich der Graben bei den Republikanern in jenen Junitagen auftat und wie entfremdet die Aufständischen selbst von jenen waren, die vielleicht Verständnis für ihr Elend gehabt hätten. Auf Ledru-Rollins Aufruf hin erfolgte jedenfalls eine unverzügliche und enthusiastische Antwort. Die Gelegenheit zur Schlichtung – sofern es je eine gegeben hat – war äußerst schnell vertan. Als die Sozialisten Louis Blanc und Victor Considérant vorschlugen, die Rebellen um Niederlegung der Waffen zu bitten, wurden sie sofort von einem Deputierten zum Schweigen gebracht: »Man redet nicht vernünftig mit Aufrührern, man vernichtet sie!«34 In jener Nacht schliefen viele Abgeordnete unruhig im Parlamentsgebäude, wo auch Cavaignac sein Hauptquartier aufschlug. Als um 8 Uhr die Nationalversammlung erneut zusammentrat, plädierte so mancher der übernächtigten und aufgewühlten Politiker für den Rückzug der
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gesetzgebenden Versammlung in das Vorstadtpalais Saint-Cloud. Weniger Mutige regten sogar die Flucht nach Bourges an. Außenminister Jules Bastide gestand dem britischen Botschafter, dem Marquis of Normanby, dass kein Mitglied der Regierung sicher sein könne, das Ende dieses Tages zu erleben. Tocqueville kritzelte hastig eine Nachricht an seine Frau, in der er ihr riet, die Stadt zu verlassen.35 In dieser Stimmung, die an Panik grenzte, waren viele Abgeordnete – Republikaner wie Monarchisten – der Meinung, dass nur noch eine starke Regierung die Krise meistern könne. Der naheliegende Kandidat war Cavaignac – ein erfahrener Soldat mit tadellosen republikanischen Referenzen à la National; seine gemäßigten Kameraden sahen in ihm den Retter, der die Republik vor der doppelköpfigen Schlange der Revolution und der Königstreue beschützen würde. Selbst die monarchistischen Abgeordneten, die sich in ihrem Klub in der Rue des Poitiers versammelt hatten, setzten auf den General – vielleicht sahen sie ja in einer autoritären Regierung das Vorspiel zur Zerschlagung der Zweiten Republik und den ersten Schritt in Richtung Restaurierung der Monarchie. Um 10 Uhr gab die Versammlung – nach nur fünfundzwanzigminütiger Debatte – die Exekutivgewalt an Cavaignac. Dies bedeutete, dass er die uneingeschränkte militärische Oberherrschaft in der Hauptstadt innehatte, faktisch aber auch Diktator von Frankreich war. Weil die Revolte schon seine Kräfte band, behielt er die Minister, löste aber die Exekutivkammer auf und erklärte den Ausnahmezustand für Paris. Maxime du Camp erinnerte sich des tiefen Eindrucks, den letzteres Dekret hinterließ: »Uns wurde bewusst, dass wir im Begriff standen, eine ernste und entschiedene Richtung einzuschlagen.« Die Pariser Boulevards, auf denen normalerweise dichtes Gedränge herrschte, glichen nun »einer Wüste« … aus der hier und da ein paar streunende Hunde das Weite suchten, so als machte ihnen die große Einsamkeit Angst«.36 Mit Unterstützung der Kanonen legten die Regierungstruppen die Barrikaden in Schutt und Asche. In dem nördlich gelegenen Faubourg Poissonnière wurde du Camps Nationalgardeeinheit in einem Hagel aus Metall gegen eine Barrikade gewirbelt: »Um uns herum ging mit einem schrillen Geräusch ein Teppich von Geschossen nieder, und ich entsinne mich, dass ich stehen blieb und zu Boden blickte … die Pflastersteine wiesen glitzernde, blaue Metallflecken auf, Bleispuren, die sie touchiert hatten, während sie neuen Schwung nahmen.« In diesem Hornissennest fuhr du Camp zusammen wegen »eines heftigen Aufpralls auf meinem Bein, so als wäre ich mit einem dicken Fischbeinknochen geschlagen worden«. Sein Unterschenkel war zersplittert, und sein
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Tote bei einer Barrikade in den Junitagen 1848. Gemälde von Louis Adolphe Hervier. (Bridgeman Art Gallery)«
Stiefel füllte sich mit Blut. Mit meisterhafter Untertreibung erinnert er sich, dass er sich daraufhin »melancholisch« gefühlt habe.37 Sich aus der Sicht der Aufständischen ein Bild von den Kämpfen zu machen, ist etwas schwieriger. Zum einen wurden viele von ihnen getötet – sowohl während der Gefechte als auch während der nachfolgenden Repressalien –, andere taten alles, um der anschließenden Vergeltung zu entkommen und verhielten sich ruhig, nachdem ihnen die Flucht gelungen war. Die Stimmen jener, die Gehör fanden, entstammen vor allem den richterlichen Verhörzellen, eine wenig verständnisvolle Umgebung. Es überrascht daher nicht, dass die meisten gefangen genommenen Aufständischen sich zurückhaltend über ihre politische Überzeugung äußerten und die Rolle, die sie bei dem Aufstand spielten. Ein Angeklagter behauptete, er sei erst mit Alkohol abgefüllt und dann von den Aufständischen zu den Barrikaden geführt worden, wo man ihm befohlen habe zu schießen: »Zum Teufel«, habe er geantwortet, »auf wen?« Auf die Frage, warum er letztlich auf die Soldaten der Obrigkeit geschossen habe, gab er vor: »Ich habe mich mitreißen lassen wie viele andere auch. Die, die nicht mitgezogen haben, wurden als Faulenzer tituliert und schikaniert … Ein Mann vom Land wie ich, der noch nie von solchem Zeug, von dem die geredet haben,
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gehört hat, der nie etwas gesehen hat und der weder lesen noch schreiben kann – ein Mann wie ich wird leicht in die Irre geführt.«38 Natürlich ist es durchaus möglich, dass Aufständische gezwungen oder getäuscht wurden, dennoch sind solche Aussagen mit Vorsicht zu genießen. Immerhin sahen sich diese Gefangenen mit der Möglichkeit von Tod, Deportation oder Arretierung konfrontiert – Grund genug, das eigene Engagement herunterzuspielen. Die Anführer der Revolte hingegen boten unerschrocken politische Gründe für deren Ausbruch. Einer von ihnen, er war wegen seiner politischen Aktivitäten unter der Julimonarchie inhaftiert worden, erklärte seinen Vernehmern unverblümt, was er unter »sozialer Republik« verstand: »Ich meine eine Republik mit sozialen Reformen … kostenlosem Pflichtunterricht und der Organisation der Arbeit in Genossenschaften; … der Arbeiter soll die Frucht seiner Arbeit erhalten, einen Anteil von dem, was ihm jetzt von dem Mann genommen wird, der das Kapital zur Verfügung stellt.«39 Auch den einfachen Anhängern fehlte es nicht an politischem Einfluss. Nach dem 15. Mai waren Delegationen der abgesetzten Luxembourg-Kommission mit den gewählten Vertretern der Nationalwerkstätten in Verbindung getreten, und mit dem Ruf nach einer »demokratischen und sozialen Republik« hielten sie, zusammen mit den Klubs, an einer weit verbreiteten Ideologie fest40 – allerdings war die Bedeutung dieses Begriffs unter der Masse der Aufständischen nicht eindeutig. Denn darüber hinaus schrien viele noch immer nach Louis-Napoleon Bonaparte, Napoleons schillerndem Erben, der am 4. Juni in die Nationalversammlung gewählt worden war und von so manchem als Anwalt des Volkes betrachtet wurde. Die Aufständischen waren sich der republikanischen und sozialistischen Rhetorik sehr wohl bewusst, häufig aber setzten sie sie recht frei ein, um ihrem tiefen Unbehagen Luft zu machen. Deutlich wurde dies beim Verhör des arbeitslosen Hutmachers Louis Bocquet, der seinen Lebensunterhalt in den Nationalwerkstätten verdient hatte. Er war verhaftet worden, während er säbelschwingend auf einer Barrikade nahe dem Pont Saint-Michel stand (und damit gefährlich nahe am Palais de Justice, was vermutlich den Eifer erklärt, mit dem der Vertreter der Anklage ihn befragte). Zwar gab er lediglich zu, nur einmal einen politischen Klub besucht zu haben, machte aber kein Hehl daraus, dass er und andere geplant hatten, »die Barrikaden zu errichten und zu verteidigen, um [parlamentarische] Abgeordnete zu ernennen, die vielleicht großzügiger gewesen wären oder ihre Aufgabe besser erledigt hätten«. Weil er schon so viel gestanden hatte – was in den Augen des Anklägers sicher ausreichte, um
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ihn schuldig zu sprechen –, wäre zu erwarten gewesen, dass er anschließend trotzig auf seine démoc-socs-Motive zu sprechen gekommen wäre, doch er gab kaum mehr zu, als dass »unsere Rechte unterdrückt wurden«. Als er bedrängt wurde, schien es Bocquets Hauptanliegen gewesen zu sein, dass »die Arbeiter Paris nicht verlassen sollten und eines der Ergebnisse dieses Vorsatzes war … dass ich alles in meiner Macht Stehende getan habe, um sie davon abzuhalten«.41 Für viele Arbeiter stellten die Nationalwerkstätten eine der Errungenschaften der Februarrevolution dar, und diese wurden ihnen entrissen: Das und keine voll entwickelte démoc-socs-Ideologie war es, die dem Aufstand seine eher grobe politische Stoßrichtung verlieh. In seinen Memoiren traf denn auch Caussidière den Nagel auf den Kopf, als er die Junitage einen »Aufstand der Verzweiflung« nannte.42 Die Rebellen rekrutierten sich nicht nur aus den Arbeitern der aufgelösten Nationalwerkstätten, sondern auch aus den Fünfzig- oder Sechzigtausend, die nach Paris gekommen waren, um ein Handwerk zu erlernen oder im Falle eines Scheiterns Unterstützung in den Nationalwerkstätten zu suchen, die aber – zum einen wegen des wirtschaftlichen Abschwungs, zum anderen, weil keine Zuwanderer aus den Provinzen mehr zugelassen werden durften – nirgends untergekommen waren. Ihre Beteiligung am Aufstand war Ausdruck der Verzweiflung und Verbitterung. Die große Zahl dieser Ärmsten und Benachteiligten unter den Aufständischen erklärt auch, warum die Inhaftierten Adressen in den schlimmsten Elendsvierteln angaben. Zu diesem trostlosen Bild kam die Tatsache hinzu, dass viele Beteiligte verheiratete, ältere Arbeiter mit Kindern waren, deren Familien extrem gelitten hätten, wenn sie einen Ehemann oder Vater dem Tod, der Gefangenschaft oder dem Exil hätten opfern müssen. Ihre Anwesenheit auf den Barrikaden war ein Hinweis auf das Ausmaß ihrer Verzweiflung.43 Dafür spricht auch, dass die Aufständischen keine politischen Führer aus den Reihen der Sympathisanten der Zweiten Republik rekrutierten. Weder die Klubs (die seit dem 15. Mai unter Druck standen) noch die parlamentarische Führung der republikanischen Linken (von der viele bereits verhaftet oder eingeschüchtert waren) stellten sich an die Spitze des Aufstandes. Auch wenn es ein paar wohlwollende Töne vonseiten der radikalen Politiker gab, so war keiner, der dem Machtzentrum nahestand oder sich in vorderster Front der radikalen revolutionären Bewegung befand, bereit, ernsthafte Schritte im Namen der Aufständischen zu unternehmen. Ganz im Gegenteil: Am 23. Juni noch mahnte Louis Blanc zur Zurückhaltung: »die Gegenrevolution hat darauf gebrannt, eine Gelegenheit zur Zerschlagung [der Zweiten Republik] zu finden
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… die Niederlage ist so gut wie sicher; nichts deutet auf einen Erfolg«.44 Später erklärte er, dass die politischen Klubs in heillose Verwirrung geraten seien und unter den sozialistischen Zeitungsorganen »eine quälende Unsicherheit herrschte«.45 Tatsache war, dass es die meisten Linken kalt erwischte. Zu ihnen gehörte Pierre-Joseph Proudhon, einer der größten anarchistischen Denker (und späterer Freund und Mitstreiter Herzens), der eben vor allem dank der Stimmen der Pariser Arbeiterschaft in die Nationalversammlung gewählt worden war (in derselben Nachwahl, in der auch Louis-Napoleon Bonaparte und Victor Hugo ihre Sitze errangen). Die Junitage, denen er fernblieb, zeigten, wie wenig Berührung Proudhon mit seinen Wählern hatte. »Nein, Monsieur Sénard«, erklärte er später offen dem Präsidenten der Nationalversammlung, »ich war im Juni kein Feigling, wie sie mich vor der Versammlung beleidigten, ich war wie sie und so viele andere ein Idiot.«46 Vermutlich sprach Blanc den meisten sozialistischen Politikern aus dem Herzen, als er schrieb: »Ich war bestürzt. Auf welche Seite sollte ich mich stellen? Ich hielt es für das Beste in die Versammlung zu gehen, wo ich wenigstens einigermaßen nützlich sein konnte, indem ich mich gewaltsamen Maßnahmen, die ihrer Natur nach die Situation verschlimmern oder komplizieren würden, entgegenstellte.«47 Weiter vor wagte sich kaum ein sozialistischer Politiker. Die Kämpfe zogen sich hin bis in den Nachmittag des 25. Juni. An jenem Tag wurde Monseigneur Affre, der Erzbischof von Paris, der zu vermitteln versuchte, tragisches Opfer. Mutig stand er vor den Barrikaden, die den Eingang zur Rue du Faubourg Saint-Antoine blockierten, und hielt Exemplare eines Schlichtungsaufrufs umklammert, den Cavaignac am Morgen auf Drängen Caussidières und Sénards in der Nationalversammlung verfasst hatte. Während Affre sprach, wurde unerklärlicherweise gefeuert, und eine Kugel vonseiten der Regierung zerfetzte seinen Körper. »Möge mein Blut das letzte sein, dass vergossen wird«, lauteten die Worte des Sterbenden, bevor er als Märtyrer und Opfer der Grausamkeit der Revolution in die konservative Ikonographie einging. Und ohne Frage gab es Gräuel: Während General Jean de Bréa in Verhandlungen versuchte, den letzten Widerstand, der sich auf eine eindrucksvolle Barrikade auf der Place d’Italie konzentrierte, zu beseitigen, wurde er ergriffen und von den Aufständischen gefangen genommen. Auf die Frage, wie mit dieser besonderen Krise umzugehen sei, kam die schaurige Antwort von Cavaignac: »Die Republik kann nicht um des Lebens eines leichtsinnigen Generals willen geopfert werden.«48 Als die Barrikade gestürmt wurde, war Bréas Leben nicht mehr zu retten: Die Rebellen hatten Gerüchte gehört (die nur zu
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wahr waren), nach denen die mobile Garde Gefangene exekutieren würde, und hatten zur Vergeltung den General und seinen Adjutanten bereits erschossen. Die Presse vervielfachte noch Ausmaß und Schrecken solcher Gräueltaten. Der liberale, monarchistische Constitutionnel berichtete seinen Lesern, dass: »die [Aufständischen] ihre Gefangenen lieber feige ermordeten, indem sie ihnen die Köpfe vom Rumpf trennten, als sie freizulassen, … sie Gefangene gehängt, vier Offiziere der mobilen Garde mit einem Hackbeil auf einem Klotz geköpft und einen anderen in zwei Teile gesägt haben und mehrere Soldaten dieser Einheit lebend verbrennen wollten … Leichen wurden entweiht. Schon richtig, dass man sie nicht direkt aufgegessen hat; aber nur Geduld, das kommt noch, wenn sie weiterhin auf die Sozialisten hören.«49 Provinzzeitungen, die ihre Informationen vor allem aus Pariser Flugblättern zogen, druckten diese Geschichten als Tatsachen ab. Dass solche Erzählungen weithin Glauben fanden, ist ein Zeichen für die Kluft, die sich in der französischen Gesellschaft aufgetan hatte: zwischen Reichen und Armen, Gemäßigten und Liberalen, Parisern und Provinzbewohnern. Es war nur ein kleiner Schritt von der Dämonisierung der Aufständischen hin zu dem Schluss, dass die Straßenkämpfe nichts anderes als ein Kampf zwischen »Anarchie« und »Zivilisation« seien. Am 29. Juni traf Le National sein Urteil: »Auf der einen Seite stehen Ordnung, Freiheit, Zivilisation, die ehrbare Republik, Frankreich; und auf der anderen Barbaren, Kriminelle, die aus ihren Verstecken hervorkommen, um zu töten und zu plündern«.50 Die Aufständischen begingen in der Tat Gräueltaten, doch die Soldaten der Regierung töteten gleichermaßen kaltblütig oder weil (so der offizielle Sprachgebrauch) die Gefangenen »einen Fluchtversuch unternahmen«.51 Die Zahl dieser im Schnellverfahren Hingerichteten beläuft sich nach Schätzungen der Konservativen auf 150 und nach Schätzungen der Sozialisten auf 3000 Menschen (nach Karl Marx), die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. Die meisten dieser Morde gingen eher auf Racheakte seitens der Bürgermilizen, der Mobilund der Nationalgarde als der Armee zurück, deren Offiziere ihr Möglichstes zum Schutz der Gefangenen taten. Anders als die Massenhinrichtungen, die dem Pariser Kommunardenaufstand 1871 folgten, scheinen sie kein Teil der offiziellen Politik gewesen zu sein. Vielmehr habe laut Marx »die Bourgeoisie für die ausgestandene Todesangst sich in unerhörter Brutalität entschädigt«.52
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Eine von Flauberts Figuren, der alte Monsieur Roque, der freiwillig bei der Nationalgarde dient, genießt es, vor dem Gefängnis, das sich unterhalb der zum Fluss hin liegenden Tuilerienterrasse befindet, Posten zu stehen. Die Gefangenen, »im Unrat zusammengepfercht, ein wirres Durcheinander, schwarz von Pulver und geronnenem Blut, vom Fieber geschüttelt und vor Wut schreiend«, betteln um Brot. Als Antwort darauf feuert Roque seine Muskete mitten in die rasende Menschenmasse.53 Mindestens 1500 Arbeiter waren nun getötet und etwa 11 727 weitere gefangen genommen worden. In eilig improvisierten Gefängnissen warteten sie auf Abtransport oder Inhaftierung. Rund 6000 wurden innerhalb von ein paar Tagen, andere innerhalb der nächsten Jahre schrittweise freigelassen, und 468 schließlich nach Algerien deportiert. Die Hospitäler von Paris nahmen 2529 Verletzte auf, doch vermutlich gab es erheblich mehr Männer und Frauen, die aus Angst vor Inhaftierung versuchten, ihre Wunden zu Hause zu versorgen. Aufseiten der Regierung hatten die Armee, die Nationalgarde und die Mobilgarde über neunhundert Männer verloren. Für die Linken indessen stellten die Junitage den »Sieg der Reaktion« dar. Caussidière reagierte gereizt auf die mit »Theater-Emphase« in der Nationalversammlung feiernden Gemäßigten, »während man die Todten in dem durch die Kugeln und Kartätschen verwüsteten Faubourg St. Antoine aufsuchte«.54 Der Aufstand gab der Linken ihre Märtyrer. Am Abend des 26. Juni »hörten« Herzen und seine Freunde »Salven in geringen Abständen … Wir alle blickten einander an, alle hatten grüne Gesichter … ›Das sind doch Erschießungen‹, sagten wir wie mit einer Stimme und wandten uns voneinander ab. Ich preßte die Stirn an die Fensterscheibe. Für solche Minuten haßt man zehn Jahre lang, denkt man sein ganzes Leben nur an Rache. Wehe dem, der solche Minuten verzeiht!«55 In diesem Klima war es für Zuschauer, manche besorgt, andere hoffnungsfroh, ausgemachte Sache, die Junitage als Klassenkonflikt zu sehen. Tocqueville schrieb später: »Ich hatte schon vorher angenommen, daß die ganze Arbeiterklasse, sei es mit der Waffe in der Hand, sei es mit dem Herzen, an dem Kampfe teilnahm; dies wurde mir jetzt bestätigt. Der Geist des Aufruhrs durchströmte diese Volksschicht insgesamt und jeden einzelnen, der ihr ange-
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hörte, von Kopf bis Fuß wie das Blut den ganzen Körper. … wir fühlten ihn überall um, über und unter uns und sogar in unserem eigenen Heim. Hier, wo wir wirklich glauben konnten, allein die Herren zu sein, wimmelte es von häuslichen Feinden. Die Atmosphäre des Bürgerkrieges lag über ganz Paris«.56 Seiner Meinung nach war der Juniaufstand anders als alle anderen Erhebungen seit 1798, denn »sein Ziel war die Änderung nicht der Regierungsform, sondern der Gesellschaftsordnung. Es war nicht im eigentlichen Sinne […] ein politischer, sondern ein Klassenkampf, eine Art Sklavenaufstand.«57 Von der anderen Seite her stimmte Marx natürlich zu, dass sich die Junitage zu einem Klassenkampf entwickelt hatten: Es war eine »ungeheure Insurrektion, worin die erste große Schlacht geliefert wurde zwischen den beiden Klassen, welche die moderne Gesellschaft spalten. Es war der Kampf um die Erhaltung oder Vernichtung der bürgerlichen Ordnung.«58 Es ist richtig, dass eine der wichtigsten Folgen der Junitage die Verschärfung von Gegensätzen war, doch das betraf nicht unbedingt den Gegensatz zwischen den streng getrennten Klassen der »Proletarier« und der »Bourgeoisie«. Die Aufständischen waren in erster Linie Handwerker in mittelständischen Betrieben wie Schneidereien, Schuhmachereien, Möbelschreinereien und Metallwerkstätten. Es gab auch Büroangestellte und Ladenbesitzer – einen unteren Mittelstand, der etwa 10 Prozent der Arretierten ausmachte. Zudem kämpften unzählige ungelernte Arbeiter und Bauarbeiter sowie Arbeiter aus modernen Fabriken, etwa den Eisenbahnwerken. Die breite Basis der Revolte verdeutlicht vor allem das Ausmaß des wirtschaftlichen Elends, von dem während der Krise Mitte des Jahrhundertes so viele Menschen betroffen waren.59 Auf der anderen Seite waren unter den Truppen, die ein Cavaignac in der Nationalgarde aufstellte, ebenso gut situierte »Bourgeois« aus den wohlhabenden westlichen Bezirken wie Ladenbesitzer und Arbeiter, die glaubten, ihre Nachbarschaft vor »Anarchie« schützen zu müssen. Und obwohl sich die Mobilgarde aus denselben arbeitslosen Massen rekrutierte wie die Aufständischen, verhielt sie sich nicht so wie man hätte meinen können, sondern kämpfte energisch für die Regierung. Auch die Arbeiter in anderen Städten regten sich – in Lyon kam es zu Gewalttaten, in anderen Industriestädten, etwa Limoges, zu Spannungen –, doch die ländliche Bevölkerung unterstützte im Allgemeinen die Regierung und hielt Gottesdienste zum Gedenken an die Soldaten, die bei der »Verteidigung der Republik« gefallen waren. In manchen kleineren Städten
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kursierten Gerüchte, dass die Pariser Aufständischen auf dem Land plünderten. Daher handelte es sich weniger um einen Kampf zwischen Bürgern und Arbeitern als vielmehr um die Feindseligkeit zwischen städtischen Arbeitern und einem breiten Querschnitt der französischen Bevölkerung. Während die Klassenkampf-Rhetorik des 19. Jahrhunderts die komplexen Zusammenhänge eher verdeckte, waren Antipathie und soziale Ängste nur allzu real. Alle Franzosen, die meinten, etwas zu verlieren zu haben, schockierte die Aussicht auf sozialen Abstieg. Die weit verbreitete Angst vor dem, was die Pariser Aufständischen vielleicht im Schilde führten, rief in der Provinz eine dramatische Reaktion hervor. Cavaignacs Ruf nach Hilfe vom 23. Juni wurde in der Provinz mit Begeisterung erhört: Am Ende machten sich einige 100 000 Freiwillige auf den Weg in die Hauptstadt, die meisten davon zu spät, um noch an den Kämpfen teilzunehmen, doch schon per Eisenbahn – es war das erste Mal, dass man sie in Frankreich für militärische Zwecke nutzte. Verbitterung und Wut, das Erbe der Junitage, sollte die Anhänger der Zweiten Republik für immer in Linke und Gemäßigte spalten. Zu den Ersteren zählten Blanc und Caussidière, die – politisch isoliert und in der Nationalversammlung jetzt Angriffen ausgesetzt – es vorzogen, nach London ins Exil zu gehen. »Je mehr ich von den Repräsentanten des Volkes sehe«, soll Lamartine gesagt haben, »desto lieber habe ich meine Hunde.« Paris befand sich noch bis Oktober im Ausnahmezustand, sodass 50 000 bewaffnete Männer durch die Straßen zogen oder in Baracken warteten. Im August erzwang ein neues Gesetz die Einstellung von mehreren Zeitungen, indem es die verhasste Stempelsteuer wieder einführte und die Bezahlung einer Kaution als Sicherheit vor Strafverfolgung verlangte. Die Polarisierung zwischen links und rechts sollte einen tiefen Spalt offenbaren, in den Louis-Napoleon Bonaparte trat, die Nemesis der Zweiten Republik.
II
Viele Beobachter werteten die Pariser Junitage als entscheidendes Moment für Europa. Wenn Paris mit seiner großen revolutionären Tradition in die Knie gezwungen werden konnte, dann war dies auch in Mailand, Venedig, Wien, Budapest und Berlin möglich. Der junge deutsche Journalist Ludwig Bamberger, Verfechter der Demokratie, saß mit Kollegen in einem Frankfurter Garten,
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nachdem er die Nachrichten von dem Aufstand vernommen hatte: »Wir fühlten, daß dort eine Entscheidung fallen werde, die verhängnisvoll eingreifen müsse in die Geschicke der französischen Revolution und damit in die ganze europäische Lage. Wir hatten ein deutliches Vorgefühl davon, daß hier ein Wendepunkt eingetreten sei für den ganzen Inhalt zukünftiger politischer Bewegungen.«60 Bambergers deutsche Zeitgenossen Karl Marx und Friedrich Engels waren ebenfalls der Meinung, dass die Junitage einen Wendepunkt darstellten: »sofort erhoben in ganz Europa«, schrieb Engels, »die neuen und alten Konservativen und Konterrevolutionäre das Haupt mit einer Frechheit, die zeigte, wie gut sie die Bedeutung der Ereignisse verstanden«.61 Bamberger, der kein Sozialist war, sah die große Schwäche der Pariser Arbeiter darin, dass sie wussten, was sie wollten (soziale Gerechtigkeit), aber keine Möglichkeit besaßen, dies zu verwirklichen. Ein Prinzip, so argumentierte er, kann »richtig« sein, wenn es moralisch integer und praktisch umsetzbar ist. Zu diesem Zeitpunkt hatten Marx und Engels bereits einen Schritt nach vorne getan, um dem »Proletariat« eine rationale und klare Zukunftsprognose zu liefern. Auf Marx’ Drängen hin erhielt eine sozialistische Untergrundorganisation, die Anhänger in Frankreich, der Schweiz und Deutschland hatte, den Namen »Kommunistischer Bund«. Sein Motto war international ausgerichtet – »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« – und stand überall. Marx erklärte die Ziele: »Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufgebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum.«62 Das Kommunistische Manifest, verfasst von Marx und Engels, erschien Anfang 1848, und prophezeite einen Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als treibender Kraft, die die moderne Gesellschaft durch die Feuerprobe der Revolution leiten werde. Dieser Kampf führe zur »Diktatur des Proletariats«, die wiederum eine egalitäre Gesellschaft forme. Diese Theorie basierte auf der Annahme, dass ein klassenbewusstes, zukunftsorientiertes und solidarisches Proletariat existierte, das die Aufgabe übernähme, den bürgerlichen Kapitalismus in der nächsten Revolution zu zerstören. Genau das machte auf lange Zeit gesehen die Stärke und auf kurze Zeit gesehen die 1848 gezeigte Schwäche des Kommunistischen Manifests aus. Die Argumentation entfaltete eine derart große Wirkung, weil sie eine Zukunftsvision entwickelte, die die Krankheiten und Ungleichheiten der industriellen Gesellschaft als Teil eines historischen Prozesses verstand, der auf den Sozialismus hinführt. Dieser Prozess werde schmerzvoll, aber notwendig sein, denn das Proletariat gehe bei
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der Endabrechnung als strahlender Sieger aus der unvermeidlichen Revolution hervor. Aus diesem Grund stehe die Geschichte auf der Seite der Arbeiterklasse. Das Kommunistische Manifest bot weniger eine Analyse der Gesellschaft von 1848 als eine Analyse der künftigen Entwicklungen. Doch 1848 war die Industrialisierung, die zur Entstehung eines Proletariats führte, noch weit von ihrem Höhepunkt entfernt, und das war einer der Gründe, warum der Kommunistische Bund in Deutschland oder sogar in Frankreich so wenig Einfluss besaß. Dort gab es kein solidarisches und klassenbewusstes Proletariat mit politischem Sachverstand, um die neue Revolution auch durchzuführen. Deutsche und französische Arbeiter waren keine Hilfsarbeiter in Fabriken, sie waren gelernte Arbeiter und Handwerker in kleinen Werkstätten – und dabei wollten sie es belassen. Sie waren qualifiziert und hofften auf Unabhängigkeit, und sie kämpften mit Klauen und Zähnen gegen die Industrialisierung. Sie wollten nicht Teil des Industrieproletariats werden, jener wachsenden Masse von ungelernten oder angelernten Arbeitern, deren einziges verkäufliches Wirtschaftsgut ihre Arbeit im Dienst der unbarmherzigen Fabrikmaschine oder Dampfmaschine war. Die Handwerker wollten ihre Interessen nicht in einem Klassenkrieg verteidigen, sondern mittels traditioneller Methoden wie Zünften und Arbeiterbruderschaften, die seit jeher Handwerksnormen aufrechterhielten, über Handelszulassungen bestimmten und unter den Mitgliedern ein Gefühl von Solidarität schufen. Folglich fanden gebildete und belesene Arbeiter wenig im Kommunistischen Manifest, das unter den gegebenen Zuständen von unmittelbarer Bedeutung für sie gewesen wäre. Einer von Marx’ Mitstreitern, Stephan Born, hatte Verständnis dafür, da er selbst als Schriftsetzer in einem Berliner Verlag gearbeitet hatte. Als gewählter Vorsitzender des Komitees der Berliner Buchdruckergehilfen organisierte er einen erfolgreichen Streik für bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, und sein Beispiel fand überall in Deutschland Nachahmung. Als er die deutschen Arbeiter organisieren sollte, entledigte er sich der Klassenkampfrhetorik und wandte sich deren unmittelbaren Belangen zu. Bei einer anschließenden Begegnung mit seinen intellektuellen Meistern Marx und Engels, fühlte er sich unwohl: »Man hätte mich ausgelacht oder bemitleidet, hätte ich mich als Kommunist gegeben. Das war ich auch nicht mehr.«63 Wohl hatte der kommunistische Bund Anhänger in Deutschland, insbesondere im Rheinland, wohin Marx 1848 von seinem Londoner Exil aus zog. Er ließ sich in Köln nieder, wo er und Engels die Neue Rheinische Zeitung herausgaben. Außer diesem Organ besaß der Bund der Kommunisten schlagkräftige
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Ortsgruppen in Hamburg, Breslau und Nürnberg; seine Vertreter waren 1849 in ganz Deutschland aktiv und verteilten Propagandaschriften, die das Zentralkomitee in London verfasst hatte. 1848 aber stellten die meisten Kommunisten fest, dass sie ihre Programme abschwächen mussten, um die Mehrheit der deutschen Arbeiter zu erreichen. Einer von ihnen, Wilhelm Weitling, musste im Sommer 1848 gezwungenermaßen erfahren, dass auf dem Deutschen Arbeiterkongress in Berlin seine radikaleren Forderungen abgelehnt wurden, worauf er geflissentlich Gespräche über den Klassenkampf vermied. Marx und Engels begriffen äußerst schnell, dass das leidenschaftliche Kommunistische Manifest nicht auf die deutschen Zeitgenossen angewandt werden könne: Die »Forderungen der Kommunistischen Partei Deutschlands«, die Ende März in Paris erschienen, blieben weit hinter den extremen Gleichheitsvorstellungen, die man für die Zukunft ins Auge fasste, zurück. Stattdessen verlangten sie unter anderem »ein Mittel zur Organisation der Arbeit«, Nationalwerkstätten, die Abschaffung der verbliebenen Feudallasten für die Bauern und eine progressive Einkommensbesteuerung. Andererseits spiegelte das Programm die Forderungen der deutschen Demokraten wider: Deutschland sollte zu einer geeinten Republik mit allgemeinem Wahlrecht für die Männer, einer allgemeinen Volksbewaffnung, der Trennung von Kirche und Staat sowie einer allgemeinen und unentgeltlichen Volkserziehung werden.64 Doch selbst dieses abgeschwächte soziale Programm ging den deutschen Handwerkern und gelernten Arbeitern zu weit. Marx’ Versuch, eine Dachorganisation für alle im Entstehen begriffenen Arbeitervereinigungen zu schaffen, wurde im April zurückgewiesen; daraufhin wechselten er und Engels ihren Schwerpunkt und konzentrierten sich auf die Unterstützung der deutschen republikanischen Bewegung. Dass es nicht leicht war, die wesentlichen wirtschaftlichen Belange der Arbeiter mit dem politischen Kampf der Demokraten zu verbinden, musste Marx feststellen, als er versuchte, den Kölner Arbeiterverein umzugestalten. Der Sozialist Andreas Gottschalk, Gründer und erster Vorsitzender dieser Organisation, die im Sommer 8000 Mitglieder zählte, wollte die Arbeiter von der politischen Aktion weg, hin zu einer stärkeren Konzentration auf die prosaischeren Probleme der sozialen Lage und der Arbeitsbedingungen lenken. Er war der Meinung, Hauptanliegen des Vereins sei die Erhöhung des moralischen Drucks auf das Bürgertum und zwar in erster Linie mittels seiner Zeitung. Letztlich glaubte er, dass das Chaos, das durch die Wirtschaftskrise entstand, die Arbeitgeber derart verunsichern würde, dass sie die Arbeitsbereitschaft so vieler erwerbsloser Menschen anerkennen, sich auf die Seite der Arbeiter stel-
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len und in einer friedlichen Umwandlung erkennen würden, welch weise Einrichtung eine sozialistische Gesellschaft sei. Jonathan Sperber, Historiker der demokratischen Bewegung im Rheinland, behauptete, dass Gottschalks Bemühungen, ein politisch passives Klassenbewusstsein zu schaffen, unter den ärmsten Arbeitern eine besondere Anziehungskraft besaß, waren sie doch »durch jahrzehntelange Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung darauf trainiert, von der Wohlfahrt zu leben«.65 Marx schloss sich zunächst der stärker politisch ausgerichteten Kölner Demokratischen Gesellschaft an. Anders als Gottschalks Organisation, die Handwerksgesellen und Arbeiter anlockte, rekrutierte diese Gesellschaft ihre Mitglieder hauptsächlich aus den Reihen der gebildeteren Handwerksmeister und Arbeiter. Der Unterschied zwischen den beiden Organisationen veranlasste Marx und die Demokraten dazu, Gottschalk als Handlanger der Reaktion anzuklagen, »er sei erkauft und bestochen worden von der Regierung und den Bourgeois zu dem Zwecke, die Arbeiter so lange mit schönen Worten herumzuführen, bis die Reaktion wieder sich bekräftigt habe«.66 Die Obrigkeit selbst war anderer Meinung: Sie inhaftierte Gottschalk Anfang Juli und erlaubte Marx und seinen Mitarbeitern, den Verein zu übernehmen und ihn in ein Instrument umzuwandeln, durch das die Massen armer Arbeiter an die demokratische Bewegung gebunden werden konnten. Doch eben weil sie nicht mehr auf die Bedürfnisse der Mitglieder eingingen (und anfingen, Mitgliedsbeiträge zu erheben), verkümmerte die Organisation. Im Herbst bewegte sich die Mitgliederzahl in den Hundertern statt in den Tausendern. Bamberger, der sich während des Kongresses der demokratischen Vereine (auf dem 89 Vereine aus 66 Städten vertreten waren) vom 14. bis zum 17. Juni in Frankfurt aufhielt, bemerkte die Probleme, die es bei der Aussöhnung zwischen Republikanern und Sozialisten gab: »Hier zum ersten Male kam mir der scharfe Unterschied zum Bewußtsein, welcher die bis dahin gemeinsamen radikalen, republikanischen Ansichten von den rein sozialistischen schied und für die Zukunft immer mehr scheiden sollte. Die Entdeckung war überraschend und peinlich zugleich für mich. Ich entsinne mich noch höchst deutlich des Mißgefühls, mit dem sie mich erfüllte.« Für Bamberger drehte sich die Auseinandersetzung um die Frage, ob man den politischen oder den sozialen Themen Vorrang einräumen sollte: Zwar akzeptierte er, dass Marx, Gottschalk und die anderen vielleicht berechtigte Argumente auf ihrer Seite hatten, doch hielt er es für notwendig, diese geschickt und maßvoll vorzubringen. Auf dem Kongress hörte er entsetzt, wie Gottschalk unverblümt den Sozialismus darlegte und so einen großen Teil des Publikums abschreckte, der daraufhin den Saal
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verließ. Bamberger und die anderen Demokraten wollten nicht auf eine einzelne gesellschaftliche Klasse bauen, sondern hofften darauf, eine politische Bewegung ins Leben zu rufen, die soziale Unterschiede überbrückte. Traurig sah er, wie immer mehr Delegierte den Kongress verließen: Das, so spürte er, war nicht der Weg, eine noch immer zerbrechliche und am Anfang stehende Bewegung zu hegen und zu pflegen.67 Sieht man einmal von ein paar Hitzköpfen ab, blieb die deutsche Arbeiterbewegung in ihrem Programm gemäßigt. Am 15. Juli schickten Handwerker Abordnungen zum Handwerker- und Gewerbekongress nach Frankfurt, der von Karl Georg Winkelblech, genannt »Marlo«, Lehrer an einer Kasseler Gewerbeschule, geleitet wurde. In ihren Forderungen vermischte sich die nostalgische Sehnsucht nach einer Rückkehr zu vorindustriellen Zuständen mit einem fortschrittlichen Bedürfnis nach sozialer Reform. Der Kongress wollte sowohl die Vormachtstellung der Großindustrie zurückdrängen als auch die Bitterkeit sozialer Konflikte vermeiden. Man hoffte, die Unabhängigkeit, der in Bedrängnis geratenen Handwerksmeister durch die Wiedereinführung der Zünfte zu schützen, die die einzelnen deutschen Staaten abgeschafft hatten, verlangte aber gleichzeitig nach einer staatlich geförderten »Organisation der Arbeit«, bei der die Regierung mit den Zünften zusammenarbeiten und die Produktion überwachen sollte. Diese Mischung aus rückwärtsgewandten und fortschrittlichen Forderungen war ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft, die sich mitten im Übergang vom vorindustriellen zum Industriezeitalter befand.68 Als die Handwerksmeister, die nicht im Traum an gesellschaftliche Solidarität dachten, sich weigerten, auf dem Kongress Sitze oder Stimmen an ihre Handwerksgesellen abzugeben, spalteten sich Letztere ab, veranstalteten ihren eigenen Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongress und schlossen sich in der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung zusammen, die modernere Formen politischer Identität pflegte: »Unterschiede von Meistern und Gesellen« lehnte sie als antiquiert ab, stattdessen sollten die Arbeiter »die modernen gesellschaftlichen Gegensätze von Kapitalisten und Arbeitern« akzeptieren.69 Hier wirkte sich letztlich der Marxismus aus, denn achtundvierzig führende Köpfe der Verbrüderung waren zugleich Mitglieder des Kommunistischen Bundes. Angesichts dieser frühen Äußerung von Klassenbewusstsein verwundert es nicht, dass nach wie vor das Jahr 1848 als Geburtsjahr der deutschen Arbeiterbewegung gilt. Die Verbrüderung selbst war allerdings Resultat der intensiven Arbeit Stephan Borns, der sich nicht auf einen Klassenkampf vorbereitete, sondern viel-
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mehr davon träumte, die gesamte deutsche Arbeiterschaft zu einer größeren politischen Vereinigung zusammenzuschweißen, und mit dem Berliner Zentralausschuss einen Anfang machte. Dessen Forderungen spiegelten die üblichen Belange von Handwerkern wider: So sollte ein angemessener Anteil von staatlichen Aufträgen an kleinere Werkstätten gehen und günstige Kredite zur Verfügung gestellt werden, um Investitionen im Bereich der Kleintechnologie zu ermöglichen; darüber hinaus sollten eine progressive Einkommensbesteuerung, Ruhestandsgeld und das Recht auf Arbeit garantiert werden, um sicherzustellen, dass jeder für sich selber sorgen könne. Der Berliner Zentralausschuss verlangte kostenlose Erziehung für alle, damit am Ende Kandidaten aus der Arbeiterklasse in das Parlament gewählt werden könnten, und stellte den Antrag auf eine Kommission aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die Arbeitskämpfe verhindern sollte. Nationalismus oder Angriffe auf das Privateigentum waren kein Thema, bei diesem Programm handelte es sich eher um einen Aufschrei der Handwerker gegen die Industrialisierung, einen Protest gegen die Abqualifizierung des Handwerkers, der durch den wirtschaftlichen Druck gezwungen wurde, sein Gewerbe aufzugeben und sich einer Fabrik, der Disziplin des unbarmherzigen Maschinentempos oder dem neuen Arbeitsrhythmus, der von den Unternehmern angeordnet wurde, auszuliefern.70 Born organisierte die Brüderschaft auf dem Berliner Kongress – der zwischen dem 23. August und 3. September stattfand und auf dem 31 Verbände aus 25 Städten vertreten waren. Die Resolution der Verbrüderung umfasste den Zehnstundentag, die Abschaffung der Besteuerung von Konsumgütern (die die Armen proportional stärker traf), unentgeltliche allgemeine Erziehung, Herabsetzung des Wahlalters und die Aufteilung großer Landgüter. Auch sollte das Frankfurter Parlament eine »soziale Kammer« einrichten, eine Art von Luxembourg-Kommission, die bei Parlamentsdebatten Gesetzesentwürfe zu sozialen und wirtschaftlichen Themen einbringen konnte. Die Brüderschaft hatte ihren Sitz in Leipzig und unterhielt Bezirkskomitees in 27 deutschen Städten, wodurch sie ein nationales Netzwerk für deutsche Arbeiter schuf. Diese regionalen Niederlassungen arbeiteten sehr pragmatisch, um angeschlagenen Handwerkern zu helfen: Manche gründeten Kartelle, um Rohstoffe in großen Mengen einzukaufen; andere riefen Arbeitsagenturen ins Leben und stellten Gesellen Geld zur Verfügung, damit sie zur Arbeitssuche auf Reisen gehen konnten. Der Berliner Ortsverband entwickelte ein Versicherungsmodell für Arbeitsunfähige, das rund 20 000 Interessenten anzog. Die Brüderschaft legte somit trotz ihrer gelegentlich feurigen Klassenrhetorik die Betonung auf
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einen überlieferten liberalen Wert – die Selbsthilfe. Um diesen umzusetzen, bot sie ein Bildungsprogramm an: Wenn sie wollten, konnten die Arbeiter Vorträge zu so unterschiedlichen Themen wie Religion, Ethik, die Französische Revolution von 1789, Geografie und Volkswirtschaftlehre besuchen.71 All das war höchst achtbar und stellte für die junge liberale Ordnung keine direkte Herausforderung dar: Genau genommen waren die Forderungen nach einer »sozialen Kammer«, die dem Frankfurter Parlament angeschlossen sein sollte, ein deutliches Signal, dass die Brüderschaft mit dem neuen Regime zusammen- und nicht gegen es arbeiten wollte. Der Arbeiterkongress der Handwerksgesellen in Frankfurt, dessen Teilnehmer scharenweise der Brüderschaft zuliefen, sammelte sich nicht um ein rotes, sondern um ein grünes Banner mit einem goldenen Eichenkranz. »Das langfristige Ziel«, schreibt Wolfgang Siemann, »hieß Integration der Arbeiter in die politische Demokratie.«72 Später spottete Marx, dass die deutschen Revolutionäre, wenn sie je einen Bahnhof stürmen sollten, eine Bahnsteigkarte lösen würden. Die grundsätzliche Zurückhaltung der deutschen Arbeiterbewegung bedeutete nicht, dass das Bürgertum mit seinen aufflackernden Ängsten vor Aktionen verschont blieb, auf denen die Arbeiterschaft ihre Stärke demonstrierte. Am 4. Juni bewegte sich – die schwarz-rot-goldenen Fahnen der deutschen Einheit schwenkend – ein großer Protestzug der demokratischen Vereine Berlins zur Allee Unter den Linden: Handwerker, Zivilgardisten sowie die Frauen und Töchter der (ausschließlich) männlichen Mitglieder der Vereine marschierten mit. Fanny Lewald, die sich noch immer an die Hoffnung klammerte, dass eine neue Friedensära anbrechen werde, merkte an: »Es wäre schlimm, wenn wir in unserer Zeit noch kein anderes Argument für die Wahrheit besäßen, als den Donner der Kanonen und das Beil der Guillotine.« Dennoch veranschaulichte die Demonstration auf drastische Weise die soziale Spaltung innerhalb der städtischen Gesellschaft. Nach den ansässigen Handwerksmeistern, die die Banner ihrer alten Zünfte trugen, kamen die arbeitslosen, verarmten Handwerker und Handwerksgesellen, die hinter dem grünen Banner der Brüderschaft marschierten, das ein Spruch zierte, der ebenso Bitte wie Drohung darstellte: »Die brotlosen Arbeiter!« Lewald schauerte zusammen: »[Die Arbeiter] werden berechtigt sein, sich einen Platz in der Gesellschaft und Genuß des Lebens zu erkämpfen, wenn man nicht friedliche Mittel findet, ihnen genug zu thun.«73 Als ob er diese Bitte beherzigen wolle, tat der im Wesentlichen aus Handwerkern und Angehörigen des Bürgertums bestehende Demokratische Klub alles, um dreihundert Arbeitslose pro Woche zu verköstigen. Trotzdem hatten seit
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der Märzrevolution nicht weniger als 70 000 Menschen aus Angst um ihre Sicherheit fluchtartig Berlin verlassen. Die Ereignisse im Juni schienen ihnen recht zu geben, da sie den Hoffnungen der Liberalen auf eine gütliche, friedliche Entwicklung hin zu einem neuen Preußen einen schweren Schlag versetzten. Die Wahlen zum preußischen Landtag hatten im Mai auf der Basis des indirekten, aber allgemeinen Wahlrechts für Männer stattgefunden und eine Mischung aus Bauern, Adeligen, Handwerkern, Ladenbesitzern, zahlreichen Hausangestellten, aber (überraschend) wenig Rechtsanwälten hervorgebracht – Arbeiter fehlten. Das Parlament mit seinem starken linken Flügel trat erstmals am 22. Mai zusammen; von 395 Delegierten waren 120 Demokraten, darunter am Rande des Spektrums auch Republikaner. Diese Zusammensetzung erstaunte die Zeitgenossen – und nicht zuletzt auch das Parlament selbst. Friedrich Wilhelm IV. hatte den gemäßigten rheinischen Liberalen Ludolf Camphausen als Ministerpräsidenten beibehalten. Letzterer war kein Revolutionär und glaubte, dass nur eine enge Zusammenarbeit zwischen dem preußischen Staat und den Reformern, die Kommunistencliquen, wie er sie nannte, davon abhalten könne, Amok zu laufen.74 Lewald war klar: »Er will vermittelnde Übergänge«, aber die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben: »Man sieht diesen bleichen Zügen sorgenvoll durchwachte Nächte an und Stunden des Kampfes.«75 Es war offensichtlich, dass Camphausen weder über eine Mehrheit im Parlament verfügte, noch Kontrolle über die Berliner Demokraten besaß. Als der König bei der Parlamentseröffnung am 22. Mai einen Verfassungsentwurf übermittelte, wurde dieser kurzerhand abgelehnt und stattdessen ein parlamentarischer Ausschuss gebildet, der eine eigene Version erstellen sollte. Einmal mehr ließ die Linke die Muskeln spielen, indem sie am 8. Juni einen Antrag vorlegte, der von den Abgeordneten faktisch die Anerkennung der Volkssouveränität und die Legalisierung der Revolution gegenüber dem königlichen Machtanspruch forderte: Der Landtag sollte erklären, dass die Aufständischen, die in der Märzrevolution gekämpft hatten, »sich wohl um das Vaterland verdient gemacht haben«.76 Camphausen schaffte es, genug Stimmen aufzubringen, um diesen brisanten Antrag zu vereiteln, doch die Linke schien weiterhin Amok zu laufen. Die Ablehnung des Antrags provozierte sechs Tage später einen Aufstand, dessen Ziel die Aufstellung einer bewaffneten demokratischen Bürgermiliz war, einer, die nicht auf Studenten und Männer mit Besitz beschränkt blieb. Der Anführer der Aufständischen, Friedrich Wilhelm Held, war weder orthodo-
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xer Sozialist noch Demokrat: Als ehemaliger Leutnant der preußischen Armee, einstiger Schauspieler und Autor nützte er seine spitze Feder und scharfe Zunge, um auf dem Platz »In den Zelten« die Menschenmenge aufzurütteln. Der eiserne Kern seiner Anhänger war unter den Eisenbahnarbeitern zu finden, deren Zeitung Die Locomotive er herausgab. Seine Vision war sowohl obrigkeitlich als auch populistisch, kombinierte sozialistisches, militaristisches und königstreues Gedankengut – und war somit Vorläufer der modernen rechtsextremistischen Ideologie, die soziale Revolution mit eiserner Herrschaft verband. Held nutzte die verbreitete Angst vor einem militärischen Angriff auf die Stadt, und so kam es, dass sich am 14. Juni seine Anhänger auf dem kleinen Platz vor dem königlichen Zeughaus drängten und nach Waffen verlangten. Als die Masse sich nach vorne schob, feuerten die wachhabenden Soldaten und töteten zwei Demonstranten. Wie vorherzusehen war, folgte ein Tumult, in dessen Verlauf die Wachen überwältigt und das Zeughaus geplündert wurde. Dieses Ereignis steigerte die politische Erregung in Berlin bis zum Siedepunkt. Gemäßigte Demokraten wie Born versuchten, sich von der Rebellion zu distanzieren (er nannte Helds Eisenbahnarbeiter »Plünderer«, während die nach links tendierende Fanny Lewald den Angriff als »verbrecherisch« verurteilte); für die Konservativen aber war sie ein Geschenk, denn immerhin konnten sie jetzt glaubhaft versichern, Berlin sei durch bewaffnete Arbeiter gefährdet. Am Ende des Monats schrieb eine verzweifelte Lewald: »Der Ton der Parteien, die sich immer schroffer gegenübertreten, wird von beiden Seiten heftiger, und selbst der Hinblick auf den furchtbaren Straßenkampf in Paris scheint die Parteiwuth aufzustacheln, statt sie zu besänftigen und zum Frieden zu ermahnen.« Wie französische Beobachter der Pariser Tragödie sah die Schriftstellerin die sich anbahnende Krise in Berlin unter sozialen Aspekten: »Dieser Kampf der Besitzenden gegen die Nichtbesitzenden war es, der mir als eine unausbleibliche Gewißheit vor der Seele schwebte, lange ehe diese jetzige Revolutionszeit in unsern Gesichtskreis getreten war. Nun ist er hereingebrochen und man weiß ihm nicht anders zu begegnen, als mit der Macht der Bajonette, mit den Kugeln der Kanonen.«77 Die Liberalen waren jetzt in der Mitte gefangen und mussten zwischen dem Drang der Obrigkeit, die Ordnung wiederherzustellen, und dem Wunsch, die schwer erkämpften Freiheiten, die jetzt die »Roten« zu ermutigen schienen, wählen. Niemand, nicht einmal die Konservativen, war auf eine echte Gegenrevolution vorbereitet, doch Camphausens Rücktritt am 20. Juni – er war nicht bereit, Soldaten, das Mittel der alten absoluten Monarchie, in die Stadt zu holen, um das Parlament zu schützen – ließ viele glauben,
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dass die extreme Linke außer Kontrolle geraten sei. Einer von ihnen, der Philosoph David Friedrich Strauß, gab offen zu: »Einer Natur wie die meinige war es unter dem alten Polizeistaat viel wohler als jetzt, wo man doch Ruhe auf den Straßen hatte und einem keine aufgeregten Menschen, keine neumodischen Schlapphüte und Bärte begegneten« (Radikale, die als »wilde Rote« abgestempelt wurden, gaben sich dadurch zu erkennen, dass sie Fellkappen und lange Bärte trugen).78 Strauß stand mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit stellvertretend für die Berliner, die sich Frieden und Ordnung wünschten. Die königlichen Truppen, ehemals Feinde, wurden nun auf den Straßen als die Beschützer der gesetzestreuen Bürger freudig begrüßt. All das war Wasser auf die Mühlen der Konservativen, die nun in Bewegung kamen. Friedrich Wilhelm hatte sich, erschüttert von der Revolution, in die friedliche Umgebung von Schloss Sanssouci zurückgezogen. »Scham und innerer Vorwurf lasten schwer auf ihm«, schrieb ein hessischer Gesandter, »schon im Äußeren ist er ermüdet.«79 Doch weil er immer wieder stundenweise nach Berlin fuhr, um sich dort mit liberalen Ministern zu besprechen, denen er nicht ganz vertraute, hatte er sich den Freiraum geschaffen, der ihn schließlich zur Leitfigur für Konservative wie Gerlach werden ließ, der später von Otto von Bismarck als »vornehmer und selbstloser Charakter, ein treuer Diener des Königs« beschrieben wurde.80 Gerlach drängte seinen königlichen Herrn, der Revolution zu widerstehen und »nicht um Haares Breite zu weichen«.81 Friedrich Wilhelm war ganz Ohr: Insgeheim hielt er die Revolution für eine Sünde, als König musste er sich vielmehr mit seinen »wahren« Leuten zu verbünden suchen, die ihn wirklich liebten. Unter den Männern, die am Hof erschienen, um ihre Dienste anzutragen, war auch Bismarck, der dem König wieder und wieder versicherte, dass seine Macht nach wie vor auf festen Fundamenten ruhe.82 Während Friedrich Wilhelm sein Selbstvertrauen zurückerlangte, gingen die Konservativen im Parlament daran, Widerstand zu leisten, weil sie spürten, dass die öffentliche Meinung sich allmählich vom Chaos der Revolution abzuwenden begann. Die Vorlage des Verfassungsentwurfs vom 26. Juli bot dazu die Gelegenheit. Den Vorsitz im Verfassungsausschuss hatte Benedikt Waldeck inne, ein älterer Richter aus Westfalen, der durch seine Rechtschaffenheit, seinen Katholizismus und das Bewusstsein von den Mühen des Alltags einen wahrhaften Republikaner abgab. Die »Charte Waldeck«, wie der Entwurf scherzhaft genannt wurde, glich indessen einem Dolch, der auf das Herz der preußischen Monarchie, das Militär und die Junkerherrschaft, zielte. Dem Parlament wurden die Kontrolle über die Volksmiliz und ausgedehnte Machtbe-
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fugnisse durch exekutive Aufsicht (einschließlich des Rechts, diplomatische Verträge zu ratifizieren) übertragen; dem König räumte man eher ein aufschiebendes als ein absolutes Vetorecht ein; Adelstitel und die Überreste feudalherrschaftlicher Privilegien schaffte man ab. Bis zum Sommer hatten die Konservativen in Sachen konstitutioneller Monarchie bestenfalls Lippenbekenntnisse geleistet, jetzt lehnten sie die »republikanischen« Paragrafen dezidiert ab. Nachdem am 31. Juli in der kleinen schlesischen Stadt Schweidnitz vierzehn Menschen von Soldaten niedergemäht worden waren, während sie für eine Bürgermiliz demonstrierten, verabschiedete das Parlament am 9. August ein Dekret, nach dem alle Soldaten einen Eid auf die Treue zur Verfassung leisten und »die Offiziere allen reaktionären Bestrebungen fernbleiben« mussten.83 Es war der verzweifelte Versuch, die Loyalität des Militärs zu halten, doch gleichzeitig stillschweigendes Eingeständnis einer Schwäche der entstehenden liberalen Ordnung. Ähnliche Schwachstellen deckte man in Frankfurt auf, wo am 18. Mai das deutsche Parlament zum ersten Mal zusammentrat. Der genaue Wahlmodus war den einzelnen Staaten überlassen; die Richtlinien vom 7. April gaben nur vor, dass die Wähler erwachsen und männlichen Geschlechts sowie »unabhängig« zu sein hatten, näher definiert wurde dieser Begriff allerdings nicht. Aus diesem Grund konnten die meisten deutschen Regierungen das Wahlrecht auf jene beschränken, die Besitz vorzuweisen hatten, bestimmte Steuerarten oder -sätze zahlten oder nicht von ihrem Lohn allein lebten.84 Die Mehrheit der Staaten hielt zudem indirekte Wahlen ab, was den Honoratioren vor Ort, die normalerweise in die Wahlmännergremien gewählt wurden, die Möglichkeit zur Einflussnahme verschaffte. Nach Schätzungen kamen, umgerechnet auf ganz Deutschland, immerhin drei Viertel der erwachsenen männlichen Bevölkerung in den Genuss des Wahlrechts, auch war die Wahlbeteiligung im Allgemeinen hoch. Bezeichnenderweise tendierten Länder mit einem breiter angelegten Wahlrecht zur Wahl konstitutioneller Monarchisten oder sogar konservativer Abgeordneter, während in Ländern mit einer begrenzteren Wählerschaft, etwa Baden und Sachsen, demokratische Delegierte gewählt wurden. Wie die meisten Bauern Europas war auch die ländliche Bevölkerung Deutschlands konservativ und der Monarchie treu ergeben. Die Radikalen dagegen fanden vor allem beim kleinstädtischen Bürgertum Anklang, während die republikanischen Kandidaten dort besser abschnitten, wo ihre Stimmen nicht von einer breiteren ländlichen Wählerschaft abgezogen wurden.85 Nur wenige wirklich blaublütige Konservative wurden überhaupt gewählt, da
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die meisten von ihnen die Wahlen verächtlich gemieden hatten. Die allgemeine Unterstützung der Monarchie zeigte sich dementsprechend im starken Abschneiden der liberalen Anhänger der konstitutionellen Monarchie, die 585 Sitze gewannen und damit die Hälfte der Abgeordneten stellten, wobei sie sich in Gemäßigte und Linke aufteilten. Darüber hinaus gab es eine lautstarke Gruppe Radikaler, die 15 Prozent der Abgeordneten ausmachte. Sie setzte sich zu gleichen Teilen aus Leuten zusammen, die aus taktischen Gründen bereit waren, mit den konstitutionellen Monarchisten zusammenzuarbeiten, dazu gehörte etwa Robert Blum, und fundamentaleren Demokraten, die keine Kompromisse mit den Überbleibseln des alten Regimes dulden wollten. Aufgrund seiner großen Mehrheit von Abgeordneten aus dem Bürgertum und akademischen Kreisen wurde die Versammlung als »Parlament der Professoren« bezeichnet, ein Beiname, der zugleich andeutet, dass die Politiker etwas Pedantisches ausstrahlten und zu keinen praktikablen Lösungen für die Herausforderungen der Zeit fanden. Doch letztlich hatten die Deputierten gar keine Gelegenheit, sich im Elfenbeinturm zu verstecken. Denn während sie an der Verfassung für ein vereinigtes Deutschland arbeiteten, wurden sie mit einer internationalen Krise konfrontiert, die ernste Folgen für die junge freiheitliche Herrschaftsordnung haben sollte. Im Mai kam es im Schleswig-Holsteinischen Krieg unter dem diplomatischen Druck vonseiten Englands, Russlands und Schwedens zu einer vorübergehenden Waffenruhe. Am 26. August wurden die Preußen gezwungen, in Malmö ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen, wonach sich preußische wie dänische Truppen gleichermaßen zurückziehen mussten und die provisorische deutsche Regierung in Schleswig abgesetzt und von einer gemeinsamen dänisch-preußischen Behörde ersetzt wurde. Sofort erhob sich ein Proteststurm in ganz Deutschland. Und es zeigte sich, dass die vom Parlament berufene provisorische Regierung unter dem populären habsburgischen Erzherzog Johann nicht die Macht besaß, Preußen, ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung, von der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens abzuhalten. Offensichtlich lag die wahre Macht noch immer in den Händen des alten Systems und nicht in der schönen neuen Welt eines vereinigten Deutschland. Von den Liberalen des rechten Flügels machte sich der Historiker Friedrich Dahlmann Luft im Parlament, als er ausrief, dass durch den Waffenstillstand »diese neue deutsche Macht […] von Anfang her in ihrem Aufkeimen beschnitten […] werde«. Sollte man sich dem internationalen Druck beugen, so warnte er, »meine Herren, werden Sie Ihr ehemals stolzes Haupt nie wieder
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erheben! […] Denken Sie an meine Worte: Nie!«86 Am anderen Ende des politischen Spektrums warnte Robert Blum, dass der Abschluss des Waffenstillstandsabkommens einen Aufstand entfachen werde. Die Delegierten, die sich entweder in verletztem Stolz empörten oder vor einem Aufstand des linken Flügels zurückschreckten, stimmten dafür, den Waffenstillstand abzulehnen. Erzherzog Johanns liberale Minister, die sahen, dass dieses Votum der Entscheidung gleichkam, den Krieg gegen Dänemark fortzusetzen – und möglicherweise eine englische und russische Intervention heraufzubeschwören –, dankten ab. Am 16. September sollte diese Gefahr endlich ins allgemeine Bewusstsein dringen – das Parlament nahm sein Votum zurück (selbst Dahlmann hatte seine Meinung geändert). Preußen war einfach zu mächtig und die Möglichkeit eines europäischen Krieges zu groß, als dass die Nationalversammlung beide provozieren wollte. In Frankfurt jedoch hatte diese Wendung dramatische Folgen. Denn am folgenden Morgen hörten 12 000 Leute bei einer Versammlung, wie die Anhänger der extremen parlamentarischen Linken zu einer zweiten Revolution aufriefen. Ein Protest der Massen musste her, wer für den Waffenstillstand war, galt als Verräter und sollte sein Mandat abgeben. Erzherzog Johanns neuer Ministerpräsident, der gerissene Österreicher Anton von Schmerling, stellte sich der Herausforderung sogleich und verlangte zum Schutz der Nationalversammlung Truppen aus Hessen-Darmstadt, Österreich und Preußen. Am nächsten Morgen marschierten 2000 Soldaten ein. Am 18. September drängte sich dann eine große Menschenmenge auf dem Platz vor der Paulskirche, wo ein paar Demonstranten einen unbewachten Hintereingang zur Nationalversammlung entdeckten. Als Fäuste und Äxte die Türen einschlugen, trat Heinrich von Gagern vor und brüllte: »Ich erkläre jeden Frevler an diesem Heiligthum für einen Hochverräther am Vaterlande!«87 Sein Mut ließ die Angreifer innehalten, sie zogen sich sofort zurück. Der Rest der Sitzung fand schließlich hinter den verriegelten Toren der Kirche statt. Draußen räumten Soldaten den Platz, und die Barrikaden, die überall in der Innenstadt aufgetürmt worden waren, wurden von den Hessen gestürmt. Von Gagerns Kinder, die man in einer Kutsche hinauseskortierte, konnten in der Ferne das Knattern der Musketenschüsse hören. Insgesamt wurden sechzig Aufständische und Soldaten getötet – zudem zwei Paulskirchenabgeordnete des konservativen Lagers: Hans von Auerswald und Felix Lichnowsky. Sie wollten draußen die Lage erkunden, als ein Trupp Rebellen sie umzingelte. Auerswald wurde auf der Stelle getötet; Lichnowsky, einen der freimütigeren und deshalb unbeliebten konservativen Abgeordneten, metzelte man
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barbarisch nieder: Sie brachen ihm mit wiederholten Schlägen die Knochen, um den Hals hängten sie ihm das Wort »Geächteter«, anschließend banden sie ihn an einen Baum und benutzten ihn als Zielscheibe. Das war ein Schock für ganz Deutschland. Doch im leidgeprüften Baden marschierte am 22. September ein unverbesserlicher Gustav Struve zusammen mit anderen Republikanern, darunter Wilhelm Liebknecht*, später einer der Gründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, über die Schweizer Grenze ins Land. Sie besetzten das Lörracher Rathaus, riefen eine deutsche Republik aus und machten sich daran, den Besitz bekannter Monarchisten zu konfiszieren, womit sie bei Liberalen und Konservativen gleichermaßen für Unruhe sorgten. Zudem hoben sie erfolgreich eine Streitmacht aus – nach Struves optimistischer Schätzung zählte sie 10 000 Mann –, die allerdings schlecht ausgerüstet war. Als sie vier Tage später bei Staufen auf die Truppen des Großherzogs stießen, waren sie innerhalb von zwei Stunden besiegt. Bevor er und seine Frau (selbst eine aktive Demokratin) verhaftet wurden, entging Struve knapp der Ermordung durch wütende Monarchisten. Die Septemberkrise brachte die deutsche Revolution klar auf einen konservativen Kurs. Frankfurt stand jetzt unter Kriegsrecht. Kurz nach den blutigen Ereignissen kam Carl Schurz in die Stadt: »Als ich auf meinem Wege nach Eisenach in Frankfurt ankam, biwakierten die siegreichen Truppen auf den Straßen um ihre Wachtfeuer; die Barrikaden waren noch nicht ganz hinweggeräumt; das Pflaster war noch mit Blutspuren befleckt; überall hörte man den schweren Tritt von Patrouillen. […] Die königlich-preußische Regierung hatte dem Nationalparlament, das die Souveränität des deutschen Volkes repräsentierte, erfolgreich Schach geboten. Diejenigen, die sich das Volk nannten, hatten ein Attentat gemacht auf die aus der Revolution hervorgegangene Verkörperung der Volkssouveränität, und diese hatte gegen den Haß des Volkes Schutz suchen müssen bei der bewaffneten Macht der Fürsten. Damit war der im März begonnenen Revolution tatsächlich das Rückgrat gebrochen.«88 Allmählich zeigte sich immer deutlicher, dass die wahre Macht nicht in den Händen der Nationalversammlung und ihrer freiheitlichen Regierung lag, son*
Der Vater von Karl Liebknecht (Anm. der Übers.)
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dern bei den Einzelstaaten – und den Fürsten –, die nach wie vor über den Gehorsam ihrer bewaffneten Streitmächte verfügten. Inzwischen war die Revolution dabei, sich selbst zu zerfleischen. Wie in Frankreich polarisierte sich die deutsche Politik zunehmend, als die Liberalen mehr und mehr nach autoritären Lösungen suchten, um Recht und Ordnung zu verteidigen. Auf dem linken Flügel schrieb ein vernünftiger und standhafter Blum an seine Frau, dass er sich am liebsten ganz aus der Politik zurückziehen und die weitere Entwicklung aus bequemer Ferne beobachten würde, wäre da nicht die Schande, seine demokratischen Genossen im Stich zu lassen. Schurz merkte an, dass die Abgeordneten des rechten Flügels »mit dem Lächeln des Triumphes auf den Lippen« im Parlament säßen.89 Obwohl Radikale beim Frankfurter Aufstand durchaus die Führung übernommen hatten, waren andere durchaus bemüht, eine friedliche Beilegung zu erzielen. Es nützte ihnen wenig: Wie ihren französischen Pendants schob man ihnen die Schuld in die Schuhe. Fanny Lewald, die einen Monat später Frankfurt besuchte und das Verfahren der Nationalversammlung beobachtete, fiel der starke »Parteihaß« auf; es machte sie traurig, »wie viele der Deputirten glaubenslos sind, wie sie Einer den Andern für schlecht, für wahnwitzig erklären und einander jede politische Einsicht absprechen«. Auch bemerkte sie, dass die Konservativen kaltblütig »als letztes Argument Kartätschenkugeln brauchen«.90 Clotilde Koch-Gontard, die Tochter eines in Frankfurt führenden Industriellen, die Salons und Abendessen für die gemäßigten Liberalen veranstaltete, schrieb am 23. September, sie sei von der Revolution enttäuscht. Liberale und Konservative schalt sie für ihren »deutschen Eigensinn und die Kleinlichkeit«, glaubte aber auch, dass die Linke provoziert habe. »Der Waffenstillstand war nur ein Vorwand. Es wäre auch ohne ihn der Bürgerkrieg ausgebrochen, und den haben wir, das müssen wir uns nun klarmachen. Diese Linke kann es nicht verantworten, was sie an Deutschland versündigt«.91
III
Auch in Österreich spielte die Angst vor gesellschaftlichen Unruhen den Konservativen in die Hände. Nach der Flucht der Königsfamilie am 17. Mai und der allgemeinen Reaktion darauf, spürte die Regierung von Baron Pillersdorf, dass es an der Zeit war, zurückzuschlagen. Ein neues Pressegesetz sollte nun das
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Veröffentlichen landesverräterischer Schriften, Majestätsbeleidigung und Versuche, die öffentliche Moral zu untergraben, mit Gefängnis bestrafen. Die Regierung ging am 25. Mai so weit, einen Vorstoß gegen die Hauptquelle des Wiener Radikalismus, die Studentenbewegung, zu unternehmen, indem sie die Auflösung der Akademischen Liga und die Schließung der Universität anordnete. Doch die Obrigkeit übertrieb, denn noch war sie zu schwach, um dem unvermeidlichen Widerstand der Studenten und ihrer Verbündeten aus der Arbeiterklasse standzuhalten. Schon am nächsten Tag protestierten die Studenten, und Arbeiter, die sich mit Werkzeug bewaffnet hatten, marschierten in die Innenstadt. Mithilfe schwerer Pflastersteine, die sie aus dem Straßenbelag hievten, errichteten sie hundertsechzig Barrikaden. »Vielerorts reichten sie bis zum zweiten Geschoss der Häuser hoch … über ihnen flatterte entweder die rote oder schwarze Flagge, die sicheren Zeichen für Blut und Tod.«92 Dennoch kam es nicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Regierung, sich ihrer Schwäche sehr wohl bewusst, lenkte am 27. Mai ein und versprach, der Akademischen Legion und der Nationalgarde unter dem Kommando des »Sicherheitsausschusses«, der nach der Flucht des Kaisers ins Leben gerufen worden war, die Sorge für die Sicherheit der Stadt zu überlassen. Die Erhebung vom 26. Mai, sofern sie eine war, sollte denn auch den Höhepunkt der Wiener Revolution bilden. Den meisten Österreichern war ohnehin alles zu weit und zu schnell gegangen. Der amerikanische Diplomat William Stiles meinte, dass die gemäßigten Anhänger der Verfassung »einen doppelten Kampf« ausfochten, erstens den des Volkes gegen die alte Regierung; zweitens den der neuen Regierung gegen die Radikalen beziehungsweise gegen die Feinde jeglicher Regierung. Er zweifelte nicht daran, dass sie, vor die Wahl gestellt zwischen dem alten System und weiterem Aufruhr, Ersteres als das kleinere Übel wählen würden.93 Viele Österreicher erschreckte die Militanz der Radikalen, die bei der Unterstützung der deutschen Einheit zutage trat – einer Einheit, die die einst so mächtige österreichische Monarchie zu einem bloßen Anhängsel des größeren Deutschland machen würde, das womöglich eine Republik und, schlimmer noch, von den verhassten Preußen beherrscht sein würde.94 Gleichzeitig gab es gesellschaftliche Ängste, die durch das Wissen um die Armut der österreichischen Arbeiter noch verstärkt wurden. Durch die allgemeine politische Unsicherheit und einen Rückgang der Konsumgüternachfrage, ausgelöst durch die anhaltende Flucht der Reichen aus Wien, verschlimmerte sich im Laufe des Sommers 1848 die wirtschaftliche Not. Anfangs waren die Wiener Arbeiter politisch noch relativ unbewusst, sie behiel-
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ten ihr Zutrauen in die Studenten, die sie bei Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern oft um Hilfe baten. Doch schon bald begannen die Rufe radikaler Journalisten nach Vereinigung der Proletarier, die Verbalattacken gegen Reiche und die Forderung, dass die Regierung mehr für die Armen tun müsse, Wirkung zu zeigen. Von dem neuen liberalen System nämlich waren Arbeiter auf zweifache Weise ausgeschlossen: Erstens wurde ihnen die Mitgliedschaft in der Nationalgarde verwehrt, die im Wesentlichen eine Miliz des Bürgertums blieb und die Aufgabe hatte, Eigentum zu sichern; zweitens wurde bis zur Sturmpetition vom 15. Mai das Wahlrecht all jenen vorenthalten, die Tages- oder Wochenlohn bezogen, Bedienstete oder Wohlfahrtsempfänger waren. Um das Elend der etwa 16 000 Arbeiter der Stadt zu mildern, wurde man nun aktiv. Im Frühling hatte die Regierung die Steuern auf bestimmte Lebensmittel gesenkt oder sogar abgeschafft und öffentliche Arbeiten vergeben, unter anderem die Befestigung der Donauufer. All das reichte aber nicht, um dem anwachsenden Arbeitslosenheer zu helfen, das am stärksten unter der Wirtschaftskrise litt. Den ganzen Sommer über wurden auf Versammlungen Rufe laut nach niedrigeren Mieten oder überhaupt keinen Mieten, auch zogen Wiener Arbeiter erstmalig durch die Straßen und zwangen Arbeitgeber, eine ZehnStunden-Woche sowie Lohnerhöhungen zu gewähren. Die Schneider organisierten eine Versammlung, auf der sie forderten, dass man Frauen (die die Löhne der Männer unterboten) verbiete, Kleider und Schleier anzufertigen. Der Laden einer französischen Hutmacherin wurde geplündert. Um die Militanz der Arbeiterklasse in den Griff zu bekommen, rief der Sicherheitsausschuss ein Arbeitskomitee ins Leben, das mit der Beschaffung von Nahrungsmitteln und weiteren öffentlichen Aufgaben für die Erwerbslosen betraut wurde und zugleich den Zuzug von Nichtwienern in die Stadt verhindern sollte. Arbeiter bekamen die Aufgabe übertragen, die kaputten Maschinen zu reparieren und die Fabriken wieder aufzubauen, die während der Märztage niedergebrannt worden waren. Doch trotz all dieser Bemühungen gelangten weiterhin verarmte Nichtwiener, die verzweifelt nach Hilfe suchten, in die Stadt, wodurch die mit öffentlichen Arbeiten Betrauten zu einem wahren Heer anschwollen. Die Regierung machte sich allmählich Sorgen über die Kontrolle dieser potenziellen Bedrohung und die Kosten für einen bereits gefährlich dezimierten städtischen Etat. In dieser Atmosphäre allgemeiner Unsicherheit fanden nun die Wahlen zum österreichischen Parlament statt. Folgerichtig erhielten die Konservativen beziehungsweise die gemäßigten Liberalen die Mehrheit, obwohl der linke Flü-
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gel eine nicht unerhebliche Minderheit darstellte. Sie sollte später wichtig werden, für den Moment dominierte die für Recht und Ordnung stehende Gruppierung der Mitte, die das Ministerium und die Verfassung vom 25. April befürwortete. Das Parlament trat am 22. Juli zusammen. Zu diesem Zeitpunkt war unter Baron Johann Philipp von Wessenberg – einem früheren Diener des alten Systems, der die Politik auf einen stärker monarchistischen Kurs lenken konnte – ein neues Ministerium gebildet worden. Zur Ministerriege gehörte der reumütige liberale Jurist Alexander Bach, der, weil er Instabilität und revolutionäre Gewalt nicht ausstehen konnte, sich ohnehin den Konservativen zuneigte. Und während die Sommersonne unvermindert vom Himmel schien, gelang es der Regierung, ihre Macht zu festigen: mit der Zerschlagung der tschechischen Republik im Juni, mit der Bezwingung der Piemonteser in Norditalien im Juli und mit der Aushebung kroatischer Truppen gegen die Ungarn. Im August ging man sogar daran, die Macht des Kaisers im Zentrum zu festigen. Noch aber befand sich Wien im Ausnahmezustand. Graf Alexander von Hübner war aus seiner Mailänder Haft entlassen worden und nach Österreich zurückgekehrt, wobei er unterwegs gemütlich in der Schweiz Ferien machte. Als er endlich daheim ankam, war er entsetzt ob des Anblicks, den die kaiserliche Hauptstadt bot: »Aber wie sieht mein altes gutes Wien so ganz anders aus! Kaum zu erkennen […] Man sieht fast nur ungewaschene Studenten in fragwürdiger Toilette, Nationalgardisten, die nicht wissen, wie sie sich mit ihrem Säbel zu benehmen haben, Proletarier und Hetären der niedrigsten Art. Die ›Gutgesinnten‹, wie sie sich selbst nennen, die ›Schwarzgelben‹, sperren sich entweder zu Hause ab oder sind nach Baden, Hietzing, Döbling oder andern Orten der Umgebung entflohen, seufzen für den Kaiser und zittern im Kreise ihrer Familie.«95 Für Stiles hatte sich die Stadt von einem Lustgarten in eine Arena trostloser Politik verwandelt: »ständige Spektakel, Umzüge, Fahnenweihen, Festivitäten der Brüderlichkeit«. Zudem fiel ihm auf, dass die Flucht von Hof und Adel die Umsätze in der Hauptstadt ernsthaft hatte zurückgehen lassen und die Hersteller von Luxuswaren in den Ruin trieb – eine Einschätzung, der Engels beipflichtete. Daher war nicht nur das Bürgertum bereit, in den »Ruf nach Rückkehr zu einem geordneten Regierungssystem und nach Rückkehr des Hofes« einzustimmen.96 Nachdem eine Abordnung des Parlaments Kaiser Ferdinand von seiner
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Sicherheit überzeugt hatte, kehrte der am 12. August endlich zurück. Mädchen streuten Blumen auf den Weg der kaiserlichen Familie, als diese den Donaudampfer verließ, die Begrüßung war voller Freude. Ein Mitglied der Familie beeindruckte Hübner, der der Prozession zusah, besonders: der 18-jährige Franz Joseph, Neffe des Kaisers in Militäruniform. »Der ernste, fast finstere Ausdruck, nicht ohne einen Anflug edler Entrüstung, auf dem Antlitze des Erzherzogs Franz Joseph wirkte auf mich wie ein Licht- und Hoffnungsstrahl.«97 Die Radikalen parierten Ferdinands Rückkehr mit einer stürmischen Versammlung von 10 000 Mitgliedern demokratischer Vereine im »Odeon«, wo man erklärte, weiterhin hinter der extremen Linken der Frankfurter Nationalversammlung zu stehen. Dies wiederum provozierte einen Aufschrei unter den gemäßigteren Wienern, die die Akademische Legion und die Radikalen beschuldigten, den Republikanismus zu nähren. Allein die wirtschaftliche Not und das Thema der öffentlichen Arbeiten waren unangefochten. Die Regierung, die Pariser Junitage im Gedächtnis, zögerte, die Projekte ganz einzustellen, stattdessen verkündete sie Lohnkürzungen – was die Krise jedoch zuspitzte. Am 21. kam es – angeführt von den Frauen – in den Vorstädten zu Straßenprotesten. Am nächsten Tag fertigten Arbeiter eine Puppe in Gestalt des für öffentliche Arbeiten zuständigen Ministers, um diese mit den Worten zu bestatten, er sei an dem Geld erstickt, das er den Arbeitslosen entzogen habe. Bei dem Versuch der Nationalgarde, die Demonstranten zu zerstreuen, kam es zu Zusammenstößen, die am 23. August eskalierten. Die Akademische Legion, die sich weigerte, an der Niederschlagung der Proteste teilzunehmen, wollte sich allerdings nicht mit den Aufständischen verbinden und blieb als reine Beobachterin der nun folgenden Geschehnisse im Hintergrund. Doch ohne die Unterstützung seitens jener, die sie als ihre Anführer betrachteten, hatten die Arbeiter keine Chance. Die Demonstranten wurden mit flachen Säbelklingen erschlagen, von Bajonetten aufgespießt und erschossen. Zwischen sechs und 18 Arbeitern wurden getötet und zwischen 36 und 152 ernsthaft verwundet (je nachdem, ob man der Zählung der Regierung oder der der Radikalen Glauben schenkt). Als der Kampf vorbei war, schmückten Frauen aus den wohlhabenderen Vierteln die Bajonette der Nationalgardisten mit Blumengirlanden. Wie bei den Pariser Junitagen waren die Arbeiterproteste spontan ausgebrochen, ohne politisches Zutun der radikalen Führung; trotzdem schien eine Schlussfolgerung unausweichlich: Die konservative Wiener Zeitung meldete, die Arbeiter hätten den Gegensatz zwischen ihrer unverdienten Armut und dem bewaffneten Eigentum gesehen, und in diesem Augenblick sei ein Proleta-
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riat entstanden, das es so vorher nicht gegeben habe.98 Die Radikalen aus dem Bürgertum versuchten zwar die soziale Kluft zu leugnen. Der Demokratische Klub buhte Marx aus, der damals gerade Wien besuchte, als er darzulegen versuchte, dass die Gewalt Ausdruck eines Klassenkampfs zwischen Proletariat und Bourgeoisie sei. Für Engels jedoch war der 23. August der Moment, in dem das Bürgertum die Sache des Volkes preisgab: »So wurde die Einheit und Macht der revolutionären Verbände zerschlagen; der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat war auch in Wien blutig zum Ausdruck gekommen, und die konterrevolutionäre Kamarilla sah den Tag herannahen, an dem sie es wagen konnte, zu ihrem großen Schlag auszuholen.«99 Marx dagegen war der Meinung, dass nicht nur die Bourgeoisie die Revolution im Stich ließ; seine Ideen, die er bei Arbeiterzusammenkünften vortrug, trafen auf wenig Gegenliebe. Am 7. September verließ er denn auch Wien, darüber klagend, dass die Arbeiter nicht einsehen wollten, dass sie einen Klassenkampf gegen die Bourgeoisie wagen sollten. Doch wenn sie sich auch nicht der klassenbewussten Begriffe bedienten, die Marx bevorzugt hätte, die Angst vor sozialer Not war da, und die sozialen Spannungen sollten mit dazu beitragen, die liberale Ordnung zu sprengen. Zunächst ließ sich die Reaktion langsam an: Die öffentlichen Arbeiten wurden eingestellt, immerhin aber durch ein »Comité zur Unterstützung mittelloser Gewerbsleute« ersetzt, das sich darum bemühte, Beschäftigung für die Arbeitslosen zu finden. Mit anderen Worten, es gab kein direktes Eingreifen von staatlicher Seite mehr, doch wenigstens ging das Komitee seine Aufgabe voller Enthusiasmus an und beriet sich mit den Zünften darüber, wie die Regierung die wirtschaftlichen Bedingungen verbessern könne. Die Nationalgarde wurde der unmittelbaren Oberhoheit des Innenministeriums unterstellt, das auch die Verantwortung für Recht und Ordnung übernahm – insgesamt ein Signal für das Ende des Sicherheitsausschusses, dessen gemäßigte Mitglieder am 25. August selbst den Antrag zur Auflösung stellten.100 In Wien drehte sich also das Blatt wieder zugunsten der Konservativen, und auch in Prag war zu diesem Zeitpunkt die Gegenrevolution fast an ihr Ende gelangt. Doch die sozialen Konflikte in tschechischen Städten wurden durch die ethnischen Spannungen zwischen den Tschechen und den Deutschen zusätzlich verkompliziert. Zwar machten die Arbeiter der tschechischen Kronländer nur einen sehr kleinen Prozentsatz der Bevölkerung aus, doch die Erinnerung an ihre Zerstörungskraft im Jahr 1844 sorgte dafür, dass es vier Jahre später Ängste vor einem »kommunistischen Aufstand« gab.101 Dennoch wurde
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wenig unternommen, um ihre Not zu mildern (obwohl in Prag die Preise bestimmter Nahrungsmittel gesenkt, Hilfsgüter gesammelt und Arbeitslose bei öffentlichen Projekten beschäftigt wurden). Einstweilen lautete der beste Rat, den die liberale Zeitung Bohemia erteilen konnte, man solle auf den Verfassungsentwurf warten, der gewiss allen eine bessere Zukunft bescheren würde. Im Grunde aber waren die Arbeiter von der neuen politischen Ordnung ausgeschlossen: Das Stimmrecht wurde ihnen zunächst im April bei der Wahl zum Mährischen Landtag in Brünn, dann am 28. Mai bei der Verabschiedung des böhmischen Wahlgesetzes durch den Nationalausschuss verweigert. Die Nationalgarde war wie überall zum Schutz des Eigentums gegründet worden und dazu, die Arbeiter in Schach zu halten. Das Versäumnis, Letzteren das Wahlrecht zu gewähren, zeigte sich, als der Nachschub an Rohstoffen (wie etwa Baumwolle aus den Vereinigten Staaten) durch eine verminderte Kreditwürdigkeit abnahm, sodass Fabriken schließen mussten und die Arbeitslosigkeit weiterhin ungebremst nach oben schoss. Darüber hinaus gab es einen starken Preisanstieg. Deshalb war es kaum verwunderlich, dass die Arbeiter unruhig blieben, zumal sie der Niedergang der österreichischen Macht zur Gewalt animierte. Anfang Mai gingen sie deshalb in Prag auf die Straßen, in MährischOstrau und Brünn kam es zu Streiks. Während die Arbeiter in Wien bei Studenten und der demokratischen Presse Fürsprecher fanden, hatten sie in Prag wenig Einfluss. Die Forderung nach der »Organisation von Arbeit und Löhnen« aus den Petitionen vom März waren vom Nationalausschuss stillschweigend aufgegeben worden. Der Fokus der tschechischen Studenten auf politische und nationale Themen hatte mit den grundsätzlicheren Sorgen der Arbeiter nichts zu tun. Auch Anzeichen für ein Klassenbewusstsein in sozialistischer Manier gab es nicht: Die tschechischen Arbeiter ließen ihre Wut und Verzweiflung eher an traditionellen Sündenböcken aus, nicht zuletzt den Juden. Als die Textilarbeiter am 3. Juni in einem Protestmarsch für bessere Arbeitsbedingungen unterwegs waren, wurden sie mühelos von der Armee auseinandergetrieben, und die städtische Obrigkeit geißelte die Demonstranten für ihren Starrsinn.102 Dennoch gingen die tschechischen Arbeiter aus dem Juni 1848 als politische Macht hervor. Und wie in so vielen anderen europäischen Städten kamen die dadurch evozierten Ängste der anderen Bevölkerungsschichten den konservativen Kräften zugute. Die Beweislage ist lückenhaft, doch es hat den Anschein, dass der kaiserliche Kriegsminister Graf Theodor Latour der Meinung war, Radetzkys Truppen in Italien sollten als »südliche Armee« durch eine
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Held der habsburgischen Gegenrevolution: Alfred Fürst zu Windischgrätz. Unsignierter Holzstich aus dem Jahr 1848. (akg-images)
»nördliche« Streitmacht ergänzt werden103 – ein Zeichen dafür, dass zumindest ein paar Minister eine strategische Vision zur Niederschlagung der Revolutionen im Habsburgerreich hatten. Während Radetzky in Italien vorwärtsdrängte, wurde der hitzköpfige Alfred Fürst zu Windischgrätz nach Prag geschickt, um das Kommando der kaiserlichen Truppen in Böhmen zu übernehmen. Für die Führung der Gegenrevolution im Norden hätte man keinen Besseren finden können: Der Marschall war ein erbitterter Gegner der Zugeständnisse vom Mai und machte keinen Unterschied zwischen Gemäßigten und Radikalen, die in seinen Augen allesamt Rebellen waren und damit eine Ladung Blei verdient hatten. Er war es auch, der 1844 den Aufstand der Prager Arbeiter niedergeschmettert hatte, weshalb seine Rückkehr in die Stadt einmal mehr das harte Vorgehen Wiens gegen die Tschechen anzukündigen schien.
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Die verstärkte militärische Präsenz fiel denn auch sofort ins Auge: Patrouillen wurden verdoppelt, die Prager Garnison wurde vergrößert und auf den Höhen der Burg Vyšehrad und des Petrˇín-Hügels Artillerie in Stellung gebracht, die die Innenstadt beherrschte. Die Presse der Radikalen appellierte an die Soldaten, sich nicht zum Werkzeug der Reaktion machen zu lassen, und forderte, dass die Nationalgarde und die Akademische Legion Waffen, Artillerie und Munition erhielten – ein Begehren, dem Windischgrätz natürlich nicht im Mindesten stattzugeben gedachte. Seltsamerweise wurde am 10. Juni ein Ball mit slawischem Motto veranstaltet, zu dem die tschechischen Liberalen, Windischgrätz und der Gouverneur von Böhmen, Leo von Thun-Hohenstein, eingeladen wurden. Auch wenn die Feiernden ihn auspfiffen, als der Marschall den Ballsaal betrat, kam es zu keinen weiteren Ärgernissen. Windischgrätz hatte die Situation auf den Straßen richtig interpretiert: Die Studenten und ihre Verbündeten in den militanteren Einheiten der Nationalgarde konnten maximal über 3000 Schützen verfügen, während er mit der Zeit an die 10 000 Soldaten zu mobilisieren in der Lage war. Zudem konnte er sich auf die Nationalgardisten aus den konservativeren und deutschsprachigen Vierteln verlassen. Die Chancen standen deshalb äußerst schlecht für die Liberalen, doch da keine der beiden Seiten bereit war nachzugeben, war ein Zusammenstoß geradezu unausweichlich. Der entscheidende Funke flog am 12. Juni in dieses Pulverfass, als nach einer Messe unter der Statue des heiligen Wenzel eine große Menge aus Studenten, Nationalgardisten, Mitgliedern der Svornost (der ausschließlich tschechischen Nationalgarde) und erwerbslosen Arbeitern (etwa 2500, größtenteils auf das Drängen radikaler Studenten hin) einen Protestmarsch gegen Windischgrätz veranstaltete. Diese Demonstration stieß auf eine Delegation des Deutschen Vereins, die eben beim Marschall gewesen war und ihm Unterstützung zugesagt hatte. Das folgende Handgemenge wuchs sich zu einer regelrechten Schlacht aus, immer wieder unterbrochen von Pattsituationen zwischen den tschechischen und deutschen Milizeinheiten. Die Gewalt ging schließlich auf die ganze Stadt über. Barrikaden wurden errichtet und sechs Tage der Gewalt folgten. Die Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe verflog, als die Aufständischen zum einen Gouverneur Thun-Hohenstein als Geisel nahmen und zum anderen die Gattin von Windischgrätz durch einen Querschläger getötet wurde. Die Revolutionäre hatten die meisten ihrer vierhundert Barrikaden schlecht platziert: Deshalb kalkulierte der Marschall, nur fünfzehn einnehmen zu müssen, um die Verbindungswege zwischen der Alt- und der Neustadt offenzuhal-
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ten. Die schwachen Befestigungen waren eilig errichtet worden, und am Ende des ersten Tages hatten österreichische Truppen, angeführt von Grenadieren als Stoßtrupps und mit Rückendeckung durch die Nationalgarde, die Hauptadern der Stadt unter Kontrolle. Unter diesen Umständen fielen die Forderungen der Aufständischen unter Führung Karel Havlíčeks recht zahm aus: die Entlassung von Windischgrätz, der Rückzug der Truppen und die Bildung einer neuen provisorischen Regierung. Während in den frühen Morgenstunden des 15. Juni die Kämpfe ruhten, zog Windischgrätz seine Soldaten von den Barrikaden zurück. Das war ein schlechtes Zeichen. Bald prasselten von den Höhen Granaten auf die Stadt herunter: Zehn Menschen starben, drei erlagen ihren Verletzungen, an die dreißig verstümmelte Leichen wurden erst später unter den Trümmern gefunden. Am 17. Juni war alles vorbei, das Kriegsrecht wurde verhängt. Seit Krakau Ende April war dies der erste bedeutende Sieg der Gegenrevolution im Habsburgerreich.104 Windischgrätz richtete einen umstrittenen Untersuchungsausschuss ein, um nach den Verantwortlichen für den Aufstand zu forschen. Diesem befahl er dann mehr oder weniger, »herauszufinden«, dass die Revolte Frucht einer weitreichenden slawischen Konspiration gewesen sei, durch die die habsburgische Monarchie unterminiert und zerstört werden sollte. Als Beweis dafür wurde angeführt, dass gleichzeitig der Slawenkongress in Prag tagte. Dieser war von den Tschechen einberufen worden, um den Elan, den Palackýs Zurechtweisung der Frankfurter ausgelöst hatte, aufrechtzuerhalten und die Slawen gegen deutsche Ansprüche zu mobilisieren. Der Kongress war daher so geplant, dass er mit der Eröffnung der deutschen Nationalversammlung im Mai zusammenfiel; schließlich versammelten sich die 385 Delegierten am 2. Juni unter Palackýs Vorsitz in Prag. Ähnliche Ideen zu einem Kongress, aber mit eigener Terminierung, waren auch aus anderen slawischen Ländern gekommen, namentlich ´túr, dem polnischen Nationalausschuss in Posen von Slowaken wie L’udovit S (der gute Gründe hatte, den deutschen Nationalismus zu fürchten) und südslawischen Anhängern der »illyrischen« Idee.105 Der Kongress hatte daher eine lange Tagesordnung: Die Möglichkeiten einer Vereinigung der slawischen Völker des Habsburgerreiches waren ebenso zu diskutieren wie die Beziehungen zwischen diesen und den anderen Nationalitäten der Monarchie, die Verbindungen von österreichischen und anderen Slawen und das Verhältnis aller zum Rest Europas. Doch schon der Gedanke an eine lockere Einheit der Slawen war problematisch: Polen und Ukrainer waren in der Galizienfrage zerstritten. Die Russen glänzten durch fast vollständige Abwesenheit: Der Kongress wollte sich
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weder von Deutschen noch von Ungarn vorwerfen lassen, Werkzeug der zaristischen Reaktion zu sein. Einer der sieben russischen Delegierten war immerhin Michail Bakunin, anarchistischer Denker und als solcher schwerlich Repräsentant russischer Vorstellungen. Die Tschechen fürchteten die Deutschen, doch für die Slowaken stellten die Ungarn die größere Sorge dar. Die Polen, die mit den Ungarn sympathisierten (denn beide waren antideutsch und antirussisch gesinnt), wollten eher zwischen den Südslawen und den Ungarn vermitteln, als Erstere unterstützen.106 Bakunin warf dem Kongress vor, sich zu sehr auf die österreichischen Slawen zu konzentrieren und damit die Misere derer zu ignorieren, die im osmanischen und im russischen Reich lebten.107 Gerade wegen dieser Gegensätzlichkeiten war der Slawenkongress, wie Lewis Namier es ausdrückte, ein »Saatbeet der Geschichte«;108 hier waren die Konflikte zu sehen, die mit den Erwartungen, Hoffnungen und Interessen der Völker zu tun hatten, die nach 1918 als Nachfolgestaaten aus den osteuropäischen Reichen hervorgehen sollten. Aus all dem wird aber auch klar, dass der Kongress gar nicht Ort einer Verschwörung zur Zerschlagung der österreichischen Monarchie gewesen sein konnte. Als am 12. Juni in Prag der Kampf ausbrach, stürmten österreichische Soldaten das tschechische Nationalmuseum, den Tagungsort des Kongresses, in der Erwartung, dort bis an die Zähne bewaffnete slawische Horden vorzufinden – doch alles, was sie antrafen, war der zahme Museumsbibliothekar. Windischgrätz ließ sich davon nicht abhalten und befahl führende Delegierte festzunehmen, die aus der Stadt ausgewiesen wurden. Palacký und den übrigen Organisatoren blieb keine andere Wahl, als den Kongress bis auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Der Historiker selbst wurde, obwohl nur ein Gemäßigter, von der Polizei unter strenge Bewachung gestellt, während Havlíček (mit mehr Grund) am 3. Juli inhaftiert und das Büro seiner Zeitung Národní Noviny nach Indizien für eine »Verschwörung« durchsucht wurde. Die Einkerkerung dieses beliebten tschechischen Journalisten hatte dann zur Folge, dass er in fünf verschiedenen Wahlkreisen in das österreichische Parlament gewählt wurde. Windischgrätz’ Abschlussbericht, der, wie vorherzusehen war, den Kongress des Verrats anklagte, führte zu scharfen Protesten seitens der slawischen Mitglieder des Parlaments, darunter auch Palacký. Die vorgetäuschte Untersuchung geriet für die kaiserliche Regierung zur Peinlichkeit, und die meisten der im Zuge jener Junitage Arretierten wurden bis Mitte September amnestiert.109 Der Aufstand indessen hatte die ethnische Spaltung verschärft. Auch wenn es stimmt, dass die Aussicht auf eine Rebellion der Prager Arbeiterklasse viele
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Die tschechische Revolution wird zusammengeschossen: Prag im Juni unter dem Feuer von Windischgrätz’ Artillerie. (akg-images)
Tschechen erschreckte: Die Einheiten der Nationalgarde, die den Juni-Aufstand eindämmten, waren zum größten Teil deutschsprachige Kompanien. Deshalb war für manche Tschechen die Sorge vor einer Revolution stärker als die nationale Frage. Doch wahr ist auch, dass die meisten deutschen Bürger von Prag, von denen viele Windischgrätz nicht leiden konnten, entweder dem Aufstand fernblieben oder eine aktive Rolle bei dessen Niederschlagung spielten. Folglich bestanden die Aufständischen in der überwältigenden Mehrheit aus tschechischen Studenten und Arbeitern, sodass sich in den Augen der deutschsprachigen Elite der soziale Konflikt mit den ethnischen Spannungen überlagerte. Und außerhalb Böhmens hatten deutsche Nationalisten keinen Zweifel: Die Kämpfe in Prag waren ihrer Natur nach national. Der radikale Volksfreund giftete gegen »die geisteskranke oder korrupte slawische Partei der Tschechen, die … Pläne schmiedet, … Österreich auf Kosten der Deutschen und Ungarn in ein slawisches Reich zu verwandeln«; kurzsichtig begrüßte er den Sieg des Marschalls als »freudiges Ereignis. Ein Sieg für die deutschen Belange in Böhmen und innerhalb der Monarchie kann niemals ein Unglück sein, denn die
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Deutschen bringen den Besiegten Humanität und Freiheit.«110 In Frankfurt stimmte am 1. Juli ein parlamentarischer Ausschuss zu, dass der Prager Aufstand Teil eines groß angelegten Entwurfs zur Schaffung eines slawischen Reichs gewesen sei, und schlug vor, zur Unterstützung von Windischgrätz deutsche Truppen nach Böhmen zu schicken. Nur Engels war scharfsinnig genug zu erkennen, dass die Tschechen weder die Instrumente Russlands noch die Werkzeuge einer antideutschen Reaktion waren.
IV Auch in Ungarn fielen die sozialen Spannungen stark mit den ethnischen zusammen, doch da das Land nicht so industrialisiert war wie Böhmen und Mähren, gab es weitaus weniger ungarische Fabrikarbeiter als tschechische. Dementsprechend kam es in Ungarn auf dem Lande zu den bedeutsamsten ethnischen Konflikten, wo es zwischen den meist ungarischen Grundherren und den oft aus einer anderen ethnischen Gruppe stammenden Bauern Spannungen gab. Dennoch verliehen die ungarischen Arbeiter der urbanen Radikalenbewegung potenzielle Stärke. In Budapest waren von den 160 000 Einwohnern schätzungsweise 10 000 Tagelöhner, 8000 Lehrlinge und nur 1000 Fabrikarbeiter; diese waren jedoch überwiegend Deutsche oder Tschechen, was sie von der Mehrheit der Ungarn trennte. Von Mitte Juni bis Juli glichen ihre Forderungen denen des übrigen Europas: bessere Arbeitsbedingungen, die Reduzierung der Arbeitszeit, höhere Erzeugerpreise und die gesetzliche Verankerung von Gewerkschaften. In Budapest machten sich Arbeiter und in Nordungarn Bergleute für diese Änderungen stark, und die liberale Regierung sollte Zugeständnisse machen: Sie konnte dies in erster Linie deshalb tun, weil die Minister, alles ungarische Adlige, wenig mit den zumeist deutschen Arbeitgebern gemein hatten. Trotzdem wurden Streiks, die im April und Mai in Budapest zugunsten höherer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen ausbrachen, als Bedrohung der öffentlichen Ordnung empfunden und mit Gewalt unterbunden. Die Radikalen schafften es nicht, die Arbeiter zu mobilisieren, da sie wenig in Richtung eines sozialen Programms zu bieten hatten. Die ungarischen Radikalen ruhten sich auf den »Zwölf Punkten« aus, die im März verkündet worden waren und deren Ziele – mit Ausnahme der Bauernbefreiung – in erster Linie politischer Natur waren. Petöfi verfasste ein paar Zeilen, in denen er sein Mitgefühl für das Elend der Armen des Vaterlands ausdrückte, aber Gedichte (egal
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wie gut sie geschrieben waren) konnten nichts gegen materielle Not ausrichten. Allerdings hatten die Arbeiter auch noch nicht aus dem Brunnen der neuen sozialistischen Ideen getrunken. Als viertausend Lehrlinge zum Café Pilvax, dem Zentrum des Budapester Radikalismus, zogen, um Pál Vasvári, Petöfi und andere zu bitten, ihre Wortführer zu werden, forderten die jungen Handwerker anders als ihre französischen und tschechischen Kollegen nicht die Organisation der Arbeit, vielmehr wollten sie »die tyrannischen Zunftgesetze« niederreißen. So dramatisch diese Rhetorik klang, letztlich wurde hier nur die Forderung nach einer leichteren – und kostenlosen – Aufnahme in die Zünfte erhoben. Vasvári erkannte denn auch das revolutionäre Potenzial, das in den Handwerkern schlummerte, doch er bot nicht mehr als den Rat, doch der Regierung die Forderungen vorzutragen. Die soziale Kluft zwischen den Arbeitern und den Radikalen, deren Anführer größtenteils aus dem ungarischen Adel stammten, war einfach zu groß. So blieben Streiks in dem wichtigsten Organ der Radikalen, dem Fünfzehnten März, unerwähnt, und als am 22. April Plakate auftauchten, auf denen festgesetzte Lebensmittelpreise, die Aufteilung von Kirchenland unter den Bauern und die Abschaffung der Zünfte verlangt wurden, bekamen es die Radikalen mit der Angst zu tun und wiesen die gefährlichen Ideen bei einer Versammlung ab.111 Den Kern des ungarischen Radikalismus bildeten deshalb weiterhin Studenten, Intellektuelle, Akademiker, Regierungsbeamte und Angestellte, die die ungebrochene Vormachtstellung der Landbesitzer in der ungarischen Politik besorgte. Das aber war eine viel zu kleine Basis, um den Radikalen bei den Ende Juni und Mitte Juli abgehaltenen Wahlen einen durchschlagenden Erfolg zu bescheren. Die meisten wahlberechtigten Ungarn stimmten denn auch für die ihnen vertraute politische Elite des Landes: Etwa 72 Prozent des neuen Parlamentes waren adelige Grundbesitzer, was den Fünfzehnten März zu dem beleidigten Kommentar bewog, »das Volk« würde »den adeligen Herren« zu dienen wünschen. Die Übrigen stammten fast ausschließlich aus dem städtischen Bürgertum, waren vor allem Juristen und Regierungsbeamte. Dieses Ergebnis war sicherlich einer traditionellen Unterwürfigkeit geschuldet, doch das Wahlsystem bevorzugte den Adel, da die ländlichen Wahlausschüsse doch fast überall mit Großgrundbesitzern besetzt waren, während sie in den Städten hauptsächlich aus alteingesessenen Bürgern bestanden. Außerdem war das Programm der Radikalen außerhalb bürgerlicher Kreise wenig attraktiv. Zwar zeigte der ungarische Radikalismus mehr Interesse für die Bauern als für die Arbeiter, doch die meisten ärmeren Landbewohner waren nicht stimmberech-
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tigt. Indessen sorgte die erklärte Gegnerschaft zur Monarchie dafür, dass viele Radikale, darunter auch Petöfi, von den meisten Ungarn an den Wahlurnen zurückgewiesen wurden, war doch in ihren Augen der König unantastbar. In einer unbeholfenen Kehrtwendung schrieb der Dichter nun Artikel, in denen er seinen einstigen Republikanismus abzuschwächen versuchte. Doch das nützte nichts: Er wurde nicht gewählt, und um diesen Affront noch zu überbieten, wurde er beinahe vom betrunkenen Pöbel gelyncht. Am Ende hielten von den 414 Mitgliedern des Abgeordnetenhauses gerade einmal 50 an den »Zwölf Punkten« fest.112 Somit mussten die Radikalen auf außerparlamentarische Druckmittel zurückgreifen. Mit einer ausgefeilten Organisation versuchten sie, ihr Vorgehen zu koordinieren und den harten Kern linker Abgeordneter an eine breitere Bewegung zu binden. Mitte Juni wurde eine »Gesellschaft für Gleichheit« gegründet, die eine Zeitschrift mit dem Titel Radikaler Demokrat herausgab. Nach dem Vorbild der französischen Jakobinerklubs aus den 1790er-Jahren strebte die Gesellschaft die Bildung eines landesweiten Netzwerks an, um die patriotischen und demokratischen Gruppierungen zu einer großen Lobby zu bündeln – vielleicht mit dem Hintergedanken einer zweiten Revolution. Mochten die Radikalen auch nicht viel in Richtung eines sozialen Programms vorzuweisen haben, im magyarischen Nationalismus, in der Hauptstadt noch immer akut, besaßen sie eine potenziell schlagkräftige Waffe. Misstrauen dem Wiener Hof gegenüber, dazu Batthyánys Bereitschaft, zugunsten der Stabilität mit diesem Kompromisse zu schließen, schürten die Ängste der patriotischen Ungarn. Eines der wichtigsten Themen war demnach die Frage, wer eigentlich die Oberhoheit über die Streitmächte innehatte. Im Mai hatte der Kommandeur der Budapester Garnison, Ignaz Freiherr von Lederer, sich geweigert, der Nationalgarde Waffen auszuhändigen, obwohl alles danach aussah, dass das Land von Kroaten angegriffen werde. Als eine Regierungskommission herausfand, dass 14 000 Gewehre zur Verfügung standen, marschierten unter Führung des radikalen Märzvereins 2000 Menschen unter Trommelschlägen vor die Residenz Lederers. Dort griffen kaiserliche Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten an, töteten einen Demonstranten und verletzten zwanzig schwer. Petöfi griff diesen Vorfall auf, um einen Amtswechsel im Ministerium, die Bestrafung der beteiligten Soldaten und den Rückzug aller ungarischen Einheiten aus dem kaiserlichen Heer in Italien zu fordern. Batthyány dagegen wollte in jedem Fall die Aprilgesetze auf eine solide Basis stellen und hatte nicht die Absicht, den Wiener Hof zu provozieren.
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Die ungarischen Truppen im Dienst des Kaisers waren nun zum heißen Eisen geworden. Gemäßigte wie Batthyány und Széchenyi glaubten, den Interessen des Landes am besten zu dienen, wenn sie die ungarischen Beziehungen zu Österreich entspannten. Als am 11. Juli die österreichische Regierung ungarische Truppen anforderte, um Radetzkys italienischen Feldzug zu verstärken, riet daher Batthyány seinen Ministerkollegen, sie sollten freiwillig 40 000 der 200 000 Soldaten, aus denen die Armee Ungarns bestand, zur Verfügung stellen; dies würde den Einfluss der Ungarn in Wien stärken und den kroatischen Ban Jelačić zur Vorsicht mahnen. Selbst Kossuth stimmte diesem Vorhaben zu, obwohl es die Revision der früheren Position bedeutete, wonach sich die Ungarn geweigert hatten, die Unterdrückung eines anderen europäischen Volkes zu unterstützen.113 Diese Kehrtwende versetzte die radikale Linke in Wallung. Einer ihrer sprachgewandtesten Wortführer, Graf László Teleki, traf den wunden Punkt, als er (korrekt, wie sich zeigen sollte) ausführte, dass die Regierung ihr Vertrauen einem Hof schenke, der niemals einen kroatischen Ban zum Einlenken zwingen würde. Während die Italiener für die Freiheit kämpften, so erklärte Teleki freiheraus, mache Jelačić dies ganz gewiss nicht.114 Trotzdem gewann die Regierung die Schlussabstimmung am 22. Juli mit überwältigender Mehrheit. Auch wenn praktisch keine frischen ungarischen Truppen nach Italien geschickt wurden, zeigt der Sieg der Regierung einmal mehr, dass die europäischen Liberalen von 1848 ihre jeweiligen nationalen Interessen über die kosmopolitischen Ideale von Freiheit und Selbstbestimmung stellten. In Siebenbürgen und entlang der Militärgrenze braute sich nun das Unwetter zusammen, das im September über Ungarn hereinbrechen sollte. Als die Ungarn das Blaj-Programm vom Tisch wischten und Siebenbürgen zu einem Teil des Königreichs Ungarn erklärten, kam es dort zu Spannungen. Die Siebenbürger standen nun vor einer schweren Wahl: Sie konnten auf eine Vereinigung mit Moldawien und der Walachei drängen, was aber einen Konflikt mit dem Sultan, dem obersten Herrscher der Fürstentümer, oder mit dem Zaren, ihrem »Beschützer«, nach sich gezogen hätte. Andererseits konnten sie loyal bleiben und sich im Gegenzug eine eigene rumänische Krone innerhalb des österreichischen Imperiums sichern. Diese Alternative war von den Brüdern Hurmuzaki in der Bukowina, einem Territorium, das an Ungarn grenzte und unmittelbar von Wien aus regiert wurde, zur Diskussion gestellt worden, fand im Augenblick jedoch keine Unterstützung.115 Im Sommer 1848 schien die Vereinigung mit den beiden Donaufürstentümern attraktiver und – für kurze Zeit – sogar realisierbar, da im Juni bei einem Aufstand in Bukarest der regierende walachi-
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sche Fürst Gheorgiu Bibescu gestürzt und eine provisorische Regierung eingesetzt worden war. Am 7. August sinnierte einer der Führer der rumänischen Bewegung in Siebenbürgen, Dimitrie Golescu »der Schwarze«, über einer Landkarte aller rumänischen Gebiete, angefangen vom Schwarzen Meer bis hin zu den Rändern Siebenbürgens: »Man muss wissen, dass sie ein schönes kleines Königreich ergeben würden, hübsch rund, von der Natur höchstpersönlich geschaffen … Ich weiß nicht, warum dieser Gedanke, letztes Jahr noch utopisch, heute nun greifbar ist.«116 Der Grund war die Revolution, die Wochen zuvor in Bukarest stattgefunden hatte. Dort strebten die rumänischen Liberalen, allesamt aus adeligen Familien (Bojaren) stammend und viele von ihnen in Paris erzogen, nach Freiheit und nationaler Einheit und weg von der russischen Vorherrschaft. Die Radikaleren unter ihnen übten zudem Gesellschaftskritik. Man fand, dass die Bojaren die Bauern, die meisten unfrei, ausbeuteten, um ein Leben in »Wollust, Laster und Egoismus« zu führen (wie Golescus Cousin Alexandru es ausdrückte).117 Kritiker wie Constantin Rosetti und Ion Brătianu hatten deshalb 1843 in Bukarest eine Organisation mit dem Namen Frăţa (Brüderlichkeit) ins Leben gerufen, um die Aktivitäten liberaler Intellektueller und revolutionär gesinnter Verschwörer innerhalb der Armee zu bündeln. Sie waren zur Revolution bereit, wann immer sie kommen mochte. Strenge Geheimhaltung – aber auch die Verfolgung durch die Behörden – verhinderte ihr Gedeihen, auch wenn ihre Anhänger sich 1848 in der liberalen Führungsriege hervortaten. Mittlerweile hatten die Bojaren selbst Anlass zur Klage, dies galt insbesondere für Moldawien, wo sie über die diktatorische Art des regierenden Fürsten Mihail Sturdza aufgebracht waren, während Händler und Fabrikanten unter der Steuerlast ächzten. In der Walachei indessen versuchten die Bojaren, angetrieben von der plötzlichen Erkenntnis, dass die Landbevölkerung unruhig zu werden begann, Fürst Bibescu von der Notwendigkeit sozialer und politischer Reformen zu überzeugen, darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft. Während der »hungrigen Vierziger« waren die Bauern ihren Verpflichtungen gegenüber den Grundherren nur schleppend nachgekommen, 1848 nun weigerten sie sich, ihren Fronarbeiten nachzukommen. Immer öfter brachen auf dem Land Revolten aus, und mehr und mehr Leibeigene flohen über die Grenzen in die Freiheit.118 In der moldawischen Hauptstadt Jaşi richtete die liberale Opposition unter Alexandru Cuza im März 1848 eine Petition an Sturdza, in der sie maßvolle Reformen verlangte, um die Wirtschaft anzukurbeln, dazu ein Parlament mit größeren Befugnissen als die bisherige Generalversammlung – die Abschaffung
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der Leibeigenschaft gehörte nicht zu ihren Forderungen. Als Sturdza nicht alle Punkte akzeptierte, stellten die Liberalen ihn in seinem Palast. Gestärkt durch die Zusicherung des russischen Konsuls, militärische Unterstützung zu gewähren – und zutiefst verärgert über das arrogante Auftreten eines der Gesandten, der dem Fürsten mit Blick auf seine Taschenuhr bedeutete, dass er zur Entscheidung eine halbe Stunde Zeit habe – verließ Sturdza den Palast, bot die Armee auf und zerschlug die Opposition. Mehrere wurden getötet und über zweihundert verhaftet. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, wurde die Führung der Liberalen durch die Straßen gezerrt und »wie Hunde geschlagen«. Anschließend verschleppte man sie in die Grenzstadt Galaţi und wies sie in die Türkei aus.119 Während Moldawien unter dem eisernen Regiment Sturdzas ächzte, gewann die Revolution in der Walachei an Dynamik. Im März gründeten die Liberalen mit Rosetti, Golescu und Ion Ghica, ein Revolutionskomitee, um einen Aufstand zu planen. Hier gab es keine freundliche Petition, weil sich die Opposition – anders als in Moldawien – auf eine wichtige Mittelschicht der Bojaren und ein beträchtliches im Handel tätiges Bürgertum verlassen konnte, die über die sozial Höherstehenden aufgebracht und von der Politik der Regierung enttäuscht waren. Während die Hitzköpfe sofort den Aufstand wollten, setzten sich die ruhigeren Gemüter durch. Fürst Bibescu wurde in seinem entschlossenen Widerstand der Revolution gegenüber durch eine nur leicht verschleierte Warnung seitens der russischen Regierung bestärkt, wonach »es ebenso im Interesse der Walachei wie von uns selbst« lag, den Ausbruch »der Seuche, die Europa jetzt befällt«, zu verhindern.120 Die Russen entsandten General Duhamel als Ratgeber für Bibescu, das Angebot von 20 000 Soldaten jedoch wies der Fürst, eine ständige russische Militärpräsenz fürchtend, zurück. Anfang Juni war das Revolutionskomitee so weit: Merkwürdige »Hochzeitseinladungen« gingen an liberal gesinnte Bojaren, die diese über eine »Feier« in Islaz informierten, einer Grenzstadt an der Donau in der Provinz Oltenien. Dort zelebrierten orthodoxe Priester in prächtigen Roben eine Messe und verlasen anschließend vor walachischen Armeeeinheiten und einer aufgebrachten Menge aus Stadtvolk und Bauern eine Proklamation. Sie »schneiderten«, so einer der Priester, »die Roben der Freiheit«. Das »Programm von Islaz« wies die klassischen Forderungen des europäischen Liberalismus auf: Aufhebung der Zensur, Bürgerrechte, gerechte Besteuerung, Ausweitung des Wahlrechts und die Wahl eines regierenden Fürsten im Fünfjahresrhythmus, unentgeltliche Erziehung für Jungen und Mädchen, die Abschaffung der Leibeigenschaft (wobei geplant war, das Land unter den
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befreiten Bauern aufzuteilen und den Grundherren eine Entschädigung zu bieten), Freiheit für alle Zigeuner (die unfrei waren), die Emanzipation der Juden und die Abschaffung des Adels. Eine verfassunggebende Versammlung sollte zusammentreten, um einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Man stellte eine provisorische walachische Regierung auf. Im Islaz-Programm wurde zwar nicht die rumänische Unabhängigkeit gefordert, aber doch das Ende des russischen »Schutzes« und eine Autonomie mit Verbindungen zum Sultan. Den ganzen Sommer über setzten sich die rumänischen Revolutionäre für den Segen aus Konstantinopel ein. Sie waren klug genug einzusehen, dass ihr im Entstehen begriffener Staat, eingekeilt zwischen den Großmächten Österreich, Russland und der Türkei, der Unterstützung mindestens einer dieser Großmächte bedurfte, wollte er überleben. Die Nachricht vom Aufstand in Oltenien war der Impuls, der den Bukarester Revolutionären den letzten Schub versetzen sollte. Ursprünglich war eine Erhebung für den 10. Juni geplant gewesen, doch Fürst Bibescu war dem zuvorgekommen und hatte vorsorglich Mitglieder des revolutionären Komitees verhaftet. Nun gab es allen Anlass, an der Loyalität der Armee zu zweifeln: Viele Offiziere hatten liberale Ideen adaptiert, und es kursierten Gerüchte, dass die Revolutionstruppen aus Oltenien bereits in Richtung Hauptstadt unterwegs waren. Am 11. Juni läuteten alle Kirchenglocken, die Stadtbewohner strömten auf die Straßen und dem Palast zu, manche schwenkten das Islaz-Programm. Wie erwartet hielt sich das Heer zurück, während die liberalen Wortführer, die der Haft entflohen waren, die Erlaubnis bekamen, den Palast zu betreten und Bibescu eine neue »Verfassung« unter die Nase zu halten. Machtlos unterschrieb der Fürst das Dokument und ernannte widerwillig die neue Regierung. Als er nach dem neuen Polizeiminister fragte, erklärte ihm Brătianu unumwunden, dass es Rosetti sein solle, »der, der im Gefängnis sitzt«. Zwei Tage später dankte ein wütender Bibescu ab und floh zusammen mit anderen Bojaren nach Braşov, unmittelbar hinter der Grenze zu Siebenbürgen gelegen. Am 15. Juni stimmte eine riesige Versammlung auf dem »Feld der Freiheit« außerhalb von Bukarest der neuen Verfassung zu. Wahlen für eine Volksvertretung, die am 6. September zusammentreten sollte, fanden statt. Die neue Regierung versprach, innerhalb von drei Monaten die Leibeigenschaft aufzuheben, vorausgesetzt die Bauern stellten die Ernte auf den Feldern der Grundherren sicher. Das Ergebnis war ein ländliches Chaos, da die Bauern sich weigerten, weiterhin Frondienst zu leisten. Leider wurde die rumänische Revolution niedergeschlagen, bevor die Aufhebung der Leibeigenschaft in Kraft treten konnte.121
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Sowohl Zar Nikolaus als auch der osmanische Sultan Abdülmecid sahen diese Entwicklung mit Sorge. Ersterer spielte im Grunde ein doppeltes Spiel: Während er einerseits der Revolution feindselig gesonnen war, entschlossen, den Liberalismus in Grund und Boden zu schießen, erkannte er dennoch die Gelegenheit, die russische Präsenz in den Fürstentümern zu verstärken. Schon lange hatten die Russen Ambitionen, sich den Bosporus einzuverleiben, was den geschützten Zugang in das östliche Mittelmeer gesichert hätte. Dafür aber musste die russische Vormachtstellung nach Süden auf die Schwarzmeer-Region ausgedehnt werden, wobei der antirussische Tenor der rumänischen Revolution diesen strategischen Interessen bereits den Kampf angesagt hatte. Selbst ins siebenbürgische Exil schickten die Russen Bibescu den listigen Entwurf einer neuen Verfassung für Moldawien und die Walachei, unter der Bedingung, dass der Sohn des Zaren zum König ausgerufen werden würde, was den türkischen Einfluss wirksam ausgeschaltet hätte. Außerdem machte man Bibescu recht deutlich klar, dass die Russen dieses Angebot, sollte er es ausschlagen, mit »100 000 Bajonetten« durchsetzen würden.122 Konfrontiert mit der Möglichkeit einer russischen Invasion, suchten die rumänischen Revolutionäre nun ihr Heil in der Diplomatie: Die provisorische Regierung schickte Agenten durch Europa, um die Anerkennung der Großmächte zu erwirken. Ion Ghica reiste, bewaffnet mit dem rumänischen Versprechen, als Gegenleistung für die türkische Unterstützung alle Verpflichtungen gegenüber dem Sultan zu akzeptieren, nach Konstantinopel. Doch 1848 konnten die übrigen europäischen Regierungen der russischen Militärmacht nicht viel entgegensetzen. Am 7. Juli marschierten deshalb russische Truppen in Moldawien ein. Die walachische Regierung indessen war angesichts der Invasion im benachbarten Fürstentum so alarmiert, dass sie in die Berge floh und dadurch die Macht in Bukarest wieder in die Hände der Konterrevolutionäre fallen ließ. Einzig Brătianus energischen Bemühungen, die Bevölkerung zum Aufstand zu bewegen, war es zu verdanken, dass sie sich nicht länger als ein paar Tage halten konnten. In diesem Stadium war die Strategie des Zaren darauf ausgerichtet, die osmanische Regierung zu drängen, die Annäherungen rumänischer Revolutionäre abzuweisen. Im Augenblick ließen die Russen die Walachei in Ruhe, weshalb die Übergangsregierung nach Bukarest zurückkehrte – beschämt, aber noch immer intakt. Die Türken ihrerseits reagierten Ende des Monats auf den russischen Eröffnungszug mit der Entsendung ihrer eigenen Streitkräfte über die Donau, während Suleiman Pascha, der Gesandte des Sultans, nach Buka-
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rest reiste, um mit den Rumänen die Bedingungen ihrer Autonomie auszuhandeln. Ergebnis war die Schaffung einer kurzlebigen »fürstlichen Statthalterschaft« mit einem liberalen Kabinett, die theoretisch dem Sultan gegenüber zur Loyalität verpflichtet war. Dank dieses Abkommens wurde Suleiman, der an der Spitze von zweihundert türkischen Kavalleristen ritt, in Bukarest von einer jubelnden Menge, die rumänische und türkische Flaggen schwenkte, ein triumphaler Einzug bereitet.123 Doch just als die Liberalen gerettet schienen, beugte sich Abdülmecid dem Druck der russischen Diplomatie und den Einflüsterungen der konservativen Bojaren, die doch noch den Weg nach Konstantinopel gefunden hatten. Anfang September distanzierte er sich von Suleiman und ersetzte ihn durch den konservativen Leuteschinder Fuad Pascha, der mit weiteren türkischen Truppen in die Walachei reiste. Dieses Mal aber sollten sie dort nicht nur schützend eingreifen: Am 13. September schlugen sich osmanische Einheiten ihren Weg nach Bukarest hinein frei, das mit allen Soldaten, die die provisorische Regierung aufbieten konnte, darunter auch die Feuerwehr, standhaft verteidigt wurde. Nach heftigen Kämpfen kapitulierte die Übergangsregierung, und die Türken setzten einen konservativen Bojaren als neuen regierenden Fürsten ein. Wenige Tage später gaben auch die verbliebenen revolutionären Streitkräfte in Oltenien angesichts der Übermacht auf. Der Zar allerdings zweifelte an den Fähigkeiten des Sultans, die Revolution wirksam in Schach zu halten; aus diesem Grund schwärmten am 15. September russische Truppen in die Walachei, fegten die osmanische Armee hinweg und marschierten in Bukarest ein. Dort wurde die Regierung einer gründlichen Säuberung unterzogen und die Grenze zu Siebenbürgen – wo die Revolution noch immer virulent war – durch russische Truppen abgeriegelt.124 Damit war in dem Moment, als Dimitrie Golescu über den erfreulichen Anblick eines geeinten Rumänien nachsann, dessen Schicksal schon besiegelt, zumindest was das Jahr 1848 betraf. Dennoch hatte die Revolution die Einheit in Reichweite gebracht und dadurch jenseits der Karpaten – in Siebenbürgen – gewisse Fakten geschaffen. Anfang Juni erwog die österreichische Regierung, ob nicht nur die Südslawen, sondern auch die Rumänen gegen den ungarischen Nationalismus mobilisiert werden könnten. Kriegsminister Latour warf die Frage einer Allianz mit den Rumänen auf, was dem Kaiserreich womöglich die Ausdehnung seines Einflusses bis ans Schwarze Meer erlaubt und zugleich ein Gegengewicht zur ungarischen Macht in Mitteleuropa geschaffen hätte. Im Augenblick befanden seine Amtskollegen die Regierung als zu schwach für ein
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solches Abenteuer, was die Zurückweisung der Forderungen der siebenbürgischen Rumänen einen Monat später erklärt. Da die Revolution in den Fürstentümern vor dem Aus stand, blieb den siebenbürgischen Rumänen nun nur noch die Hoffnung auf eine Allianz mit der Habsburgerdynastie gegen die Magyaren. Sollten die Ungarn nicht mit sich selbst ins Reine kommen (was in diesem Stadium noch eine winzige Möglichkeit war), würden die Rumänen für ihre Treue zu Österreich vielleicht mit der Autonomie innerhalb des Kaiserreichs belohnt werden. Im September war es schließlich so weit: Die Rumänen erhielten militärischen Rückhalt gegen die Ungarn. Die Ungarn sahen sich nicht nur in Siebenbürgen bedroht, sondern auch entlang der Militärgrenze, wo die Südslawen ihre Truppen zusammenzogen. Der zielstrebige Jelačić war zwar am 10. Juni als Ban der Region offiziell entlassen, schenkte dem aber keine Beachtung. Er wollte es allen zeigen. Erst fünf Tage zuvor hatte er, prächtig gekleidet in einen roten Überwurf und mit einem Krummsäbel angetan, auf der Eröffnungssitzung des kroatischen Parlaments, dem Sabor, erklärt: »Lassen Sie die Ungarn, für den unglücklichen Fall, dass sie sich fortan nicht als Brüder benehmen …, sondern als Unterdrücker, wissen, dass wir mit dem Schwert in der Hand bereitstehen!«125 Inzwischen bekam er von den Kriegstreibern in der österreichischen Regierung Rückendeckung. Am 24. Juni schickte Latour Jelačić Geld, was ihm Kossuth als ungarischer Finanzminister rundweg abgeschlagen hatte: »Ich […] verdiente, von der Nation angespuckt zu werden, wenn ich ihrem Feinde Geld gegeben hätte.«126 Baron Franz Kulmer, der Repräsentant des Sabor am Wiener Hof, schrieb heimlich an Jelačić und versicherte ihm, dass »jeder hier auf Eurer Seite steht. Der Erlass vom 10. Juni ist null und nichtig, denn er wurde von keinem der Minister gegengezeichnet.«127 Das erste Opfer von Jelačićs Entschlossenheit, die habsburgischen Interessen zu bedienen, war der kroatische Liberalismus: Am 9. Juli wurde der Sabor suspendiert. Ende des Monats bemühte sich Erzherzog Johann, den Ausbruch des Krieges zwischen den Ungarn und Kroaten mittels Schlichtung zu verhindern. Die ungarische Regierung war klug genug, die kroatischen Grenzbewohner von Jelačić abzuwerben, indem sie ihnen eine Landreform versprach, worauf dieser sie allerdings mit eigenen Reformen, etwa dem Recht, die Zadruga aufzulösen und das Land zu parzellieren, übertrumpfte. Darüber hinaus stockte er die Streitkräfte mit weiteren Soldaten auf, indem er Truppen aus dem zu Ungarn gehörigen Teil Kroatiens und von der osmanischen Grenze abzog. Die ungarischen Bemühungen um einen Kompromiss waren nicht ganz uneigen-
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Held der habsburgischen Gegenrevolution: Ban Josip Jelačić. (akg-images)
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nützig, hatten doch im Frühjahr Batthyánys Minister insgeheim beschlossen, Jelačić keinen Vorwand zum Bruch mit Ungarn zu liefern. Ende August war selbst Kossuth bereit, Kroatien die Abspaltung zu erlauben, vorausgesetzt (und das war der springende Punkt) Jelačić und die Kroaten würden »sich tatsächlich im Geist der Nation und nicht der Reaktion verhalten […] Wenn sie sich abspalten wollen, so sollen sie, von mir aus sollen sie frei und glücklich sein, aber nicht einer ausländischen reaktionären Macht zuliebe zwei Länder in Blutvergießen und Elend stürzen.«128 Allerdings war Jelačić ebendeshalb berufen worden, weil er ein loyales Werkzeug der Habsburger war. Auf ihrem fruchtlosen Treffen in Wien sagte er angeblich zu Batthyány: »Sie wollen Ungarn frei und unabhängig, und ich habe mich verpflichtet, die politische Einheit des österreichischen Reiches zu wahren. Sind Sie damit nicht einverstanden, kann nur das Schwert zwischen uns entscheiden.«129 Inzwischen zog er seine Truppen zusammen. Nach seinem Sieg über die Piemonteser bei Custoza entließ Radetzky einige der kroatischen Einheiten in Italien, damit sie für Jelačić Dienst taten. Auf diese Weise hatte dieser bis Ende September 50 000 Mann unter Waffen. In Wien erteilte Latour den Befehl für zusätzliche Nachschublieferungen an österreichische Militärdepots in der Steiermark. Die Serben hatten in der Zwischenzeit Jelačić mehrfach gebeten, ihnen gegen die Ungarn zu Hilfe zu kommen, sodass sich der Druck auf ihn erhöhte, in die Offensive zu gehen. Vom Kaiser hatte er keinen Befehl dazu erhalten: Der Hof bemühte sich weiterhin offiziell, den Krieg zwischen den Kroaten und Ungarn zu verhindern. Grund dafür war womöglich, dass die kaiserlichen Berater zwar wünschten, Jelačić möge die Revolution in Ungarn zerschlagen, man aber gleichzeitig Bedenken hatte, dass er im Falle des Erfolgs zu mächtig würde. Kroatische Historiker haben das auch so interpretiert, dass die Habsburger hofften, beide Seiten würden sich gegenseitig zermürben, was es dem Hof später erleichtert hätte, die Macht zurückzugewinnen.130 Am Ende benötigte Jelačić kein Signal: Während Batthyány und Ferenc Deák (der ungarische Justizminister) sich noch in Wien aufhielten und versuchten, einen endgültigen Bruch mit Österreich zu verhindern, gab die kaiserliche Regierung offiziell bekannt, dass »der Bestand eines von dem österreichischen Kaisertum getrennten Königreichs Ungarn eine politische Unmöglichkeit« darstelle.131 Am 4. September setzte dann Ferdinand Jelačić offiziell in seine früheren Machtbefugnisse ein, was dieser als Zusage der Unterstützung ansah. Am 11. September überquerte die Armee des Ban die Draua: Ungarn und Kroatien befanden sich im Krieg.
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Während Jelačić und die Wiener Regierung ihre komplizierten Manöver vollzogen, arbeitete die Regierung in Budapest fieberhaft daran, die ungarische Armee instand zu setzen. Den unmittelbaren Ansporn dazu gab der serbische Aufstand in der Woiwodina, auf den Batthyány am 16. Mai mit der Bildung »regulärer« oder »mobiler« Einheiten der Nationalgarde reagierte, rekrutiert aus Freiwilligen, die drei Jahre dienen mussten. Der Vorteil dieser neuen Streitmacht war, dass sie, anders als die Regimenter des kaiserlich-königlichen Heeres, die weiterhin Befehle aus Wien erhielten, eindeutig dem Befehl der ungarischen Regierung unterstanden. Die neuen Bataillone der Nationalgarde setzten sich aus Männern zwischen achtzehn und vierzig Jahren zusammen, deren Besitzstand keine Rolle spielte. Daher waren die Bataillone keine Bürgermiliz mit der Aufgabe, Eigentum zu schützen, sondern eine richtige Bürgerarmee, die daraufhin vereidigt wurde, »das Heimatland, den königlichen Thron und die Verfassung« zu verteidigen. Ihre offizielle Bezeichnung wurde schon bald durch den gängigen Begriff Honvéd ersetzt, was so viel bedeutete wie »Verteidiger des Heimatlandes«. Als Ministerpräsident war Batthyány Oberbefehlshaber der neuen Streitmacht, was ihm das Umgehen der kaiserlichen Befehlskette erlaubte. Bis Mitte August hatte die Regierung fast 10 000 Mann für die Honvéd-Bataillone rekrutiert.132 Dennoch befiel viele Ungarn in jenem Sommer eine düstere Vorahnung. Petöfi sorgte sich, dass die Regierung nicht stark genug sein würde, und schrieb die düsteren Zeilen: Lasst uns unsere Fahnen malen schwarz und rot Denn Trauer und Blut Werden der ungarischen Nation Schicksal sein.133 Am anderen Ende des politischen Spektrums hatte Széchenyi eine apokalyptische Zukunftsvision. Während er am 18. Juli den Arbeiten an seiner geliebten Kettenbrücke zusah, löste sich ein schweres Stahlseil und schlug auf der provisorischen Pontonbrücke auf. Niemand wurde getötet, aber Széchenyi und viele unter den Hunderten von Zuschauern wurden in die Donau geschleudert. Der Graf (der bereits mit Depressionen kämpfte) schwamm ans Ufer, wo er in dunkle Verzweiflung verfiel: »Wir sind verloren, in die Barbarei zurückgesunken … Wir werden nicht von Kossuth und seinen Genossen zerstört …, sondern von einer größeren Macht, von der Nemesis.«134
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V Die Nemesis der ungarischen Liberalen sollte ihr Haupt erheben. Eine Woche nach dem Unglück an der Kettenbrücke triumphierte die Reaktion aufs Neue, dieses Mal in Italien. Im Juni hatte Feldmarschall Radetzky endlich die österreichische Regierung davon überzeugt, dass der Krieg zu gewinnen war. Das Kabinett hatte scharfe Bemerkungen des alten Fuchses aus jüngster Zeit verdauen müssen, etwa in einem Brief an Latour vom 21. Juni: »Ich wünschte nur …, dass der Minister [Pillersdorf] so erfolgreiche Schlachten gegen die Intelligenz unserer Zeit schlagen könnte …, wie ich jetzt, obwohl wir in den Schlachten und Scharmützeln mit dem König von Sardinien in der Unterzahl sind.« Sechs Tage später erteilte Latour Radetzky den Befehl, den dieser haben wollte: den Befehl, die österreichische Vormachtstellung in Italien in einer entscheidenden Schlacht wiederherzustellen.135 Die Zeichen waren günstig: Karl Albert hatte seine Truppen aufgeteilt, 28 000 Mann standen vor Verona, 42 000 belagerten Mantua. Radetzky befehligte jetzt über 74 000 Soldaten und hatte vor, einen Keil zwischen die Piemonteser zu treiben, indem er die Streitmacht vor Verona nach Peschiera zurücktrieb. Der Angriff begann am 22. Juli, und schon am folgenden Tag schlug sich Radetzky direkt durch das Zentrum der piemontesischen Front den Weg frei. Die Piemonteser hatte eine Reihe von hochgelegenen Dörfern nördlich der Ansiedlung verteidigt, die diesem monumentalen Gefecht den Namen verlieh: Custoza. In der brütenden Hitze des 24. Juli versuchte Karl Albert einen Gegenangriff – und sah irgendwann, wie auf den Anhöhen siegreich die italienische Trikolore geschwenkt wurde –, in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages aber warf Radetzky die ganze Macht seiner Truppen gegen die erschöpften italienischen Einheiten und fegte sie von den Hängen herab.136 Karl Alberts Streitkräfte zogen sich nach Mailand zurück, das sich als bloße Durchgangsstation auf dem Rückzug der Piemonteser aus dem Krieg erweisen sollte. In der lombardischen Hauptstadt glitt jetzt den verrufenen Monarchisten die Macht aus den Händen und fiel stattdessen den Republikanern zu, die sich auf Rat Mazzinis zum Widerstand gegen die Österreicher rüsteten, indem sie Erdwälle aufschütteten, Barrikaden bauten und alles an Geld, Munition und Proviant einsammelten, was nach einer solch kurzen Vorankündigung nur möglich war. Nahrungsmittel und Munition waren rar, und der größte Teil der verfügbaren Artillerie stand in Piacenza. Während Karl Albert noch am 5. August den Einwohnern versicherte, er wolle kämpfen, handelte er mit
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Feldmarschall Johann Joseph Graf Radetzky im Jahr 1850. (akg-images)
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Radetzky bereits die Vertragsbedingungen aus. Man kam überein, dass die Piemonteser am 6. August aus Mailand abziehen und dann einen Tag Zeit haben sollten, sich ganz aus der Lombardei zu entfernen, wobei sie all jene mitnehmen durften, die sich in der Revolution »kompromittiert« hätten. Am nächsten Tag wollte Radetzky die Stadt einnehmen. Als in der Nacht vom 5. zum 6. August etwas von diesem Handel durchsickerte, sammelte sich eine zornige Menschenmenge rund um den Palazzo Greppi, wo sich Karl Albert aufhielt. Mittels seiner Soldaten, die eigentlich schon mit dem Abmarsch begonnen hatten, konnte der König befreit werden.137 »Mailand ist unser«, schrieb ein triumphierender Radetzky vierundzwanzig Stunden später: »Auf lombardischem Boden bleiben keine Feinde zurück«.138 Am 9. August unterzeichnete der piemontesische General Salasco den Waffenstillstand. Radetzkys Mut – immerhin hatte er sich stur geweigert, dem Befehl der Regierung zu folgen und Verhandlungen zu führen – sowie seine militärischen Fähigkeiten hatten Österreich die Macht in Italien zurückgegeben. Weil er den Druck auf Wien deutlich verringerte, trug er so zum Überdauern des Habsburgerreiches im Jahr 1848 bei. Für die Italiener bedeutete Custoza nicht nur ein militärisches Debakel, sondern eine politische Zeitbombe: Der Glaube, dass Karl Albert und die monarchistische Führungsriege Italien befreien könnten, war erschüttert. Die Republikaner spürten, dass ihre Zeit gekommen war. Weithin waren Rufe nach einer costituente zu hören, einer gewählten verfassunggebenden Versammlung für ganz Italien, die über den Kopf der regierenden Monarchen hinweg einen vereinten Staat schaffen sollte. Carlo Cattaneo, der den piemontesischen Motiven immer skeptisch gegenübergestanden hatte, erklärte: »Jetzt sind wir unsere eigenen Herren«,139 floh aber dennoch am 8. August aus Mailand in die Sicherheit von Paris, wo er am 16. eintraf. Dort verfasste und veröffentlichte er L’Insurrection de Milan en 1848, ein Werk, das darauf abzielte, den Bemühungen von Karl Alberts Agenten entgegenzuwirken, die versuchten, den Republikanern die Schuld für das Desaster im Sommer in die Schuhe zu schieben. Das Buch wurde ein Bestseller.140 Mazzini hatte sich mittlerweile eine Muskete gegriffen und Mailand am 3. August verlassen, um sich Garibaldis Freiwilligen anzuschließen, die sich, nachdem sie von den Piemontesern übel abgewiesen worden waren, bei den Lombarden in Dienst begeben hatten. Noch trugen sie nicht ihre berühmten roten Hemden, sondern weiße Drillichjacken, die die Österreicher bei ihrem Rückzug zurückgelassen hatten: Ein Zeitzeuge fand, dass sie »wie ein Regiment von Köchen« aussahen.141 Auf die Nachrichten von Custoza hin zog sich Gari-
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baldi nach Mailand zurück, um die Stadt zu verteidigen. Während er noch unterwegs war, erfuhr er vom Waffenstillstand. »Waffenstillstand, Kapitulation, Flucht – die Nachrichten ereilten uns wie aufeinanderfolgende Blitze und verbreiteten unter den Leuten und den Soldaten Angst und Mutlosigkeit.«142 So mancher desertierte, doch der Rest marschierte nordwärts nach Como, da Garibaldi hoffte, von dort zwischen Seen und Bergen einen Partisanenkrieg führen zu können. Mazzini, der mit seinen Anhängern unter dem Banner »Für Gott und das Volk« marschierte, trennte sich bei Como von Garibaldi und betrat Schweizer Boden, von wo aus er den Widerstand zu steuern hoffte. Mit Cattaneos Zustimmung schuf er in Lugano ein italienisches Nationalkomitee, das verkündete: »Der Krieg des Königs ist zu Ende; der Krieg des Volkes beginnt«.143 Es war eine Ironie des Schicksals, dass Mazzini sich ausgerechnet mit dem Mann entzweite, der den Kampf fortsetzte – Garibaldi. »Ich hatte den Fehler gemacht, und das verzieh mir Mazzini nie«, erklärte Garibaldi später, »ihn darauf hinzuweisen, dass es falsch war, die Unterstützung junger Männer zu gewinnen und daran festzuhalten, indem man ihnen zu einer Zeit, in der die Armee und die Freiwilligen in Kämpfen mit den Österreichern verwickelt waren, die Aussicht auf eine Republik vor Augen hielt.«144 Als die italienische Einheit 1860 endlich erreicht war, war dies zu einem nicht geringen Teil Garibaldis Bereitschaft zu verdanken, seine republikanischen Prinzipien der Sache der Einheit unterzuordnen. Doch die beiden Männer, die die italienische Vereinigung verkörpern sollten, waren auch in Fragen der Taktik zerstritten. Garibaldi, der trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten noch immer Befehle von Mazzini entgegennahm, rückte zum idyllischen Lago Maggiore aus, wo er und seine Männer über zwei Dampfer verfügten. Unter den Jubelrufen von Frauen und Kindern, die auf den Balkonen ihrer Seevillen Trikoloren schwenkten – nahmen sie Luino ein und schlugen dort einen österreichischen Angriff zurück.145 Mazzini hatte gehofft, mit einer kleinen Demonstration des Widerstands einen breiter angelegten Aufstand in den Bergen der Lombardei zu entfachen, doch Garibaldi mit seiner Erfahrung aus den Partisaneneinsätzen in Südamerika schätzte die Situation an der Basis anders ein: »Zum ersten Mal«, schrieb er desillusioniert, »sah ich, wie wenig die Sache der Nation die hiesigen Landbewohner interessierte.« Durch Desertionen geschwächt, bahnte sich sein kleiner Haufen bei einem Nachtmarsch über schwierige Gebirgspfade einen Weg in die Schweiz. Als er die Grenze überschritt, waren ihm von den achthundert Männern, die Luino eingenommen hatten, nur dreißig geblieben.146
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Anderswo in Italien erging es den Republikanern deutlich besser. Die gemäßigten, freiheitlichen Regierungen, die sich auf die Seite der Monarchie geschlagen hatten, standen nun unter erheblichem Druck. Das Ministerium in Piemont, dessen Mitglieder seit seiner Bestallung Anfang Juli quer durch das angebliche norditalienische Königreich ausgewählt worden waren und das unter Leitung des früheren Bürgermeisters von Mailand, Casati, stand, stimmte in den öffentlichen Aufschrei gegen den Waffenstillstand ein. Zwischen Piemonts erstem Verlust bei Custoza und der endgültigen Niederlage bei Novara im Jahr 1849 gab es nicht weniger als sechs Regierungen. Kritiker der aufeinanderfolgenden Kabinette, die verlangten, dass der Krieg wieder aufgenommen werden solle, wurden von dem Gezeter der rund 25 000 lombardischen Flüchtlinge unterstützt. Bis zum Herbst war die Kriegsbegeisterung geradezu überwältigend, und die Demokraten drohten mit einer neuen Revolution, insbesondere im unruhigen Hafen von Genua. Um dem Druck ein Ventil zu verschaffen, verstärkte die Regierung die Armee mit frisch rekrutierten 50 000 Mann. Venedig war nun inmitten eines österreichischen Meeres restlos isoliert. Die Nachrichten von Custoza und dem Waffenstillstand »erreichten Venedig wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, so der amerikanische Konsul Edmund Flagg.147 Der venezianische Wunsch nach einer »Fusion« hatte sich nun erledigt, und Daniele Manin ging mit neuem Vertrauensvorschuss aus der Krise hervor. Der kleine, bebrillte Republikaner hatte sich geweigert, Teil der provisorischen monarchistischen Regierung zu werden, die am 5. Juli bestellt worden war: »Ich bin und bleibe ein Republikaner. In einem monarchistischen Staat kann ich nichts sein.«148 Um dies zu demonstrieren, zog sich Manin seine ZivilgardeUniform an und übernahm im Rang eines Gefreiten seinen Dienst als Wachposten – ein einfacher Bürger, der sein Bestes für die Stadt tat. Die monarchistische »Juliregierung« setzte nun ihre Arbeit aus, da die Österreicher unter dem Kommando von Feldmarschall Franz Ludwig von Welden die Stadt von der Terra ferma isoliert hatten. Seine rund 9000 Soldaten wurden jetzt um die Lagune herum zu einem Sperrgürtel auseinandergezogen. Allerdings litten viele Soldaten an Malaria, und die Möglichkeit gegen eine Stadt loszuschlagen, die von nicht weniger als vierundfünfzig Kastellen bewacht wurde, davon nur drei auf der Terra ferma, gab es nicht. Das Kommando der 22 000 Mann starken venezianischen Streitkräfte (von denen 12 000 italienische Freiwillige und reguläre Soldaten aus ganz Italien waren) war am 15. Juli General Pepe übergeben worden, der Venedig zusammen mit den Resten seines neapolitanischen Regiments auf einem Dampfer aus Chioggia erreicht hatte.149
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Die antimonarchistische Haltung der Einwohner war überaus deutlich: Während die Provinzen des Festlandes für einen Zusammenschluss gestimmt hatten, hatte die große Stadt dies abgelehnt. Angesichts der Nachrichten aus Custoza kochte in Venedig die Wut über. Am 3. August versammelten sich an die 150 Leute, teils durch Mazzinis Ideen aufgestachelt, im Casino dei Cento und gründeten den Italienischen Klub – angeblich um die Alltagsgeschäfte zu beraten, in Wahrheit aber als alternatives republikanisches Zentrum. Als vier Tage später die Piemonteser Bevollmächtigten nach Venedig entsandt wurden, um in Karl Alberts Namen die Macht zu übernehmen, wurden sie feindselig begrüßt. Am 10. August unterzeichneten die führenden Republikaner, unter ihnen Manin und Tommaseo, ein Protestschreiben und verlangten eine Zusammenkunft in der venezianischen Versammlung. Die Regierung machte sich außerordentlich unbeliebt, als sie taktlos die alten österreichischen Gesetze zitierte, um ihre Kritiker in Presse und Italienischem Klub zum Schweigen zu bringen. Doch schon einen Tag später lenkte sie ein und stimmte der Bildung eines Verteidigungsausschusses zu, der von der Versammlung gewählt werden sollte. Die piemontesischen Abgeordneten dankten ab, wurden aber trotzdem auf dem Markusplatz von einer venezianischen Horde gejagt, die Blut sehen wollte.150 Zu diesem delikaten Zeitpunkt war Manin fleißig dabei, einen Buchladen zu durchstöbern. Doch diese angenehme Beschäftigung musste er unterbrechen, als er zu einem Treffen mit der Regierung und den Abgeordneten gerufen wurde. Allein schon sein Erscheinen auf dem Balkon beschwichtigte den Aufruhr unten auf dem Platz. Manin versprach, dass die venezianische Versammlung am 13. August zusammenkommen und er solange die Macht übernehmen werde. Er rief die Venezianer auf, ihre Stadt zu verteidigen. Sein Publikum, das noch wenige Augenblicke zuvor Mordgelüste gehegt hatte, brach in ekstatischen Jubel aus: »Es lebe Manin! Zu den Festungen!« Die Stimmung in der Stadt schwenkte von Wut und Verwirrung um zu Optimismus. Später erinnerte sich der Sohn eines führenden Republikaners: »Mit welcher Zuversicht für die Rettung des Mutterlandes blieben wir auf, um zu sehen, wie die Morgendämmerung über der Eisenbahnbrücke und den zerstörten Schiffen unserer Flotte anbrach!« Manin war ein Husarenstück gelungen, und das nicht nur gegen die Monarchisten, er war auch den Mazzinianern zuvorgekommen, die ihrerseits gehofft hatten, die Macht an sich zu reißen. Immer hatte er die Herrschaft des Pöbels gefürchtet, und für ihn waren Mazzinis revolutionäre Ideen gleichbedeutend mit dieser Gefahr. Deshalb sah er es nun als seine Aufgabe an, die
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»Anarchie« zu verhindern. Die Junitage in Paris stellten für ihn genau das elende Chaos dar, in das auch Venedig leicht verfallen konnte, machte seine Führung nicht Recht und Ordnung zu ihrer vorrangigen Sache.151 Trotz allem war der Krieg gegen Österreich vordringlicher, und Venedig trug ihn praktisch allein aus. Als die Versammlung am 13. August zusammentrat, stimmte Manin zu, sich die Macht mit zwei Militärkommandeuren zu teilen, der eine, Oberst Giovanni Cavedalis, stand für das Heer, der andere, Admiral Leone Graziani, für die Marine. Um sicherzustellen, dass größtmögliche Einigkeit herrschte, ging Manin so weit zu verkünden, Venedig werde nicht noch einmal zur Republik erklärt. Die Regierung sei »in jeder Hinsicht« provisorisch. Das war ein weiterer Schlag ins Gesicht Mazzinis, die zu einer ernsthaften Herausforderung für das neue Triumvirat werden konnte, da er unter den nicht venezianischen Freiwilligen und Soldaten jede Menge Unterstützung fand. Doch Manins Popularität innerhalb der Bevölkerung war allemal größer, zudem genoss er den Rückhalt des Oberbefehlshabers Pepe. Aus diesem Grund widerstand er bis zum Herbst erfolgreich dem Druck vonseiten des Italienischen Klubs (und Mazzinis), Venedig in eine Hochburg des italienischen Republikanismus zu verwandeln, von der aus das restliche Land revolutioniert werden konnte.152 In der Toskana war die Reaktion auf Custoza sogar noch dramatischer als in Venedig. Cosimo Ridolfis Regierung, eine Koalition aus Konservativen und Gemäßigten, war lange von der liberalen Mitte-Links-Opposition unter Bettino Ricasoli für ihre lauwarme Unterstützung des Krieges kritisiert worden. Als die Nachrichten über die Schlacht Krawalle auslösten, trat Ridolfis Kabinett zurück: Florenz wimmelte von Arbeitslosen, Deserteuren, frustrierten Soldaten und kampfbereiten Freiwilligen, während die radikalen politischen Vereine laut nach einem mazzinianischen Volkskrieg schrien. Schließlich fand sich der gemäßigte Liberale Gino Capponi bereit, den Giftkelch anzunehmen und Ministerpräsident zu werden. Er versprach, die toskanischen Kriegsanstrengungen fortzusetzen, sollte der Waffenstillstand zwischen Österreich und Piemont fehlschlagen. In Rom hatte Ministerpräsident Mamiani versucht, den Papst in die Rolle des verfassungsgemäßen Monarchen zu manövrieren, doch die füllte Pius IX. nur unter Schwierigkeiten aus. Nachdem das neu gewählte Parlament am 5. Juni eröffnet worden war, sah Mamiani von seinem radikalen Liberalismus ab und setzte sich für die nationale Sache Italiens ein, wobei er jedoch eine Liga mit dem Papst als Vermittler favorisierte. Dafür hasste ihn die radikale Minderheit im Parlament unter Führung des Fürsten von Canino, einem Angehörigen
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des Bonaparteclans, sowie Doktor Pietro Sterbini. Als die Österreicher im Juli Norditalien angriffen, dabei in den Kirchenstaat eindrangen und am 14. Juli kurzzeitig Ferrara besetzten, mobilisierten die Radikalen mittels der Klubs oder circoli die römische Meute, die Caninos Beispiel folgte und die Verhängung des Ausnahme- und des Kriegszustandes forderte. Mamiani weigerte sich, doch als die Menschenmenge in das römische Unterhaus vordrang und nach Waffen zur Verteidigung der Stadt schrie, war klar, dass das Parlament wenig unternehmen konnte, um die Demokraten unter Kontrolle zu halten. Custoza war der politische Gnadenschuss – Mamiani trat am 3. August zurück. Der Papst wollte den begabten und klugen Pellegrino Rossi berufen, aber weil der zu den ausgesprochen gemäßigten Liberalen gehörte, fand er wenig Akzeptanz, und so musste sich Pius mit einem sechswöchigen Interimsministerium begnügen. Inzwischen versuchten österreichische Truppen Bologna zu besetzen, um die Flut italienischer Freiwilliger einzudämmen, die unterwegs waren, um bei der Verteidigung Venedigs zu helfen. Die Soldaten in ihren weißen Mänteln erreichten am 8. August die Tore der Stadt, doch die Bewohner leisteten entschiedenen Widerstand: Die Armen, Studenten, Ladenbesitzer, Handwerker und Bürger ließen sich vom Bombardement der Feldgeschütze nicht einschüchtern und schafften es sogar, eine Kompanie auszuschalten, die die Befestigungsanlagen überwunden hatte. Binnen dreier Stunden zogen sich die Österreicher zurück. Sie hinterließen eine Stadt in revolutionärem Fieber und patriotischer Leidenschaft.153 In Süditalien wurde die erwachende freiheitliche Ordnung im Königreich Neapel noch in der Wiege stranguliert, seit am 15. Mai König Ferdinand mit Kanonen, Musketen und Bajonetten seine königliche Macht zurückerobert hatte. Doch solange Piemont im Norden Österreich herausforderte, fühlten sich die neapolitanischen Reaktionäre nicht stark genug, die Daumenschrauben fester anzuziehen: Keine italienische Regierung traute sich, das Verfassungsprinzip zu verraten, solange die Möglichkeit bestand, dass die liberale Sache mittels Waffen siegen konnte. Hinzu kam, dass Sizilien noch immer für seine Unabhängigkeit eintrat, weite Teile der ländlichen Gebiete des Festlandes sich in offenem Aufruhr befanden, es in den Abruzzen eine Erhebung gab und in Kalabrien einen größeren Aufstand. Für Ferdinand war es demnach ungünstig, nun die Versprechen zu brechen, die er seinen Untertanen noch im Januar gegeben hatte: Daher wurde nur eine milde Zensur eingeführt, und die Neuwahlen vom 15. Juni (mit strikterem Wahlrecht als zuvor) brachten ein Parlament mit einem starken liberalen Anteil zurück. Trotzdem reklamierte die alte Ordnung
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einmal mehr ihre Macht: Die Jesuiten wurden wieder im Königreich zugelassen, die königliche Polizei erschien auf den Straßen, Versammlungen waren verboten. Die politischen Gezeiten begannen allmählich zu Ferdinands Gunsten zu wechseln, auch weil es den Radikalen nicht gelang, die Bauernaufstände auf politische Ziele hin zu lenken. Eine Truppe von sechshundert Sizilianern, eingesetzt, um den kalabrischen Aufstand zu unterstützen, weigerte sich trotzig, mit den Bauern gemeinsame Sache zu machen. 8000 vom König entsandte Soldaten machten dem Aufstand schließlich ein Ende. Mit der Nachricht von Custoza indessen sah der König, dass der Zeitpunkt für die volle Rückgewinnung seiner Macht gekommen war. Seine Hauptsorge galt nun Sizilien, das er unter Kontrolle bringen musste. Die Insel war Anfang März schon dabei gewesen, eine Wiederauflage der Verfassung von 1812 anzunehmen, als die Neuigkeiten von der Pariser Februarrevolution eintrafen. Das sizilianische Parlament, das zum ersten Mal am 25. März zusammentrat, erhöhte nun den Einsatz, indem es eine Verfassung forderte, die Sizilien praktisch unabhängig gemacht und als einzige Verbindung zu Neapel das Haus Bourbon vorgesehen hätte. Als die neapolitanische Regierung Siziliens Ambitionen abwies, bestimmte die Volksvertretung in Palermo – die vor allem aus Juristen, Intellektuellen und liberalen Adeligen bestand – am 13. April die Abschaffung der Monarchie: »Sizilien verlangt keine neuen Institutionen«, erklärte sie stolz, »sondern die Wiedereinsetzung von Rechten, die ihr jahrzehntelang eigen waren.«154 Für ein paar Monate war Sizilien tatsächlich ein unabhängiger Staat: Nicht einmal die italienische Trikolore nahm es als Flagge an, nur das dreibeinige Symbol der Insel. Neapel bezichtigte die Sizilianer denn auch des »Bürgerkriegs« gegen ein vereintes Italien. Doch obwohl es auch hier eine radikalrepublikanische Minderheit gab, darunter Francesco Crispi, traten die meisten sizilianischen Revolutionäre für die konstitutionelle Monarchie ein, und das Parlament setzte den angesehenen Veteranen der Liberalen, Ruggiero Settimo, als Präsidenten ein, bis ein neuer König gewählt werden konnte. Doch jenseits dieser Körperschaft glitt die Insel in die Anarchie ab. Was noch an Polizei übrig war, wurde von den Squadristen umgebracht, die jetzt nicht mehr nur weite Gebiete auf dem Land unter Kontrolle hatten, sondern auch Einfluss in Palermo nahmen. Mit dem Zusammenbruch der bourbonischen Macht hatten sie die Kontrolle in ihren Dörfern an sich gerissen, um dann »ihre« Leute in die Hauptstadt marschieren zu lassen, die dort genussvoll Angst und Schrecken zu verbreiten suchten. Die Regierung rief eine Nationalgarde ins Leben. Diese sollte Eigentum und Leben der Bürger Siziliens verteidigen,
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denn Letztere liefen beständig Gefahr, entführt oder bedroht zu werden, zumindest so lange, bis sie Lösegeld zahlten. Bei all dem Chaos blieb der Regierung wenig Handhabe, um eine Armee aufzustellen, der es gelungen wäre, Sizilien gegen einen neapolitanischen Gegenangriff zu verteidigen. Bis zum September konnte sich die Insel auf vielleicht 6000 Soldaten stützen, darunter zwei reguläre Bataillone, der Rest bestand aus schlecht ausgebildeten Nationalgardisten, ergänzt von abgebrühtem Straßenvolk und gewalttätigen Squadristen. Im August ließ Ferdinand schließlich an der kalabrischen Küste, gegenüber der Straße von Messina, ein 10 000 Mann starkes Expeditionskorps antreten. Dieses kam der königlichen Besatzung in der Zitadelle von Messina zu Hilfe, jenem Brückenkopf, an den sich die Neapolitaner seit dem Beginn der Revolution geklammert hatten. Zwischen dem 1. und dem 6. September besorgten Geschütze der Festung ein Bombardement ohne Gnade, während gleichzeitig die Truppen vorrückten und auf die schlecht vorbereiteten Zivilgardisten und die Bewohner trafen. Als die Schlacht vorbei war, lagen zwei Drittel der Stadt in Schutt und Asche. Von nun an war Ferdinand unter einem neuen Beinamen bekannt: Bomba. Ein sechsmonatiger Waffenstillstand, den die entsetzten Briten und Franzosen vermittelten, führte ab dem 11. September zu einer Kampfpause, doch die neapolitanische Rückeroberung Siziliens hatte mit aller Macht eingesetzt.155 1847 warnte der deutsche Schriftsteller August von Haxthausen seine Leser anschaulich vor der möglichen Katastrophe: »Pauperismus und Proletariat sind die eiternden Geschwüre, die der Organismus der modernen Staaten geboren hat. Können sie geheilt werden? Die communistischen Heilkünstler schlagen eine völlige Zerstörung und Vernichtung des vorhandenen Organismus vor […] Eins ist sicher, gewinnen diese Leute die Macht zum Handeln, so giebt es keine politische, sondern eine sociale Revolution, einen Krieg wider alles Eigenthum, eine vollkommene Anarchie.«156 Obwohl er ein Konservativer war, der (mitfühlend) über Russland schrieb, drückte Harthausen das aus, was viele Europäer angesichts der Bedrohung durch die – im 19. Jahrhundert aus Armut und einschneidendem Wirtschaftswandel entstandene – »soziale Frage« empfanden. Auch die Liberalen befürchteten, dass die Radikalen nach den politischen Triumphen der ersten Monate des Jahres 1848 versuchen würden, das vielfache Elend zu nutzen, um die neue
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freiheitliche Ordnung im Keim zu ersticken, indem sie auf eine zweite, eine soziale Revolution drängten. Die Gemäßigten lagen in der Tat richtig. Denn die Armut der städtischen Arbeiter war einer der wichtigsten Faktoren, die letztlich das Scheitern der freiheitlichen Regierungen des Jahres 1848 nach sich zogen. Und das, obwohl die Forderungen der Arbeiter gar nicht immer revolutionärer, sondern vor allem gesellschaftlicher Natur waren. Obwohl sie in keinem Land in der Mehrheit waren, wirkten sie doch vor allem im städtischen Milieu, und das versetzte sie in die Lage, die zentralen Institutionen der neuen Ordnung zu bedrohen. Die Liberalen waren nicht bereit, den Arbeitern mehr als bestimmte zivile und politische Rechte zu gewähren und durch öffentliche Arbeiten die größte Not etwas abzumildern. Mit den verfassungsrechtlichen Freiheiten und den nun im Entstehen begriffenen Regierungen waren sie ja auch erst mal zufrieden. Langfristig, so hofften sie, würden wirtschaftliche Erholung, dazu die neue Versammlungs-, Vereinigungs- und Gewerbefreiheit der Militanz der Arbeiter den Stachel ziehen. 1848/49 jedoch war eine wirtschaftliche Erholung nicht in Sicht (wozu die politische Ungewissheit dieser Jahre noch beitrug), und die Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut brachten allenfalls Linderung. Sie waren Pflaster, die die Wunden der Verzweiflung nur notdürftig abdeckten. Deshalb ließen sich die Forderungen der Arbeiter, selbst wenn sie gemäßigt waren und mehr dem Elend als der Militanz entsprungen, von den Radikalen für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Gleichzeitig war es für sie Konservativen allzu leicht, die machtvollen Demonstrationen der Arbeiterklasse ins Feld zu führen – die Junitage in Paris, den Augustaufstand in Wien oder die Septemberrevolte in Frankfurt – und zu behaupten, die Arbeiter wollten die gesellschaftliche Ordnung, wenn nicht sogar die Kultur zerstören. Viele Liberale und Angehörige des Mittelstands waren aus eigener Erfahrung nur allzu bereit, dies zu glauben und daher willens, hart erkämpfte politische Freiheiten wieder zu opfern, sollte das die Rückkehr von Recht und Ordnung garantieren. Doch unter diesen Umständen – mit Liberalen, die sich der Obrigkeit anschlossen, und mit Arbeitern, die sich mehr und mehr mit Radikalen verbündeten – sollte die Revolution von 1848 schon bald in eine verhängnisvolle Polarisierung münden. Noch bedrohlicher für die freiheitliche Ordnung jedoch waren soziale Spaltungen dort, wo sie von ethnischen Unterschieden überlagert wurden. Besonders unter den Bauern Zentral- und Mitteleuropas war dies der Fall und sehr gefährlich – gerade die Landbevölkerung sollte es sein, die 1848 die Gegenrevolution unterstützte.
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Im Juni 1848 hatte ein junger preußischer Adeliger eine Audienz bei Friedrich Wilhelm IV. in dessen stattlichem Exil in Sanssouci. Der Junker, damals dreiunddreißig, riet dem König, die Revolution »mehr in dem Lichte von Krieg und Notwehr« der restaurativen Ordnung zu sehen. Aber »meine Überzeugung, daß die Zweifel des Königs an seiner Macht unbegründet seien […], konnte ich ihm nicht zur Anerkennung bringen«. Ebenso wenig war der König davon zu überzeugen, sich gegen den »Übergriff« des preußischen Parlaments zu wehren.1 Der Adelige war Otto von Bismarck, der bisher wenig Einfluss auf den König besaß, aber einen glänzenden Aufstieg zu einem der größten und überlegenen Staatsmänner Deutschlands erleben sollte. Tatsache ist, dass Bismarck über den Zusammenbruch des Absolutismus verzweifelt war: »Die Vergangenheit ist begraben, […] keine menschliche Macht [ist] imstande […], sie wieder zu erwecken, nachdem die Krone selbst die Erde auf ihren Sarg geworfen hat«.2 Schon bald aber gewann der Junker seinen Elan zurück. Bereits vor der Revolution war er den Konservativen am Hofe aufgefallen: Im Vereinigten Landtag von 1847 wiesen ihn seine Reden als treuen Anhänger des Königs aus. Das sah auch Leopold von Gerlach, einer der reaktionär Gesinnten, denen Friedrich Wilhelm Gehör zu schenken pflegte. Im Sommer 1848 noch wollte der König nicht auf ihn hören, doch im Herbst hatte sich die Lage verändert, und Friedrich Wilhelm war nun bereit, gegen die Revolutionäre vorzugehen. In ganz Europa gewannen die Konservativen ihren Mut zurück – und mit ihm die politische Initiative. Dafür gab es mehrere Gründe: Erstens hatten die Ereignisse des Sommers die Liberalen bis ins Mark erschüttert. Durch die drohende Revolution und die Unruhe innerhalb der Arbeiterklasse konnten die Konservativen die Angst vor sozialen Verwerfungen nähren. Wer durch chaotische Zustände etwas zu verlieren hatte, den zog es mehr und mehr von der politischen Mitte weg, hin zu den Kräften, die nach Recht und Ordnung verlangten. Um soziale Stabilität bemüht, schlossen sich die Liberalen im Allgemeinen – wenn auch oftmals widerstrebend – ihren alten Feinden an. Das
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Fortdauern von wirtschaftlicher und sozialer Krise sowie die Versuche von Konservativen und Radikalen, sich durchzusetzen, spaltete die Revolutionäre. Die Liberalen näherten sich den Reaktionären an und übernahmen von diesen die repressiven Methoden, die sie einst bekämpft hatten. Die Polarisierung zwischen Rechts und Links brachte am Ende den Sieg der Konservativen, hatten diese doch noch immer die Kraft – und mit der Zeit auch breite Unterstützung –, die den Liberalen fehlte. Darüber hinaus hatten die 1848er-Revolutionäre viele der alten staatlichen Institutionen unangetastet gelassen. Da sich die meisten revolutionären Führer Europas der konstitutionellen Monarchie und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlten, wurde den regierenden Monarchen die Kontrolle über die Kabinettsbildung überlassen, auch wenn diese Minister der Legislative gegenüber verantwortlich waren. Dies traf insbesondere für Österreich zu, wo die grundlegenden Strukturen des Reiches intakt blieben: Kaiser, Hof, Ministerrat, staatlicher Beamtenapparat und Heer – alles blieb erhalten.3 Dies führte dazu, dass, sofern nicht – wie in Frankreich und in Österreichs norditalienischen Provinzen – das alte Regime gestürzt worden war, personelle Kontinuität herrschte; wobei viele Staatsdiener lieber nach der Pfeife des Monarchen zu tanzen bereit waren als nach der eines liberalen Emporkömmlings. Dieser konnte schließlich immer noch seine eigenen Anhänger berufen. Im Habsburgerreich blieben Statthalter wie Stadion in Galizien und Thun in Böhmen mächtige Gestalten, die Reformen wie etwa die Abschaffung der Leibeigenschaft benutzen konnten, um eine Unterstützung für die Monarchie zu forcieren. In Kroatien etwa hatte Ban Jelačić seinen Untergebenen befohlen, dem Kaiser Gehorsam zu leisten und nicht der ungarischen Regierung, der man eigentlich untertan war. Die liberalen Regierungen konnten sich folglich der Loyalität der Beamten und Juristen nie ganz sicher sein. Das galt sogar für Frankreich, wo die provisorische Regierung Kommissare in die Provinzen schickte, um monarchistische Präfekten und Unterpräfekten durch Republikaner zu ersetzen und die amtierenden Stadtverordneten zu entlassen. Doch diese Säuberung der Behörden erfolgte nicht so gründlich, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Im Südosten etwa, wo es traditionell einen tief verwurzelten ländlichen Radikalismus gab, wurden fast alle Beamten – bis hinunter zum Bürgermeister der kleinsten Dörfer – ausgetauscht, doch in anderen Regionen erklärten die amtierenden Funktionäre einfach ihre Loyalität gegenüber der neuen Republik und behielten ihre Positionen. Sie waren die sogenannten »Republikaner des Tages danach« – die pragmatischen Konvertiten,
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die sich in republikanische Farben hüllten und darunter ihre königstreuen Kleider versteckten.4 Ein ähnlicher Prozess fand in Ungarn, Italien und Deutschland statt, wo die Amtsträger ihre (fragwürdige) Loyalität gegenüber dem neuen System demonstrierten, wobei sie allerdings lieber für die Nation als für das Herrscherhaus Farbe bekannten.5 Das A und O jedoch war die Kontrolle über das Militär. In Frankreich hielt die Armee an der noch jungen Tradition des »Staatsdienstes« fest, einer Instanz, die über allem stand – ob Demokratie, Monarchie oder Diktatur – und in den Wirren von Revolution und Gegenrevolution für nationale Kontinuität sorgte. Dennoch geriet auch die französische Armee zum Werkzeug autoritären Regierens, als während der Zweiten Republik Louis-Napoleon Präsident wurde. Anderswo blieben die bewaffneten Streitkräfte gleich in Herrscherhand: Papst Pius IX. und König Ferdinand von Neapel konnten beide über ihre Truppen verfügen, um sich aus dem Konflikt mit Österreich herauszuziehen. Letzterer benützte sie darüber hinaus, um Schritt für Schritt die neapolitanische Revolution und die sizilianische Unabhängigkeit niederzukämpfen. In Österreich schafften es Radetzky, Windischgrätz und Jelačić, ihre Truppen zu sammeln und im Namen des Kaisers, dessen konservative Minister im Amt verblieben waren, loszuschlagen. In Deutschland wiederum besaßen immer noch die Regierungen der einzelnen Länder die Kontrolle über die Streitkräfte. Folglich spielten die deutschen Liberalen mit dem Feuer, wenn sie einer Niederschlagung der republikanischen Bewegung in Baden, der Durchkreuzung polnischer Ambitionen in Posen und dem Kampf gegen den dänischen Nationalismus in Schleswig-Holstein Beifall spendeten. Die Tatsache, dass diese Truppen nicht nur unter dem Kommando der alten Herrscher standen, sondern durch den älteren Deutschen Bund aufgeboten wurden, zeigte zum einen, dass die wirkliche Macht noch immer in den Händen der Einzelstaaten – insbesondere des mächtigen Preußens – lag, und zum anderen, dass der Bund, von den Liberalen als Relikt der konservativen Ordnung Metternichs gehasst, auch jetzt noch beträchtliche institutionelle Stärke aufwies. Als Bismarck deshalb Friedrich Wilhelm klarmachte, dass seine Position weitaus stärker sei, als er denke, konnte er das, weil die Armee jenem treu ergeben war. Dass er recht gehabt habe, erinnerte sich Bismarck später, »ist demnächst dadurch bestätigt worden, daß den großen und kleinen Aufständen gegenüber jede militärische Anordnung unbedenklich und mit Eifer geführt wurde«.6 Die große Ausnahme war Ungarn, dessen liberale Führung sich aus der politischen Elite des Landes rekrutierte und damit sowohl den Staatsapparat bis hinunter
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auf Komitatsebene als auch das ungarische Offizierskorps (obwohl nicht gänzlich) unter Kontrolle hatte. Andernorts konnten die Revolutionen der konservativen Macht kaum etwas anhaben. Sobald ihr Selbstvertrauen zurückgekehrt war, eigneten sich die Konservativen gewisse Methoden ihrer liberalen Gegner an, darunter die Pressearbeit und die Bildung von Netzwerken, um die öffentliche Meinung für den Gegenschlag zu mobilisieren und zu organisieren. Im Laufe des Sommers blühten das konservative Pressewesen und die politischen Organisationen auf, beflügelt von den ersten Erfolgen der Gegenrevolution. In Österreich erschien die Wiener Kirchenzeitung, die der katholischen Kirche verbunden war, und die reißerische Geißel, in der mehr Beleidigungen und Verleumdungen waren als in den wütendsten Revolutionsschriften. Als ihr bissiger Herausgeber J.F. Böhringer Mitte September das schwarz-goldene kaiserliche Banner aus dem Fenster der Verlagsräume hängte, musste ihn die Nationalgarde von dem Wiener Pöbel befreien – eine Ironie, die wohl selbst ihm nicht entging. Zu diesem Zeitpunkt hatten die österreichischen Konservativen endlich ihre eigene politische Gesellschaft, den »Constitutionellen Verein«, gegründet. Wie sein Name schon sagt, versuchte dieser nicht, Österreich in die absolutistischen Tage Metternichs zurückzuziehen, sondern die liberale, parlamentarische Ordnung zu verteidigen gegen »jegliches dreiste Ausgreifen in Richtung Republikanismus«, den er »als Verrat am Vaterland und der konstitutionellen Freiheit« empfand.7 In der Praxis war es die einzige Organisation (außerhalb der katholischen Kirche), die all jene zu sammeln verstand, die Angst vor dem Einfluss der Wiener Radikalen hatten. Daher zog sie eine Anhängerschaft an, deren Hauptsorge nicht der Verfassung galt, sondern der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Innerhalb weniger Tage hatte sie zwischen 22 000 und 30 000 Mitglieder. Graf Hübner merkte an, der Erfolg des Vereins sei »jedenfalls ein gutes Zeichen«.8 Für die Mobilisierung hatten die Konservativen eine wirksame Waffe: die Religion. In vielen Regionen Europas war sie der entscheidende Faktor, der die Menschen an die alte Ordnung band. Zwar gab es auch radikale oder »rote« Priester, wie einen Pater Gavazzi in Italien oder einen Abbé Félicité Robert de Lamennais mit seinem überragenden Intellekt in Frankreich. Dessen demokratisch-sozialistische Überzeugungen entstammten einem gelebten Glauben: In seinem Bestseller Paroles d’un croyant (Worte eines Gläubigen) zeichnete er Jesus als Freund der Armen, weil er glaubte, dass Gott durch »die Menschen« spreche – vox populi, vox dei. Seine Zeitung L’Avenir (Die Ankunft) war 1832 vom Papst verboten worden. 1848 wurde er in die Nationalversammlung
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gewählt, saß bei den Linken und gehörte zu den wenigen, die die Junitage offen verteidigten. Tocqueville, der bei der Ausarbeitung der Verfassung der Zweiten Republik mit dem Abbé zusammenarbeitete, merkte an, dass Lamennais unter seinem grünen Gehrock womöglich eine gelbe Weste trug, sich aber noch immer bescheiden und ein bisschen linkisch bewege, so als käme er gerade aus der Sakristei.9 Aber dennoch: Normalerweise erhielt der Konservatismus seine moralische Stärke durch die Religion. Im protestantischen Preußen spielten lutherische Pastoren eine führende Rolle in den konservativen Vereinen für »König und Vaterland«. Katholische Gegenden wie Tirol, das Königreich Neapel in den Abruzzen und die Bretagne in Frankreich waren nicht nur katholische, sondern auch konservative Hochburgen.10 Im bretonischen Rennes wurde der »Freiheitsbaum«, im April noch feierlich aufgestellt, zwei Monate später von anonymen Händen abgesägt. Auf dem Stumpf klebte ein Zettel: »So vergeht die schändliche Republik!« Die Behörden behaupteten, die Unterstützung des royalistischen Kandidaten durch den Klerus bei den Nachwahlen Anfang Juni hätte diese Tat begünstigt.11 In manchen Ländern wurde kirchlicher Einfluss nicht nur von der Kanzel herab gesucht, sondern auch in neuen Organisationen. In Deutschland gab es ab März 1848 den nach dem Papst benannten ersten »Piusverein«, dessen Mitglieder die katholische Kirche vor zu viel liberaler Weltlichkeit bewahren wollten. Ende Oktober gab es in ganz Deutschland vierhundert solcher Vereinigungen mit 100 000 Mitgliedern. Der Druck, den sie auf die deutsche Nationalversammlung ausübten, sorgte dafür, dass die Jesuiten (als die Buhmänner der Liberalen) nicht aus Deutschland verbannt wurden und die Kirche das Aufsichtsrecht über den Religionsunterricht in den staatlichen Schulen behielt.12 Die religiöse Frage war es auch, die die Bauern der alten Ordnung gegenüber loyal und willig machte; das Stillhalten der ländlichen Massen aber war die Trumpfkarte in den Händen der Konservativen.
I Die europäische Bauernschaft hatte in den ersten Monaten des Jahres 1848 eine wichtige Rolle gespielt. Durch ihre Erhebung hatte sie den Zusammenbruch der alten Ordnung beschleunigt – im Osten gegen die Leibeigenschaft, im Westen gegen Besteuerung, niedrige Entlohnung, Verschuldung, gegen die verbliebenen grundherrschaftlichen Rechte und für die Nutzungsrechte von
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Wäldern und Weideland. Politiker jeder Couleur lancierten Zeitungen, die sich an die bäuerlichen Leser richteten – vielerorts zum ersten Mal. In Ungarn gab Ende März der Radikale Mihály Táncsics, selbst Landwirt, bevor er Schneider und schließlich Lehrer wurde, die Arbeiterzeitung heraus, deren Titel sich nicht auf die städtischen, sondern auf die Landarbeiter bezog: Sie wollte das allgemeine Wahlrecht für Männer und verlangte die Abschaffung auch der letzten »feudalen« Strukturen, die die ungarischen Liberalen noch unberührt gelassen hatten. Die Zeitschrift wurde an Markttagen kostenlos an die Bauern verteilt, was dazu führte, das Táncsics einer der wenigen Radikalen war, die in die neue ungarische Volksvertretung gewählt wurden.13 Andernorts brachte die Revolution erstmalig Bauern an die Wahlurne. Ob diese die Feinheiten der modernen politischen Konzepte begriffen, ist nicht ganz klar: So verstanden zum Beispiel tschechische Bauern das Wort »Verfassung« nur als Befreiung vom erzwungenen Frondienst, und die liberale Presse beklagte, dass sie auch Begriffe wie »Demokrat«, »reaktionär«, »Despotismus« und »Hierarchie« nicht begriffen, wobei man ihnen gewiss verzeihen konnte, wenn sie den schwer fassbaren Begriff »Souveränität« nicht verstanden. Die Behauptung, dass sie nicht gewusst hätten, was »Aristokrat« bedeute, erscheint allerdings unglaubwürdig.14 Dennoch, die Bauern Mitteleuropas wählten zum ersten Mal, und so mancher wurde selbst zum Abgeordneten auserkoren. Das österreichische Parlament, das am 22. Juli das erste Mal zusammentrat, hatte 393 Delegierte, wovon 93 Bauern waren. Die mährische Versammlung, die am 31. Mai einberufen wurde, konnte sich 97 Bauern unter 247 Abgeordneten rühmen – genug, um den Spitznamen »Bauernlandtag« zu erhalten. Die Revolutionen von 1848 waren somit nicht auf die Schmelztiegel der Städte beschränkt, sondern politisierten die Bauern in noch nie dagewesenem Ausmaß. Doch diese Entwicklung ging verständlicherweise ganz mit dem Eigeninteresse der Bauern einher; sobald diesem entsprochen war, fiel die ländliche Bevölkerung in ihre Neutralität zurück. Wenn sich etwa (wie in Frankreich) besitzende Bauern durch die Radikalisierung der Revolution bedroht sahen oder (wie in Ungarn und großen Teilen Italiens) die liberalen Regierungen ihre Erwartungen nicht ganz erfüllten, konnten sie gut und gern den Einflüsterungen derer erliegen, die gegen die neue Ordnung waren. Das konnten Radikale sein, sehr viel öfter aber waren es Konservative. Da die Liberalen entweder selbst Grundbesitzer waren oder das Recht auf Eigentum verteidigten, war Radikalismus ihre Sache nicht. Das aber zielte im Zweifelsfall an den Bedürfnissen der Bauern vorbei. So etwa erhielten dort, wo die Leibeigenschaft aufgeho-
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ben wurde, die Grundherren eine Entschädigung, für die die Bauern zum Teil selbst aufkommen mussten. Das aber bedeutete eine Verschuldung für Generationen. Die Wut der Landbevölkerung richtete sich daher gegen die liberalen Regierungen, die ihre früheren Versprechungen nicht halten wollten. Dort, wo allgemeine Wahlen auf der Basis eines weitgefassten Wahlrechts für Männer stattfanden, fiel die traditionell konservative Einstellung der Landbevölkerung schwer gegen die Liberalen ins Gewicht, und fast überall war sie eine der Säulen – wenn nicht der Grundstein – der Gegenrevolution. Besonders in Zentral- und Osteuropa war die Lage dramatisch. Während die Bauern in Westeuropa vor allem die Überreste eines manchmal »feudal« genannten Systems beseitigen wollten, welches ohnehin seit dem 18. Jahrhundert in seinen Grundfesten erschüttert war, beschleunigte in Zentral- und Osteuropa die Angst vor einer jacquerie – einem unkontrollierbaren und nicht zu greifenden Bauernaufstand gegen Grundherren, Regierungsbeamte, ja überhaupt verhasste Personen – die Abschaffung der Dienstbarkeit. Weil die Erinnerung an das Abschlachten polnischer Adeliger in Galizien durch ukrainische Bauern im Jahr 1846 noch frisch war, reagierten die europäischen Grundherren verständlicherweise nervös angesichts eines möglichen Aufstands ihrer Leibeigenen und Pächter. Im Frühjahr 1848 weigerten sich die Bauern fast überall in Ost- und Zentraleuropa, Fronarbeit zu leisten oder Abgaben zu zahlen, während die Schwäche der Regierungen es zugleich mit sich brachte, dass die Grundherren sich nicht darauf verlassen mochten, dass der Staat ihr Leben oder Hab und Gut vor der Gewalt der Bauern schützen würde. Folglich bestand der einzige Weg zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung darin, den Aufständischen das zu geben, was sie verlangten, und all ihre feudalrechtlichen Pflichten aufzuheben sowie die Leibeigenschaft dort abzuschaffen, wo es sie noch gab. Das bedeutete aber auch, dass die Grundherren materielle Opfer bringen mussten, verloren sie doch ihre billigsten Arbeitskräfte. Schlimmer noch: Da die Leibeigenen den Grund und Boden, auf dem sie sich abmühten, nicht besaßen, schuf ihre Befreiung, gab man ihnen kein Land, eine verarmte, ruhelose und potenziell rebellische soziale Gruppierung. Gab man andererseits den befreiten Bauern Land, nahm man den Grundbesitzern Eigentum. Diese konnten dann im Geiste liberaler Prinzipien ihr Recht auf Eigentum reklamieren. Deshalb, so das Argument, mussten die Besitzer sowohl für den Verlust der bäuerlichen Fronarbeit als auch für jegliches Überlassen von Land, das mit der Befreiung einherging, Entschädigung erhalten. Es war faktisch unmöglich, eine Lösung zu finden, die beide Seiten zufriedenstellte.
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In Österreich erließ die Regierung am 11. April ein Dekret, in dem man versprach, die Bauern ab dem 1. Januar 1849 von allen Diensten und Zwangsabgaben zu befreien. Tatsächlich hatte Wien bereits überall dort, wo es dringend schien, angefangen, die Bauern zu befreien. Im März griffen böhmische Bauern zur Selbstjustiz, darunter Mord, als der Hass gegen die Grundherren in tschechischen Dörfern zu eskalieren begann. Nicht weniger als 580 Petitionen von Bauern, die mehr als 1200 Dörfer repräsentierten, häuften sich beim Nationalausschuss in Prag. Adelige, besorgt wie sie waren, verlangten nach einer sofortigen Antwort der Regierung auf diese ländliche Krise. Am 28. März 1848 schaffte man deshalb mit Wirkung zum 31. März in Böhmen den verhassten robot – die bäuerliche Fronarbeit – ab. Der mährische »Bauernlandtag« zeigte, wie nicht anders zu erwarten, noch weniger Geduld und stellte den robot sowie andere Pflichten zum 1. Juli ein.15 In Österreich selbst kam das Thema Leibeigenschaft am 24. Juli vor das kaiserliche Parlament. Ein junger schlesischer Abgeordneter, Hans Kudlich, selbst Bauernsohn, stellte den Antrag, »das Unterthänigkeitsverhältniß mit allen daraus entsprungenen Rechten und Pflichten« einzustellen.16 Während die Bauernbefreiung kein Problem darstellte, schwelte das Thema Kompensation den ganzen Sommer über weiter und spaltete die Lager einerseits in das der Radikalen (die leidenschaftlich dagegen argumentierten) und andererseits in das aus Regierung, Konservativen und Liberalen, die alle darauf bestanden, dass eine Entschädigung anstehe. Die bäuerlichen Abgeordneten stritten erbittert gegen eine Kompensation: Ein galizischer Bauer unter den Delegierten beklagte sich, dass Bauern in seiner Dorfgemeinschaft den Hut ziehen mussten, wenn sie näher als dreihundert Schritte an das Anwesen eines Adeligen herankamen, und dass die Grundherren sich weigerten, Bauern in ihrem Haus zu empfangen, weil sie stänken und dreckig seien: »Für solche Misshandlungen sollen wir jetzt auch noch eine Entschädigung zahlen?«17 Die Auseinandersetzung wurde durch das »Grundentlastungspatent« vom 7. September beigelegt, ein Kompromiss, wonach für jene Verbindlichkeiten, die aus dem Grundbesitz herrührten, Entschädigung geleistet werden sollte, nicht aber für Pflichten, die persönliche Dienste einschlossen. Es dauerte bis 1853, die genauen Details auszuarbeiten, nach denen der Staat und die Bauern je ein Drittel Abfindung bezahlten, während das verbliebene Drittel, mit der Begründung, dass der Staat grundherrschaftliche Verwaltungs-, Gerichtsbarkeits- und Polizeiaufgaben übernommen habe, als Steuer von der gesamten Abfindung abgezogen wurde. Kurzfristig hatten die Grundherren durch diese Maßnahmen einen bedeutenden Einkommensverlust zu verschmerzen: Jetzt mussten sie jene bezahlen,
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die auf ihrem Land arbeiteten, mussten Pferde und Ochsen für Feldbestellung und Transport kaufen, wohingegen in der Vergangenheit die Bauern ihre eigenen Tiere zu benutzen hatten, um den robot zu leisten. Die Bauern erhielten mit der Befreiung eigenes Land, doch der Wert der Entschädigung lag weit unter dem Marktpreis. Der aufbrausende Windischgrätz tobte: »Der hervorragendste Communist hat noch nicht zu begehren gewagt, was Eure Majestät praktisch durchführt.«18 Die zugespitzte Behauptung des Feldmarschalls rührte an einen Hintergedanken der Regierung, denn die Bauernbefreiung war keine Panikreaktion auf das ländliche Chaos: Schon sehr früh war in fast ganz Europa deutlich geworden, dass wer die bäuerlichen Massen gewönne, die Chance hatte, aus den revolutionären Kämpfen von 1848 siegreich hervorzugehen. Aus diesem Grund kam die Leibeigenschaft am 22. April in Galizien urplötzlich zu Fall – Monate, bevor sie andernorts in Österreich abgeschafft wurde. Auch der Gouverneur Franz Stadion verkündete die sofortige Befreiung, um den polnischen Nationalisten zuvorzukommen. Für den Historiker R. John Rath war die Befreiung der Bauern »einer der klügsten Schritte, die die Regierung im Laufe der Revolution unternahm«.19 Der Kaiser konnte sich des Lobes der Bauern sicher sein und es sich als Verdienst anrechnen, ihren wichtigsten Forderungen entsprochen zu haben. Sein Name erschien über den Befreiungspatenten vom 11. April und 7. September, und so konnten die Landbewohner nach den Turbulenzen des März erst einmal aufatmen, die Früchte ihrer neuen Freiheit genießen und sich nicht weiter um die revolutionären Schübe des Jahres 1848 kümmern. Am 24. September nahm die Bauernschaft Österreichs an der Feier zur Abschaffung des »Feudalismus« teil. 22 000 Menschen kamen bei dieser Gelegenheit zusammen. Anschließend allerdings hatten sie nicht vor, brav den Wiener Radikalen zu folgen, die ihre Belange im Parlament durchgeboxt hatten. Vielmehr strebten sie danach, ihre Errungenschaften, ihren Glauben und den geliebten Kaiser zu verteidigen, indem sie sich auf die Seite der Machthaber stellten. Als im Oktober die letzten revolutionären Kämpfe auszustehen waren, reisten glücklose Radikale wie Hans Kudlich, der ursprüngliche Verfasser des Befreiungspatents, aufs Land. Dort wollten sie unter den Bauern um Unterstützung werben, doch das Landvolk bedrohte sie stattdessen mit Heugabeln und Vogelflinten und lieferte sie den Behörden aus. So wurde auf lange Sicht die konservative Ordnung auf dem Land durch die Umstände der Bauernbefreiung gefestigt. Während die Entschädigung der Grundbesitzer zwei Drittel des ursprünglich festgesetzten Betrags ausmachte, waren sie jetzt gleichzeitig von jeglicher Verantwortung den Bauern gegenüber
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befreit – von den Kosten und dem Zeitaufwand, der damit einherging. Die Entschädigung erlaubte ihnen, technische Neuerungen in der Landwirtschaft einzuführen und so ihre Güter konkurrenzfähiger im Vergleich zu denen der befreiten Kleinbauern zu machen, die jetzt über zwei Jahrzehnte hinweg Abfindungen – wenn auch in kleinen Raten – zahlen mussten.20 In Galizien verpflichtete sich die Regierung, die Grundherren vollständig auszuzahlen, allerdings mussten die Bauern im Gegenzug dem Staat die Summe mit Zinsen über eine Laufzeit von fünfzig Jahren in kleinen Raten zurückzahlen. Die daraus entstehende Schuldenlast brachte die ehemaligen Leibeigenen in Abhängigkeit zu ihren Grundherren, um überhaupt Land, Arbeit und Kredite zu erhalten. Ein tschechischer Radikaler, J. V. Frič, »gratulierte« später dem Parlament von 1848 dafür, die Frage der Emanzipation »im Interesse des Adels und nicht der Bauern« gelöst zu haben.21 In Ungarn drückte bei Ausbruch der Revolution Kossuth am 18. März ein Gesetz zur Bauernbefreiung durch. Gerüchte von der bevorstehenden Befreiung hatten dort die aufgebrachten Bauern mobilisiert. Diese hatten Güter besetzt, Pacht- und Abgabenzahlungen eingestellt, die gutsherrlichen Privilegien ignoriert, gewildert, abgeholzt und schließlich Akten vernichtet. Die Abschaffung des Frondienstes, des Zehnten und anderer herrschaftlicher Rechte wurde in den Aprilgesetzen durch den ungarischen Landtag fortgeschrieben. In der Praxis aber mussten die Bauern feststellen, dass ihrer Befreiung Grenzen gesetzt waren. Am besten standen noch die durch das kaiserliche Patent von 1767 geschützten Bauern da. Diese besaßen Land, von dem sie zwar nicht vertrieben werden, das sie aber auch nicht ohne Erlaubnis des Grundherren ihren Erben oder rechtmäßigen Käufern überlassen konnten. Sie bekamen nun das absolute Eigentumsrecht an ihrem Besitz zugesprochen und wurden von Frondiensten entbunden. Die Mehrheit der landlosen Tagelöhner jedoch war weniger begünstigt.22 Obwohl auch sie ihrem Grundherren gegenüber keine Pflichten mehr hatten, mussten sie nach wie vor Frondienste für ihren Bezirk leisten, auch ihre steuerlichen Abgaben veränderten sich nicht. Deshalb drängten die ungarischen Bauern auf weiterreichende Reformen, indem sie erneut rebellierten, und zwar so heftig, dass am 22. Juni Innenminister Bertalan Szemere den Ausnahmezustand über das ganze Königreich verhängte, die Armee und die Nationalgarde schickte und die Anführer der Bauern gefangen nehmen ließ. Bevor der ländliche Frieden wiederhergestellt war, wurden mindestens zehn Menschen hingerichtet. Die lukrativen Weinberge indessen waren den Bauern weiterhin verwehrt, während die Adeligen auch zukünftig das Monopol (Regalien) auf den Wein-
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verkauf, das Abhalten von Märkten, die Haltung von Vögeln (die die Saat der Bauern aufpickten), Jagd und Fischerei besaßen. Und während der Adelige Karl Graf zu Leiningen-Westerburg noch seine Frau ermahnt hatte, dass »wir unsere Ausgaben beträchtlich senken« müssen, konnte er wenig später feststellen, dass der ursprüngliche Einkommensverlust durch die Ausnutzung anderer Rechte, wie der Erhebung von Zöllen und Fährgebühren auf ihren Ländereien, mehr als wettgemacht wurde.23 Die Grenzen der Reform und die anhaltende Überzeugung, dass der Kaiser und nicht der Adel der wahre Beschützer der Bauern sei, führten dazu, dass ihre Reaktion auf die schwere Krise der ungarischen Liberalen im Herbst 1848 gemischt war. Während so mancher befürchtete, durch die Gegenrevolution wieder als Leibeigener an die Kette gelegt zu werden, begrüßten andere die kaiserlichen Truppen als Befreier. Obwohl das Landleben Westeuropas andere Strukturen aufwies, folgten Bauernaufstände dort oftmals dem gleichen Muster wie in Osteuropa: Sie begannen mit einer Erhebung und endeten mit einer Gegenrevolution. Die Bauern im Westen sahen sich vor allem mit den Veränderungen in der Landwirtschaft konfrontiert. Insbesondere gegen die Folgen dieses Wandels (und in Deutschland speziell gegen die Überreste feudaler Strukturen) richtete sich ihr Protest. Die unabhängigen Kleinbauern etwa waren auf freien Zugang zu Wäldern und Gemeindeland angewiesen, um an Brennstoff, Nahrung und Weideland zu gelangen. Dies wurde durch das Aufkommen einer für große Absatzmärkte produzierenden Landwirtschaft und die Einfriedung von Wäldern und Allmenden gefährdet. Angriffsziel der Bauern waren daher die Anwesen und Besitzungen der Reichen, was sowohl Adelige als auch wohlhabende Bauern betraf. Im westlichen Deutschland zum Beispiel besetzten Bauern Land, brannten Herrenhäuser nieder und warfen Steuerlisten in Freudenfeuer. In Frankreich, wo das Waldgesetzbuch von 1827 den Zugang zu Wäldern regelte, verjagten die Bauern Förster, die staatliche oder kommunale Wälder bewachten, und drangen in Waldungen ein, die sich in strittigem Privatbesitz befanden. Ein solches Vorgehen war auch in Westdeutschland und Norditalien weitverbreitet, und vielerorts war schlichte wirtschaftliche Not die Ursache: So erklärt ein Staatsanwalt im südwestfranzösischen Toulouse, dass die armen Leute aus den Bergen, umgeben vom Reichtum des Holzbestands, dennoch ihre eigenen Möbel verfeuern mussten, weil sie es sich nicht leisten konnten, Holzscheite zu kaufen – auch lagen sie während der kalten Jahreszeit alle zusammen in einem Bett.24 Diesen frühen Protesten und den anfangs hohen Erwartungen der Bauern hatten die Revolutionen von 1848 wenig anzubieten. In Frankreich wurden
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Bauern, die Besitz vorzuweisen hatten, sofort durch die »45-Centimes-Steuer« erdrückt, die sie verärgert als Subvention für die Arbeiter empfanden. So mancher konnte die Steuer erst gar nicht bezahlen, so groß war die Wirtschaftskrise. Hinzu kam, dass die Landleute die Gewalt der »roten« Massen aus der Stadt fürchteten und glaubten, deren Forderung nach einer Republik wäre mit ihrer Enteignung verbunden. Wie oben gezeigt, war die Reaktion der Provinzbewohner auf den Juniaufstand beachtlich – Nationalgardeeinheiten aus nicht weniger als dreiundfünfzig Departements, viele mit Bauern in ihren Reihen. Diese kamen mit der Absicht nach Paris, die Radikalen zu vernichten. In ihrer Angst vor dem Sozialismus und ihrem Groll gegen die Arbeiter zwangen die Bauern, obwohl sie der Zweiten Republik nicht unbedingt ablehnend gegenüberstanden, diese zu einer Reaktion. In Gegenden wie dem Südwesten, wo der Preisrückgang für landwirtschaftliche Produkte zu großen Einschnitten führte, bewaffneten sich Bauern gegen die Steuereinnehmer der Regierung, die es wagten, die »45-Centimes« einzutreiben. Der Staatsanwalt von Pau berichtete im September, dass etwa 1800 Bauern gegen die Steuer zu den Waffen gegriffen und es geschafft hatten, sie vom militärischen Nachschub abzuschneiden. In einem Dorf bei Agen fesselten im November Bauern einen Steuerbeamten und drohten damit, ihn von einem Felsen zu stoßen oder bei lebendigem Leib zu verbrennen. Schließlich begnügten sie sich mit dem Verbrennen seiner Papiere. Weiter nördlich hörte man Demonstranten rufen: »Weg mit den 45-Centimes! Lang lebe der Kaiser! Nieder mit der Republik!« Allmählich löste sich die Gestalt Louis-Napoleon Bonapartes aus dem Schatten.25 In Deutschland sahen die Bauern in der Märzrevolution die Chance, ihre noch verbliebenen grundherrschaftlichen Bürden abzuwerfen und gegen die Steuern zu protestieren, die der Staat ihnen abverlangte. In Ostpreußen, wo die Leibeigenschaft aufgehoben worden war, verschuldete Bauern aber noch immer von den adeligen Großgrundbesitzern abhängig waren und akut unter der Wirtschaftskrise litten, rebellierten sie den ganzen Frühling hindurch. In Erwiderung darauf beseitigte die liberale Regierung Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt der Junker. Die schlimmsten Gewaltakte ereigneten sich genau dort, wo sich private Gutshöfe ballten – so in der Region zwischen Tilsit und dem Ermland –, womit sich, langfristig gesehen, die Reform der Leibeigenschaft von 1807 als sozial und wirtschaftlich sehr nachteilig für die Bauern erwies. In östlicheren Gegenden, wo Staatsdomänen vorherrschend waren, war es ruhiger. In den Verfassungsstaaten Südwestdeutschlands waren die Bauern politischer motiviert. Im Herzogtum Nassau etwa marschierten sie nach Wiesbaden und
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verlangten, dass landesherrliche Güter verstaatlicht und unter ihnen aufgeteilt werden sollten. Außerdem übernahmen sie die Kontrolle der Kommunalverwaltung, wo sie gegen den Widerstand der überrumpelten Regierungsbeamten Ausschüsse bildeten. Naturgemäß waren die neuen liberalen Regierungen gegen Angriffe auf Eigentum, aber sie waren von ihrer Ideologie her Gegner des »Feudalismus« und hoben bereitwillig die restlichen Abgaben auf, um die Bauern zu besänftigen. Abgesehen von Baden, wo die Republikaner die Bauern ermutigten, an dem Land, das sie während der Märzrevolution besetzt hatten, festzuhalten, und von Rheinhessen, wo das soziale Elend der Dorfbewohner auf ein teilnahmsvolles Stadtbürgertum traf, reichten normalerweise die genannten Reformen aus, um die Bauern zu beruhigen. Dies wiederum verschaffte den deutschen Fürsten den Vorteil eines beruhigten Hinterlandes, als sie gegen die Liberalen losschlugen. In Ostpreußen etwa standen die Bauern, so heftig die Gewalt des Frühjahrs auch gewütet hatte, zu ihrem König, nicht aber zu ihren direkten Grundherren und auch nicht zu den Staatsbeamten. So schrieben manche bei den Wahlen zum preußischen Parlament sogar »Friedrich Wilhelm IV.« auf ihre Wahlzettel.26 Unter solchen Umständen fiel es den Konservativen nicht schwer, die Bauern für die Sache von »König und Vaterland« zu gewinnen, und Bismarck konnte Friedrich Wilhelm fast ganz ehrlich versichern, »daß er Herr im Lande sei«.27 Auch in Italien besetzten neapolitanische Bauern bei Ausbruch der Revolution Grundbesitz. Eine Handvoll Radikaler unterstützte sie dabei, doch ihr Vorgehen machte den Gemäßigten Angst, sodass sie erleichtert zusahen, wie die Nationalgarde aufmarschierte, um für Ordnung zu sorgen. Dies bedeutete, dass sich bäuerlicher Widerstand und liberal bürgerliche Gegnerschaft zum Königtum nicht nur auf unterschiedlichen Ebenen bewegten, sondern auch in entgegengesetzte Richtungen. Genau das verschaffte Ferdinand am 15. Mai die Möglichkeit zum Befreiungsschlag. Von nun an waren die Gemäßigten, die mehr Angst vor einer sozialen Revolution als vor der Rückkehr des Absolutismus hatten, auf die Monarchie angewiesen (oder genauer gesagt: auf die Soldaten des Königs), um Recht und Ordnung zu bewahren. Doch auch im Norden waren die Versuche der Revolutionäre, die Bauern für ihre Sache zu gewinnen, wenig erfolgreich. Die Bauernschaft der Lombardei war im März dem Mailänder Aufstand zu Hilfe gekommen, und liberal gesinnte Grundherren halfen ihrerseits Bauern, die sich in Geldnöten befanden, indem sie sie mit Brot versorgten. Letztlich aber führte die Wirtschaftskrise, die durch die Schließung des österreichischen Marktes für den Export von Rohseide verschärft wurde, im Verein
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mit der Einführung der Wehrpflicht und von Zwangsanleihen sowie piemontesischen Requirierungen dazu, die Bauern gegen die Revolution aufzubringen. Im Juli stellten sie sich aktiv gegen einen Krieg, von dem sie glaubten, dass er zum Wohle ihrer liberalen Grundherren stattfand. So mancher soll »Viva Radetzky!« gejubelt haben und lombardische Liberale wie Stefano Jacini dachten schon, eine österreichische Restauration sei den »Übeln der Anarchie« vorzuziehen, die durch eine Bauernerhebung entfesselt würden. Auch im benachbarten Venetien begeisterten sich die Bauern anfangs für die Revolution. Motiviert von ihrer Treue zum Papst – liebevoll »Pio Nono« genannt – war ihnen nichts verhasster als die österreichischen Steuereinnehmer, die die habsburgische Herrschaft zu personifizieren schienen. Daniele Manin gewann deshalb die Herzen der Landbevölkerung früh, weil er die Kopfsteuer ganz abschaffte und die Steuer auf Salz senkte. Dennoch forderten die Bauern bald mehr: Während des Frühjahrs verlangten sie Zugang zu den Waldungen und Weiderecht auf Ländereien, die sie als Allmende ansahen. Manin indessen unternahm nichts, hatte er doch kein Interesse daran, die Grundherren zu verstimmen, von denen die neu erstandene Republik Venedig bis zu einem gewissen Grad finanziell abhängig war. Bis zum Sommer hatte sich daher die Begeisterung der Bauern verflüchtigt. Als sich die Kriegsgeschicke zugunsten der Österreicher wendeten, versprachen diese denn auch, die Kopfsteuer nicht wieder einzuführen, was bedeutete, dass die Bauern im Falle eines österreichischen Wiederaufstiegs wenig zu verlieren hatten.28
II Als die Gegenrevolution in Wien und bald danach in Berlin zuschlug, waren die Auswirkungen für Deutschland als Ganzes durchaus ernst. Die kaiserliche Regierung Österreichs, die ja schon aus der Niederschlagung des Arbeiteraufstands im August gestärkt hervorgegangen war, konnte im Zuge der Krawalle des 11. bis 13. Septembers ihre Position festigen. Was war geschehen? Alles fing damit an, dass die Kleinanleger des »Privat-Darlehen-Vereins ohne Hypothek« des Uhrmachers August Swoboda das ganze Geschäft als Schwindel entlarvten. Daraufhin fanden sich Manufakturarbeiter, Ladenbesitzer, Studenten und Handwerksmeister zu einem Protestzug ein, um den Innenminister Anton Baron Doblhoff-Dier und den Gemeindeausschuss von Wien zu bitten, ihnen aus der Klemme zu helfen. Als sich die Zuständigen weigerten, gerieten die Leute in
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Albtraum der Revolution in Wien: Angeführt von einem Jungspund aus der Akademischen Legion, marschieren bewaffnete Eisenbahnarbeiter am 26. Mai in Wien ein. Aquarell von Franz Gaul. (akg-images)
Wut, und Radikale unter den Studenten nutzten die Gelegenheit, um die Wiedereinsetzung des Sicherheitsausschusses sowie die Inhaftierung bestimmter Minister der Regierung zu fordern. Am 12. September wurden Doblhoff-Diers Amtsräume überfallen, doch der Minister konnte fliehen, bevor die Menge Fenster und Türen zerschlug. Am nächsten Tag bot die Regierung die Nationalgarde und dazu noch reguläre Soldaten auf. Die radikaleren Milizeinheiten aus den Vorstädten liefen sogleich zur Akademischen Legion über, um die Demonstranten zu unterstützen. Wien schien sich einmal mehr auf das Schlimmste vorzubereiten, doch das Parlament rettete die Situation, indem es kühn die beachtliche Summe von zwei Millionen Gulden zur Verfügung stellte, um den Wiener Kleinunternehmern durch zinslose Darlehen unter die Arme zu greifen und für 20 Prozent der Verluste der Anteilseigner zu haften; gleichzeitig ordnete es den Abmarsch der regulären Soldaten an. So konnte die Situation entschärft werden, ohne den Forderungen der Radikalen nachzugeben.
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Schließlich sollte es einen letzten großen Aufstand geben, in dem die Radikalen sich für ebenjene liberale Ordnung einsetzten, die sie bis dato selbst unterminiert hatten: Der Funke, der den Wiener Oktoberaufstand entzündete, war ein offener Konflikt zwischen dem Kaiserreich und Ungarn. Als der Kaiser am 3. Oktober formal den Krieg erklärte, lehnten die Wiener Radikalen dieses sofort ab, galt doch der ungarische Widerstand als Bollwerk gegen die Mächte der Reaktion. Aus deutscher Sicht hatten die Ungarn zudem die nützliche Aufgabe, die Slawen des Reiches im Zaum zu halten. Wieder einmal kamen Arbeiter und Nationalgardisten aus den Vorstädten auf die Studenten zu, versicherten der Akademischen Legion ihre bedingungslose Unterstützung bei dem Versuch, die Revolutionsinitiative wieder an sich zu reißen. Mittlerweile wurden Österreicher, die die schwarz-goldenen Farben trugen, in den Straßen zusammengeschlagen; es gab Angriffe auf Eigentum durch aufgebrachte Arbeiter, zum Teil mit Billigung der Radikalen. Misstrauen und Feindseligkeit machten sich breit. »Eine dunkle Wolke hing über der Stadt«, schrieb der englische Diplomat Stiles. »Jeden Tag wurde es unheimlicher. Man sah und spürte, dass sie sich bald entladen würde, und doch unternahm – als wären alle in Bann geschlagen – niemand den Versuch, die Katastrophe abzuwenden oder ihr zuvorzukommen.«29 Als der verhasste Kriegsminister Latour Soldaten den Befehl erteilte, in den frühen Morgenstunden des 6. Oktober Züge zur ungarischen Grenze zu besteigen, hielten Arbeiter, Studenten und Nationalgardisten sie von der Abfahrt ab. Ein Grenadierbataillon meuterte und demolierte die Einrichtung seiner Kaserne in der Arbeitervorstadt Gumpendorf. Daraufhin bot Latour weitere Truppen auf, die die Grenadiere zum Bahnhof zwangen. Sie kamen nur schleppend voran, da die Nationalgarde mehrmals versuchte, den Weg zu blockieren, während die Grenadiere trotzig ihre Trommeln um Unterstützung schlugen. Und die kam: Schon bald hatte sich eine Menge am Bahndepot eingefunden und riss die Schienen heraus. Unbeirrt trieben die Offiziere die unwilligen Soldaten über die Taborbrücke auf die erste Haltestelle zu, doch mehrere Brückenbögen waren herausgerissen und das Holz zum Bau von Barrikaden benutzt worden. Als Generalmajor Hugo von Bredy Pioniere aufziehen ließ, die das Hindernis beseitigen und die Brücke wieder reparieren sollten, kam es zu einem Stillstand. Sofort versuchten ein paar Arbeiter, eine der Armeekanonen an sich zu reißen. Das war Bredy zu viel: Als die Aufständischen schadenfroh die Waffe wegzerrten, befahl er seinen Soldaten, zu schießen. Die Akademische Legion feuerte ihrerseits eine Salve ab, Bredy fiel töd-
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lich getroffen vom Pferd. Ein Schusswechsel folgte nun, bei dem etwa dreißig der meuternden Grenadiere im Hagel der Regierungsmusketen zu Tode kamen. Trotzdem zeigte sich bald die zahlenmäßige Überlegenheit der Aufständischen, das Militär wich zurück. Jubelnd zogen die Revolutionäre in die Innenstadt, zwei erbeutete Kanonen und Bredys Hut und Säbel als makabre Trophäen im Gepäck.30 Überall in Wien wurden nun Soldaten des Kaisers von Nationalgardisten, Studenten und Arbeitern angegriffen. Radikal gesinnte Kameraden zwangen gemäßigte Einheiten der Nationalgarde, sich im Stephansdom zu verschanzen, bis die Türen einschlagen wurden und der diensthabende Offizier getötet wurde. Parlament wie Regierung forderten zur Ruhe auf, aber rund um die Innenstadt schossen neue Barrikaden aus dem Boden. Die Minister, nur minimal geschützt, waren der Rache der Menge ausgesetzt. Latour wurde von einem Soldatenkordon, der vor dem Kriegsministerium stand, abgeschirmt, doch die Regierung, die weiteres Blutvergießen verhindern wollte, ordnete den Rückzug des Militärs an. Der Minister war damit dem aufgebrachten Pöbel mit seinen Äxten, Piken und Eisenstangen wehrlos ausgesetzt. Die Leute schlugen gegen die Tore des Ministeriums und riefen: »Wo ist Latour? Er muss sterben!« Eine Abordnung aus Parlamentariern eilte herbei, um zu vermitteln, während Latour auf dem Dachboden des Gebäudes Schutz suchte. Die Menschenmenge lachte die Deputierten aus und stürmte auf der Suche nach ihrem Opfer das Kriegsministerium. Als Latour entdeckt wurde, versuchten die Parlamentarier ihn vor dem Zorn der Menschen zu schützen, wurden aber beiseitegeschoben. Der Minister wurde zu Tode geprügelt, sein Kopf mit einem Hammer eingeschlagen und mit einem Säbel gespalten, bevor ein Bajonett in sein Herz stieß. Danach wurde er mit den schlimmsten Waffen malträtiert, bis man seinen geschundenen Körper zum Platz »Am Hof« schleifte. Dort ließ man die Leiche vierzehn Stunden an einem Laternenpfahl baumeln, bevor sie endlich abgeschnitten wurde.31 Inzwischen nahmen die Aufständischen das Zeughaus ein. Zuvor allerdings hatten die Soldaten, die es bewacht hatten, die Straßen mit Schrotladungen überzogen, was schlimme Verletzungen nach sich zog. Die Revolutionäre ihrerseits bombardierten das Gebäude mit erbeuteten Congreve-Raketen, bis es in Flammen aufging. Sie eroberten Tausende von Musketen, und so mancher Aufständische verließ – nach Augenzeugenberichten – das Arsenal, bewehrt mit Brustharnischen, mittelalterlichen Helmen und anderen historischen Artefakten, darunter türkische Krummsäbel. Verglichen mit diesem Anblick, schnaubte Stiles, »wäre Falstaffs Regiment als Edelgarde erschienen«.32
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Bald zog die kaiserliche Regierung ihre Streitkräfte aus der Stadt zurück und überließ Wien den Revolutionären. Die siegreichen Radikalen stellten ihre Forderungen, darunter die Aufhebung der Kriegserklärung gegen Ungarn, die Absetzung Ban Jelačićs und die Bestellung einer neuen, vom Volk gewählten Regierung. Der einzige Mensch, der die Macht besaß, das zu erwirken, war der Kaiser, doch die kaiserliche Familie suchte einmal mehr ihr Heil in der Flucht und verließ unter starker Militäreskorte Schloss Schönbrunn in Richtung Mähren und Olmützer Festung. Binnen Kurzem hatten sich ihnen die meisten Minister angeschlossen. Außenminister Wessenberg konnte nur entkommen, weil er unerkannt durch die Wiener Volkserhebung gelangte. Auch Hübner schlich sich davon, verkleidet mit einem Arbeiterkittel, seine kurz geschnittenen Haare unter einem Hut verborgen, den er sich von einem Bediensteten geliehen hatte.33 Jetzt lag die konstituierende Versammlung in der Hand des harten Kerns der Linken und zudem – da der Exodus die Tschechen einschloss – in der der Deutschen. Das bedeutete ein völliges Darniederliegen der Regierungsgeschäfte, auch wenn einfache Beamte weiterhin heroisch Dienst taten. Das Parlament setzte einen ständigen Ausschuss ein, um der Krise Herr zu werden. Dieser war ermächtigt, im Notfall Entscheidungen eigenverantwortlich zu fällen.34 Vor allem die Verteidigung der Stadt gehörte zu seinen Aufgaben: Am 8. Oktober erlaubte der Kaiser, außerhalb von Wien Truppen aufmarschieren zu lassen. Sie sollten die 12 000 Mann starke Garnison unter Maximilian Graf Auersperg, die unmittelbar vor Wien lag, verstärken. Ihnen stand die Nationalgarde gegenüber, doch der General wollte mit seiner Übermacht auf Nummer sicher gehen. Einer der Auersperg’schen Kuriere ritt während der Nacht zu Jelačić, der einen momentanen Waffenstillstand mit den Ungarn nutzte und seine Truppen auf Wien zumarschieren ließ, wo sie seiner Meinung nach am ehesten gebraucht wurden. Als ihn Auerspergs Hilferuf ereilte, stellte er sofort eine kleine Abteilung seiner Armee ab, die schnell auf die kaiserliche Hauptstadt zuhalten sollte, und befahl dem Rest, ihr zu folgen. Dank eines forcierten Marsches war er am 9. Oktober mit 12 000 Mann nur zwei Stunden von der Stadt entfernt, die Ungarn dicht auf den Fersen. Nun drängte die Zeit für das Haus Habsburg: Die kaiserlichen Truppen mussten die Wiener Revolution zerschlagen, bevor die Ungarn sie retten konnten. Schon hatte das ungarische Parlament den Wienern militärische Unterstützung angeboten, die österreichische Regierung befand sich in einer prekären Lage: Einerseits musste sie als verfassungsgemäße Ordnungsmacht Ferdinand gegenüber loyal sein, ihn drängen,
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Belagerung und Bombardement Wiens am 28. Oktober 1848. (Bridgeman Art Library)
nach Wien zurückzukehren und die Truppen abzuziehen. Andererseits waren die meisten Abgeordneten realistisch genug zu sehen, dass sie sich nicht auf den guten Willen des Kaisers verlassen konnten, weshalb ein Appell an die Ungarn nun die letzte Hoffnung für das Fortbestehen eines freiheitlichen Österreichs war. Da aber keiner bereit war, sich dafür in die Nesseln zu setzen, kam es zu einem politischen Pingpongspiel, bei dem sich Parlament und Gemeindeausschuss den Ball des ungarischen Beistands gegenseitig zuspielten. Studenten und Radikale schickten eine Abordnung nach Budapest, um selbst an die Ungarn heranzutreten, doch Letztere – die jetzt an der Grenze zu Österreich standen – wollten nur auf Anfrage der rechtmäßigen Machthaber in Wien, also des Parlaments, reagieren.35 Inzwischen erteilte der Kaiser der Bitte des parlamentarischen Ausschusses nach einem Abzug der Truppen eine Abfuhr. Damit war der mittlere, der verfassungsgemäße, Weg verbaut, jetzt konnte nur noch entweder die Revolution oder die Monarchie siegen. Doch es kam noch schlimmer: Am Abend des
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10. Oktober entdeckten Beobachtungsposten auf dem Kirchturm des Stephansdoms Jelačićs heranziehende Kroaten. Die Angst der Wiener war greifbar, lag doch, abgesehen von Kompanien der Bürgermiliz und der Nationalgarde, der Akademischen Legion und der neuen Mobilgarde, die ruhig durch die Straßen zogen, die Stadt verlassen da. Überall entlang der Stadtmauern brannten in der Nacht Wachfeuer. Nur die rechtzeitige Ankunft der Ungarn konnte nun noch zum Sieg führen. Aus Frankfurt schickte Erzherzog Johann zwei deutsche Delegationen, die zwischen dem Hof und der Stadt vermitteln sollten, doch die kaiserliche Regierung war jetzt entschlossen, die Revolution niederzuschlagen, und bereitete ihnen einen frostigen Empfang. Nachdem der Antrag, Hilfe nach Wien zu entsenden, von der Frankfurter Nationalversammlung abgelehnt worden war, schickten die radikal gesinnten Abgeordneten aus Deutschland zwei ihrer Mitstreiter, Robert Blum und Julius Fröbel, zur moralischen Unterstützung nach Wien. Sie kamen am 17. Oktober an.36 Inzwischen marschierten die kaiserliche Armeen noch immer vor der Stadt auf: Am 16. Oktober erteilte der Kaiser Windischgrätz den Oberbefehl und die uneingeschränkte Vollmacht. Am 20. Oktober befanden sich die 30 000 Mann des Feldmarschalls auf dem Weg von Böhmen nach Wien. In einem Manifest, verfasst von Hübner, drohte der Kaiser mit einer Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit allerdings nicht ohne Konsultation des Parlaments. Darüber beunruhigt, baten ihn tschechische Abgeordnete in Olmütz, den Erlass einer Verfassung weiterhin zuzusichern.37 Zu diesem Zweck ordnete Ferdinand am 22. Oktober an, dass das Parlament Wien verlassen und für den 15. November im mährischen Kremsier (nicht weit vom kaiserlichen Hof, aber doch in sicherer Entfernung) einberufen werden solle – ein Befehl, dem die Abgeordneten der Linken nicht gehorchten.38 Bis zum 23. Oktober hatten alle Truppen von Windischgrätz Stellung bezogen, die Stadt war nun von 70 000 Mann umstellt; Jelačićs Kroaten hielten die östliche Front. Die Ungarn standen 45 Kilometer entfernt – an der ungarischösterreichischen Grenze – und warteten darauf, dass das österreichische Rumpfparlament einen förmlichen Antrag auf Hilfe stellte: »Wir fühlen uns nicht berechtigt«, erklärte Kossuth, »unsere Hilfe dem aufzuzwingen, der sich nicht bereit erklärt, sie anzunehmen.«39 In Wien, das nun gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten war (selbst Wasser und Gasvorräte waren davon betroffen), kursierten Gerüchte, dass ungarische Vorposten gesichtet worden seien. Windischgrätz war sich im Klaren, dass die Zeit drängte, weshalb er die Kapitulation der Stadt innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden for-
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derte. Ein Ausfall gegen die kaiserlichen Außenposten durch die trotzigen Verteidiger war die Antwort in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Am 26. Oktober lief das Ultimatum des Feldmarschalls aus, der Angriff begann. Erst wurden die Vorposten der Revolutionäre in die Stadt zurückgetrieben, dann die Batterien der Artillerie noch vor dem ersten Ring der Wiener Verteidigungsanlagen bombardiert und anschließend im Sturm genommen. Der Hauptangriff wurde jedoch von Jelačić geführt, dessen Männer nach zwölfstündigem Kampf um Mitternacht in die östlichen Vorstädte eindrangen. Selbst noch in diesem Stadium gab es Versuche, Frieden zu stiften: Baron Pillersdorf, jetzt Mitglied des österreichischen Reichstags, bat Windischgrätz, den Wienern bei Kapitulation einige Konzessionen anzubieten. Der alte Soldat wischte den Vorschlag barsch vom Tisch. »Gut, dann«, seufzte Pillersdorf, »möge die ganze Verantwortung für das Blutvergießen auf Euren Schultern liegen«, worauf der Feldmarschall unbeeindruckt erwiderte: »Die Verantwortung nehme ich auf mich.«40 Nach einer Ruhepause am 27. Oktober eröffneten alle um die Stadt herum liegenden Batterien das Feuer auf den äußeren Wall. Um 9 Uhr führte Windischgrätz höchstpersönlich die Truppen aus Schönbrunn an und brach in die Industrievorstädte ein, während Jelačić seinen Griff um die östlichen Außenbezirke verstärkte. Mit den Montenegrinern an der Spitze, die in feuerrote Umhänge gehüllt, mit ihren gekrümmten Messern im Mund die Befestigungsanlagen erklommen, räumten die Südslawen etwa dreißig Barrikaden im Nahkampf. Bis zum Abend standen die kaiserlichen Truppen vor den Mauern der inneren Stadt. Die Vorstädte standen bereits in Flammen – in Brand gesteckt durch Handgranaten, Artilleriegranaten und Congreve-Raketen, die »leuchtende Linien über den nächtlichen Himmel« zogen.41 Das Bombardement dauerte die ganze Nacht und endete erst am Morgen, als Windischgrätz entschied, den Wienern Zeit zu geben, nochmals ihre Widersetzlichkeit zu bedenken. Tatsächlich fand eine Abordnung des Gemeindeausschusses den Weg zum Hauptquartier des Feldmarschalls in Schönbrunn, um Wiens bedingungslose Kapitulation zu überbringen. Doch während die Bewohner einfach nur das Ende der Kämpfe wollten, waren viele der Revolutionäre schon zu weit gegangen, um ohne Garantien die Waffen zu strecken: Sie »kämpften«, wie Stiles es ausdrückte, »mit der Schlinge um den Hals«.42 Da allerdings Essensvorräte und Munition knapp waren, konnten sie nicht lange durchhalten. In dieser Situation erspähte der Kommandeur der Nationalgarde, General Wenzel Messenhauser, nach zwei Tagen ununterbrochenen Wachens auf dem
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Turm des Doms endlich das lang erwartete Näherrücken der Ungarn. Kossuth, der sich am 28. Oktober mit 12 000 Freiwilligen der ungarischen Armee angeschlossen hatte (womit sich ihre Gesamtstärke auf 25 000 Mann erhöhte), hatte die Flammen von Wien in den Nachthimmel lodern sehen und beschlossen, dass die Zeit gekommen war. »Noch steht Wien«, erklärte er, »noch ist der Muth seiner Bewohner, unserer treuesten Verbündeten gegen die Angriffe der reactionären Feldherren, ungebrochen.«43 Als die Ungarn die Grenze nach Österreich überschritten, konnten die Wiener ihre Geschütze donnern hören. Die Wiener Radikalen, die Nationalgarde, die Studenten und die Arbeiter verwarfen das Friedensangebot des Gemeindeausschusses und nahmen erneut den Kampf auf. Windischgrätz kommandierte Jelačić und Auersperg mit 28 000 Mann ab, um sich den Ungarn entgegenzustellen. Am 30. Oktober waren diese nur noch wenige Kilometer von der Stadt entfernt; in einem der bedeutsamsten historischen Augenblicke in der Geschichte Österreichs sollten sie geradewegs auf die wartenden Mündungen von sechzig österreichischen Kanonen zumarschieren, die hinter den Anhöhen von Schwechat lauerten. Als die habsburgische Artillerie das Feuer eröffnete, war es laut Oberst Arthur Görgey »auf diese geringe Entfernung wahrhaft mörderisch«. Die Soldaten der regulären ungarischen Armee trotteten beharrlich durch den Schrapnellhagel vorwärts, doch den Honvéds war das zu viel, sie lösten sich auf und suchten das Weite. Bis zum nächsten Tag waren sie »einer gescheuchten Herde gleich« über die Grenze zurückgewichen.44 Die verzweifelten Wiener Radikalen konnten von den Türmen der Stadt aus hören und sehen, wie sich dieses Drama abspielte: Mit der Niederlage der Ungarn starb die letzte Hoffnung der österreichischen Revolution. Nach einem letzten Bombardement – in dessen Lichtschein der Stephansdom »mit rosenfarbigen, scharlach- und karminrothen Tönen« übergossen war45 – gab die Stadt am 31. Oktober auf. Der Gemeindeausschuss schickte eine Abordnung zu Windischgrätz, die erklärte, dass die meisten Wiener eine Kapitulation wünschten, aber davon abgehalten würden, weil die Radikalen unter den Studenten, die demokratischen Vereine und die Arbeiter sie terrorisierten.46 Weiße Fahnen flatterten jetzt von den Türmen und Dächern der Stadt, doch noch immer gab es Inseln des Widerstands: Als die Truppen des Feldmarschalls sich den Weg durch das große Burgtor freischießen mussten, fing der angrenzende Kaiserpalast Feuer, wobei große Teile der Hofbibliothek zerstört wurden. Trotzdem hatten am folgenden Tag die Soldaten alles unter Kontrolle. Windischgrätz und Jelačić zogen offiziell in die Stadt ein.
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Zweitausend Menschen waren bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Da Wien die Auflagen der ersten Kapitulation gebrochen hatte, wollte der Feldmarschall keine Milde walten lassen: Er erklärte den Belagerungszustand, Soldatenkordons hinderten die Menschen daran, die Stadt ohne schriftliche Erlaubnis zu betreten oder zu verlassen. An die zweitausend Revolutionäre wurden verhaftet, Akademische Legion und Nationalgarde aufgelöst, die Zensur wieder eingeführt. Fünfundzwanzig Revolutionäre wurden vor das Kriegsgericht gestellt und hingerichtet. Unter den Opfern befanden sich Messenhauser und Blum. Letzterer wurde beschuldigt, mit seinen Reden die Wiener zur Rebellion ermutigt zu haben. Zwar stimmt es, dass Blum in seinen letzten Tagen der radikalen Versuchung erlag und in seiner Rhetorik blutrünstig wurde, doch seine Zurückhaltung in Frankfurt zeigt, dass er ein derart schreckliches Ende nicht verdiente. Er wurde nach einem Standgericht am 9. November durch »Pulver und Blei« hingerichtet. Seinen Genossen Fröbel befand man ebenfalls für schuldig, begnadigte ihn aber und wies ihn aus. Ihm zufolge wurde er verschont, weil er eine Broschüre mit dem Titel Wien, Deutschland und Europa veröffentlicht hatte. Darin hatte er erklärt, dass die »deutsche Frage« nicht durch die Teilung des österreichischen Imperiums gelöst werden solle.47 Messenhauser wurde im Stadtgraben erschossen. Zuvor hatte er die Augenbinde verweigert und von seinem Privileg als früherer Offizier Gebrauch gemacht, den Befehl zum Feuern selbst zu erteilen.48 Überall in der Hauptstadt flatterte nun das habsburgische Schwarz-Gold, und am 19. Oktober wurde der achtundvierzigjährige Prinz Felix zu Schwarzenberg mit der Bildung einer neuen Regierung betraut. Er war der Schwager von Windischgrätz, Bruder von dessen in den Prager Junitagen getöteten Gattin. Früher im Jahr hatte er sich in Italien aufgehalten, zunächst als Gesandter in Neapel, dann in Radetzkys Armee. Anders als Radetzky und Windischgrätz jedoch war Schwarzenberg kein Reaktionär. Als es Mitte Oktober danach ausgesehen hatte, als würde der Kaiser den Reichstag ganz auflösen wollen, war es seinem Einfluss zu verdanken, dass die Parlamentarier stattdessen angewiesen wurden, in Kremsier zusammenzutreten.49 Letzten Endes war er aber doch von dem klassischen habsburgischen Reformgestus – Reformen von oben – überzeugt: »Demokratie muß bekämpft und ihren Exzessen muß Einhalt geboten werden, aber wenn da niemand anders Hilfestellung leisten kann, bleibt dies zwangsläufig der Regierung selber überlassen.«50 Habsburgs Autorität wollte er wiederherstellen, die Monarchie zentralisieren und bis zu einem gewissen Grad germanisieren. Zu dem Kabinett, das er
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berief, gehörten deshalb einige Vertreter, die mit den liberalen Regierungen von 1848 in Verbindung gestanden hatten, namentlich Franz Stadion, der bald den Entwurf einer neuen kaiserlichen Verfassung in Angriff nehmen sollte, und der ehemalige Demokrat Alexander Bach. Vor 1848 war Bach treuer Anhänger des liberalen Juridisch-Politischen Lesevereins gewesen und einer der eher radikalen Anführer der Märzrevolution; doch im Laufe des Sommers machte ihm die radikale Strömung zu schaffen, und er erklärte insgeheim, dass er »den Fortschritt, nicht aber den Umsturz« wolle. Nachdem er in die konstituierende Versammlung Österreichs gewählt und im Juli als Justizminister in die Regierung Doblhoff berufen worden war, sah er laut Hübner (der ihn kannte und schätzte) »den Abgrund zu seinen Füßen«. Bachs endgültiger Bruch mit der Linken vollzog sich im September, als er sich energisch zugunsten des kaiserlichen Vetorechts in der parlamentarischen Gesetzgebung aussprach. Die Ermordung Latours im Oktober bestärkte ihn nur noch in seinem Beitritt zum konservativen Lager: »Er hat den Glauben in welchem er aufgewachsen verloren«, und dafür wurde er von seinen ehemaligen Verbündeten vom linken Flügel als Abtrünniger heftig getadelt.51 Am 2. Dezember überredete Schwarzenbergs Kabinett Ferdinand zur Abdankung und ersetzte ihn durch seinen Neffen, den achtzehnjährigen Franz Joseph. Der neue Kaiser hatte mit den liberalen Zugeständnissen, die in diesem Jahr gemacht worden waren, nichts zu tun und konnte deshalb auch nicht auf sie verpflichtet werden.52 Die Ereignisse von 1848 hatten Franz Joseph gelehrt, dass die beiden großen Säulen der habsburgischen Monarchie die Armee und die Treue seiner Untertanen waren. Trotzdem wurde die konstituierende Versammlung beibehalten und trat, etwas später als ursprünglich vorgesehen, am 22. November als Rumpfparlament in Kremsier zusammen – vor allem um mit den Ungarn abzurechnen. Im Augenblick erlaubte man dem kaiserlichen Reichstag, eine eigene liberale Verfassung zu erstellen, doch dann handelte die Regierung wieder so, als gäbe es dieses Dokument nicht. Am 4. März 1849 schob sie dem Reich drei Gesetze unter: ihren eigenen Grundrechtskatalog, ein Gesetz zur Entschädigung der Grundherren für ihre Verluste bei der Abschaffung der Leibeigenschaft und eine von Franz Joseph »oktroyierte« Verfassung. Letztere war Stadions Werk und insofern kopflastig, als dem Kaiser alle wesentlichen Machtbefugnisse zugesprochen waren, darunter die Gesetzesinitiative und die Ernennung der Minister, die dem Souverän und nicht dem Parlament gegenüber verantwortlich sein sollten. Dem Kaiser sollten alle Entscheidungen in Reichsangelegenheiten obliegen, und da die gesamte Monarchie künftig als
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Einheit betrachtet wurde, als zentralisierter Staat, war damit praktisch jeder Bereich der Politik gemeint. Einige wichtige Merkmale von 1848 blieben erhalten, darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft und der grundherrschaftlichen Pflichten; die Verfassung erkannte die Grundrechte an (unter anderem die Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetz) und sah ein Parlament vor. All dies ergänzte die Regierung jedoch am 13. März durch die Beschneidung der Pressefreiheit und des Versammlungsrechts. In Zukunft sollten alle Nationalitäten gleichgestellt sein, was aber faktisch hieß, dass keine Nationalität das Recht auf eine eigene politische Identität besaß, da das Kaiserreich jetzt in einheitliche Provinzen unterteilt war. Das Königreich Ungarn würde damit ausgelöscht, die Nationalitätenfrage im Habsburgerreich durch eine einheitliche Verwaltung und Zentralisierung aus der Welt geschafft, wobei es sich nicht um eine »föderale« Lösung des Problems, sondern eher um eine »anationale« handelte.
III Die Ereignisse in Wien gaben Friedrich Wilhelm IV. von Preußen den noch nötigen letzten Anstoß, um den revolutionären Stier bei den Hörnern zu packen. Im Herbst war die preußische Politik noch immer auf dem – wenn auch steinigen – Weg zu einer konstitutionellen Regierung. Der Beschluss der preußischen Nationalversammlung vom 9. August forderte von allen Offizieren, dass sie »mit Aufrichtigkeit und Hingebung an der Verwirklichung eines konstitutionellen Rechtszustandes mitarbeiten« sollten,53 vom Hof wurde das als unverschämter Angriff auf das Oberkommando des Königs über das Heer verstanden. Lieber trat deshalb der liberale Minister Rudolf von Auerswald am 8. September zurück, als das Militär zu zwingen, diesen Befehl hinzunehmen. Mittlerweile fing die Kamarilla von Sanssouci an, Pläne für eine Bestreikung der Nationalversammlung zu schmieden, ermutigt durch Bittschriften, in denen der König inständig gebeten wurde, das Land vor dem Radikalismus zu retten. Das Ganze war allerdings nicht unumstößlich. Friedrich Wilhelm ernannte Ernst von Pfuel zum Interimsminister, und dieser tat alles dafür, den Riss zwischen Hof und Parlament zu kitten. Anfang Oktober ermächtigte er das Parlament, Preußens Verfassungsentwurf zu diskutieren, doch seine Versuche, die gesetzgebende Gewalt zu erweichen, konnten den König und die Nationalversammlung nicht von ihrem Kollisionskurs abbringen. Die Konservativen
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empörten sich über den Vorschlag, die Worte »von Gottes Gnaden« aus dem königlichen Titel zu entfernen sowie die Adelstitel und die Todesstrafe abzuschaffen. Die Konterrevolutionäre sammelten ihre Truppen. Leopold von Gerlachs Bruder Ernst hatte im Juli den »Verein für König und Vaterland« ins Leben gerufen, dessen Ziel es war, die Errungenschaften der Märzrevolution zurückzunehmen, das Parlament aufzulösen und die Macht des Königs zu erneuern. Die einzigen Volksvertretungen sollten die Provinziallandtage sein, die natürlich vom grundbesitzenden Adel dominiert würden. Mit »Vaterland« war Preußen und nicht Deutschland gemeint, denn den Konservativen war bewusst, dass unter der breiten Bevölkerung noch immer ein eindeutig preußischer Nationalismus fortbestand. Bei Paraden zu Ehren Erzherzogs Johann, dem Regenten des neuen Deutschland, kreuzten daher auch am 6. August einige Tausend Bauern auf und schwenkten extra das schwarz-weiße preußische Banner und nicht etwa das deutsche Schwarz-Rot-Gold. Viele Preußen fürchteten, dass ein Aufgehen in Deutschland die eigene Identität des Königreichs verwischen, seine Größe unter schwächlichen Ländern vermindern und seinen Protestantismus durch eine zu enge Verbindung mit den Katholiken bedrohen würde.54 Gerlach gründete zudem eine ultrakonservative Zeitung, die Neue Preußische Zeitung, die wegen ihres Titelmotivs – eines eisernen Kreuzes, das ein patriotisches Symbol aus dem »Befreiungskrieg« gegen Napoleon war – schnell Kreuzzeitung genannt wurde. Ihr Reiz lag darin, dass sie Witz, politische Diskussionen und Polemik mit harten Fakten kombinierte: Bismarck, einer ihrer wichtigsten Beiträger, begriff, dass eine Zeitung über ihre angestammte Leserschaft hinaus einflussreich war, wenn sie als Quelle aktueller Nachrichten und nicht nur als Sammlung von Meinungen zu gebrauchen war. Dies hielt ihn nicht davon ab, einige grobe Artikel gegen die Gegner der Konservativen zu schreiben.55 Der »Verein für König und Vaterland« breitete sich rasend schnell in ganz Preußen aus, wo sich ihm weitere Vereine anschlossen. Bis zum Herbst gab es schon einige Hundert und bis zum darauffolgenden Frühjahr sogar dreihundert dieser Vereine, die sich einer Gesamtzahl von 60 000 Mitgliedern rühmen konnten und damit bewiesen, dass sie mehr als nur eine Bewegung aufgebrachter Landjunker waren.56 Die Unterstützung der Massen zu gewinnen bedeutete für manche Angehörige der alten Eliten einen Sprung ins kalte Wasser, den sie mit einer gewissen Zurückhaltung unternahmen. Hier mag ein Generationenkonflikt ins Spiel gekommen sein: Konservative des alten Schlags, wie Gerlach einer war, ideali-
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sierten die hierarchisch organisierte Gesellschaft, wie sie ihrer Meinung nach vor der Revolution existiert hatte. Zielstrebige junge Männer vom Schlag eines Bismarck dagegen sahen die Rolle des Volkes sehr viel pragmatischer. Die Leitlinien eines neuen Konservatismus wurden in der Kreuzzeitung herausgearbeitet, ebenso von den Mitgliedern des »Vereins zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes«, den Bismarck und seine Verbündeten gegründet hatten, um die preußischen Junker zu vereinen und die Bauernschaft zu sammeln. Aus diesem Grund fügte die Gesellschaft ihrem Namen auch die Worte »und zur Förderung des Wohlstands aller Klassen« hinzu, so als wäre der ursprüngliche Titel zu verfänglich. Vierhundert Interessierte besuchten am 18. und 19. August die Generalversammlung des Vereins, von ihren Gegnern verächtlich als »Junkerparlament« betitelt. Doch Bismarck reichte es nicht, wie die Traditionalisten einfach nur zu hoffen, dass die Massen schon der Führung der sozial Höhergestellten folgen würden. Stattdessen müsse der alte Adel klarstellen, dieselben materiellen Interessen zu haben wie alle anderen auch. Liberalismus sei schließlich, so argumentierte Bismarck, nichts anderes als die Ideologie des städtischen Besitzbürgertums – einer kleinen sozialen Gruppierung. Alle anderen, die diesen unterstützten – Bauern, Handwerker, Händler und verrückte preußische Adelige –, würden nur ihre eigenen sozialen und wirtschaftlichen Interessen verraten. Der Konservatismus Bismarck’scher Prägung lag daher nicht in der Rückkehr zur Vergangenheit, sondern vielmehr in einer Mischung aus Maßnahmen, die auch den Bauern und der unteren Mittelschicht dienlich sein würden, etwa die Abschaffung »feudaler« Überreste auf dem Lande oder Zölle, um Kleinunternehmer zu schützen. Auf diese Weise sollten die traditionellen Eliten einen breiteren Rückhalt bekommen, eine Allianz, der weder Liberalismus noch Radikalismus etwas anhaben konnte.57 Im September hatte Friedrich Wilhelm den durch und durch reaktionären General Friedrich von Wrangel mit dem Oberbefehl über die um Berlin stationierte Armee betraut. Vulgär und recht exzentrisch, erschien Wrangel (der für gewöhnlich einen polierten Brustharnisch der Kavallerie trug) bald schon in Berlin, wo er eine unbeholfene Rede hielt, in der er den Einheimischen versicherte, sie nicht erschießen zu wollen. Helmuth von Moltke, damals ein junger Stabsoffizier, später einer der größten preußischen Generäle, schrieb am 21. September seinem Bruder: »Wir haben jetzt 40 000 Mann in und um Berlin; dort liegt der Schwerpunkt der ganzen deutschen Frage. Ordnung in Berlin, und wir werden
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Ordnung im Lande haben … Jetzt hat man (vermutlich der König und seine Ratgeber) in Berlin die Macht in der Hand und das volle Recht, sie zu brauchen. Täte man es diesmal nicht, so bin ich bereit, mit Dir nach Adelaide auszuwandern.«58 Als sollte sein Standpunkt unterstrichen werden, kam es Mitte Oktober zu einem neuen Aufstand in Berlin. Durch die allgemeine Erregung, die der Kampf um die Verfassung mit sich brachte, konnten die Radikalen in politischen Vereinen wie dem »Lindenclub« oder Friedrich Wilhelm Helds »Demokratischem Club« viele Leute mobilisieren. Mehr noch, seit März durfte jeder Waffen tragen, und neben der offiziellen Bürgerwehr gab es nun »mobile Kolonnen«, bestehend aus Arbeitern, Studenten und Handwerkern. Am 13. Oktober beschloss die Nationalversammlung, die sich verzweifelt an den Mittelweg klammerte, dass es an der Zeit sei, die Radikalen zu entwaffnen, und stimmte dafür, die überwiegend mittelständische Bürgerwehr als einzig rechtmäßige Polizeigewalt in der Hauptstadt zuzulassen. Jetzt sollten Liberale und Demokraten aneinandergeraten. In der Stadt kam es zu heftigen Protesten seitens der Radikalen; am 16. Oktober nutzten Kanalarbeiter die Gelegenheit, um gegen die Dampfpumpen, die sie als existenzbedrohend ansahen, zu randalieren. Die Bürgerwehr marschierte auf und erschoss elf von ihnen. Unter noch größeren Druck geriet die Versammlung, als Ende des Monats der Demokratische Kongress der Radikalen und das »Gegenparlament« in Berlin zusammenkamen. Letzteres war als Gegengewicht zu der gemäßigteren deutschen Nationalversammlung in Frankfurt gedacht. Unter den Teilnehmern befanden sich Franz Zitz, einer der Aufwiegler bei der Septemberkrise in Frankfurt, und Johann Jacoby, der Preußen aufforderte, Soldaten zu schicken, um den Wienern im Kampf gegen die habsburgische Reaktion zu helfen. Seine Forderung wurde unter wehenden roten Fahnen bei einem Protestmarsch mit 1000 Teilnehmern am 31. Oktober der Preußischen Nationalversammlung vorgelegt. Als eine parlamentarische Mehrheit dieses Ansinnen zurückwies, heulte die Menge draußen wütend auf. Einem Abgeordneten wurde mit einer brennenden Fackel ins Gesicht geschlagen, als er versuchte, die Kammer zu verlassen. Seine Kollegen waren gezwungen, durch eine Seitentür zu entkommen, wobei sie durch Lagerräume und über Leitern turnen mussten, um überhaupt hinauszugelangen. Als sie auf die Straße traten, wurde ein Schuss abgefeuert. Als knüppelschwingende Angehörige der Bürgerwehr und Arbeiter mit Fackeln aufeinander losgingen, brach das Chaos aus. Die Arbeiter der Borsig-Lokomotive kamen hinzu
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und beendeten das Handgemenge, doch in der allgemeinen Verwirrung richtete die Bürgerwehr ihre Waffen auch gegen sie.59 Dieser Vorfall zeigte, dass zwischen den Gemäßigten und der radikalen Linken eine unüberbrückbare Kluft lag, die den Konservativen zum Vorteil gereichte. Pfuel trat zurück, seine Versuche, einen Kompromiss zu finden, waren gescheitert. Auch der König spürte nun, dass die Unterschiede zwischen den Liberalen und den Demokraten derart unversöhnlich waren, dass er endlich zuschlagen konnte – doch selbst jetzt schwankte er noch: »Raten Sie mir«, so fragte er einen Freund, »die Constituzions Komödie […] noch fortzusetzen oder plötzlich mit Wrangel einzurücken und dann als Sieger alle Worte meiner Verheißungen zu erfüllen?«60 Diese letzte Formulierung spricht Bände, sie lässt vermuten, dass der König es nicht auf eine sofortige Restauration abgesehen hatte, sondern eine »Revolution von oben« durchführen wollte, also Reformen nach den Bedingungen der Monarchie. Eine Verfassung »von der liberalsten Sorte« wurde in Erwägung gezogen, doch sie sollte im richtigen Augenblick so reformiert werden, dass sie den König zufriedenstellte. Am 1. November befolgte er Bismarcks Rat und ernannte den Konservativen Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg zum Ministerpräsidenten. Damit wandelte sich die Lage von »äußerst schlimm« zu »heillos verfahren«. Friedrich Wilhelm brüskierte eine parlamentarische Abordnung, die sich verzweifelt bemühte, einen Staatsstreich abzuwenden (darunter ein verärgerter Jacoby, der ausrief: »Das eben ist das Unglück der Könige: Daß sie die Wahrheit nicht hören wollen!«). Daraufhin gingen 15 000 Demonstranten auf die Straße, um, wie sie es nannten, »einen letzten Kampf für Vaterland, Recht und Freiheit« zu wagen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wurden die Rufe der konservativen Presse nach dem Ende von »Anarchie« und »Gesetzlosigkeit« immer lauter. Fanny Lewald kehrte am 7. November in ihre Heimatstadt zurück. Dort aber fand sie die Stimmung bedrückender und verbitterter als zuvor. Die »stabilen Freunde der Ordnung« warteten nur auf das »Rechtsprechen mit Kartätschenkugeln«.61 Zwei Tage später erschien Graf Brandenburg vor der Nationalversammlung und verlas eine königliche Erklärung, die die Abgeordneten zu ihrer eigenen Sicherheit bis Ende des Monats entließ, wonach sie in Brandenburg erneut zusammentreten sollten. Doch die Mehrheit der Versammlung stand hinter ihrem Präsidenten, als der erklärte, dass ein solcher Akt gesetzeswidrig sei. Nun entdeckten Liberale und Radikale doch noch ihre Gemeinsamkeiten, sprachen davon, die Kräfte – die demokratischen Vereine und die Bürgerwehr – zu bündeln, um das Parlament zu verteidigen –, doch es war zu spät. Alles was
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ihnen noch blieb, war passiver Widerstand – so weigerte sich der Kommandeur der Bürgerwehr, seine Männer gegen die Nationalversammlung einzusetzen –, doch das war nur ein Vorwand für die Regierung, 13 000 von Wrangels Soldaten samt 60 Kanonen am 10. November in Berlin einmarschieren zu lassen. Womöglich schlug in diesem Moment die größte Stunde der Nationalversammlung: Unter dem Schutz der Bürgerwehr, die draußen aufmarschiert war (und von Wrangels Männer nur wenige Schritte entfernt) und unter stiller Beobachtung der Zuschauerränge, fuhren die Abgeordneten mit ihren Geschäften fort, während es dunkel wurde und man die Lampen anzünden musste. Gesprochen wurde über Dinge wie die Abschaffung der Steuern auf Schreibfedern, Hundekuchen und Futtermittel für die bäuerliche »Hauskuh«. »Man debattierte sehr ruhig«, erklärte Lewald, »denn man befand sich auf dem festen Boden des wahren Rechtes.« An einem Punkt des abendlichen Verfahrens schickte der Präsident einen höflichen Brief zu Wrangel und fragte, wie lange seine Soldaten noch gedächten, dort draußen zu stehen, ihre Anwesenheit sei nämlich nicht vonnöten. Wrangel, der in seiner Derbheit nicht an solch subtilen Humor gewöhnt war, erwiderte freiheraus, er werde nicht weichen, erkenne er doch weder die Nationalversammlung noch ihren Präsidenten an.62 Dabei saß der General lässig vor seinen Truppen in seinem Sessel, schaute demonstrativ auf die Uhr und gab der Versammlung fünfzehn Minuten, um sich zu vertagen. Am Ende zerstreuten sich die Abgeordneten kleinlaut, und die Bürgerwehr ließ ihre Entwaffnung zu. Selbst der harte Kern der Bewegung, die Borsig-Arbeiter, die sich aufgebracht vor dem Königsschloss versammelt hatten, brachte nicht den Mut auf, sich Wrangels gut gedrillten Soldaten entgegenzustellen. Unter Protest verließen sie den Platz.63 Ein Gutteil der Abgeordneten versammelte sich zügig im Schützenhaus der Berliner Bürgerschaft (die Schützenkompanien hatten der Armee während der Märzrevolution verheerende Schäden zugefügt), wo sie zugunsten eines Vorschlags der Radikalen abstimmten, nach dem Preußen zum Steuerstreik aufgerufen werden sollte. Doch Brandenburg war noch nicht fertig: Am 12. November erklärte er den Belagerungszustand, und Wrangel brachte seine Artillerie drohend um die Stadt in Stellung. Die Bürgerwehr wurde entwaffnet, die demokratischen Vereine wurden zerschlagen und die Zeitungen verboten. Berlin war voller Soldaten, die in ihren Nagelstiefeln durch die Straßen stampften oder in Treppenhäusern herumlungerten. Das Museum wurde in eine Kaserne umfunktioniert, in der Gewehre an Statuen lehnten und Helme sich auf antiken Stücken türmten. In regelmäßigen Abständen wurden Straßen gesperrt, wäh-
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rend Patrouillen Häuser nach Waffen durchsuchten.64 Der Steuerstreik zeigte wenig Wirkung, da die Leute, die die höchsten Steuern zahlten, eben diejenigen waren, die zur Ordnung zurückkehren wollten. Trotzdem vermieden die Konservativen eine umfassende Reaktion. Am 5. Dezember wurde (entgegen den Protesten von Vollblutreaktionären wie Brandenburg) eine neue Verfassung für Preußen »erlassen«, die von Friedrich Wilhelm »oktroyiert« wurde. Sie sah ein Zweikammernparlament vor, dessen zweite Kammer durch ein allgemeines Wahlrecht für Männer gewählt wurde. Die parlamentarische Kontrolle des preußischen Staates indessen wurde vom Tisch gefegt: Der König war im Besitz der vollen Exekutivgewalt, einschließlich des Oberbefehls über die Streitkräfte. Soldaten und Beamte mussten dem König den Treueid leisten und nicht etwa dem Parlament. Am 30. Mai 1848 reichte Friedrich Wilhelm ein überarbeitetes Wahlgesetz nach. Darin wurde jeder Wahlbezirk in drei Klassen von Steuerzahlern unterteilt, um sicherzustellen, dass die reichsten Wähler ein Drittel aller Abgeordneten bestellen konnten. Darüber hinaus wurde die Befreiung der Bauern von den letzten bestehenden Verpflichtungen bestätigt, zusammen mit der Abschaffung der Steuerprivilegien des Adels und der polizeilichen und rechtlichen Handhabe der Junker. So mancher Handwerker war zufrieden mit der Wiedereinführung von Zünften in siebzig Gewerken, doch die Revolution war nun endgültig vorüber.65 Der Sieg des Konservatismus in Österreich und Preußen stellte eine Bedrohung für die liberalen Regierungen in ganz Deutschland dar. So mancher Gemäßigte mochte Friedrich Wilhelms unblutigen Staatsstreich in Berlin begrüßen: Gustav Mevissen etwa bejubelte den »kühnen Griff« und hielt die Stunde für gekommen, in der alle mutigen Männer »sich auf den neugeschaffenen Rechtsboden stellen und die hereindräuende Anarchie bekämpfen müssen«.66 Immerhin hatte Preußen noch eine Verfassung, was nicht zu unterschätzen war. Denn erstens bewies das, dass die Monarchie, obwohl die Revolution mit den Instrumenten des preußischen Staates niedergeschlagen worden war, gewisse Vorstellungen der Opposition, was Recht und Gesetz anbelangte, akzeptiert hatte. Zweitens blieb Preußen dadurch im Zentrum deutschnationaler Bestrebungen, allein das Königreich konnte die Führung in einem vereinten, mit einer Verfassung ausgestatteten Deutschland übernehmen. Abgeordnete aus Frankfurt taten dagegen laut ihren Protest gegen den königlichen Coup d’état kund. Die gesamte deutsche Linke entdeckte nun endlich ihre Geschlossenheit, die im Frühjahr so gelitten hatte. Die gemäßigten Abgeordneten des linken Spektrums gründeten den Zentralmärzverein, dessen Ziel es war, alle
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Kräfte gegen die sich formierende Reaktion zu versammeln. Der Verein war ein beeindruckendes Netzwerk mit einer halben Million Mitgliedern in 950 angeschlossenen Vereinen. Damit stellte er auch die radikalen Demokraten mit ihrem Demokratenkongress (der 260 Vereine zählte) in den Schatten. Die Frankfurter Nationalversammlung indessen war immer noch dabei, eine deutsche Verfassung auszuarbeiten. Eine der zentralen Fragen, die die Abgeordneten beschäftigten, war diejenige, ob Österreich in das Deutsche Reich aufgenommen werden sollte. Der gemäßigte Friedrich Dahlmann stellte kurz und bündig fest, dass es zwei Möglichkeiten gebe: die Auflösung des Habsburgerreiches und die Einbindung seiner deutschen Teile in den vereinten deutschen Staat; oder das Intaktlassen des Reiches, was die Abtrennung Österreichs von Deutschland zur Folge hätte. Als das Parlament im Oktober über dieser Sache tagte, sickerten die Nachrichten von den Kämpfen in Wien durch. Über alle Flügel hinweg waren sich die Abgeordneten uneins über die beiden deutschen Visionen. In den frühen Tagen der Revolution waren noch diejenigen in der Mehrheit, die den Einschluss Österreichs, die »großdeutsche« Lösung genannt, befürworteten. Darunter befanden sich Katholiken, die befürchteten, dass ohne Österreich die norddeutschen Protestanten dominieren würden, machten sie doch zwei Drittel der Bevölkerung aus. Für andere war ein deutscher Staat ohne die deutschsprachigen Österreicher völlig sinnlos. Sie wollten ein vereintes, zentralistisches und demokratisches Deutschland: Die Österreicher auszuschließen hätte bedeutet, einen großen Teil des deutschen Volkes den nicht deutschen Völkern des Habsburgerreiches ungeschützt auszuliefern. Das österreichische Parlament zeige bereits, wie der Tübinger Demokrat Ludwig Uhland es ausdrückte, dass die Slawen mit ihrer Massenbevölkerung politisch dominierten, und wo bliebe da die österreichisch-deutsche Minderheit? Österreich habe den Beruf, »eine Pulsader zu sein im Herzen Deutschlands«.67 Die »kleindeutsche« Lösung indessen stand der Einbindung Österreichs ablehnend gegenüber. Zu ihren Fürsprechern zählten gemäßigte Liberale wie Heinrich von Gagern, der keinen anderen praktikablen Weg sah, einen vereinten deutschen Staat zu schaffen. Neben dem Auftrag der Nationalversammlung, dem »gesammten deutschen Volk« eine Verfassung zu geben, so von Gagern, hätten die Abgeordneten »den Verhältnissen, den Thatsachen diejenige Rechnung zu tragen, die getragen werden muß, wenn wir die Verfassung lebensfähig schaffen wollen«. Die »großdeutsche« Idee würde im Grunde das österreichische Gesamtreich zerstückeln, was für von Gagern moralisch gese-
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hen nicht in Ordnung war (»Die Verbindlichkeit aber, die wir haben, scheint mir die zu sein, daß wenn es in einem Bundesstaat zum Kriege gekommen ist, wo das Feuer lodert –, daß wir dann nicht noch weitere Feuerbrände hineinwerfen zu den schon lodernden«), und was auch nicht im Interesse des neuen Deutschland liege, stelle es doch die zukünftige Stabilität und Sicherheit ganz Mitteleuropas in Frage.68 Weil sie die Ansprüche der Habsburger nicht aushebeln wollten, sahen diese Gemäßigten die Lösung in der Bildung eines kleineren deutschen Staates im Norden, locker verbunden mit Österreich und seinen nicht deutschen Nationalitäten. Da die kleindeutsche Lösung das konservativkatholisch-protektionistische Österreich ausschloss, waren ihre Befürworter tendenziell protestantische norddeutsche Liberale, die das konstitutionelle Preußen mit seiner Handelsfreiheit bewunderten. Die vernichtende Kritik Wilhelm Wichmanns sprach vielen aus dem Herzen: »Österreich [ist] der einzige Staat […], welcher dem deutschen Einheitswerke wirkliche Schwierigkeiten in den Weg legen kann, und auch schon gelegt hat. Alle anderen deutschen Staaten müssen in Deutschland aufgehen, oder sie werden darin untergehen in der Geschichte. Österreich besitzt aber sehr viele antideutsche Elemente, durch deren Entgegenstellung und Erweckung es die deutsche Strömung, die sich vorbereitet hat, erheblich aufhalten könnte.«69 Mit dem Ausschluss Österreichs würde die kleindeutsche Lösung zugleich das Problem einer Integration der nicht deutschen Nationalitäten des Habsburgerreiches umgehen. Wichmann erschien die Einbindung solcher Völker geradezu gefährlich: Deutschland könne gleichberechtigt neben anderen stehen, aber nur »wenn wir unsere Nationalität möglichst rein erhalten, wenn wir aus der großen Krystallisation der Völker, die sich in Europa vorbereitet, als ein klarer Krystall hervorgehen, mit Ausscheidung so vieler fremder Bestandtheile, als nur immer möglich«.70 Im Gegensatz dazu fasste die großdeutsche Lösung im extremsten Fall einen riesigen Staat ins Auge, der ganz Deutschland und das gesamte Habsburgerreich umfasste. Diese Vorstellung vertraten vor allem jene Abgeordneten, die die bedrängtere deutsche Bevölkerung in nicht deutschen Territorien der Habsburger repräsentierten. »Unser Zweck aber«, erklärte Friedrich Graf von Deym aus Böhmen, »ist, ein Riesenreich von 70, und wo möglich von 80 oder 100 Millionen zu gründen.« Dieser Plan, der als »mitteleuropäische« Lösung bekannt wurde, würde die deutsche Einflusssphäre bis nach
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Südosteuropa ausweiten und könne als massives Bollwerk gegen andere Reiche, insbesondere Russland, benutzt werden. Der Riesenstaat wäre »gerüstet gegen Osten und Westen, gegen die slavischen und lateinischen Völker, die Seeherrschaft den Engländern abzuringen, das größte, mächtigste Volk auf diesem Erdenrunde zu werden, – das ist Deutschlands Zukunft!«71 Diese Vision von »Mitteleuropa« sollte – obwohl das 1848 nicht im Geringsten beabsichtigt war – im 20. Jahrhundert zu Europas dunkelsten Jahren führen. Doch man muss hinzufügen, dass die Verfechter der kleindeutschen Lösung auch keine Mimosen waren, als die Idee aufkam, Südosteuropa zu »kolonisieren«. Laut von Gagern hatten Deutschland und Österreich zusammen die Aufgabe, »die Verbreitung deutscher Cultur, Sprache und Sitten längs der Donau bis an das schwarze Meer« voranzutreiben.72 Noch immer war die Nationalversammlung dabei, dieses heikle Thema und seine schwierigen Implikationen zu diskutieren, als in Österreich die Gegenrevolution zuschlug. Nur Tage, bevor Windischgrätz’ Truppen sich ihren Weg nach Wien freischossen, stimmte die Versammlung den ersten drei Artikeln der deutschen Verfassung zu, in denen erklärt wurde, dass das deutsche Reich aus dem gesamten Territorium des alten Bundes bestehe (wobei die Problemfälle Posen und Schleswig-Holstein einer künftigen Lösung überlassen wurden); dass kein Teil des Reiches mit nicht deutschen Ländern einen Staat bilden dürfe und dass ein deutsches Land, das mit einem nicht deutschen Land ein Staatsoberhaupt gemeinsam habe, mit diesem nur eine rein personale und dynastische Union eingehen dürfe.73 Mit anderen Worten: Die Verfassung verkündete eine großdeutsche Lösung, die gerade faktisch unmöglich wurde. Nie waren das Haus Habsburg und die kaiserliche Regierung von der deutschen Einheit begeistert gewesen, degradierte sie Österreich doch zu einer bloßen »Provinz« im größeren Deutschland. Beispielhaft für diesen Widerwillen war, dass der unglückselige Latour den österreichischen Streitkräften gerade einen Tag lang erlaubt hatte, die schwarz-rot-goldenen Farben zu tragen, bevor der Befehl erging, zum Schwarz-Gold des Kaiserhauses zurückzukehren. Während Wien noch zur Kapitulation gedrängt wurde, schrieb der österreichische Ministerpräsident Baron Wessenberg an alle österreichischen Gesandten in Deutschland: »Die Revolution hat ein deutsches Gewand angelegt. Die deutschen Farben sind die Wahrzeichen der Partei des Umsturzes geworden.«74 Als Robert Blum und Julius Fröbel zum Tode verurteilt wurden, hatten denn auch Konservative Bedenken vor einem Nachspiel in Deutschland, da die beiden Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung waren. Schwarzenberg ließ sich davon
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nicht beeindrucken und erklärte Windischgrätz, dass die parlamentarischen Privilegien »keine gesetzliche Macht in Österreich [haben]. Die Privilegien des Standrechts sind die einzigen welche er [Blum] hierzulande beanspruchen kann.«75 Deutlicher als durch diese Erschießung ließ sich Österreichs Ablehnung der deutschen Einheit nicht mehr formulieren. Am 27. November erklärte Schwarzenberg, dass die Habsburgermonarchie ein Einheitsstaat sei – eine Aussage, die durch die Verfassung, die der Kaiser im März 1848 erließ, bekräftigt wurde. Aus diesem Grund ließ sich ein Großdeutschland schon gar nicht umsetzen. Am 9. März unterbreitete Schwarzenberg sogar einen aberwitzigen Gegenvorschlag: die Lösung eines »größeren Österreich«, bei der sich das gesamte Habsburgerreich in einem riesigen mitteleuropäischen Bund mit Deutschland zusammenschließen sollte. Da dies eine ganze Reihe nicht deutscher Völker eingeschlossen hätte, war sie für die Mehrheit der Frankfurter Nationalversammlung schlichtweg unakzeptabel. Noch immer waren hier die in der Mehrheit, die weder eine kleindeutsche noch eine großdeutsche Lösung favorisierten. Doch selbst nach der klaren Zurückweisung einer deutschen Einheit durch Österreich konnte sich die kleindeutsche Lösung erst nach einem parlamentarischen Kuhhandel in der Schlussabstimmung durchsetzen. Die kompromisslose Haltung der österreichischen Regierung war Ausdruck ihrer neugewonnenen Stärke. Schließlich hatte sie im Juni 1848 die Revolution in Prag unterdrückt, im Juli die Italiener bei Custoza vernichtend geschlagen und im Oktober die Wiener Radikalen besiegen können. Dennoch stand das Kaiserreich im Frühjahr 1849 zwei großen Herausforderungen gegenüber: Zum einen musste es eine Möglichkeit finden, die Ungarn zu besiegen; zum anderen musste es Italien gänzlich in die Knie zwingen.
IV Angestachelt von Mitgliedern des habsburgischen Hofes, hatte Jelačić die Drau überschritten und am 11. September 1848 Ungarn angegriffen: Seine Kriegserklärung versprach Ungarn, es »aus dem Joch einer unfähigen, verhassten und aufrührerischen Regierung« zu befreien.76 Im Vergleich zu seiner riesigen Streitmacht von etwa 50 000 Mann verfügten die Ungarn über eine winzige Armee von 5000 Mann, von denen die meisten blutige Anfänger oder Nationalgardisten waren. Sie standen unter dem Oberkommando des Grafen Ádám Teleki, eines adligen Berufssoldaten, dem es widerstrebte, gegen einen Kom-
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mandeurskollegen kämpfen zu müssen, der einen Eid auf den Kaiser geleistet hatte. Weil er sich moralisch nicht in der Lage sah, gegen die Kroaten zu kämpfen, zog er seine Truppen in Richtung Budapest ab. Daraufhin bat die ungarische Regierung Erzherzog Stephan, die ungarischen Streitkräfte zu befehligen, doch dieser weigerte sich, da ihm Kaiser Ferdinand befohlen hatte, Jelačić keinen Widerstand zu leisten. Somit rückten die Kroaten, praktisch ohne auf Widerstand zu stoßen, auf Budapest vor und überzogen das Land mit den Schrecken des Krieges. Einer von Jelačićs Offizieren schrieb: »In vier Tagen sind wir vor Pest, und Gott möge sich der Stadt erbarmen, denn die Grenzer [Jelačićs Soldaten] sind so verbittert und erbost, daß man sie kaum im Zaume halten kann. Jetzt schon kann man sie kaum von Exzessen abhalten, sie rauben und stehlen zum Erschrecken. Wir befehlen jeden Tag tausend Auspeitschungen; aber das hilft nichts: Gott selbst hält sie nicht zurück, was vermag da ein Offizier? Wir werden von den Bauern ziemlich freundlich aufgenommen, aber jeden Abend kommen Klagen, einige davon ganz entsetzlicher Art. Ich bin verzweifelt wegen dieser Räuberbande und komme mir selbst nicht viel besser als ein Räuber vor.«77 Die Invasion sollte in Budapest eine politische Krise auslösen, deren Ausgang bemerkenswert war. Schon den ganzen Sommer über hatte sich unter den Radikalen Unbehagen über Batthyánys Regierung und den »Verrat« des Palatins Stephan breitgemacht; Anfang September sprachen die Zeitung Fünfzehnter März und die »Gesellschaft der Gleichheit« offen über eine zweite Revolution. Bis Mitte September waren die Kroaten bereits einmarschiert und die ungarische Regierung – deren diplomatische Bemühungen gescheitert waren – trat zurück, Ungarn war damit zwei entscheidende Wochen lang ohne Führung. Palatin Stephan bat Batthyány, ein neues Kabinett zu bilden, doch der kaiserliche Hof wies die Vorschläge des Ministerpräsidenten mehrmals zurück, und das, obwohl es sich bei den Kandidaten um Gemäßigte mit tadellosen Referenzen handelte. In jenen Tagen war es im Grunde das Parlament, das Ungarn erfolgreich regierte, und in diesem brachte Kossuth einen Gesetzentwurf zur vordringlichen Aufstellung der neuen Armee durch, die bereits im August beschlossene Sache war. Die Freiwilligen wurden in die Honvéd-Bataillone integriert, und alle Angehörigen der regulären Einheiten der kaiserlichen
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Armee wurden aufgefordert, sich diesen neuen Einheiten anzuschließen. Wer dem Aufruf nachkam, riss sich die schwarz-goldenen Schulterstreifen ab und nahm stattdessen die ungarische Trikolore an; manche gingen sogar so weit, ihre langen Mäntel zu kürzen, um sich von den Österreichern abzusetzen, die wegen der Form ihrer langen weißen Mäntel als »Schwalbenschwänze« bekannt waren. An der Seite der Radikalen, die ihn für die Dauer der Krise zum Ministerpräsidenten oder sogar zum Diktator berufen wollten, zeigte Kossuth, der solange an der Verfassung festgehalten hatte, allmählich seine revolutionären Seiten. Welchen Sinn habe es, so fragte er, gesetzestreu zu sein, wenn Ferdinand selbst sich nicht gebunden fühle? Keine Tyrannei sei übler als die, die auf legale Weise die Verfassung zu vernichten suche.78 Kossuths lebenslanger Gegenspieler, Graf István Széchenyi, widersprach ihm, doch es war allzu offensichtlich, dass der kaiserliche Hof nichts, was in Ungarn seit der Märzrevolution erreicht worden war, akzeptieren würde. Der gemäßigte (und überaus empfindliche) Graf sah sich deshalb vor die theoretische Möglichkeit gestellt, dass sein ganzes Tun aus dem Jahr 1848 »gesetzeswidrig« war und er damit sein geliebtes Land an den Rand der Katastrophe gebracht hatte. Seelisch erschöpft, erlitt Széchenyi einen Nervenzusammenbruch. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er Kossuths Unnachgiebigkeit für den Ausbruch der Krise mit Österreich verantwortlich gemacht; doch jetzt schien es so, als habe auch sein eigener, äußerst konspirativer Reformismus den kaiserlichen Hof verärgert. Eine schlaflose Nacht folgte der anderen, tagsüber besuchte er, in dumpfes Schweigen gehüllt, die Kabinettsitzungen. Am 3. September schließlich platzte er in das Haus eines Freundes und machte seinem Schmerz Luft: »Nichts als Blut, überall! In einem Blutrausch wird der Bruder den Bruder und eine Nation die andere niedermetzeln. Häuser werden mit einem Kreuz aus Blut markiert, um dann zu brennen. Pesth ist verloren.« In seinem Tagebuch schrieb er: »Ich trage an allem die Schuld!«79 Am folgenden Tag kam es zur letzten persönlichen Krise, als Széchenyis Arzt ihn drängte, sich auf sein Landgut zurückzuziehen, um zu Kräften zu kommen. Nachdem er sich tränenreich von seiner Kettenbrücke verabschiedet hatte, machte er sich auf den Weg zu seinem Zuhause in Cenk. Zwei Selbstmordversuche wurden vereitelt, und schließlich begab er sich auf eigenen Wunsch in eine Nervenheilanstalt in Döblin bei Wien, wo er sich hinter großen Toren von der Welt zurückzog und das Leben eines Büßers führte.80 Am 15. September war Kossuth bereit, die Initiative an sich zu ziehen und einen parlamentarischen Ausschuss zur Verteidigung zu gründen. Jelačić war
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gerade noch fünfundsechzig Kilometer von Budapest entfernt, während die Leute vor der Stadt Befestigungsgräben aushoben. Da trat Palatin Stephan zurück und fuhr am 23. September nach Wien. In diesem Augenblick war Ungarn zwar nicht nach dem Gesetz, aber in der Praxis völlig unabhängig. Kossuth reiste nun in die Große Ungarische Tiefebene und warb Rekruten an – »einem Geist gleich, der die Menschen aus ihrem Todestraum erweckt«, wie ein ehrfurchtsvoller Radikaler schrieb. Wieder in Budapest konnte er vermelden, dass 12 000 Freiwillige auf dem Weg seien, den ungarischen Farben zu folgen.81 An diesem Punkt zeigte die österreichische Regierung eine, wie sie meinte, versöhnliche Geste, indem sie am 25. September Franz Philipp Graf von Lamberg zum königlichen Kommissar und Oberbefehlshaber aller Truppen in Ungarn bestellte. Lamberg war zwar ein Konservativer, aber kein Reaktionär, er war ein Ungar, der sich Batthyánys Achtung erworben und 1847/48 am ungarischen Reformlandtag mitgewirkt hatte. Man hoffte, dass er einen Waffenstillstand zu vermitteln in der Lage sei. Es mutet seltsam an, aber das kaiserliche Ministerium wollte just in dem Moment, als es so aussah, als würde Jelačić Budapest einnehmen, die Kampfhandlungen aussetzen. Dies geschah womöglich, weil moderate Minister wie Wessenberg fürchteten, dass ein Sieg Jelačićs einen weiteren Aufstand der Radikalen in Wien provoziere oder Reaktionäre wie Latour noch härter durchgriffen – oder vielleicht beides. Wessenberg mochte wenig Sympathie für die Wiener Radikalen haben, aber als Minister, der hinter der Verfassung stand, wollte er wenigstens ein paar der politischen Errungenschaften von 1848 gesichert wissen. Am 21. September beklagte er sich gegenüber Ferdinand, dass ein Sieg von Jelačić »die constitutionellen Freiheiten« gefährde.82 Leider betrachteten die Ungarn Lambergs Berufung nicht als Friedensangebot, und das nicht zuletzt deshalb, weil die österreichische Regierung zugleich den konservativen Reformanhänger Baron Miklós Vay zum Ministerpräsidenten ernannte. Allerdings waren in Übereinstimmung mit den Aprilgesetzen beide Berufungen nicht rechtens, da sie nicht von der ungarischen Regierung in Budapest anerkannt worden waren. Am 27. September schlug das ungarische Parlament daher mit einer Resolution zurück, in der es seine Entschlossenheit bekundete, die Verfassung zu erhalten. Als Lamberg am nächsten Tag in Budapest ankam, entdeckten Arbeiter, Studenten und Soldaten seine Kutsche beim Überqueren der Pontonbrücke. Sie zerrten ihn heraus, prügelten und stachen so lange auf ihn ein, bis er tot war. Nur das spätere Eintreffen der Nati-
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onalgarde hinderte den Pöbel daran, seinen zerschundenen und leblosen Körper aufzuhängen.83 Die Kunde dieses schrecklichen Mordes brachte natürlich die Schlichtungsversuche der österreichischen Moderaten in Misskredit spielte den Reaktionären unmittelbar in die Hände, die jetzt wild entschlossen waren, Jelačić zu folgen und die ungarische Revolution mit Gewalt zu zerschlagen. Am 3. Oktober wurde Ungarn der Krieg erklärt. Selbst jetzt noch versuchte Batthyány, Frieden zu schließen. Nach der Rückkehr von einem Besuch bei der Armee, die schon den Kroaten gegenüberstand, eilte er nach Wien, um ein letztes Mal um Aussöhnung zu bitten, doch er wurde kühl empfangen. In Abwesenheit einer ordnungsgemäßen Regierung nahm das ungarische Parlament die Zügel in die Hand. Den Ausschuss zur Landesverteidigung wandelte es in eine Notstandsregierung mit Kossuth als Präsidenten um. Doch als die Radikalen an die Macht kamen, teilten sie diese ganz bewusst mit den Gemäßigten. Die Mitgliederzahl des Ausschusses wurde von sechs auf zwölf verdoppelt, wobei alle neuen Mitglieder der Magnatentafel des Parlaments und Batthyánys früherem Kabinett entstammten. Dass die ungarischen Radikalen – anders als viele ihrer europäischen Pendants – sich so entgegenkommend zeigten (auch wenn in einem Artikel des Fünfzehnten März nach Galgen und Guillotine für »Verräter« gerufen wurde), lässt sich in vierfacher Hinsicht erklären. Erstens wollten sie beweisen, dass die Sonderregierung nicht nur im Interesse einer Minderheit von Radikalen arbeitete, sondern tatsächlich eine nationale Exekutive darstellte. Zweitens hatten die Radikalen ein Interesse daran, die Verfassung zu verteidigen: Denn sollte sie zerstört werden, konnte auch ihre Vision von einem demokratischen Ungarn schwerlich überleben.84 Drittens zählte die Gesellschaft für Gleichheit landesweit nur tausend Mitglieder, und die Wahlen in jenem Sommer hatten gezeigt, dass sie keine Massenbasis hatte. Sollte sie in Budapest allein regieren, hätte sie kein Mehrheitsmandat und würde schon dadurch einen Bürgerkrieg riskieren – und das in dem Moment, als Ungarn einer Invasion entgegensah. Viertens hatte sich die militärische Situation, gerade als die Radikalen ihre politische Vormachtstellung aufgaben, zum Besseren gewendet, da die ungarische Armee sich endlich in dem Dorf Pákozd zur Wehr gesetzt und Jelačić besiegt hatte. Die Radikalen wollten die nationale Einheit, die sich jetzt herausgebildet hatte, nicht wieder gefährden. Darüber hinaus waren sie voll und ganz damit beschäftigt, Ungarn gegen eine Invasion zu wappnen: Fast die gesamte Führungsmannschaft der Radikalen, darunter Petöfi und Vasari, die beide im Kampf fallen sollten, schloss sich den Honvéd-Einheiten an, während das Par-
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lament die Kriegsvorbereitungen unterstützte. Somit führte die ungarische Septemberkrise nicht zum Ausbruch einer von den Radikalen provozierten Revolution. Vielmehr hatte das Parlament eine Notstandsregierung einberufen, in der auch Radikale saßen. Deshalb beschrieb István Deák die Ereignisse des Jahres 1848/49 in Ungarn als »rechtmäßige Revolution«.85 Auch bewirkte die Krise nicht, dass die Gemäßigten wie andernorts vom politischen Zentrum weg, und hin zu den restaurativen Kräften strömten. Einer der Gründe dafür war sozialer Natur: Während die besitzenden Eliten in fast allen europäischen Ländern konservativ oder gemäßigt waren, stammten sowohl ungarische Liberale wie auch Radikale gleichermaßen aus dem Magnaten- oder Landadel. Die nationale Sache ging bei ihnen Hand in Hand mit der Stärkung ihres politischen Einflusses, was bedeutete, dass selbst relativ konservative Reformbefürworter wie Széchenyi vom revolutionären Sturm mitgerissen wurden. Darüber hinaus hatten die ungarischen Adeligen von einer Gegenrevolution viel zu befürchten, da weniger Handwerker und Arbeiter gegen die Armut aufzubegehren drohten als vielmehr die Bauern, die dem Kaiser treu ergeben waren. So kam es, dass Karl Graf zu Leinigen-Westerburg, ein gemäßigter deutscher Liberaler und Magnat mit großen Besitztümern in der Woiwodina und im Banat, keine Schwierigkeiten hatte, der ungarischen Revolution sein Schwert anzubieten, waren doch serbische Rebellen in seine Ländereien eingefallen und hatten seine Felder abgebrannt.86 Nicht zuletzt weil er die Ordnung in seiner Provinz wiederhergestellt sehen wollte, stand er – geboren und aufgewachsen in Deutschland – den Habsburgern bald feindlich gegenüber, sah sie als übles Hindernis auf dem Weg zu einem föderativen deutschen Staat. Darüber hinaus war er seiner neuen Heimat verbunden (seine Frau Lisa war Ungarin): »Zum Teufel mit den hehren Zielen. Lieber soll mir sonst was geschehen, als dass ich Räubern die Hände reiche, um gegen ein Land Krieg zu führen, das bis heute friedlich war. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich die Machenschaften der Hofpartei verabscheue, und wie lächerlich dieser Jelasich [Jelačić], der es für so leicht hält, ein Napoleon zu sein, in meinen Augen ist! … Die Würfel sind gefallen; mein Schicksal ist dem Ungarns verbunden … Gott kann eine gute Sache nicht im Stich lassen.«87 So führten also ganz unterschiedliche Umstände und Motive dazu, dass nicht alle Adeligen sich der Revolution anschlossen. Der Krieg spaltete die Familien: Leiningens Cousin Christian befehligte ein Bataillon der Festung Temeswar
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(rumänisch Timeşoara). Gemeinsam mit seinen Mitoffizieren war er für Habsburg und gegen die Revolution, stachelte serbische und rumänische Bauern gegen die Magyaren auf. Der Radikale Graf László Teleki, Bruder von Ádám Teleki, dem konservativen General, reichte lieber seine Demission ein, als gegen Jelačić zu kämpfen. Am Tag nach der Ermordung Latours kam es zwischen den Ungarn unter General János Móga und den Kroaten zu Kämpfen. Jelačićs Truppen waren geschwächt, da deren Plünderungen – und vielleicht auch die revolutionäre patriotische Propaganda der Ungarn – die Bauern gegen sie aufgebracht hatten. Kleine Scharmützel brachen aus, vorzugsweise im Rücken der kroatischen Armee, die aber zahlenmäßig noch immer überlegen war. Dennoch wurde sie am 29. September bei Pákozd, nur knapp 50 Kilometer von Budapest entfernt, geschlagen. Weiter im Osten, bei Ozora, kapitulierte am 7. Oktober eine halbverhungerte und verdreckte kroatische Armee, die ebenfalls gegen Budapest vorrückte, gegenüber den Ungarn. Unmittelbar nach Pákozd hatte Jelačić um einen dreitägigen Waffenstillstand gebeten, den er dazu nutzte, seine erschöpften Truppen in Richtung Wien abzuziehen, um, wie er behauptete, dem habsburgischen Hof zu Hilfe zu kommen. Während er sich der Stadt näherte, erreichten ihn am 8. Oktober die Nachrichten vom Aufstand der Radikalen, was seine Entscheidung im Nachhinein rechtfertigte. Zwei Tage später stand er vor den Toren Wiens, wo er auf die Ankunft von Windischgrätz’ Soldaten, die aus Prag anmarschiert kamen, wartete. Knapp drei Wochen später wurden die Ungarn in Schwechat besiegt. Angesichts dieser Krise führte nun der Ausschuss für Landesverteidigung seine neue Macht ins Feld und mobilisierte alles, was möglich war, sodass Ungarn den österreichischen Gegenangriff gerade eben überstehen konnte. Dieser war nicht von österreichischem Boden, sondern von Siebenbürgen aus gestartet worden. Dort hatte General Anton von Puchner, der Kommandeur der kaiserlichen Truppen in der Provinz, den rumänischen Nationalisten den entscheidenden Wink gegeben und ihnen erlaubt – wobei er sorgsam jeden Hinweis darauf vermied, dass er die rumänische Unabhängigkeit befürworte –, Ende September einen zweiten großen Kongress in Blaj abzuhalten. Als ihn wenige Tage später die Nachricht von der österreichischen Kriegserklärung erreichte, meinte er, dass es an der Zeit sei, gegen die magyarische Obrigkeit in Siebenbürgen loszuschlagen und im Namen des Kaisers die Exekutivgewalt zu übernehmen. Indem er den Ausschuss in Budapest für unrechtmäßig erklärte, rief er alle loyalen Siebenbürger auf, »sich bis zum letzten Mann zu erheben,
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einer für alle und alle für einen«. Daraufhin erklärte die Minderheit der ungarischen Szekler trotzig ihre Loyalität gegenüber Ungarn, und am 18. September sollten rund 30 000 Mann, darunter die Grenzregimenter, zu den Waffen greifen. Unter den rumänischen Bauern, die bislang ablehnend auf die Versuche ungarischer Beamter reagiert hatten, sie für die Honvéd-Bataillone anzuwerben, stießen Puchners Appelle nun auf Begeisterung. Auch die rumänischen Revolutionäre stärkten Puchner den Rücken: Durch den ungarischen Nationalismus ohnehin brüskiert, setzten sie, was Österreichs Hilfe anging, die größten Hoffnungen auf eine gewisse Anerkennung der rumänischen Ansprüche. Bald schon tobte der Bauernaufstand in ganz Siebenbürgen: Dorfbewohner stöberten ungarische und deutsche Gutsherren oder Regierungsbeamte auf und brachten sie um. Im Gegenzug veranstalteten Szekler- und Honvéd-Einheiten Massenexekutionen unter den Bauern. Hunderte von Dörfern wurden dem Erdboden gleichgemacht.88 Dieser grausame Konflikt sollte sich als einer der längsten und blutigsten aller ethnischen Spannungen der Jahre 1848/49 erweisen, 40 000 Menschen fanden den Tod und 230 Dörfer gingen in Flammen auf.89 Leiningen befand sich bei einer ungarischen Einheit, die gegen Temeswar marschierte, nachdem sie eine Gruppe Bauern, die gegen Ungarn gekämpft hatte, vertrieben hatten. In seinem Zeugnis mischen sich Abscheu und ethnisch motivierter Hass, die auf beiden Seiten zu finden waren: »Dann begann eine Tätigkeit, die mich mit Abscheu erfüllte. In wenigen Augenblicken stand das Dorf an mehreren Stellen in Flammen, und die Männer begannen zu plündern und begingen verschiedene andere Verstöße. Wir hatten die größten Schwierigkeiten, die Flammen unter Kontrolle zu bekommen. Doch diese niederträchtigen Walachen [Rumänen] verdienten die Strafe, die ihnen widerfuhr, denn sie drohen die armen Ungarn, die unter ihnen leben, täglich zu ermorden. Als ich langsam aus dem Dorf zurückritt, brachte ein Offizier 30 Dorfbewohner, wahrlich jämmerliche Kerle! Sobald sie bei mir angelangt waren, rief der Offizier ihnen auf Walachisch (wie man mir später sagte) zu: ›Auf die Knie vor dem Herren! Küsst den Staub auf den Hufen seines Pferdes!‹ Angewidert von diesem Anblick warf ich dem Offizier einen verächtlichen Blick zu und ritt davon.«90 Bis Ende November waren Puchners kaiserliche Truppen und die rumänischen Freiwilligen über ganz Siebenbürgen ausgeschwärmt, nur ein paar wenige
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Nischen hartnäckigen magyarischen Widerstands hielten stand. Als sie in Ungarn selbst einfielen, stieß Puchner auf eine eilig zusammengestellte ungarische Armee unter dem polnischen Exilgeneral Józef Bem, der im Oktober in Wien gekämpft hatte und bei der Einnahme der Stadt durch Windischgrätz geflohen war. Bem gelang es, die österreichisch-rumänischen Soldaten hinauszudrängen und bis Ende Januar den größten Teil von Siebenbürgen zurückzuerobern. Die kaiserlichen Truppen hielten an Hermannstadt und Kronstadt fest, doch Bems Triumph sicherte Ungarns östliche Front, als im Westen der Hauptangriff der Österreicher erfolgte. Die Rumänen ihrerseits wogen jetzt das Für und Wider ab, sich russischer Hilfe zu bedienen. Auf Puchners Drängen hin sandte der rumänische Nationalausschuss den Metropoliten Andreiu Şaguna nach Bukarest, wo er mit dem Oberbefehlshaber der russischen Armee, die die Walachei besetzt hielt, zusammentraf. Der General weigerte sich, ohne die Zustimmung des Zaren russische Unterstützung zuzusagen, weshalb der Geistliche einen neuen Kurs einschlug und zum Kaiser reiste, dessen Hof noch immer in Olmütz Zuflucht suchte. Dort stellte Şaguna ein neues, bescheidenes Nationalprogramm der Rumänen vor – genau genommen wurde darin ein autonomes siebenbürgisches Herzogtum gefordert –, doch selbst das stieß bei einem Hof, der sich jetzt fest im Griff des gegenrevolutionären Furors befand, auf taube Ohren.91 Grausame ethnische Konflikte gab es außer in Siebenbürgen noch in der benachbarten Woiwodina und im Banat, wo sich serbische (oder auch »raszische«) Bauern im Sommer gegen Ungarn und Deutsche erhoben hatten. Im Oktober hatte Leiningen über seinen Schwager Leopold (»Poldi«) erfahren, dass »die Wut der Magyaren […] schrecklich« war, nachdem die Serben vor Bečej (dessen Einwohner sich den Rebellen angeschlossen hatten) vertrieben worden waren: »Stunden lang war jede Ordnung ausgesetzt; und dann folgte ein fürchterliches Gemetzel. Poldi schätzt die Zahl der Massakrierten auf 250 bis 300. Der Gedanke daran ist entsetzlich! Das nenne ich wahrlich einen Ausrottungskrieg.«92 Später, als im November bereits der kalte Winter einsetzte, wurde immer wieder an den ethnischen Konflikt gemahnt: »Jeden Tag kommen bei unseren Außenposten Karren mit Rasziern (meist Frauen und Kinder) an; und die erbärmlichen Gestalten betteln und flehen, gefangen genommen zu werden, denn im raszischen Lager zu bleiben, bedeutet den Hungertod. Blass, zu bloßen Skeletten abgemagert, bitten sie die Soldaten um ein Stück Brot, das sie hinunterschlin-
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gen, so wie ausgehungerte Wölfe es machen. Das Militär bietet diesen armen Flüchtlingen Asyl; doch die Zivilbehörden würden sie am liebsten vernichten, wenn sie könnten. Unzählige Raszier wurden gehängt; drei wurden heute hingerichtet. Es ist nicht an mir zu entscheiden, ob das die beste Methode ist, sie zu bezwingen; was mich betrifft, so ist mir allein schon der Anblick solcher Maßnahmen widerlich.«93 Im Laufe des Winters wurde ein Dorf nach dem anderen, das die Ungarn einnahmen, in Brand gesetzt. Es ist unklar, ob man diese Gewalttaten der offiziellen Politik zuschreiben kann, da es so aussieht, als hätten die Soldaten beim Betreten der Siedlungen spontan, aus Wut und Hass heraus, gehandelt. In einem Winterfeldzug, der von Mitte Dezember bis in den späten Februar hinein dauerte, verfolgten die Ungarn die Serben gnadenlos. Leiningen indessen war geneigt, das Niederbrennen der Dörfer dort zu rechtfertigen, wo sich wie in Ilandza die Serben angeblich gegen ihre Nachbarn gewandt und die ungarischen Siedlungsgebiete entvölkert hatten, oder wo sich die Serben als »Verräter« gezeigt hatten wie in Jarkowatz, das die Ungarn willkommen hieß, bevor man sie in die Todesfalle der Musketen lockte.94 Das hier war ein ethnischer Konflikt der übelsten Sorte. Mögen die Ungarn die rebellischen ethnischen Minderheiten einer brutalen Rechtsprechung unterzogen haben, im Aufhalten des österreichischen Hauptangriffes unter Windischgrätz, dessen kaiserliche Truppen Mitte Dezember einmarschierten, waren sie weniger erfolgreich. Mithilfe des amerikanischen Gesandten in Wien, Wilhelm Stiles, hatte Kossuth den Winter über versucht, einen Waffenstillstand herbeizuführen. Der Amerikaner traf am 3. Dezember auf Schwarzenberg, doch laut Stiles war die kaiserliche Regierung jetzt im »stolzen Bewusstsein der Stärke«, und so wies Schwarzenberg Kossuths Vorschlag selbstbewusst zurück. Eine Woche später bat Kossuth Stiles, seinen Einfluss auf Windischgrätz geltend zu machen, doch der Feldmarschall beschied dem Amerikaner barsch: »Ich kann mit Leuten, die rebellieren, nicht verhandeln.« Stiles fiel auf, dass der neue Kaiser, der junge Franz Joseph, der den Thron erst am 2. Dezember von Ferdinand übernommen hatte, die gleiche neue Selbstsicherheit an den Tag legte wie der Rest der Regierung, sicherlich bedingt durch die Siege von Prag und Wien. Doch der Diplomat bemerkte auch finster, dass diese nur gegen »seine eigenen Untertanen« errungen wurden, »undiszipliniert und schlecht bewaffnet, wie sie waren«.95 Ungarn, schloss er, würde ein ganz anderer Fall sein. Und so war es auch.
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Der neue ungarische Oberkommandeur hieß Arthur Görgey. Der war gerade einmal dreißig Jahre, hatte aber Kossuth bewiesen, dass er ein ausgezeichneter Taktiker und Stratege war, als er bei Ozora den Einschluss der kroatischen Truppen maßgeblich erwirkt hatte und als einer der wenigen Kommandeure mit einem gewissen Ansehen aus dem Desaster von Schwechat hervorgegangen war. Er stammte aus verarmtem Landadel in Nordungarn und hatte sich im Alter von neunzehn Jahren einer Karriere in der kaiserlichen Armee verschrieben. Weil er nicht vermögend war, musste er früh kämpfen, um so leben zu können, wie es von einem Offizier erwartet wurde. (In den ersten Jahren seiner Laufbahn bestand sein Frühstück aus einem Stück Brot, ein Abendessen gab es für ihn nicht.) Weil er zu arm war, war es ihm außerdem nicht erlaubt zu heiraten. Enttäuscht quittierte Görgey seinen Dienst und machte ein Diplom in Chemie (seinem großen akademischen Interessengebiet), doch 1848 schrieb er sich begeistert in einem der neuen Honvéd-Bataillone ein, wo er den Rang eines Hauptmanns erhielt. Schon seine äußere Erscheinung unterschied ihn von seinen bärtigen Mitoffizieren. Leiningen, der ihn bewunderte, schrieb von einem »ovalen Gesicht, mit einer hohen, edlen Stirn, blauen Augen mit ernsthaftem Ausdruck − doch manchmal fröhlich und sogar schalkhaft … sein Oberlippen- und Backenbart sind nicht eben dicht und kurz geschnitten, ebenso seine Haare; sein Kinn ist bartlos«.96 Sein steiler Aufstieg begann im Sommer, als Batthyány, der sich der ungarischen Munitionsknappheit sehr wohl bewusst war, ihm auftrug, im Ausland Munition zu kaufen und die Herstellung von Zündhütchen zu erlernen – eine Kunstfertigkeit, die er ironischerweise in der kaiserlichen Feuerwerksanstalt in Wien-Neustadt studierte.97 Als Jelačić angriff, war er bereits Major, denn seine Klugheit und Entschlossenheit hatten seine Beförderung beschleunigt. Schon früh im Krieg hatte er bewiesen, dass er unerbittlich war, als er einen konservativen ungarischen Magnaten, den Grafen Eugene Zichy, wegen Verrates hängen ließ, nachdem sich bei dessen Gefangennahme herausgestellt hatte, dass er Exemplare von Jelačićs Proklamation bei sich trug.98 Darüber hinaus wies Görgey öffentlich den Waffenstillstand zurück, den Jelačić nach seiner Niederlage bei Pákozd mit den Ungarn geschlossen hatte.99 Auf lange Sicht sollte sich seine Politik allerdings als problematisch erweisen. Er war ein gemäßigter Befürworter des Verfassungsprinzips, der hoffte, dass alles Kämpfen ein Ende finde, sobald der Kaiser die Aprilgesetze anerkennen und Ungarn wieder als autonomes Königreich ins Habsburgerreich aufnehmen würde. Anders als Kossuth setzte er nicht auf einen »Volkskrieg«, sondern auf ein gut ausgebildetes Berufs-
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heer. Diese Unterschiede sollten schließlich zu einem politischen Konflikt zwischen den beiden Männern führen, der Görgeys Ruf über Generationen hinweg befleckte.100 Doch zunächst konnte selbst Görgeys Mut und Genius mit nur 30 000 Mann und 80 Geschützen gegen 52 000 Österreicher mit 210 Kanonen nichts gegen Windischgrätz’ unaufhaltsamen Vormarsch die Donau hinunter ausrichten. Görgey zog seine Truppen langsam zurück, focht ein paar Hinhaltegefechte, beklagte sich aber auch über Behinderung durch Zivilisten sowie Vorrats- und Materialmangel. Die Truppen waren in bedauernswertem Zustand: Beim Rückzug aus Österreich hatte das Heer sein Leinenzeug verloren, weshalb die Soldaten verlaust waren, und wenn sie ihre Unterwäsche waschen wollten, mussten sie »tagelang den Mantel auf nacktem Leibe tragen«,101 was im bitterkalten Winter nicht einfach war. Kossuth (der sich bald energisch um eine angemessene Versorgung der Armee bemühte) rächte sich mit der Behauptung, Görgey sei nicht bereit, durchzuhalten und zu kämpfen: Es brauche eine Schlacht, und sei es nur um der Moral willen. Damit steckte der Heereskommandeur in dem klassischen Zwiespalt zwischen militärischen und politischen Geboten.102 Doch am Ende interpretierte Görgey die militärische Lage richtig: Da Komorn, donauaufwärts von Budapest gelegen, gegen die Österreicher standhielt, rechnete er sich aus, dass Windischgrätz bei seiner Ankunft vor der ungarischen Hauptstadt an seine Nachschublinien denken und darum nur ungern weiter vorrücken würde. Aus diesem Grund konnte sich Görgey zurückziehen und seine Soldaten zum Gegenangriff aufstellen. Zugleich war ihm bewusst, dass sein Kommando über die Armee eine politische Waffe war, mit der er, wenn seine militärische Strategie aufgehen sollte, die Regierung zwingen konnte, die Anerkennung der Aprilgesetze durch den Kaiser zu verhandeln. Doch seine militärischen Pläne stellten die Politiker nicht zufrieden, und so schickten sie Ende des Monats General Perczel (den Sieger von Ozora) mit einer kleinen Einheit an die Front, um sich mit Windischgrätz ein Gefecht zu liefern. Perczels 6000 Mann starke Armee wurde vernichtend geschlagen. Jetzt war Budapest ungeschützt (da Görgey entschlossen war, sich weiter nach Ungarn zurückzuziehen), weshalb Kossuth am 31. Dezember sowohl den Ausschuss zur Landesverteidigung als auch die Nationalversammlung (in der sich eine große Friedenspartei gebildet hatte) dazu bewegen konnten, nach Debreczin, weit ins östliche Ungarn hinein, umzuziehen. Darüber hinaus wurde am 3. Januar eine Delegation unter der Führung von Batthyány zu Windischgrätz
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entsandt, um die Konditionen zu besprechen, doch der Feldmarschall bestand auf nicht weniger als bedingungsloser Kapitulation. Batthyány durfte zwar zurück in sein Budapester Palais, doch als dieses zwei Tage später den Österreichern in die Hände fiel, wurde er auf Windischgrätz’ Befehl hin arretiert. Zu diesem Zeitpunkt hatten Kossuth, das Komitee zur Landesverteidigung, Parlament und Schatzkammer die Hauptstadt verlassen. Angesichts der frostigen Temperaturen leistete die neue Eisenbahn schlechte Dienste, weshalb, wer konnte, zu Fuß weiterreiste oder sich in Bauerngespanne drückte und die Straße nach Debreczin entlangholperte – über 220 Kilometer weit nach Osten.103 Dort nun, in einem kleinen Provinznest ohne Straßenbeleuchtung, Gehwege oder Kanalisation, wo Rinder durch die Straßen wanderten, harrte die politische Führung des freiheitlichen Ungarn aus.
V Während Habsburg und seine Verbündeten die Daumenschrauben der Ungarn fester zogen, versuchte man auch das Widerstandsnest Norditaliens zu schwächen: Venedig. Im Februar 1849 schrieb Schwarzenberg: »Solange die revolutionäre Regierung in Venedig noch immer als lebendes Symbol für den subversiven Geist steht, der Italien aufwiegelt, … ist auf der übrigen Halbinsel nicht an Ordnung zu denken«.104 Nach wie vor leistete die Stadt erheblichen Widerstand, war sie doch alles andere als von einer österreichischen Seeblockade abgeschottet. Das lag daran, dass die österreichische Flotte, die in Pula und Triest stationiert war, wenige seetüchtige Schiffe besaß und Zweifel an der Loyalität ihrer großenteils italienischen Besatzungen bestanden. Überdies erforderten die Strömungen, Sandbänke und Kanäle in der Lagune genaue Ortskenntnisse, was den Venezianern natürlich einen Vorteil bot. Die Österreicher konnten daher die Eingänge zur Lagune nur locker bewachen. Die Schwäche der österreichischen Marinepräsenz verleitete allerdings das venezianische Marinekommando, kaum etwas zur Verstärkung der Flotte zu unternehmen, etwa indem es weitere Schiffe mit Waffen ausgerüstet hätte (die Österreicher hatten bei Ausbruch der Revolution ihre eigenen Schiffe schnell nach Triest verschwinden lassen). Erst durch die Rückkehr der piemontesischen Flotte erhielten die Seestreitkräfte der Venezianer Verstärkung. Doch es war auch gefährlich, sich bei der Bewachung der Lagune auf andere zu verlassen, und die offensichtliche Schwäche der Regierung verschaffte der mazzini-
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anischen Opposition innerhalb des Italienischen Klubs Argumente, mit denen sie ihre vehementen Angriffe gegen Manin und seine Mitstreiter führen konnte. Landeinwärts waren die Venezianer besser aufgestellt. Anfang Oktober hatten die Österreicher auf dem Papier 21 000 Soldaten, in Wirklichkeit aber war ein Drittel von ihnen an Malaria erkrankt. Die Venezianer hielten inzwischen beide Seiten der Eisenbahnbrücke. Pepes neapolitanische Soldaten arbeiteten als harter Kern, bildeten vor allem die venezianischen Rekruten aus, beaufsichtigten die Artillerie oder den Bau neuer Verteidigungsanlagen. Die Regierung hatte unablässig Vorräte gebildet, und so gab es keinen Mangel an Munition, da die Stadt die Kontrolle über das Zeughaus besaß. Heikler war indessen die finanzielle Situation: Die Soldaten und Arsenalarbeiter mussten bezahlt werden, und im Laufe des Sommers hatte das Regierungstrio Zwangsanleihen ausgegeben und zur Überbrückung Schmuck eingesammelt. Um die Belagerung zu überstehen, wurden aber weitere Geldmittel benötigt, weshalb neue Steuern auf Tabak und Bier erhoben wurden. Man stieß Anteile der Eisenbahnlinie Mailand–Venedig ab und nahm neue Kredite auf – mit Venedigs Kunstwerken und historischen Gebäuden als Sicherheit (zum Glück zahlten die reichsten Bürger nach dem Krieg die Schulden ab und retteten so die Schätze für die Stadt). Im Juli wurde eine Sparkasse gegründet, die eine eigene Währung – »patriotisches« Geld – ausgab. Und auch die Geistlichkeit, noch immer von Pater Gavazzi und Ugo Bassi inspiriert, stärkte den venezianischen Widerstandsgeist und rief zu Spenden auf. Pepe spendete seinen Lohn. Darüber hinaus schenkte er den Venezianern einen beachtenswerten, wenn auch kurzlebigen Sieg: Am 27. Oktober unternahm eine dreitausend Mann starke italienische Streitmacht unter der persönlichen Führung von Pepe und Giovanni Cavedalis (einem von Manins Gefährten aus dem Führungstrio) einen Ausfall aus der Festung Maghera. Aus dem dichten Morgennebel auftauchend, stachen sie mit ihren Bajonetten auf die österreichischen Kanoniere ein, die die Straße bewachten, bevor sie die Verteidiger von Mestre überraschten und überwältigen konnten. Auch wenn der Nahkampf hart war – die Verluste beliefen sich beiderseits auf 444 Tote und Verletzte –, gewannen die Italiener die Oberhand und nahmen 500 Österreicher gefangen. Die Stadt konnten sie zwar nicht halten, aber dem österreichischen Marschall Welden war nur allzu bewusst, dass es keine leichte Aufgabe sein würde, das Verteidigungssystem Venedigs mit vierundfünfzig Festungen und achteckigen Geschützstellungen einzunehmen.105
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Im Herbst 1848 konnte sich Venedig in militärischer Hinsicht auf keinen anderen Staat Italiens verlassen: Der österreichisch-piemontesische Waffenstillstand hielt (gerade so), während sich der Kirchenstaat und Neapel aus dem Konflikt zurückgezogen hatten. Die Rettung konnte nur noch im Eingreifen des Auslands liegen, sei es diplomatischer oder militärischer Natur. Als im Oktober der Krieg zwischen Ungarn und Österreich ausbrach, begrüßten die Venezianer die Ungarn als Verbündete, doch Letztere kämpften um ihr eigenes Überleben. Manin hatte seine Hoffnungen ganz pragmatisch auf eine französische Invasion und eine Vermittlung durch die Engländer gesetzt, um so die Unabhängigkeit der Stadt zu gewährleisten. Kurz nachdem er im August an die Macht gelangt war, hatte er Niccolò Tommaseo losgeschickt, um sich Frankreichs Hilfe zu versichern, und einen Brief an den französischen Außenminister Jules Bastide geschrieben, in dem er poetisch darlegte, dass »das Leben eines Volkes, das nicht wenig zur europäischen Kultur beigetragen hat, jetzt von der sofortigen Hilfe der heroischen französischen Nation abhängt«.106 Nach dem Desaster von Custoza waren die Franzosen bereits nahe daran gewesen, einzugreifen, denn die Aussicht, dass die Österreicher Piemont überrennen und Radetzky damit unmittelbar an die französische Grenze gelangen würde, beunruhigte sie ernstlich. Allerdings wusste die französische Regierung nur allzu gut, dass der Ausbruch eines Krieges den französischen Radikalen, die noch immer ihre Wunden aus den Junitagen leckten, einen Adrenalinstoß verpassen würde. Bastide hatte deshalb im Juli versucht, ein Ende des Krieges in Italien herbeizuführen. Zu seinen Vorschlägen gehörten eine frankobritische Vermittlung, die Annexion der Lombardei durch Piemont und der Verbleib von Venedig unter österreichischer Herrschaft, wenn auch mit einer gewissen Autonomie. Diese Lösung war für Manin wie für Tommaseo schwerlich zu akzeptieren, und die österreichische Regierung fühlte sich ohnehin stark genug, um sich dem Verhandlungsdruck zu entziehen und stattdessen einen direkten Sieg in Italien anzustreben. Die Ablehnung einer frankobritischen Vermittlung provozierte indessen eine Kabinettskrise in Paris, bei der die Hälfte der Minister eine Intervention und die andere Hälfte Frieden favorisierte. General Cavaignac fiel die entscheidende Stimme zu, und am Ende entschied er sich für den Frieden. Manins Hoffnungen auf eine Rettung durch die Franzosen waren damit durch eine einzige Stimme in Paris zerschlagen worden.107 Mittlerweile sah er sich an der Heimatfront herausgefordert, diesmal durch den italienischen Klub, den Anhänger Mazzinis gegründet hatten. Im Oktober geißelten der Klub und die radikale Presse die Regierung dafür, den Krieg nicht
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energisch genug vorangetrieben zu haben. Für Manin lag die Gefahr darin, dass die strategisch bedeutsame Kohorte der nicht venezianischen Soldaten, die weder der Stadt noch Manin gegenüber besondere Loyalität verspürte, zunehmend in den Dunstkreis des Klubs gezogen wurde. Gleichzeitig wurden konservative Anhänger des Triumvirats durch den wachsenden Einfluss des Klubs aufgeschreckt und fürchteten, wie ein Adeliger es ausdrückte, dass unter den Leuten, »insbesondere unter den ungebildeten«, »neue Ideen« ausgestreut würden, »Ideen, die schlimmer sind als die der roten Republikaner«.108 Manin hatte allerdings zwei Trümpfe in der Hand: Zum einen wusste er im Falle eines Straßenkampfes die Mehrheit seiner geliebten Venezianer hinter sich, zum anderen General Pepe. Somit war ein Blutbad auszuschließen, als Manin gegen die Opposition vorging. Am 2. Oktober wurden die Führer des italienischen Klubs gefangen genommen und abgeschoben, den Soldaten der Beitritt zu einer politischen Organisation untersagt. Zudem sollte am 11. Oktober die venezianische Versammlung zusammentreten, um neue Wahlgesetze zu verabschieden, die besagten, dass das große nicht venezianische Kontingent, das die Stadt verteidigte, wahlberechtigt sei. Das mazzinianische Drängen auf einen energischen »Volkskrieg« gegen Österreich war mittlerweile entschärft worden.109 Wie schon in Ungarn machte die Gefahr eines österreichischen Gegenschlags die Gemüter der amtierenden Regierung gewogen und führte dazu, dass weder die Gemäßigten panisch zu den Konservativen überliefen, noch dass es zu einer zweiten Revolution kam. Auf Rom indessen traf das nicht zu, hier erfuhr die Sache Mazzinis neuen Auftrieb. Ende September hatte Papst Pius IX., der sich gegen die radikalen Massen stemmte, schließlich einen Gemäßigten, Graf Pellegrino Rossi, an die Spitze seiner Regierung berufen. Rossi, Anwalt und Lehrer mit scharfem Verstand und sarkastisch, war ein fähiger Politiker, der über liberale Glaubwürdigkeit verfügte. Bei seiner Ernennung gratulierte ihm denn auch einer der eher fortschrittlich gesinnten Kardinäle scherzhaft mit den Worten: »Mein Herr, ich kenne Sie ausgesprochen gut seit dem Tag, als ihr Bild verbrannt wurde.«110 1848 war er 61 Jahre alt. In früheren Zeiten war er wegen der Unterstützung des napoleonischen Regimes aus Italien ausgewiesen worden. Am Ende hatte er sich in Frankreich niedergelassen, wo er während der Julimonarchie in diplomatische Dienste trat. Als Gesandter in Rom kehrte er in sein Vaterland zurück und gewann das Vertrauen von Pius IX. 1848 drängte er Pius, für die neue Verfassung einzutreten, stellte sich aber gegen jede weitergehende Reform. Rossi hing der Vorstellung eines gemäßigten Italiens an, eines italieni-
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schen Bundes unter Führung des Kirchenstaates. Einer römischen Kriegsbeteiligung widersetzte er sich deshalb nicht nur, weil sie den Nationalen Vorschub leistete, sondern weil er sah, dass sie in einer piemontesischen Expansion enden würde.111 Außerdem fürchtete er, dass eine zweite, eine republikanische Revolution, eine ausländische Militärinvasion und die Besetzung durch Fremdmächte mit sich bringen würde. Rossi stand somit für die Herrschaft des Rechts, wie es in der päpstlichen Verfassung verankert war – das war ihm genug. »In einer konstitutionellen Regierung wie unserer«, erklärte er, wird »letztlich alles in Verwirrung und Unordnung enden, wenn nicht die Meinung und das Tun des ganzen Volkes … dem Gesetz Leben einhauchten.«112 Seine ideale Reform war eine Reform »von oben« – aufoktroyiert von der Regierung und in erster Linie an der Effizienz von Verwaltung und Fiskus orientiert. Bei seinem Amtsantritt trieb er die Verwaltungsreform voran, stellte die Staatsfinanzen auf eine solide Basis und erneuerte Recht und Ordnung. Korrupten Beamten wollte er den Garaus machen, eine Besteuerung einführen, die zu Lasten des Klerus ging, und Eisenbahntrassen und neue Telegrafendienste planen. Seinen Freund General Carlo Zucchi, einen Veteran der Revolution, der unter Napoleon gedient hatte, berief er zum Kommandeur der Armee. Er sollte vor allem die Disziplin wiederherstellen. Mit Piemont und der Toskana begann er Verhandlungen zur Bildung eines italienischen Bundes. Doch das Ziel einer letztlich monarchistischen Föderation und seine entschlossene Verteidigung der Verfassung brachten Rossi den alten Hass der römischen Radikalen ein. Seine Idee eines italienischen Bundes bedeutete ein Hindernis für die Demokraten, die lieber eine costituente* einberufen wollten, ganz wie der toskanische Radikale Montanelli. Gleichzeitig favorisierte Karl Alberts Ministerpräsident Vincenzo Gioberti eine liberale königstreue Variante – diese lehnte jedoch Rossi gleichfalls ab, war sie doch offensichtlich ein Instrument des piemontesischen Einflusses. Beide Strömungen kamen nun zwischen dem 10. und 30. Oktober in Turin zusammen. Mit diesen Alternativen und den vielen Erwartungen an eine costituente war der Weg hin zu einer italienischen Einigung nach wie vor äußerst schwierig.113 Angesichts der Rückschläge und Enttäuschungen des Jahres konzentrierte sich der Unmut der Radikalen auf Rossi, zudem erhielten sie noch Rückhalt durch entlassene Soldaten, die reduci (»Heimkehrer«), sowie neapolitanische Flüchtlinge, die vor der Reaktion im Süden geflohen waren. In den belastenden *
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beiden Wochen vor der ersten Sitzung des römischen Parlamentes am 15. November ertrug Rossi die Anwürfe und Spitzen der radikalen Presse tapfer und stoisch. Ähnlich wie Guizot und Metternich wurde er als einer kritisiert, der dem alten Despotismus Tür und Tor öffnen wolle. Seine Ziele, behauptete Sterbini, der Kopf der Radikalen, später, seien »die Zähmung der Demokratie und die Zerstörung beziehungsweise Aussetzung der nationalen Idee« gewesen; er »verhöhnte den Unabhängigkeitskrieg, verlachte die Idee einer costituente«.114 Rossi erhielt anonyme Drohbriefe, die ihre verletzende Wirkung sicher nicht verfehlt haben, kämpfte doch sein eigener Sohn in der Lombardei gegen Österreich. Am 12. November schlug Rossi mit aller Macht zurück, indem er einige der neapolitanischen Rädelsführer verhaften und deportieren ließ. Was genau danach geschah, liegt im Dunkeln, aber es scheint, dass sich am 13. November eine Verschwörung der Radikalen – möglicherweise mit Sterbini und Cicerruacchios Sohn Luigi Brunetti – nahe der Piazza del Popolo in einer Taverne traf und sich über Möglichkeiten austauschte, Rossi für immer aus dem Weg zu räumen. Nach einem heftigen Wortwechsel wurde offenbar beschlossen, zwei Tage später, bei der Eröffnung des Parlaments, einen Anschlag auf Rossi zu verüben. Schon rechnete man in der ganzen Stadt mit einer machtvollen Geste der Radikalen. Die Ausweisung der Neapolitaner und Rossis Demonstration von Stärke – Kolonnen von Carabinieri zogen durch die Straßen – heizten die Stimmung an. Als Rossi am 15. November gegen Mittag vor dem Parlament ankam und aus seiner Kutsche ausstieg, musste er ein großes Tor des Palazzo della Cancelleria passieren und danach knapp 20 Meter einen Durchgang entlanggehen, der von Zuschauern gesäumt war. Der Polizei waren bereits Grüppchen von reduci, erkennbar an ihren Waffenröcken und blauen Hosen, aufgefallen, die drohend nach ihren Dolchen griffen und lautstark gegen Rossi protestierten. Als Sterbini zehn Minuten zuvor angekommen war, um seinen Platz im Parlament einzunehmen, hatte die Menge ihm zugejubelt; jetzt, da die Kutsche des Ministerpräsidenten vorfuhr, verfiel sie in erwartungsvolles Schweigen. Rossi, dessen Blässe sich von seinem dunkelblauen Mantel abhob, begab sich in den Durchgang. Die Zuschauermenge schloss sich hinter ihm, aber Rossi drängte sich zur Treppe durch, ein trotziges Lächeln auf den Lippen. Gerade als er die ersten Stufen betrat, schlug ihn ein junger Mann leicht in die Seite, Rossi drehte sich um und ein weiterer Attentäter – angeblich Luigi Brunetti – stieß ihm einen Dolch in den Hals, wobei er die Schlagader durchtrennte. Blut floss in Strömen, die Attentäter entkamen, während die anderen reduci nun eben-
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falls ihre Dolche zückten. Rossi, der stark blutete, wurde von seinen Freunden hochgehoben und in ein nahe gelegenes Haus getragen, wo er starb. »In Rom hatte die Ordnung nur noch einen Vertreter, energisch und intelligent«, schrieb der belgische Außenminister, »das war Monsieur Rossi, und genau darum wurde er umgebracht.«115 Die Bemerkung des Diplomaten verriet Weitblick, denn eine verstörte Obrigkeit hatte dieser Welle des Republikanismus, die sich nun in den nächsten Stunden durch die Stadt ergoss, nichts entgegenzusetzen. Das Parlament vertagte seine Sitzung, obwohl der radikal gesinnte Adelige Canino taktlos ausrief: »Was soll das ganze Theater? Ist es der König von Rom, der tot ist?«116 Der Papst im Quirinal empfing die Nachricht von der Ermordung seines Freundes schweigend. Ohne Rossis ordnende Hand war die Disziplin der Carabinieri und die Loyalität der Zivilgarde nicht mehr gewährleistet: Schon begannen Erstere, sich mit den Leuten der Straße zu verbünden, und selbst der Kommandeur der regulären Truppen warnte davor, dass seine Männer Widerstände hätten, auf die Menge zu feuern. Um den Sturm, der sich zusammenbraue, aufzuhalten, müsse Pius ein Kabinett berufen, das zumindest den Krieg gegen Österreich und die costituente befürworte. Die Radikalen forderten mehr: auch die Verfassung müsse überarbeitet werden. Die Regierung, weder in der Lage, sich zu verteidigen, noch bereit, der Opposition nachzugeben, trat zurück. Die Stunde der Republikaner hatte geschlagen – und Sterbini, die Macht der römischen Menge im Rücken, dazu seinen Klub, den circolo populare, war bereit zu handeln. Am Abend marschierte ein Zug aus Klubisten und reduci unter Triumphgesängen den Corso entlang und bejubelte Rossis Mörder als den neuen Brutus. In ungeheurer Grausamkeit blieben sie unter den Fenstern von Rossis Zuhause stehen, schleuderten Hohn und Spott zu seiner Witwe hoch, während sie skandierten: »Gesegnet sei die Hand, die Rossi erdolchte.«117 »Jede Menge abscheulichen Getiers« sei auf den Straßen aufgetaucht.118 Am Nachmittag des folgenden Tages sammelte sich die Menge auf der Piazza del Popolo und marschierte zum Quirinal, um den Forderungen der Radikalen Nachdruck zu verleihen. Der Palast wurde durch einen schwachen Kordon von hundert Soldaten geschützt, bestehend aus einer Kompanie der Schweizergarde, ein paar getreuen Carabinieri und Mitgliedern der elitären Adelsgarde. Um 15 Uhr drängte die Menge gegen die verschlossenen Palasttore, wo zwei unglückselige Schweizer Wachposten gerade noch entkommen konnten. Der Papst war weiterhin couragiert und verweigerte weitere Zugeständnisse, obwohl er dem allgemein beliebten Giuseppe Galletti die Leitung der
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neuen Regierung übergeben hatte. Draußen wurden Demonstranten immer ungeduldiger und schrien: »Ein demokratischer Minister oder eine Republik!« Inzwischen befanden sich etwa 6000 Menschen auf der Piazza, darunter reguläre Soldaten, Zivilgardisten und Carabinieri, die zu den Radikalen übergelaufen waren. Als einige versuchten, einen Seiteneingang zum Quirinal niederzubrennen, fielen die ersten Schüsse: Die Schweizergarde hatte in die Luft gezielt, doch jetzt ging die allgemeine Anspannung in Gewalt über. Die Aufständischen bestiegen nahe gelegene Türme, um zurückzufeuern, und einer der Sekretäre des Papstes wurde getötet, als eine Kugel durch das Fenster seines Arbeitszimmers schlug. Als eine Kanone herangerollt wurde, um das Haupttor in die Luft zu sprengen, ließ sich selbst Pius davon überzeugen, dass die Zeit für Konzessionen gekommen war. Nachdem er den ausländischen Gesandten gegenüber (die sich während des Feuers um ihn versammelt hatten) versichert hatte, unter Zwang zu handeln, bestellte der Papst eine neue Regierung, in der Sterbini, Galletti und Mamiani saßen. Die verfassungsgemäße Regierung löste sich nun auf, das Parlament, in Aufruhr, konnte seine Aufgaben nicht mehr erfüllen. Von den Publikumsrängen her wurden Konservative wie Gemäßigte niedergeschrien, wobei die Abgeordnetenkammer durch Rücktritte und Abwesenheit ohnehin verwaist war. Die Ermordung Rossis zeigte Wirkung. Freunde und politische Verbündete des Papstes besuchten ihn nur heimlich. Der letzte Strohhalm, an den man sich klammerte, war die Veröffentlichung des Kabinettprogramms, das eine Kriegserklärung und die Einberufung der costituente einschloss. Am Abend des 24. November hüllte sich Pius in den Umhang eines einfachen Gemeindepfarrers und stieg in eine Kutsche, die ihn nach zwölfstündiger Reise durch die Nacht in das Königreich Neapel brachte, wo er Zuflucht in der Festung der Küstenstadt Gaeta fand. Seine Flucht machte die Revolution in Rom zu einer internationalen Angelegenheit. Das katholische Europa war entsetzt. Während die Regierung des säkularisierten Frankreich nichts unternahm, bis die Österreicher den Sturz des Papstes zum Anlass für einen Einmarsch in Mittelitalien nahmen, erklärte Spanien im Dezember, dass Pius unter dem Schutz der katholischen Staaten stehe, und forderte zu einem internationalen Kongress auf, der Klärung bringen sollte. Neapel, das den Papst nicht nur theoretisch schützte, stimmte zu. Österreich, das die Gelegenheit sah, der Vision eines vereinten Italien unter päpstlicher Leitung ein Ende zu machen, zeigte bereitwillig sein Einverständnis. Pius seinerseits bestand von seinem Exil aus immer noch auf dem statuto,
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der Verfassung, die er seinen Untertanen gewährt hatte. Doch zunehmend geriet er unter den konservativen Einfluss sowohl der Neapolitaner als auch seines eigenen Gefolges, darunter des obskuren Kardinals Antonelli. Letzterer sah im Zusammenbruch des liberalen, konstitutionellen Experiments in Rom die Chance für die Konservativen. Er rechnete sich aus, dass ein frontaler Zusammenstoß zwischen den Konservativen und den Radikalen mit dem Sieg der Ersteren enden würde, insbesondere wenn sich Pius internationaler Hilfestellung versicherte. In der Folge distanzierte sich der Papst von der neuen Regierung in Rom und appellierte im Dezember an den kürzlich gekrönten Kaiser Franz Joseph, »seinen lieben Sohn«, und bat um Unterstützung.119 Die Revolution in Rom verschaffte den italienischen Radikalen einen neuen Fokus der Aktivitäten. In der Toskana sahen Guerrazzi und Montanelli die Gelegenheit gekommen, den Plan einer demokratischen costituente zu verwirklichen, die jetzt in Rom selbst zusammentreten konnte. Und auch Garibaldi und seine Anhänger zog es Richtung Rom. Seit sie im Sommer in die Schweiz ausgewichen waren, hatten sie eine wahrhafte Odyssee hinter sich gebracht. Garibaldi schlug sich nach Genua durch, wo er offen von den Sizilianern aufgefordert wurde, sie im Kampf gegen die Neapolitaner zu unterstützen. Zusammen mit zweiundsiebzig Gefolgsleuten, überwiegend Offizieren, schiffte er sich auf einem französischen Dampfboot ein und fuhr mit dem Ziel Palermo gen Süden. Doch einer der Zwischenhäfen war Livorno, und dort überzeugten ihn Radikale, dass er in der Toskana ein weites Feld zur Rekrutierung seines republikanischen Heeres finden würde. In der Folge bot Garibaldi Guerrazzi und Montanelli seine Dienste an und schlug in einem Telegramm an sie vor, ein Heer aus toskanischen Freiwilligen gegen den neapolitanischen König zu führen. Die Nachricht endete kurz und bündig: »Ja oder nein, Garibaldi.«120 Die Antwort stellte sich als ein klares Nein heraus. Zum einen war der große Kämpfer in die Irre geführt worden, die ländliche Toskana stand nämlich treu zum Großherzog und war taub für die Schmeicheleien der Republikaner. Zum anderen waren Guerrazzi und Montanelli alles andere als glücklich über Garibaldis plötzliches Auftauchen. Sie mögen Radikale und Guerrazzi ein Demagoge gewesen sein, aber jetzt, da sich beide Männer an der Macht befanden, wollten sie beweisen, dass sie Recht und Ordnung aufrechterhalten konnten. Darüber hinaus war ihr Konzept für eine costituente demokratisch, aber nicht zwangsläufig rein republikanisch. Montanelli führte später aus, dass sie eine verfassunggebende Versammlung anstrebten und »Konstitutionalisten und Republikaner, Föderalisten und Unitaristen« überreden wollten, »sich die Hand
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zu reichen …, um sich gemeinsam der Aufgabe zu widmen, Italien zu befreien«.121 Doch diese Bereitschaft, auch liberale Monarchisten einzubeziehen, stieß bei den kompromisslosen Republikanern wie Mazzini und Garibaldi auf wenig Gegenliebe. Außerdem drohte der Einfluss des Letzteren zu einer Quelle der Instabilität für eine Regierung zu werden, die, obwohl radikal, sich jetzt bemühte, ihre Position gegenüber den temperamentvollen toskanischen Demokraten zu stärken. »Diese Leute sind wie eine Heuschreckenplage«, beklagte sich Guerrazzi über Garibaldis Männer, »wir müssen sie so schnell wie möglich loswerden.«122 Infolgedessen war die Antwort der Toskana auf Garibaldis Vorschlag ausweichend, und obwohl die Garibaldini von den Florentinern stürmisch begrüßt wurden, hüllte sich die Regierung selbst in Schweigen und stellte ihnen keinen Proviant für den weiteren Marsch zur Verfügung.123 Garibaldis kleines Regiment überquerte den vereisten Apennin und erreichte am 9. November bei Filigare die Grenze zum Kirchenstaat. Zu diesem Zeitpunkt war Rossi noch sechs Tage lang am Leben und General Zucchi mit vierhundert Schweizer Soldaten von Bologna auf Ferrara vorgerückt, um den Garibaldini, die sich inzwischen nur noch auf hundert Männer beliefen, den Weg abzuschneiden. Die republikanische Streitmacht befand sich in einem jämmerlichen Zustand: »Dafür haben wir also Südamerika verlassen: Um im Apennin gegen den Schnee zu kämpfen«, so Garibaldi später bitter. »Es war erschütternd, diese verdienstvollen jungen Männer bei solch harter Witterung in den Bergen zu sehen: Die meisten trugen nur dünne Kleidung, manche gingen in Lumpen, alle waren hungrig.«124 Während die Garibaldini »ein paar elende Tage« in Filigare zubrachten, kamen ihnen die Einwohner von Bologna zu Hilfe. In Zucchis Abwesenheit führte Pater Gavazzi einen großen Protestzug an, der die Straße unter den Fenstern von Zucchis Stellvertreter blockierte: »Entweder kommen unsere Brüder hierher«, schrien die Teilnehmer, »oder Ihr kommt von diesem Balkon herunter.«125 Zucchi, der keinen Aufstand riskieren wollte, zeigte sich kompromissbereit, als er von den Protesten erfuhr: Garibaldis Truppe wurde erlaubt, die Romagna zu durchqueren, musste sich aber nach Ravenna begeben, von wo aus sie sich nach Venedig einschiffte, um Manin bei der Verteidigung der Stadt gegen die Österreicher zu helfen. Das Attentat auf Rossi und die Erhebung der Radikalen in Rom verschaffte den Garibaldini eine weitere Gelegenheit, nach Süden zu marschieren. Garibaldis Urteil über den Mord war ausgesprochen blutrünstig: »Durch seine Beseitigung erwies sich die antike Hauptstadt der Welt ihrer glanzvollen Vergangenheit würdig. Ein junger Römer hat aufs Neue Brutus’ Dolch geschwungen und
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die Marmorstufen des Kapitols mit dem Blut des Tyrannen getränkt!«126 Jetzt sollten seine Rekrutierungsversuche Früchte tragen, sodass er beim Verlassen Ravennas Ende November fünfhundert Männer anführte – größtenteils junge Städter aus dem Bürgertum, Handwerker, Arbeiter und Studenten: »gut aussehend, höflich, fast alles Söhne edler Familien aus den Städten des Landes«.127 Garibaldi hatte vor, in Umbrien zu überwintern, ritt dabei aber Mitte Dezember weiter in Richtung Rom, um, wie er es nannte, »das elende und vagabundierende Dasein der Legion auf eine geordnete Basis zu stellen«, indem er die Anerkennung des neuen Kriegsministers und damit die Versorgung mit Vorräten zu gewinnen hoffte.128 Bald schon betrat er eine Stadt, in der es hoch herging, eine Stadt, die hin und her gerissen wurde zwischen Radikalen und dem Rest der Gemäßigten. Die republikanischen Mazzinianer waren in Venedig besiegt worden, aber in Rom hatten sie eine neue Bühne für ihre Aktivitäten gefunden. Manche, darunter Mazzini, glaubten, es sei noch zu früh, eine gesamtitalienische costituente einzuberufen. Da diese von den Piemontesern und anderen niemals akzeptiert würde, solle zuerst der Kirchenstaat demokratisiert und damit zum Zentrum einer zukünftigen italienischen Republik ausgebaut werden. Andere Republikaner widersprachen dem und wollten sofort auf gesamtitalienische Wahlen hinarbeiten. Mitglieder der neuen Regierung in Rom, etwa Mamiani, waren keine Extremisten und sich allzu bewusst, dass ein großer Teil der römischen Bevölkerung sowohl durch die geistigen als auch die wirtschaftlichen Folgen der plötzlichen Flucht des Papstes verunsichert waren. Man glaubte fest, dass Pius, sollte der zu Verhandlungen bereit sein, nach Rom zurückkehren könne. Angesichts dieser Möglichkeit widerstrebte es den Ministern, Republikaner der kompromisslosen Sorte bei sich aufzunehmen – und so holte sich Garibaldi einmal mehr eine Abfuhr. Er verbrachte den Winter mit seinen Männern bei Foligno in Umbrien. Doch der Druck der radikalen politischen Klubs nahm zu, und so stand die Regierung vor der düsteren Aussicht auf einen neuen Aufstand in den Straßen Roms. Der Papst verweigerte mehrfach die Rückkehr, weshalb am 29. Dezember kaum eine andere Möglichkeit bestand, als Wahlen zu einer römischen verfassunggebenden Versammlung abzuhalten, der klare Auftakt zur Ausrufung der Republik. Am 16. Januar erklärte die römische Regierung, dass die hundert Kandidaten mit den meisten Stimmen Rom in einer gesamtitalienischen costituente vertreten würden, sobald sich diese bilde.129 Nachdem die Republikaner nun also ihr Stück vom Kuchen bekommen hatten, würden sie wohl auch in der Lage sein, es zu essen.
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VI Der italienische Republikanismus hatte plötzlich neuen Aufwind erhalten, doch die Zweite Französische Republik wurde langsam in die Knie gezwungen, wobei sie sich bis Ende 1851 gerade noch halten konnte. Verantwortlich für ihren Todeskampf war ein merkwürdiger Mann, der in krummer Haltung etwa einen Meter fünfundsechzig groß war, eine ausgeprägte Hakennase, einen langen Schnauz- und einen spitzen Ziegenbart sein Eigen nannte. Sein Name: Louis-Napoleon Bonaparte. Geboren im Jahr 1808, war er der Neffe Napoleon Bonapartes, der Sohn von Hortense de Beauharnais (Kaiserin Josephines Tochter aus erster Ehe) und Louis Bonaparte, Napoleons Bruder, damals König von Holland. Louis-Napoleon hatte etwas Mysteriöses, war eine befremdliche und manchmal komische Gestalt. Nachdem sich 1814 das napoleonische Imperium aufgelöst hatte, verbrachte er seine Kindheit im Exil zusammen mit seiner Mutter, die in ihn vernarrt war, zuletzt auf dem Schweizer Schloss Arenenberg am Untersee. Hier führte ihn Hortense in sein bonapartistisches Erbe ein. Zur Zeit der 1830er-Revolution war der unmittelbare Anwärter auf Napoleons Kaiserthron Napoleon II., Herzog von Reichstadt, der Sohn des Kaisers und seiner zweiten Gemahlin, Marie-Louise von Österreich. Sein Leben hatte er im goldenen Käfig des habsburgischen Schlosses Schönbrunn verbracht und war 1832 an Tuberkulose gestorben. Louis-Napoleon betrachtete sich als rechtmäßigen Erben; unter Bonapartismus stellte er sich eine Mischung aus Volkssouveränität und autoritärem Regierungen vor: Der Kaiser sollte der Vollstrecker des Volkswillens sein, der sich durch ein Parlament ausdrückte, das durch allgemeines, aber indirektes Stimmrecht gewählt wurde. Das war eine unheimlich moderne Vermischung politischer Vorstellungen – eine Diktatur, die ihr Mandat vom »Volk« erhielt. Die Regierung müsse aber, so schrieb er in seinen Napoleonischen Ideen (1839), zum Wohle der Gesellschaft arbeiten: Es sei die Regierung die beste, »welche die zweckmäßigsten Mittel in Anwendung bringt, um der Civilisation Bahn zu brechen«.130 Indem er Autoritarismus, Volkssouveränität und sozialen Fortschritt miteinander verband, sprach Louis-Napoleon ein breites Spektrum an, und da er je nach Publikum unterschiedliche Facetten seiner Ideen betonte, redete er jedem nach dem Mund. Später, als Kaiser Napoleon III., rief er im Hinblick auf seine engsten Vertrauten aus: »Wie kann man erwarten, dass das Reich reibungslos funktioniert? Die Kaiserin ist Legitimistin, Morny ist Orléanist, mein Cousin Jérôme-Napoleon ist Republikaner; ich bin Sozialist; nur Persigny ist Bonapartist, und der ist verrückt.«131 Seine Ideen
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hatten eine starke emotionale Ausstrahlung, weil sie im napoleonischen Gewand daherkamen – so war in der Erinnerung vieler Menschen das napoleonische Reich nicht als Diktatur verankert, sie gedachten nicht der Schrecken des Krieges, sondern des »Ruhms«, der Ideale von 1789. Bewaffnet mit dem nützlichen, doch auch nebulösen Konzept des Bonapartismus, unternahm Louis-Napoleon zwei stümperhafte Versuche, in französischen Armeestellungen einen Aufstand gegen die Julimonarchie anzuzetteln – 1836 in Straßburg und 1840 in Boulogne. Nach dem ersten Versuch wurde er in die Vereinigten Staaten ins Exil geschickt, kehrte jedoch bald nach Europa zurück. Der zweite Versuch gab den Stoff zu einer Posse. Louis-Napoleon erschien auf einem Raddampfer, der (ausgerechnet) Schloss von Edinburgh hieß, in Boulogne. Da den Rebellen kein kaiserlicher Adler als Symbol zur Verfügung stand, begnügten sie sich mit einem zahmen verwirrten Geier, der an den Mast gekettet war. Wegen Boulogne wurde Louis-Napoleon zu lebenslänglicher Haft verurteilt und verbüßte seine Strafe in Nordfrankreich auf der Festung Ham. Hier schrieb er 1844 sein Werk Vertilgung des Pauperismus, in dem er sich mit der sozialen Frage auseinandersetzte. Darin kritisierte er die freie Marktwirtschaft und befürwortete stattdessen ein radikales Programm staatlicher Interventionspolitik, um das Elend der Armen zu mildern. Seine Vorstellungen waren alles andere als sozialistisch, doch sie erlaubten ihm später, als ihr guter Freund an die Arbeiter zu appellieren – was so mancher Pariser Handwerker gewiss zur Kenntnis nahm. Zwei Jahre nachdem er diesen Traktat verfasst hatte, entkam er während Sanierungsarbeiten der Gefangenschaft; er verkleidete sich als Bauarbeiter, schulterte eine Holzplanke und marschierte durch die Tore ins Freie. In weniger als einem Tag hatte er London erreicht.132 Mit Ausbruch der Revolution von 1848 reiste Louis-Napoleon nach Paris, doch die provisorische Regierung, die misstrauisch, wenn nicht ein wenig alarmiert war, wies sein Angebot, in ihre Dienste zu treten, zurück; Anfang März war er wieder zurück in London. Hier meldete er sich am 10. April als Hilfspolizist gegen die Chartisten, was ihn in Frankreich als Freund der Ordnung gegen die »rote« Gefahr auszeichnete.133 Auch wenn sein Name ihm half, so blieb die Richtung seiner politischen Vorstellungen doch seltsam rätselhaft. Während er sich noch in London aufhielt, wurde Louis-Napoleon als Kandidat bei den französischen Nachwahlen, die am 4. Juni stattfanden, gelistet und in vier verschiedenen Wahlkreisen, darunter Paris, gewählt. Dieser Erfolg entfesselte einen politischen Sturm. Pariser bejubelten die Wahl eines Mannes mit dem klingenden Namen »Bonaparte«. Auf den Boulevards versammelten
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sich Arbeiter, demokratisch-sozialistische Parolen wechselten sich mit Rufen ab, wie »Lang lebe Poleon! Wir bekommen Poleon!« Mit Louis-Napoleon verbanden sie den patriotischen Stolz auf die ruhmreichen Tage seines Onkels und damit wiederum Hoffnungen auf eine Reform. Genau diese unwiderstehliche Anziehungskraft machte den Republikanern zu schaffen. Proudhon warnte in seiner Zeitung davor, dass »vor acht Tagen der Bürger Bonaparte nichts weiter als ein schwarzer Fleck auf einem feuerroten Himmel war; vorgestern war er gerade einmal eine Rauchsäule; heute ist er eine Wolke, die bald Sturm und Gewitter mit sich bringt«.134 Als der aufgeschreckte »Club de la Révolution de 1793« Louis-Napoleons Erfolg besprach, meinte ein Redner, die Erklärung liege in ihrem eigenen Fehler begründet, »das Banner der Demokratie nicht hoch genug getragen« zu haben.135 Am 12. Juni legten deshalb Lamartine und Ledru-Rollin der Nationalversammlung einen Gesetzentwurf vor, der Bonaparte mit dem Argument von seinem Sitz ausschloss, dass ein »Prätendent«, der zweimal versuchte, die Macht unrechtmäßig an sich zu reißen, kein Deputierter sein könne. Frankreich »wird sich nicht soweit erniedrigen, daß es verstatte, die Republik […] unter irgendeinem Namen aus den Händen einiger Schreier zu erkaufen!«136 Louis-Napoleons Anhänger, unter ihnen Arbeiter aus den Nationalwerkstätten, sammelten sich auf der Place de la Concorde. Der Ruf »Vive l’Empereur!« erscholl über den großen Platz und wurde über den Fluss bis zur Nationalversammlung getragen, die, obwohl sie durch Soldaten und Nationalgarde bewacht wurde, den Gesetzesentwurf zurückwies: »Eine ihrer wenigen Schwächen«, wie Lamartine schrieb. D’Agoult erklärte die befremdliche Entscheidung mit der Tatsache, dass den Republikanern bei allem Schrecken, den Bonaparte verbreitete, die legitimistischen und orléanistischen Gegner, die in der Versammlung machtvoll auftraten, mehr Sorgen bereiteten.137 Napoleon entschärfte die Situation, indem er am 16. Juni seinen Sitz aufgab: »Mein erklärter Wunsch ist die Ordnung, und ich befürworte eine Republik, die weise, groß und klug ist, aber da ich unfreiwillig für Unordnung sorge, lege ich meine Rücktrittserklärung mit tiefem Bedauern in Ihre Hände.«138 Das war ein raffinierter Schachzug. Dazu, wie immer scharfsinnig, d’Agoults Urteil: »Seine Mäßigung ließ ihn im öffentlichen Ansehen steigen, ohne ihn davon abzuhalten, das Prinzip nationaler Souveränität zu vertreten, dem die Repräsentanten selbst zu misstrauen schienen … Er verkörperte
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Louis-Napoleon Bonaparte legt 1848 den Eid auf die Verfassung der Zweiten Französischen Republik ab – ein Meineid. (Bridgeman Art Library)
das Ideal einer revolutionären Diktatur, der eine noch unkultivierte, stürmische, irrationale und leidenschaftliche Demokratie noch immer den Vorzug vor einer liberalen Regierung gab.«139 Der Rücktritt war geradezu ein Geniestreich wider Willen, denn er brachte es mit sich, dass Louis-Napoleon in London war, als die Junitage ausbrachen. An der Abstimmung zur Schließung der Nationalwerkstätten hatte er somit keinen Anteil, auch musste er sich nicht zwischen der Sympathie mit den Aufständischen und der Unterstützung der Ordnungskräfte entscheiden, was seine Popularität und seinen illustren Namen unangetastet ließ. Im Département Yonne, einem der Wahlbezirke, in denen er ursprünglich gewählt wor-
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den war, wies man nun den Staatsanwalt an, ein Auge auf bonapartistische Aktivitäten zu haben. Am 2. Juli berichtete der Jurist nun ordnungsgemäß, dass er wenig entdeckt habe, dieses aber nicht bedeute, dass Louis-Napoleons Wahlerfolg einem Strohfeuer gleiche. Überall hörte man Leute Dinge sagen wie: »Louis-Napoleon ist der Einzige, der Frankreich vor der finanziellen Krise retten kann. Er ist unermesslich reich, er wird seine Millionen dem Land zur Verfügung stellen, keine 45-Centimes mehr! Freistellung der Provinz von allen Steuern auf zwei Jahre! Um diese Vergünstigungen zu erhalten, um sicherzustellen, dass Landwirtschaft, Industrie und Handel gleichzeitig ans Werk gehen, ist es notwendig, Louis-Napoleon zu berufen, zuerst zum Abgeordneten, dann zum Präsidenten der Republik, schließlich zum Kaiser!«140 Während der Wahlen hingen überall Plakate mit der Parole: »Louis-Napoleon Bonaparte – Kaiser!« Die Sorgen des Anwalts waren im Herbst ganz und gar gerechtfertigt. Von dreizehn verschiedenen Sitzen, für die er bei den Nachwahlen im September kandidierte, erhielt Louis-Napoleon fünf. In Paris erreichte er den ersten Platz auf der Liste der Abgeordneten, doch er entschied sich wohlüberlegt für das abseits gelegene Département Yonne. Am 24. September kam er in Paris an und nahm seinen Sitz ein, als die Versammlung gerade die Verfassung der Zweiten Republik ausarbeitete (die schließlich am 4. November ratifiziert wurde). Einmal mehr leistete das Glück Louis-Napoleon gute Dienste, denn die neue Verfassung sah gegen die anderslautende Empfehlung derer, die eine Machtkonzentration befürchteten, ein Präsidentenamt vor. Louis Blanc hatte der Versammlung sogar geraten, der einzige Weg, Louis-Napoleon davon abzuhalten, Präsident zu werden, sei der, gar keinen Präsidenten zu haben.141 Doch der parlamentarische Ausschuss, der für den Verfassungsentwurf verantwortlich war, diskutierte nicht, ob es ein solches Amt geben, sondern nur, auf welche Weise der Präsident gewählt werden solle. Tocqueville, der Mitglied des Ausschusses war, argumentierte, dass es einer Nation wie den Vereinigten Staaten, wo die Exekutivgewalt schwach sei, nicht schade, einen Präsidenten zu haben, der vom Volk gewählt werde, denn dieser sei immer noch der starken Legislative untergeordnet. Doch, fuhr er prophetisch fort, in einem Land wie Frankreich, das mächtige monarchistische Strömungen und eine traditionell stark
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zentralisierte Autorität aufweise, erhalte ein auf der Basis allgemeiner Wahlen berufener Präsident gefährlich viel Macht. Das Amt nütze nur denen, so seine Warnung, die es in einen Thron verwandeln wollen. Der große Historiker und politische Philosoph brachte diesen Einwand am Tag nach der ersten Wahl von Louis-Napoleon an – und alle wussten, wen er damit meinte.142 Die Alternative wäre ein Präsident gewesen, der von der Nationalversammlung gewählt wurde. Dies hätte bedeutet, dass Bonaparte als Bewerber um das Amt chancenlos gewesen wäre. Doch am Ende siegte die allgemeine Wahl, denn Cavaignac hatte den Ausschuss bezeichnenderweise gedrängt, den Präsidenten vom Volk und nicht vom Parlament wählen zu lassen. Im Sog der Junitage noch immer hoch auf der Welle der konservativen Popularität schwimmend, legte Cavaignac seine eigene politische Zukunft in die Hände einer dankbaren Wählergemeinde. Zudem erkannten die Republikaner, dass durch die starke monarchistische Präsenz in der Nationalversammlung eine Wahl durch das Parlament zumindest für sie ausgesprochen problematisch geworden wäre. Am 7. Oktober, die konservative Mehrheit war dabei, die Präsidentenwahl durch die Legislative durchzusetzen, erhob sich deshalb Lamartine und plädierte erfolgreich für eine Wahl durch das Volk, wobei er die bonapartistische Gefahr ignorierte. Lamartine ging davon aus, dass für das Entstehen einer neuen Diktatur die Schrecken der Terreur* oder ein charismatischer Militärführer nötig seien – Frankreich jedoch besaß 1848 nichts von beidem.143 An diesem Tag also stimmte die Nationalversammlung für einen Präsidenten, einmalig auf vier Jahre, wählbar durch alle wahlberechtigten Männer der Republik. Um das Risiko abzumildern, brachte am 9. Oktober der gemäßigte Republikaner Antoine Thouret einen Änderungsantrag ein, der Mitglieder aus einer früheren regierenden Dynastie von einer Präsidentschaftskandidatur ausschloss. Gleich erhob sich Louis-Napoleon, um dem entgegenzutreten, sprach aber so schlecht – und mit deutschem Akzent, den er in den Jahren des Exils angenommen hatte –, dass er wie ein Possenreißer wirkte. »Was für ein Idiot«, höhnte LedruRollin schadenfroh. »Er ist am Ende.«144 Voller Verachtung zog Thouret seinen Änderungsantrag zurück. Die große Mehrheit der Deputierten glaubte indessen, der republikanische Held von Recht und Ordnung, Cavaignac, hätte den Sieg der ersten Präsidentschaftswahl, die auf den 10. Dezember angesetzt war, in der Tasche. Trotz*
Gemeint ist die Schreckensherrschaft der Jakobiner 1793/94. (Anm. der Übers.)
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dem erklärte Louis-Napoleon am 26. Oktober seine Kandidatur. Das sei nun, bemerkte d’Agoult, ein Wettstreit zwischen »Autorität«, vertreten durch den General, und »Diktatur«, vertreten durch Louis-Napoleon Bonaparte.145 Die Wiederwahl Louis-Napoleons im September hatte bewiesen, wie beliebt er beim Volk war, ganz ungeachtet der Verachtung, die ihm die politischen Eliten entgegenbrachten. Wer ihn bei den Nachwahlen in Paris und in den Vorstädten gewählt hatte, stammte aus den Arbeitervierteln. Doch wichtiger war noch, dass sein Name unter den Bauern magische Wirkung hatte. Im kollektiven Gedächtnis war der »große« Napoleon als der »Kaiser des Volkes« verankert, der sich für dessen Interessen einsetzte: Im Elsass etwa erinnerten sich die Bauern nur zu gern des Kaiserreichs, in dem es kein Waldgesetz gegeben hatte, das den Zugang zu den Wäldern beschränkte. Und da sie ohnehin wenig von der Zweiten Republik hielten, war die Wahl eines Louis-Napoleon im Grunde gleichbedeutend mit dem Protest gegen die Regierung und die Reichen, während man gleichzeitig die Fallstricke des Sozialismus umging. Folglich war Louis-Napoleon als Präsidentschaftskandidat ein echter Herausforderer für Cavaignac. Sobald deutlich wurde, dass es sich um ein Kopf-anKopf-Rennen handelte, waren die Radikalen des linken Flügels bereit, LouisNapoleon zu unterstützen, und nicht etwa dagegen, dem »Schlächter« vom Juni zum Sieg zu verhelfen. Doch auch die Konservativen ließen ihren ersten Helden im Stich und traten, wenn auch widerwillig, ebenfalls für Bonaparte ein. In ihren Augen stand die napoleonische Tradition für eine starke, machtvolle Regierung. Und selbst Monarchisten waren bereit, Louis-Napoleon den Rücken zu stärken, hofften sie doch, dass er die Linke zerschlagen würde, um danach als bloße Galionsfigur, als Staffage, zu fungieren, hinter der die Wiederherstellung der Monarchie vorbereitet werden konnte. Adolphe Thiers, ein führender Orléanist, beschrieb Bonaparte als einen »Kretin«, doch er schätzte seinen politischen Nutzen und befürwortete seine Kandidatur. Cavaignac dagegen war eine zu starke Persönlichkeit – und zu republikanisch –, um sich derart zu verbiegen. Louis-Napoleon indessen machte einem großen Spektrum von Leuten viele widersprüchliche Angebote. Am Ende errang er einen Erdrutschsieg: Er bekam 5 400 000 Stimmen, Cavaignac dagegen 1 400 000. Abgeschlagen waren die Helden der republikanischen Linken: Ledru-Rollin und Raspail mit gerade einmal 400 000 beziehungsweise 37 000 Stimmen. Zu seinem Entsetzen konnte Lamartine nur 8000 Stimmen auf sich vereinen, der Kandidat der Legitimisten, General Changarnier nicht einmal 1000.146
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Am 20. Dezember leistete Präsident Bonaparte seinen Amtseid. Als er schwor, die Verfassung zu achten, wandt sich so mancher Abgeordnete: War man Zeuge einer ernsthaften Hinwendung zur Republik oder Zeuge eines Meineids? Eine der ersten Amtshandlungen Bonapartes war die Ernennung eines Orléanisten, Odilon Barrot, zum Ministerpräsidenten. Die Botschaft war unmissverständlich: das Kabinett war strikt antirepublikanisch. Und weil der Royalist Changarnier politisch so schlecht abgeschnitten hatte, bekam er zum Trost die Befehlsgewalt über die Streitkräfte von Paris übertragen. Die Zweite Republik befand sich nun auf restaurativem Kurs.
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Die vernichtenden Niederlagen von 1848 bedeuteten nicht, dass die Schwungkraft der Revolution erlahmt war. Die Restauration hatte nicht überall triumphiert, und selbst als die Konservativen wieder an der Herrschaft waren, fühlten sie sich nicht stark genug, die liberalen Institutionen ganz vom Erdboden verschwinden zu lassen. Auch legten die meisten Regierungen immerhin Lippenbekenntnisse zum Thema Verfassung ab. Wenn die Liberalen nicht so optimistisch hinsichtlich der Umsetzung ihrer Ideale gewesen sein mögen, so waren sie dennoch fest entschlossen, das zu verteidigen, was von ihren Errungenschaften noch übrig geblieben war. Die europäischen Radikalen unternahmen derweil neue Anstrengungen, ihre demokratischen und sozialen Programme voranzubringen oder der liberalen Ordnung eine verspätete Verteidigung angedeihen zu lassen. Erst als die zweite Welle revolutionärer Aktivitäten unterdrückt wurde, kamen die Revolutionen der Jahrhundertmitte an ihr Ende. Motor der deutschen Revolution von 1849 waren die Radikalen, die (ironischerweise) um jene liberale Verfassung kämpften, die vom Rest der deutschen Nationalversammlung erarbeitet worden war. In Italien und Ungarn dagegen radikalisierte sich die Revolution aufgrund von militärischen Krisen. In Frankreich trugen die Radikalen die Kämpfe von den Städten, wo sie 1848 zerschlagen worden waren, in die Provinzen und aufs Land hinaus. Die démoc-socs arbeiteten im ländlichen Frankreich fieberhaft an der Basis, verwandelten Klagen in Wählerstimmen und erzielten ein so gutes Wahlergebnis, dass 1851 Monarchisten wie gemäßigte Republikaner ordentlich alarmiert waren.
I Zu Neujahr sah sich die deutsche Nationalversammlung indessen mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass keine der beiden großen Mächte –
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Österreich und Preußen – ihr viel Beachtung schenkte, die deutsche Einheit aber ohne deren Zutun eine Schimäre bleiben würde. Die kleineren deutschen Länder fanden nach wie vor Parlament und Regierung nützlich, da sie, allein auf sich gestellt, schwach waren; auch hatten sie immer unter einem weiter gespannten, pandeutschen Schirm Schutz gesucht. Aus diesem Grund schmiedeten die Abgeordneten immer noch an der Verfassung. Ende Dezember 1848 hatten sie einen Grundrechtskatalog veröffentlicht, der nicht durch eine nachträgliche Gesetzgebung, sei es auf Bundes- oder Länderebene, ausgehebelt werden konnte. Die Grundrechte garantierten die persönliche Freiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Habeas-Corpus-Prinzip. Adelstitel und sämtliche Standesprivilegien wurden abgeschafft, darunter auch herrschaftliche Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt der Grundherren; zur Leibeigenschaft würde man nicht mehr zurückkehren. Außerdem wurden Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Freiheit von Erziehung und Lehre garantiert. Todesstrafe, körperliche Züchtigung und Pranger fanden ein Ende. Die säkularen Vorstellungen des Parlaments gingen in die Klausel zur Eheschließung ein, durch die die zivile Trauung zum bindenden Akt wurde, sowie in den Bereich Bildung, die man den kirchlichen Händen entzog. Die Gewaltenteilung wurde dahin gehend festgeschrieben, dass die Judikative frei von politischer Einflussnahme bleiben musste. Den nationalen Minderheiten wurde »ihre volksthümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen« in Kirche, Unterricht, Rechtspflege und innerer Verwaltung. Im Gegensatz zum Eigentumsrecht, das aufrechterhalten wurde, gab es kein Sozialrecht: Die Liberalen waren fest davon überzeugt, dass Handelsfreiheit und freier Wettbewerb das wirtschaftliche Elend der Armen lindern würden. Aus diesem Grund sollten alle deutschen Staatsangehörigen das uneingeschränkte Recht auf freien Aufenthalt und freie Wohnortwahl erhalten. Mit anderen Worten: Hier lag in jeder Hinsicht ein klassisches liberales Dokument vor. Doch nicht alle deutschen Staaten akzeptierten den Grundrechtskatalog. Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt erkannten ihn umgehend an, Preußen, Österreich und Bayern dagegen weigerten sich. Ihre Argumente klingen verblüffend modern, wenn sie etwa einwandten, dass das Recht auf freien Aufenthalt »Kommunisten« erlauben würde, sich in ihrem Territorium niederzulassen, während andere fürchteten, dass Heere arbeitsloser Arbeiter durch das Land ziehen würden, und wieder andere beklagten, dass »die Bemühungen aller Länder und Gemeinden in Bedarfsfällen unnütz auf die Beschaffung von
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Arbeit und notwendiger Unterstützung gerichtet« würden. Auch die Zünfte wiesen die freie Wahl der Erwerbstätigkeit zurück, da sie dadurch die Kontrolle darüber verloren, wer ihrem Gewerbe beitrat.1 Die politische Gliederung des Deutschen Reiches sah einen Reichstag mit zwei Kammern vor. Die Hälfte der Mitglieder der ersten Kammer, des Staatenhauses, sollte von den Volksvertretungen der einzelnen Staaten und die andere Hälfte von den Regierungen ernannt werden, wodurch das Prinzip der Bundesstaatlichkeit verankert wurde. Darüber hinaus waren alle deutschen Staaten zu einer aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Volksvertretung verpflichtet, der die Minister verantwortlich waren. Die Mitglieder der zweiten Kammer, des Volkshauses, sollten ebenfalls durch Wahlen berufen werden. Der Umfang des Wahlrechts indessen war ein heikles Thema: Die Linke verlangte natürlich nach einem allgemeinen Wahlrecht für Männer, während die Liberalen hofften, es auf jene zu beschränken, die wirtschaftlich unabhängig waren, womit sie Lehrlinge, Fabrikarbeiter, Gesellen, Landarbeiter und häusliche Angestellte ausgeschlossen hätten. Mit der endgültigen Zurückweisung der deutschen Einheit durch die Österreicher mussten sich die Liberalen jedoch die Unterstützung des linken Flügels für die kleindeutsche Lösung mit dem preußischen König als Erbkaiser sichern. Der Kompromiss wurde besiegelt und das Reichswahlgesetz legte fest: »Wähler ist jeder unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat.« Die geheime Wahl »durch Stimmzettel ohne Unterschrift« wurde mit nur hauchdünner Mehrheit durchgebracht. Obwohl dieses Wahlgesetz aufgrund der Gegenrevolution niemals in Kraft trat, sollte es wider Erwarten fortbestehen: Kein anderer als Bismarck benützte es als Grundlage der Verfassung des geeinten Deutschen Reiches von 1871.2 Die Verfassung wurde am 27. März 1849 verabschiedet und am folgenden Tag König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zum Erbkaiser gewählt, mit dem Recht, die Gesetzgebung durch aufschiebendes Veto zu verzögern. Nun musste er nur noch die Krone annehmen; doch er zögerte einen Monat lang: Nicht alle seine Ratgeber standen der Idee eines Deutschland unter preußischer Führung ablehnend gegenüber, hofften sie doch, als Gegenleistung für die preußische Zustimmung zur Verfassung wichtige Änderungen, darunter eine Einschränkung des Wahlrechts, durchsetzen zu können. Währenddessen nahmen die liberalen Regierungen von achtundzwanzig deutschen Ländern die Verfassung an, allerdings war es ein schlechtes Zeichen, dass die größeren der deutschen Mittelstaaten – Hannover, Bayern und Sachsen – sich ihr verweigerten. Gleichwohl hing die neue politische Ordnung letztlich von einer positiven Antwort
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Preußens ab. In diesem Bewusstsein schickten die achtundzwanzig Unterzeichnerländer Mitte April ein gemeinsames Memorandum nach Berlin, in dem sie die preußische Regierung drängten, ihrem Beispiel zu folgen, auch wenn Friedrich Wilhelm den Verdacht hatte, dass ihre Einwilligung nur ungern erfolgt war. Die Frankfurter Nationalversammlung hatte inzwischen eine zweiunddreißig Mann starke Deputation unter der Führung von Eduard Simson losgeschickt, um beim König vorstellig zu werden, sie traf am 2. April ein. Friedrich Wilhelm versicherte, dass sie sich immer auf Preußens »Schild und Schwert« verlassen könnten, um Deutschlands Ehre gegen äußere und (mit Betonung) innere Feinde zu verteidigen, doch weiter versprach er nichts. Der Kreis der Kreuzzeitung stellte sich hinter Friedrich Wilhelm. Seine Mitglieder hatten den Verdacht, dass ihre preußische Identität in einem gesamtdeutschen Rahmen verwischen würde. Bismarck schrieb später, dass seine Ablehnung der Kaiserkrone in erster Linie »in dem instinktiven Mißtrauen« gegen die 1848er-Revolution begründet war, zugleich aber auch in seiner Empfänglichkeit »für das Prestige der Preußischen Krone und ihren Träger«.3 Dem König war die Vorstellung verhasst, »Kaiser der Deutschen« zu sein – so der offizielle Titel, der suggerierte, dass er seine Stellung nicht Gott schulde, sondern den ungewaschenen Massen. Er scherzte mit seinen Höflingen, nannte die kaiserliche Krone ein »Wurstprezel« und ein Geschenk von »Meister Bäcker und Metzger kommend«.4 In dunkleren Momenten beschimpfte er sie als »Hundehalsband, mit dem man mich an die Revolution von 1848 ketten will«, eine »Schweinekrone« und eine »Krone aus der Gosse«. Darüber hinaus existierte noch ein diplomatischer Grund für die Ablehnung der Verfassung: Wie würde Russland auf ein vereinigtes Deutschland unter preußischer Vorherrschaft reagieren? Einen letzten Hoffnungsschimmer brachte der 21. April, als beide Kammern des neuen preußischen Parlaments die deutsche Verfassung akzeptierten und die zweite Kammer den König drängte, es ihnen gleichzutun. Friedrich Wilhelm reagierte umgehend: Er löste beide Kammern auf und gab eine Woche später seine formelle Ablehnung der deutschen Krone bekannt. Unheilschwanger sicherte er all jenen militärische Hilfe zu, die sich gegen die Verfassung aussprachen. Diese Entscheidung traf die Frankfurter Nationalversammlung bis ins Mark und schickte eine Welle der Erschütterung über Deutschland. Karl Welcker, ein Mitglied des Verfassungsausschusses, schrieb: »Wir hofften am Ende unsers großen Werks zu stehen, wir hofften, es würde gelingen, die Revolution zu schließen … es scheint, eine Revolution, größer, furchtbarer und schwerer als die des Jahres 1848 will sich uns eröffnen.«5 Während des langen Wartens auf
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Friedrich Wilhelms Entscheidung waren die politischen Spannungen bis zum Äußersten gestiegen, jetzt kippten sie um. Am 4. Mai forderte die Frankfurter Nationalversammlung alle deutschen Regierungen auf, die Verfassung zu ratifizieren und die Wahlen für das Volkshaus auf den 15. Juli festzusetzen. Sollte Friedrich Wilhelm es weiterhin ablehnen, würde stattdessen ein Herrscher aus einem der Mittelstaaten zum Kaiser bestellt. Preußen und die Konservativen verstanden sofort, was mit diesem Ultimatum gemeint war, und geißelten es als Aufruf zu einer neuen Revolution. Als in Sachsen ein Aufstand mithilfe Preußens niedergeschlagen wurde und Erzherzog Johann sich weigerte, die preußische Intervention zu verurteilen, trat Heinrich von Gagern, dem es nicht gelungen war, einen Kompromiss zwischen dem Frankfurter Parlament und Friedrich Wilhelm zu finden, am 10. Mai als Reichsministerpräsident zurück. Zehn Tage später führte er sechzig Deputierte mit dem Argument aus der Nationalversammlung, dass es zu einem Bürgerkrieg komme, wenn man Deutschland eine Verfassung aufzwinge. Diese Amtsniederlegungen waren nur einer von mehreren Schlägen, die die Versammlung trafen. Im April wurden die österreichischen Abgeordneten von ihrer Regierung zurückgerufen, am 14. Mai die preußischen, ihrem Beispiel folgten zwei weitere Staaten: Sachsen und Hannover. Als Nationalversammlung stand das deutsche Paulskirchenparlament vor dem Aus. Am 30. Mai zogen sich die verbliebenen Abgeordneten nach Stuttgart zurück, um aus der Schusslinie der österreichischen und preußischen Truppen in Mainz zu gelangen. Nur noch 104 Abgeordnete, größtenteils aus den Reihen der Linken, waren übrig. Das Rumpfparlament konnte sich einer guten Aufnahme in Stuttgart, wo am 16. April eine Großdemonstration zugunsten der Verfassung stattgefunden hatte, sicher sein. Die Regierung wollte die Proteste nicht niederschlagen, weil sie fürchtete, dass sich die Armee auf die Seite der Leute schlagen würde. Widerwillig nahm König Wilhelm I. die Verfassung an. Allerdings verließ er danach Stuttgart und verlegte die Residenz nach Ludwigsburg. Zwei Tage später stimmte die Abgeordnetenkammer der württembergischen Landstände in Abwesenheit des Königs offiziell der deutschen Verfassung zu. Als der Rest der Nationalversammlung jedoch in seiner Hauptstadt zusammentrat, weigerte er sich, dorthin zu kommen, solange sie vor Ort waren. Inzwischen rasselten die Preußen mit dem Säbel, drohten mit Gewalt, wenn die Parlamentarier nicht ausgewiesen würden. Unter diesen Voraussetzungen verstanden selbst die entschlossensten Abgeordneten, dass ihre Mission mittlerweile eher ein Symbol des Widerstands als der Staatsbildung war.
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Johann Jacoby schrieb einem Freund: »Wir können es uns alle nicht verhehlen, daß bei der Apathie, in welche ein großer Teil Deutschlands verfallen, die Aussicht auf Erfolg unserer Schritte nur gering ist, wir glaubten es aber der Ehre der Nation […] schuldig zu sein, diesen letzten Versuch zu machen.«6 Die Regierung in Stuttgart war außer sich über die Drohungen Preußens (der Staatsrat Friedrich Römer, der faktisch die württembergischen Regierungsgeschäfte leitete, bezeichnete Berlin sarkastisch als Württembergs neue Hauptstadt), sah sich aber mit der realen Gefahr einer preußischen Invasion konfrontiert. Man gab dem Druck nach – was für die deutsche Nationalversammlung das Ende bedeutete. Am 17. Juni blockierten königliche Truppen alle Stuttgarter Ausfallstraßen, und die Regierung untersagte dem deutschen Parlament alle weiteren Sitzungen. Am folgenden Tag hörte man das Stampfen der Kommissstiefel in den Straßen der Stadt. Soldaten schlugen die Bänke und Tische der Versammlungslokale kaputt und rissen die deutschen Farben herunter. Eine kleine Gruppe von Abgeordneten versuchte sich in einem Hotel zu versammeln, doch der ehrwürdige Demonstrationszug wurde von Dragonern aufgehalten. Man verwies sie des Landes und der Abgeordnete Adolf Schoder versuchte mit diesen Worten, seine Kollegen zu trösten: »Die Nationalversammlung geht heute unter; die deutsche Sache wird vielleicht in den Staub getreten werden; aber der Geist wird sich aller Bajonette zum Trotz bald wieder erheben.«7 Um die Revolution von 1848 zu verteidigen, sammelte sich schließlich deutschlandweit ein breites politisches Spektrum im Zentralmärzverein, der eine halbe Million Mitglieder zählte. Diese Organisation suchte Unterstützung für eine »Kampagne« oder einen »Bürgerkrieg« um die Verfassung. Das unruhige Zentrum dieser Bewegung war das Rheinland. In Köln fanden ab dem 6. Mai innerhalb von nur drei, vier Tagen fünf verschiedene Kongresse statt, zwei von ihnen liberal, drei demokratisch. Die eine oder andere Organisation schien einen echten Aufstand im Rheinland zu erwarten, und als die preußische Regierung die Landwehr in Bereitschaft versetzte, war der zündende Funke da. Unzählige politische Vereine und Vereinigungen des Rheinlands appellierten an die Soldaten, keine Gewalt einzusetzen. Als am 8. Mai die Deputierten von über dreihundert Gemeinde- und Stadträten des preußischen Rheinlands auf einem der demokratischen Kongresse in Köln zusammenkamen, forderten sie von Friedrich Wilhelm, die Verfassung anzuerkennen, den Ruf zu den Waffen rückgängig zu machen und das konservative preußische Kabinett zu entlassen – oder der Zerschlagung des Königreichs
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Preußen ins Auge zu sehen. Auf die Frage, ob sie »Deutsche« oder »Preußen« seien, kannten die Räte nur eine Antwort: »Deutsche! Deutsche! Abspaltung von Preußen!«8 Diese schien tatsächlich in greifbare Nähe zu rücken, denn am Gehorsam der Landwehr gegenüber der Regierung bestanden Zweifel. Carl Schurz war Augenzeuge des Protests in Bonn, vernahm Aufrufe, der preußischen Regierung nicht zu gehorchen. Immer mehr Landwehrsoldaten aus dem Umland kamen in die Stadt.9 Am 3. Mai verkündete die Landwehr bei einer Zusammenkunft in Elberfeld, dass sie die Verfassung unterstütze. Marx’ Neue Rheinische Zeitung dagegen drängte ihre Leser, sich von der Verfassungskampagne ganz zu distanzieren. Ihre Anführer fühlten sich nicht der Arbeiterrevolution verpflichtet, auch lauerten »Verrat und Eigennutz« in den demokratischen Vereinen.10 Marx warnte, dass eine vorzeitige Revolution der Linken nur Repressalien bescheren, ihr aber sonst sehr wenig einbringen werde. Sein Kölner Kongress diente in erster Linie der Vorbereitung einer nationalen Arbeiterversammlung, die im Juni in Leipzig stattfinden sollte. Dennoch kam es im Rheinland zu Ausbrüchen revolutionärer Gewalt. Die Bürgerwehr um Elberfeld, Düsseldorf und Solingen meuterte. Am 8. Mai sammelten sich Tausende in einem mit Waffen ausgerüsteten Lager oberhalb von Elberfeld, riegelten anschließend die Innenstadt ab und widerstanden am nächsten Tag erfolgreich einem Angriff regulärer Truppen. In Solingen waren Frauen mit roten Tüchern unter den Revolutionären. Sie hatten Revolver und Dolche dabei. In Düsseldorf bauten Demokraten Barrikaden, die aber sogleich durch mobile Geschütze in Trümmer gesprengt wurden. Der Aufstand breitete sich nun auf das Umland aus, wo dörfliche Demokraten sich darauf verständigt hatten, als vereinbartes Signal für die Erhebung die Kirchenglocken zu läuten. Am 10. Mai marschierten Tausende bewaffnete Bauern nach Düsseldorf, um den belagerten Demokraten zu Hilfe zu kommen, sie mussten aber feststellen, dass diese bereits niedergezwungen worden waren. Die Aufständischen zerstreuten sich und kehrten nach Hause zurück; doch der Aufstand hatte die Behörden an den Rand ihrer Möglichkeiten gebracht. In die Hände der Demokraten fiel erst Elberfeld, dann Solingen. Beide hatten »Sicherheitsausschüsse« gebildet, um die Erhebung zu steuern. Diese Ausschüsse versuchten einen möglichst breiten Konsens herzustellen und arbeiteten mit Liberalen und konstitutionell gesinnten Monarchisten zusammen. Als sich Marx’ enger Mitstreiter Friedrich Engels den Aufständischen von Elberfeld anschließen wollte, wurde er schon bald mit der Begründung ausgeschlossen, er wolle die Revolution von
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einer »schwarzrotgoldenen« (Verfassungs-)Bewegung zu einem rein »roten« (sozialen, republikanischen) Aufstand umwandeln. Doch nicht lange, und der Aufstand im preußischen Rheinland sollte versanden: Abgeordnete, die man nach Berlin geschickt hatte, glaubten der Regierung nur allzu gern, dass Friedrich Wilhelm die Einheit wünsche. Die Aufständischen bauten die Barrikaden ab, und als die preußischen Streitkräfte eintrafen, fanden sie keinen Widerstand vor. Doch immerhin hatten zehn- bis fünfzehntausend Leute in einer der wohlhabendsten Provinzen Friedrich Wilhelms zu den Waffen gegriffen.11 Zugleich gab es Erhebungen in Sachsen, der zu Bayern gehörenden linksrheinischen Pfalz und Baden. Bei diesen Aufständen spielten Frauen eine bedeutende Rolle: Aktiv beteiligt waren sie im Mai in Dresden, doch normalerweise bildeten sie Netzwerke, die die Rebellen unterstützten und jenen Hilfe anboten, die nach der Niederschlagung gefangen oder ins Exil verwiesen wurden. In Sachsen versuchte der Landtag König Friedrich August II. zu zwingen, die Frankfurter Verfassung zu ratifizieren. Den Beistand der Preußen im Rücken, weigerte der sich, vertagte am 30. April das Parlament und berief dann eine ultrakonservative Regierung. Alarmiert von der Kunde, dass die preußischen Truppen sich an der Grenze konzentrierten, um dem König zu helfen, gingen Arbeiter und Handwerker in Dresden auf die Straße. Als Soldaten am 3. Mai in die Menge schossen, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Der König floh, und eine provisorische Regierung wurde eingesetzt, in der sich Radikale wie Stephan Born, der russische Anarchist Michail Bakunin und der Komponist Richard Wagner (der als Hofkapellmeister wohl den Ast absägte, auf dem er saß) befanden. Bakunin hoffte, Dresden werde eine europaweite revolutionäre Bewegung in Gang setzen – tatsächlich wurde in Prag eine durch die Vorgänge in Dresden angeregte Verschwörung aufgedeckt. Dort hatten die Behörden in nächtlichen Verhaftungen Studenten und Intellektuelle vorbeugend aufgegriffen, um einen Aufstand, der für den 12. Mai geplant war, zu unterbinden.12 In Dresden allerdings nahm der Aufstand ein gewaltsameres Ende: Am 5. Mai marschierten preußische Truppen in die Stadt ein. Bei den nun folgenden viertägigen Straßen- und Häuserkämpfen benutzten sie neue Handfeuerwaffen, die mit modernen Schlagbolzen arbeiteten und schlimme Verletzungen zufügten. Schließlich ging das Opernhaus in Flammen auf. Wagner kletterte Kirchtürme hinauf und läutete die Glocken, um die Revolutionäre zu sammeln und die preußischen Truppen auszuspähen. Begleitet wurde er von einem Lehrer, mit dem er über Religion und Philosophie diskutierte, wäh-
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rend das Mauerwerk um sie herum von Geschossen durchlöchert wurde.13 Born dagegen nutzte sein Organisationstalent, um die Arbeiter zu mobilisieren. Diese setzte er zum Offenhalten der Nachschublinien ein, indem er sie die Innenwände der Häuser durchbrechen ließ. Dadurch konnten sich die Aufständischen von einem Haus zum anderen bewegen, ohne sich auf den Straßen der tödlichen Gefahr des gegnerischen Feuers aussetzen zu müssen. Als sich das Ende näherte, paffte Bakunin, der die »dilettantischen« sächsischen Revolutionäre ziemlich verachtete, gelassen seine Zigarre und schlug kaltblütig vor, das Rathaus, den Sitz der provisorischen Regierung, mit der verbliebenen Munition vollzupacken und in die Luft zu jagen. Seine Kollegen waren dazu allerdings nicht in der Stimmung. Insgesamt wurden schließlich etwa 250 Aufständische getötet und 400 verwundet, 869 Menschen, meist Arbeiter, verhaftet und verhört. Seit der Märzrevolution 1848 waren damit weitere 6000 für ihre Aktionen strafrechtlich belangt, 727 davon zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt worden.14 Born hatte es geschafft, mit 2000 seiner Mitstreiter einen geordneten Rückzug aus der zerstörten Stadt auf die Beine zu stellen, bevor er allein weiterzog und schließlich sicheren Schweizer Boden erreichte. Wagner gelang, versteckt in der Kutsche eines Freundes, die Flucht nach Zürich. In Bayern verwarf König Maximilian II. die Verfassung, nachdem Friedrich Wilhelm ihn dazu ermutigt hatte. Im rheinländischen Teil des Königreichs fand in Kaiserslautern ein Großtreffen von Vereinen und Organisationen aller liberalen und republikanischen Schattierungen statt, bei dem am 2. Mai ein aus zehn Mitgliedern bestehender provisorischer Verteidigungsausschuss gebildet wurde, der als Übergangsregierung fungieren sollte, bis der König zur Besinnung kam. Die Versammlung erklärte darüber hinaus (in einer recht geschickten, wenn nicht sogar witzigen Verdrehung konservativer Auffassungen), dass die bayerische Regierung des Hochverrats an der Verfassung schuldig und der König somit ein Rebell sei. Im Anschluss rief die provisorische Regierung alle übrigen Teile des Königreichs auf, sich ihren Beschlüssen zu fügen. Da die Ordnungsmächte in der linksrheinischen Pfalz schwach waren, breitete sich die Revolution mühelos aus und die Leute bewaffneten sich, um die Verfassung zu verteidigen. Die gut organisierten Radikalen übernahmen durch die »Volksvereine« die Führung, indem sie Eide abnahmen, rote Fahnen hissten und dem Aufstand einen kräftigen republikanischen Farbton verliehen. Unter denen, die sich der Revolution anschlossen, war auch Carl Schurz, der – all seinen Besitz in einem Rucksack – zu Fuß nach Kaiserslautern gekommen war, um sich seinem Freund und Lehrer Gottfried Kinkel anzuschließen, der als Sekretär des
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provisorischen Verteidigungsausschusses ein Ventil für seine revolutionären Energien gefunden hatte. Schurz wurde zum persönlichen Adjutanten befördert und als Bevollmächtigter eingesetzt; seine Aufgabe war es, in Vorbereitung auf den königlichen Gegenschlag die ländlichen Gebiete zu mobilisieren. Bis zum 17. Mai befand sich fast der gesamte bayerische Westen am Rhein in den Händen der Revolutionäre. Dieser Erfolg regte die Demokraten im benachbarten Rheinhessen zu dem Versuch an, die preußische Besatzung aus Mainz zu vertreiben und den Republikanern in Kaiserslautern zu helfen. Darüber hinaus griffen die Revolutionäre einmal mehr auf das schon lange leidende Baden über, das nun seine dritte Revolution durchmachte. Die Stärke der badischen Republikaner war der Rückhalt, den sie unter der breiten Masse der Soldaten fanden. Die jüngste Revolution begann als Meuterei innerhalb der Armee, in deren Verlauf am 12. Mai die Festung Rastatt besetzt wurde. Großherzog Leopold floh in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai aus der Hauptstadt Karlsruhe und brachte sich jenseits der Grenze zu Frankreich in Sicherheit. Jetzt war Baden eine Republik mit einer provisorischen Regierung unter der Leitung von gemäßigten Demokraten, zu denen etwa Franz Raveaux, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, gehörte, der als Verbindungsmann zwischen der badischen Republik und dem Rest der Nationalversammlung agierte. Darüber hinaus setzte er sich dafür ein, die badischen, rheinischen und pfälzischen Republikaner zur Koordination zu bewegen. Sie kamen überein, entlang des Rheins einen Angriff in Richtung Frankfurt zu starten, um das deutsche Parlament vor den preußischen Truppen zu schützen, während ein kleinerer pfälzischer Einsatz, der nach Rheinhessen führte, als Ablenkung dienen sollte. Der Hauptangriff der Badener, an dessen Spitze Friedrich Heckers militärischer Ratgeber Franz Sigel stand, geriet zum Desaster, auch wenn die Pfälzer Worms einnahmen und es vier Tage lang (vom 25. bis 29. Mai) hielten. Doch dann beschoss die hessische Armee die Stadt und zwang die Aufständischen zum Rückzug. Im Frühsommer entwickelte sich Baden zum Zentrum der demokratischen Hoffnungen. Der unfähige Sigel wurde als Kommandeur der Streitkräfte des ehemaligen Großherzogtums durch Ludwik Mierosławski ersetzt, der die polnischen Rebellen gegen Preußen geführt hatte. Der standhafte Gustav Struve, der aus der Haft entlassen worden war, erschien ebenfalls wieder auf der Bildfläche. Er organisierte eine bunt gewürfelte Truppe aus Arbeitern, Studenten und Republikanern, die aus dem Exil zurückgekehrt waren. Schurz schrieb später: »Da der bei weitem größte Teil der pfälzischen Volkswehr nicht uniformiert war und jeder
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Ein Grüppchen deutscher Republikaner in Baden, Mai 1849. Zwei Monate später ging es in der Stadt nicht mehr so entspannt zu. Zeichnung von Ernst Schalck. (akg-images)
Soldat mit Ausnahme der Waffen so ziemlich für seine eigene Ausstattung zu sorgen hatte, so fand der individuelle Geschmack verführerischen Spielraum. Manche der Leute bestrebten sich, als Krieger möglichst wild und schrecklich auszusehen […]. So gab es denn unter uns Wallensteins-Lager-Gestalten genug, die fürchterlich erschienen wären, hätten sie nicht gar so gutmütige Gesichter gehabt.«15 Unter den Freischaren befand sich eine Legion, die nach Robert Blum benannt worden war und unter der Führung seiner Tochter stand. Sie ritt vorneweg, gekleidet in einen samtenen Reitanzug und mit einem breitkrempigen Schlapphut, den eine rote Feder schmückte. An der Seite klapperten Säbel und Pistole, und in der Hand trug sie ein rotes Banner, auf dem die Worte »Rache für Robert Blum« zu lesen waren.16 Man hoffte, Baden würde Zentrum einer großen deutschen Republik, doch kein anderer deutscher Staat, egal wie liberal er war, wäre bereit gewesen, das zuzulassen. Das war auch der Grund, warum die Regierungen von Hessen, Nassau und Württemberg Truppenkontingente zur Verfü-
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gung stellten, während die preußische Armee das Rückgrat der konterrevolutionären Mächte bildete. Diese Streitkräfte nahmen sich zuerst die linksrheinische Pfalz vor, in die sie am 12. Juni einmarschierten. Schurz gehörte den republikanischen Truppen an, die sich nach Baden zurückzogen, und er erinnert sich an »das dumpfe Rollen der Räder auf der Straße, das summende und schurrende Geräusch der Marschkolonne, das leise Schnauben der Pferde und das Klirren der Säbelscheiden in der Finsternis«.17 Die Preußen hatten Kaiserslautern am 14. Juni erreicht und überquerten, den zurückweichenden Demokraten dicht auf den Fersen, am 19. Mai den Rhein, um in Baden einzumarschieren. Aufgebracht durch den Anblick der verhassten Preußen, fanden sich an die 20 000 Menschen bereit, Gegenwehr zu leisten, und kämpften am 21. bei Waghäusl tapfer gegen eine vernichtende Übermacht. Mierosławski führte seine Truppen geschickt ins Manöver und erzielte ein paar kleinere Erfolge, bis seine Streitkräfte unter dem Druck zwangsläufig aufgerieben wurden; etwa 2000 seiner Männer schafften es in die Schweiz. Der letzte Widerstand der deutschen Revolution von 1848/49 konzentrierte sich in Rastatt. Die Festung hielt durch, solange ihre Verteidiger glaubten, dass Mierosławskis Armee auftauchen würde. Als sie von deren Zerschlagung erfuhren, hielten sie Kriegsrat ab, bei dem sich ein paar Hitzköpfe für einen Kampf bis zum letzten Mann aussprachen. Die Mehrheit aber war entschlossen, der Stadt weiteren Beschuss durch die Preußen und die Gräuel einer langen Belagerung zu ersparen. Diese Sicht setzte sich auch durch. Die 6000 Verteidiger kapitulierten am 23. Juli. Oberbefehlshaber über die preußischen Streitkräfte war Prinz Wilhelm, den man inzwischen »Kartätschenprinz« nannte, weil ihm nachgesagt wurde, am 18. März 1848 den Befehl zum Feuern auf die Berliner gegeben zu haben. Als wollte er diesem Ruf gerecht werden, setzte er sich über seine Offiziere hinweg, die vorgeschlagen hatten, Gnade walten zu lassen: Jeder zehnte Gefangene wurde erschossen, die Leichen in Massengräber geworfen; andere wurden zu längeren Haftstrafen verurteilt. Als preußischer Untertan wäre Schurz wahrscheinlich ebenfalls erschossen worden, aber er flüchtete durch einen unterirdischen Abwasserkanal aus der Stadt und versteckte sich mit zwei Kameraden auf dem Speicher einer Scheune. Doch bald wurde das Gebäude von preußischer Kavallerie besetzt, sodass Schurz und seine Freunde »still wie Tote« daliegen und den Feind durch die Ritzen der Holzbretter hindurch beobachten mussten. Nach qualvollen Tagen konnten sie sich aus dem Staub machen, als die Husaren unter ihnen geräuschvoll zechten. Ein mitfühlender Arbeiter
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führte sie auf ihrer Flucht zum Rhein und damit in die Sicherheit Frankreichs. Dort erklärten sie zwei verwirrten Zöllnern, dass sie nichts zu verzollen hätten.18 Mutig und unter Einsatz seines Lebens kehrte Schurz 1850 nach Deutschland zurück, um seinen Freund und Mentor Gottfried Kinkel zu retten, der vor Rastatt gefangen genommen worden war und jetzt im Spandauer Gefängnis einsaß. Später reiste er in die Vereinigten Staaten, wo er sich 8000 Badenern anschloss, die nach der Revolution nach Nordamerika ausgewandert waren. Schurz machte politische Karriere und trat für fortschrittliche Themen ein. Während des Bürgerkriegs diente er als Offizier in der Unionsarmee, danach wurde er in den Senat gewählt und schließlich zum Sekretär des Inneren ernannt. 1906 verstarb er im Alter von siebenundsiebzig Jahren. Die preußische Armee sollte in Baden einen tiefen Eindruck hinterlassen, Erinnerungen an die Repressalien überlebten in einem finsteren Kinderlied: Schlaf, mein Kind, schlaf leis! Dort draußen geht der Preuß. Deinen Vater hat er umgebracht, Deine Mutter hat er arm gemacht. Und wer nicht schläft in guter Ruh, Dem drückt der Preuß die Augen zu. Schlaf, mein Kind, schlaf leis! Dort draußen geht der Preuß.19
II Als in Italien das Jahr 1849 heraufdämmerte, waren die Radikalen in Rom und in der Toskana bereits an der Macht, während die venezianischen Republikaner den Österreichern noch immer hartnäckigen Widerstand entgegensetzten. Im Süden war König Ferdinand II. dabei, das letzte Lebenszeichen der liberalen Ordnung Neapels und die separatistische Bewegung in Sizilien gewaltsam auszulöschen. Noch fühlte sich der Monarch nicht sicher genug, um sich der neapolitanischen Volksvertretung ganz zu entledigen. Die diplomatischen Beziehungen zur Toskana und zum Piemont brach er demonstrativ ab, während er Pius IX. Schutz in Gaeta gewährte. Als im März der Krieg zwischen Piemont und der Toskana erneut aufflackerte, warf Ferdinand sein Schicksal zu dem der Habsburger in die Waagschale, rief den österreichischen Gesandten zurück und
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entließ das Parlament. Die Piemonteser wurden bei Novara besiegt, und damit schwanden die Hoffnungen der italienischen Patrioten dahin. Damit war für Ferdinand klar, dass er vonseiten der nationalen Bewegung in Neapel keine Schwierigkeiten mehr zu erwarten hatte. Die Parlamentsabgeordneten der Liberalen wurden verhaftet, ihre Zeitungen eingestellt, die Druckerpressen zerstört. Anschließend gelangte Sizilien unter denselben absolutistischen Stiefelabsatz. Als am 29. März die von den Franzosen und Briten ausgehandelte Waffenruhe auslief, brachen die neapolitanischen Streitkräfte auf und traten der kleinen Armee von nur 7000 Mann unter dem omnipräsenten Ludwik Mierosławski entgegen. Dass der polnische Revolutionär kein Italienisch sprach, war nicht wirklich hilfreich, aber er kämpfte sowieso einen fast unmöglichen Kampf. Seine Soldaten waren unerfahren und desorganisiert, manche meuterten. Das an der Ostküste gelegene Catania wehrte sich erbittert, bevor es fiel. Und der Anblick von Rauchsäulen, die aus der Stadt aufstiegen, sowie die Tatsache, dass beide Seiten Gefangene hinrichteten, ließ den Widerstandsgeist anderer Städte erlahmen. Syrakus ergab sich kampflos. Nach Catania marschierten Ferdinands Soldaten fast unbehindert auf Palermo zu. Auch in der Hauptstadt gab es wenig Wille zur Gegenwehr: Zwar hassten die sizilianischen Gemäßigten Ferdinand, doch zugleich fürchteten sie den Krieg und die Unruhe, die die Revolution mit sich brachte. So hatten die Squadre während der Kämpfe von ihrem kriminellen Tun abgelassen, doch als sich die separatistische Bewegung auflöste, verhielten sie sich einmal mehr, wie es ihrem wahren Charakter entsprach – sie plünderten und erpressten Schutzgelder. Das sizilianische Parlament war vollkommen gespalten. Im Februar hatte Ferdinand ein Ultimatum gestellt: Sollte Sizilien seine Herrschaft anerkennen, würde im Gegenzug die Verfassung von 1812, dazu eigenes Parlament und Regierung zur Einführung kommen. Lange hatten sich die Sizilianer gegen Ferdinands Forderungen – Oberbefehl über die Streitkräfte und das Recht, das Parlament nach Belieben aufzulösen – gesträubt. Um den neapolitanischen Schlägen zu entgehen, zeigten sich die Gemäßigten nun aber gewillt, die Bedingungen anzunehmen, und baten Mitte April Frankreich um die Vermittlung. Doch dieser Vorschlag kam zu spät. Am 26. April tauchte die neapolitanische Flotte vor Palermo auf. Die Radikalen waren zum Widerstand bereit, doch die Mehrheit der Nationalgarde wollte lediglich Eigentum schützen. Der Radikale Francesco Crispi, schrieb verbittert: »Die Gemäßigten fürchteten den Sieg des Volkes mehr als den der bourbonischen Truppen«.20 Zwar errichtete man ein paar Barrikaden, mit roten Fahnen drapiert, doch das trieb die Gemä-
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ßigten erst recht zu Verhandlungen mit Ferdinand. Nachdem man sich auf eine Kapitulation geeinigt hatte, half so mancher Liberale aus der sizilianischen Führung, die königlichen Truppen nach Palermo zu führen, wobei auch gesagt werden muss, dass damit so manchem Revolutionär die Flucht ermöglicht wurde. Am 11. Mai war die sizilianische Revolution beendet, die Insel unterstand nach mehr als einem Jahr der Unabhängigkeit einmal mehr der bourbonischen Herrschaft. Während »Bomba« seine absolutistische Herrschaft über Neapel und Sizilien wiederherstellte, wurde Rom mehr und mehr zur Republik. Grund dafür war die politische Polarisierung, die nach der Flucht des Papstes eingesetzt hatte. Aufseiten der Linken radikalisierten sich politische Klubs, Carabinieri und Bataillone der Bürgergarde, als deutlich wurde, dass Pius nicht bereit war, sein Asyl in Gaeta zu verlassen. Als bekannt wurde, dass sich das ursprüngliche Parlament am 26. Dezember aufgelöst hatte, exkommunizierte Pius vorsorglich alle, die an den Wahlen zu der neuen verfassunggebenden Versammlung teilnehmen wollten. Die Position der eher Gemäßigten, die – vorausgesetzt, Pius würde die Verfassung behalten – über die Rückkehr des Papstes hatten verhandeln wollen, war damit obsolet. Unter dem Druck weiterer Demonstrationen durch die Radikalen verkündete die Übergangsregierung in Rom das allgemeine Wahlrecht für Männer. Doch die Stimmen der gemäßigten Liberalen gingen in den am 21. Januar abgehaltenen Wahlen unter. Zwar kam es weder zu Gewalt noch zu Einschüchterungsversuchen, aber Konservative und Liberale blieben entweder aus Wut (oder aus Angst vor ewiger Verdammnis) den Wahlen fern und verhalfen damit den Radikalen zu einem überwältigenden Sieg. Obwohl die meisten Abgeordneten nach wie vor Grundbesitzer oder gutbürgerliche Akademiker waren, galten ihre Sympathien den Demokraten oder sogar den Republikanern. Zu den sieben Außenseitern, die schließlich gewählt wurden, gehörten Garibaldi und Mazzini. Zum ersten Mal trat die verfassunggebende Versammlung am 5. Februar zusammen. Sofort stellte sich die Frage, was jetzt zu tun sei, wo der Papst sich klar auf die Seite der Reaktionäre geschlagen hatte. Die Ausrufung einer Republik stand nicht von vornherein fest. Begeisterte italienische Patrioten betrachteten die Versammlung als gesetzgebende Gewalt nicht nur für den Kirchenstaat, sondern für ganz Italien – als die lang ersehnte costituente. In der Toskana ermahnte Montanelli die Römer, die italienischen Wähler nicht durch eine Absetzung des Papstes zu verprellen. Kühle Köpfe in der Versammlung, etwa Mamiani, sorgten sich indessen, dass eine römische Republik wenig Überle-
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benschancen hätte, da weder das reaktionäre Neapel noch das monarchistische Piemont sie lange tolerieren würden. Dennoch schien es keine Alternative zu einer Republik zu geben, da Pius zu keinem Kompromiss bereit war und die politische Unsicherheit Teile des Landes in einen Bürgerkrieg zu treiben drohte. Am 9. Februar erklärte deshalb die verfassunggebende Versammlung mit großer Mehrheit: Rom ist nun eine »reine Demokratie und wird den ehrenvollen Namen ›Römische Republik‹ annehmen«. Zwar sei »die weltliche Regierung des Papsttums damit faktisch und rechtlich beendet«, doch dem Papst werde »alles garantiert, was zur unabhängigen Ausübung seiner geistlichen Macht nötig ist«.21 Was die Rolle der Versammlung im Hinblick auf Italien bedeuten würde, wurde noch nicht entschieden. Montanelli etwa wollte in ihr eine demokratisch gewählte Versammlung für ganz Italien sehen, Mazzini hingegen war realistischer. Er befand sich noch in seinem Schweizer Exil, als ihn die aufregende Neuigkeit aus Rom erreichte, und reiste so schnell es nur ging in die große Stadt. Dort wandte er ein, dass sich weder Piemont noch Neapel an einer republikanischen Volksversammlung beteiligen würden. Erster Schritt auf dem Weg zu einem geeinten demokratischen Italien sei deshalb die Union der toskanischen mit der römischen Republik. Als er dies in Rom vorschlug, überging Mazzini die Lage in Florenz. Dort fürchtete sein einstiger Freund Guerrazzi seine Popularität und sah in ihm einen schädlichen Einfluss.22 Guerrazzi hatte Bedenken, dass die Italiener bei ihrem Sprung in eine unsichere republikanische Zukunft die soziale Stabilität gefährden würden – und Stabilität sah er als unabdingbar für die Wiederaufnahme des Krieges gegen Österreich an. Zudem fürchtete er, dass eine demokratische Toskana eine piemontesische Intervention provozieren werde, weshalb er sich konsequent gegen ein allgemeines Wahlrecht für Männer stellte. Krawalle von Demokraten bei den Wahlen am 20. November 1848 waren die Folge. Guerrazzi geriet jetzt als Gegner der radikalen Sache ins Visier. Als die toskanische Volksvertretung am 10. Januar zusammentrat, wurde sie von gemäßigten Liberalen beherrscht, doch die Nachricht, dass in Rom eine verfassunggebende Versammlung einberufen worden war, bescherte der demokratischen Opposition großen Auftrieb. 30 000 Demonstranten forderten, die Wahl der siebenunddreißig Delegierten für Rom anzuerkennen. Am nächsten Tag, dem 31. Januar, floh Großherzog Leopold über Siena zum kleinen Hafen von Santo Stefano. Als Habsburger erhielt er von Radetzky die Zusage militärischer Unterstützung, »sobald ich die Demagogen von Piemont niedergeworfen habe«.23 Binnen dreier Wochen sollte Leopold die herzliche Einladung König
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Ferdinands von Neapel annehmen und sich zu Papst Pius ins Exil nach Gaeta gesellen. Inzwischen wurden in Florenz die Wappen des Großherzogs entfernt, und im radikalen Livorno hielt nur die Ankunft Mazzinis – en route nach Rom – die Stadt davon ab, sich auf der Stelle zur unabhängigen Republik auszurufen. Derweil übertrug in Florenz die toskanische Volksvertretung, belagert von einer riesigen Menschenmenge vor dem Palazzo Vecchio, die Macht einem Triumvirat: Guerrazzi, Montanelli und dem Demokratzen Giuseppe Mazzoni. Am 18. Februar erklärten sie zusammen mit Mazzini die Toskana zur Republik. Jetzt erschien Mazzinis Vorschlag einer Union zwischen der Toskana und Rom als gangbarer Weg, doch Guerrazzi blieb hart und bestand auf der Unabhängigkeit der Toskana. Schwer enttäuscht, dass sein auf Vereinigung zielender Nationalismus es nicht geschafft hatte, die alten Provinzloyalitäten zu überwinden, reiste Mazzini nach Rom ab.24 Parallel zur Wahl der römischen costituente wurde in der Toskana ebenfalls die neue verfassunggebende Versammlung bestimmt. Das brachte die Toskana an den Rand eines Bürgerkriegs. Nur 20 Prozent der Wählerschaft nahm überhaupt an der Wahl teil: Und so erhielten die Anhänger des Triumvirats vor allem deshalb die Mehrheit, weil Konservative und Gemäßigte die Urnen mieden. Guerrazzi musste Soldaten und Zivilgarde einsetzen, um Florenz gegen Aufständische aus der Bauernschaft zu verteidigen. Diese unterstützten den Großherzog, weil sie Angst hatten, dass eine republikanische Toskana Krieg – entweder mit Österreich oder mit Piemont – sowie höhere Steuern verhieß. Mit Leichtigkeit konnten Klerus und Grundbesitzer hier ihren Einfluss geltend machen, jetzt, da eine österreichische Invasion zu befürchten stand. Der Angriff war das Nachbeben des Krieges zwischen Piemont und Österreich, der schon im März erneut aufgeflammt war. Karl Albert hatte Gründe, um nochmals zuzuschlagen. Innenpolitisch stand er unter dem Druck der Demokraten, nach Custoza die einzig wahren Befürworter der italienischen Unabhängigkeit. Um die Opposition zu besänftigen, sein Gesicht zu wahren, und die Demütigung des vergangenen Jahres auszulöschen, lehnte er am 12. März einen Waffenstillstand ab. In dieser Angelegenheit wiederum hatten Briten und Franzosen versucht zu vermitteln und die Waffenruhe in einen dauerhaften Friedensschluss zu verwandeln, doch weder Österreich noch Piemont waren bereit, ihre Ansprüche auf die Lombardei aufzugeben. Bei Kriegsausbruch bot zudem die junge Römische Republik an, ihre 15 000 Mann starke Streitmacht Karl Alberts Befehl zu unterstellen, doch die Offerte republikani-
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scher Usurpatoren lehnte der Monarch rundheraus ab. Deutlicher noch als 1848 handelte es sich hier um einen dynastischen Expansionskrieg. Auch war die piemontesische Führung den Republikanern so feindlich gesinnt, dass etwa der liberale Graf Camillo di Cavour (eine der wichtigsten politischen Figuren Italiens im 19. Jahrhundert) lieber den Sieg Österreichs im kommenden Krieg in Kauf nahm, als Leute wie Mazzini an der Macht zu beteiligen.25 Cavour hätte sich lieber etwas anderes wünschen sollen. Denn die Kämpfe waren äußerst schnell zu Ende. Zwar hatte Piemont eine Armee von 80 000, doch viele waren übereilt rekrutiert worden und noch ohne Ausbildung, somit weder für die taffen Österreicher noch für den eisernen Radetzky ein ernst zu nehmender Gegner: Und so wurden sie denn auch am 23. März in der Schlacht bei Novara besiegt. Als sein Vorhaben sich in Rauch aufzulösen drohte, ritt Karl Albert mitten ins Schlachtgetümmel, wo er sich erfolglos bemühte, den Heldentod zu sterben (»Selbst der Tod hat mich verschmäht«, musste er feststellen). Daheim in Turin drohte ihm der Verlust seines Throns, weil sein Königreich von den Österreichern überrannt wurde und zudem noch im Inneren Aufstand herrschte. In Genua (aufsässig wie immer) kam es zu einer Erhebung, ausgelöst von dem falschen Gerücht, Karl Albert habe die Verfassung abgelehnt und den Hafen an Österreich übergeben. Um weiteren Schaden von seinem Haus fernzuhalten, entschloss sich der König, zugunsten seines Sohnes Viktor Emmanuel II. abzudanken. Nach langer Diskussion im Parlament wurde ein Waffenstillstand angenommen: Dessen Bedingungen waren ausgesprochen großzügig – nicht zuletzt deshalb, weil Radetzky weder den italienischen Republikanismus weiter befeuern noch eine französische Invasion provozieren wollte. In einem späteren Friedensvertrag blieb Piemonts Territorium unangetastet, allerdings mussten die Piemonteser eine Kriegsentschädigung von 75 Millionen Lire zahlen (anfangs hatten die Österreicher 230 Millionen gefordert), und Viktor Emmanuel musste sich verpflichten, von allen Territorialforderungen außerhalb seines eigenen Königreichs abzusehen. Bis auf einen harten Kern wurden alle venezianischen und lombardischen Revolutionäre amnestiert – ein Passus, den das piemontesische Parlament durch die Einbürgerung all derer abmilderte, die von der Amnestie ausgeschlossen waren. Somit ging der piemontesische Staat relativ unversehrt aus der Krise hervor. Der neue König war bereit, das statuto zu achten, das noch von seinem Vater stammte. Dies aber machte das Königreich Piemont-Sardinien in Italien so besonders: Es blieb bei seiner Verfassung, selbst als die revolutionäre Strömung längst verebbt war. In den Augen der angeschlagenen italienischen Nationalis-
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ten der 1850er-Jahre war es denn auch Piemont, im Übrigen der erste Militärstaat Italiens, das bei der italienischen Einigung moralisch und politisch die Führung beanspruchen konnte. Viktor Emmanuel selbst verkündete: »Ich werde die Trikolore hoch und heilig halten«, während Massimo d’Azeglio, sein im Mai 1849 berufener Ministerpräsident, erklärte: »Ich bin Ministerpräsident, um die Unabhängigkeit der italienischen Festung zu bewahren«26 – eine Anspielung auf Piemont als Kern eines vereinigten italienischen Königreichs. Nach dem Unglück Piemonts fand sich die Toskana der Rache Habsburgs schutzlos ausgeliefert. Guerrazzi war sich bewusst, dass seine einzige Aufgabe darin bestand, das Land vor einem Einmarsch der Österreicher zu retten. Am 27. März erhob er sich deshalb vor der verfassunggebenden Versammlung und widerrief die Republik, um so den Boden für eine friedliche Wiedereinsetzung des Großherzogs zu bereiten. Im Anschluss sorgte Montanelli dafür, dass die Versammlung Guerrazzi zum Diktator erhob, während er selbst wohlweislich das Land verließ. Zwar versuchte der, die Toskana auf die unvermeidliche Invasion vorzubereiten, verhandelte aber vergeblich mit den Gemäßigten über die Bedingungen für eine Rückkehr Leopolds. Schließlich war es so weit: Am 26. April strömten zunächst 15 000 Soldaten in das Großherzogtum – Leopold war allerdings noch nicht darunter. Der ließ sich Zeit und wartete bis Juli, bevor er seinen Platz als Herrscher wieder einnahm. Unterdessen wurde die Römische Republik in Atem gehalten, in der Mazzini endlich an die Macht gelangt war. Das sollte seine einzige praktische Erfahrung in Sachen Regieren sein und hundert Tage dauern.27 Anfang März war er »mit dem Gefühl von Ehrfurcht, ja Verehrung« in Rom angekommen und »spürte wie ein Schauder mich durchlief – der Frühling eines neuen Lebens«.28 Bald schon brachte er seine Zeitung Italia del Popolo wieder heraus und ermahnte alle patriotischen Italiener, gleich welcher politischen Richtung, zu Einheit und Kampfgeist. Daher war er bestürzt, als er von der Niederschlagung des genuesischen Aufstands durch die piemontesische Armee erfuhr. Die Republikaner in Rom hatten wohl gedacht, einen Krieg gegen Neapel zu wagen, um ihre revolutionäre Botschaft unter den Bewohnern des Südens zu verbreiten. Jetzt aber lenkte die Kunde einer Niederlage Piemonts den Blick gen Norden. Sogleich berief die verfassunggebende Versammlung eine neue Notstandsregierung, ein Triumvirat, bestehend aus Mazzini, dem Anwalt Carlo Armellini und einem Radikalen aus der Romagna namens Aurelio Saffi. Kriegsvorbereitungen gegen Österreich und die Sicherung der Republik, so lautete ihr Mandat.
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Der vorausschauende Mazzini war besorgt, dass die Republik nicht überleben werde. Andererseits solle sich die Nachwelt ihrer erinnern. »Wir müssen«, sprach er vor der verfassunggebenden Versammlung, »wie Männer handeln, deren Feind vor den Toren steht, und gleichzeitig wie Männer, die für die Ewigkeit arbeiten.«29 So wurden die Religion und der Glaube geschützt, denn in einer Republik konnte es zumal unter diesen Umständen schnell zu antiklerikaler und antikirchlicher Gewalt kommen. Zwar gab es einige schlimme Morde, aber die Regierung verhielt sich politisch neutral. Als der besonders blutgierige Extremist Callimaco Zambianchi und seine kleine Bande von Anhängern einen Mönch erschossen und anschließend sechs Angehörige eines Klosters in den Elendsvierteln von Trastevere niedermetzelten, wurde er von den Behörden gefangen genommen. In Ancona, wo die Gewalt verbreiteter war, ging Felice Orsini (der später traurige Berühmtheit erlangte und guillotiniert wurde, als er 1858 versuchte, ein Bombenattentat auf Napoleon III. zu verüben) als Beauftragter der Regierung (ironischerweise) hart gegen die »Terroristen« vor. Inquisition und Zensur wurden abgeschafft, die geistlichen Gerichtshöfe durch weltliche ersetzt und der Zugriff der Kirche auf Erziehung und Bildung wurde gelockert. Zwar wurde Kircheneigentum beschlagnahmt, um den Obdachlosen Unterkunft zu geben, auch wurde die Besteuerung so verändert, dass die Armenkasse bessergestellt war. Doch all das war auch bitter nötig, da die wohlhabenderen römischen Familien nach Rossis Ermordung geflohen und Händler und Handwerker, deren Kundschaft sie normalerweise waren, plötzlich ohne Arbeit dastanden. Gleichzeitig war Mazzini sehr darum bemüht, katholische Empfindsamkeiten zu achten. Demonstrativ besuchte er die Ostermesse im Petersdom, während die Republik Religionsfreiheit verkündete. Für die normalen Bürger wirkten die Straßen von Rom jetzt sicherer als unter dem Papst – und das unter einem demokratischen Regime, das gerade die Todesstrafe abgeschafft hatte. Nichts von all dem passte zu den Vorwürfen, Mazzini sei ein »Kommunist« oder (wie Cavour es nannte) ein neuzeitlicher Robbespierre. »Kein Klassenkrieg, keine Feindseligkeit vorhandenem Reichtum gegenüber … aber eine gleichbleibende Tendenz, die materiellen Bedingungen der Klassen, die weniger vom Glück begünstigt waren, zu verbessern« durchzog das Programm des Triumvirats vom 5. April.30 Wer damals mit Mazzini zusammenkam, war beeindruckt: Der amerikanische Konsul Lewis Cass beschrieb ihn als »Mann von großer charakterlicher Integrität und umfassenden intellektuellen Kenntnissen«.31 Einem erstaunten Ferdinand de Lesseps, der im Mai als französischer Gesandter nach Rom geschickt wurde, fiel auf, dass es sogar eine
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Menge gläubiger Katholiken gab, die ganz gewiss die Rückkehr des Papstes in den Vatikan wollten, doch nur als geistlichen Führer und nicht als absoluten Monarchen. Trotz allem sollte die Republik keinen Bestand haben. Dennoch wurde sie nicht durch einen österreichischen Einmarsch zerstört, sondern durch einen französischen Anschlag auf Rom. Während der ganzen Zeit von 1848/49 hatten die italienischen Republikaner zu ihrer Rettung das französische Eingreifen ersehnt. Doch als es endlich so weit war, sollte die Seite der Revolution nichts davon haben. Sobald Pius nach Gaeta geflohen war, stand eine Invasion ausländischer Mächte im Raum, um den Papst wieder in sein Amt einzusetzen. Im Februar hatte Kardinal Antonelli vorgeschlagen, dass die katholischen Mächte Neapel, Spanien und Österreich, vielleicht im Verein mit Frankreich, gemeinsam den Kirchenstaat besetzen sollten. König Ferdinand, ganz der enthusiastische Reaktionär, der er war, zog seine Streitkräfte bereits an der nördlichen Grenze zusammen. Die Österreicher hatten Ferrara zurückerobert und zogen einen weiteren Angriff auf Bologna in Betracht, Spanien führte eine Expedition auf dem Seeweg an, die Haltung der Franzosen war unklar. Als er von Novara erfuhr, wollte Präsident Louis-Napoleon Bonaparte zunächst gegen Österreich kämpfen. Sosehr die konservative Meinung in Frankreich mit dem Papst sympathisierte, war sie doch noch immer patriotisch genug, die österreichische Macht zu fürchten, wenn nicht zu verachten. Ende März genehmigte die Nationalversammlung die Besetzung von Roms Hafen Civitavecchia durch eine 6000 Mann starke französische Truppe unter General Nicolas Oudinot, nicht aber den Einmarsch in die Stadt selbst, solange es dort nicht sicher war. Vordergründig galt diese Mission dem Schutz Roms vor einem österreichischen Angriff, doch Bonaparte hatte Oudinot mit dem geheimen Befehl ausgestattet, die Römische Republik zu zerschlagen. Auf diese Weise konsolidierte der Präsident sein konservatives Fundament, da er die katholische Rechte einband. Die französischen Truppen gingen am 24. April an Land. Sechs Tage später marschierten sie in Richtung Vatikan, doch eine bunte Mischung italienischer Demokraten – an die 9000 Mann, angeführt von Garibaldi und anderen – schlugen sie unter hohem Blutzoll zurück: Die Franzosen zählten 500 Gefallene und Verwundete. Obwohl Oudinot dreist behauptete, diese verheerende Operation sei nur eine »Auskundschaftung«, noch dazu eine »glorreiche«, gewesen,32 war die Niederlage für Louis-Napoleon, der bei der französischen Wählerschaft vor allem deshalb Anklang gefunden hatte, weil man ihn mit den militärischen
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Ehren seines Onkels in Verbindung brachte, mehr als peinlich. Jetzt kam er politisch unter Druck und musste sich vor einer Nationalversammlung verteidigen, die Oudinots »neuer« Mission mit unverhohlener Ablehnung begegnete. Die Politik der Regierung wurde am 7. Mai in einer parlamentarischen Anklage, die der Anwalt Jules Favre führte, von der Versammlung abgelehnt. Neuerliche Wahlen verschafften Louis-Napoleon jedoch die konservative Mehrheit, die er brauchte. Darüber hinaus zeigte sich, dass er, sollte er nicht schnell handeln, um seinen Sieg gebracht würde, da die Österreicher, Spanier und Neapolitaner im Anzug waren. Am 8. Mai warfen sich die Österreicher auf Bologna. Nach einem achttägigen Kampf war der Widerstand unter dem Einfluss der Kanonenkugeln gebrochen. Weiter ging es gegen Ancona, wo der Hafen belagert wurde. Die Franzosen fürchteten, dass jene bald das Juwel Rom an sich reißen würden: Thiers bemerkte später: »Das Wissen um die Fahne Österreichs auf der Engelsburg ist eine Demütigung, die kein Franzose ertragen kann.« Das fand auch der neue französische Außenminister – kein Geringerer als Alexis de Tocqueville –, der sein Amt gerade erst am 2. Juni angetreten hatte und für den es daher unerlässlich war, Frankreichs Auftreten als Großmacht zur Geltung zu bringen.33 Nachdem nun auch die Spanier an die 5000 Mann mit dem Ziel Fiumicino eingeschifft hatten, schien der Handlungsbedarf noch größer. Auch die Neapolitaner waren nicht faul und hatten die Umgebung von Palestrina besetzt, waren aber am 19. Mai bei Velletri von Garibaldi geschlagen worden. Für die Franzosen war es damit höchste Zeit, sich in Bewegung zu setzen. Oudinot bekam das neueste Gerät: In Civitavecchia konnte man sehen, wie schwere Belagerungsgeschütze an Land gebracht wurden. Der bevorstehende Kampf sollte mehr als ungleich sein: Oudinot stellte jetzt 30 000 Mann gegen Roms hoch motivierte, aber bunte Truppe, bestehend aus 16 000 loyalen regulären Soldaten, dazu Carabinieri, Zivilgardisten, Freiwillige aus der Bürgerschaft und natürlich Garibaldis Männer, von denen manche seit südamerikanischen Tagen bei ihm waren. Weil Oudinot sich im April so übel die Finger verbrannt hatte, konzentrierte er sich jetzt auf den Gianicolo-Hügel als Angriffsziel, einen langgestreckten Höhenzug, an dem sich die westlichen Verteidigungsanlagen der Stadt befanden. Von dort aus konnte er Geschütze in Stellung bringen und ungestraft Kanonenkugeln auf Rom regnen lassen, was wiederum der Grund war, warum Garibaldi diese Position mehr als entschlossen verteidigte. In den frühen Stunden des 3. Juni stürzten sich französische Soldaten auf die italienischen Außenposten, die Villa Doria Pamphili und den Palazzo Corsini. Erstere war leicht einzunehmen, doch der Corsini, der dank
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seiner Lage auf einer kleinen Anhöhe einen beherrschenden Blick auf das Stadttor San Pancrazio erlaubte, wurde in einem erbarmungslosen Gefecht nach sechzehnstündigem Kanonen- und Musketenfeuer zerstört. Als die Kämpfe am 4. Juni zu Ende waren, hatten die Italiener mindestens 550 Tote und Verwundete zu verzeichnen, viele von ihnen auf der Straße zwischen der Porta San Pancrazio und dem Corsini, nun in französischer Hand. Nur der Vascello, ein Gebäude an derselben Straße, hielt mithilfe der italienischen Geschütze auf den Stadtmauern stand. »Der 3. Juni«, schrieb Garibaldi pathetisch, »besiegelte Roms Schicksal.«34 Dennoch hatten auch die Franzosen 265 Opfer zu verzeichnen und die Gelegenheit zu einem Überraschungsangriff auf die Stadt verloren. Mazzini indessen erwies sich einmal mehr als Anführer der Stunde (auch wenn Garibaldi dies ungern zugab). Einfache Bürger, Männer und Frauen fanden sich ein, um die Stadt zu verteidigen. Die französischen Kanonenkugeln – vor allem jene, die auf die engen Straßen und Häuser Trasteveres fielen, konnten die Moral nicht brechen. Die Fürstin Belgiojoso stand an der Spitze der freiwilligen Krankenschwestern. Da die Franzosen an Malaria litten, musste Rom vielleicht nur lange genug durchhalten, um ein diplomatisches Eingreifen seitens der Engländer zu provozieren und die Franzosen so weit zu zermürben, dass sie dies zuließen. Schließlich aber sollten es die Römer sein, die ermatteten. Schon aufgrund ihrer zahlenmäßigen Übermacht gelangten Oudinots Belagerungswerke in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni in die Nähe der südlich der Porta San Pancrazio gelegenen Bastionen. Als die durchbrochen waren, standen die Franzosen auf den Stadtmauern. Garibaldis Männer zogen sich in eine zweite Verteidigungslinie zurück, die um die Villa Spada lag (heute die irische Botschaft beim Vatikan) und tagelang beschossen wurde. (An diesem Punkt beschloss im Übrigen Garibaldis schwangere Frau Anita, sich wieder ihrem Mann anzuschließen.) Verzweifelt hielten die Italiener durch bis in die Nacht vom 29. auf den 30. Juni, als die Franzosen die Ruinen des Palazzo Spada einnahmen. Die Verteidiger trugen die berühmten roten Hemden, die am Tag zuvor erstmalig an Garibaldis Legionäre ausgegeben worden waren. Am 30. Juni stimmte die verfassunggebende Versammlung für eine Kapitulation. In einem letzten Moment des Widerstands ratifizierten die Deputierten allerdings noch die Verfassung der Römischen Republik, in der es – obwohl im Hagel der Kanonenkugeln entstanden – heißt: »Die Republik erklärt alle Nationen zu Schwestern: Sie achtet alle Nationalitäten: sie unterstützt die Italiener«.35
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Garibaldi, der wie Mazzini, den Kampf eigentlich weiterführen wollte, sammelte seine Truppe auf dem Petersplatz. Das waren an die dreitausend Leute, darunter Cicerruacchio, Ugo Bassi (der seit dem Frühjahr Geistlicher in Garibaldis Streitmacht war) und Anita, die sich die Haare kurz schnitt und eine grüne Militäruniform trug, bis ihre Schwangerschaft weiter fortgeschritten war.36 Von den Franzosen verfolgt, von den Bauern gemieden, schmolz Garibaldis Truppe während der beschwerlichen Überquerung des Apennins allmählich durch Erschöpfung, Krankheit und Desertionen dahin; als er die Adria erreichte, waren ihm nicht mehr als 200 treue Gefährten geblieben. Sie requirierten Boote, um nach Venedig zu segeln, wurden aber auf See von den Österreichern erwischt. Garibaldi und sein jetzt winziges Grüppchen schafften es an Land und versteckten sich im Wald von Comacchio, Garibaldi trug seine inzwischen ernsthaft erkrankte Anita auf den Armen (sie hatte auf dem langen Marsch vermutlich Malaria bekommen). Als sie – und ihr ungeborenes Kind – starben, weinte Garibaldi bitterlich. Kaum wollte er sich von ihrem leblosen Körper trennen.37 Die Österreicher ergriffen Bassi, zogen ihm barbarisch die Haut von Händen und Stirn (wo er zum Mönch gesalbt worden war), bevor sie ihn erschossen. Garibaldi überquerte nochmals die Berge, erreichte schließlich die toskanische Küste. Zehn Jahre sollte sein Exil dauern und er durch alle Welt reisen. Dann kehrte er nach Italien zurück – dieses Mal im Triumph. Mazzini hingegen blieb nach dem Einmarsch der französischen Truppen noch eine Woche in Rom. Die Franzosen hatten ihre Mission vollbracht und waren jetzt darauf bedacht, Vergeltungsmaßnahmen zu vermeiden. Schließlich ging er an Bord eines Schiffes, das nach Marseille unterwegs war, und von dort aus zurück in die Schweiz ins Exil. In Rom erklärte Oudinot Mitte Juli die Herrschaft des Papstes für wiederhergestellt. Er übergab die Macht dem »roten Triumvirat«, so genannt, weil es aus drei Kardinälen in scharlachroten Soutanen bestand. Die verfassunggebende Versammlung wurde von französischen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett daran gehindert, noch einmal zusammenzutreten. Die Zensur wurde wiedereingeführt, doch Louis-Napoleon bat Pius IX., einige der Reformen von 1848 beizubehalten: »Die Französische Republik«, erklärte er dem Papst in wahrhaft bonapartistischem Stil, »hat keine Armee nach Rom entsandt, um Italiens Freiheit zu vernichten, sondern um sie zu lenken und vor ihren eigenen Verfehlungen zu bewahren.«38 Daraufhin weigerte sich Pius nach Rom zurückzukehren, und zog sich stattdessen äußerst aufgebracht nach Portici in König Ferdinands Palast zurück. Dort veröffentlichte er am 12. September ein Mani-
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fest, in dem er zwar kleine Zugeständnisse machte, im Grunde aber die absolutistische Herrschaft wiederherstellte. Amnestie gewährte er nur in wenigen Fällen, doch weil dadurch sehr viele Menschen der Strafverfolgung ausgesetzt waren, stumpfte dies ihre Wirkung ab: Zeugen verweigerten die Aussage, und am Ende wurden nur achtunddreißig der Anvisierten bestraft. Das rote Triumvirat führte die Inquisition wieder ein, ebenso die Todesstrafe (durch die Guillotine) und öffentliche Auspeitschungen. Selbst gemäßigte Liberale wurden ausgewiesen, und die Juden, in der Republik rechtlich gleichgestellt, in die Gettos zurückgezwungen. Als der Papst im April 1850 endlich nach Rom zurückkehrte, bereitete man ihm dort einen spürbar kühlen Empfang. Als letzter Hort des italienischen Widerstands blieb nun nur noch Venedig. Da die frankoenglische Vermittlung keine Fortschritte zeigte, war Manin trotz seiner republikanischen Überzeugung pragmatisch genug zu erkennen, dass Anfang des Jahres 1849 das Schicksal der Stadt von einem Sieg der Piemonteser abhing. Zudem versuchte er, ohne Piemont zu brüskieren, mit der Toskana und Rom in diplomatische Beziehungen zu treten. Weil er die Römische Republik anerkannte, wurde er von Tommaseo angegriffen, der als gläubiger Katholik die Revolution gegen den Papst verurteilte. Doch Manins Popularität bei den Januarwahlen zur neuen venezianischen Versammlung tat das keinen Abbruch. Nur vonseiten der Mazzinianer, die nach dem scharfen Vorgehen durch die Regierung im Oktober versuchten, erneut die Initiative zu ergreifen, und vonseiten der Konservativen, die den Krieg durch einen Vergleich mit den Österreichern beenden wollten, kam ein gewisser Widerstand. Diese Gegner vom linken und rechten Flügel formierten sich nun in der Versammlung zu einer ungewöhnlichen Allianz, Manin aber behielt die Unterstützung des größten Teils der arbeitenden Bevölkerung von Venedig – einschließlich der Gondoliere (der Elite der Arbeiterklasse), deren Sprecher den Triumviren das Vertrauen bekundet hatte. Ermutigt durch die Neutralität der Zivilgarde, stürmten schließlich eifrige Venezianer am 5. März die Versammlung im Dogenpalast und verlangten, Manin zum Diktator zu erheben. Nur der kleine Mann selbst stellte sich ihnen mit gezogenem Schwert in den Weg und forderte sie auf, sich zu zerstreuen. Zwei Tage später stimmte die Versammlung so oder so dafür, Manin die volle Entscheidungsgewalt zu übertragen, darunter auch das Recht, die Versammlung für fünfzehn Tage aufzulösen und eine Notstandsgesetzgebung zu erlassen. Als die Piemonteser einmal mehr in den Krieg mit Österreich eintraten und Karl Alberts Schiffe in der Lagune erschienen, belebte sich die Stimmung,39 doch am 2. April trafen die schlimmen Nachrichten aus Novara ein.
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Die Versammlung reagierte sofort. Manin informierte die Delegierten über die neue Situation der Stadt und endete mit dem Aufruf, bis zum bitteren Ende zu kämpfen: »Wünscht die Versammlung, dem Feind zu widerstehen?« – »Ja«, riefen die Abgeordneten zurück. »Um jeden Preis?« Die Versammlung erhob sich bis auf den letzten Mann und schrie: – »Ja!« Nicht lange darauf erschienen die Österreicher in großer Überzahl vor Venedig. Bald erreichten die Belagerungsgräben, von den österreichischen Pionieren ausgehoben, die Mauern der Festung Maghera, dem hauptsächlichen Angriffsziel.40 Ab dem 4. Mai geriet die Festung unter den Beschuss von fast 60 000 Granaten und Raketen – ein Viertel davon ging allein am 25. Mai nieder, dem Höhepunkt des Feuerregens. Die Venezianer dagegen konnten den Angriff mit gerade einmal 130 Kanonen und Mörsern parieren. Schließlich war die Munition knapp, und als die Festung fiel, war jeder dritter Schütze tot. Cholera und Malaria taten schließlich das Ihre. Als die Überlebenden sahen, dass die Österreicher ihre Gräben mit Männern besetzten – Signal für den bevorstehenden Angriff – traten sie am 26. Mai über die Eisenbahnbrücke oder per Boot den Rückzug in die Stadt an. Um den österreichischen Vormarsch aufzuhalten, sprengte man fünf Brückenbögen in die Luft. Auch wurden die Plattformen auf der Brücke mit Artilleriegeschützen bestückt. Der Dienst an den Geschützen war im Grunde ein sicheres Todesurteil: Tag um Tag unter Beschuss, trug man nachts die Gefallenen und Verletzten zurück in die Stadt, um tagsüber die beschädigten Verteidigungsanlagen immer wieder abzusichern. Als sich die Belagerung verschärfte, wurden Stimmen laut, die auf Pepes Absetzung drängten; zu alt, zu wenig gewandt sei er, um als Kommandant der Venezianer zu taugen. Der italienische Klub lud alle Soldaten ein, sich dazu zu äußern. Manin, der erkannte, was das für die Disziplin bedeutete und nicht zuletzt für seine Autorität, schloss den Klub am 3. Juni, kam aber dem Wunsch nach Veränderung entgegen: Ein neuer militärischer Ausschuss, darunter General Ulloa, der Held des hartnäckigen Widerstands Magheras, bekam das Oberkommando. Pepe trat zurück, doch Ulloa berief ihn taktvoll als Präsident des Ausschusses.41 Inzwischen hatte Venedig einen neuen Verbündeten: Ungarn. Kossuth hatte im Mai einen Gesandten geschickt, um mit Manin zu verhandeln, und zwar zu einem Zeitpunkt, als er glaubte, die Ungarn könnten ihre Armee vielleicht erfolgreich durch Kroatien manövrieren und Triest, den Heimathafen der kaiserlichen Flotte, besetzen. Die Allianz zwischen Venedig und Ungarn wurde am 20. Mai besiegelt. Dabei versprach Ungarn den Venezianern finanzielle Unterstützung, wenn
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sie im Gegenzug einen der Ablenkung dienenden Ausfall unternahmen, sobald Ungarn die See erreichte.42 Dieses Bündnis weckte in den Venezianern falsche Hoffnungen, in Wirklichkeit zog sich die Schlinge langsam, aber sicher immer enger zusammen. Radetzky forderte die Stadt zur Kapitulation auf, doch während Manin eine Autonomie innerhalb des Kaiserreiches zur Mitbedingung machte, bot der Feldmarschall lediglich die Amnestie für die Soldaten und freien Abzug für jeden, der ins Exil zu gehen wünschte. Das wies die Versammlung Ende Juni natürlich mit überwältigender Mehrheit zurück. Dieser Widerstand allerdings sollte die tapfere Stadt teuer zu stehen kommen. Während sich die Soldaten gegenseitig in der Lagune umbrachten, waren die venezianischen Zivilisten langem Artilleriebeschuss ausgesetzt. Die Geschütze, deren Rohre von den Fahrgestellen entfernt und in eigens konstruierte hölzerne Lafetten eingelassen waren, was eine Aufrichtung von 45° erlaubte, zielten in den Nachthimmel und schickten 24 Pfund schwere Kanonenkugeln hoch über die Lagune fünfeinhalb Kilometer weit auf die Stadt hinunter.43 Der Beschuss begann in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli und dauerte drei Wochen. Das Bombardement und die damit einhergehenden Feuer kosteten allerdings weniger Menschenleben, als man denken sollte. Das lag zum Teil an den Brandschutzaktivitäten der Venezianer und zum Teil daran, dass die Kanonenkugeln, obwohl glühend heiß, auf die weite Entfernung an Schlagkraft verloren. Zwar hinterließen sie klaffende Löcher in Dächern, explodierten aber nicht immer beim Aufschlag. Auch drangen sie nicht bis in die tiefer liegenden Stockwerke durch. Die venezianischen Feste und Prozessionen gingen daher weiter, auch die Theater fuhren mit ihren Aufführungen fort. Pro Tag feuerten die Österreicher tausend Projektile auf die Stadt ab, doch die Venezianer nannten die brennenden Geschosse aufmüpfig »Wiener Orangen«.44 Zwei Widersacher gab es indessen, denen Venedig nicht standhalten konnte: Krankheit und Hunger. Etwa viertausend Venezianer erlagen während des Sommers Typhus und Cholera, und Essen war knapp. Man ernährte sich von ein bisschen Gemüse und Polenta, Fleisch oder Fisch waren rar. So kostete ein Hühnchen den Wochenlohn eines Arbeiters. Auch Medikamente gab es bald nicht mehr und keinen Wein (was bei Cholera besonders schlimm war, da Alkohol die Bakterien abtötet). Darüber hinaus ging den Soldaten bald das Schießpulver aus. Mitte Juli war die Lage brisant, und die Venezianer, bis dahin unerschütterlich, wurden nun unruhig. Ein Priester warnte den Militärausschuss: »Die Frauen, die sich anstellen, um Brot zu kaufen, fluchen und beten, sie rei-
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Die Scuola dei Morti geht in Flammen auf, als Venedig am 29. Juni 1849 von den Österreichern bombardiert wird. Gemälde von Luigi Querena. (akg-images) ßen sich die Ohrringe aus den Ohrläppchen und die Hochzeitsringe von den Fingern … Wir dürfen nicht warten, bis die Leute die Sache selbst in die Hand nehmen.«45 Angesichts drohender Unruhen wurde am 16. Juli Tommaseos Antrag angenommen, ein Rationierungssystem einzuführen. Da die Menschen aus den westlichen Stadtvierteln flohen, weil sie vom Bombardement am stärksten betroffen waren, war der Rest Venedigs bald überfüllt. Viele mussten mit feuchten Kellern vorliebnehmen, so mancher teilte das Bett mit Toten und den an Cholera Erkrankten. Manin wusste, dass die Vorräte der Stadt bis Ende August aufgebraucht sein würden, und so erlaubte ihm – gegen Tommaseos heftigen Widerstand, aber mit Unterstützung Pepes – eine hauchdünne Versammlungsmehrheit am 6. August, mit den Österreichern zu verhandeln. Für Manin, der sich am 13. August auf dem Markusplatz zum letzten Mal an die Venezianer wandte, war es ein schrecklicher Moment. Von Gefühlen überwältigt, konnte er seine Rede nicht zu Ende halten. Als er vom Balkon zurücktrat, rief er aus: »Was für ein Volk! Kapitulieren zu müssen mit solch einem Volk!«46 Nicht einmal auf ungarischen Beistand konnte Venedig nun hoffen, denn am 18. August traf die Nachricht von der Kapitulation Ungarns vor Russland ein. Fünf Tage später sahen venezianische Freischärler, die die Eisenbahnbrücke
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verteidigten, eine Gondel aus der landeinwärts gelegenen Seite der Lagune kommen: Darin saß Manins Triumviratsmitstreiter Cavedelis, der in den späten Abendstunden des 22. August die Kapitulation unterzeichnet hatte. Er befahl den betrübten Soldaten, in die Stadt zurückzukehren und die weiße Fahne zu hissen. Unter den gegebenen Umständen fielen die Bedingungen gnädig aus: Alle Revolutionäre erhielten Amnestie, ausgenommen vierzig führende Köpfe, denen man aber erlaubte, ins Exil zu gehen: Ein Dampfschiff, vom französischen Konsul zur Verfügung gestellt, brachte Manin und seine Familie, Pepe, Ulloa, Tommaseo und die anderen fort.47 Manin endete schließlich in Paris. Als die kaiserlichen Truppen (die während der Belagerung 8000 Tote zu beklagen hatten) am 27. August die Stadt einnahmen, marschierten zuvorderst die ungarischen Bataillone, die Kossuth im Sommer 1848 in der Hoffnung, dadurch die Anerkennung der Aprilgesetze durch die Österreicher zu erlangen, nicht nach Ungarn zurückgerufen hatte. Diese bittere Ironie veranschaulicht vielleicht am besten die schmerzlichen Widersprüche der 1848er-Revolutionen.
III Für Ungarn endete das Jahr 1848 nicht gut. Die Österreicher kontrollierten Budapest, die Nationalversammlung hatte sich ins weit entfernte Debrezin zurückgezogen, wo von den 415 Abgeordneten bis zur ersten Sitzung am 9. Januar nur 145 aufgetaucht waren. Zwar sollte sich deren Zahl noch auf 300 erhöhen, doch für den Augenblick wurde der kleine Rest von denen beherrscht, die mit Österreich verhandeln wollten. Das liberale Ungarn aber hielt durch. Standhaftigkeit und Entschlossenheit waren Tugenden, die für die Beförderung junger Offiziere ausschlaggebend waren, zugleich konnten, auch wenn die meisten nach wie vor adeliger Herkunft waren, Nichtadelige aus den Mannschaftsständen aufsteigen. Das Heer, das im Frühjahr 1849 die Österreicher entschlossen vertrieb, rekrutierte sich daher zum großen Teil aus der bürgerlichen Streitmacht der Honvéd-Bataillone. Ihre Anzahl war von 16 im September 1848 auf beachtliche 140 im Juni 1848 gestiegen; im selben Zeitraum war die Armee, inklusive der regulären Soldaten, von 100 000 auf 170 000 Mann angewachsen. Zu einem guten Teil verdankte sich dies der Wehrpflicht, die bei Ausbruch des Krieges eingeführt worden war. 10 Prozent der Mannschaften waren Studenten, Intellektuelle und Grundbesitzer, etwa zwei Drittel der Rekruten
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entstammten der ärmeren Bauernschaft, ein Fünftel waren Handwerksmeister und Gesellen. Diese Zahlen spiegeln allerdings auch den Umstand wider, dass wer reich genug war und bei der Einberufung den Kürzeren zog, durchaus einen anderen (zumeist ärmeren) bezahlen konnte, der seinen Platz einnahm. Doch das heißt nicht, dass die Mannschaften nicht patriotisch waren – so wurde zum Beispiel das 9. Bataillon, die »roten Mützen«, für seine Kampfbereitschaft und Entschlossenheit berühmt. Und auch die Befehlshaber spielten hier eine wichtige Rolle. Offiziere der alten kaiserlichen Armee, die sich den Honvéd-Bataillonen anschlossen, erhielten in ihren neuen Einheiten fast automatisch einen höheren Rang, während Unteroffiziere zu Offizieren befördert wurden. Diese erfahrenen Soldaten und die geschulten Freiwilligen der Mannschaften im Rang von Unteroffizieren stellten den Kern der Ausbilder. Unter den rebellischen Rumänen und den südslawischen Bevölkerungsgruppen Rekruten anzuwerben war indessen fruchtlos, weshalb die meisten gebürtige Ungarn waren. Unter den Offizieren allerdings waren viele Polen und Deutsche. Letztere machten Anfang 1849 rund 10 Prozent des Offizierkorps aus, Leiningen war demnach kein Einzelfall.48 Der Nationale Verteidigungsausschuss mit Kossuth an der Spitze, kaufte – und schmuggelte – Waffen aus dem Ausland und zahlte mit den ungarischen Goldreserven. Unterdessen produzierten inländische Werkstätten fast fünfhundert Musketen am Tag, zusätzlich zu denen, die man schon unter Batthyány im Sommer 1848 aus dem Ausland, vor allem aus Belgien, bezogen hatte. Trotzdem zeigte sich, dass es viel schwerer war, eine Armee auszustatten, als sie zu rekrutieren. Bei Kriegsausbruch besaßen viele der Freiwilligen, obwohl die kalte Jahreszeit näher rückte, noch keine Mäntel. Auch die Stiefel waren nicht fertig. Um diesem Notstand abzuhelfen, schickte die Regierung Rohmaterial in die Provinzen und erteilte Aufträge an die einheimischen Handwerker, wodurch die vor Ort stationierten Truppen direkt beliefert werden konnten.49 Der Ausschuss bot den Herstellern Kredite an, wenn sie auf Kriegsproduktion umstellten; er sonderte qualifizierte Arbeiter aus den Honvéd-Bataillonen aus und schickte sie in die Werkstätten, zweigte Getreideüberschüsse für das Militär ab und gründete eine Militärakademie und neue Feldlazarette. Die Druckerpressen für die ungarischen Banknoten waren von Budapest nach Debrezin transportiert worden. Rund 80 Regierungskommissare wurden durch das Land geschickt, um, ausgestattet mit Sondervollmachten, die Bevölkerung und ihre Ressourcen für die Kriegsanstrengungen zu mobilisieren, das Militär zu beaufsichtigen und dem Ausschuss Bericht zu erstatten. Das aber war als Gegenge-
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wicht zu den örtlichen Komitatbeamten auch nötig, hatten doch Letztere die schlechte Angewohnheit, ihr politisches Fähnchen nach dem Wind zu drehen. Und das wehte im neuen Jahr aus Richtung Österreich. Unglücklicherweise lief der ungarische Gegenangriff nicht ohne Blutvergießen im Innern ab. Die Krise verlieh den Radikalen neue Lebenskraft; in Debrezin drängten sie auf ein allgemeines Wahlrecht für Männer, die Ausrufung zur Republik, die Abschaffung des Adels und ein Gesetz, das die Forderungen der nationalen Minderheiten als Hochverrat einstufte. Das Parlament reagierte mit der Einführung von Revolutionstribunalen. Radikale wie Gemäßigte wollten dem Aufruhr der Minderheiten begegnen. Am Ende verhängten diese Tribunale 122 Todesstrafen – zumeist gegen Nichtungarn.50 Die Regierung sah sich außerdem von einem ihrer eigenen Kommandeure herausgefordert – von Görgey. Der war persönlich von den Aprilgesetzen überzeugt, doch jetzt hatte er Bedenken, dass Ungarn in Richtung Republik gesteuert würde. Unzufriedene Offiziere spalteten das Heer, da sie glaubten, das Gesetz auf ihrer Seite zu haben, solange sie für die Verfassung kämpften, nicht aber für etwas Radikaleres. Die Offizierkorps ganzer Einheiten desertierten zu den kaiserlichen Truppen. Da seine Streitmacht den Eindruck allgemeiner Auflösung vermittelte, verkündete Görgey in Vác, wo sich seine Obere Donauarmee dem Vormarsch auf Budapest entgegenstellte, am 5. Januar: Dieses »Armeecorps an der obern Donau bleibt treu seinem Schwur, für die Aufrechterhaltung der […] Constitution des Königreichs Ungarn gegen jeden äußern Feind entschieden zu streiten«. Es werde dem rechtmäßigen Kriegsminister gehorchen – mit anderen Worten, dem, der vom König berufen und dem ungarischen Parlament verantwortlich war, nicht aber dem Ausschuss. Die politische Führung der ungarischen Revolution erteilte damit dem radikalen Liberalismus – und mutmaßlichen Republikanismus – eine Absage.51 Die kühne Verlautbarung dämmte die Flut der Desertionen ein – endlich, schrieb Karl Leiningen, habe er einen Anführer gefunden, der ein entschiedener Gegner der »republikanischen Partei« sei und »nichts mehr als die Verfassung von 1848« anstrebe.52 Kossuth indessen bezichtigte Görgey wegen dieser Meuterei insgeheim des Verrats. Trotzdem war der General kein Überläufer. Als Windischgrätz ihn aufforderte, zu kapitulieren und seine Armee mitzubringen, verlangte Görgey Verhandlungen auf der Basis der Aprilgesetze. Doch so oder so, er besaß wenig politischen Rückhalt: Die gemäßigte »Friedenspartei« in Debrezin hätte ihn als Verbündeten sehen sollen, sie fürchtete aber, er wolle die Militärdiktatur. Görgey indessen, nicht weniger misstrauisch, fand, dass alle Politiker zwielichtige Gestalten seien. Und doch
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sollte er sich bald als der Retter der Liberalen erweisen. Nachdem die Österreicher Budapest eingenommen hatten, konnte er seine Armee durch den Rückzug in die slowakischen Berge unversehrt erhalten. Seine Truppen kämpften sich durch hartes Winterwetter und über bergiges Gelände, fielen über die österreichischen Einheiten her, die sich nach Debrezin vorgewagt hatten, und zwangen sie, sich zurückzuziehen und sicheren Anschluss an Windischgrätz’ Hauptarmee im Westen zu suchen. Anschließend marschierte Görgey nach Süden zur Theiß, wo Ungarn die Stellung gegen die Österreicher hielt. Görgeys überragende Fähigkeiten ließen Kossuth keine andere Wahl, als ihm im Frühjahr die Führung der Gegenoffensive anzuvertrauen, auch wenn er ihn nicht zum Oberbefehlshaber ernannte. Anfang April trugen die Ungarn eine Reihe blutiger Schlachten aus und drängten Richtung Budapest vor. Görgey wollte Kossuth davon überzeugen, sich bei der Rückeroberung der Hauptstadt nicht zu verausgaben, sondern das Gros der Streitkräfte Budapest umgehen und die Festung Komárom zurückerobern zu lassen. Letztere war von großer strategischer Bedeutung. Während nun die Ungarn die Österreicher vor sich hertrieben, kam es zu einem bedeutsamen Ereignis: Am 14. April erklärte Kossuth vor Parlament und begeisterten Zuschauern Ungarns Unabhängigkeit. Im Eröffnungsparagrafen wird erklärt, dass »die bis zu Tode gehetzte Ungarische Nation […] durch gänzliche Erschöpfung der Geduld und die Nothwendigkeit der Selbsterhaltung« dazu veranlasst worden sei.53 Fünf Tage später wurde das Manifest veröffentlicht. Als Katalysator hatte hier die neue Verfassung gewirkt, die der Kaiser am 5. März erlassen hatte. Sie hatte Ungarn seiner Aprilverfassung beraubt und seinen Status innerhalb des Kaiserreiches herabgesetzt. Mit anderen Worten: Ein Kompromiss zwischen dem liberalen Regime in Ungarn und der Monarchie in Wien war nicht möglich. Abgesehen davon, dass sie die ungarischen Friedensbemühungen diskreditierte und den ungarischen Liberalen Krieg und Unabhängigkeit als einzige Alternative ließ, verhieß die kaiserliche Verfassung auch für die anderen Nationalitäten des Königreichs nichts Gutes. Für die Serben der Woiwodina etwa, die seit dem Sommer 1848 in Südungarn alles nur Mögliche an ethnischen Gräueln erlitten hatten. Sie mussten nun erfahren, dass der Kaiser ihre Loyalität, anders als gedacht, nicht mit der Anerkennung ihrer Nationalität belohnen würde. Der serbische Widerstand gegen die Ungarn begann daraufhin zu bröckeln. In Siebenbürgen dagegen hatte General Bem mit Zuckerbrot und Peitsche den Widerstand beschwichtigt. Zum Ärger Kossuths hatte er allen rumänischen Kämpfern, die bereit waren, ihre Waffen abzuliefern, die Amnes-
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tie angeboten; mit ein wenig Selbstverwaltung sowie der Erlaubnis, die Muttersprache in gewissem Umfang zu nutzen, hatte er versucht, die Bevölkerung zu beruhigen. Für Kossuth dagegen war – wie für ungarische Nationalisten überhaupt – Siebenbürgen fester Bestandteil der Stephanskrone. Zugeständnisse waren obsolet. Doch jetzt, mit der Unabhängigkeitserklärung, bot Kossuth den Rumänen endlich die Hand und schickte einen Parlamentarier in die Karpaten. Der sollte sich mit den noch verbliebenen Rebellen treffen – seine Ermordung indessen war die Antwort.54 Die genaue Regierungsform des neuen Ungarn – ob Republik oder Monarchie – wollte Kossuth einer verfassunggebenden Versammlung überlassen, die nach dem Krieg gewählt werden sollte. Am 23. April gaben die Österreicher in Erwartung des Vormarschs von Görgey auf Komárom Budapest auf, um nicht eingekesselt zu werden. Allerdings ließen sie eine Besatzung auf dem Budaer Schloss zurück. Nur Stunden später zogen unter begeistertem Willkommensjubel ungarische Soldaten in die Stadt. Görgey, der von Kossuth jetzt zum Kriegsminister ernannt wurde, wollte die Armee erst einmal ausruhen lassen. Auch sollten die Offiziere Gelegenheit haben, sich mit der neuen Lage anzufreunden. Kossuth dagegen wollte, dass die Befreiung Budapests mit der vollständigen diplomatischen Anerkennung der ungarischen Unabhängigkeit einhergehen solle. Die Zeit drängte, da die Österreicher nach Novara schon bald Truppenverstärkung aus Italien erhalten würden. Görgey beugte sich dem politischen Druck und überstellte den Hauptteil seiner Honvéd-Streitkräfte von Komárom nach Buda, um das Schloss zu belagern.55 Das war ein folgenschwerer Fehler: Wären die Ungarn in Richtung Wien vorgestoßen, hätten sie vielleicht einen Frieden aushandeln können. So kam es, dass der Schlossberg am 4. Mai von 40 000 ungarischen Soldaten umstellt wurde. Die Schlacht dauerte zweieinhalb Wochen. In diesen kritischen Tagen bombardierten die österreichischen Geschütze die Stadt vom Schloss aus und versuchten, wenngleich erfolglos, sich auf Széchenyis Kettenbrücke einzuschießen. Schließlich sprengten die ungarischen Belagerungsgeschütze, extra aus Komárom herangeschafft, eine Bresche in die Mauern der Zitadelle. In der Nacht vom 20. auf den 21. Mai arbeiteten sich anschließend die Honvéd-Soldaten unter mörderischem Beschuss der Österreicher den Steilhang hoch und die Bresche hindurch. Görgey hatte angeordnet: kein Pardon, und so kam es in der von berstenden Kanonenkugeln und Musketenfeuer hell erleuchteten Nacht zu einem erbitterten Kampf – grausam und blutig. In dieser einen Nacht verloren eintausend Österreicher ihr Leben.56 Und obwohl dieser
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Sieg von immenser symbolischer Bedeutung war, hatten die ungarischen Streitkräfte doch nur wertvolle Wochen verloren, die sie hätten nutzen können, um die Österreicher weiter nach Westen abzudrängen. Wie Görgey befürchtet hatte, waren seine Männer jetzt zu erschöpft, um nach Österreich hinein vorzudringen. Die kaiserlichen Truppen blieben daher an den westlichen Rändern des Landes stationiert. Die ungarischen Revolutionäre indessen, den baldigen Sieg und die Unabhängigkeit vor Augen, setzten bereits jetzt auf innenpolitischen Gewinn. Die Nationalversammlung wählte Kossuth zum Gouverneur-Präsidenten, wobei er sich nicht zum Diktator erhob. So ernannte er am 2. Mai ein Kabinett, an dessen Spitze sein enger Mitstreiter Bertalan Szemere stand. Der Landtag trat nach wie vor zusammen, und die Regierung besaß die Unterstützung der Mehrheit. Während Kossuth von seinem Recht Gebrauch machte, die allgemeine Richtung der Politik vorzugeben, stimmte er zu, dass die Minister seine Dekrete gegenzeichnen mussten und er verpflichtet war, sich an die Gesetze, die die Nationalversammlung erließ, zu halten – entsprechend lautete auch der Amtseid, den er am 14. Mai ablegte.57 Auf diese Weise waren Kossuths präsidiale Macht und die Legislative ungeschickt miteinander verzahnt. Ende Mai bat Szemere die Versammlung um ihre Auflösung und ihr erneutes Zusammentreten am 2. Juli in Budapest. Währenddessen wurde andernorts der endgültige Untergang des liberalen Ungarn vorbereitet. Zar Nikolaus I. hatte Kaiser Franz Josephs dringlicher Bitte nach einer Intervention »im heiligen Krieg gegen die Anarchie« zugestimmt.58 Görgey, der als Kriegsminister den Oberbefehl über alle ungarischen Armeekorps innehatte, war einer der Ersten, die die Zeichen lesen sollten. Da er allerdings ohnehin nicht bis zum bitteren Ende kämpfen wollte, wollten er und viele Offiziere lieber verhandeln als zusehen zu müssen, wie Ungarn ans Messer geliefert wurde. Zweifellos wurde ihr Wunsch nach einem schnellen Verhandlungsfrieden durch die Gefangennahme zweier ungarischer Offiziere verstärkt, die als Rebellen verurteilt, am 5. Juni standrechtlich erschossen wurden. Das alles unter dem Befehl des neuen österreichischen Kommandanten, des berüchtigten Generals Ludwig Haynaus. An einen Verhandlungsfrieden aber war, solange Kossuth das Ruder in der Hand hielt, nicht zu denken. Görgey erwog die Möglichkeit eines Militärputsches, doch es gelang ihm nicht, sich bei den zivilen Politikern Rückendeckung zu verschaffen. Als Kossuth zum ersten Mal vom Gesuch des Kaisers an den Zaren erfuhr, rief er das Volk auf, sich gegen einen russischen Einfall zu erheben. Zugleich
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versuchte die Regierung vergeblich, internationale Hilfe zu erhalten, wobei sie die Gefahr des Übergriffs des russischen Militärs auf Mitteleuropa betonte. Unglücklicherweise war Preußen Ungarn ausgesprochen feindlich gesinnt: Zwar fürchteten die Konservativen die Folgen einer russischen Militärintervention, doch anstatt den Magyaren zu helfen, boten sie an, eigene Truppen zu schicken, um am Einmarsch teilzunehmen und dadurch eine gewisse Kontrolle über die Situation zu bekommen. Weniger ablehnend waren die westlichen Mächte, entsandten aber auch keine Unterstützung. Louis-Napoleon war nicht in der Stimmung, die Russen herauszufordern und im Moment sowieso dabei, die Römische Republik zu zerschlagen. Nur bei der radikalen Linken konnten die Ungarn Sympathie gewinnen, doch außer ein bisschen Tamtam in ihren Zeitungen kam dabei nichts heraus. Paris selbst quittierte die ungarische Bitte mit eisigem Schweigen. Und da die Briten darauf beharrten, dass Ungarn rechtlich gesehen noch immer Teil des österreichischen Kaiserreichs war, blieb als einziger Verbündeter der Ungarn Manin mit seiner Republik Venedig. Die Vereinigten Staaten zeigten sich wohlwollend, boten aber nur die diplomatische Anerkennung an – und bei der Entfernung, die die ungarischen Gesandten zurückzulegen hatten, wäre bei ihrer Ankunft in Washington die Revolution schon vereitelt gewesen.59 Die ungarische Regierung unternahm deshalb nun den verspäteten Versuch, die östlichen Grenzen zu sichern, indem sie mit den rumänischen Nationalisten verhandelte. Diese sagten Mitte Juni den Ungarn ihre Unterstützung zu, sofern im Gegenzug Rumänisch als offizielle Amts- und Unterrichtssprache eingeführt und der bäuerliche Frondienst abgeschafft würde. Das »Nationalitätengesetz« vom 28. Juli weitete diese Zugeständnisse auf alle ethnischen Gruppen des Königreichs aus und garantierte ihnen die nationale Identität. Während das Ungarische die Sprache der Regierung blieb, konnten die Komitate die Sprache benutzen, die sie als passend für die örtlichen Gegebenheiten ansahen. Am selben Tag gewährte man außerdem den Juden Rechtsgleichheit. Dennoch waren sowohl die Bauern- als auch die Nationalitätengesetzgebung nicht ausreichend und kamen zu spät, um Ungarn vor dem endgültigen Angriff zu bewahren. Auch gab es keine weitreichende Sozialreform, die die Bevölkerung für den großen Kampf hätte begeistern können. Und schließlich boten die Nationalitätengesetze den Minoritäten weniger als die Verfassung des Kaisers vom März 1849. Zar Nikolaus I. hatte seine Gründe, als er dem jungen Franz Joseph bei der Zerschlagung der ungarischen Revolution beistand. Zum einen verdächtigte er
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die Ungarn des Versuchs, eine Revolution in den Donaufürstentümern anzuzetteln, zum anderen fürchtete er, dass ein unabhängiges Ungarn Österreich schwächen und Preußen erlauben würde, Deutschland zu dominieren; drittens machten ihm die möglichen Auswirkungen des ungarischen Beispiels auf seine weiterhin rebellischen polnischen Untertanen Sorgen. Diese Ängste kulminierten, als der polnische Kommandant der ungarischen Streitkräfte in Siebenbürgen, Józef Bem, seinen Soldaten im Januar 1849 erlaubte, in die Bukowina überzugreifen, was die russischen Offiziellen im benachbarten Polen in Alarmbereitschaft versetzte. Als Reaktion darauf erteilte Nikolaus seinem Feldmarschall Iwan Paskewitsch, dem Statthalter Polens, »die Vollmacht, die Grenzen zu überschreiten und sich in einen Kampf mit den Aufständischen einzulassen, wenn die österreichische Obrigkeit danach verlangte«. Das alles war schon passiert, bevor der neue österreichische Außenminister Schwarzenberg auch nur ein offizielles Ersuchen auf russische Unterstützung gestellt hatte – aber jetzt, wo die Ungarn in der Klemme steckten, zögerte Schwarzenberg, den großen Bären nach Mitteleuropa zu bitten; er wollte beweisen, dass Österreich »stark genug ist, seine innerstaatlichen Turbulenzen selbst auszugleichen«.60 Tatsache war, dass die Russen einen kurzen Vorstoß nach Siebenbürgen hinein unternommen hatten, ohne davon durch Wien ermächtigt gewesen zu sein. Lediglich die Bitte General Puchners von der Peripherie aus, ihm gegen die Magyaren zu helfen, war der Grund. Das kleine, 6000 Mann starke russische Heer gehörte zu den kaiserlichen und rumänischen Truppen, die Bem im Frühling zurückdrängte, was Wien einigermaßen in Verlegenheit brachte, nicht aber die Russen, die nicht bereuten, im Namen der »Humanität« gegen die ungarischen Revolutionäre vorgegangen zu sein. Gleichwohl wurden die Russen hier gedemütigt, und der Zar war darüber noch nicht hinweg, als Görgey im April Windischgrätz beinah aus Ungarn vertrieb. Daher war Nikolaus durchaus offen, als Schwarzenberg, seinen österreichischen Stolz ignorierend, dem kaiserlichen Gesandten in Sankt Peterburg erlaubte, offiziell um russischen Beistand zu bitten. Bereitwillig ging der Zar darauf ein: Während er Paskewitsch im Vertrauen gestand, dass er »nicht darauf brenne«, in die ungarischen Angelegenheiten verwickelt zu werden, sah er zugleich »in Bem und in den anderen Lumpen Ungarns nicht nur die Feinde Österreichs, sondern auch die Feinde der Ordnung und Ruhe der Welt, die Personifikation von Verbrechern, Schurken und Zerstörern, die wir um unserer eigenen Ruhe willen vernichten müssen«.61 Als sich Franz Joseph am 21. Mai nun persönlich an Nikolaus wandte, damit dieser sich den Habsburgern bei der
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Rettung »der modernen Gesellschaft vor dem Ruin« anschließe und »den heiligen Kampf der sozialen Ordnung gegen die Anarchie« führe, lief er offene Türen ein.62 Der junge habsburgische Kaiser war nach Warschau gereist, um den Zaren zu treffen, der es zufrieden war, den Österreicher auf die Knie fallen und seine Hand küssen zu sehen. Die Ungarn konnten höchstens 170 000 Mann, unterstützt von 500 Geschützen, ins Feld schicken. Dagegen hatten die Österreicher und Russen eine zahlenmäßig vernichtende Übermacht mit insgesamt 375 000 Mann; davon allein im Westen Haynaus Streitmacht mit 83 000 Mann und 330 Kanonen, im Süden 44 000 Mann und 190 Kanonen unter Jelačić und etwa 48 000 rumänische Partisanen und kaiserliche Soldaten in Siebenbürgen. Die übrigen alliierten Truppen stellten die Russen unter Paskewitsch, der ein Veteran der Eroberungskriege im Kaukasus und ein Held (sofern man das so nennen kann) der Unterdrückung des polnischen Aufstands von 1831 war. Er führte stattliche 200 000 Mann mit stattlichen 600 Geschützen ins Feld, die gefechtsbereit in den rumänischen Fürstentümern und in Polen standen, allerdings war er nicht willens, sich von der Ungeduld der Österreicher zu einem voreiligen Angriff hinreißen zu lassen. Obwohl die Russen versprochen hatten, am 17. Juni einzumarschieren, wartete Paskewitsch, bis seine Truppen bereit und genug Vorräte und Ausrüstung gehortet waren, um sein Heer versorgen zu können. So kam es, dass der angriffslustige Haynau zuerst zuschlug und mit dem Ziel Budapest ins westliche Ungarn eindrang, wobei er klugerweise Komárom umging. Der Krieg im Süden war weiterhin ethnisch geprägt und insgesamt ein schmutziges Geschäft. Als die Russen schließlich im Osten angriffen, trafen sie auf wenig Widerstand, weil die Ungarn bereits in Kämpfe mit den Österreichern verwickelt waren. Nur langsam kam Paskewitsch in Siebenbürgen voran, wo die bloße Überzahl der Russen die Waage zugunsten der rumänischen und kaiserlichen Streitkräfte neigte. Anders als erwartet, verhielten sich die Russen zurückhaltend: Ungarische Gefangene wurden gut behandelt, und es gab wenig oder gar keine Plünderungen oder Gewalt gegen die einheimische Bevölkerung. Offensichtlich stimmten die russischen Invasoren und die Magyaren darin überein, dass die eigentlichen Verbrecher die »feigen und räuberischen Österreicher« waren.63 Während die Russen langsam durch das östliche Ungarn vordrangen und dabei mit Cholera zu kämpfen hatten, rückten im Westen die Österreicher energisch vorwärts und nahmen am 13. Juli Budapest ein. Görgey zog seine verbliebenen Truppen an die Drau zurück – die Männer waren erschöpft und
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viele von ihnen ohne Schuhe – doch selbst seine Entschlossenheit vermochte den endgültigen Zusammenbruch Ungarns nicht zu verhindern. Am 8. Juli flohen das ungarische Parlament und die Regierung einmal mehr aus Budapest und trafen – die Nationalversammlung zählte dieses Mal 200 Abgeordnete – weit im Süden, in Szegedin, zusammen; man ging davon aus, dass die ungarische Revolution hier ihren letzten großen Widerstand leisten würde. Szegedin – wie Debrezin eine Stadt mit matschigen Straßen und primitiven Häusern – war für eine Woche lang, zwischen dem 21. und dem 28. Juli, die Kulisse für das letzte Zusammentreten des ungarischen Revolutionsparlaments. Unterdessen handelte Görgey, der mit seinem Korps südwärts in Richtung Szegedin unterwegs war, mit den Russen die Bedingungen für seine eigene Kapitulation aus und versuchte dabei, als unwahrscheinliche Friedensdividende die zaristische Unterstützung der Aprilgesetze zu ergattern. Kossuth war außer sich vor Wut. Doch Paskewitsch akzeptierte nichts anderes als die bedingungslose Aufgabe. Regierung und Parlament flohen am 30. Juli aufs Neue, dieses Mal nach Arad. Am Tag zuvor war der radikale Dichter Sándor Petöfi, Adjutant unter General Bem, in Siebenbürgen von Kroaten im Kampf getötet worden. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Haynaus Armee wiederum war inzwischen so weit in Ungarn vorgedrungen, dass sie Temeswar erreichte, wo am 9. August ein mörderischer Artilleriebeschuss die Soldaten der Honvéd-Einheiten in Angst und Schrecken versetzte. Auf der anschließenden Flucht wurden viele von ihnen unter den Hufen der österreichischen Kavallerie zermalmt. Als Kossuth am 11. August von diesem letzten Desaster erfuhr, trat er zurück und übergab Görgey umstandslos die volle zivile und militärische Entscheidungsgewalt. Seinen typischen Oberlippen- und Backenbart und die löwenartigen Koteletten rasierte er sich ab, nahm zwei falsche Pässe und floh über Konstantinopel ins Exil. Szemere, der die Stephanskrone mitgehen ließ und an der Grenze zum Osmanischen Reich in Orschowa vergrub, folgte ihm. Ebenfalls am 11. August kamen ganze zwölf Mitglieder der Nationalversammlung in Arad zusammen und lösten das Parlament auf. Görgey indessen bereitete die Kapitulation seiner Truppen gegenüber Russland vor. Dies tat er auch, um seine Offiziere der Rache der Österreicher zu entziehen. Zwei Tage später wurde die Kapitulation nahe Arad in dem Dorf Világos vollzogen. Alles in allem hatten beide Seiten 50 000 Gefallene zu beklagen. Auf der österreichischrussischen Seite zählten die Österreicher die meisten Verwundeten. Dafür waren die Russen stärker von Krankheiten betroffen: Sie verloren 550 Männer auf dem Schlachtfeld, aber über 11 000 durch die Cholera.64
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Vergeltung durch die Habsburger in Ungarn: Hinrichtung ungarischer Offiziere bei Arad am 6. Oktober 1849. (Bridgeman Art Library)
Die Russen (und auch Zar Nikolaus) bewunderten den Mut der Ungarn. Deshalb waren sie für volle Amnestie, doch die Wiener Regierung gewährte diese am 20. August nur den Mannschaften, den Jungoffizieren – die in die österreichische Armee eingezogen wurden – und Görgey. Alle Übrigen hatten sich in einem Schnellverfahren vor einem Militärgericht zu verantworten. Bis Ende 1850 wurden 4600 Ungarn verurteilt, rund 500 zum Tode, wobei etwa 120 der Urteile auch vollstreckt wurden. Etwa 1500 Menschen wurden zu Haftstrafen verurteilt – normalerweise bewegte sich das Strafmaß zwischen zehn und zwanzig Jahren –, viele von ihnen legte man in Ketten. Kossuth, Szemere und andere Exilanten wurden in Abwesenheit vor Gericht gestellt, für schuldig befunden und symbolisch »gehängt«, indem ihre Namen an die Galgen des Militärgefängnisses in Budapest genagelt wurden. Zu den unrühmlichsten Exekutionen gehörten die von vierzehn ungarischen Feldherren am frühen Morgen des 6. Oktober in Arad und die von Batthyány am selben Tag in Budapest. Unter denen, die in Arad erschossen oder erhängt wurden, befand sich Leiningen, der seiner geliebten Frau Lisa noch einen letzten Brief schrieb, bevor er vor den Henker trat. Als er beim Galgen ankam, scherzte er mit der Wache: »Sie hätten uns wenigstens zum Frühstück einladen können.« Die Urteile wurden einzeln vollstreckt, weshalb die gesamte Zeremonie quälende drei Stunden dauerte, drei Stunden bis die Körper leblos von den Galgen baumelten oder am Pfahl hinuntersackten.65 Batthyány hingegen war im August vor einen Olmützer
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Militärgerichtshof gebracht worden und sollte unter Schwarzenbergs persönlichem Kommando gehängt werden. Auf dem Transport nach Budapest schnitt er sich aber mit einem Dolch, den ihm seine Frau ins Gefängnis geschmuggelt hatte, die Kehle durch. Obwohl er überlebte, sorgte die Wunde dafür, dass er nicht durch den Strang getötet werden konnte, stattdessen richtete ihn am 6. Oktober bei Sonnenuntergang ein Erschießungskommando. Standesgemäß verweigerte auch er eine Augenbinde und bestand darauf, den Befehl zum Schießen selbst zu geben.66 Warum der »Unabhängigkeitskrieg« (als solcher wird er in Ungarn gesehen) scheiterte, ist strittig. Nach Meinung István Deáks lag der Schlüssel in den ethnischen Konflikten, insbesondere dem ungarischrumänischen in Siebenbürgen. Dieser sei, so argumentiert er, absolut vermeidbar gewesen: Hätten die Ungarn rechtzeitig Zugeständnisse gemacht, hätten sich die Rumänen ruhig verhalten, als sich die Regierung der Invasion Jelačićs im Süden und dem österreichischen Angriff im Westen gegenübersah. So aber schmetterten die Ungarn, wie Alan Sked meint, die kroatische Herausforderung ab und kontrollierten dort wie auch nach dem anfänglichen Schock in Siebenbürgen bald die Lage. Der russischen Intervention indessen weisen Sked und Deák keine besondere Bedeutung zu. Zu langsam bewegte sich Paskewitschs riesige Armee durch das östliche Ungarn, auch focht sie keine entscheidenden Schlachten. Hätte sich der Krieg länger hingezogen, wäre die zahlenmäßige russische Übermacht ins Gewicht gefallen; so aber wurden die Ungarn im Sommer 1849 mehrfach und entscheidend durch die Österreicher besiegt. Am Ende verloren die Ungarn, weil die Österreicher zahlenmäßig überlegen waren, dies galt insbesondere im profanen, aber lebenswichtigen Bereich der Logistik. Die Österreicher waren besser versorgt, besser ausgerüstet und besser gedrillt als die eilig zusammengestellten ungarischen Honvéd-Bataillone. Die improvisierte ungarische Rüstungsindustrie hatte zwar immer neue Feuerwaffen produziert, im Kampfgeschehen jedoch kam es bei jedem vierten Musketenschuss zu einer Fehlzündung. Auch führte der Waffenmangel dazu, dass Angriffe nicht sofort pariert werden konnten. Österreich dagegen besaß wichtige Fertigungskapazitäten – darunter auch bei den strategisch wichtigen Eisen- und Stahlwerken. Die Ungarn versuchten verzweifelt, ihre Munitionsknappheit wettzumachen (Görgey selbst war ja für diese Aufgabe eingesetzt worden), doch sie konnten die Lücken nie schließen. Da außerdem die größte ungarische Waffenfabrik in Budapest lag, einer Stadt, die 1848/49 zweimal von den Österreichern eingenommen wurde, war die Produktion unterbrochen, bis sie nach Nagyvárad verlagert wurde. Und schließlich
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kam noch hinzu, dass die Ungarn fast das ganze Jahr 1848 über ihr Waffen- und Munitionsdefizit nicht durch Importe ausgleichen konnten, da das Land von der übrigen Welt abgeschnitten war.67 Ohne die Bedeutung der militärischen Stärke Österreichs (und der relativen Schwäche Ungarns) herunterspielen zu wollen: Man kommt nicht umhin, dass das Zusammentreffen der Faktoren ethnischer Konflikt plus russische Intervention der maßgebliche Grund für die ungarische Niederlage war. Zwar stimmt, dass Jelačić relativ leicht aus dem Weg geräumt werden konnte und General Bem es schaffte, die Rumänen zurückzudrängen, aber allein schon die Standhaftigkeit der südslawischen und rumänischen Opposition gegen den magyarischen Nationalismus brachte es mit sich, dass die ungarischen Streitkräfte sich nicht völlig auf den westlichen Schauplatz konzentrieren konnten, um den österreichischen Gegenangriff, als es soweit war, zurückzuschlagen. Nach Lage der Dinge stand Görgey der 83 000 Mann starken österreichischen Streitmacht mit nur 63 000 Mann gegenüber, und das zu einer Zeit, in der die bewaffneten ungarischen Streitkräfte insgesamt 170 000 Mann zählten. Die Übrigen waren im Einsatz gegen Kroaten, Serben oder Rumänen gebunden, zudem bereiteten sie sich auf die Begegnung mit den Russen vor. Auch wenn der russische Schlag nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, mit aller Macht erfolgte, hielt die potenzielle Gefahr eines solchen die Ungarn bis zum letzten Moment von einer Konzentration ihrer Truppen ab. Görgeys zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber den Österreichern mag nicht so groß gewesen sein. Doch unter anderen Umständen hätte ein Kommandant seines Schlages mit gleich vielen oder mehr Soldaten das Kriegsglück zugunsten Ungarns beeinflussen können. Die Beharrlichkeit der ungarischen Revolution sollte Auswirkungen auf das ganze Habsburgerreich haben. Dadurch konnte die österreichischen Regierung perfekt begründen, warum sie das in der Verfassung vom März 1849 zugesagte Parlament nicht einberief. Mehr noch, sobald die Revolution in Ungarn und Italien ausgemerzt war, fühlte sich die Regierung stark genug, die versprochene Verfassung ganz zurückzuziehen. Franz Joseph bat am 19. Oktober 1850 Karl Freiherr von Kübeck, einen Konservativen, die Rolle des Reichsrats oder kaiserlichen Rats zu definieren, der dem Parlament vorstehen und vom Kaiser berufen werden sollte. Zusammen manövrierten der Kaiser und Kübeck dann den reformgesinnten Schwarzenberg aus. Von den verfassungsgemäßen Institutionen würde nur der Reichsrat umgesetzt werden. Mit anderen Worten: Der Kaiser hatte nicht die Absicht, die Macht mit einem gewählten Unterhaus zu teilen. Der Reichsrat trat erstmals im April 1851 zusammen und wurde im August mit
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der Untersuchung beauftragt, ob die Verfassung vom März 1849 sinnvoll sei. Es überrascht nicht, dass er zu einem negativen Urteil kam, und so wurde die Verfassung zum 31. Dezember 1851 durch das »Silvesterpatent«, das erneut den Absolutismus im Habsburgerreich verankerte, verworfen. Damit war die Zentralisierung nun lückenloser als zuvor. Die ungarische Verfassung war zerstört, und mit dem Vormarsch russischer und österreichischer Truppen hatten proösterreichische Beamte die Regierungsgeschäfte in Ungarn übernommen. Österreichische Gesetze wurden eingeführt, und der Oberste Gerichtshof in Budapest wurde geschlossen, in Zukunft hatten alle Klagen in Wien eingereicht zu werden. Die ungarische Polizei, die Panduren, wurde durch österreichische Gendarmerie ersetzt. Von da an war das Kaiserreich nicht mehr als multinationaler, sondern als nicht nationaler Staat zu betrachten, in dem alle dem Kaiser gleichermaßen unterworfen waren. Konkret bedeutete das aber, dass der politische Vorteil jetzt aufseiten der Deutschen lag, da ihre Sprache Amtssprache war. In Ungarn trugen die deutschsprachigen Beamten, die aus dem Land stammten, eine eigene Uniform, die sich an der der berühmten ungarischen Kavallerie orientierte und ihnen – nach dem Minister, der diese Politik der Zwangsassimilation durchsetzte – den Spitznamen »Bachs Husaren« einbrachte. Auch die rumänischen Hoffnungen auf eine Belohnung ihrer Loyalität zerschlugen sich nun rapide: Mit der Vernichtung der ungarischen Revolution machten sich österreichische Beamte mit Rückendeckung der Armee über Siebenbürgen, die Bukowina und das Banat her.68 Selbst die treu ergebenen Serben und Kroaten wurden ob ihrer traditionellen Gegnerschaft zu den Ungarn nicht belohnt. Jelačić wurde 1853 aus seinem Amt als kroatischer Ban entlassen und war von da an österreichischer General. So klagte ein Kroate einem ungarischen Freund: »Wir erhielten als Belohnung, was Ihr als Bestrafung bekommen habt.« Er hatte Recht: Ungarn mochte bis 1854 unter Kriegsrecht stehen, aber Kroatien als Grenzland unterstand faktisch weiterhin der Kontrolle durch die kaiserliche Armee.69
IV Ein halbes Jahrhundert nach den Revolutionen, kam Bolton King, der Mazzini noch gekannt hatte und große Sympathien für die italienische Sache hegte, zu dem vernichtenden Urteil, dass die französische Intervention in Rom »eine der niederträchtigsten Taten« gewesen sei, »die je Schande über eine große Nation
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gebracht hat«. Tatsächlich hatten Augenzeugen gesehen, dass so mancher von Oudinots Männern bei der Besetzung der Stadt beschämt gewesen war.70 Der Akt, der das Leben einer Schwesterrepublik vernichtet hatte, forderte denn auch einmal mehr die französischen Radikalen heraus. Die erhoben sich am 13. Juli 1849 in Paris. Seit Louis-Napoleons Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im vorangegangenen Dezember hatten die démoc-socs an Stärke gewonnen. Viele Pariser Politiker glaubten noch immer, Bonaparte sei eine bloße Marionette von Monarchisten wie Thiers, die ihn benutzen, um die Errungenschaften vom Februar 1848 zu unterlaufen und die Republik von innen heraus zugrunde zu richten. Dieser Eindruck verstärkte sich, als Louis-Napoleon den Orléanisten Odilon Barrot mit der Kabinettsbildung beauftragte. Bei den übrigen Ministern handelte es sich um Monarchisten, die sich sogleich ans Werk machten, alle Behördenränge von jenen zu säubern, die seit der Februarrevolution berufen worden waren. Die gemäßigte republikanische Mehrheit war nicht minder besessen von »Ordnung« als die Regierung, doch es sollte sich bald herausstellen, dass das Kabinett nicht nur die Revolution bekämpfen wollte, sondern den Republikanismus gleich mit. Das führte zu einer Polarisierung der Nationalversammlung, bei der die gemäßigten Republikaner – die noch im Juni Carvaignac unterstützt hatten – plötzlich Rückendeckung von ihren ehemaligen linken Kritikern erhielten.71 Diese Allianz war natürlich nicht von Dauer, weil sie allein auf einer republikanischen Abwehr gegen die monarchistische und autoritäre Erneuerung basierte. Die Nationalversammlung ließ ihre Muskeln spielen und wollte nicht eher auseinandergehen, bis sie über zehn »organische Gesetze« erwirkt habe. Darüber hinaus warf sie der Regierung einen Knüppel zwischen die Beine, als Barrot am Jahresende auf die traditionelle Finanzpolitik zurückgriff, um die fortdauernde Wirtschaftskrise zu bewältigen: Er führte die allgemein unbeliebten Steuern auf Salz und Wein wieder ein, die früher im Jahr abgeschafft worden waren. Als indirekte Abgaben trafen sie die Armen jedoch überproportional stark. Man konnte glauben, Bonaparte habe seine populistische Maske fallen lassen und sich als jemand gezeigt, der eher im Interesse der alten Eliten als der bäuerlichen Massen handelte. Karl Marx nannte die Sache (in einem Wortspiel) beim Namen »Mit der Salzsteuer verlor Bonaparte sein revolutionäres Salz.«72 Im Parlament änderten die Republikaner den Gesetzentwurf jedoch ab und kürzten die Salzsteuer auf ein Drittel ihres ursprünglichen Wertes. Am 26. Januar wiesen sie zudem einen Regierungsantrag zurück, nach dem alle politischen Vereinigungen verboten werden sollten. In diesem Zusammenhang
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gingen die Abgeordneten der Linken so weit, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Léon Faucher anzustrengen, den Innenminister, der für diesen Vorschlag verantwortlich zeichnete. Obwohl die konservative Regierung Mühe hatte, in der nach wie vor republikanisch dominierten Versammlung Mehrheiten zu bekommen, bestand Bonaparte darauf, dass die Minister ihm Rechenschaft schuldig waren und nicht dem Parlament – ein erschreckender Anspruch für jemanden, der an die parlamentarische Regierungsform glaubte.73 Auch wurde deutlich, dass der Präsident und seine Minister die Absicht hatten, die Nationalversammlung sobald wie möglich aufzulösen, um Neuwahlen ausschreiben zu können. Nach dieser Kampfansage der Konservativen regten sich die Pariser Radikalen wieder. Zwar mahnte Ledru-Rollin zur Ruhe, zugleich aber schrieb er in einem Artikel in der Réforme vom 28. Januar, dass die Verletzung der Grundrechte schon »immer die Stunde der Revolution eingeläutet hat«.74 Dieser kaum verhüllte Aufruf zur Erhebung macht nur allzu deutlich, wie weit die Regierung und die republikanische Bewegung inzwischen auseinandergedriftet waren. Allerdings hätte eine Erhebung, wie Karl Marx richtig sah, nur Barrot und Bonaparte in die Hände gespielt, da sie ihnen die Möglichkeit verschafft hätte, »unter dem Vorwand des salut public ›Staatswohls‹ […] die Konstitution im Interesse der Konstitution selbst zu verletzen«.75 Am Tag nach dem Erscheinen von Ledru-Rollins Artikel brachte die Regierung nun ihren Antrag auf vorzeitige Auflösung der Nationalversammlung ein. Unterstützt wurde das durch den Aufmarsch von Armeesoldaten unter General Changarnier, der die Versammlung unter dem Vorwand, sie gegen einen Volksaufstand zu verteidigen, vorsorglich umstellte. Ehrlicherweise muss dazu gesagt werden, dass eine mögliche Erhebung das Hirngespinst überhitzter Konservativer war: Tatsächlich hatte die radikale Linke es geschafft, den bewaffneten Arm der alten rebellischen Gesellschaft – »die Menschenrechte« – zu mobilisieren, während die sechste Legion der Nationalgarde den Abgeordneten einen alternativen Versammlungsort im Conservatoire des Arts et Métiers* zur Verfügung stellte (was allein schon eine revolutionäre Geste war, bedeutete dies doch, dass die Nationalversammlung der Regierung und dem Militär zum Trotz weiterhin zusammentreten würde). Doch allein schon die Aussicht eines neuen Aufstands reichte aus, um die zerbrechliche Einheit zwischen Gemäßigten und Radikalen
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Staatliche Elitehochschule, die 1794 gegründet wurde (Anm. d. Übers.)
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zu zerschlagen, und so stimmte das Parlament einer schnellen Auflösung zu. Die Wahlen sollten am 13. Mai stattfinden. Auch die Wahlen fanden in einer Atmosphäre politischer Polarisierung und sozialer Unruhe statt, die seit den Junitagen 1848 herrschte. Der Mittelweg, auf dem die gemäßigten Republikaner steuerten, endete in einem »Schiffbruch«.76 Konservative Honoratioren nutzten ihre Finanzen und Einflussmöglichkeiten, um Kandidaten ihrer Wahl auf die Listen zu bringen. Auch wenn nur wenige ihre monarchistische Einstellung offen zeigten, stand fest, dass in diesen Kreisen das republikanische Experiment seit dem Februar 1848 nichts galt, und das kam in Wahlschriften, die auf eine breitere, bäuerliche Leserschaft zielten, auch zum Ausdruck. »Sozialismus bedeutet Hunger«, warnte eine Broschüre, die für die ländliche Wählergemeinde gedacht war. Vor allem die provisorische Regierung wurde verteufelt – und zwar besonders für die 45-Centimes-Steuer. Von Republikanern, die man mit Sozialreformen in Verbindung brachte, über demokratische Humanisten wie Ledru-Rollin, reformorientierte Sozialisten wie Blanc oder revolutionäre »kommunistische« Unruhestifter wie Raspail und Blanqui: Alle wurden wahllos zusammen als »Rote« in einen Topf geworfen. Unterstützung erhielten die Konservativen noch von Regierungsbeamten, die die Veröffentlichung und Vertreibung von linksgerichteter Literatur verhinderten und Wählern »den Rat« gaben, für Kandidaten zu stimmen, die die »gesellschaftszersetzenden Lehren« ablehnten. Manche gemäßigten Republikaner, die ebenfalls die Notwendigkeit der »Ordnung« sahen, verurteilten zugleich ein Zuviel an Regierungsmacht und Repressalien. Ihre Stimmen der Mäßigung wurden jedoch übertönt. Die Weg der Mitte war nicht gangbar. Die Radikalen gingen davon aus, bei den Wahlen gut abzuschneiden. Sie hatten erkannt, dass sie nichts weiter als eine kleine Splittergruppe in der neuen Nationalversammlung sein würden, solange sie nicht die Stimmen der Bauern gewannen. »Dank des allgemeinen Wahlrechts«, schrieb der sozialistische Journalist Pierre Joigneaux (ein früherer Herausgeber der Réforme), »müssen wir, ob wir es wollen oder nicht, unsere Bevölkerung auf dem Land berücksichtigen. Dort befinden sich jetzt die großen Bataillone.«77 Das schrieb er im Januar 1850, es war aber eine Strategie, die die Radikalen bereits seit 1849 verfolgten: Die Wahlen vom April 1848 und ihre Folgen hatten gezeigt, dass es nicht reichte, sich auf die Unterstützung von Arbeitern und Handwerkern in den Städten zu verlassen. La Réforme gab zu: »Keiner hat seit der Ersten Republik einen Gedanken auf die ländlichen Bezirke verschwendet, ab jetzt werden wir das müssen.«78 Die anhaltende Wirtschaftskrise kam ihnen
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dabei zugute; sie wirkte sich einschneidend auf die Provinz aus, da die landwirtschaftlichen Regionen vom Verkauf ihrer Produkte auf dem Markt abhingen und unter dem Zusammenbruch der Preise für Wein, Seide, Getreide und Hanf litten. Wirtschaftliche Not reichte, für sich gesehen, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht aus, um die Bauern zu radikalisieren und sie dazu zu bewegen, die démoc-socs (die in diesem Stadium einfach nur als »Sozialisten« firmierten) zu wählen. Die Provinz war früher auch schon von Armut und Hungersnot heimgesucht worden, doch das hatte die Bauern nicht zu Revolutionären gemacht. Historiker konnten sogar nachweisen, dass die angebliche Politisierung der Bauern in der Zweiten Republik falsch interpretiert worden war: Die Bauern, so argumentierte Eugen Weber, kümmerten sich vor allem um ihre eigenen wirtschaftlichen Belange, führten Dorffehden und folgten ansonsten den ländlichen Honoratioren, von denen so mancher sicher ein »Roter« war. Weber weist darauf hin, dass die vermeintliche Radikalisierung der Bauern ziemlich oberflächlich war und herkömmliche Loyalitäten, Konflikte und Anliegen nur in ein modernes politisches Gewand hüllte.79 Aber in gewisser Hinsicht tut das, wie Weber dann auch zeigt, nichts zur Sache: Das Wahlrecht für Männer versetzte die Bauern immerhin in die Lage, sich auf die Seite rivalisierender Politiker vor Ort zu schlagen. Das aber wurde in politischen Begriffen formuliert und brachte erstmalig die ländliche Gemeinschaft in das Bewusstsein der nationalen Politik.80 In diesem Zusammenhang spielten auch radikale Propagandisten eine Rolle, die das wirtschaftliche Elend der Bauern und deren Enttäuschung Präsident Bonaparte gegenüber auszuschlachten gedachten, und dies auf eine Weise, die gut zum ländlichen Leben passte. Bauernkalender vermischten Ratschläge zu Ackerbau, Klima und Arzneien mit politischen Beiträgen, die manchmal als Dialog zwischen einem informierten (sprich démoc-socs) Bauern und einem weniger aufgeklärten Kollegen daherkamen, bei dem Ersterer Letzteren von der Weisheit der radikalen republikanischen Ideen überzeugte. Die Abonnenten dieser Schriften waren von der Tendenz her belesene Dorfbewohner, die über Verbindungen zur äußeren Welt verfügten – Lehrer, Cafébesitzer, der Dorfbürgermeister, Postangestellte, Ärzte und Tierärzte –, sie alle fungierten als »Kulturvermittler«, die Ideen an ein breiteres Publikum weitergaben. Cafébesitzer beklagten sich besonders gern, denn ihre Geschäfte waren von der Weinsteuer betroffen, weshalb sie ihre Kunden mit gutem Grund gegen die Regierung aufbrachten.81 In der Wahlkampagne von 1849 beschworen die démoc-socs deshalb nicht nur eine wie auch immer geartete Utopie, sondern
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boten auch praktische Lösungen gegen die unmittelbare agrarwirtschaftliche Krise an. Sie versprachen eine Verringerung der Steuern und günstige Kredite, was beides dazu angetan war, verzweifelte Kleinbauern anzusprechen. In manchen Gegenden nutzten »rote« Kandidaten ihre Stellung, um den Bauern beim Widerstand gegen die 45-Centimes-Steuer zu helfen. In Paris wurde aus den Reihen der Arbeiter, Ladenbesitzer und Intellektuellen innerhalb der verbliebenen politischen Klubs ein demokratisch-sozialistisches Komitee gewählt, das ein breites Spektrum linker Meinungen repräsentierte. Dieses versuchte im April zum ersten Mal, das herauszubilden, was im Jahr zuvor noch gefehlt hatte: eine landesweite Wahlorganisation, die mit den Komitees auf dem Lande verbunden war und ihre Politik mit dem linken Flügel der Nationalversammlung absprach. Das Komitee verabschiedete eine Grundlage für alle Démoc-socsKandidaten aus Paris und Umland, worin die Verfassung verteidigt und erklärt wurde und »das Recht auf Arbeit das wichtigste aller Menschenrechte [sei]: Es ist das Recht auf Leben.«82 Vielleicht würde es die notorisch zerstrittene französische Linke nun schaffen, ihre Einheit bis zu den Wahlen zu bewahren, denn ein großer Teil der extremen Führungsmannschaft war seit dem vergangenen Sommer in Haft, weshalb von dieser Seite weniger Druck ausging. Als gewählt wurde, eroberten die Konservativen insgesamt 500 von 700 Sitzen, die meisten davon Monarchisten, 200 ultraroyalistische Legitimisten. Die Mitte brach wie erwartet ein, nur 70 Sitze gingen an die gemäßigten Republikaner. Die Radikalen und die démoc-socs erreichten beeindruckende 180 Sitze. Angesichts der Schikanen, denen die Kandidaten des linken Flügels vonseiten der Behörden ausgesetzt waren, ist dieser Erfolg umso bemerkenswerter, zumal er nicht auf die traditionell militanten Bezirke von Paris und Lyon beschränkt war. (In letzterer Stadt sicherten sich die démoc-socs fast 70 Prozent der Stimmen.) Auch in bestimmten ländlichen Gebieten schnitten die Linken gut ab: Im Zentralmassiv, in den Tälern von Rhône und Saône sowie im Elsass eroberten sie mehr als 40 Prozent der Stimmen; im übrigen Südfrankreich und hoch oben im Norden konnten sie ebenfalls gute Ergebnisse erzielen. Auf diese Weise »offenbarte sich ein ›rotes Frankreich‹«.83 Die Ausbreitung der Démocsocs-Propaganda erwies sich vor allem dort als wirkungsvoll, wo es einen hohen Prozentsatz kleiner Flurstücke gab, die Bauern besonders stark unter der Krise litten und der Einfluss der Großgrundbesitzer schwach war. Dies traf ganz besonders auf die Wein- und Olivenanbaugebiete des Südens zu, wo die Kleinbauern nicht auf Einzelhöfen, sondern in Dörfern lebten und miteinander in Kontakt standen, was ihnen sowohl Austausch als auch Kooperation erlaubte.
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In einem solchen gesellschaftlichen Umfeld existierte oftmals eine bürgerliche Schicht von »Kulturvermittlern«, die erpicht darauf waren, die ansässigen Honoratioren herauszufordern. Die démoc-socs entfalteten besondere Wirkung in Dörfern, die in Kontakt und Abhängigkeit zu Städten standen. In Südostfrankreich boten die Kleinstädte und bourgs (Landstädte mit Märkten) Versammlungs- und Handelsstätten für die Einwohner der abgelegenen Dörfer und Weiler. Diese Landstädte waren wichtige informelle Kanäle für die Verbreitung republikanischen Gedankenguts auf dem Lande. Mancherorts säte die Linke eine Saat aus, die über hundert Jahre lang politische Früchte trug.84 Die démoc-socs hofften, schon bald auf ihren Erfolg von 1849 aufbauen und nach dem Ende der dreijährigen Legislaturperiode und dem Ende von Bonapartes Amtszeit als Präsident, die nächsten Wahlen gewinnen zu können. Die Linke glaubte sogar, 1852 würde »ihr Jahr«. In dem Maße wie die Ambitionen des linken Flügels wuchsen, nahmen die Ängste der Konservativen zu. »Der Schrecken«, schrieb Tocqueville, »war allgegenwärtig.« Die Monarchisten sahen ein, dass die Republik nicht ganz abzuschaffen war, dafür war der republikanische Impetus zu stark. Für Tocqueville bekamen die »monarchistischen Parteien das duldsame und bescheidene Verhalten wieder, das sie nach dem Februar [1848] gezeigt, aber in den letzten sechs Monaten völlig vergessen hatten«.85 Dies hielt sie allerdings nicht davon ab, nach Wegen Ausschau zu halten, die Radikalen ein für alle Mal zu besiegen. Schon am 16. Mai schrieb Charles Herzog von Morny, der Halbbruder LouisNapoleons, einem Freund, dass »die Situation einzig und allein durch das Empire gerettet werden kann. Einige der führenden Politiker sehen das allmählich auch so«.86 Das aber bedeutete, der Konflikt zwischen Konservativen und republikanischen Linken konnte nur härter werden. Der erste Zusammenstoß ereignete sich, als Oudinots Truppen im Juli die Römische Republik angriffen. Das war insofern illegal, als die Zweite Republik zuvor erklärt hatte, dass: »fremde Nationalitäten respektiert [werden], so wie sie möchten, dass ihre eigene Nationalität respektiert wird; sie wird keine Eroberungskriege führen oder ihre Streitkräfte gegen die Freiheit anderer Völker einsetzen«.87 Tocqueville, der erst kurz zuvor das Amt des Außenministers übernommen hatte, war geschockt angesichts der möglichen innenpolitischen Folgen eines so offensichtlichen Rechtsbruchs: »Aber das erste, was ich bei meinem Eintritt in das Kabinett erfuhr, war die Nachricht, daß unsere Armee vor drei Tagen den Befehl erhalten
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hatte, Rom anzugreifen. Diese flagrante Auflehnung gegen die Forderung einer souveränen Versammlung, dieser Krieg gegen ein revolutionierendes Volk, der nur aus dem Grunde, weil es revolutionierte, begonnen wurde, und der dem Wortlaut der Verfassung widersprach, die die Achtung vor fremden Völkern vorschrieb, machten den inneren Konflikt, den man seit längerem befürchtete, unausweichlich und rückten ihn in bedrohliche Nähe. […] Alle Berichte der Präfekten und der Polizei, die wir erhielten, waren geeignet, uns aufs lebhafteste zu beunruhigen.«88 Tocqueville, der hier mit später Einsicht schrieb, war nicht ganz ehrlich, denn er fand, der Krieg gegen Rom sei für Frankreichs Ansehen entscheidend. Allerdings übertrieb er nicht, wenn er glaubte, die Intervention werde die Fronten für den nächsten politischen Schlagabtausch im Inland abstecken. Im Sommer 1849 lag Paris im Fieber, sowohl politisch wie im wörtlichen Sinn, denn der Ausbruch der Cholera setzte der Stadt schwer zu. Im Aprilprogramm des Démoc-socs-Komitees, das die römische Expedition im Sinn hatte: »Nationen gehen ebenso wie Menschen wechselseitige Verpflichtungen ein – der Einsatz französischer Truppen gegen die Freiheit eines anderen Volkes ist ein Verbrechen, ein Verstoß gegen die Verfassung«.89 Kurz nach den Maiwahlen schickte diese Gruppierung zur Warnung eine Delegation ins Parlament: Sollte die Regierung weiterhin mit Waffengewalt gegen Rom vorgehen, werde sie gestürzt. Obwohl die Befehle für Oudinot geheim waren, kam am 10. Juni die Nachricht vom ersten Angriff nach Paris. Die »Montagnards«* explodierten bei der folgenden Sitzung. Ledru-Rollin, jetzt an der Spitze des linken Flügels, erhob sich in der Nationalversammlung und erklärte, dass er und seine Genossen den Krieg mit allen Mitteln, sogar mit Waffengewalt, bekämpfen würden. Er stellte einen Antrag auf Amtsenthebung des Präsidenten Bonaparte und des Kabinetts. Es ging hoch her,90 doch angesichts der Mehrheitsverhältnisse konnte die parlamentarische Linke kaum mehr tun, als ihre Rhetorik gegen die Regierung zum Einsatz zu bringen. Der Antrag auf Amtsenthebung wurde, wie zu erwarten, mühelos abgeschmettert. Der Angriff auf Rom entwickelte sich zu einem Fall, durch den die Pariser Radikalen ihre Anhänger mobilisieren konnten. Vor der Parlamentsdebatte, am Morgen des 11. Juni, hatten die démoc-socs mit den Herausgebern der *
Spitzname für die Radikaldemokraten, benannt nach ihrem Platz auf den höchsten Rängen (Anm. d. Red.)
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republikanischen Presse ihre Taktik besprochen. Sie kamen überein, eine Demonstration zu organisieren, obwohl sie nur allzu gut wussten, dass man dieser mit Gewalt begegnen würde. Nur Émile Girardin von La Presse war dagegen, da der Ausbruch der Cholera die Volksbewegung geschwächt habe. Geplant war ein friedlicher Protestzug zur Nationalversammlung, wo sich die Montagnards – angesichts der Inkompetenz von Regierung und Parlament – zum neuen »Nationalkonvent« ausrufen wollten. Am selben Morgen traten sie zu einer Fraktionssitzung zusammen, um das zu unterstützen, was im Grunde ein revolutionärer (wenn auch hoffentlich unblutiger) Staatsstreich sein sollte. Motiviert wurden sie dabei von der Vorstellung, dass sie die Demokratie in Frankreich und im Ausland verteidigen würden. Zugleich war es ein Griff nach der Macht, der, nicht durch Wahlen ermöglicht, von der Linken damit gerechtfertigt wurde, dass im Sinne der Aprilgesetze »die Republik Vorrang vor dem Recht der Mehrheit hat«.91 Am Morgen des 13. Juni erwachten die Pariser, um drei Bekanntmachungen zu lesen, an Straßenmauern geklebt und in der republikanischen Presse veröffentlicht. Darin erklärten die Radikaldemokraten, dass Nationalversammlung und Regierung aufgrund von Verfassungsverletzung und Parteiergreifung »aufseiten der Könige gegen das Volk« der Macht entsagt hätten. In der zweiten Proklamation, die vom Démoc-socs-Komitee veröffentlicht worden war, wurden Nationalgarde und Armee angehalten, den allgemeinen Protest zu unterstützen. Die dritte rief alle Leute zu einer »ruhigen Demonstration« auf, um die Verfassung zu verteidigen. Noch am Morgen versammelten sich, angeführt von Étienne Arago, 25 000 Menschen, darunter 5000 Nationalgardisten, auf den Boulevards. Möglicherweise war auch Marx dabei, der von einem deutschen Mitexilanten aus seiner Wohnung in der Rue de Lille geholt worden war. Herzen war eindeutig mit von der Partie und hinterließ einen schriftlichen Augenzeugenbericht. Die Menge marschierte die Boulevards hinunter, sang die »Marseillaise« und skandierte »Vive la constitution! Vive la république!«. »Wer diesen Gesang aus tausend Kehlen, in jener nervösen Erregung und Unsicherheit, wie sie nötig jedem Kampf vorangeht, nicht gehört hat«, schrieb Herzen, »der hat die erschütternde Wirkung dieses revolutionären Psalmes noch nie an sich selbst erfahren.«92 Marx dagegen blieb unbeeindruckt, war skeptisch gegenüber der Führung der Montagnards, die er als »Kleinbürger« betrachtete. Er glaubte, dass »die Erinnerung an den Juni 1848 […] lebendiger als je die Reihen des Pariser Proletariats … durchwogte«, die Protestrufe klangen in seinen Ohren »mechanisch,
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eiskalt, mit bösem Gewissen ausgestoßen«.93 Als die Kolonne die Rue de la Paix erreichte, stellten sich ihr Infanterie und Kavallerie unter Changarnier entgegen. Die teilten die Demonstranten erfolgreich in zwei Züge auf und trieben sie nach Norden – weg von den Boulevards. Demonstranten entblößten die Brust vor den Bajonetten und forderten die Soldaten auf, ihre Brüder zu töten. Herzen fand sich »einem Pferdekopf, der mir ins Gesicht schaute, und einem Dragoner gegenüber […] der mich laut anschnauzte und mir drohte, mir eins mit der Fuchtel [seinem Säbel] zu versetzen, wenn ich nicht zur Seite gehe«. Er stieß mit Arago zusammen, der sich bei dem Versuch, der Kavallerie zu entfliehen, die Hüfte ausgerenkt hatte.94 Changarniers Eingreifen war schnell und entschlossen: Die Montagnards mussten, anders als geplant, auf die Ankunft der Demonstranten aus der Nationalversammlung warten, doch diese waren angehalten und zerstreut worden. Somit standen Ledru-Rollin und seine Kollegen alleine da, bis eine Einheit linker Nationalgardisten eintraf, um sie zu schützen. Sie bahnten sich den Weg zum Conservatoire des Arts et Métiers, wo sie um 14 Uhr 15 ankamen und hinter Barrikaden mit ihren Beratungen begannen. Der Ausschuss des linken Flügels, der sich anfangs auf 119 Mitglieder belief, rief die Leute zu den Waffen. Doch Paris explodierte nicht wie im Juni des vergangenen Jahres, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Changarnier schnell reagiert und die wichtigsten Kreuzungen und strategischen Punkte gesichert hatte. Zwar waren Demonstranten, die er hatte auseinandertreiben lassen, nach Hause geeilt, hatten ihre Waffen geholt und Barrikaden gebaut, doch diese hastig errichteten Verteidigungsanlagen – bisweilen ein Stapel Korbstühle, die man in einem Café erbeutet hatte – waren für die Regierungstruppen kein Hindernis. Als diese das Conservatoire einkesselten, riefen die Radikalen eine provisorische Regierung aus, doch ihr sinnloses Unterfangen wurde unterbrochen, als Changarniers Männer in den Hofraum vordrangen. Abgeordnete rannten hinaus, um die Soldaten zu begrüßen, die sie fälschlicherweise für Verstärkung hielten. Sie fanden sich im wahrsten Sinn des Wortes an die Wand gestellt. Schon sah es so aus, als würden sie standrechtlich erschossen, doch aus unbekannten Gründen zogen sich die Truppen plötzlich zurück und erlaubten bis auf sechs Deputierten allen, durch Hintertüren und Fenster ins Exil zu entkommen. Ledru-Rollin schaffte es bis London, doch zuerst (so sagt man) hatte er seinen korpulenten Körper durch eines der Fenster des Conservatoire zu zwängen. Herzen entkam der Gefangennahme, indem er seine Papiere nahm und Frankreich mit Ziel Genua verließ.
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Der Aufstand war wohl vor allem deshalb gescheitert, weil sein ursprünglicher Plan – im Grunde ein Versuch, das Parlament unter drohender Gewaltanwendung zu stürzen – durch Changarniers entschiedenes Vorgehen zunichtegemacht wurde. Einen Plan B gab es nicht, weshalb in dem Moment, als sich die Montagnards im Conservatoire als Revolutionsregierung ausriefen, die Ordnungsmächte schon dabei waren, die Eskalation zu verhindern. Die Montagnards wiederum waren auf die Führung eines Aufstands in dieser Form nicht vorbereitet. In dieser Hinsicht war das Fehlen eines kampferprobten Blanqui und anderer führender revolutionärer Köpfe der radikalen Linken eine taktische Schwäche. Sie beraubte den Aufstand einer kämpferischen Führung, die Erfahrung im Barrikadenkampf hatte und vielleicht später Revolutionäre aus der Arbeiterklasse hervorgebracht hätte.95 Wie Tocqueville überspitzt formulierte: »Im Juni 1848 fehlten dem Heer die Führer, im Juni 1849 den Führern das Heer.«96 Herzen stimmte zu: Als die provisorische Regierung eingesetzt wurde, sah er Arbeiter ziellos durch die Straßen irren, »ungewiß, mit fragendem Blick […]«, sie gingen nach Hause, weil sie »niemand gefunden hatten, der ihnen einen Rat geben konnte«. Er traf einen Mann, der mit den Tränen kämpfte: »Alles verloren!« 97 Der Pariser Aufstand fand in den Provinzen Widerhall – in den Departements Allier und Rhône, ein Hinweis auf den Erfolg der Démoc-socs-Agitation, vor allem aber in Lyon, wo Seidenweber Barrikaden aufbauten, die von der Artillerie in die Luft gejagt wurden. Bei den Kämpfen kamen auf beiden Seiten fünfundzwanzig Menschen ums Leben, im Anschluss wurden zwölfhundert Aufständische verhaftet. So mancher Soldat endete für die Teilnahme am Aufstand vor einem Erschießungskommando.98 Was nun folgte, war eine strenge Gesetzgebung, die es der Regierung ermöglichte, jede politische Vereinigung oder öffentliche Versammlung zu verbieten; ein Pressegesetz definierte neue Verstöße, zu denen etwa Beleidigung des Präsidenten und Aufhetzung von Soldaten zum Ungehorsam gehörten sowie die Anweisung, dass Straßenhändler, die politische Literatur vertrieben (colporteurs – ein traditionelles Medium, durch die das gedruckte Wort den Weg aufs Land fand) in Zukunft eine Genehmigung vom örtlichen Präfekten vorweisen mussten. Vierunddreißig Abgeordnete der radikalen Demokraten wurden später auf einem Gerichtstag in Versailles verurteilt. Auf diese Weise wurden mit einem Federstrich einige der erfahrensten und bekanntesten Wortführer der Linken aus dem Weg geschafft. Die bedeutenden Aufstände von Paris und Lyon waren im Wesentlichen städtische Phänomene gewesen; dank des Wahlrechts und der zwar beschädigten, aber doch vorhandenen Verfassung
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konnten sich die überlebenden Streiter der Linken nun immer noch der ländlichen Wählerschaft widmen.99 Am 10. März 1850 wurden Nachwahlen um die Sitze abgehalten, die nach dem 13. Juni durch die Vertreibung und Gefangennahme von Abgeordneten vakant geworden waren. Die démoc-socs konnten nur elf behalten, was vielleicht ein Hinweis darauf war, dass die Linke ihren Zenit überschritten hatte. Dennoch waren die Konservativen noch immer beunruhigt, weil sich drei dieser Sitze in Paris befanden, was nahelegte, dass trotz aller Schläge die Radikalen in der Hauptstadt immer noch stark waren. Die Rechte indessen machte ihre Stärke geltend, als sie am 15. März ein Unterrichtsgesetz durchbrachte. Angefertigt vom Erziehungsausschuss, in dem Thiers saß, und protegiert von dem Royalisten Comte de Falloux, reduzierte es den Lehrplan von Elementarschulen auf Religionserziehung und das Grundwissen in Lesen, Schreiben und Rechnen. Während die Rolle der katholischen Kirche im staatlichen Schulsystem ausgeweitet wurde, erlaubte das Gesetz zugleich die Gründung von Privatschulen, was vor allem auf die Gründung von katholischen Einrichtungen zielte. Vor Ort sollten Geistliche die Lehrer der staatlichen Schulen beaufsichtigen und dem Präfekten entsprechend Bericht erstatten. Dieses Gesetz war im Übrigen Ausdruck konservativer Ängste: Republikanische Lehrer wurden darin als notorische Verbreiter von umstürzlerischem Gedankengut betrachtet. Falloux selbst schrieb, das Gesetz sei ein notwendiges Gegengift der »gesellschaftlichen Gefährdung«, weil es die Rolle von Kirche und religiöser Unterweisung aufs Neue bekräftige.100 Ziel sollte es sein, wieder konservative Werte an die Jugend zu bringen, und die Regierung begann ihre Offensive damit, dass sie zwölfhundert Lehrer entließ, die sie als unzuverlässig einstufte. Allerdings brachte eine Nachwahl in Paris Eugène Sue, einen ausgesprochenen Gegner des Falloux-Gesetzes, zurück. Diese klare Protestwahl zeigte, dass die Linke noch immer gefährlich war. Deshalb verabschiedete die Nationalversammlung am 31. Mai ein neues Wahlgesetz: Danach verloren all jene Männer das Wahlrecht, die vorbestraft waren, alle, die weniger als drei Jahre in einem Wahlbezirk lebten, und alle, die ihren Wohnsitz nicht per Steuerliste nachweisen konnten. Auch das zeigte einmal mehr die Angst der Konservativen vor sozialen Unruhen, dieses Mal jedoch vor einer entwurzelten, kriminellen Unterschicht, die ihrer Meinung nach für die politische Instabilität seit den Junitagen verantwortlich war. Ungefähr 2,8 Millionen Männer verloren auf diese Weise ihr Wahlrecht, was 30 Prozent der Wählerschaft ausmachte. Mancherorts lag die Zahl noch höher, etwa in Paris
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(mit 62 Prozent) oder im stark industrialisierten Departement Nord (51 Prozent). Dort fiel sie deswegen höher aus, weil die Arbeiter auf der Suche nach erschwinglichem Wohnraum oft umzogen. Viele Linke hielten dieses Gesetz für eine bewusste Provokation, einen Versuch der Rechten, die démoc-socs zum Aufstand für das Wahlrecht zu treiben, um sie hinterher umso leichter zerschlagen und für ungesetzlich erklären zu können. Sowohl die linken wie die gemäßigten Republikaner drängten ihre Anhänger zur Zurückhaltung. Die démoc-socs organisierten eine Petitionskampagne und sammelten 50 000 Unterschriften, die zum größten Teil von Bewohnern des ländlichen Raums stammten – ein weiteres Indiz für den Einzug der radikalen Republikaner in die französische Provinz. Trotzdem überrascht es kaum, dass die Republikaner an der Basis ihren alten Gewohnheiten folgend zurück in den Untergrund gingen. So wurde im August 1850 von der Polizei ein Netz von Geheimgesellschaften mit Zentrum Lyon ausgehoben, das sich über den Südosten Frankreichs erstreckte, ohne dass man allerdings Beweise für die Planung eines Aufstands finden konnte. Der Prozess gegen drei der Anführer im Frühjahr 1851 indessen erregte aufgrund seiner harten Urteile – Deportation auf die Marquesas – großes Aufsehen. Der Optimismus der Radikalen, schließlich näherte sich »ihr Jahr« 1852 und damit das Ende der Amtszeit Louis-Napoleons, machte den Konservativen noch immer zu schaffen. Gemäß der Verfassung konnte er kein zweites Mal gewählt werden; zugleich aber war er einzige Kandidat des rechten Flügels, der den démoc-socs den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen streitig zu machen imstande war. Als ein Freund Victor Hugo einen Albtraum erzählte, in dem durchgehende Pferde eine brennende Kutsche über einen Steilhang zogen, entgegnete der große Schriftsteller: »Du hast von 1852 geträumt.«101 In den Augen der Konservativen war Bonaparte der Einzige, der zwischen Ordnung und Chaos stand, aus diesem Grund unterstützten viele von ihnen seinen Kampf für eine Verfassungsänderung, die ihm eine zweite Amtszeit erlaubte. Tocqueville, der als intelligenter Konservativer Louis-Napoleon ebenso fürchtete wie die »Roten«, bemerkte spitz, dass Männer, die »sich darüber entrüsten, dass ›das Volk‹ gegen die Verfassung verstößt« (ein Verweis auf den 13. Juni), jetzt genau dasselbe machten.102 Inzwischen warb Bonaparte um breite Unterstützung und distanzierte sich vor allem von der reaktionären Politik der Rechten. Am 7. Dezember 1849 ließ er ein Telegramm durchsickern, dass er dem französischen Kommandeur in Rom geschickt hatte. Darin prangerte er das Unterdrückungsregime der Kardi-
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näle an und klagte, dass die französische Außenpolitik eine restaurative Wende vollzogen habe. Als es daraufhin Odilon Barrot nicht schaffte, ihn vor der ablehnenden Mehrheit in der Nationalversammlung zu verteidigen, entließ dieser am 31. Oktober sein Kabinett. Bei der Rechtfertigung seines Vorgehens vor der Nationalversammlung präsentierte er sich als Mann, der über der Parteipolitik stand, den Willen des Volkes verkörperte und die Führungsstärke besaß, die das Land brauchte: »Am 10. Dezember [1848] triumphierte ein ganzes System, denn der Name Napoleon stellt ein Programm für sich dar. Im Inneren steht es für Ordnung, Autorität, Religion und Wohlstand des Volkes; und im Ausland steht es für nationales Selbstwertgefühl. Diese Politik, die mit meiner Wahl einsetzte, werde ich, mithilfe der Nationalversammlung und des Volkes, zu ihrem endgültigen Triumph führen.«103 Die Konservativen mussten bald feststellen, dass Bonaparte nicht ihr williges Werkzeug war, sondern seinen eigenen Kopf hatte. So manchem, etwa Falloux, dämmerte allmählich die Gefahr des »Cäsarismus«. Tocqueville konstatierte, dass Louis-Napoleon sich zwar ständig mit den monarchistischen Mehrheitsführern im Parlament traf, »aber die Last ihres Einflusses nur mit großer Ungeduld ertrug. Der Anschein, von ihnen am Gängelband geführt zu werden, war eine Demütigung für ihn und er brannte insgeheim darauf, sich ihrer Bevormundung zu entziehen.«104 Die meisten Konservativen hatten jedoch noch immer mehr Angst vor den »Roten« als vor Louis-Napoleons autoritärem Populismus. Folglich gab es nur schwachen Widerstand seitens der Konservativen, als er eine neue Regierung berief und darauf bestand, dass die Minister ihm und nicht der Nationalversammlung verantwortlich waren. Ferner konnten sich die Konservativen nicht auf eine Alternative zu Bonaparte einigen, die Orléanisten wollten die Erben Louis-Philippes unterstützen, während die Legitimisten auf dem Bourbonen Comte de Chambord bestanden. Bonaparte indessen reiste wie bei einem Wahlkampf durch das Land und unternahm zwischen 1849 und 1851 nicht weniger als vierzehn Touren. Großzügig teilte er Massen von Wein und Wurst an die Soldaten aus, die er in ihren Kasernen besuchte. Gelegentlich war ein »Vive l’Empereur!« zu hören. Dann wieder sprach er mit Bauern auf dem Feld, hielt Reden auf Veranstaltungen, wobei er dem Publikum ungeniert erzählte, was es hören wollte. Den Republikanern bot er an, die Verfassung von 1848 zu unterstützen (eine indirekte Verurteilung des Wahlgeset-
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zes vom Mai 1850), den Konservativen stellte er die Wiedereinführung der Monarchie in Aussicht. Seine präsidiale Gunst nutzte er, um Anhänger zu Präfekten, militärischen Befehlshabern und Staatsbeamten zu ernennen. In der Nationalversammlung zerfiel die Rechte nun in Legitimisten, Orléanisten und jene, die Bonaparte zu unterstützen gedachten, weil er ihrer Meinung nach die Ordnung am besten aufrechterhalten konnte. Ermutigt durch eine Petition mit 1,5 Millionen Unterschriften, fingen Letztere im Frühjahr 1851 an, auf eine Verfassungsänderung zu drängen. Ende Juli wurde die Änderung durch eine Allianz aus Republikanern und Orléanisten, für die die Bonapartes gefährliche Mitbewerber bei der Anwartschaft auf den Thron darstellten, im Parlament zu Fall gebracht. Die Legitimisten unterstützten Bonaparte, weil sie so oder so die Verfassung revidieren wollten, doch ihr Rückhalt reichte nicht aus, um die für eine Änderung notwendigen drei Viertel aller Stimmen zu erhalten. Louis-Napoleon wandte sich daher von den legitimen Mitteln ab und dachte über einen Staatsstreich nach. Den Boden dazu bereitete er, indem er am 4. November in der Nationalversammlung einen Antrag zur Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts einbrachte. Seine Vorlage wurde abgelehnt, was die demokratische Rechtmäßigkeit der Volksversammlung untergrub, Bonaparte aber als Helden der Volkssouveränität erscheinen ließ. Der Tag, den man für den Staatsstreich aussuchte, war der 2. Dezember, Jahrestag des größten militärischen Erfolgs von Napoleon I. – der Schlacht bei Austerlitz. In jener Nacht verhaftete die Polizei führende Oppositionelle, darunter Orléanisten wie Thiers, Abgeordnete der démoc-socs, republikanische Offiziere (unter ihnen Cavaignac) und achtzig populäre Militante, gegen die als mögliche Anführer eines Aufstandes ermittelt wurde. Der Staatsstreich gelang ihm zum Teil deshalb, weil er nicht darauf abzielte, die Macht an sich zu reißen – die besaß er bereits, sondern um sie zu festigen. Deshalb hatte er auch dafür gesorgt, dass die Schlüsselministerien Polizei, Krieg und Inneres in loyalen, wenn nicht sogar skrupellosen Händen lagen. In der Nacht zuvor war schon die Staatsdruckerei sang- und klanglos übernommen worden. Hier wurde dann Bonapartes Verlautbarung gedruckt und von Polizeipatrouillen angeschlagen. In direkter Ansprache an das »Volk«, über den Kopf seiner angeblich korrupten und zerstrittenen Vertreter hinweg, warb er für die Diktatur. Die Nationalversammlung, erklärte Bonaparte, »greift die Macht an, die mir unmittelbar von dem Volke übertragen ist; sie ermuthigt alle schlechten Leidenschaften, und gefährdet die Ruhe Frankreichs. Ich habe sie aufgelöst und fordere das Volk
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auf, zwischen ihr und mir zu richten.«105 Um parlamentarischem Widerstand zuvorzukommen, wurde die Kammer von Soldaten besetzt. Dies konnte rund 220 Abgeordnete – zu ihnen zählten Tocqueville, Barrot, Falloux und Rémusat – nicht daran hindern, in der mairie des 10. Arrondissements (das grob mit dem heutigen 6. übereinsti