Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus [Reprint 2021 ed.]
 9783112454923, 9783112454916

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Emile Boutroux Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus

Leipzig Verlag von Veit & Comp. 1911

Schriften über Rudolf Eucken. Falckenberg, Prof. Dr. Rieh., R. Euckens Kampf gegen den Naturalismus. (Aus „Festschr. d. Univ. Erlangen f. Prinzreg. Luitpold", gr. 8. (12 S.) Leipzig 1 9 0 1 , A. Deichert Nachf. M. —.50. POhlmann, Dr. Hans, Rudolf Euckens Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen dargestellt gr.8. (93 S.) Berlin 1903, «

Reuther & Reichard.

M. 1.50.

Leser, H., Grundcharakter u. Grundprobleme der Eucken sehen Philosophie (Enzyklopädie der Philosophie II. Serie Nr. 2 und 3.) gr.8. (IV, 122S.) Charlöttenburg 1907, O.Günther. M. 3 . - . Kastner, Dr. O., Sozialpädagogik u. Neuidealismus. Grundlagen u. Grundzüge einer echten Volksbildung m. besonderer Berücksichtigung der Philosophie Rudolf Euckens. gr. 8. (X, 201 S.) Leipzig 1907, Roth&Schunke. M. 3.60, geb. M. 4.60. Kappstein, Th., Rudolf Eucken, der Erneuerer des deutschen Idealismus. („Moderne Philosophie" Bd. 5.) 8. (92 S. mit 1 Bildnis.) Berlin-Schöneberg 1909, Buchverlag der „Hilfe". M. 1.50. Siebert, Dr. Rieh., Die Bedeutung der Geschichtsphilosophie in Rudolf Euckens Weltanschauung. R. Mühlmann's Verl.

8. (44 S.) Halle 1909,

M. 1.50.

Gabriel, Dr. Paul, Euckens Grundlinien einer neuen Lebensanschauung und sein Verhältnis zu J. G. Fichte, gr. 8. (44 S.) Bunzlau 1910, G. Kreuschmer.

M. 1.20.

Siebert, O., Euckens Welt- u. Lebensanschauung. 1904. 2. Aufl. 1 9 1 r. Trübe, O., Euckens Stellung zum religiösen Problem.

1904.

Budde, G., Versuch einer prinzipiellen Begründung der Pädagogik

der höheren Knabenschulen

Philosophie.

auf Rudolf

Euckens

1911.

Gibson, W. R. Boyce, Rudolf Euckens Philosophy of Life. 1906, 2. ed. 1907.

Aus d e m Verla e von V e i t Wr 8 * C o m P - i n L e i p z i g bestelle ich und w ü n s c h e Z u s e n d u n g durch die Post — die Buchhandlung

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Literar. Bericht, Heft 2 u. Folge sofort nach Erscheinen kostenfrei Ort und Datum:

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Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus. Von

Emile Boutroux. Autorisierte

Übersetzung

von

J. Benrubi.

Mit einenT Bildnis Euchens.

Leipzig V e r l a g von Veit & Comp.

1911

Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.

Vorbemerkung. D i e vorliegende Schrift bringt eine Übersetzung der Vorrede Émile Boutroux', des hervorragenden Denkers und Akademikers, zur französischen Ausgabe von Rudolf Euckens „Geistige Strömungen der Gegenwart", die vor kurzem unter dem Titel „Les grands courants de la pensée contemporaine" im Verlage von Félix Alcan erschienen ist. Ihre Übertragung ins Deutsche rechtfertigt sich schon durch das höchst persönliche Gepräge, das sie trägt, und das ihr eine besondere Anziehungskraft gibt. Denn Professor Boutroux will mit jener Vorrede nicht nur seine Landsleute auf die große Aktualität der Gedankenwelt Euckens aufmerksam machen, sondern er entwickelt auch bei diesem Anlaß seine eigene Auffassung vom Wesen der Philosophie und von ihrer Aufgabe in der Gegenwart. So bietet uns dieser Aufsatz zusammen mit einer sehr sympathischen Einführung in das i*

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Vorbemerkung

Lebenswerk E u c k e n s zugleich das Programm des neuen Idealismus, den B o u t r o u x selber sucht. Als ein sorgfältiger Beobachter des heutigen Zeitgeistes fühlt B o u t r o u x , daß die Philosophie jetzt eine Krisis durchmacht, da uns weder die überkommenen Formen des intellektualistischen Idealismus und des Positivismus noch die verschiedenen Kompromißversuche des philosophischen Dilettantismus zu befriedigen vermögen. Er tritt für den Idealismus E u c k e n s namentlich deshalb so warm und kräftig ein, weil auch er der Überzeugung ist, daß diese Krisis sich nur überwinden läßt, wenn die Philosophen bei aller Beachtung der Ergebnisse und der Methoden der exakten Wissenschaften sich mehr mit den Z e n t r a l f r a g e n der Welt und des Lebens beschäftigen, wenn sie, ohne mit der Erfahrung zu brechen, die Selbständigkeit des Geisteslebens mutig verfechten. Mit anderen Worten, E u c k e n s großes Entweder-oder, „Naturalismus oder Idealismus", ist auch das Entweder-oder Boutroux'. Ist es aber nicht eine angenehme Pflicht, bei diesem Anlaß zu konstatieren, daß zwei der hervorragendsten geistigen Führer der Gegenwart, trotz ihres Ausgehens von verschiedenen Voraussetzungen, fast unabhängig voneinander dasselbe

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Vorbemerkung

hohe Ziel erstreben, oder, um jenes schöne Bild B e r g s o n s zu gebrauchen, womit er die Verwandtschaft zwischen S c h e l l i n g und R a v a i s s o n charakterisiert, daß „zwei in höheren Sphären schwebende Geister sich an bestimmten Gipfeln getroffen haben"? Endlich wird man in der herzlichen und liebenswürdigen Art B o u t r o u x ' ein schönes Zeugnis dafür erblicken dürfen, mit welcher sympathischen Aufmerksamkeit man auf der Höhe der französischen Gelehrtenwelt die geistigen Bewegungen Deutschlands verfolgt. Möge sein Beispiel auch bei anderen Nachahmung finden, sind doch derartige Bestrebungen eines der wirksamsten Mittel für die geistige Annäherung der verschiedenen Kulturvölker. Paris.

J. Benrubi.

Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus. D a s Verhalten des heutigen Geschlechts gegenüber der Philosophie erscheint auf den ersten Blick sich selbst zu widersprechen. Meist sieht man auf jene herab als auf eine bloße Begriffsfabrik; und zu gleicher Zeit blüht eine philosophische Literatur und begeistert ein zahlreiches und ernstes Publikum. Man bemerkt sogar, daß Staatsmänner, Schriftsteller, Dichter, Kritiker sich heutzutage gern mit philosophischen Themen beschäftigen, sie werden leicht wegen ihrer Tiefe gelobt, selbst wenn sie jene nur ganz oberflächlich berühren. Dieser scheinbare Widerspruch mildert sich aber, wenn man beachtet, daß es nicht die gleiche Art des Philosophierens ist, welche gegenwärtig verworfen und gesucht wird. Man wendet sich ab von einer Philosophie, die sich von den Einzelwissenschaften und dem Leben scheidet, in dem Glauben, in der reinen Vernunft sämtliche Elemente,

Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus

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den ganzen Umfang ihres Daseins und ihrer Entwicklung zu finden. Man neigt dahin, eine derartige Philosophie als leeren Formelkram, als künstliche Konstruktion, als ein Überbleibsel der Scholastik zu behandeln. Man sieht darin nur eine Unterhaltung des Geistes, ohne Wert in den Augen derer, welche wahre Gewißheit aus dem Verkehr mit den positiven Wissenschaften und der lebendigen Wirklichkeit geschöpft haben. Aber andererseits nimmt man philosophische Gedanken gierig auf, wenn sie als rechtmäßiges Erzeugnis eines Zusammenwirkens des Geistes und der Dinge erscheinen, wenn sie sich als die echte Deutung der Wissenschaften und des Lebens darstellen, nicht etwa als eine bloße Exegese und eine mehr oder weniger geschickte und neue Kombination von Begriffen der Denker vergangener Zeiten. Unser Zeitalter ist also müde einer Philosophie, die da glaubt, sich selbst zu genügen und sich ausschließlich von ihrer eigenen Substanz zu ernähren. Aber um so dringender bedarf es einer Philosophie, die in der Erfahrung selbst, in dem was uns allen als wirklich gilt, in den positiven Wissenschaften, im Leben des Individuums und der Gesellschaft die Grundzüge ihrer Antworten auf die

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Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus

unabweisbaren Fragen des menschlichen sucht: Was ist die Welt?

Geistes

Was sind wir?

sollen wir handeln, um unsere Bestimmung

Wie als

Menschen zu erfüllen? Wenn R u d o l f

Eucken

als

Dozent

eine

so

große Anzahl von Schülern um sich sammelt, wenn die Nachricht, daß ihm im Jahre 1908 der Nobelpreis verliehen wurde, nicht nur im engeren Kreise der Philosophen, sondern auch seitens des großen Publikums

mit

warmer Sympathie

aufgenommen

wurde, so kommt das daher, weil er immer in diesem Sinne bestrebt gewesen ist, die Philosophie dem Dunkel der Schulen zu entwinden, um ihr einen Platz im Kern der Wirklichkeit zu geben und sie dadurch am Leben der Menschen und der Dinge teilnehmen zu lassen, kurz: weil E u c k e n s Motto Goethes „ F l i e h ! A u f ! H i n a u s ins weite

Land!"

gewesen zu sein scheint. Und es wäre gewiß kein Zeichen des Verfalls, wenn man in dieser Weise zu einem P l a t o , einem D e s c a r t e s , einem L e i b n i z und einem K a n t zurückkehren und dieselben zum Muster nehmen wollte, die doch alle ohne Zweifel vornehmlich bestrebt waren, die Philosophie als eine Betätigung

R u d o l f Euckens K a m p f um einen neuen Idealismus

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des Geistes im Verkehr mit der Wirklichkeit zu betrachten und nicht als ein Ding an sich, das für sich selbst bestünde und sich

einzig und allein

durch eine innere Dialektik entwickelte.

Aber es

wäre von geringer Bedeutung, nur wieder zum Bewußtsein zu bringen, was im Grunde das Bestreben aller

großen Denker

war.

Euckens1

Verdienst

besteht darin, daß er, wie es scheint, in der Tat den W e g gezeigt hat, der dem Geiste gestattet, seine Ursprünglichkeit zu entfalten, und zwar nicht R u d o l f E u c k e n , geboren 1846 zu Aurich in Ostfriesland, ist seit 1874 Professor der Philosophie an der Universität Jena. Außer einigen tüchtigen Werken über Aristoteles, Thomas von Aquino, die deutsche Philosophie und die philosophische Terminologie, hat er folgende Arbeiten veröffentlicht: G e s c h i c h t e und K r i t i k der G r u n d b e g r i f f e der G e g e n wart, 1878, aus der im Jahre 1904 das vorliegende Werk hervorging, das 1908 eine weitere Auflage erfuhr; D i e E i n heit des G e i s t e s l e b e n s in B e w u ß t s e i n und T a t der M e n s c h h e i t , 1888; D i e L e b e n s a n s c h a u u n g e n der großen D e n k e r , IX. Auflage 1911; D e r K a m p f um einen g e i stigen L e b e n s i n h a l t , II. Auflage 1907; D e r W a h r h e i t s gehalt der R e l i g i o n , II. Auflage 1905; G r u n d l i n i e n einer neuen L e b e n s a n s c h a u u n g , 1907; H a u p t p r o b l e m e der R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e der G e g e n w a r t , III. Auflage. 1909; D e r Sinn und W e r t des L e b e n s , III. Auflage 1911; E i n führung in eine P h i l o s o p h i e des G e i s t e s l e b e n s , 1908. Mehrere dieser Werke sind ins Englische, ins Italienische und in andere Sprachen übersetzt worden. 1

IO

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trotz seiner Verbindung mit der Welt der Erfahrung, sondern gerade dank dieser Verbindung. #

#

*

Es ist nicht zufällig, daß die Philosophie so lange Zeit eifrig darum bemüht war, sich eine eigene Sphäre zu schaffen und außerhalb der Wissenschaft von sinnlichen Dingen sich selbst zu genügen. Den alten Griechen, einem Plato oder einem Aristoteles, war die Natur empfänglich für das Göttliche, ja mehr oder weniger selber göttlich. Der Geist konnte also, um sein Leben zu leben, sich auf die Natur stützen oder sie zu sich heranziehen. Sein ganzes Streben ging dahin, das Reich der ewigen Vernunftgesetze, an dem er selbst unmittelbar teilnahm, dort wiederzufinden und dort anzuschauen. Im Christentum aber gewann die Natur einen ganz anderen Anblick. Sie ist ihm zufolge nicht mehr als ein bloßes Ding, als etwas für den Geist bloß Äußeres, der sie ex nihilo geschaffen hat. Und die moderne Wissenschaft zeigt in diesem Punkt eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der jüdisch-christlichen Religion. Sie macht aus der Natur einen seelenlosen Mecha-

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nismus, wo das ewiggleiche Spiel der materiellen, gegebenen und unwandelbaren Kräfte ganz allein alle Vorgänge erzeugt, ohne daß in ihrem Laufe der geringste Platz flir einen leitenden Gedanken vorhanden wäre. Wie könnte demnach der Geist im Verkehr mit der Natur ein Element des Lebens und der Entwicklung für sich selbst finden? Sich mit der Natur verbinden, hieße sich selbst verleugnen, sich preisgeben, sich vernichten. In Entgegensetzung zu ihr gewinnt dagegen der Geist ein deutliches Bewußtsein seiner Eigentümlichkeit, und versichert er sich einer vollen Freiheit zu handeln und sich zu entfalten. Die Zurückführung der Natur auf ungeistige Prinzipien wird demnach für den Geist, insofern er sich ihr entringt, zum Anlaß, seine Ursprünglichkeit und sein Eigenleben in neuer und kraftvoller Weise zu bejahen. Nun sehen wir aber, daß die positive Wissenschaft, die sich zuerst damit begnügte, durch ihre mechanistischen Prinzipien die sogenannten äußeren Vorgänge zu erklären, und die vor dem Mysterium, welches das Leben und das Denken zu umhüllen schien, Halt machte, sich heutzutage im Besitze von Methoden glaubt, die ihr gestatten, ihren Gesetzen

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sämtliche Formen des Seins ohne Ausnahme zu unterwerfen. Selbst das erstaunliche Wachstum der Macht des Menschen über die Dinge läßt heutzutage die Lage des Geistes gegenüber der Natur in neuer Beleuchtung erscheinen. Wenn der Mensch so sehr den Lauf der Erscheinungen zu bestimmen vermag, so muß er selbst eine Erscheinung analog den anderen sein. Der antike Weise, der sich mit der Betrachtung der ewigen Gesetze des Seins begnügen mußte, konnte sich nicht mit ihnen eins fühlen, wie der moderne Mensch, der sie sich dienstbar macht. Wenn der Wind und der Strom ihre Wirkungen vereinigen, so müssen sie zwei gleichartige Kräfte sein. Der Natur befehlen, heißt einen Teil von ihr bilden. Wo soll nun aber der von der Natur getrennte Geist den Stützpunkt, das Objekt, das Prinzip der Bestimmung suchen, dessen er bedarf, um sich zu betätigen, d. h. um zu sein? Ehemals hatte man Gott. Die moderne Kritik findet, daß der Begriff dieses Gottes manche Elemente enthielt, die der Natur selbst entlehnt waren, und daß, wenn man ihn auf seinen streng übersinnlichen Inhalt zurückzuführen versucht, er zu verschwinden droht. Unter den geistigen Strömungen der Gegenwart ist eine der

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stärksten die, die uns von jenem transzendenten Himmel Epikurs ablenkt, wo man nicht weiß, ob es Wesen gibt, die sich auf Erden mühen und sorgen, und die uns in die Welt der Materie und des zeitlichen Lebens hineinwirft, das Objekt der Wissenschaft, die unscheinbare, aber sichere Grundlage aller unserer Handlungen, aller unserer Wünsche, aller unserer Gedanken. Das Problem ist also heutzutage für denjenigen, der nach der Möglichkeit des Idealismus fragt, das folgende: Kann es angesichts der Tatsache, daß der Geist für uns untrennbar von der Materie ist, und zwar von einer Materie, deren Gesetze sich selbst zu genügen scheinen, trotzdem ein ursprüngliches und freies Geistesleben geben? Man muß anerkennen, daß das Problem, so gestellt, außerordentlich schwierig erscheint. Man wird zunächst einräumen müssen, daß es durchaus nicht widersprechend, ja daß es logisch wie praktisch viel einfacher ist, dem Naturalismus Recht zu geben. Ihn überwinden wollen, heißt eine Wette wagen. Ist es Pascal gelungen, nachzuweisen, daß auch derjenige, dem der Glaube fehlt, zu wetten genötigt ist? Man kann in der Tat ein bloß natürliches Leben führen, denn man

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braucht dazu nur sich gehen zu lassen, sich dem Lauf der Dinge zu ergeben, dem Gesetze der Trägheit nicht zu widerstreben, welches sich von selber in allem verwirklicht, was ist. Der Naturalismus ist eine mögliche Lösung des Problems des menschlichen Lebens. Folgt aber daraus, daß er die notwendige Lösung sei? Falls ich mich weigere, mich mit ihm zu begnügen, hat man das Recht, mir vorzuwerfen, daß mein Verhalten nur einer individuellen Laune entspringt? Hier liegt der Grundgedanke der „Geistigen Strömungen der Gegenwart" von Rudolf Eucken. Wie Pascal den entscheidenden Punkt seines Lebenswerkes darin sah, den Menschen aus seinem skeptischen Schlummer aufzuwecken, da er, einmal um seine Bestimmung ernstlich besorgt, sich schließlich zu Gott wenden müßte, ebenso ist unser Philosoph mit allen Kräften bestrebt, das kritische Nachdenken des Geistes, den der Naturalismus befriedigt, wachzurufen und ihn davon zu überzeugen, daß es in aller Anstrengung zu suchen gilt, ob dieser Standpunkt wirklich des Menschen würdig ist. Aber während Pascal, um den Ungläubigen anzutreiben, über sich selbst zu schauen, ihm einzig

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und allein vorschrieb, in sich selbst hineinzublicken und die Unruhe zu betrachten, die ihn auch gegen sein Wollen quält, so bestrebt sich Eucken, als Sohn eines Zeitalters und namentlich eines Landes, welches das individuelle Leben dem sozialen anzupassen bemüht ist, zu zeigen, daß die geistigen Strömungen der Gegenwart in Wirklichkeit auf Ziele gerichtet sind, die sich nicht auf die in unserer Erfahrung gegebenen Gegenstände zurückführen lassen. Daher die Art, wie unser Philosoph verfährt. Anstatt sich mit einer abstrakten Analyse der Begriffe des Geisteslebens, der Erkenntnis, des Monismus und des Dualismus, des Menschenlebens, des Wertes und der Religion zu begnügen, dehnt Eucken die Forschungsmethode, die P a s c a l auf das Individuum anwandte, auf die menschliche Gesellschaft aus und sucht das verborgene Leben des gemeinsamen Geistes, die Arbeit, die sich gegenwärtig in ihm vollzieht, die Richtung der allgemeinen Bewegung, die sich aus seinen verschiedenen Untersuchungen heraushebt, zu erspähen. Und bei allen Hauptproblemen der Theorie und der Praxis sieht er das heutige Geistesleben

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gerade von der Frage nach dem Recht des Naturalismus gequält und einem neuen Idealismus zugewandt, der die Forderungen des dualistischen Idealismus festhalten möchte, bei aller Anerkennung der Unmöglichkeit, in Zukunft die Metaphysik von der Wissenschaft und den Geist von der Natur zu trennen. *

*

*

Wie läßt sich nun diese Forderung des menschlichen Geistes befriedigen? Die allgemeine Idee, die sich aus der Prüfung des Geisteslebens der Gegenwart ergibt, läßt sich folgendermaßen formulieren: der Mensch ist entweder weniger oder mehr, als er gewöhnlich zu sein glaubt. Wenn die positive Wissenschaft das ausschließliche Maß des Wahren und des Möglichen ist, dann ist der Mensch weniger als er sich glaubt. Denn die Individualität, die Persönlichkeit, die Würde, der sittliche Wert, die besondere Rolle und die höhere Bestimmung, die er sich beizulegen fortfährt, stehen im Widerspruch nicht nur mit den heutigen Ergebnissen, sondern, was noch wichtiger ist, mit den Grundsätzen, den Methoden,

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ja dem Geiste der positiven Wissenschaft. Wenn die Wissenschaft das Ganze der wahren Erkenntnis ist, so muß man in den Ideen, auf die sich unser Menschenleben stützt, nur leere Überlieferungen, Kinder der Unwissenheit und der Irrtümer unserer Vorfahren sehen. Falls nun aber die bloße Wissenschaft nicht das Maß des Wahren ist, so muß man aufhören, sie dem Geiste, der sein und wirken will, als einen Richter entgegenzusetzen, gegen dessen Spruch es keine Berufung gibt. Zwar möchte der Geist ganz gewiß mit der Wissenschaft Hand in Hand gehen; was ist es denn aber, genau genommen, das die Wissenschaft ihm dabei auferlegt? Der Knoten der Frage steckt in der Vorstellung, die man sich von dem Verhältnis der Wissenschaft zum Geiste macht. Ist die Wissenschaft, als Ausdruck der Wahrheit, an sich ein Absolutes, ein ganz und gar fertiges Ding, das der Geist nur von außen her passiv betrachten und zu beschreiben vermöchte? In diesem Fall sind ihre Postulate für uns der letzte Ausdruck der Wahrheit, 'd. h. wir haben den mechanischen Determinismus und die bloße Tatsache als die Grundprinzipien des Seins zu betrachten. Dann Boutroux, Rudolf Euclcen.

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muß jede Vorstellung, die diesem Mechanismus widerspricht, für eine Täuschung gehalten werden; und es ist nicht schwer zu zeigen, daß dies bei allen Prinzipien der Fall ist, die dem menschlichen Leben seine Gestaltung geben. Aber die Wissenschaft läßt sich sicherlich ebensogut wie die Sprache, die Kunst, die Staatsgesetze, die Religionen, nicht bloß als eine Sache außerhalb des Geistes, sondern als eine Tätigkeit des Geistes selbst betrachten, so daß selbst ihre letzten Grundsätze, ihrer wahren Bedeutung nach, nur in Beziehung auf das Denken, das sie einfuhrt und handhabt, verstanden werden können. In diesem Falle würde weder in der Wissenschaft noch in den Dingen etwas Starres, etwas Fertiges von Ewigkeit her oder für alle Ewigkeit bestehen. Der Geist ist Leben und Schaffen. Wenn der wissenschaftliche Determinismus sein Werk ist, so erscheint er als ein Muster, dessen Bestand und Rolle nicht notwendigerweise umwandelbar sind. Die Umbildung des lebendigen Wortes in ein totes und fertiges System ist eben das, was man Scholastik nennt. Wenn man an die Stelle des tätigen Denkens die Scholastik oder durch Unterweisung festgelegtes Denken setzt, so

Rudolf Euchens Kampf um einen neuen Idealismus

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geschieht das allerdings dem Lauf der Natur gemäß, denn es ist nur eine Anwendung des allmeinen Naturgesetzes der Gewöhnung oder der Trägheit. Aber es ist deshalb keineswegs notwendig. Der Mensch kann seine Selbsttätigkeit und seine geistige Macht behaupten, indem er gegen die Trägheit kämpft, die ihn geneigt macht, seinen Gewohnheiten nachzugeben. Bis vor kurzem von der Klarheit und Nützlichkeit der Wissenschaft geblendet und von ihr beherrscht, neigt heute der Geist immer mehr dahin, zu bedenken, daß er seinem Wesen nach Leben, Tat, Streben nach dem Besseren ist, und die Wissenschaft wieder in jenes Innenleben hineinzustellen, aus dem sie ja in Wahrheit hervorgeht. Damit ist zugleich gesagt, daß er den bloßen Naturalismus überwinden und, wenn auch auf die Natur gestützt, nach Zielen suchen will, die über sie hinausgehen. Wem aber soll er sich anvertrauen, um solche zu bestimmen? Es gibt allerdings ein System, das heute noch bei vielen Philosophen Beifall findet, und das sich den Geist zu befriedigen fähig glaubt, weil es bei aller Überwindung des Naturalismus die Klippe des Subjektivismus vermeidet, ich meine den Intellektualismus. 2*

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Und es ist kein Zweifel, daß der Intellektualismus uns von der Tyrannei des unmittelbar Gegebenen befreit und uns ein anderes Leben als dasjenige

der

bloßen

Sinne

bietet.

Aber

die

Prinzipien, die er hinter den sinnlichen Tatsachen sucht, sind ebenfalls in Wirklichkeit selber T a t sachen, d. h. starre und undurchdringliche gebenheiten,

die,

um

ihre

Ge-

Daseinsberechtigung

befragt, gleich den leblosen Symbolen, welche die Schrift an die Stelle des lebendigen Denkens setzt, oefivwg Tiavv aiyä. Der Wahlspruch des Intellektualismus ist: avayxr] azrjvat,, d. h. die Bewegung setzt die Ruhe

voraus,

das Verschiedene

das Teilbare das Gleiche,

das Notwendige, die Zeit

das das

Unteilbare, Kontingente

die Ewigkeit —

ein

falscher Wahlspruch, dessen Verwirklichung unfaßbar ist; denn weder kann die Analyse der Veränderung zum Unwandelbaren fuhren, noch gibt es eine Anschauung, die uns die absolut ersten Elemente

ergreifen ließe.

Der

Intellektualismus

stellt das Mutloswerden des Geistes dar, der vor einer unendlichen Aufgabe zurücktritt und als Belohnung für seine Mühe Ruhe verlangt.

Aber die

Wirklichkeit verweigert ihm das: sie wird nicht müde zu schaffen, wenn der Mensch zu begreifen

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müde wird. Sie lebt wirklich, und ihr Leben ist weit davon entfernt, nichts anderes zu sein als das mechanische Gebärdenspiel eines Toten. Niemand konnte ihr ja Gesetze a priori vorschreiben. Wir denken alles in umgekehrter Ordnung, indem wir zunächst beobachten, was die Natur geschaffen hat, dann ihre Erzeugnisse zu klassifizieren suchen, um auf diese Weise womöglich einige ihrer Gewohnheiten klarzulegen. Stets an die Zahl unserer Beobachtungen und an die Anpassungsstufe unseres Verstandes gebunden, bleibt unsere Erkenntnis stets den Dingen untergeordnet, und wir haben kein Recht, uns darüber zu ärgern, wenn diese durch ihre Unzurückflihrbarkeit auf unsere Abstraktionen uns ihr Dasein beweisen. Es kommt also darauf an, im Überschreiten sowohl des Naturalismus als auch des Intellektualismus einen Gesichtspunkt zu entdecken, der die Realität und den Wert der Natur festhält, ohne den Geist darin zu versenken, und der die Überlegenheit und die Selbsttätigkeit des Geistes bei aller Anerkennung seiner Verbindung mit der Natur sicherzustellen vermag. R u d o l f E u c k e n findet in der Philosophie F i c h t e s den Wegweiser für die Lösung des Pro-

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blems. Denn bei diesem Philosophen beherrscht der seinem Wesen nach aktive Geist alles; aber seine Aktivität wird eben vermittelst der Natur und des Intellektes ausgeübt. E u c k e n will also den konkreten Idealismus, den nach seiner Überzeugung das heutige Geistesleben sucht, im Fichteschen Sinne begründen. Einerseits versteht er die eigentümliche Realität des Geistes als Leben und schöpferische Macht, indem er sie auf die Tatsächlichkeit und Ursprünglichkeit des Alls begründet. Der Geist will bei sich und für sich sein; nun muß aber dieses Beisichselbstsein seinem Wesen nach sowohl der bloßen Objektivität oder dem Sein für andere als auch dem objektiven und unbeweglichen Denken, welches wiederum nur eine Abstraktion ist, überlegen sein. Der Geist ist nur, soweit er selbsttätig ist. Er ist nicht ein zum Handeln fähiges Ding, sondern er ist Tat und Leben selbst, alles was in ihm ist, entfaltet sich, widerstrebt der Trägheit, erzeugt, schafft und ist Schaffen seiner selbst. Andererseits bewegt der Geist sich nicht im Leeren, seine Tätigkeit besteht vielmehr darin, die Dinge an sich zu ziehen, sie zu durchdringen, sie zu vergeistigen. Er steht nicht über der Natur,

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nach Art der noumenalen Freiheit K a n t s : er ist der Natur immanent, er lenkt ihre Tätigkeit, deren Urheber im Grunde er selber ist, er macht ihren Determinismus biegsam. Der neue Idealismus also, weit davon entfernt, sich nach Art der dualistischen Betrachtungsweise außerhalb der Wissenschaft, der Kunst, der Religionen, der gegebenen Wirklichkeit zu stellen, findet in dem Gegebenen selbst den Stoff, mit dessen Hilfe er den Geist zu verwirklichen sucht. Gegenüber der natürlichen Neigung des Men- * sehen, sich in seinem Sein festzulegen und von dem schöpferischen Geist abzulösen, ist die Aufgabe des neuen Idealismus, gegen diese Trägheit anzukämpfen, und fortwährend das Leben in der menschlichen Seele aufzuwecken, indem er es seinem Ursprung annähert. „Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, Er liebt sich bald die unbedingte Ruh."

Überlassen wir nicht dem Mephistopheles die Aufgabe, den Menschen aus der natürlichen Trägheit aufzurütteln. Auch der bejahende und schöpferische Geist ist Bewegung und Anregung. Ja nur er allein ist wirkliche Tat, denn verneinen und zerstören heißt nichts anderes als der blinden

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Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus

Gewalt der Auflösung weichen, welche die Dinge dem Nichts entgegenführt. Das ewige Leben ist nicht mehr ein Selbstwiderspruch, wenn dieses Leben nichts anderes ist als die Gestaltung einer unendlichen Materie durch den Geist. Durch die Wissenschaft und die Erfahrung des praktischen Lebens genährt, ist der philosophische Geist, der uns am unmittelbarsten den Weltgeist übermittelt, nicht ein bloßes Nebenerzeugnis der gegebenen Wirklichkeit. Er ist Vernunft und zugleich Glaube und Wagnis, oder, um mit Eucken selbst zu reden, „ein Suchen und Versuchen, ein Wetten und Wagen". Man muß wissen, man muß denken, man muß aber auch wagen. Man muß arbeiten für das Ungewisse. Der Wert der Gesinnung bleibt unangetastet, was immer auch geschehen mag; die Lebensfähigkeit und die Vollkommenheit des Werkes aber lassen sich erst nach seinem Erfolg erkennen. Die größten Schöpfungen sind die, welche am meisten neue Schöpfungen ins Leben rufen.

Rudolf Eucken in Jena. 1 D i e kleinen Universitäten haben für unser deutsches Vaterland und seine Geistesbildung eine große Bedeutung: sie sind Brennpunkte des geistigen Lebens und der Kultur; und das ist an der langen Zerrissenheit des Landes, der Kleinstaaterei und Ohnmacht auch eine Lichtseite, daß das geistige Leben nicht so zentralisiert und monopolisiert ist wie zum Beispiel in Frankreich. Berlin ist, Gott sei Dank! nicht Paris. Von diesen kleinen Hochschulen hat aber jede wieder ihre Eigenart, ihren eigentümlichen Charakter. Das gilt von Jena in besonders hohem Maße. Es ist nicht der Geruch der Gelehrsamkeit, der uns entgegenströmt, nicht die feuchtfröhliche Burschenlust, die die idyllische Landschaft durchbraust, die seinen Charakter ausmachen: es ist der Glanz einer reichen Vergangenheit, der Duft unsrer klassischen Poesie. Jena und Weimar sind unauflöslich 1

Auszug aus einem unter diesem Titel in den „Grenzboten" 67. Jahrg. Nr. 32 erschienenen Artikel von Professor Dr. Paul Meinhold.

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verbunden mit den Namen unsrer beiden Dioskuren, mit S c h i l l e r und G o e t h e . Aber auch andre erlauchte Namen treten uns in Fülle entgegen, wenn wir im Geiste eine Wanderung durch die Stadt machen. Da sehen wir in den Gebrüdern S c h l e g e l die Romantik, die damals hier ihr Zelt aufschlug und die beiden Dichterheroen erst anschwärmte, dann anpöbelte, bis diese sich in geharnischten Xenien Luft machten; da sind von Philosophen, die den Romantikern am nächsten stehn: S c h e l l i n g und F i c h t e , der sich hier eine törichte Anklage wegen Atheismus zuzog, und der später in Berlin seine bedeutende, auch persönliche Lehrtätigkeit fortsetzen sollte. Da ist auch H e g e l , der fleischgewordne Gedanke. Auch im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts hat die kleine Hochschule ihren guten Ruf gewahrt. Ich nenne nur den Philosophen K u n o F i s c h e r , den Theologen Karl H a s e und den Dogmatiker Lipsius. Doch wer zählt die Völker, nennt die Namen? Heute sind es besonders zwei Namen, die weit über Jenas Mauern bekannt sind, ja die, darf man wohl sagen, Weltruf haben: E r n s t H a e c k e l und R u d o l f E u c k e n , der Naturforscher und der Philosoph, beide nach Art und Arbeit Antipoden. Hier der Naturforscher, bekannt auf seinem Gebiet, viel geliebt und verehrt von seinen Hörern

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und Schülern. Doch es treibt ihn hinaus über die Schranken seiner Fachwissenschaft, Lebensfragen will er beantworten, Welträtsel lösen. Aber da ist er mehr Dichter als Denker. Zu diesem Feuerkopf, der, schon ein Siebziger, noch mit jugendlicher Begeisterung in die Arena sprengt, der, ein Feind jedes religiösen Dogmas, doch naturwissenschaftlich so stark dogmatisch befangen ist wie nur ein streitbarer Theologe des sechzehnten Jahrhunderts, der ohne weiteres die Methode des Naturerkennens glaubt auf die Geisteswissenschaften übertragen und anwenden zu können, der jeder Metaphysik ihr Recht abspricht, „in der Überzeugung, daß die ersten Grundlagen aller Philosophie auf der Naturerkenntnis beruhen und durch denkende Erfahrung a posteriori entstanden sind", zu ihm bildet Rudolf E u c k e n in jeder Beziehung den Gegensatz. Er zeichnet sich von vornherein durch vornehme Ruhe und Sachlichkeit, ja durch wissenschaftliche Vorsicht aus, er wendet in zum Teil klassischer Sprache den Gedanken nach allen Seiten, um ja nicht eine Möglichkeit, ein Loch zu übersehen, einen Trugschluß durchgehn zu lassen. Er erkennt überall Wert und Notwendigkeit der Naturwissenschaften bereitwilligst an, ja betont sie stark; aber seine Lebensaufgabe ist gerade, die Selbständigkeit des Geisteslebens, des geistigen

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Geschehens zu sichern, eine selbständige, eigne Metaphysik zu schaffen, gegenüber den Naturwissenschaften auch Recht und Aufgabe der Geisteswissenschaften, besonders der Philosophie festzustellen und zu wahren. Was ihn interessiert, nein mehr, ihn immer aufs neue bewegt, ist das Lebensproblem, die Frage nach Wert, Zweck, Aufgabe des Lebens. Wie gewinnt mein persönliches, subjektives Empfinden, Fühlen, Handeln objektiven Wert? Wie kommt wirkliches, wahres Geschehen zustande? Jahrelang, als die Fluten des Naturalismus alles überschwemmten, hat der wackere Kämpfer ziemlich allein gestanden. Die Zeiten haben sich geändert, Gott sei Dank! Überall macht sich die Frage, das Bedürfnis nach Vertiefung des Lebens, der Ruf nach Befreiung und Ausbildung der Persönlichkeit, nach Weltauffassung geltend. Das ist nicht zum wenigsten E u c k e n s Verdienst. Es sind besonders die Völker des germanischen Kulturkreises, bei denen das Interesse für E u c k e n s Bestrebungen in raschem Wachsen begriffen ist. W. R. Boyce Gibson (Dozent an der Londoner Universität) schrieb 1907 ein Buch „Rudolf Euckens Philosophy of Life", die erste Auflage war in vier Monaten vergriffen, und es ist schon eine zweite erschienen.

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In Deutschland selbst schließt sich an den Namen R. E u c k e n schon eine ganze, große Literatur. Hier sei besonders hingewiesen auf die von begeisterter Verehrung für den Denker getragne Schrift von S i e b e r t : Rudolf Euckens Welt- und Lebensanschauung (Langensalza, Beyer, 1904, 2. Aufl. 1 9 1 1 ) und auf H. Pöhlmann: Rudolf Euckens Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen dargestellt (Berlin, Reuther und Reichard, 1903). Es ist das schlichte und doch stolze Leben eines deutschen Gelehrten und Wahrheitsuchers, das E u c k e n fuhrt: einfach und anspruchslos, und doch heimisch auf den Höhen des Geistes, der Menschheit, des Lebens. Zuerst hat er sich den Weg gebahnt, die gangbaren philosophischen Begriffe kritisch auf ihren Wert und ihre Bedeutung betrachtet: „Geschichte der philosophischen Terminologie" 1879 und „Die Grundbegriffe der Gegenwart" 1878 (1904 neu aufgelegt unter dem Titel: „Geistige Strömungen der Gegenwart" 3. Auflage, 1909: 4. Auflage). Solche Begriffe gleichen Versteinerungen oder Kristallen: ein langer geistiger Prozeß ist darin zum Abschluß gekommen, hat feste Form und Prägung erlangt, und es ist von hohem bildenden Wert und Interesse, den umgekehrten Weg zu machen: sie aufzulösen, den geistigen Prozeß zu beobachten, das

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geistige Leben zu ergreifen, das sich schließlich darin festgelegt hat — oder vielmehr nicht festgelegt, denn sie selbst sind auch wieder dauernder Umbildung und Umdeutung unterworfen. In dem Buche „Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit" 1888 hat E u c k e n , nachdem er sich zuvor in den Prolegomena

1885 eine eigne Begrififswelt und Termino-

logie geschaffen und gesichert, den Grundgedanken seiner Lebensarbeit niederlegt. Im Jahre 1890 erschienen die „Lebensanschauungen der großen Denker" (191 x in 9. Auflage), ein klassisches Werk, zugleich von enormer Gelehrsamkeit,

das des Verfassers Unbefangenheit

und

Fähigkeit zu objektiver Darstellung und Würdigung auch ihm fremder Geister glänzend bewies. Im Jahre

1896 kam heraus „Der Kampf um

einen geistigen Lebensinhalt" (1907 in 2. Auflage), 1901 sein epochemachendes Werk „Der Wahrheitsgehalt der Religion" (1905 die 2. Auflage). Unablässig ist E u c k e n seitdem bemüht, die Goldbarren auszumünzen,

seine

Gedankenwelt

aufs neue zu

prüfen, zu klären, zu vertiefen, nach allen Seiten zu durchdenken, auch zu popularisieren.

Er selbst

schreibt in edler Bescheidenheit: „Wir selbst fühlen uns durchaus als Suchende und wenden uns daher an Suchende; wir richten uns an die, welche mit

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uns die gegenwärtige Verflachung und Verflüchtigung des Geisteslebens als einen nicht länger erträglichen Notstand empfinden und die nicht davor zurückscheuen, auch in schroffem Widerspruch zur breiten Zeitoberfläche eine Erneuerung des Lebens zu suchen." (Wahrheitsgehalt der Religion, Vorrede, S. IV.) Im Jahre 1907 erschienen „Die Hauptprobleme der Religionsphilosophie der Gegenwart". Drei Vorlesungen, die auf einem theologischen Ferienkursus in Jena am 23. und 24. Oktober gehalten wurden. I. Die seelische Begründung der Religion (besonders wichtig!). II. Religion und Geschichte. III. Das Wesen des Christentums. „Die Untersuchungen ruhen auf einer geschlossenen philosophischen Grundanschauung, aber sie sind möglichst einfach und anschaulich gehalten, und sie richten sich durchaus nicht bloß an gelehrte Kreise, sondern an alle Zeitgenossen, welche sich in den geistigen Wirren der Gegenwart mit dem Problem der Religion befassen, und welche bei der Behandlung dieses Problems eine Freiheit verlangen, die nicht flach, und eine Tiefe, die nicht starr werde." (Vorrede.) Sodann erschienen „Grundlinien einer neuen Lebensanschauung", in denen er seine Gedankenwelt nach allen Seiten entwickelt. Allen, die sich

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in seine Welt ganz besonders

einleben zu

wollen,

empfehlen.

ist dieses

Buch

Nachdem

er in

geradezu klassischer Weise die vorhandnen Lebensordnungen dargestellt hat, a) die altern: die Lebensordnungen der Religion und des kosmischen Idealismus, b) die neuern: die naturalistische, die sozialistische und die Lebensordnung des künstlerischen Subjektivismus (eine höchst reizvolle Lektüre), gibt er darauf einen zusammenhängenden Überblick über die Gesamtlage der Gegenwart und den „Entwurf einer neuen Lebensordnung". Endlich seine neuste, 1911 in 3. Auflage erscheinende Schrift: „Der Sinn und Wert des Lebens", in der er die „inneren Probleme der Gegenwart jedem einzelnen möglichst nahe zu bringen und ihn zur Teilnahme daran zu gewinnen sucht." So sehen wir hier den reichen Ertrag einer gut angewandten Lebensarbeit: E u c k e n schüttelt mit freigiebiger Hand an dem Baume seines Lebens, und die Früchte fallen „gehäuft uns in den Schoß". Möge dem edeln Manne noch recht lange seine körperliche und geistige Frische erhalten bleiben! Denn er hat uns noch viel zu sagen, und wir wir haben ihn noch viel, sehr viel zu fragen!



Schriften von Rudolf Eucken. Die Methode der aristotelischen Forschung in ihrem Zusammenhang mit den philosoph. Grandprinzipien des Aristoteles. 8. (185.) Berlin 1872, Weidmann. M. 4.—. Geistige Strömungen der Gegenwart Die Grundbegriffe der Gegenwart. 4. umgearb. Aufl. gr. 8. (XII, 410 S.) Leipzig 1909, Veit & Comp. M. 8.—, geb. M. 9.—. Geschichte der philosophischen Terminologie. Im Umriß dargestellt. gr. 8. (IV, 226 S.) Leipzig 1879, Veit & Comp. M. 4.—. Prolegomena zu Forschungen über die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit gr. 8. (V, 114S.) Leipzig 1885, Veit & Comp. M. 3.—. Die Philosophie des Thomas V. Aquino und die Kultur der Neuzeit. 2. Aufl. (52 S.) 8. Sachsa 1910, H. Haacke. M. 2.50. Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie. Der „Beiträge zur Geschichte der neueren Philosophie" 2. umgearb. u. erweit. Aufl. gr. 8. (V, 196 S.) Leipzig 1906, Dürr'sche Buchh. M. 3.60, geb. M. 4.50. Der Sinn und Wert des Lebens. 8. (III, 163 S.) Leipzig 1908, dritte Auflage 1911, Quelle & Meyer. M. 2.20, geb. M. 2.80; in Büttenp., geb. in Leder M. 5.60. Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein u. Tat der Menschheit Untersuchungen, gr. 8. (XII, 499 S.) Leipzig 1888, Veit & Comp. M. 10.—. Die Lebensanschauungen der groBen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart 9. vielfach umgestaltete Auflage, gr. 8* {XIII, 543 S.) Leipzig 1911, Veit & Comp. M. 10.—, geb. M. i i . — . Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung. Zweite, neugestaltete Auflage. gr. 8. (XIII, 336 S.) Leipzig 1907, Veit & Comp. M. 6.40; geb. M. 7.50.

Der Wahrheitsgehalt der Religion. lage.

gr. 8.

(VII,

452 S.)

Zweite, umgearbeitete AufLeipzig 1905,

Veit & Comp.

M . 9 . — , geb. M. 10.—. Gesammelt? A u f s ä t z e

zur Philosophie und Lebensanschauung.

gr. 8. (IV, 242 S.) Leipzig 1903, Dürr'sche Buchh. Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, Leipzig 1907, Veit & Comp.

M. 4.20.

gr. 8. (VIII, 314 S.)

M. 4 . — , geb. M. 5 . — .

Hauptprobleme der Religionsphilosophie der Gegenwart.

3.verb.

u. erweit Aufl. gr8. (VIII, 172 S.) Berlin 1909, Reuther & Reichard.

M. 2.40, geb. M. 3.20.

Einführung in eine Philosophie des Geisteslebens. 8. (VII, 197 S.) Leipzig 1908, Quelle & Meyer.

M. 3.80, geb. M. 4.60.

„Kucken gehört nicht zu den Schriftstellern, die den Leser von unten AUS den Niederungen des Alltags beinahe unbemerkt emporziehen und ihn allmählich in die höheren Kegionen des geistigen Lebens fuhren; sondern er versetzt ihn sofort auf die höchstc Höhe philosophischer Betrachtung und weltumspannenden Denkens . . . Seine Werke setzen zwar verhältnismäßig wenig Detailwissen voraus, dafiir aber eine ausgesprochen philosophische „Stimmung". Es ist dies die weihevolle Stimmung des unerbittlichen Wahrheitssuchers, des Geistes, der nach dem Lichte strebt, der Seele, die sich nach den höchsten Lebenswerten sehnt. Diese Bücher sind Bekenntnisbficher in des Wortes tiefster Bedeutung, sie gehören zu denen, die nicht mit Tinte, sondern mit Blut geschrieben worden sind, sie sind nicht Produkte wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern persönlichsten Lebens und Erlebens. Aus jeder Seite spricht der tiefe Ernst einer schwer ringenden Menschenseele heraus, zugleich aber auch ein unerschütterlicher Glaube an die siegreiche Kraft des Geistes und der Wahrheit in der Welt, ein tatenfreudiger Drang, unserer schwer bedrängten Zeit diesen Glauben neu zu wecken und zu stärken, eine optimistische Bejahung des Lebens, eine unversiegbare Liebe zur Menschheit. Nur in den Feierstunden des Lebens, wenn der Geist sich gesammelt und die Seele sich selbst gefunden hat, ist es möglich, solche Bücher zu verstehen und zu genießen. Dann aber werden wir immer wieder zu ihnen zurückkehren und aus dem lauten Tageslärm und aus den seelenerniedrigenden Welthändeln zu ihnen flüchten, daß sie uns wieder zu Bewußtsein bringen, was uns ein Denker wie Eucken in seiner Art so eindringlich gelehrt und gezeigt hat, und was man als Motto äber sein Lebenswerk setzen könnte: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, wenn er dabei Schaden an seiner Seele leidet?" Akademische Monatsblätter X X . Jg. t Nr. 7. Mettger & Wittig, Leipzig. (Ol