Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt: Neue Grundlegung einer Weltanschauung [2., neugest. Aufl., Reprint 2020]
 9783112332689, 9783112332672

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DER KAMPF UM E I N E N GEISTIGEN LEBENSINHALT NEUE GRUNDLEGUNO EINER WELTANSCHAUUNG VON

RUDOLF EUCKEN ZWEITE NEUGESTALTETE AUFLAOE

LEIPZIG V E R L A G VON V E I T it COMP. 1907

Vorwort zur ersten Auflage

D

ie folgenden Darlegungen wissen sich in vollem Gegensatz zu den geistigen Strömungen, die heute äußerlich noch vorherrschen. Sie müssen abgelehnt werden von dem konventionellen und offiziellen Idealismus. Denn sie behandeln viel zu sehr die Probleme als im Fluß und verlangen viel zu eingreifende Umwandlungen, als daß sie demjenigen gefallen könnten, dem alles fest und fertig dünkt. Sie müssen ferner abgelehnt werden von dem Naturalismus jeder Färbung. Denn viel zu energisch verfechten sie eine geistige Wirklichkeit jenseits des sinnlichen Daseins, und viel zu entschieden verwerfen sie alle Kompromisse zwischen den in Wahrheit unversöhnlichen Gegensätzen, als daß sie nicht die volle Gegnerschaft jener Richtung auf sich nehmen müßten. Endlich müssen sie auch abgelehnt werden von der selbstbewußten und selbstgerechten Fachgelehrsamkeit. Wo alles Streben nach Weltanschauung und zusammenhaltender Überzeugung eine leere Utopie dünkt, wo man die Philosophie nur soweit gelten läßt als sie auf alle Prinzipienfragen verzichtet und entweder Geschichte oder Naturwissenschaft wird, da kann

IV

Vorwort

sich kein Verständnis finden für ein Streben nach einer inneren Wendung aus dem Großen und Ganzen. So sind wir auf die Minorität angewiesen und müssen uns besonders in unserer eignen Wissenschaft recht vereinsamt fühlen. Aber das schreckt uns nicht im mindesten. Einmal ist diese Minorität nicht so klein wie sie sich bei der Zerstreuung der Geister ausnimmt, und dann gibt es keine bessere Position als die in einer Minorität, welche ein unabweisbares Bedürfnis und auch schon den inneren Zug der Zeit für sich hat. Daß dem heutigen Kulturleben eine alles durchdringende und zusammenhaltende Hauptüberzeugung, ein gemeinsames Ideal fehlt, das kommt immer deutlicher zur Empfindung, zugleich aber auch dieses, daß wir damit einer geistigen Substanz entbehren, ja überhaupt einen Lebensinhalt, der diesen Namen verdient, einzubüßen drohen. So haben wir um ein geistiges Leben überhaupt wie um etwas neues zu kämpfen. Ist aber ein solches Problem einmal wach geworden, so kann es nicht wieder einschlummern, so läßt es sich auch nicht als eine Nebensache behandeln. Vielmehr wird es die Gemüter immer mächtiger bewegen und immer mehr den Vordergrund des Lebens einnehmen. Die Zeit dürstet nach einem fester begründeten und zugleich größeren und freieren Leben, nach mehr Verwandlung der Wirklichkeit in innere Erfahrung der Menschheit; sie bedarf dafür einer größeren Aktivität des Geistes, sie bedarf einer kräftigen Urerzeugung und Neubewährung geistigen Lebens. Und einem solchen Problem sollte die Philosophie ihre Mitarbeit versagen, es als ein minder „exaktes" von sich schieben! Will sie aber daran mitarbeiten, so muß sie neben den Spezialuntersuchungen, deren Wert in vollen Ehren bleibt, wieder eine Wendung ins Prinzipielle und Ganze vollziehen; so darf sie den Gegensatz des Idealismus und Naturalismus — die unliebsamen Schlagwörter seien hier der Kürze halber entschuldigt — nicht verschleiern und durch einen matten Synkretismus abschwächen, sondern sie hat sich entschieden für den Idealismus zu erklären, freilich zugleich auch eine neue, wesenhaftere Art des Idealismus zu fordern; so kann sie sich

Vorwort

V

endlich bei der Entfaltung der Geisteswelt nicht mit einer bloßen Schilderung und Zurechtlegung empirischer Art begnügen, sondern sie muß einen überlegenen Standort gegenüber der zerstreuten und fließenden Erfahrung erringen, von hier aus eine Umwandlung der Welt des ersten Eindruckes unternehmen und auch dem Leben neue Kräfte zuführen. Gegenüber der unerträglichen Verworrenheit der gegenwärtigen Lage muß sie auf einer schärferen Scheidung der Geister bestehen; die notwendige Vertiefung des Lebens kann sie nur erreichen durch einen Bruch mit dem nächsten Dasein, durch eine Umkehrung der vorgefundenen Lage. Ohne Wagnis läßt

sich dabei nicht auskommen, numquam periclum sine periclo vincitur.

In den Dienst dieser Aufgaben stellen sich die folgenden Ausführungen. Ihrer Unvollkommenheit ist sich der Verfasser vollauf bewußt; gern hätte er besseres geboten als hier geboten ist. Aber die Gesinnungsgenossen darf er bitten, der Schwierigkeiten eingedenk zu sein, mit denen ein solches Unternehmen in dem geistigen Dunkel der Gegenwart zu kämpfen hat, und von Herzen würde er sich freuen, wenn die leitenden Ideen, über deren schließlichen Sieg kein Zweifel sein kann, von Anderen glücklicher und eindringlicher verfochten würden. J e n a , im Herbst 1895. Rudolf Eucken

Vorwort zur zweiten Auflage

D

er »Kampf um einen geistigen Lebensinhalt" hat eine Anzahl warmer Freunde innerhalb und außerhalb Deutschlands gefunden, in weitere Kreise aber ist er weniger gedrungen als andere meiner Bücher. Es liegt das einerseits an der Art des Inhalts, an der Richtung der Untersuchung auf den Gesamtumriß des geistigen Lebens. Ein solcher Umriß kann da, wo die Teilnahme an dem Probleme fehlt, leicht als schattenhaft und unfruchtbar gelten, so wird er namentlich denjenigen Fachgelehrten gelten, denen alles Streben nach einem Oesamtbilde unseres Lebens und Seins ein Herausfallen aus echter Wissenschaft dünkt. Einer derartigen engen Denkweise irgend entgegenzukommen verbietet das Recht und die Würde der Sache, so ist die Aufgabe in der ganzen Strenge ihrer Fassung gegen die erste Auflage unverändert geblieben. Auch das Grundgefüge des Aufbaues forderte keine Wandlung. Völlig anders steht es dagegen mit der Darstellungsform, mir selbst gefiel sie bei Rückkehr zum Gegenstande so wenig, daß hier eine gründliche Umarbeitung unerläßlich war. Nach bestem Vermögen suchte ich das Buch knapper und klarer, lebendiger und anschaulicher, überhaupt lesbarer zu gestalten, es von lehrhafter und rhetorischer Art, sowie von unnützen Wiederholungen zu befreien, der Darstellung mehr Fluß und Rhythmus zu geben. Daß das Buch dabei an Umfang verloren hat, wird sich hoffentlich als ein Gewinn für die Sache erweisen. So lasse ich es in gutem Vertrauen neu in die Welt hinausgehen, im Vertrauen namentlich auf die wachsende Notwendigkeit einer Besinnung über das Ganze unseres Lebens und Seins, sowie einer Klärung unserer heute so ungewissen Stellung zur Wirklichkeit. J e n a , im April 1907. Rudolf Eucken

Inhalt Seite

I. Aufsteigender Teil. Die Stufen der Bewegung. A. Der Kampf um die Selbständigkeit des Geisteslebens. 1. Die Unhaltbarkeit der ersten Lage. a. Das Hinauswachsen des Menschen über die N a t u r . . . . b. Der Widerspruch im unmittelbaren Dasein c. Die Forderung einer selbständigen Oeisteswelt 2. Der neue Lebensprozeß. a. Die Hauptthese b. Das Zeugnis der weltgeschichtlichen Arbeit c. Der Umriß der neuen Wirklichkeit

1 17 22 27 31 36

B. Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens. 1. Der Ursprung des Charakters. a. Erster Entwurf b. Neue Aussichten und Aufgaben

54 59

2. Die Entwicklung des Charakters a. Einzelne Hauptpunkte b. Der Umriß des Lebenssystems ot. Die älteren Lebenssysteme ß. Das System der Wesensbildung aa. Allgemeine Züge bb. Welt und Natur cc. Der Mensch dd. Die Wesens- und Geisteskultur c. Konsequenzen und Entwicklungen a. Die Versöhnung von Einheit und Vielheit ß. Die Befreiung vom Intellektualismus y. Das Unrecht und das Recht der Geschichte

70 71 88 90 104 105 109 113 120 128 129 136 141

3. Die Auseinandersetzung mit der menschlichen Lage. a. Das Problem b. Die Bewegung des Daseins zum Geist c. Die Versöhnung von Idealismus und Realismus . . . .

153 155 168

VIII

Inhalt

C. Der Kampf um die Weltmacht des Geisteslebens. 1. Das Problem a. Die Natur b. Das geistige Vermögen c. Die moralische Gesinnung d. Die Geschichte e. Die Gesellschaft f. Das Schicksal

Seite 178 179 182 186 189 192 198

2. Das Suchen nach Lösungen. a. Die Wegdeutung des Bösen b. Die Zurückdrängung des Bösen c. Der Verzicht auf die Geisteswelt d. Die Philosophie der Entsagung

206 210 216 217

3. Der Weg der Rettung. a. Begründung b. Auseinandersetzung mit dem Zweifel c. Entwicklung der neuen Welt d. Verwicklungen und Abgrenzungen

225 237 251 262

II. Absteigender Teil. Das Gesamtbild im Verhältnis zur Zeit. A. Das Gesamtbild des Geisteslebens. 1. Der allgemeine Anblick 2. Die Lage des Menschen B. Auseinandersetzung mit der Zeit. 1. Geschichtliche Orientierung 2. Die Verwicklung der Zeit 3. Forderungen für Gegenwart und Zukunft. a. Forderungen des Ganzen b. Forderungen der einzelnen Stufen c. Forderungen einzelner Hauptgebiete. a. Die Religion ß. Die Moral T- Die Kunst 8. Die Philosophie Schluß Sachregister

281 289 292 307 312 318 324 326 329 331 333 335

I. A u f s t e i g e n d e r T e i l .

Die Stufen der Bewegung. A. D e r K a m p f u m d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s .

1. Die Unhaltbarkeit der ersten Lage. a. Das Hinauswachsen des Menschen über die Natur. \ Y / e r heute nach einem Sinn unseres Daseins und nach einem ** * Ziel unseres Handelns fragt, dem trägt nicht nur eine Hochflut der Zeitmeinung, sondern ein mächtiger Strom der weltgeschichtlichen Arbeit eine bestimmte und siegesgewisse Antwort entgegen. Der Mensch, so heißt es, gehört ganz und gar zur Natur; nicht nur von außen umfängt ihn ihre überlegene Gewalt, auch innerlich beherrscht ihn ihr Zwang, mit sicheren Zügen weist sie ihm den einzigen Weg zu Wahrheit und Glück. Wenn den Menschen ein keckes Unterfangen von dieser seiner Heimat losriß und ihm ein selbständiges Reich geistiger Art vorspiegelte, so hat es ihn nur ins Irre und Leere geführt; je mehr sich solcher Wahn im Lauf der Zeiten befestigte und unser Denken und Tun durchdrang, desto mehr ist er ein Hemmnis wahren und echten Lebens geworden, desto energischer ist er nach gewonnener Einsicht zu bekämpfen und auszurotten. Das erscheint als eine Hauptaufgabe der Neuzeit und Gegenwart Ein Wendepunkt der Zeiten scheint gekommen, der mit einer Rückkehr zu uralter Wahrheit zugleich eine völlige Erneuerung verspricht; eine erkünstelte und greisenhafte Kultur soll einer wahren und jugendfrischen weichen. Verzichten wir nur auf die hochmütige Isolierung wie die eingebildete Scheidewand zwischen uns und den Dingen, und wir werden aus der Berührung mit unserer Mutter Erde unerschöpfliche Kraft gewinnen. E u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

1

2

D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Das sind zunächst bloße Meinungen und Stimmungen. Aber hinter diesen Meinungen und Stimmungen steht die Arbeit der Menschheit, ja eine weltgeschichtliche Bewegung. In der Tat hat die Neuzeit den Menschen in ein engeres und fruchtbareres Verhältnis zur Natur gebracht. Sie hat das getan, indem sie zunächst eine Scheidung vollzog und damit erst der Natur zu ihrem Rechte verhalf. Das unmittelbare Ineinanderfließen beider, wie ein naiverer Lebensstand es übermittelte, war durch lange und zähe Gedankenarbeit des Altertums und Mittelalters wissenschaftlich durchgebildet und festgelegt, ein Netz menschlicher Begriffe umfing hier die Welt Dies Gewebe war vor allem aufzulösen, die Natur mußte in ihrer Selbständigkeit anerkannt sein, um ihre Eigentümlichkeit offenbaren zu können. Diese Eigentümlichkeit aber zeigte bald den weitesten Abstand, ja einen vollen Gegensatz zur menschlichen A r t Wir sahen aus der Natur alle seelischen Größen wie böse Geister durch seelenlose Massen und Bewegungen vertrieben, alle Gesamtgebilde in kleine und kleinste Elemente aufgelöst, alles Geschehen aus einer vermeintlichen Innerlichkeit in die äußeren Berührungen jener Elemente verlegt, alle Werte und Zwecke als leere Hirngespinnste zugunsten einer bloßen und reinen Tatsächlichkeit entfernt. Indem sich solche Antriebe im Lauf der Jahrhunderte mehr und mehr in fruchtbare Arbeit umsetzen und in die Unermeßlichkeit des Stoffes eindringen, erhebt sich immer anschaulicher und immer überwältigender das Bild einer selbstgenugsamen Wirklichkeit der Natur jenseits unseres Treibens und Tuns. Eine Welt unerschöpflich in dem Reichtum ihrer Bildungen und denkbar einfach in den Grundformen ihres Lebens, aus lauter Einzelpunkten bestehend, aber sie alle im Zusammensein untrennbar verwebend; rastlos bewegt im Spiel der Erscheinungen, unveränderlich im Grundbestande; ohne Spuren einer menschenähnlichen Vernunft, aber mit ihrer unverbrüchlichen Gesetzlichkeit und ihrem strengen Kausalzusammenhange das gewaltigste System einer immanenten Logik; von durchsichtiger Klarheit in ihren Äußerungen, von geheimnisvollem Dunkel in ihrer Tiefe, aber unter so deutlicher Abgrenzung beider, daß das Geheimnis die Arbeit des lichten Tages nirgends stört. Diese neue Welt erhob sich zunächst dem Menschen gegenüber als ein abgegrenztes Reich, neben ihm verblieb der seelischen Innerlichkeit ein eignes Gebiet. Ja, die deutliche Auseinandersetzung schien dies nur noch mehr in seiner Art zu bestärken. Bald aber wandte

Das H i n a u s w a c h s e n des M e n s c h e n über die N a t u r

3

die Natur sich gegen jene Sonderstellung des Menschen und begann ihn immer mächtiger an sich zu ziehen und unter sich zu bringen. U n d z w a r entsprang solche U n t e r w e r f u n g des Menschen gerade aus der A u s b i l d u n g Natur

einer Herrschaft über

mehr Macht

über

technische Bewältigung. stellungsbilder

und

die

Natur;

nichts

hat

der

verliehen als ihre intellektuelle

ihn

und

Die Abschüttelung der mittelalterlichen V o r -

der Fortgang zu einer objektiven und exakten

Naturerkenntnis war zugleich eine U n t e r w e r f u n g der Natur unter den wissenschaftlichen Begriff, ein T r i u m p h des Intellekts über die sinnliche W e l t

Aber

wie

schließlich den Sieger.

oft,

so

Durch

überwand

auch

hier der

Besiegte

den präzisen Inhalt, den die Natur

den Begriffen gab, b e z w a n g sie die geistige Arbeit, um so sicherer und nachhaltiger, je unmerklicher sich diese W i r k u n g vollzog.

So

g r o ß w a r die M a c h t der an der Natur g e w o n n e n e n Festigkeit, A n schaulichkeit, G l i e d e r u n g der Begriffe, daß das dort gefundene Bild auf die Innenwelt beherrschte.

übergriff und immer mehr auch ihre Gestaltung

Auch

die direkten G e g n e r unterlagen diesem Einfluß.

Zeigt doch selbst ein L e i b n i z , wie viel stärker eine Strömung der Zeit

als die G e s i n n u n g der Individuen ist, wie jemand in der Be-

kämpfung

des »Naturalismus"

seine Lebensaufgabe

erblicken

und

zugleich dem G e g n e r die W e g e bereiten kann. W a r d so v o n innen her einer neuen Lebensführung der Boden gesichert,

so

wirkte

zur

Breite des Lebens unmittelbarer die erst

langsame, dann rasche Entfaltung einer technischen und industriellen Kultur, dieses Sprößlings der neuen Naturwissenschaft.

B a c o n hatte

Recht mit dem W o r t e , der Mensch werde z u m Herrn der Natur nur dadurch, ihrem

daß er ihr dient; er vergaß nur hinzuzufügen, daß er in

Dienst verbleibt,

auch nachdem er ihr H e r r geworden

daß er immer tiefer in ihren Bann gerät, je mehr machen

versteht.

Denn

je

mehr verlegt sich die Arbeit und

mehr

die Technik

in

das W e r k z e u g ,

fortschreitet, in

ist,

er aus ihr zu die

desto

Maschine

damit in die Naturkräfte, desto g e b u n d e n e r wird der Mensch,

desto mehr sinkt er z u m Gehilfen und Diener.

W a s seine Intelligenz

und Geschicklichkeit ersann, das erlangt eine Selbständigkeit, kehrt sich

gegen

den U r h e b e r , weist seinem T u n

herrscht

schließlich

Daseins

steigt

Gesinnung,

von

auch sein Denken.

die Bahnen und

Innerhalb

unseres

be-

eignen

ein Naturprozeß auf, dringt von der Arbeit in die der G e s i n n u n g

unser ganzes Leben.

in das W e s e n

und wird

endlich

D i e technische Arbeit mit ihrer ausschließlichen 1*

4

D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Richtung auf die Leistung, ihrer zusehends wachsenden Differenzierung, ihrer Anhäufung riesiger Massen, ihrer Ausbildung schroffer Gegensätze, ihrer fieberhaften Hast, ihrer Verschärfung des Kampfes ums Dasein wird typisch für unser ganzes Leben: das erfahren nicht nur die Einzelnen in ihren gegenseitigen Verhältnissen, das erfährt auch die Menschheit als Ganzes; auch sie wird in den Wirbel hineingezogen, fortgerissen, in atemloser Aufregung gehalten, sie wird ein bloßes Mittel eines ohne Ruhe und Rast, ohne Sinn und Vernunft dahinjagenden Kulturgetriebes. Was anderes ist aber ein solches Kulturgetriebe als eine Fortsetzung jenes mechanischen Naturprozesses ? So hat die Natur uns auf unserem eignen Gebiete besiegt. Wir aber, die wir die Natur der Vernunft unterwerfen wollten, sind mit aller unserer Vernunft der Natur unterlegen. Es wird aber diese Wendung zur Natur, die sich als eine unbestreitbare Wahrheit gibt, zu einer unermeßlichen Aufgabe gegenüber der geschichtlichen Lage. Die Entfernung von der Natur hat unter uns zu viel geschichtliche Tatsächlichkeit erlangt, um nicht harten Widerspruch und Widerstand zu leisten. So bedarf es angestrengter Arbeit zur Ausrottung alles Unechten, zur Freilegung und Verbindung des Echten; es gilt alle «Werte umzuwerten", um sowohl die ganze Seele des Menschen als alle Verzweigung der geistigen Welt in eine naturgemäße Verfassung zu bringen. Immer eifriger wird diese Arbeit, immer höher steigt die Bewegung; hier vornehmlich erfolgt eine Summierung der Kräfte, hierher geht der Affekt unserer Zeit, ihr Glaube, ihre Hoffnung. So siegreich vordringen und die Menschen so sicher bezwingen hätte jene Bewegung nicht gekonnt bei kräftigerem Widerstand anderer Gedankenmassen. An Widerstand fehlte es freilich nicht: sowohl ein religiöses System mit seiner Bindung unseres Lebens an eine überweltliche Ordnung als eine immanente Kultur mit ihrer Vergeistigung des Daseins durch Kunst und Wissenschaft widersprachen und widersprechen dem Naturalismus. Aber ihnen fehlt auf dem Boden der Zeit die Kraft zu überzeugen, zu verbinden, vorzudringen. Sie fehlt namentlich deswegen, weil jene Bewegungen heute kein ursprüngliches Schaffen erzeugen, weil die ewigen Wahrheiten, die sie vertreten, kein sicheres Verhältnis zur Zeit finden und nicht ihre Seele gewinnen. So bleiben wir auf überkommene Gestaltungen angewiesen, die dem Stande der weltgeschichtlichen Arbeit und den Bedürfnissen der Gegenwart nicht entsprechen, und

Das H i n a u s w a c h s e n des Menschen über die Natur

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die Wahres und Unentbehrliches mit Überlebtem, ja Unmöglichem untrennbar verquicken. Schleppen wir hier das Unmögliche weiter, um nur nicht das Notwendige zu gefährden, so entsteht leicht eine Halbwahrheit, ein Halbwollen matter, stumpfer, heuchlerischer Art. Es fehlt auf der geistigen Seite ein die Arbeit beseelendes und verbindendes, die Individuen aufrüttelndes und erhöhendes Lebensziel. Das Natursystem dagegen bietet ein solches; kein Wunder, daß ihm die Gewalt über die Gemüter gegeben ist, und aller Widerstand ihm nichts anzuhaben vermag. Die Verworrenheit und Halbwahrheit der anderen Systeme verstärkt nur den Eindruck seiner Einfalt und schlichten Tatsächlichkeit. Gewiß fordert es große Opfer vom Menschen, vielen Lieblingswünschen muß er bei Aufgebung seiner Sonderstellung entsagen. Aber dies Entsagen selbst hat den Reiz einer mannhaften Tat, und mit den Privilegien fallen zugleich die Schranken zwischen dem Menschen und dem All, so daß dessen unermeßliches Leben ihn ungehemmt zu durchfluten vermag. Das sind eingreifende Wandlungen und Erschütterungen, auch insofern einzig in ihrer Art, als nie zuvor der Naturalismus so wie jetzt einen selbständigen Aufbau der Kultur unternahm, nie so in alle Verzweigung des Daseins hineinreichte. Dieser neuen Lage gegenüber versagen alle bloßhistorischen Hilfen. Auch vermögen gegen jenen Strom von Ideen und Tatsachen gar nichts individuelle Antipathien, noch auch einzelne Gegendaten; einem Ganzen der Wirklichkeit ist nur ein ebensolches Ganzes gewachsen. Aber dürfen wir überhaupt nach einem anderen fragen und uns umsehen, nachdem die Zeit und die Menschheit, wie es scheint, für das Natursystem schon entschieden hat? Wir dürfen es nur, wenn wir die Endgültigkeit dieser Entscheidung bezweifeln; das aber tun wir in Wahrheit. Wir tun es aus der Überzeugung, daß die sichtbarste Strömung der Zeit keineswegs schon die ganze Zeit bedeutet, daß weiter das Sein des Menschen überhaupt nicht in eine besondere Zeit und Zeitlage aufgeht. Alsdann gibt es eine Berufung von der Leistung der Zeit an die Seele der Zeit, sowie eine von der bloßen Zeit an eine ewige Wahrheit und zeitlose Wirklichkeit. Diese höchste Instanz rufen wir an, und vor ihr gedenken wir jene ausschließliche Verwandlung des menschlichen Daseins in einen Naturprozeß, jene Unterordnung und Einfügung des Geistes in die Natur als eine Irrung und Verkehrung darzutun. Begründen kann diese Behauptung nur der Aufweis eines andersartigen, überlegenen Lebens-

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

prozesses, der von Grund aus wirkt, seine volle Verwirklichung aber erst von menschlicher Zuwendung erwartet Eine solche Untersuchung kann ihren Standort nicht im Bewußtsein der Individuen, sondern nur in dem weltgeschichtlichen Leben und Schaffen der Menschheit nehmen. Nur ihre Bewegungen und Erfahrungen lassen die entscheidenden Tatsachen deutlich hervortreten, während die kleinen Kreise mit ihrer Zufälligkeit, ihrem wirren Durcheinander, ihrem kaleidoskopischen Wechsel uns im Unsicheren lassen.

Daß die Entwicklung der Menschheit bei allem, was sie der Natur verdankt und worin sie von ihr abhängig bleibt, den Kreis der Natur durchbricht und eine neue Welt eröffnet, das sei zunächst am allgemeinsten Umriß des Lebens erwiesen. An drei eng zusammenhängenden Hauptpunkten zeigt auch das unmittelbare Dasein eine Weiterbewegung des Ganzen. Zunächst entwickelt der Fortschritt der Kultur ein neues Verhältnis von Sinnlichem und Unsinnlichem. - Der Naturprozeß in der präzisen Fassung der neueren Wissenschaft kennt kein Wirken von innen her, kein Fürsichsein, keine Selbsttätigkeit der Dinge. Vielmehr ist jedes Element eng mit seiner Umgebung verschlungen, es besteht nur als Glied einer fortlaufenden Kette, alle Leistung erfolgt auf die Reizung von draußen her und in der Richtung nach draußen; nur miteinander, nur in unablässigem Austausch sind die Dinge, was sie sind. Auch das Seelenleben könnte als bloße Fortführung des Naturprozesses einen Inhalt nur aus der Berührung mit der Umgebung schöpfen; eine solche Bindung aber würde all unserem Denken und Tun einen sinnlichen Charakter verleihen und es auch in seiner höchsten Entfaltung streng dabei festhalten. Es möchte dann etwa Unterschiede einer gröberen und einer feineren, einer unmittelbaren und einer abgeleiteten Sinnlichkeit geben, nicht aber ein völliges Losreißen vom Sinnlichen, einen selbständigen Ausgangspunkt, einen eigentümlich geistigen Prozeß, ein Bearbeiten und Umwandeln des sinnlichen Daseins aus einem neuen Leben. Zugleich müßten die Grundformen der Sinnlichkeit, es müßten Raum und Zeit unser ganzes Leben beherrschen, ohne irgend als eine Einengung empfunden zu werden. Nun erstreckt sich jene sinnliche Art weit auch in das menschliche Leben hinein, weit über den ersten Eindruck hinaus. Aber sie erfüllt es nicht ganz, ein unsinnliches Leben

D a s H i n a u s w a c h s e n des M e n s c h e n ü b e r d i e N a t u r

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erscheint nicht nur hie und da, sondern in umfassenden Zusammenhängen, nicht nur als eine Ergänzung, sondern als eine Umkehrung des bisherigen Daseins. In aller Munde ist das Wort Kultur, und von der Kultur will auch der Freund der Natur nicht lassen. Aber den Begriff der Kultur können wir nicht auch nur etwas genauer fassen, ohne in ihr eine Wendung des Lebens anzuerkennen. Schon das Wort (colere bestellen, bebauen) deutet auf ein selbständiges Vorgehen und eignes Unternehmen des Menschen. Mag diese Bewegung zunächst innerhalb des sinnlichen Daseins liegen, bei wachsender Kraft führt sie darüber hinaus und erzeugt sie eigne Größen und Güter; aus einer bloßen Unterstützung der natürlichen Erhaltung wird die Kultur mehr und mehr zur Erschließung einer neuen Welt, zur Werkstätte eines neuen Lebens. Dies neue Leben aber versetzt über alle Sinnlichkeit hinaus in ein Reich der Gedanken und Ideen. So erweist es sich deutlich genug durch alle Verzweigung des Daseins. Sein eignes Bild verschiebt sich dem Menschen allmählich von jener Sinnfälligkeit der alten Zeiten, wo der Körper das wahre Selbst und die Seele den bloßen Schatten bildete, in ein gedankliches Sein; nicht nur die Wissenschaft erstrebt eine Ausscheidung aller sinnlichen Elemente aus dem Seelenbegriff, auch der Überzeugung und Lebensführung des Menschen wird das Ich, die Individualität, die Persönlichkeit, also etwas durchaus Unsinnliches, zur Hauptsache. Die menschliche Gemeinschaft erhebt sich in Staat und Recht über die räumliche Nähe und die sinnlichen Formen, ein stärkeres Band als alles physische Zusammensein werden gemeinsame Schicksale, Ideen und Interessen; was an den Handlungen äußerlich ist, das sinkt aus einem Haupte bestandteil mehr und mehr zu einem bloßen Zeichen, einem an sich gleichgültigen Mittel zur Bekundung von Entschlüssen und Gesinnungen. Auch die Arbeit wird mehr und mehr auf das Denken gestellt, vom Denken getränkt, ja ganz und gar in ein Gedankenreich verwandelt. So zeigt es besonders deutlich die Wissenschaft selbst mit ihrer Zerstörung des naiven Weltbildes, ihrem Auflösen, Neubegründen, Wiederaufrichten der Wirklichkeit. Wohl muß sie schließlich zu dem Ausgangspunkt der Erfahrung zurückkehren, aber die Welt ist ihr inzwischen eine andere geworden, der Verlauf der Arbeit hat aus ihr ein Reich von Gedankengrößen gemacht. Mit dem Inhalt aber verwandelt sich auch die Form des Lebens. Jene Gedankengrößen gewinnen ein eignes Leben und befreien sich

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

von unserer Macht wie von unseren Zwecken. Zugleich schließen sie sich untereinander zusammen und bilden immer ausgedehntere Komplexe. Diese wollen sich durchsetzen und ausleben, sie tun das mit elementarer Gewalt, unbekümmert um das Wohl und Wehe der Menschen, in rücksichtslosem Dahinschreiten über die Individuen, Völker und Zeiten. Die starrsten Interessen und Vorurteile zersetzt schließlich die bohrende Macht des Gedankens, nichts übertrifft an bewegender Kraft die Leidenschaft der Prinzipien und Ideen. Je mehr wir aber im Licht des Gedankens sehen und aus der Kraft des Gedankens handeln, desto mehr wird das Sinnliche in die Peripherie des Lebens gedrängt und zur bloßen Außenseite, zum Mittel, zur Erscheinung herabgesetzt Den Wert der äußeren Ereignisse bestimmt jetzt nicht sowohl ihr sinnlicher Umfang als ihr Ertrag für eine unsinnliche Welt; der Kern des Lebens verlegt sich aus dem Verhältnis zur Umgebung in die Bewegungen und Spannungen einer inneren, vom Gedanken getragenen Welt. In solchen Wandlungen vollzieht sich zugleich eine Überwindung von Raum und Zeit Die alte Meinung, des Menschen Leben verlaufe gänzlich in Raum und Zeit, ist so falsch, daß gerade umgekehrt es nichts unterscheidend Menschliches gibt, das nicht gegen Zeit und Raum sich zu wehren hätte. Wohl stehen wir in der Zeit und scheinen lediglich ihrem Strome zu folgen. Aber wir tun das nicht mit unserem ganzen Wesen; täten wir es, so gäbe es keine Geschichte im eigentümlich menschlichen Sinne. Denn eine solche Geschichte erwächst nicht aus einem bloßen Vorbeiziehen der Dinge, auch nicht aus einem Aufspeichern äußerer Leistungen. Zur Geschichte gehört, daß der Mensch nicht bloß die besondere Spanne der Zeit erlebt, die das Geschick ihm zuweist, sondern daß sein Gedanke ihn in frühere Zeiten zurückführt; was vergangen, das kann er zu neuer Wirkung erwecken, den Lauf der Zeiten kann er von neuem wieder aufrollen. Wir verhalten uns dabei zur Vergangenheit nicht bloß betrachtend, sondern wir verknüpfen sie mit unserem eignen T u n ; die Aneignung des Früheren soll unser Dasein ergänzen und bereichern, es über die Gegenwart des bloßen Augenblicks mit all ihrer Zufälligkeit und Beschränktheit zu einer zeitumspannenden und zeitüberlegenen Gegenwart führen. Soviel werden kann uns aber das Überkommene nur, sofern bei ihm eine Sonderung zwischen Vergänglichem und Bleibendem erfolgt; ewige Wahrheiten und beharrende Wirklichkeiten müssen aus dem Wechsel und Wandel

Das Hinauswachsen des Menschen über die Natur

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heraustreten. Mit solchem Scheiden eines sterblichen und eines unsterblichen Teiles wird alle echte Beschäftigung mit der Vergangenheit eine Zerstörung der bloßen Vergangenheit, alles Eingehen in die Zeit zugleich ein Kampf gegen die Zeit. — Aber nicht bloß der Vergangenheit gegenüber, auch unmittelbar wirkt in uns ein überzeitliches Streben. Alle geistige Arbeit enthält wie als Überzeugung so als Triebkraft die Idee einer an sich gültigen Wahrheit; eine Wahrheit f ü r heute und morgen, für die besondere Zeitlage und auf Kündigung, ist ein Widerspruch in sich selbst. So sehr uns also nach unserer natürlichen Bedingtheit die Zeit festhält, eine Ewigkeit wirkt ihr entgegen, der Zusammenstoß beider durchdringt unser Leben. Mag uns das in schwere Verwicklungen f ü h r e n , die Mühen und Zweifel selbst befreien von der Enge eines bloßnatürlichen Daseins. Was aber von der Zeit, das gilt auch vom Raum. Die geistige Arbeit überwindet das bloße Nebeneinander ebenso gewiß wie das bloße Nacheinander; die bloßräumliche Berührung weicht mehr und mehr einer inneren Zusammengehörigkeit, einer sachlichen Verknüpfu n g der Dinge, einer Anordnung der Teile nach der Leistung f ü r des Ganze. Hier wäre zu zeigen, daß in der geistigen Arbeit wie die Zeit von der Ewigkeit so der Raum von einer unräumlichen Welt aus erlebt wird. Aber nicht zu lange sollen diese Fragen uns aufhalten, die f ü r das Ganze unserer Arbeit nur Vorfragen sind. Das Gesagte mag einstweilen zur Rechtfertigung der Überzeugung genügen, daß Zeit und Raum und mit ihnen die sinnliche Natur das menschliche Dasein nicht ganz einnehmen, und daß uns über sie nicht bloß ein Ahnen und Hoffen einer jenseitigen O r d n u n g der Dinge, sondern alle Kräftigung der geistigen Arbeit erhebt, wie sie uns unmittelbar erfaßt und bewegt. Mit der W e n d u n g vom Sinnlichen zum Unsinnlichen geht Hand in Hand eine Befreiung von der bloßen Punktualität des Daseins; Gesamtgrößen entstehen, es richtet sich das Handeln über das Ich hinaus auf andere Wesen und auf innere Zusammenhänge, das aber in schroffem Gegensatz zur Natur. Denn der Naturprozeß gewährt ein eignes Sein und eine ursprüngliche Kraft nur dem Einzelnen, Kleinen, Elementaren, er kennt keinen anderen Zusammenhang als die Zusammensetzung der Elemente, keine andere Gesamtwirkung als die Summierung der Einzelvorgänge. Die einzige Kraft der Bewegung bildet demgemäß hier der Naturtrieb der Selbstbehauptung von

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Element gegen Element; mag das Streben insofern die Umgebung einschließen, als jedes Einzelne tausendfach damit verkettet und für sein Befinden darauf angewiesen ist, immer verbleibt die Zurückbeziehung auf das Ich; die Kette mag sich ausdehnen, sie darf nicht zerreißen; nie kann der Lebensprozeß sich an eine andere Stelle versetzen und gegen das natürliche Selbst kehren. Eine innere Unterordnung unter ein Ganzes, die Anerkennung eines fremden Rechtes, Liebe und Aufopferung für andere, sie wären in diesem Zusammenhange unbegreifliche Wunder. Nun unterliegt unser Dasein zunächst jener Vereinzelung, und mit starkem Zwange hält die natürliche Besonderheit uns fest. Aber alle geistige Arbeit und alle Bildung menschlicher Gemeinschaften enthält eine Durchbrechung jener Schranken, ein Aufkommen und Wirken innerer Einheiten. Selbst das unmittelbare Bewußtsein ist undenkbar ohne einen Einheitspunkt, an dem die Vorgänge zusammentreffen; je mehr aber das Leben aus einem bloßen Vorgehen an uns zu eignem Tun und Schaffen wird, je mehr die geistige Arbeit von sich aus Ziele entwirft und Wege ersinnt, desto mehr Einheit erscheint im Wirken, desto selbständiger hebt sich diese Einheit heraus, desto mehr übt sie eine zusammenhaltende wie umwandelnde Kraft. Die Hauptrichtung der geistigen Arbeit geht weder vom Einzelnen zum Einzelnen, noch vom Einzelnen zum Ganzen, sondern von einem unbestimmten, bloß entworfenen, chaotischen zu einem bestimmten, ausgeführten, durchgebildeten Ganzen; alles Einzelne liegt innerhalb dieser Bewegung des Ganzen und erhält daraus seine Stellung und Bedeutung. Nur in der Verbindung zum Ganzen gewinnt die geistige Arbeit einen ausgeprägten Charakter, das Einzelne für sich hat keinen Sinn und bekommt ihn auch nicht durch die massenhafteste Anhäufung. Man sollte z. B. meinen, nichts sei leichter und einfacher als das Wesen des Urteils, jener Grundfunktion alles Erkennens, zu ermitteln. Aber wenn wir die großen Denker, Männer wie D e s c a r t e s und L o c k e , L e i b n i z und K a n t , darum befragen, so erhalten wir völlig verschiedene Antworten; es ergibt sich aber eines jeden Antwort aus seiner Gesamtauffassung des Erkenntnisprozesses, ja aus dem Ganzen seiner philosophischen Überzeugung. Gerade bei den größten Denkern reicht solche Ausprägung der geistigen Individualität bis in die kleinsten Elemente hinein. Das nimmt nicht der direkten Beobachtung des einzelnen Falles ihren Wert; nur in Wechselwirkung von Ganzem und Einzelnem kommt

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unsere Arbeit vorwärts, unablässig gilt es, an dem Einzelnen zu prüfen, zu bestätigen, weiterzuführen, was vom Ganzen unternommen war. Aber die Entscheidung über die Hauptrichtung, die Herausbildung eines Charakters, die führende und treibende Kraft bleibt immer beim Ganzen. Ebenso gewiß wird das Ganze auch zur treibenden Kraft unseres Handelns. Wohl müht sich seit Jahrtausenden kleinkluger Scharfsinn, all unser Handeln auf das „wohlverstandene Interesse" der Individuen zurückzuführen; von Haus aus sei der Einzelne mit seiner Umgebung zu sehr verwachsen, um sie nicht in seine Selbsterhaltung mit einschließen zu müssen, dann verflechte die Kultur ihn immer enger mit der Gesellschaft und binde immer mehr das Glück jedes Einzelnen an das Wohlergehen der Anderen; so müsse er, um selbst glücklich zu sein, das Wohl der Anderen fördern. Das ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber es beweist nicht, was es beweisen soll. Denn man muß von der Moral recht niedrig denken, man muß ihr Wesen völlig verkennen, um durch den Nachweis, daß der Mensch nach der natürlichen Verkettung der Dinge auch die Umgebung in sein Streben aufnimmt, Moral begründet zu glauben. Denn dort handelt es sich um eine bloße Ausbreitung, hier um eine Überwindung des Ich, dort um Leistungen, die auch den Anderen zugute kommen, hier um Gesinnungen, die direkt auf die Anderen und das Ganze gehen; der höchste Erfolg jenes Scharfsinns besteht also in dem Nachweis, daß die bloßen Mittel des sozialen Mechanismus etwas erreichen lassen, was von draußen her wie Moral aussieht und von einem Nichtkenner dafür gehalten werden mag. In Wahrheit hat jenes ganze Getriebe mit der Moral nicht das Mindeste zu tun. Denn welche Aufopferung liegt in dem Wirken für das Wohl anderer, wenn es lediglich im eignen Interesse erfolgt, und was gewinnt die Gesinnung dadurch, daß wir klug genug werden, in der Aufopferung direkter Vorteile zugunsten indirekter das bessere Geschäft zu erkennen? Die Sache stünde anders, wenn der Mensch mit allen Fasern seines Wesens so eng der Umgebung verwachsen wäre, daß eine Sonderung und Entgegensetzung gar nicht eintreten könnte und wir nie vor die Notwendigkeit einer Entscheidung gestellt würden. Aber gab es je einen solchen Unschuldsstand, so hat die geschichtliche Bewegung uns längst daraus vertrieben; mit Eröffnung der Kluft aber entsteht sofort die Frage, was nunmehr zur Haupt-, und was zur Nebensache werden soll; je nach der Ent-

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Scheidung wird sich das Leben völlig anders gestalten. Wohin dabei die Entscheidung der Individuen falle, und wie es mit der Durchschnittsleistung stehe, das ist eine Frage für sich; jedenfalls lassen sich aus dem Menschenwesen und aus der weltgeschichtlichen Arbeit Mächte wie Gerechtigkeit, Liebe, Pflicht auch durch den angestrengtesten Scharfsinn nicht ganz vertreiben. So sehen wir das menschliche Dasein an wesentlichen Punkten die bloße Natur durchbrechen und eine neue Ordnung anbahnen. Schwerlich wäre das möglich ohne einen von Grund aus neuen Lebensprozeß. Ein solcher entsteht in der Tat. Als bloßnaturhaftes Sein wäre unser Leben nur ein Stück eines endlosen Gewebes physischer Wirkungen und Gegenwirkungen; das Geschehen wäre in seiner nackten Tatsächlichkeit ohne allen Versuch einer Durchleuchtung und inneren Aneignung hinzunehmen; über die sinnliche Berührung hinaus hätten die Dinge für uns keine Anziehungskraft; das Dasein des Einzelnen wäre nicht mehr als das Befinden des besonderen Punktes, der sein Ich bildet. So ein Leben ganz in Empfindung und Affekt, ein völliges Gebundensein an die Umgebung, ein Aufgehen in das unmittelbare Dasein ohne alles Gefühl seiner Schwere und Sinnlosigkeit, keine anderen Probleme als die der natürlichen Selbsterhaltung. Diesen naturhaften Stand des Daseins finden wir aber überschritten, wie weit uns die geschichtliche Erinnerung zurückträgt. Die Forschung zeigt uns ein artthropomorphes und mythologisches Zeitalter, wo der Mensch alle Dinge vermenschlicht, alles von sich aus mißt, alles auf sein Ergehen als den Mittelpunkt der Welt bezieht. Ein solches Einspinnen der Wirklichkeit in das menschliche Vorstellen und Begehren war sicherlich eine Irrung, aber in aller Irrung war es zugleich eine Leistung, ein Zeugnis der Kraft, ein Überschreiten der bloßen Natur. Vergessen wir über dem Besonderen nicht das Allgemeine der Tatsache, über der falschen Deutung und über dem verkehrten Verhältnis zum All nicht das Große dessen, daß überhaupt gedeutet, überhaupt ein inneres Verhältnis zum All gesucht wurde. Denn das war nicht möglich ohne ein Zerreißen der natürlichen Verkettung, ein Abschütteln des bloßphysischen Druckes der Dinge, ein Zusammenfassen des Menschen bei sich selbst und ein Ringen mit der Umgebung. Selbst der krasse Egoismus dieser Stufe mit seiner Beugung der ganzen Unendlichkeit unter die Zwecke des Menschen ist ein Beweis der Kraft; wie weit ist sein

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Abstand von der tierischen, durch das Bedürfnis begrenzten, man möchte sagen unschuldigen Selbsterhaltung! Dann aber bildet diese Stufe nicht den Abschluß, sondern einen bloßen Durchgang. Es kommt die Zeit, wo der Mensch sein eignes Gewebe zerreißt und eine eigne Natur der Dinge anerkennt; zugleich aber wird er sich selbst zu gering, um das Maß der Dinge und den Mittelpunkt der Wirklichkeit zu bedeuten. Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, deren Leben bis dahin unmittelbar ineinander überfloß, trennen sich jetzt, und die Bewegung führt zunächst immer weiter auseinander bis zum schroffsten Gegensatz. Das nächste Verhältnis wird das einer völligen Spaltung, kalt und fremd stehen vor uns die Dinge, und eine himmelweite Kluft scheint den Menschen von ihrer Wahrheit zu scheiden. Dazu greift der Zweifel bald von außen nach innen, er kehrt sich von der Welt gegen das eigne Wesen. Jenes Getriebe des Empfindens und Begehrens, jenes Reich subjektiver Zuständlichkeit, worin bis dahin unser Sein aufging, wird zur bloßen Oberfläche, hinter der wir ein wahres Sein erst suchen. Aber wir ahnen es mehr, als daß wir es ergreifen und entwickeln könnten; zunächst scheinen wir an die Außenseite der Dinge gebannt, ohne daß uns doch bei einmal gewecktem Zweifel genügen könnte, was hier an Erkenntnis und Glück erreichbar ist So zerfällt der Mensch nicht nur mit seiner Umgebung, sondern auch mit sich selbst, der Spalt zerreißt sein eigenes Wesen. Es kommt eine Zeit des Zweifels, der Erschütterung, der Demütigung. Und diese Krise wird nicht rasch ein- für allemal erledigt, sondern immer von neuem kommt sie zum Ausbruch; dauernd wird uns ein ruhiges Fortschreiten in gerader Linie verwehrt, dauernd aller geistigen Arbeit ein Zug der Reflexion und Negation eingeprägt Aber auch hier ist die Erfahrung der Kleinheit zugleich ein Zeugnis der Größe. Denn jene Schranken der subjektiven Lebensführung werden uns nicht von außen, sondern von innen, werden nur durch die eigne Tätigkeit bemerklich gemacht; es ist der Mensch selbst, der das Bloßmenschliche empfindet, verwirft und bekämpft; eine größere Art, ein wesenhafteres Leben muß in ihm stecken, wenn ein solches Wollen und Wagen möglich sein soll. Mag dies Neue zunächst als eine Kraft der Zerstörung wirken, mag es uns weniger die Dinge sehen lassen als den Schleier, der sie verhüllt, mag es uns höhere Ziele nur vorzuhalten scheinen, um uns alle Wege zu ihnen zu versperren, eine Verzweiflung oder Resignation könnte

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daraus nur entstehen, wenn jener Stand die Bewegung abschlösse. Das aber tut er nicht Jenseits der Kritik und Reflexion entsteht ein geistiges Schaffen und mit ihm ein zuversichtliches Unternehmen, die Kluft zu überbrücken und das Unmögliche durchzusetzen, der Versuch, den Lebensprozeß bei sich selbst soweit zu vertiefen, daß er auch den Kern des Seins ergreift, und zugleich so zu erweitern, daß er aus eignem Vermögen einen Zusammenhang mit den Dingen gewinnt, die sich ihm von draußen her streng verschlossen. Diese innere Fortbildung, dieses bei sich selbst Vordringen des Lebens und was daraus an Wirklichkeit entspringt, ist ein Hauptproblem, ja das Hauptproblem unserer ganzen Untersuchung; an dieser Stelle sei nur an einige greifbare Züge erinnert. Nur die Alltäglichkeit hat die Empfindung für das Merkwürdige der Tatsache abgestumpft, daß innerhalb unseres Daseins der Begriff einer Sache, einer sachlichen Wahrheit, eines sachlich Outen aufkommt und Macht gewinnt. Denn damit ist ein Widerspruch nicht nur erzeugt, sondern auch überwunden, ein Rätsel gestellt und zugleich gelöst. Die Sache tritt uns gegenüber als etwas fremdes, sie entwickelt eigne Gesetze, Kräfte und Ansprüche, sie darf unseren Wünschen und Meinungen nicht das Mindeste nachgeben. Aber bei solcher Entfernung wird sie uns keineswegs fremd; ihr Platz ist nicht außerhalb, sondern innerhalb unseres Lebens; für uns will sie etwas sein und bedeuten, aus uns etwas anderes machen. So entsteht eine schroffe Antithese: jenes Sachliche soll uns entgegentreten und sich doch nicht von uns ablösen, allein sich selbst leben und doch für uns etwas sein, unser Wohl und Wehe gleichgültig nehmen und uns anziehen als ein hohes Gut, alle Affekte unterdrücken und selbst einen neuen Affekt erzeugen. Und alles dies Unmögliche umfängt uns fortwährend mit unwidersprechlicher Wirklichkeit und beherrscht vornehmlich die Grundformen unserer geistigen Existenz! Ohne ein Aufnehmen der Sache in den Lebensprozeß gibt es keine Arbeit, Arbeit im Sinne des Menschen, Arbeit innerlich angesehen. Wir verehren die befreiende, befestigende, beruhigende Macht der Arbeit, aber worauf anders ist sie begründet als auf dem Eingehen unserer Tätigkeit in den Gegenstand, auf der Hingebung an seine Probleme, der Freude an seiner Förderung? So allein wird das kleine Ich gebändigt, überwunden, vergessen. - Eine Wissenschaft gegenüber den bloßen Meinungen und überhaupt eine

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geistige Arbeit jenseits der Lagen und Launen der Individuen gibt es nicht ohne eine Autonomie des Denkens gegenüber dem Vorstellungsgetriebe mit seiner Gebundenheit. Dem Denken aber ist wesentlich das Umspannen der Sache. Mögen wir Begriffe bilden oder Urteile fällen oder Schlüsse ziehen, immer gilt es eine Eröffnung der Sache, immer hängt an ihr die Entscheidung. Nur sie verleiht dem Denken seine zwingende Kraft und seine Allgemeingültigkeit. Nur sie begründet eine uns allen gemeinsame Innenwelt. Die Sache ist es auch, mit deren Hülfe wir die bloßsubjektive Lust überwinden. Einem Wesen, das so schwere Erschütterungen durchzumachen und so hart um sein eigenes Sein zu kämpfen hat, muß jene Lust, die dem Beginne genügt, leer und läppisch, das Sicheinspinnen in ein subjektives Wohlbefinden zu einem engen Gefängnisse werden. Ein Leben für so sinnlose Ziele könnte nach allen Erfahrungen nicht mehr als lebenswert gelten. Aber wenn sich das Dasein einen tieferen Inhalt erarbeitet, wenn das Angenehme und Nützliche irgend dem Guten weichen muß, was anderes ist es wiedernm als die Sache, an die sich solche Wandlungen und Erhöhungen knüpfen? Jene Wandlungen verändern zugleich die Art des Lebens, sie befreien es von der dunklen und starren Tatsächlichkeit des Anfangs. Mit der Richtung auf die Sache erhält unser Tun ein Ziel jenseits der unmittelbaren Eindrücke; ein Normalstand schwebl vor und übt einen Zwang in Messen und Richten. Und dieser Zwang kommt nicht von außen und überwältigt nicht mit physischem Drucke. Denn die Sache mit ihrer Welt ist ohne unsere Tat und Aneignung für uns nicht vorhanden, sie bindet uns nicht ohne unsere freie Zustimmung. Dieser Zwang durch Freiheit gewinnt eine besondere Anschaulichkeit in der Idee der Pflicht; verbindet sie doch mit der höchsten Gebundenheit die höchste Freiheit und vollzieht dadurch einen völligen Bruch mit dem bloßen Naturstande. Das alles ist im einzelnen und nach der Seite der Leistung bekannt und anerkannt. Aber die gewöhnliche Ansicht verbleibt bei den einzelnen Erscheinungen und erreicht keine Zusammenfassung zum Ganzen, keine Wendung ins Innere. Erfolgen diese, so ist das Aufkommen eines neuen Lebens gesichert, das sich nicht zwischen den Dingen hin- und herbewegt, sondern ihr ganzes Sein umfaßt, mit ihnen lebt, durch sie fortschreitet. Auch kann darüber kein

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Zweifel sein, daß ein solches neues Leben sich nun und nimmer von draußen zuführen, nie einer äußeren Erfahrung abringen läßt. Auch der sinnfälligste Eindruck verleiht den Dingen nicht eine innere Gegenwart und erzeugt nicht die Idee einer objektiven Wahrheit Nur als Selbstentfaltung des eignen i Wesens sind jene Bewegungen möglich; in ihren Mühen und Kämpfen strebt der Lebensprozeß selbst zu einer höheren Stufe empor. Zugleich verwandelt sich die Kluft zwischen uns und den Dingen in einen Gegensatz bei uns selbst, den Gegensatz eines auf Empfindung und Affekt des Einzelpunktes beschränkten und eines die Wirklichkeit von innen her umfassenden, eine Welt aus sich hervortreibenden Lebens. In diesem Leben bedeutet die Hingebung an die Sache die Entfaltung unseres wahren Selbst, sie wird zur Treue gegen unser eignes Wesen. — Zugleich eröffnet sich eine neue Art der Innerlichkeit, eine universale Innerlichkeit der geistigen Arbeit, gegenüber der bloßsubjektiven des Individuums; nur jene Innerlichkeit kann eine Tätigkeit erzeugen, die als Volltätigkeit den Gegenstand umspannt, nicht von draußen her an den Dingen herumtastet. Wie sich mit der so eröffneten Zweiheit des menschlichen Lebens die Theorie vom All abfindet, und wie sich mit ihr das Weltproblem verwickelt, darf uns an dieser Stelle nicht kümmern. Bequem ist jener Zwiespalt der ersten Lage nicht, aber Bequemlichkeit ist wohl nicht der Maßstab der Wahrheit. Es wäre eine neue Art des Anthropozentrismus, zum Prüfstein der Wahrheit den Grad der Leichtigkeit zu machen, mit dem sich die Dinge für den Standpunkt des Menschen zurechtlegen. Wenn sie sich in Wahrheit nicht so leicht zusammenfinden, wenn die Wirklichkeit sich reicher und damit auch ver« wickelter zeigt, dürfen wir die Probleme herabmindern, um nur ja dem Schein eines Dualismus, dem Schein einer geringeren Fürsorge für die Einheit des Alls zu entgehen? Was sich heute mit besonderem Nachdruck Monismus nennt, wird so rasch fertig nur, weil es außer der sinnlichen Natur lediglich ein an die Individuen verstreutes und ihrer Erhaltung dienstbares Seelenleben kennt, nicht aber eine Gemeinschaft geistigen Lebens noch eine Entfaltung geistiger Arbeit in der Geschichte. Bei Absehen von so bedeutenden Stücken der Wirklichkeit ist eine Einheit des Ganzen ohne viel Mühe erreichbar. Es fragt sich nur, ob diese Einheit eine Wirklichkeit, nicht eine bloße Einbildung ist

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b. Der Widerspruch im unmittelbaren Dasein.

Das Weltproblem sollte uns an dieser Stelle nicht aufhalten. Aber unser nächster Vorwurf enthält eine Verwicklung, einen Widerspruch, der sich nicht leichtnehmen läßt. Das ist der Widerspruch zwischen dem inneren Gehalt des Neuen und der Art seiner Existenz bei uns Menschen. Das neue Leben sollte bei seinem Anspruch auf Überlegenheit eine selbständige Existenz besitzen, ungestört seine eigne Bahn verfolgen, aus solcher Unabhängigkeit die Kraft zu reiner Ausprägung und voller Durchsetzung schöpfen. Statt dessen zeigt die Erfahrung das geistige Leben des Menschen an Fremdes gebunden, von Fremdem durchkreuzt und entstellt, fremden, ja feindlichen Zwecken unterworfen, in eben das zurücksinkend, was es überwinden wollte. Das erzeugt notwendig einen Zweifel an der Realität jener ganzen Bewegung. Das neue Leben wollte die Sinnlichkeit samt Raum und Zeit überwinden, mit kühnem Schaffen alle Wirklichkeit durchleuchten, verjüngen und umbilden. Eine solche Bewegung beginnt in der Tat, aber sie gerät bald ins Stocken, sie sieht sich auf allen Seiten gehemmt und zurückgeworfen. Das Sinnliche wirkt nicht nur von außen her mit der Macht der Handgreiflichkeit, es umstrickt und bewältigt auch das Innere. Es fließt in das vermeintlich Geistige ein und zieht es in seine Bahn; wir glauben uns oft zu reiner Geistigkeit erhoben und haben doch nur eine gröbere Form des Sinnlichen mit einer feineren vertauscht. Die Geschichte ist voller Beispiele, daß, was früheren Epochen als reingeistig galt, dem geschärfteren Blick späterer sich als ein nur verblaßtes Sinnliches erwies; was zuerst die Sache selbst dünkte, sank später zu einem bloßen Bilde, einer sinnlichen Verkörperung. So z. B. bei den Begriffen von Gott, so auch bei dem der Seele. Wird das nicht immer so weiter gehen, wird nicht immer nur ein Bild durch ein anderes ersetzt werden, werden wir je über eine wachsende Verfeinerung des Sinnlichen hinaus zu einer wahren Unsinnlichkeit gelangen ? Ähnlich ergeht es den Zielen unseres Handelns. In dem hochgreifenden Streben nach übersinnlichen Gütern entdeckt ein genaueres Zusehen und eine skeptischere Beurteilung leicht einen sinnlichen Grundstock, ein Verlangen nach sinnlicher Reizung und sinnlichem Genuß; dies Sinnliche mag um so sicherer die Bewegung beherrschen, E u c k e n , Kampf.

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je unvermerkter es sich unter einem fremden Deckmantel einschleicht. Wie sinnlich, wie von Lust und Genuß beherrscht sind die gewöhnlichen religiösen Vorstellungen von einem jenseitigen Leben! Wie oft verschmelzen sich sublime Geistigkeit und raffinierte Sinnlichkeit miteinander untrennbar! Wie viel aber die unsinnlichen Größen an Realität besitzen mögen, jedenfalls erscheinen sie bei uns in einem sehr späten Stadium der Entwicklung, als ein Ergebnis mühsamer und langwieriger Arbeit, als eine Krönung, nicht eine Grundlegung des Gebäudes. Sie beruhen auf zahllosen Voraussetzungen und Vermittlungen. Werden sie sich davon ablösen und aus eignem Vermögen leben können, werden sie nicht ohne jene Hilfen und Stützen zusammenbrechen, mit ihnen aber der Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit entbehren, ohne die es keine Kraft des Lebens und kein Gelingen des Schaffens gibt? Ohne Zweifel ist bei ihnen das Nein weit deutlicher als das Ja. Das Sinnliche wird abgewiesen, aber der eigne Gehalt des Nichtsinnlichen liegt in tiefem Dunkel; so erscheinen jene Größen nicht als volle Existenzen und leibhafte Gestalten, sondern als bloße Schattenbilder und Gespenster, nach denen wir haschen, ohne sie je zu ergreifen. Behauptet sich trotzdem jene Halbexistenz, so wird sie schwerlich die Sinnlichkeit mit ihrer kompakten Breite unterwerfen. Weit näher liegt die Wendung, daß sie mit allem ihrem Vermögen in den Dienst des anderen gezogen wird, daß die Geistigkeit nur als ein Mittel dient, das naturhafte Leben zu verfeinern und auch zu verbilden. Alsdann würde das, was über die Natur hinausführen wollte, uns nur noch fester an sie ketten, und zwar nicht an die echte und einfache, sondern an eine zurechtgemachte und aufgestutzte Natur. Nicht anders ergeht es der Bewegung zu einem Ganzen des Lebens und zu inneren Zusammenhängen der Dinge. Was sich an Gesamtgrößen bildet, das schwebt leicht wie ein bloßes Nebelgebilde über den Dingen, statt sie zu durchdringen und wesentlich umzuwandeln. Schließlich, so zeigt es die Beobachtung, besteht das Gewebe unseres Daseins aus lauter Einzelgrößen und Einzelvorgängen; nur an diesem Einzelnen findet sich ein Allgemeines als etwas Verbindendes und Zusammenhaltendes, und es erhält sich nur bei unablässiger Zurückbeziehung auf jene Elemente; es davon ablösen und ihm den Schein einer eignen Existenz geben kann nur die abstrahierende Reflexion, und sie kann es nicht, ohne ihm alle An-

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schaulichkeit zu nehmen. — In aller Gemeinschaft der Völker und der Menschheit sind wirkliche und leibhafte Existenzen, Wesen von Fleisch und Blut, lediglich die Individuen; gewiß entwickelt ihr Zusammensein vieles über das Vermögen der isolierten Elemente hinaus, aber bedarf es zu dessen Erklärung der Annahme eines alle umfassenden Geistes? Auch mit der Unterwerfung des Willens unter unegoistische Zwecke ist es ein eignes Ding. Von einer selbstlosen Liebe, einer Aufopferung f ü r das Ganze u. s. w. hören wir so unsäglich viel reden, daß wir schließlich auch daran glauben. Aber zugleich ist die Tatsache unbestreitbar, daß als Menschenkenner von jeher nicht die Optimisten, sondern die Pessimisten gegolten haben, um so mehr, je skeptischer sie waren. So bleibt die Frage offen, ob hinter jener Behauptung eine Wirklichkeit steht, und ob es jenen Größen nicht geht wie den Gestalten des Märchens, die jeder gesehen haben will, um nicht einen bösen Schein auf sich zu laden, und die niemand gesehen hat. Selbst die Grundform des neuen Lebens, die Oberwindung der bloßen Z u s t ä n d i g k e i t , das Aufnehmen der Weite und Wahrheit der Dinge in das eigne Leben, entgeht der Anfechtung und Erschütterung nicht. Wohl drängt es uns über den engbegrenzten Kreis des natürlichen Daseins hinaus in eine unbestimmte Weite. Aber entkleiden wir uns damit wirklich unserer Subjektivität, begleitet sie uns nicht in alle Weite und umklammert uns dabei nicht noch fester als zu Anfang? Müssen wir untereinander nicht noch viel härter zusammentreffen, wenn jeder sich zu einem All erweitern und die ganze Wirklichkeit nach seiner Art gestalten möchte, wenn Welten auf Welten stoßen, die doch alle nur Sonderwelten sind? Denn wenn der Mensch des Kulturlebens zu einer Welt wächst, er tut es zunächst nur in seinen eignen Gedanken, und in diesen Gedanken steckt er selbst, in ihrer Verfechtung bejaht er sich selbst. Ja wenn eine sachliche Wahrheit mit einer aller Vereinzelung und allem Eigensinn der Individuen überlegenen Kraft deutlich hervorbräche, rasch allen Nebel vorgefaßter Meinung zerstreute und alles Unternehmen der Individuen sicher zu einer Gemeinschaft des Schaffens verbände! Aber das Gegenteil liegt deutlich zutage. Wir reden viel von der Sache, aber jeder pflegt unter ihr eben das zu verstehen, was er für sich will und wünscht. Alle Meinungen und Irrungen, alle Interessen und Leidenschaften der Menschen fließen in 2*

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sie ein; nichts hat den Fanatismus, den Parteisinn, die Selbstgerechtigkeit mehr geschürt und gestärkt als die Berufung auf die Forderung der Sache. So wird überall das Neue von dem festgehalten und zu dem zurückgezogen, worüber es hinausstrebte. Eine eigne Wirklichkeit begründen und darin unser Wesen aufnehmen kann es offenbar nicht; vielmehr scheint es eine bloße Zutat und Begleiterscheinung einer wesentlich naturhaften Welt und wird nur zu Unrecht mit einem eigenen Sein bekleidet. Wie aber die Existenz des Neuen unsicher, so ist sein Wirken höchst problematischer Art. Es zerstört die Einfalt der reinen Natur, ohne einen Ersatz dafür zu bieten; es steigert die Kämpfe und gewährt keine Aussicht auf Frieden; es erweckt Wünsche über Wünschen und bringt keine Erfüllung. Mit dem allen macht es das Leben nur unbestimmter und unsteter, begehrlicher und friedloser als zuvor. Soweit daher der Mensch selbst zu entscheiden hat, müßte die Lebensweisheit empfehlen, jener Bewegung mit allen Kräften zu widerstehen, jene angeblich höheren Ziele als irreleitende Phantome möglichst aus unserm Begehren zu reißen.

Wäre das nur ohne weiteres möglich! Aber in aller Unfertigkeit hat das Neue für eine bloße Illusion zu viel Realität. Mag der Widerstand seine Entwicklung noch so sehr hemmen, durchkreuzen, entstellen, irgendwelche Wirklichkeit muß er ihm lassen; hat es zur vollen Selbständigkeit nicht Kraft genug, so hat es ihrer zu viel, um einfach verschwinden zu können. Gewiß bleibt die Bewegung weit hinter ihrem Ziel zurück, aber sie ist begonnen und erhält sich; die Antworten genügen nicht, aber die Fragen wollen nicht verstummen; die Probleme haben uns gepackt und lassen uns nicht wieder los, auch sie sind Tatsachen, auch sie geben unserm Leben einen inneren Stand, der sich nicht beliebig abschütteln läßt. Namentlich hat das Neue im Verneinen, Zersetzen, Zerstören eine gewaltige Macht; trotz seiner Schattenhaftigkeit hat es dasjenige, was sich in seiner Sinnfälligkeit bis dahin so sicher fühlte, bis zum Grunde erschüttert; mit der Naivetät der ersten Lage, dem.kindlichen Glauben an die sinnliche Wirklichkeit, wie der Befriedigung durch ihre Güter, ist es auf immer vorbei; nicht mehr können wir den bloßen Tatbestand gedankenlos hinnehmen, nicht an die Erhaltung

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des natürlichen Daseins unser ganzes Streben setzen, nicht das Weltproblem als etwas Fremdes von uns weisen. Keine Gewalt kann uns in einen Stand zurückzwingen, dem wir innerlich entwachsen sind. Dazu fehlt dem Neuen nicht alle Befestigung und Bewährung in einem größeren Zusammenhange. Sein Werk ist die Geschichte im auszeichnend menschlichen Sinne, die weltgeschichtliche Arbeit Sie gesellt zur Wirklichkeit des unmittelbaren Daseins eine andere Art der Wirklichkeit, sie läßt im Menschen nicht bloß ein natürliches, sondern auch ein geschichtliches Wesen erkennen. Als ein solches trägt er in sich das Wirken der Jahrtausende; es hat ihn in eine bestimmte Verfassung gebracht, die sich nicht einfach abschütteln läßt. Von hier wird aller Leistung ein Standort vorgehalten, zu dem sie sich erheben muß, um voll zu befriedigen. Damit gewinnen jene ideellen Größen bei aller Schattenhaftigkeit eine Realität für den Einzelnen wie für die Zeit. Und zwar auch gegen ihr eignes Meinen und Wollen. Denn was Menschen und Zeiten als Bekenntnis leugnen, ja verfolgen, das üben sie oft in den einzelnen Fällen ohne Bedenken, und was die Überzeugung verwirft und verketzert, das behauptet oft einen weiten Raum im Bereiche des Lebens. Prinzipien und Überzeugungen, welche die Ideen einer sachlichen Wahrheit, innerer Zusammenhänge, einer Pflicht aus einem Ganzen begründeten, verwirft der Hauptzug unserer Zeit mit aller Entschiedenheit. Aber trotzdem üben jene Ideen auch auf ihrem Boden eine gewaltige Macht. Augenscheinlich ist der Begriff der Wirklichkeit nicht so einfach, wie er oft genommen wird. Was einmal als ein bloßes Gedankending (ens rationis) wie wesenlos und nichtig aussieht, das gewinnt in anderer Hinsicht eine unbestreitbare Realität, das durchdringt unsere Arbeit, das scheint unserm Wesen untrennbar verwachsen. So widersteht das neue Leben einer Auflösung in bloßen Schein, es ist mehr als ein trüber Nebel, den menschliche Einbildung und Eitelkeit um die Dinge gehüllt hätten, und den ein kräftiger Entschluß rasch vertreiben könnte. Zugleich aber bleibt auch jenes andere in Geltung, daß jenes Leben keine volle Körperlichkeit, keine volle Selbständigkeit erreicht, daß es wie heimatlos über den Dingen schwebt. Das ergibt eine unerträgliche Lage. Wir können weder vorwärts noch rückwärts, das Alte ist unzulänglich geworden, und das Neue kann nicht geboren werden. Im besonderen geraten das sinnliche Dasein und die geschichtliche Art des Menschen in den härtesten

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Konflikt. Dort die Natur ihr Übergewicht behauptend, hier ein Reich innerer Größen und Werte im Aufsteigen. Solche Entzweiung versetzt unsere geistige Arbeit in die unsicherste Lage; die Art; wie sie bei uns aufkommt und wirkt, als Anhang und Begleiterscheinung eines anderen Seins, widerstreitet ihrer eignen Natur: eine unselbständige Seele soll eine selbständige Welt erzeugen und tragen! Das ist ein Problem, das sich nicht wie Verwicklungen an der Grenze unseres Daseins bei Seite schieben oder der Zukunft zuweisen läßt. So gewiß wir bei der Frage unseres eignen Glückes nicht bloße Zuschauer sind, so gewiß müssen wir eine Entscheidung treffen, so notwendig jenen Zwiespalt überwinden. Und zwar müssen wir es jetzt, nicht erst später. Die bloße Betrachtung kann die Entscheidung hinausschieben, nicht aber kann es die Tat, da sich ihr die ganze Unendlichkeit in ein Jetzt zusammendrängt und Vergangenheit wie Zukunft der Gegenwart dienen müssen. Nun ist darüber kein Zweifel, daß das unmittelbare Dasein ganz jener Spaltung unterliegt. So ist entweder alle Einheit des Lebens und alles Wollen des ganzen Menschen preiszugeben, damit aber Glück und Vernunft, oder es sind die Schranken jenes Daseins irgendwie zu durchbrechen. Ein drittes ist ausgeschlossen, einer Entscheidung nicht zu entgehen. c. Die Forderung einer selbständigen Oeisteswelt.

Das unmittelbare Dasein verlief in einen unerträglichen Widerspruch; so gewiß der unausrottbare Trieb nach einem Charakter des Lebens und nach geistiger Selbsterhaltung über ihn hinausdrängt, so gewiß muß er auch über jenes Dasein hinausdrängen. Aber, sehen wir, was das bedeuten kann. Ein zweites, abgeschlossenes Dasein, eine andere, neben uns befindliche Welt, diese bequeme Zuflucht früherer Zeiten, ist uns Neueren viel zu fremd und ungewiß geworden, um uns einen festen Halt zu gewähren. So kann jenes Weiterstreben zunächst nur auf innere Wandlungen gehen. Die Richtung aber, in der wir solche zu suchen haben, ist durch die bisherige Erörterung deutlich genug bezeichnet. Die Verwicklung entsprang vornehmlich aus dem Widerspruch des Gehalts der neuen Welt und ihrer Existenzform bei uns Menschen: jene Welt befindet sich hier innerhalb eines fremdartigen Daseins, sie ist gebunden an eben das, was sie überwinden wollte.

Die Forderung einer selbständigen Geisteswelt

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Eine Befreiung von diesem Widerspruche bietet nur ein einziger Weg: jene Entwicklung geistigen Lebens darf nicht als ein bloßes Erzeugnis unserer Lage, nicht als eine Privatsache der Menschheit gelten, sondern als Eröffnung, Erweisung, Betätigung einer tiefer begründeten und bei sich selbst befindlichen Wirklichkeit; sie kann nicht aus den bloßmenschlichen Kräften und Bedürfnissen, sondern nur aus der inneren Bewegung des Alls hervorgegangen sein. Was not tut, ist daher eine Emanzipation des Geistes vom Menschen, d. h. eine Befreiung von dem, was in jener Entfaltung bloßmenschlich und kleinmenschlich ist; zu dieser Befreiung aber gehört, daß sich das Geistige über den nächsten Befund hinaushebt und bei sich selbst zu einem Ganzen verbindet. Nur als selbständige und zusammengehörige Welt, nicht in der Zerstücklung und Abhängigkeit des menschlichen Befundes, kann sich das Geistige halten; nur bei solcher Ablösung kann es die ihm eignen Kräfte und Gesetze in voller Reinheit entfalten, die bei uns die Hemmung und Trübung nicht zu überwinden vermögen. Auch kann nur mit diesem Selbständigwerden das Geistesleben als Selbstzweck unser Handeln bewegen und ihm eine innere Unabhängigkeit geben, während sonst der Erfolg bei den Menschen die letzte Instanz bleibt und zugleich alles Äußerliche, Scheinhafte, Unwahre, das ihm anhaftet Nur bei solcher Emanzipation hängt das Bestehen geistigen Lebens und die Geltung geistiger Werte nicht mehr an dem Grad der Verwirklichung unter uns Menschen. Ein solche Befreiung des Geisteslebens von der Kleinheit des Menschen und dem Zufall seiner Lage hat schon P l a t o mit seiner Ideenlehre vollzogen. Mit der Siegeskraft voller Jugendfrische ist hier der Gedanke durchgebrochen, daß im Menschen eine geistige Welt aufgeht, die nicht aus dem bloßen Menschen stammt, daß ein an sich Wahres, Gutes, Schönes besteht, unabhängig davon, wie wir uns zu ihm stellen und wie wir zu ihm gelangen; nicht der Mensch, sondern der Geist wird hier zum Maße der Dinge. Wohl ist die besondere Gestalt der platonischen Lehre durch die Arbeiten, Erfahrungen und Erschütterungen der Jahrtausende hinfällig geworden, namentlich können wir jene Welt nicht mehr als eine fertig um uns ausgebreitete und durch einen unmittelbaren Aufschwung erreichbare fassen. Aber der Grundgedanke ist die stillschweigende Voraussetzung alles geistigen Schaffens und das offene Bekenntnis alles Idealismus geworden und wird es bleiben für alle Zeiten. Jede

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Abweichung von ihm ist ein Hinabgleiten zur Sophislik mit ihrem Verflüchtigen der Wahrheit, ihren kaleidoskopisch wechselnden Standpunkten und Gesichtspunkten, ihrer kecken Erhebung des bloßen und einzelnen Menschen zum Maß aller Dinge. Denn nur das Geistesleben macht aus dem Menschen mehr als ein bloßes Einzelwesen. Die Sophistik bleibt aber auch dann Sophistik, wenn an den Platz der Individuen ihre Durchschnitte, die Massen, treten, wenn das «Zeitbewußtsein", die „öffentliche Meinung", das «Milieu" sich zum Richter aufwirft, oder wie immer die Schlagwörter lauten, mit denen das Bloßmenschliche seine Dürftigkeit versteckt und sich bei sich selbst in die Höhe redet. Zwischen der Anerkennung einer an sich gültigen Wahrheit als eines festen Poles und dem ziellosen Hin- und Hertreiben auf den Wogen menschlicher Lagen und Launen, zwischen Wahrheitsforschung und Sophistik gibt es keinerlei Mittelding. Jedoch leistet uns jener notwendige Grundgedanke recht wenig, so lange er in jenseitiger Hoheit über uns schwebt, nicht mit umwandelnder und erneuernder Kraft unser Dasein ergreift. Wie aber ein solches Eingehen erfolgen kann, das beherrscht als ein Hauptproblem alle weitere Untersuchung. Zuvor aber sei in kurzem der Wandlung des Weltbildes gedacht, die mit der Behauptung einer selbständigen Geistigkeit eintritt. Ein Überspringen dieser Frage würde im Hintergrunde einen gefährlichen Zweifel belassen, der jeden Augenblick störend hervorbrechen könnte. Für den ersten Anblick mag jene Behauptung die Einheit des Weltalls für immer zu zerreißen scheinen und damit alle Neigung der Wissenschaft gegen sich haben. Aber einen Schritt weiter, und die Sache gewinnt ein anderes Ansehen. Denn durch die Anerkennung einer selbständigen Geisteswelt wird das Verlangen nach Einheit nicht unterdrückt, sondern nur in eine eigentümliche Richtung gelenkt; es versperren sich gewisse, nicht aber alle Wege. Unvereinbar damit sind alle Systeme, welche eine Einheit des Alls auf Kosten des Geistes suchen, indem sie ihn in roherer Weise zu einem Produkt, in feinerer zu einer Begleiterscheinung oder einer Parallele der materiellen Natur herabdrücken; wir müssen demgegenüber auf einer solchen Einheit bestehen, die das Charakteristische beider Reiche zu gebührender Geltung bringt Einen Weg, in der Einheit die Verschiedenheit festzuhalten, eröffnet aber die Idee, daß Natur und Geist die Hauptstufen einer

Die F o r d e r u n g einer s e l b s t ä n d i g e n Geisteswelt

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Bewegung des Alls bilden, daß Ein begründendes und umfassendes Sein in ihnen und durch sie seine eigne Verwirklichung findet. In solchem Zusammenhange scheint erst mit der Wendung zum Geist das All ein Beisichselbstsein zu erreichen, sich zu einem inneren Zusammenhang und einem deutlichen Sinn aufzuringen. Der Naturprozeß mit seinem Gewebe von lauter Kleinkräften zeigt die Wirklichkeit vereinzelt, zersplittert, zerstückelt, in einem Stande gegenseitiger Entfremdung der Dinge; er zeigt sie zugleich in einem Stande der Veräußerlichung, sofern hinter aller rastlosen Bewegung ein dunkles Sein der Elemente verbleibt, ohne aus jener etwas anderes zu gewinnen als bloße Lagenveränderungen. Ein solches System bloßer Beziehungen läßt demnach zwischen Sein und Wirken eine unüberwindliche Kluft; es hat, vom Sein aus gewürdigt, weder Zweck noch Sinn, zugleich aber hat es bei aller Sinnfälligkeit und in aller Leidenschaft seines Getriebes einen bloß phänomenalen Charakter. Wohl weist die Natur selbst über den bloßen Mechanismus hinaus. Auf irgendwelchen Zusammenhang deutet die durchgängige Wechselwirkung der Körper, die Gesetzlichkeit alles Geschehens, die unerschöpfliche Formbildung, der aufsteigende Gestaltungstrieb, endlich auch das Seelenleben, das überall der Natur entquillt. Aber den Mechanismus lockern heißt nicht ihn überwinden, eine neue Ordnung ahnen nicht sie begründen. Auch bei jenen Milderungen verbleibt ein peinliches Mißverhältnis, ja ein schroffer Widerspruch zwischen der Kraft und Leidenschaft, welche dies Leben aufruft, und dem Ertrage, den es gewährt. Mit zäher Gier klammern sich die Wesen an dies Dasein und kämpfen darum bis zu gegenseitiger Vernichtung; was aber haben sie an ihm, was gewinnen und genießen sie mit ihm? Wohl heißt es, daß durch Kampf und Tod der Individuen das Ganze weiter gelangt, aber wo ist in einem seelenlosen All ein Ganzes jenseits der Individuen, das solchen Fortgang erlebt, wo findet sich etwas, dem alle jene endlose Mühe zur Freude und Förderung gereicht? Dazu hat jeder Fortschritt im Kreislauf der Natur seine Grenze, die elementaren Kräfte brechen immer wieder hervor und verrichten ihr Zerstörungswerk, schließlich führt der Aufbau und Zerfall der Welten immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Entweder ist dieser Kreislauf nicht das Ganze, und es hat die Natur eine größere Tiefe des Seins in sich und eine Bewegung zum Geist vor sich, oder der Weltprozeß verläuft in Leere und Unvernunft, und ein Wesen wie der Mensch, das nun einmal denkt

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Der Kampf um die S e l b s t ä n d i g k e i t des Geisteslebens

und eine Innerlichkeit nicht aufgeben kann, ist ein unerklärlicher Fehlgriff der Natur; aus der Krone der Schöpfung wird ein wunderliches Zwitterding, das einer Vereinsamung und inneren Vernichtung nicht zu entgehen vermag. Einen solchen Ausgang verhütet lediglich und allein die Anerkennung einer selbständigen Geistigkeit. Mit ihr erfolgt ein Zusichselbstkommen des Seins, ein Vordringen des Lebensprozesses in den Kern der Dinge; es läßt sich von solcher Wendung die Entwicklung einer neuen, ebenfalls unermeßlich reichen Wirklichkeit erwarten. Hier erst eröffnet sich gegenüber dem phänomenalen ein substantielles Leben, und eine Vernunft des Daseins braucht nicht mehr ein leeres Wort zu verbleiben. Diese Wendung scheitert nicht an der Tatsache, daß in unserem Bereiche die Betätigung der höheren Stufe durchgängig an das Mitwirken der niederen gebunden bleibt Denn wird nur der verführerische, aber schiefe und schließlich den Geist der Natur aufopfernde Gedanke eines Parallelismus beider Reiche ferngehalten, so gestattet die Überzeugung von der wesentlichen Selbständigkeit des Geisteslebens die vollste Anerkennung der empirischen Abhängigkeit aller geistigen Leistung von Naturbedingungen. Doch statt einer weiteren Ausführung dessen seien lieber -die Konsequenzen jener Fassung des Geistes für das Lebensproblem schon hier in Kürze angedeutet. Das Geistesleben erscheint von hier aus nicht als eine bloße Zierde und Zutat zur Wirklichkeit, sondern als die Erschließung ihrer eignen Substanz; als höhere Stufe hat es seinen eigentümlichen Charakter, aber es beschränkt sich nicht auf einen besonderen Kreis, sondern es macht Anspruch auf das All, es kann sich als wahr nicht behaupten, ohne als universal zu gelten. Demnach hat auch das Streben zur Vergeistigung des Daseins nicht den Sinn, nur einer vorhandenen Wirklichkeit diese oder jene Eigenschaft hinzuzufügen oder sie nach dieser oder jener Richtung auszubauen, sondern nichts Geringeres steht hier in Frage als ein wahrhaftiges Leben selbst; jenes Streben nach einem geistigen Sein ist ein Kampf um ein echtes, substantielles Sein überhaupt, ein Kampf um die Tiefe des eignen Wesens, um ein gehaltvolles, lebenswürdiges Leben. Erst als solches Verlangen zum Wesen kann jenes Streben eine Macht und einen Affekt erreichen, die den Triebkräften des physischen Daseins gewachsen, ja überlegen sind. Zugleich verwandelt sich unser ganzes Dasein in Ein großes Problem; so wie es vorliegt, ist es

Die H a u p t t h e s e ungeklärt und unbefestigt;

27

in schwankender Stellung zwischen den

Weltstufen bildet es eine trübe Mischung von W a h r h e i t und Schein, ein Durcheinander von Höherem haltlosen Stand

überwinden,

und Niederem.

Kann

es

diesen

wird die Geisteswelt auch in uns als

eine lebendige Kraft zur Scheidung, Erhöhung, Erneuerung des Daseins h e r v o r b r e c h e n ?

2. Der neue LebensprozeB. a. Die Hauptthese. Aus den Verwicklungen der ersten Lage fand sich kein anderer Ausweg als die W e n d u n g z:u einer selbständigen Qeisteswelt. diese W e n d u n g ,

das erhellte zugleich,

m u ß so

lange

bleiben, als nicht j e n e W e l t auch für uns zur Eröffnung nicht auch in unserem Kreise ein neues Leben erweckt. nun, was das heißen und wie das geschehen

Aber

unfruchtbar kommt,

Sehen wir

kann.

Soll j e n e Selbständigkeit der Geisteswelt auch für uns eine neue Epoche eröffnen, so darf das Geistesleben bei uns nicht ein bloßes Stück der vorgefundenen bunden

und

Lage bleiben, an ihre Bedingungen

in ihre Gegensätze verstrickt,

sondern

es m u ß

gesich

von dieser Lage ablösen und ihr g e g e n ü b e r eine ursprüngliche B e wegung aufbringen;

er wird seine Aufgabe

nicht in der

Leistung

für jene, sondern in seiner eignen Verwirklichung sehen, nicht aus jener, sondern aus sich selbst seine Kraft schöpfen,

nicht in jenem

verworrenen G e m e n g e , sondern in sich selbst seinen Ausgangspunkt finden, überhaupt dem Ganzen j e n e r W e l t als ein Ganzes begegnen. Die W e l t selbständigen Geisteslebens kann unsere W e l t nur werden, wenn sie auch bei uns entsteht; das aber heißt, daß ein ursprünglicher .Lebensprozeß in uns aufgehen und eine geistige Wirklichkeit erzeugen muß.

Ein solcher P r o z e ß dürfte nicht D i n g e außer

anerkennen

und sich von

sondern

müßte

er

den Gegenstand

draußen

als Volltätigkeit

in sich

schließen

her an

ihnen

in dem

oben

und

aus

sich

dürfte ferner nicht eine bloße Leistung innerhalb

zu tun

erörterten entwickeln. einer

sich

machen, Sinne Er

gegebenen

Welt, sondern er müßte ein selbsttätiges Leben g e g e n ü b e r aller G e gebenheit sein; er dürfte nicht in einer vorgefundenen dieses und jenes verbessern,

sondern er hätte ein

eigentümlichen G r ö ß e n und Gütern zu schaffen.

Welt

nur

neues Sein

mit

Die H a u p t t h e s e ungeklärt und unbefestigt;

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in schwankender Stellung zwischen den

Weltstufen bildet es eine trübe Mischung von W a h r h e i t und Schein, ein Durcheinander von Höherem haltlosen Stand

überwinden,

und Niederem.

Kann

es

diesen

wird die Geisteswelt auch in uns als

eine lebendige Kraft zur Scheidung, Erhöhung, Erneuerung des Daseins h e r v o r b r e c h e n ?

2. Der neue LebensprozeB. a. Die Hauptthese. Aus den Verwicklungen der ersten Lage fand sich kein anderer Ausweg als die W e n d u n g z:u einer selbständigen Qeisteswelt. diese W e n d u n g ,

das erhellte zugleich,

m u ß so

lange

bleiben, als nicht j e n e W e l t auch für uns zur Eröffnung nicht auch in unserem Kreise ein neues Leben erweckt. nun, was das heißen und wie das geschehen

Aber

unfruchtbar kommt,

Sehen wir

kann.

Soll j e n e Selbständigkeit der Geisteswelt auch für uns eine neue Epoche eröffnen, so darf das Geistesleben bei uns nicht ein bloßes Stück der vorgefundenen bunden

und

Lage bleiben, an ihre Bedingungen

in ihre Gegensätze verstrickt,

sondern

es m u ß

gesich

von dieser Lage ablösen und ihr g e g e n ü b e r eine ursprüngliche B e wegung aufbringen;

er wird seine Aufgabe

nicht in der

Leistung

für jene, sondern in seiner eignen Verwirklichung sehen, nicht aus jener, sondern aus sich selbst seine Kraft schöpfen,

nicht in jenem

verworrenen G e m e n g e , sondern in sich selbst seinen Ausgangspunkt finden, überhaupt dem Ganzen j e n e r W e l t als ein Ganzes begegnen. Die W e l t selbständigen Geisteslebens kann unsere W e l t nur werden, wenn sie auch bei uns entsteht; das aber heißt, daß ein ursprünglicher .Lebensprozeß in uns aufgehen und eine geistige Wirklichkeit erzeugen muß.

Ein solcher P r o z e ß dürfte nicht D i n g e außer

anerkennen

und sich von

sondern

müßte

er

den Gegenstand

draußen

als Volltätigkeit

in sich

schließen

her an

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in dem

oben

und

aus

sich

dürfte ferner nicht eine bloße Leistung innerhalb

zu tun

erörterten entwickeln. einer

sich

machen, Sinne Er

gegebenen

Welt, sondern er müßte ein selbsttätiges Leben g e g e n ü b e r aller G e gebenheit sein; er dürfte nicht in einer vorgefundenen dieses und jenes verbessern,

sondern er hätte ein

eigentümlichen G r ö ß e n und Gütern zu schaffen.

Welt

nur

neues Sein

mit

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Das alles verlangt einen Bruch mit dem, was zunächst uns umfängt, ein gänzliches Neueinsetzen, ein ursprüngliches Beginnen. So allein kann das Geistesleben sich der Vermengung entwinden und zu einer reinen Gestalt erheben, führen und bewegen statt mit dem anderen dahinzutreiben, ein eignes Reich ausbauen, statt in einem anderen nur Duldung zu suchen. Damit entsteht eine zwiefache Art des Lebens, da die hergebrachte nicht einfach verschwindet; es eröffnet sich ein fundamentaler Gegensatz von Wirklichkeiten. Hier das Gegebene voran und alle Bewegung ihm anhangend, dort ein Tun das Ursprüngliche und alles Sein sein Erzeugnis; hier ein Fortspinnen eines überkommenen Fadens, dort ein ursprüngliches Einsetzen und Neubeginnen; dort Geistiges und Sinnliches unter starkem Übergewicht des Sinnlichen ineinander geschoben, hier ein Aufsteigen einer reingeistigen Wirklichkeit; dort der Durchschnitt der menschlichen Art und Lage maßgebend, hier das Geistige über jene Stufe hinaufgehoben und als Maß und Norm dem Menschen gegenübergestellt; dort überall einengende Schranken einer natürlichen Besonderheit, hier ein Leben und Schaffen aus der Unendlichkeit; mit Einem Wort dort eine gebundene, hier eine freie Lebensführung. Damit eröffnet sich die Aussicht auf unermeßliche Bewegungen und Spannungen, auf einen unser ganzes Dasein durchdringenden Kampf. Denn friedlich vertragen können sich die beiden Lebensformen unmöglich, jede Verwirklichung der einen ist ein Protest gegen die andere; so müssen sie einander mit aller Kraft zu unterwerfen oder aufzulösen trachten. Diese Gegensätzlichkeit verbietet es auch, den Beweis für die Möglichkeit und die Notwendigkeit des Neuen vom Alten her zu führen. Jenes müßte sich selbst erniedrigen, ja preisgeben, wollte es sein Recht durch die Leistung für das andre erhärten. Eine so wesentliche Erweiterung der Wirklichkeit ist überhaupt keines Erweises von außen her fähig, sie muß sich an erster Stelle durch die Fruchtbarkeit und den Zusammenhang ihrer eignen Entwicklung erweisen, dann erst kann sie sich am anderen durch ein Sichten und Steigern bezeigen. Wie der Gegensatz unmittelbar an den Menschen kommt, wird er ihn zu einer persönlichen Entscheidung aufrufen, ihn die Frage zu beantworten zwingen, ob er ganz in die Welt der Gegebenheit aufzugehen vermag, oder ob ihn eine unwiderstehliche Notwendigkeit seines innersten Wesens zu einer Welt selbsttätigen Lebens treibt. Das ist das große Entweder - Oder, das F i c h t e

Die Hauptthese

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in seiner »Bestimmung des Menschen" so packend geschildert hat; nicht weit können wir mit dem gewaltigen Stürmer gehen; um so entschiedener möchten wir aussprechen, daß sein Ausgangspunkt, sein Grundgedanke eines ursprünglichen und weltschaffenden Lebensprozesses im Menschen, auch uns als das Fundament nicht nur aller ausgeprägten Philosophie, sondern aller kräftigen Vernunftarbeit gilt. Das Ansichwahre und Ansichgute P i a t o s wird zu einer lebensvollen Wirklichkeit f ü r uns nur in Verbindung mit jener Selbsttätigkeit Fichtes. Aber je umwälzender die Idee eines ursprünglichen Lebensprozesses ist, desto mehr heißt es, sie von Anfang an vor Entstellung zu hüten, sowie der Bedingungen zu gedenken, unter denen allein sie leisten kann, was sie leisten soll. Drei Punkte sind es, um die es sich dabei vornehmlich handelt. 1. Jene Wendung zur Selbsttätigkeit muß den ganzen Umfang unsrer Kräfte umspannen, nicht eine einzelne Seite herausgreifen und sie über die andern hinausheben. Denn nur in Zusammenfassung unseres ganzen Seins erlangt die Bewegung eine volle Ursprünglichkeit wie Realität. Bei einer Beschränkung wird einerseits der bevorzugte Teil seine besondere Natur dem Geistesleben aufdrängen, wird andererseits das Unergriffene Widerstand leisten und das Recht des andern bestreiten. So verwerfen wir im besondern die heute beliebte Scheidung einer theoretischen und einer praktischen Vernunft und das Ausspielen der einen gegen die andere. Wohl stehen auch wir zu der Überzeugung, daß zentrale Erfahrungen des menschlichen Geisteslebens, nicht ontologische Spekulationen, unsere letzten Überzeugungen zu bestimmen haben und in Wahrheit bestimmen; aber das ist etwas anderes als jene Zerlegung und Entzweiung der Vernunft. Nicht um Seiten, sondern um Stufen der Vernunft handelt es sich für uns, um den Gegensatz einer gebundenen, vermengten, fremden Zwecken unterworfenen und einer autonomen, rein ausgeprägten, sich selbst angehörigen Vernunft. Dieser Gegensatz geht wie durch alle Lebensentfaltung so auch sowohl durch das Erkennen als durch das Handeln. Bei diesem auf der einen Seite ein selbsttätiges Wirken unter Schöpfung eigner Größen und Werte, das Aufbauen eines Reiches reiner Innerlichkeit; auf der anderen ein Streben und Leisten innerhalb des gegebenen Daseins, ein Getriebenwerden durch dunkle Kräfte, eine starre Gebundenheit inmitten stürmischen Lebensdranges. Ähnlich bei der

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Theorie dort eine Urerzeugung von Gedanken unter innerer Aneignung und Durchleuchtung des Gegenstandes, die Entfaltung einer selbständigen Gedankenwelt aus der eignen Bewegung des Geistes; hier die Richtung auf ein fremdes, starres, im Grunde unzugängliches Sein, ein bloßes Registrieren und Ordnen gegebener Daten. — So die Aufgabe einer Befreiung des ganzen Wesens, ein Gegensatz für den ganzen Umfang unseres Daseins. Vor allen Unterschieden innerhalb der Vernunft muß der Gegensatz einer reinen Vernunft und einer Halbvernunft seinen Vorrang wahren. 2. Dem Menschen einen ursprünglichen Lebensprozeß zuerkennen, das heißt nicht die ganze Vernunft auf den Menschen stellen und zur Sache des bloßen Menschen machen. Ohne eine sich selbst angehörige, alles menschliche Unternehmen begründende und umfangende Geisteswelt kommt unser Tun nicht über seine natürliche Enge hinaus und in ein schaffendes Weltleben hinein; eine Welt, die es aus sich allein hervorspänne, würde leicht ein bloß imaginärer Besitz, ein Gewebe leerer Illusionen. Wohl kann das Subjekt alle Voraussetzungen und Zusammenhänge abschütteln, aber es gelangt damit noch nicht zu einem selbständigen Schaffen und einem neuen Lebensgehalt. Eine neue Welt gegenüber dem bloßen Dasein kann Bestand und Wahrheit nur gewinnen, wenn unser Streben in einer universalen Vernunft wurzelt und von ihr getrieben wird. Es ist einmal unser menschliches Schaffen kein absolutes Schaffen, sondern nur ein Mitschaffen, ein Eintreten in ein ursprüngliches, wirklichkeitbildendes Leben; für uns gibt es keine Freiheit ohne eine Bindung und keine Stärke ohne eine Beugung des Menschlichen unter ein Obermenschliches. 3. Ist derart unser Vermögen von innen her gebunden, so hat auch seine Leistung ihre festen Bedingungen und Schranken. Ein selbsttätiges Leben als Ursprung und Kern aller Geistigkeit setzen, das heißt nicht behaupten, daß dieses Leben bei uns lediglich aus sich selbst allen Inhalt hervortreibe und unmittelbar unsere ganze Wirklichkeit schaffe. In unserm menschlichen Kreise kann, wie später näher erörtert wird, jenes neue Leben nur bei Zurückbeziehung auf die Welt der Erfahrung und bei Ergreifung der in ihr enthaltenen Tatsächlichkeit zu einer konkreten Gestalt, zu einem Stande voller Durchbildung kommen. Das bedeutet nicht, daß es von dort einen Stoff fertig aufnehmen und seine Welt aus inneren und äußeren Bestandteilen zusammensetzen könnte. Denn wenn die Selbsttätigkeit zu

D a s Z e u g n i s der w e l t g e s c h i c h t l i c h e n A r b e i t

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dem zurückkehrt, von dem sie sich losreißen mußte, so sieht sie es nunmehr in neuem Lichte, umfaßt es mit überlegener Kraft und läßt sich von ihm nichts zuführen, ohne es in der Aneignung umzugestalten und zu erhöhen. Das ursprüngliche Leben bleibt daher auch in der Anerkennung des anderen immer das Führende, Bewegende, Durchleuchtende; es entwickelt den Raum, wohin das andere zu versetzen ist, wenn es im Geistesleben irgend etwas bedeuten soll. Was immer die Erfahrung an eignem und neuem enthalten mag, sie eröffnet es nur der Vernunftarbeit und nach dem Maße der ihr entgegengebrachten Selbsttätigkeit; diese hat den Entwurf vorzuzeichnen, worin jene einzutragen hat, diese stellt die Fragen, die jene beantworten soll. So bedarf das Erkennen der Erfahrung, aber es kann aus ihr nicht schöpfen, ohne die äußere Welt in Begriffe und Gesetze, d. h. in geistige Größen zu verwandeln. So kann auch das praktische und das künstlerische Handeln sich nicht vollenden und seine eigne Durchbildung finden, ohne zur sichtbaren Leistung fortzuschreiten und sich am Äußeren zu gestalten. Es behauptet demnach auch in der Wendung der Arbeit nach außen das geistige Schaffen seine Überlegenheit; die Notwendigkeit des Zusammenwirkens besagt keineswegs eine Gleichstellung, vielmehr bleibt die Entscheidung beim inneren Werk, und jenseits der Spaltung hält eine Hauptbewegung das Leben zusammen. Die nähere Beschaffenheit, welche der Geistesprozeß im Ringen mit der Gegebenheit annimmt, ist schließlich ein Fortschreiten bei sich selbst, ein Entwickeln seines eignen Wesens; alle echte Erfahrung wird damit zur Selbsterfahrung. — Das ergibt einen anderen Weg als den der konstruktiven Systeme mit ihrer Verachtung der Erfahrung, als den des Empirismus mit seinem Hervorzaubern der Vernunft aus der Unvernunft oder doch Halbvernunft, aber auch als den des Dualismus mit seiner Spaltung und nachträglichen Zusammensetzung des Lebens.

b. Das Zeugnis der weltgeschichtlichen Arbeit.

So viel zur Abgrenzung und Verwahrung. Alles zusammen gibt aber der Hauptidee noch nicht die Anschaulichkeit und die Oberzeugungskraft, die wir ihr vor der näheren Ausführung mit ihren Verwicklungen wünschen möchten. Um in dieser Richtung wenigstens etwas zu tun, sei in Kürze das Zeugnis der weltgeschichtlichen

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Arbeit angerufen. Denn es hat jenes neue Leben seine Selbständigkeit in gewaltigen Wirkungen auf dem Boden der Geschichte bewährt, und es führt hier einen unerbittlichen Kampf gegen die Welt des Durchschnitts und der Gebundenheit. Ja, der Zusammenstoß beider Welten bildet die Seele der geschichtlichen Bewegung. Besonders einleuchtend ist das bei den schaffenden Persönlichkeiten des Denkens wie des Handelns, der Religion wie der Kunst; sowohl durch , die Schärfe des Gegensatzes als durch die Fülle und Macht des Neuen sind sie alle Beweise des Geistes und der Kraft für die Wirklichkeit einer neuen Welt. Denn es haben alle jene Männer ihr Lebenswerk nicht aufgenommen aus jenem trüben Durcheinander des Alltagslebens, es nicht geführt mit seinen Mitteln und für seine Zwecke, sondern aus einer anderen Welt, die bei aller Unsichtbarkeit ihrem Wirken näher, vertrauter, gewisser war als alle Handfestigkeit des sinnlichen Daseins. Sie konnten aber die neue Welt nicht entwickeln, die begründenden Intuitionen nicht in Arbeit und Schaffen verwandeln, ohne jenes andere als eine unerträgliche Hemmung zu empfinden und sich den Platz dagegen im Kampf auf Leben und Tod zu erstreiten. Dabei sahen sie den Fehler des vorgefundenen Standes nicht in einem bloßen Zurückbleiben hinter den Forderungert des neuen Lebens, in irgendwelchen Mängeln und Lücken, sondern darin, daß hier das Geistige mit einem Fremden verquickt und unter ein Fremdes gebeugt war, und daß dies widerspruchsvolle Gemenge als eine selbstherrliche Macht auftrat, ja sich als die höchste Instanz gab. Es war die Anmaßung, die innere Unwahrheit, die Scheinhaftigkeit jenes anderen Lebens, die jene Männer erregte und entflammte; der Eifer um die Wahrheit, die Indignation über die Lüge ist der Grundtrieb alles geistigen Schaffens. In dem Kampf aber gegen das, was dem Menschen sonst die ganze Welt bedeutete, waren jene Männer von vornherein verloren, hätten sie nicht eine feste Stellung jenseits jenes Getriebes gewinnen und aus ihr mit freudiger Sicherheit wirken können. So haben sie in Wahrheit - im Fortgang der Zeit immer bewußter - einen archimedischen Punkt gesucht, um von dort die vorhandene Welt zu bewegen und umzuwandeln. Jenen Punkt aber konnten sie nirgends finden, als in einer Konzentration ihrer eignen Tätigkeit, in einer Vertiefung zu den inneren Notwendigkeiten des Schaffens, an denen für sie — für jeden nach seiner Art - die Möglichkeit einer geistigen Existenz hing, im Ergreifen der Stelle, wo ein ursprüng-

D a s Z e u g n i s der w e l t g e s c h i c h t l i c h e n

Arbeit

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liches Geistesleben bei ihnen durchbrach und sie sowohl über alle zufällige Besonderheit als über alle Unsicherheit der Reflexion in die Gewißheit einer neuen Welt erhob. Von hier aus ergaben sich zwingende Forderungen und felsenfeste Axiome, die dem Wirken eine Hauptrichtung wiesen. So fand sich ein sicherer Übergang von stürmischem Antrieb zu fruchtbarer Arbeit, aus dem Nein sprang ein Ja hervor, im Niederreißen erschien ein Erbauen. Diesem Aufbauen aus ursprünglichem Schaffen und Schauen verdanken wir den Geistesgehalt der Kultur und alle seelische Vertiefung des Daseins. Dieser schroffe Gegensatz und solches Neueinsetzen einer anderen Ordnung der Dinge erstreckt sich in alle Verzweigung der Arbeit. Alle Höhepunkte der philosophischen Bewegung enthalten einen Bruch des Denkens mit der Durchschnittsmeinung. Auch diese Meinung bereitet ein gewisses Weltbild und fügt die Erscheinungen irgend zusammen; sie beruhigt sich nicht bloß bei solcher Leistung, sie behandelt sie als die abschließende und vollgenügende, sie mißt danach alles andere, sie usurpiert damit die Stellung und alle Rechte einer absoluten Wahrheit. Das aber erweckt mit Notwendigkeit den Widerspruch des Denkens, wo immer es zur Selbständigkeit geweckt ward. Es erweist diese Selbständigkeit zunächst in verneinender Richtung durch Aufdeckung der unsicheren Grundlage jenes ersten Weltbildes, durch Herausstellung unerträglicher Widersprüche, durch Auflösung der vermeintlichen Zusammenhänge; es erweist sie weiter bejahend durch ein Entwerfen einer neuen Welt im Zusammenwirken schöpferischer Intuition und logischer Kraft, durch ein energisches Ausführen neugesetzter Anfänge mittels zäher, nur ihrer eignen Konsequenz vertrauender Begriffsarbeit So wird nicht bloß innerhalb des alltäglichen Weltbildes zurechtgerückt, gedeutet, zusammengefaßt, sondern es entsteht eine durchaus neue Welt, gegenüber der jene andere, wenn nicht zu bloßem Scheine, so doch zur Nebensache herabsinkt. Nie sind große Wendungen der Philosophie aus den Meinungen und Bedürfnissen jenes Milieu hervorgegangen, in dem eine matte Zeit ihr ganzes Wesen findet. Vielmehr wird jede Hauptepoche der Philosophie durch die Aufdeckung eines fundamentalen Widerspruches in dem unwissenschaftlichen oder halbwissenschaftlichen Weltbilde eingeleitet, und es wird die eigne Behauptung gegenüber diesem Widerspruch zum springenden Punkte des Schaffens. Die Besonderheit • dieses Widerspruchs und die Art seiner Überwindung zeigt am meisten den eigentümlichen E n c k e n , Kampf.

II. Aufl.

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Charakter der verschiedenen Epochen; jenen Konflikt durch seine Hauptphasen verfolgen, das heißt aus dem Wirrwarr der Lehren und Meinungen eine esoterische Geschichte der Philosophie herausheben. So kann P l a t o die Vermengung von Werden und Sein, von Fließendem und Festem im herkömmlichen Weltbilde nicht mehr ertragen ; indem er beides scheidet und ein neues Verhältnis ergründet, in den neuen Entwurf aber die ganze Wirklichkeit hineinarbeitet, weicht eine Welt der Meinung und des Scheines einer wesenhaften O r d n u n g der Dinge. In anderer Richtung, aber einer Selbständigkeit des Denkens ebenso gewiß, wirkt D e s c a r t e s , indem er das bisherige Durcheinander von Seele und Außenwelt, von bewußtem und ausgedehntem Sein zerstört, wirkt K a n t mit seiner schärferen Scheidung von Subjekt und Objekt, von Form und Stoff, jeder dabei mit gleicher Energie darauf bedacht, für den zerschlagenen Zusammenhang einen neuen durch Oedankenarbeit wiederherzustellen. In dem allen ein schroffer Gegensatz der Philosophie und der Durchschnittsmeinung; was dieser selbstverständlich erscheint, wird jener zum schwersten Problem, und worauf sie als auf einer axiomatischen Forderung bestehen muß, das gilt der anderen leicht als bloße Überspannung und Torheit Was immer die Denker trennen mag, die Selbständigkeit des Denkens ist ihr gemeinsames Bekenntnis, an diesem Punkte halten alle zusammen. Könnte aber das Denken, eine solche Stellung behaupten, könnte es seine Welt als die wahre durchsetzen, wenn nicht das Ganze des Geisteslebens eine neue Wirklichkeit in "sich trüge, aus der die Tätigkeit des besonderen Gebietes zu schöpfen vermöchte? Eine fast noch größere Schroffheit erlangt der Gegensatz freier und gebundener, reiner und vermengter Geistigkeit auf dem Gebiete des Handelns. Das Glück des Durchschnittslebens und die Tugend der gesellschaftlichen Sphäre gelten einem P l a t o , einem A u g u s t i n , einem K a n t nicht nur als hie und da mangelhaft, sondern als von Grund aus verfehlt. Denn was bei solchem Stande an geistiger Regung, an Bedürfnissen und Bestrebungen höherer Art aufkommt, das ist eine bloße Zutat zu einem andersgearteten Leben, auf den äußeren Erfolg gerichtet und von der Meinung der Menschen beherrscht. Nicht eine eigne Befriedigung, ein im eignen Wesen Weitergelangen, sondern nur ein Glücklich- und Tüchtigsein in der Schätzung anderer, ein glücklich und tüchtig Scheinen wird hier das bewegende Ziel. Wenn nun dieser Schein sich selbstgenugsam in seine eignen Kreise

Das Z e u g n i s der w e l t g e s c h i c h t l i c h e n A r b e i t

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einspann, wenn er nicht nur lautere Wahrheit, sondern der Quell aller Wahrheit sein und nichts außer sich dulden wollte, so mußte das jenen von echterem und ursprünglicherem Leben erfüllten Männern als eine ungeheure Verkehrung erscheinen, die im Interesse der Wahrheit und zum Heile der Menschheit nicht entschieden genug bekämpft werden könne. Zu einer heiligen Aufgabe wurde es ihnen, die Scheinhaftigkeit jener Lebensführung aufzudecken und ihre Anmaßung abzuweisen. Jenes Durchschnittsglück mit seiner Selbstgenügsamkeit galt ihnen als ein «schimmerndes Elend", die Tugenden jenes Standes als »glänzende Laster«, das ganze Dasein als eine finstere Höhle, aus der nur ein gewaltsamer Ruck den Menschen befreien und zur lichten Höhe emporheben könne. Diese Angriffe aber schöpften ihre innere Wahrhaftigkeit und ihre gewaltige Wucht samt ihren neuen Grundanschauungen aus der lebendigen Gegenwart einer selbständigen und selbsttätigen Geistigkeit. Ähnliche Spannungen zeigen die anderen Gebiete des Lebens. Die Geschichte der Religion ist erfüllt von einem harten Kampf zwischen einer Beugung des Göttlichen unter die Zwecke des menschlichen Wohlseins, sei es der Individuen, sei es der Massen, und einer Erhöhung des Menschlichen durch das Göttliche, wobei es kein kräftiges Ja ohne ein deutliches Nein gab. Auch was im künstlerischen Schaffen zu echter Größe und schlichter Menschlichkeit durchdringt, das schöpft aus anderen Zusammenhängen und wirkt mit anderen Kräften, als jenes Durchschnittsleben sie kennt. Daß so das menschliche Leben durchgängig einen Gegensatz und eine Spannung in sich trägt, das drängt sich auf den einzelnen Gebieten mit viel zu überwältigender Anschaulichkeit auf, um sich ernstlich bestreiten zu lassen. Aber oft wird verkannt, daß die Erfahrung des einzelnen Gebietes nur ein Stück einer Gesamttatsache ist, und daß die besonderen Gegensätze nur Entwicklungen eines einzigen großen Gegensatzes bedeuten: des Gegensatzes einer selbständigen, ursprünglichen, vollausgeprägten und einer abhängigen, abgeleiteten, vermengten Geistigkeit. Die Schroffheit des Zusammenstoßes aber, wie sie der Spiegel der Geschichte uns vorhält, bekundet die Stärke eines Hinausstrebens über den Durchschnittsstand, die Stärke des Verlangens nach einem neuen Leben. Dieser Gegensatz beschränkt sich nicht auf die Punkte des akuten Zusammenstoßes, er begleitet und durchdringt das Ganze der Bewegung. Die Durchschnittsmeinung pflegt sich die Sache bequem 3*

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zurechtzulegen. Den harten Konflikt und die oft tragischen Wendungen kann sie nicht leugnen, aber sie beschränkt den Gegensatz auf einzelne Stellen und findet Ruhe bei dem Gedanken, daß das Gute und Große später um so mehr anerkannt und für die erlittene Unbill durch den Gewinn der Herrschaft vollauf entschädigt sei. Demgemäß hält jene Meinung das Feindliche mit der einmaligen Zurückweisung für endgültig überwunden; es scheint z. B., als sei die Sophistik durch S o k r a t e s , der Pharisäismus durch J e s u s einfür allemal ausgerottet. In Wahrheit aber gibt jenen Verirrungen die Zeitlage nur das Lokalkolorit, in der Sache kehren sie, kehren Sophistik und Pharisäismus immer wieder, oder vielmehr sie erhalten sich unter wechselnden Namen und Gewandungen durch alle Zeit. Sehr viel weiter müßten wir sein als wir sind, wenn der äußere Erfolg des Guten auch einen inneren Sieg bedeutete. Oft verhält sich die Sache umgekehrt, und der äußere Triumph wird zu einer Gefahr für das Innere. Wenn nämlich das Durchschnittsleben jenes anerkannte und mit Lob und Ehren überhäufte, so hat es das Gefeierte zugleich auf sein eignes Niveau herabgezogen, es verflacht und vermenschlicht; es hat in aller äußeren Unterordnung seine eigne Art auch an dem anderen durchgesetzt, in der Anerkennung selbst es bezwungen und erdrückt. Die Überzeugung von der überlegenen Macht des Guten aufrechthalten kann nur, wer eine andere Daseinssphäre als die des gesellschaftlichen Durchschnitts anerkennt; wenn es überhaupt in unserer Erfahrung einen Sieg des Guten gibt, so kann er nicht in Erfolgen auf jenem Boden bestehen, sondern nur in einem deutlicheren Heraustreten des Geisteslebens aus der Verwicklung, einer reineren Gestaltung und kräftigeren Entfaltung in einem eignen Reich selbsttätigen Schaffens. So vereinigt sich alles zu dem Schluß: kein Sinn und kein Charakter, kein Mark und keine Kraft irgendwelches Geisteslebens ohne eine Erhebung über den Durchschnitt, keine solche Erhebung ohne eine geistige Selbsttätigkeit, keine Selbsttätigkeit am einzelnen Punkte ohne eine Selbsttätigkeit im Ganzen, ohne einen universalen Lebensprozeß, ohne die Eröffnung einer neuen Welt.

c. Der Umriß der neuen Wirklichkeit. Versuchen wir jetzt eine Entwicklung des Grundgedankens, so geschieht es mit dem Bewußtsein, uns einstweilen dabei im allgemeinen

D e r U m r i ß der n e u e n W i r k l i c h k e i t zu

bewegen

und bloße Umrisse z u

entwerfen.

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A b e r das ist eine

Notwendigkeit der Sache, nicht ein Fehler der Behandlung. sich einmal bei jedem komplizierten G a n z e n Umriß nicht

beginnen; fertig

daß

namentlich

mitbringt,

sondern

das

ihn

Geistesleben

nur

Es läßt

nicht anders als v o m

durch

seinen

Kampf

Inhalt

und

Er-

fahrung, durch S c h e i d u n g und Wiederzusammenfassen gewinnt, das ist ein G r u n d g e d a n k e unsrer ganzen Im Geistesleben

erkannten

wir

Untersuchung. eine neue Stufe des A l l s , das

Zusichselbstkommen des Seins, den F o r t g a n g von einer phänomenalen zu

einer

substantiellen

Lebensführung.

Dies N e u e

fällt aber uns

Menschen nicht als eine reife Frucht in den Schoß, sondern es will durch eigne Arbeit und Erfahrung erkämpft sein; eine geistige W i r k lichkeit umfängt uns nicht als eine g e g e b e n e Welt, sondern sie wird nur durch das ursprüngliche Schaffen eines selbsttätigen Lebens erzeugt.

Diese A u f g a b e

Selbsttätigkeit

braucht

der E r z e u g u n g aber

einer Wirklichkeit

aus

der

nur entwickelt zu werden, um in sich

verschiedene Seiten erkennen zu lassen und bestimmte Forderungen hervorzutreiben; Spannung,

daß

sie

hat

im

besonderen

darin eine

durchgehende

einerseits keine Wirklichkeit zustande kommt o h n e

eine S c h e i d u n g des anfänglichen Chaos, ohne ein Ablösen der Arbeit v o n dem dem

vagen Spiel der Kräfte, ohne ein Festwerden g e g e n ü b e r

unstäten Hin- und Herschwanken

andererseits

alles

Neugewonnene

der ersten Lebenslage, d a ß

seinen

geistigen

Charakter

ein-

b ü ß e n müßte, bliebe es nicht von dem Lebensprozeß umspannt, und führte jene A b l ö s u n g und Befestigung zu einer T r e n n u n g und Entfremdung.

Diesen Gegensatz hat der Lebensprozeß zu

entwickeln

und zu ü b e r w i n d e n ; er wird mit d e r Arbeit daran sich selbst eigentümlich gestalten und namentlich in sich abstufen müssen. D a s Erste, was der ursprüngliche Lebensprozeß besitzen m u ß , um eine Wirklichkeit zu erzeugen, ist ein Weltcharakter; weder eine Besonderheit des Trägers darf ihn innerlich begrenzen, noch dürfen ihn

fremde Mächte von außen einengen, wenn in ihm eine

neue

Art des Seins sich erheben soll; ohne ein Weltvermögen im eignen W e s e n gibt es f ü r den Menschen kein Mitbauen einer neuen Welt. Das

besagt

zunächst eine

A b l ö s u n g des selbsttätigen

von der Enge und Gebundenheit des bloßen Individuums.

Lebens Könnten

w i r an keiner Stelle des Daseins uns davon befreien, wäre

unser

Geistesleben bis z u seiner tiefsten W u r z e l an die Beschaffenheit jener Einzelexistenz gebunden und gebannt, so würde alle seine Entfaltung

38

Der Kampf um die Selbständigkeit des Geisteslebens

durch ein fremdes Element getrübt, gebrochen, entstellt, und wie es nie mit reiner Gestalt aus dem trüben Gemenge hervorscheinen könnte, so würde es auch nie die bezwingende Kraft eines Selbstzwecks erlangen und uns damit erfüllen. Auch könnte bei solcher Gebundenheit an den Einzelpunkt die Gemeinschaft der Arbeit nie über ein leidliches Zusammentreffen an den Ergebnissen hinaus zu einem Zusammenwirken an der Substanz, zu einer Verbindung der Gemüter gelangen. Kein kräftiges und glückliches Wirken zum Ganzen ohne ein ursprüngliches Wirken aus dem Ganzen! Aber die Besonderheit des Einzelnen ist nicht der schlimmste Gegner der geistigen Arbeit, weit gefährlicher ist die Besonderheit des Menschen als Menschen. Da die Bewegung zum Geistesleben nicht sowohl darauf geht, dem menschlichen Dasein diesen oder jenen Nutzen zu bringen, sondern den Menschen von Grund aus umzubilden und die gesamte Wirklichkeit zu erhöhen, so muß jedes Einfließen einer menschlichen Sonderart sie nicht nur verengen, sondern entstellen und mißleiten. Nun bleibt es eine Tatsache und wird uns später genug zu tun geben, daß eine Besonderheit menschlicher Art alles geistige Schaffen begleitet und umspinnt. Aber es macht einen großen Unterschied, ob solche Bedingtheit die Substanz des Geisteslebens trifft oder nur ihre Entfaltung für unsere Lage, ob das Unternehmen eines Weltlebens an der Sandbank menschlicher Kleinheit von vornherein scheitert, oder ob es sich in seinem Verlauf mit Widerständen und Gefahren herumschlagen muß. Wäre dem Menschen jede Scheidung zwischen einer universaleren, kosmischen und einer partikularen, bloßmenschlichen Art versagt und entfiele damit alle Kritik seiner selbst, aller Kampf gegen vorgefundene Schranken, so blieben wir immer im Netz des Kleinmenschlichen gefangen und müßten, wie der Wahrheit der Dinge, so auch einer Tiefe des eignen Wesens entbehren. Die Universalität muß sich aber von der Wurzel des geistigen Lebens auch in seine Wirkung erstrecken, der Befreiung von inneren Schranken wird eine Überwindung aller äußeren Grenzen entsprechen. Die Selbsttätigkeit kann den Anspruch auf volle Wahrheit nicht durchsetzen, wenn sie bloß einen Ausschnitt des Seins ergreift und das. Übrige unberührt läßt; sie darf ihre Welt nicht als ein besonderes Reich neben anderen geben, sondern sie muß alle Wirklichkeit und alle Möglichkeit umspannen, sie muß alles von sich aus beleben und nach ihren Gesetzen gestalten, überzeugt, es damit der eignen

Der Umriß der neuen W i r k l i c h k e i t

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Wahrheit zuzuführen. Eine Eingrenzung von außen würde bald in eine innere Erschütterung umschlagen, denn wie könnte sich als die Seele des Ganzen behaupten, was anderes neben sich dulden müßte? Dabei kann nicht die bloße Ausdehnung ins Weite, die vage Unbegrenztheit, dem Weltleben geistigen Schaffens genügen. Bei aller Weite muß dies Schaffen einen inneren Zusammenhang wahren, alle Mannigfaltigkeit einer Einheit unterordnen und mit einem lebendigen Ganzen umspannen. Damit erhebt sich gegenüber dem vorwiegend negativen Begriff der Endlosigkeit ein positiver der Unendlichkeit: dort ein unbeschränktes Fortgehen von einem Punkt einer gegebenen Welt zu anderen, hier ein allumfassendes Wirken des Ganzen. Spekulative Denker ersten Ranges, Männer wie D e s c a r t e s , S p i n o z a , H e g e l , waren eifrig befliessen, jene Begriffe auseinanderzuhalten; nur in der positiven Unendlichkeit fanden sie die der Ursprünglichkeit des Geistes und der Selbständigkeit seines Schaffens entsprechende Lebensform. Auch die geschichtliche Erfahrung' bestätigt diesen Zusammenhang; dieselben Neuplatoniker, welche zu einem reinen Beisichselbstsein des Geistes durchdrangen, haben die Idee der positiven Unendlichkeit aufgebracht; wo immer jene Grundanschauung Eingang fand, da ist diese Idee in Ehren gehalten. Solche Zusammenhänge stellen in ein helleres Licht, was sich im ersten Abschnitt von einem Wirken überlegener Gesamtgrößen und einer Herrschaft des Ganzen über das Einzelne zu erkennen gab. Diese Begriffe blieben im nächsten Dasein ungeklärt und unfundiert, ein Ganzes vor den Teilen ist in dem vorgefundenen Nebeneinander der Dinge eine bare Unmöglichkeit. Der Widerspruch verschwindet erst, wenn die Tätigkeit als Selbsttätigkeit zur Quelle des Seins wird; dann kann nicht nur, dann muß das Ganze dem Einzelnen vorangehen. Zugleich erhellt, daß es eine innere Einheit nur innerhalb solcher Tätigkeit und für sie gibt. Was wir draußen davon vorzufinden glauben, das stammt aus jenem Lebensprozeß und weist auf ihn zurück. So ist z. B. der wichtige Begriff eines organischen Zusammenhanges und einer organischen Einheit nicht draußen entdeckt, sondern er ist vom Geistesleben selbst aufgebracht, um sonst rätselhafte Verwebungen irgend faßbar zu machen, er ist nicht von der Natur mitgeteilt, sondern in die Natur hineingelegt. Solche Begründung des Triebes zum Ganzen muß unmittelbar zu seiner Kräftigung wirken und ein mutiges Vordringen über die empirische Lage empfehlen. Wohl geht durch das Leben ein Streben

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D e r K a m p f um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

nach inneren Zusammenhängen und ein Wirken aus inneren Zusammenhängen; keine geistige Arbeit, keine Verbindung der Menschen ohne ein Überwinden der Vereinzelung. Aber die Zusammenhänge sind mit vieler Zufälligkeit behaftet und wirken nicht aus der Kraft einer vollen Ursprünglichkeit; hier schiebt sich mannigfaches kreuz und quer durcheinander, dort verbleiben die weitesten Lücken. Erst mit der Wendung zur Selbsttätigkeit siegt der Zug nach einem allumfassenden, alle Mannigfaltigkeit einschließenden, alle Verschiedenheit ordnenden und abstufenden Zusammenhange; nun kann die Kraft des Ganzen an jeder Stelle gegenwärtig sein und der Ertrag der besonderen Leistung in das Ganze zurückfließen. Eine solche Unendlichkeit des Lebens läßt sich nicht von draußen her mitteilen; nur wer sie schon in sich trägt, kann sie erringen. Nur wenn das Weltleben unmittelbar zur Entfaltung eines Selbst, zum Erleben eines Selbst wird, kann es uns von der Enge einer Sonderexistenz befreien, ohne uns einer leeren und matten Allgemeinheit preiszugeben; nur so kann uns die sonst fremde und kalte Unendlichkeit eine eigne Angelegenheit und eine innere Notwendigkeit werden. Das neue Selbst aber, das sich in solchen Wandlungen entfaltet, steht in vollem Gegensatz zu dem naturhaften Selbst mit seiner Behauptung des besonderen Daseins. Hier eine starre Einengung, dort eine unendliche Weite; hier ein alles ausschließendes, dort ein alles einschließendes Selbst; hier die dunkle Tatsächlichkeit eines Naturtriebes, der uns bindet ohne unseren Willen, dort das Leben auf die eigne Tat gestellt, das Wesen durch Freiheit geweckt und erhöht.

Ein solches Freiwerden von der Enge und Gebundenheit einer Sondernatur, wie sie alles gegebene Dasein umklammert, bildet den ersten Schritt zur Entwicklung einer geistigen Wirklichkeit. Aber auch nur den ersten Schritt. Alles Wogen und Wallen unbegrenzter Lebensfluten sichert der Arbeit noch keinen festen Boden, bloßer Sturm und Drang findet nicht schon den Weg zur Gestaltung, die Bewegung schwebt in jener Unbestimmtheit über den Dingen wie der Geist vor der Schöpfung über den Wassern. Aber schon das Frühere enthielt Ansätze zu weiterem Fortgang. Von einer bloßen Kraftentfaltung, die sich den Dingen gegenüberstellt und von draußen her nicht sowohl mit ihnen als an ihnen

Der U m r i ß der n e u e n W i r k l i c h k e i t

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beschäftigt, schied sich die Volltätigkeit mit ihrem Ergreifen des Gegenstandes und ihrem Zusammenhalten des Daseins. Eine neue Art des Lebens ward damit eingeleitet. Die Welttätigkeit des Geisteslebens ist sicherlich nur als solche Volltätigkeit zu verstehen. Aber mit dem Problem einer Weltbildung kann die Volltätigkeit sich nicht berühren, ohne selbst über den Anfangsstand und den allgemeinsten Begriff hinausgetrieben zu werden. Denn dieser Begriff bezeichnet die Aufgabe mehr als er sie löst. Die Volltätigkeit hält beide Seiten des Lebens zusammen und bringt Kraft und Vorwurf in Wechselwirkung. Aber sie tut das zunächst nur der Gesamtrichtung nach: sie verweist beide Seiten aufeinander, ohne zu zeigen, wie sie sich finden und wie sie miteinander fortschreiten; sie behauptet eine Zusammengehörigkeit, ohne sie zu entwickeln und durch die Entwicklung jedwede Seite näher zu bestimmen. Mit der Wendung zu einem Weltleben und der Forderung einer selbständigen Wirklichkeit wird jener Stand der Halbverbindung und Halbbestimmung durchaus ungenügend, die Unfertigkeit steigert sich zu einem unerträglichen Mangel; wir erkennen in der Volltätigkeit selbst eine noch ungelöste Aufgabe, wir sehen das Leben aus sich selbst ein Ziel entwickeln und eine Forderung stellen. Dies Ziel einer vollen Einigung und gänzlichen Determination wird nur erreichbar durch ein Hinausgehen über die bloße Tätigkeit, durch eine Verbindung beider Seiten zu einem gemeinsamen Schaffen, durch die Herausbildung und Festlegung eines Werkes. Der Fortgang zum Werk ist der Hauptwendepunkt des Lebensprozesses. Erst hier erreichen die beiden Seiten des Daseins eine feste Verbindung, die Arbeit am Werke gewährt eine Stätte der Erfahrung und eines gegenseitigen Austausches, die Kraft vermag hier ihre Leere, der Vorwurf seine Fremdheit abzulegen, der gesamte Lebensprozeß sich zusammenzuschließen und in sich zu befestigen. — Das Werk bedeutet einen gewaltigen Fortschritt des Lebens bei sich selbst, einen Anstieg, der sich nicht aus den gegebenen Daten ableiten läßt, sondern der etwas wesentlich Neues gewährt. Dabei ist es von Gegensätzen durchwoben. Das Werk entspringt aus der Tätigkeit und darf sich nicht von ihr ablösen, und es ist zugleich etwas Eignes gegenüber der Tätigkeit, es scheint unser Dasein zu spalten und führt es allererst zur Einheit, es vollzieht eine Eingrenzung des Lebens und will zugleich seiner Unendlichkeit genügen. Ihr volles Licht erhält diese Wendung zum Werk erst bei einer

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

Fortbildung des Begriffs über die Fassung des Alltags. Namentlich in zwei Punkten genügt diese nicht. — Zunächst darf das Werk nicht vornehmlich als eine Leistung nach draußen, als ein in fremde Hände abzulieferndes Ergebnis gelten, sondern es bedeutet eine Schöpfung bei uns selbst, ein Zusammenschießen, eine Konzentration und Krystallisation im eignen Bereiche. In dieser Innerlichkeit entspringt das Werk nicht nur, sondern hier verbleibt es für die Dauer. Es draußen in sichtbaren Leistungen vorzufinden, können wir nur wähnen, weil unvermerkt das Sichtbare aus dem Unsichtbaren beseelt und dann der bloße Reflex des Innern für die erzeugende Kraft genommen wird. Wenn das Streben zum Werk all unser Tun durchdringt und der Fortgang zu ihm so viel hoffen läßt, so erklärt sich das eben daraus, daß wir bei dem Werk um die Weiterbildung, die Befestigung und Vollendung des eignen Wesens kämpfen, daß wir bei uns selbst mit dem Werke werden und wachsen. Alle Leistung ist auch bei den erstaunlichsten Erfolgen nach außen leer und tot bei sich selbst, wenn sie sich nicht auf diesen Boden zu versetzen und sich hier zu bewähren vermag. Die Forderung der Innerlichkeit des Werkes ergibt aber unmittelbar die einer allumfassenden Ganzheit. Wie bei der Selbsttätigkeit ein innerer Zusammenhang alle Mannigfaltigkeit trug, so muß auch das Werk, das diese Tätigkeit weiterführt, in erster Stelle ein umfassendes Ganzes, ein Gesamtwerk, ein Lebenswerk sein. Wenn die menschliche Tätigkeit zunächst nur einzelne Werke hervorbringt und erst allmählich größere Zusammenhänge herstellt, so treibt und richtet auch beim einzelnen Werk die Idee des Ganzen; erst sie drängt zur Verbindung und Ausgleichung der einzelnen Leistungen, erst sie verleiht dem Einzelwerk eine Festigkeit und volle Bestimmtheit. Wir pflegen von der Wirklichkeit als einer Ordnung der Dinge zu reden, die uns von draußen umfängt und in die wir ohne unser Zutun hineinwachsen. In Wahrheit entsteht eine Wirklichkeit als das Werk der Werke nur durch einen Zusammenschluß unsers eignen Tuns, sie ist eine Forderung und eine Leistung des Geisteslebens bei sich selbst; nur soweit verwandelt sich uns das Chaos der Erscheinungen in eine Wirklichkeit, als ein Zusammenhang geistiger Tätigkeit aus ihm herausgehoben wird. So ist das, was die unphilosophische Ansicht als den selbstverständlichen Ausgangspunkt hinnimmt, in Wahrheit der Endpunkt und die schwierigste Aufgabe; unser Leben steht nicht von vornherein auf einem sicheren Grunde,

Der U m r i ß der n e u e n W i r k l i c h k e i t

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sondern es hat einen solchen der Ungewißheit, Verwirrung und Scheinhaftigkeit des nächsten Daseins erst abzuringen, es kann das nie von außen, sondern nur von innen her durch eine Fortbildung, Zusammenfassung und Befestigung seiner selbst. Aber es hat an. einer solchen echten, durch Arbeit erkämpften Wirklichkeit auch unvergleichlich mehr als an jener vermeintlich vorgefundenen des Anfangs, es hat an ihr nicht ein leeres Qefäß, sondern eine sachlich erfüllte, durchgebildete Welt. Wenn die Zurückführung des Werkes auf die Selbstätigkeit und die geistige Selbsterhaltung allererst aufhellt und sicher begründet, was die Weite der Erfahrung an Streben zum Werke zeigt, so erhebt sie zugleich die Sache über den Durchschnittsstand und erzeugt eine Gegenwirkung gegen die bloße Erfahrung. Denn hier ist die Werkbildung keineswegs ein reines Erzeugnis der Tätigkeit. Von draußen strömen unerwiesene Voraussetzungen ein, von draußen werden undurchleuchtete Ziele aufgedrängt, unsere Arbeit findet überall Schranken an einer fremden Welt, auch innerhalb ihres Bereiches vermengt sich unablässig Fremdes dem Eignen. Demgegenüber bedarf es für die Zwecke des Geistes einer ständigen Gegenwirkung, sie erfolgt auf allen Höhepunkten geistigen Schaffens. Hier heißt es alles Vorgefundene einer Kritik zu unterwerfen, am Werk alles auszuscheiden, was von draußen stammt, es rein aus der Tätigkeit zu entwickeln, mit dem allen das Leben zu erneuern, zu verjüngen, zu vertiefen. Zeugnis dessen ist der Gesamtverlauf der Geschichte. Denn nirgends ist ein Fortschritt sichtbarer als darin, daß was früheren Zeiten als unmittelbar gegeben und selbstverständlich galt, späteren zum schweren Problem und zur Sache eignen Entscheidens wurde; was zunächst fertig von draußen dargeboten schien, das ward weiterhin rein auf die Tätigkeit gestellt; es galt das Warum des Warum zu ergründen, den Zielen ein Ziel zu geben. So wird immer mehr »Selbstverständliches" zerstört, immer weiter die Grenze des Lebensprozesses zurückgeschoben, immer mehr in ihn hineingezogen, zugleich aber er bei sich selbst zu einer Welt zusammengeschlossen. Von hier aus erscheint die Geschichte als eine wachsende Umsetzung des Daseins und vornehmlich der Werkbildung in volle Selbsttätigkeit; mit der Ursprünglichkeit und Durchsichtigkeit wird zugleich ein neuer und wesenhafterer Inhalt gewonnen. Diese Stellung des in seiner Innerlichkeit und Ganzheit anerkannten Werkes begründet vollauf die Schätzung des Werkes und

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D e r Kampf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

der Arbeit, die das Bewußtsein und Leben der Menschheit durchdringt. Das Werk bietet gegenüber dem Schwanken der ersten Lage einen festen Halt, gegenüber dem Tasten und Suchen ein deutliches Ziel, gegenüber der Zerstreuung des Lebens eine geschlossene Einheit. Hier können die Kräfte sich zusammenfinden und in ein Gleichgewicht setzen, hier das Leben sich ausbreiten und klären. Der Übergang zum Werk zwingt zur Entscheidung zwischen sonst offenen Möglichkeiten; Falsches wird erkannt und verworfen, was aber jene Prüfung besteht, um so mehr bestärkt und um so enger verbunden. Jetzt können sich Haupt- und Nebensache scheiden, die Mannigfaltigkeit abstufen und gliedern. Erst solches Drängen und Zwängen in eine feste Bahn führt zu einer Erfahrung der Dinge und vor allem unser selbst, erhebt uns über die grübelnde Reflexion und macht uns sicher im eignen Leben. Wie das Werk den Menschen über sich selbst hinausführt, so gibt es ihm eine volle Unabhängigkeit gegen alle Außenwelt und alle Meinung der Menschen, eine unangreifbare Stellung in geistigen Zusammenhängen, die Gewißheit der Arbeit an einem Reich der Vernunft. Bei solchem Vermögen des Werkes entscheidet es über den Gehalt und das Glück des Lebens, ob der Fortgang zu ihm gelingt oder nicht, ob sich mit ihm das Streben und Handeln in ein charaktervolles Ganzes zusammenfaßt, oder ob es der Ungewißheit und Zerstreuung verfallen bleibt. Bei der Unableitbarkeit des Werkes, bei seiner Individualität und Positivität ist dieser Fortgang keineswegs selbstverständlich, alle subjektive Erregung und alle Betriebsamkeit an der Oberfläche des Daseins vermag ihn nicht zu erzwingen. Die Sache bedarf einer Gunst von Natur und Geschick: das eigne Wesen muß eine Richtung enthalten, und die Umstände müssen die Entwicklung dieser Richtung, wenn nicht befördern, so doch gestatten. Aber alles von innen und von außen Entgegengebrachte führt nicht zum Werk ohne eigne Tat; die Tat muß den Umkreis des Daseins beleben, zusammenfassen und richten, die Tat auch die äußeren Verhältnisse unter sich bringen, sonst ist alle jene Gunst vergeblich. Bei allen Voraussetzungen und Bedingungen bleibt das Werk vornehmlich unsere eigne Tat. Daß in Wahrheit auf dem Fortgang zum Werk der innere Erfolg des Lebens beruht, das zeigt die mannigfachste Erfahrung. Um von den Individuen zu beginnen, wie hätte z. B. ein K a n t bei aller Größe seiner Denkkraft und bei aller Treue seiner Arbeit die Höhe

Der U m r i ß der n e u e n W i r k l i c h k e i t

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seines eignen Wesens und damit die Befriedigung seines Daseins erreicht, wäre ihm nicht der Aufstieg zum Werke seiner Vernunftkritik gelungen, und hätte sich ihm nicht damit alles, was in ihm lebte und strebte, in eine einzige Tat zusammengefaßt. Nicht anders steht das Problem bei Völkern und Zeiten. W o die Bewegung glatt und glücklich zum Werk fortschreitet, und wo sich mit solchem Werk das ganze Wesen erhöht, da entstehen klassische Leistungen, da wird alle Mühe und Not des Kampfes von der Freude des Schaffens weit überboten, da findet sich auch das Edle und Große zur Gemeinschaft der Arbeit zusammen. W o aber die vorhandenen Kräfte durch Schuld oder Schicksal den Weg zum Werke nicht finden, da bleibt der Mensch dem Zweifel, der Spaltung, der Ohnmacht verfallen, da summiert sich eher das Gemeine und Kleine, da ist ein Niedergang nicht zu vermeiden. Auch die letzte Überzeugung von der Vernunft des menschlichen Daseins bemißt sich vornehmlich nach der Beantwortung der Frage, wie weit die Kräfte in dem Gesamtwerke einer geistigen Wirklichkeit ihre Befestigung, Verbindung und Erhöhung finden, und ob sich damit das Leben zur Einheit zusammenschließt, oder ob es in sich selbst durch eine unüberwindliche Kluft zerrissen bleibt.

So läßt sich von dem Werke kaum groß genug denken. Aber es hat diese Bedeutung immer nur im Zusammenhange der geistigen Bewegung, es verliert sie, sobald es ihn aufgibt. Wird das Werk nicht unablässig von dem Grundleben durchströmt, aus dem es entsprang, so muß es erstarren, in einzelne Stücke zerfallen, seinen Geist verlieren. Dabei zeigt die Erfahrung der Geschichte deutlich genug, daß im Geistesleben nicht wie in der Außenwelt der einmal erreichte Stand ohne weiteres beharrt, sondern daß sofort ein Sinken beginnt, wenn die schaffende Tätigkeit nicht immer mit neuer Kraft einsetzt. Diese Gefahren einer Erstarrung werden nicht schon dadurch behoben, daß das Individuum das Werk auf sein subjektives Befinden bezieht und es sich nach seiner Fassungskraft aneignet. Denn das trifft nicht den inneren Gehalt des Werkes, es ergibt nicht die unerläßliche Durchdringung und Belebung seiner Substanz; so zeigt das Mittelalter eine Vergröberung und Veräußerlichung des Lebensganzen zusammen mit großer Zartheit und Innigkeit des subjektiven Gefühls. Was verlangt wird, ist eine Innerlichkeit nicht neben dem

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Der Kampf um die S e l b s t ä n d i g k e i t des G e i s t e s l e b e n s

Werke, sondern über und in dem Werke; nicht nachträglich darf die Belebung hinzukommen, sie muß das Werk von vornherein umspannen und beseelen. Daß aber so der Lebensprozeß seine Überlegenheit wahrt und die schaffende Kraft sich nicht in die Schöpfung verliert, daß das Werk sich in ein größeres Ganzes einfügt, das läßt sich nur durch einen weiteren Fortgang der Bewegung erreichen: das Grundleben muß nicht nur in das Werk eingehen, sondern auch aus ihm zurückkehren; es muß nicht nur dem Werke mitteilen, sondern auch von ihm empfangen und aus ihm gewinnen. Die Erfahrung des Werkes wird aber eine Förderung des Wesens nicht schon durch ein einfaches Zurückfließen, sondern nur durch eine fortschreitende Tat, durch ein Ringen des Ganzen des Lebens mit dem Ganzen des Werkes, durch ein Bewältigen des Werkes mittels weiterer Determination des Wesens. Die Ausbildung des Werkes stellt das Leben vor eine neue Aufgabe. Das Werk führt unter Bedingungen, und seien es solche des eignen Wesens, es kann sich nicht zusammenschließen ohne eine Einschränkung und Ausscheidung zu vollziehen, es erhält damit eine Positivität, die stets in Partikularität zu verfallen droht. Demgegenüber steht der allgemeine Lebensdrang mit seinem Verlangen nach Unbedingtheit, Unendlichkeit, Universalität. Dieser Zwiespalt ist zu überwinden und die Zweiheit wieder zur Einheit zu bringen; dazu aber bedarf es eines weiteren Schrittes aus freier Tat. Das bisher so unbestimmte Grundleben hat sich mit Hilfe des Werkes und unter Festhaltung des Werkes näher zu bestimmen, zur Konkretheit, zu einem ausgeprägten Charakter zu erheben; erst dann kann der Spalt zwischen ihm und dem Werke sich schließen, erst dann können Leben und Werk sich von innen her zu einer Wirklichkeit verbinden, die, fest und innerlich zugleich, eine geistige zu heißen in Wahrheit verdient. Dies Zurückkehren des Lebensprozesses zu sich selbst macht es allererst möglich, von einem Sinn des Lebens zu reden und nach ihm zu fragen, es erklärt zugleich das heiße Verlangen des Menschen nach einem solchen. Was wir bei der Frage des Sinnes suchen: eine Durchleuchtung des Daseins, ein inneres Verhältnis zu dem Erlebten, einen Ertrag für das Ganze unseres Wesens, das läßt sich nicht von draußen aufnehmen, sondern nur da erringen, wo das Leben bei sich selbst verläuft und aus aller Entfaltung zu sich selbst zurückkehrt, wo es ein Sicherleben eines Selbst wird und in allen

Der Umriß der neuen Wirklichkeit

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Bewegungen ein eignes Sein erfaßt, erfährt und erhöht. Ein solches Selbstleben lag bei uns der ganzen Entwicklung zugrunde und erwies sich an allen Hauptpunkten. Aber zu voller Klarheit und Durchbildung kommt es erst mit dem letzten Schritt; erst hier erhellt, daß alle Bewegung auf seine Vollendung geht, und daß der Fortgang des Selbstlebens von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit, sein Kampf um einen konkreten Inhalt, die Seele aller geistigen Arbeit bildet. Solche Selbstentwicklung und Selbsterhöhung des Lebens ist etwas anderes als ein bloßes Bewußtwerden, ein bloßes Finden eines von Haus aus Vorhandenen. Damit kämen weder der Reichtum und die Tiefe des Weltprozesses, noch seine Spannung und Verwicklung voll zu ihrem Recht. Denn dann wäre er bei aller rastlosen Bewegung innerlich festgelegt und in eine vorgezeichnete Bahn gebannt, wesentlich Neues könnte er nicht erzeugen, die Hemmung käme nur von dem Nichtwissen und der Verworrenheit. Zugleich würde das Geistesleben zu einer bloß intellektuellen Leistung verengt. Unsere Fassung erhöht die Gefahr, aber auch den Ertrag. Nicht das bloße Bewußtwerden, sondern das Selbständigwerden, ein sich selbst im Finden Erhöhen steht hier in Frage. Dazu aber bedarf es notwendig jener drei Stufen, dazu bedarf es des Werkes als der Achse der Bewegung. Weltbildung, Werkbildung, Selbstbildung miteinander führen zum Ziel; in Befreiung, Befestigung, Verinnerlichung wird Leben, Schaffen und Geist. Mit diesen Stufen und mit dem Gegensatz des Eingehens in das Werk und des Zurückkehrens aus dem Werk erhält das Geistesleben bei sich selbst eine unablässige Spannung. Denn es sind die früheren Stufen nicht bloße Durchgangspunkte, die nach getaner Schuldigkeit wegfallen dürften, sondern das Spätere würde erstarren und zusammenbrechen, die Freiheit des Ganzen erlöschen ohne ein Verbleiben und Fortwirken des Früheren. Damit werden die den einzelnen Phasen charakteristischen Leistungen Erweisungen und Eigenschaften des Ganzen. In der Weltbildung zeigt es eine unermeßliche Weite und Kraft, in der Werkbildung das Vermögen fester Gestaltung, in der Selbstbildung eine durchdringende Gewalt der Konzentration. Alle Leistung aber wird von freier Tat umfaßt und getragen, diese ist es, welche die ganze Ausdehnung des geistigen Lebens himmelweit von aller natürlichen Entwicklung, allem bloßen Hervorgehen aus einem Gegebensein unterscheidet. Nur in freier Tat

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D e r Ka mpf um d i e S e l b s t ä n d i g k e i t d e s G e i s t e s l e b e n s

wurzelt das Allleben des Geistes mit seinem Gegensatze zu allem natürlichen Lebensdrange, nur die freie Tat gibt dem Leben den Stand der Beweglichkeit, in dem ein Zusammenschießen der Kräfte zum Werk erfolgen kann, nur die freie Tat läßt endlich das Selbst durch das Werk gewinnen. Die freie Tat ist in dem allen unmittelbar auch eine ethische Tat, sofern aus der Freiheit immer auch ein Gesetz entspringt, welches das Handeln bindet. Eine Unterordnung, ja Aufopferung ist das unerläßliche Gegenstück der Teilnahme an jenem Selbstleben des Geistes; so bildet die deutliche Ausprägung des ethischen Charakters der Bewegung einen Prüfstein ihrer Echtheit. So die allgemeinsten Umrisse der Bewegung zur geistigen Wirklichkeit. In allen Kämpfen und Erfolgen untersteht sie dem Gesetz des geschichtlichen Werdens, wie es als eine ebenso wenig selbstverständliche als irgend erklärliche Tatsache unser Dasein und unsere Weltlage beherrscht. Diese Geschichtlichkeit besagt nicht nur, daß wir die Wahrheit erst zu suchen haben und erst allmählich zu finden vermögen, sondern weiter auch, daß unser Streben an jeder Stelle der Ungewißheit und Irrung ausgesetzt ist. So verläuft die Sache nicht so glücklich und glatt als der Entwurf es uns vorhält. Die Stufen verbinden sich nicht ohne weiteres in ein zusammenhängendes Leben, sie können miteinander in Widerspruch geraten, und es kann sich der Lebensprozeß auf einer von ihnen festlegen, wie denn nach der vorwiegenden Richtung auf die Lebensentfaltung, die Werkbildung, die Verinnerlichung die verschiedenen Epochen in Wahrheit weit auseinandergehen. Ferner läßt solche Ungewißheit nicht erwarten, daß die aufsteigende Bewegung in einem einzigen Zuge durchdringt und an jeder Stelle sofort die volle Wahrheit erreicht. Vielmehr ist unser Unternehmen immer ein Suchen und Versuchen, ein Wetten und Wagen; selbst im Gelingen werden wir uns der Wahrheit nur zum Teil, nur in einer besonderen Richtung bemächtigen. Darüber aber wird der Drang unseres Wesens nach letzter und ganzer Wahrheit immer wieder hinaustreiben, die Bewegung vollzieht durch ihre eigne Entwicklung ein Gericht über alle besondere Leistung, sie muß den versuchten Abschluß immer wieder auflösen und neue Anfänge setzen. So zerlegt sich die eine Bewegung in eine Kette von Bewegungen, es scheiden sich große Epochen, und aus dem Untergang der einen steigt eine andere empor. Aber nicht aller Zusammenhang geht damit verloren. Jene immanente Selbstkritik des Prozesses wäre unmöglich, der Forttrieb der Bewegung unbe-

D e r U m r i ß der neuen W i r k l i c h k e i t

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greiflich, jede Verständigung der Epochen ausgeschlossen, wirkte nicht durch alle Vielheit und Gegensätzlichkeit eine überlegene Einheit des Ganzen, und würde nicht jede besondere Leistung auf diese bezogen und von ihr gemessen, auch innerhalb ihrer mit dem übrigen verbunden. Ohne das unablässige Wirken einer absoluten und zeitlosen Wahrheit inmitten alles Wechsels und Wandels, aller Ungewißheit und Irrung gäbe es keine Gesamtbewegung, kein durchgehendes Streben nach Wahrheit und Wirklichkeit. Diese übergeschichtliche Natur des Geisteslebens erweist sich deutlich auch innerhalb unserer Erfahrung, indem sie immerfort aus dem Vergänglichen Bleibendes heraushebt und der Zeit ein Zeitloses abringt. Jede charakteristische Epoche schreibt sich mit unvertilgbaren Zügen in das Geistesleben ein und vermehrt den geistigen Besitz der Menschheit. So vermag sich die geistige Arbeit mehr und mehr von der Zeit zu befreien, in sich selbst einen Halt gegen ihre Schwankungen zu finden, einen Hintergrund zu schaffen, vor dem sich die Bewegungen abspielen. Das alles ergibt einen eigentümlichen Anblick des Menschenlebens. Es treffen in ihm nicht bloß verschiedene Stufen der Wirklichkeit zusammen, sondern es kann sich von der vorgefundenen Vermengung befreien, von den Ergebnissen zu den bewegenden Gründen vordringen, sich zu einem Weltleben erheben. Dies Weltleben muß uns freilich von vornherein umfangen und treiben. Aber so lange wir bei der bloßen Gegebenheit verharren, ist es viel zu zerstreut und zersplittert und wirkt zu sehr durch ein fremdes Medium hindurch, es bildet zu sehr einen bloßen Anhang eines andersartigen Daseins, als daß es sich zu einem Ganzen zusammenfassen und eine neue Wirklichkeit aufschließen könnte. Das wird erst möglich mit der Wendung zur Selbsttätigkeit, mit dem Aufnehmen eines ursprünglichen Lebensprozesses. Nun erst können wir die Kraft eines Weltlebens in uns erkennen, nun dieses Weltleben ergreifen und an unserer Stelle weiterführen. Indem sich jetzt die einzelnen Züge zum Ganzen zusammenschließen, erhellt, daß es sich bei der Bewegung zum Geist nicht um bloße Ergänzungen und Weiterbildungen, sondern um eine völlige Umwälzung, um den Aufbau einer neuen Wirklichkeit handelt. Wie diese Wirklichkeit alles von Grund aus umwandeln muß, was ihr zugehören soll, so entwickeln auch die einzelnen Hauptstufen Forderungen für die ganze Ausdehnung des Lebens; hier kann nichts Eingang finden, ohne in dem Ganzen einer Welt einen Platz zu E u c k e n , Kampf. II. Aufl.

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D e r Kampf um die S e l b s t ä n d i g k e i t des G e i s t e s l e b e n s

suchen, ohne nach einer Gestaltung im Werk zu streben und der Durchbildung des Selbst zu dienen. Wie solche Wandlungen, wie der Gewinn eines neuen Bodens, das Aussichherausgehen und Zusichzurückkehren des Lebens durch die ganze Verzweigung des Daseins wirken und an jeder Stelle neue Aufgaben und neue Erfahrungen eröffnen, wie sie uns zu unermeßlicher Arbeit aufrufen, das wird sich erst darlegen lassen, nachdem eine engere Beziehung jener Ideen und Kräfte zum Befunde des menschlichen Daseins hergestellt ist. Daß der Anspruch des Neuen auf das Ganze geht, und daß die Entwicklung der Selbsttätigkeit dem nächsten Dasein eine eigne Welt gegenüberstellt, das steht schon jetzt außer Zweifel. Mit dieser Anerkennung einer neuen Wirklichkeit verändert sich auch die Grundform des Lebens. Nun läßt sich das höchste Ziel nicht mehr durch ein Fortspinnen des von Natur und Geschick überkommenen Fadens erreichen, nun bedarf es eines Abbrechens und Neubeginnens, nun versagen alle vermittelnden Begriffe, wie z. B. der einer natürlichen Entwicklung, welche die Spannung abschwächen und das Geistesleben unter die Natur zurückwerfen. Einer Entscheidung des ganzen Wesens ist hier nicht auszuweichen, sie ist unsere Tat und unsere Schuld, wie immer sie ausfällt; auch die Ergebung in das bloße Dasein, auch der Verzicht auf die Freiheit ist schließlich ein Werk der Freiheit. Solche Entscheidung aber ist nicht eine Sache des Augenblicks, sondern des ganzen Lebens; sie ist auch nicht ein bloßes Bekenntnis zu irgendwelcher Formel, sie trägt in sich eine Umsetzung in Arbeit und Schaffen, ein Mitbauen der neuen Welt. So unfertig das Bild des neuen Lebens hier bleibt, dem allgemeinen Charakter und der Grundstimmung nach trägt es deutliche Züge. Indem jenes Leben alle Mannigfaltigkeit, ja Unendlichkeit in ein Beisichselbstsein zu verwandeln sucht und damit statt des naturhaften ein geistiges, statt des punktuellen ein universelles, statt des leeren ein erfülltes Selbst herausarbeitet, kann der Affekt der Selbstbehauptung sich über das ganze Sein ergießen und damit selbst ein anderer werden. Weit überwunden ist nun die natürliche Selbsterhaltung, die Tätigkeit steigert mit der Vertiefung die ihr innewohnende Freude und läßt darin das Glück des Lebens finden, nicht in der sinnlichen Lust und dem subjektiven Wohlbefinden. Glück und Tätigkeit verbinden sich hier zu untrennbarer Einheit.

Der Umriß der neuen Wirklichkeit

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Dazu kommt ein anderes. Wie das neue Leben nicht von draußen her an ein vorhandenes Sein herantritt, sondern alle Wirklichkeit aus der Tätigkeit entwickelt, so ist es von der Überzeugung durchdrungen, die ganze Tiefe der Dinge zu erfassen, nicht bloß eine relative, sondern eine absolute Wahrheit zu gewinnen. Wo keine dunkle Tiefe hinter dem Prozesse beharrt, da dürfen wir nicht sagen, daß das Leben sich nur in Beziehungen abspielt und das Erkennen nur mit Erscheinungen zu tun hat; wo der Prozeß nicht eine Welt fertig vorfindet und sie sich erst nachträglich aneignet, da braucht er sich nicht seine Wahrheit von draußen her verbürgen zu lassen, sondern er wird ihrer durch seine eigne Entwicklung, durch seinen Fortgang zur konkreten Gestaltung gewiß. So weit dabei eine volle Ursprünglichkeit erreicht wird, so weit wird es auch eine volle, ausschließliche und absolute Wahrheit. Denn es kann nichts Ursprünglicheres geben als das Ursprüngliche, und ebensowenig verschiedene Grade der Wahrheit. Wohl erkannten wir gewaltige Aufgaben und Verwicklungen in der Erhebung des Lebens zur Selbsttätigkeit und der Erringung einer ursprünglichen Wirklichkeit Die Sache liegt nicht so bequem, daß sich rasch und einfürallemal ein absolut fester Ausgangspunkt ergreifen und von ihm mit voller Sicherheit fortschreiten ließe; sondern der Kampf greift immer wieder zum Ausgang zurück, erst allmählich werden die Schranken zurückgeschoben, immer von neuem gilt es das Ganze zu gewinnen und zu befestigen. Aber was immer daraus an Zweifeln erwächst, das trifft nur die Ausführung; der Prozeß selbst bleibt ihnen überlegen, die Bewegung zu einem ursprünglichen Leben und damit zugleich die Tatsache einer in uns wirksamen Selbsttätigkeit bleibt unangreifbar. Es müßte den Wald vor Bäumen nicht sehen, wem die Verwicklungen der näheren Gestaltung die allgemeine Tatsache verdunkeln sollten. Mit der Überzeugung aber, daß unsere erste Lebenslage ein Weltleben aus der Wahrheit der Dinge hinter sich hat, und daß wir uns dieses Lebens zu bemächtigen und es weiter und weiter uns anzueignen vermögen, ist darüber entschieden, wo der Kern des Lebensprozesses und die Hauptspannung unseres Daseins liegt. Die Hauptsache bildet nun weder das Verhältnis zur Außenwelt noch das zu den Menschen neben uns, noch das zu unserer eignen Subjektivität, sondern das zu der Welt, die in der geistigen Bewegung von innen her aufsteigt; weder die Erfassung der Außenwelt noch 4*

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Der Kampf um die Selbständigkeit des Geisteslebens

die Verbesserung der gesellschaftlichen Lage, noch das subjektive Wohlbefinden des Individuums kann den Menschen noch befriedigen, nachdem sich jene Tiefe der Wirklichkeit eröffnet und der Kampf der Welten begonnen hat; gegenüber der kosmologischen, der sozialen, der subjektivistischen Lebensführung erhebt sich hier eine neue, noetische, die ihnen allen überlegen ist, die das Recht und die Bedeutung einer jeden erst abzumessen hat und aus einem größeren Zusammenhange ihnen allen Vernunft und Seele erst zuführt. Dies alles hat sich später weiter zu entwickeln und zu bewähren. Hier sei zum Abschluß dieses grundlegenden Abschnittes nur noch ein kurzer Rückblick auf das gestattet, was sich uns an Hauptforderungen für die Selbständigkeit des Geisteslebens ergab. In der Mannigfaltigkeit der einzelnen Punkte wurde eine zusammenhängende Bewegung, ein Forttrieb vom einen zum andern erkannt. Zunächst galt es das Durcheinander von Geist und Natur aufzulösen, das die erste Lage beherrscht, gegenüber allen Vermittlungen und Abschwächungen erwies sich eine unvergleichliche Eigentümlichkeit des Geisteslebens. Sich halten, rein ausprägen und zu kräftiger Wirkung bringen kann sich aber diese Eigentümlichkeit nur, wenn in dem Geistesleben eine selbständige Art des Seins, eine neue Stufe der Welt erkannt und anerkannt wird. Aber diese Selbständigkeit des Geisteslebens bliebe für uns eine wertlose Anweisung, vermöchte sich nicht in uns ein ursprünglicher Lebensprozeß zu entfalten, und dieser endlich konnte seiner Aufgabe nur genügen, wenn er eine zusammenhängende Wirklichkeit aufbrachte und in sie alles irgend Vorhandene hineinzog. Das alles bildet eine einzige fortlaufende Kette, deren einzelne Glieder in so enger Wechselwirkung stehen, daß das erste schon auf das letzte hinweist, und daß der Kampf,um das letzte auch das Recht des ersten erhärtet. So verbindet auch alle Stufen ein gemeinsamer Grundgedanke: es gibt keine Selbständigkeit des Geisteslebens ohne eine Ablösung von der Durchschnittslage des Menschen, ohne ein Zusammenschließen bei sich selbst, ohne ein Gegenwirken gegen jene Lage. Die Durchführung jenes Gedankens aber erfolgt vornehmlich in zwei Richtungen. Einmal gilt es die Gegensätze deutlich zu scheiden, im besonderen nicht bloß Geist und Natur, sondern mehr noch das gegebene Dasein und eine Welt der Selbsttätigkeit scharf voneinander abzuheben. Sodann aber ist das durch die Scheidung Herausgehobene bei sich selbst zu ergreifen und zur Selbständigkeit des

D e r U m r i ß der neuen W i r k l i c h k e i t Lebens und Wirkens zu erheben.

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Dort bedarf es einer präziseren

Anschauung, hier einer größeren Lebensenergie, welche die Dinge nicht gleichgültig nimmt und sie stehen läßt, wie sie sich finden, sondern welche sie ergreift, sich aneignet und

umbildet.

Präzision

des

wiederum

der Anschauung

und solche

nur zusammengehörige Seiten

Energie

Solche

Lebens

sind

eines selbständigen

Ein-

tretens in die Bewegung. W o als die Hauptthese des Ganzen gilt, daß eine Selbständigkeit des Geisteslebens nicht aus der gegebenen Welt heraus, sondern nur ihr gegenüber und im Kampf mit ihr zu erreichen und zu behaupten ist, da wird notwendig das ganze Wesen des Menschen zur Tat und

Entscheidung

berufen.

Jenes

Eintreten

in die Be-

wegung läßt sich durch alle Beweise von draußen her nicht

er-

zwingen; auch die Bestätigung, welche die Bewegung selbst durch die Fruchtbarkeit ihrer eignen Entwicklung, den Fortgang zu einer näheren

Durchbildung,

den

engen Zusammenhang

der

einzelnen

Stufen liefert, wird voll nur den überzeugen, dessen Wesen sich schon in der Richtung des Ganzen entschieden hat. So kommen wir von allen Seiten auf das Ganze, es handelt sich um eine Annahme oder eine Verwerfung des Ganzen.

Schlechthin un-

haltbar ist jene Mittelstellung der Durchschnittsmeinung, die, ebenso lau in Liebe und Haß wie

verschwommen

in

den Begriffen,

bejahen möchte, aber vor den Konsequenzen des Ja zurückschreckt, die das Einzelne in Ehren hält, aber das Ganze ablehnt und wie eine Torheit verketzert.

Haben wir den Mut und die Kraft ganz

zu wollen, was wir wollen! besser als ein halbes Ja.

Ein volles Nein ist in diesen Dingen

Denn dieses erweckt den falschen Schein

des Besitzes und wirkt zu ertötender Schlaffheit, da doch in Wahrheit unser Dasein unter gewaltigen Aufgaben und Gegensätzen steht und aller Kraft bedarf, um ihnen gewachsen zu werden.

B. D e r K a m p f u m d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s .

1. Der Ursprung des Charakters. a. Erster Entwurf.

I m Kampf um das geistige Sein galt es zunächst die Selbständig* keit des Geisteslebens zu sichern. Dazu bedurfte es einer Ablösung von der menschlichen Lage in unserer Welt. Ohne eine solche Befreiung fand sich kein Zusammenschluß zu klarer Gestalt, keine siegreiche Erweisung eigner Art gegenüber dem Fremden und Feindlichen. Jede Abschwächung oder Verdunklung dieser Emanzipation des Geisteslebens vermindert seine Kraft und verwischt seine Eigentümlichkeit. So bildet jene Ablösung nicht einen flüchtigen Durchgangspunkt, sondern eine bleibende Aufgabe, die immer von neuem einsetzt. Aber zugleich unterliegt es keinem Zweifel, daß solcher Stand der Ablösung sich nicht als ein endgültiger hinnehmen läßt; sowohl die geistige Arbeit selbst als die Sorge für eine Einheit des Lebens treibt über ihn zwingend hinaus. — Daß das Geistesleben eine fremde Welt neben sich hat, ohne sich ihren Inhalt aneignen zu können, muß ihm selbst zum Schaden gereichen. Seinem Wesen nach ist es auf die ganze Wirklichkeit angewiesen; um bei sich selbst wahr zu sein, muß es sich alles assimilieren. Läßt es jene Welt draußen stehen, so hat es daran nicht nur eine Schranke, auch seine innere Durchbildung kann alsdann nicht gelingen. Was immer aber das neue Leben erschloß, das bedeutet mehr einen Umriß, ein Schema der Wirklichkeit als diese selbst; jener Entwurf zeigt uns weder einen Weg in die Mannigfaltigkeit der Dinge, noch ein Mittel zu ihrer Unterwerfung; wir blieben mitten im Problem stecken, wollten wir an dieser Stelle abschließen. Dafür spricht auch das Zeugnis der geschichtlichen Erfahrung. Seit Jahrtausenden hat die Idee, alle und jede Wirklichkeit aus freischwebender Tätigkeit des Geistes

Erster Entwurf

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hervorzubringen, eine berückende Macht geübt und immer neue Versuche hervorgetrieben. Aber wenn wir die Kette der Bewegung von P l o t i n bis H e g e l verfolgen, so wird leicht ersichtlich, daß dabei entweder das Leben ins Abstrakte und Leere verfiel, oder daß unvermerkt die geringgeschätzte Erfahrung zur Hülfe kommen mußte, um die sonst seelenlosen Formen zu beleben. Aber auch der Mensch als Ganzes kann jene Entgegensetzung der beiden Welten nicht ertragen, sie wird ihm zu einer peinlichen Spaltung des eignen Wesens. Einerseits fesselt ihn die gegebene Welt mit der Kraft des unmittelbaren Eindrucks und dem Schwergewicht des Vorhandenseins; hier fühlt er sich auf sicherem Boden, hier scheint sich der Grundstock des Lebens zu. finden. Von hier aus aber erscheint die Entwicklung einer Geisteswelt als etwas jenseitiges, als eine bloße Nebensache, die das Selbst des Menschen kaum irgend berührt, es jedenfalls nicht für sich zu gewinnen vermag. Was aber hilft uns die Überwindung der Punktualität, die Versetzung in ein ursprüngliches Leben, das Hochgefühl der Teilnahme an einem Weltprozeß, wenn das alles nur in einer abgesonderten Sphäre erfolgt und in die Hauptbewegung des Lebens nicht eingreift — Aber andererseits ist das Neue vorhanden, und zwar nicht bloß in einzelnen Erscheinungen, sondern in einem großen Zusammenhange. In aller Unfertigkeit hört es nicht auf uns zu beschäftigen, in aller Zurückdrängung behauptet es sich als ein Stück unseres Wesens. Sind wir doch nicht von draußen, sondern von innen her zu ihm gelangt. Vermag es nicht mehr, so wird es doch jenem anderen seine Schranke zum Bewußtsein bringen und einen Abschluß bei ihm verhindern. Jenem Geistigen einen überlegenen Wert beizulegen und bei ihm den Standort der Beurteilung zu nehmen, können wir unmöglich lassen. So zieht es uns nach verschiedenen Seiten hin und her und droht uns zu spalten; an einer anderen Stelle liegt die Kraft und die Leidenschaft, an einer anderen liegen die Ziele und Werte unseres Lebens. Was wir als das Höchste zu schätzen nicht aufhören können, das hat keine Macht über die Breite unseres Daseins, und die Hingebung an das Niedere wiederum genügt nach erfolgter Befreiung der Geisteswelt nicht mehr. Wie zwei Seelen in unserer Brust, so wirken zwei Welten in unserem Leben; unvermittelt stehen oft auch in der Kultur abstrakte Geistigkeit und sinnlicher, seine Roheit kaum verhüllender Naturtrieb nebeneinander.

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D e r Kampf um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

Bei jener Spaltung kann und darf es nicht bleiben; sie muß überwunden werden und wird überwunden werden, so gewiß eine Vernunft unser Leben durchwaltet. Kann nun das eine das andere nicht einfach verdrängen, so bleibt nur eine solche Lösung, die jedem zu seinem Rechte verhilft und zugleich verwertet, was hier und dort an Wahrem und Kräftigem vorliegt. Diese Lösung ist aber nicht durch einen einfachen Kompromiß, eine friedliche Abgrenzung erreichbar. Dazu ist der Gegensatz viel zu schroff und zu starr. So ist im besonderen der Versuch verfehlt, den Lebensprozeß in Form und Stoff zu zerlegen und der Selbsttätigkeit die Form, der Gegebenheit den Stoff zuzuweisen. Denn was immer der Selbsttätigkeit bis jetzt zu einer vollen Wirklichkeit fehlen mag, die Rolle eines bloßen Faktors, einer bloßen Seite, die einer anderen zur Ergänzung bedurfte, kann sie nicht übernehmen, ohne ihre Unabhängigkeit aufzugeben und damit innerlich zusammenzubrechen. Die gegebene Welt aber steht dem Reich der Selbsttätigkeit viel zu kalt und fremd, viel zu eigenwillig und abweisend gegenüber, um sich ihm so unmittelbar als stoffliche Hälfte angliedern zu können. Wie sollte ferner eine solche Zusammensetzung dem Leben eine Einheit zu geben vermögen, wer sollte die Verbindung herstellen, wer das Ganze als sein Dasein erleben? Endlich müßten wir uns mehr als antike denn als moderne Menschen fühlen, um das Hauptproblem der geistigen Arbeit in das Verhältnis von Stoff und Form zu setzen. So ist dieser Ausweg versperrt; wer die Autorität des gewaltigen kantischen Systems zu seiner Empfehlung herbeizieht, der übersieht, daß Kant selbst ihn überall verlassen hat, wo er sich von der Kritik zu positivem Schaffen wandte, wie z. B. bei seiner Lehre von der Persönlichkeit. — Demnach ist 'innerhalb des bis jetzt eröffneten Lebensraumes kein Ausgleich möglich; ohne innere Wandlungen und Weiterbildungen des Ganzen werden die beiden Welten nun und nimmer zusammenkommen, die zunächst einander weder vertragen noch entbehren können. Wiederum befinden wir uns an einem großen Wendepunkte und müssen auf einer weiteren Erschließung der Wirklichkeit bestehen. Wenn gegenüber jenem notwendigen Fortgange zur Selbsttätigkeit das Alte beharrt und aus der unerläßlichen Scheidung eine unerträgliche Spaltung wird, so kann die Schuld nur daran liegen, daß jene Bewegung so unmittelbar nicht wesenhaft und fundamental genug ist, um eine allbezwingende Macht zu üben, daß hingegen die niedere

Erster Entwurf

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Stufe manches an sich zieht und bei sich festhält, ohne dessen Aneignung der Lebensprozeß keine volle Kraft, ja keine Wahrheit erreichen kann. Dieses Unentbehrliche ihm zu entwinden und durch seine Assimilierung zur eignen Vollendung fortzuschreiten, das würde damit zur Aufgabe der Selbsttätigkeit; in dem scheinbar nach außen gerichteten Kampfe müßte sie auch bei sich selbst weiter kommen, ja eine wesentlich höhere Stufe erreichen. Näher gestaltet dies Problem sich folgendermaßen. Wenn die Selbsttätigkeit im ersten Anlauf die Trägheit des Daseins nicht überwinden und seinen Reichtum nicht an sich ziehen konnte, so lag dies vornehmlich an einem Hauptmangel: jener fehlte bei allem Streben zu einem Selbstleben eine feste, die Mannigfaltigkeit umspannende Einheit, es fehlte damit dem Selbst die Wesenhaftigkeit. Ohne eine solche aber schwebt jenes ganze Gewebe von Tätigkeiten wie in der Luft, und die Qesamtbewegung erhält nicht die überwältigende Kraft einer Selbstbehauptung. Hingegen wirkt eine solche aus dem Reich der Natur und Gegebenheit mit gewaltigen Trieben und einem elementaren Ungestüm der Affekte; sie dürfen als Zeugnisse dafür gelten, daß dieses Gebiet einen festen Gehalt besitzt und sich nicht zu einer bloßen Erscheinung herabsetzen läßt. Hier also ist der entscheidende Punkt: es gilt, die Grund- und Urkraft, die Substanz, welche in der Natur und Gegebenheit steckt, ihr zu entwinden und der Stufe des Geistes zuzuführen, eben damit aber die Selbsttätigkeit so zu vertiefen, daß sie im eignen Bereich ein Sein zu entwickeln, das Fremde zu überwinden, das bis dahin gespaltene Leben zur Einheit zu bringen vermag. Es muß sich sowohl gegenüber der Gegebenheit als gegenüber der freischwebenden Tätigkeit eine neue Stufe der wesenhaften Selbsttätigkeit erweisen, wenn die Bewegung zur Geistigkeit zum Ziel kommen soll. Erst dieses Geistesleben ist volle Wirklichkeit, wahrhaft aktuelles Geistesleben; erst dieses kann den Kampf gegen die Unbestimmtheit und Charakterlosigkeit aufnehmen, die bisher aller Tätigkeit anhaftete. In Wahrheit wird dem Geistesleben mit der Wesenhaftigkeit zugleich ein Charakter gewonnen. Mit der Idee einer wesenhaften Geistigkeit, deren Tätigkeit weder an einem fremden Sein hängt, noch alles Sein durch die bloße Bewegung ersetzen will, sondern aus einer Vertiefung der Tätigkeit selbst ein neues und echteres Sein entwickelt, mit dieser Idee eröffnet sich ein neuer Anblick unserer Welt und unseres Lebens, eine neue

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D e r Kampf um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

Erfahrung der Wirklichkeit. Die beiden Welten, deren jede bis dahin aus eignem Rechte leben und für sich das Ganze bedeuten wollte, werden nun zu Äußerungen und Erweisungen eines wesenhafteren Seins; auch die freischwebende Tätigkeit muß ein ursprünglicheres Leben hinter sich anerkennen. Indem so das bisher am ersten Platz Befindliche sich mit dem zweiten begnügen und auf jenes andere stützen muß, vollzieht sich eine fundamentale Umkehrung der Wirklichkeit. Diese Umkehrung macht unser Leben größer und gespannter, sie stellt es in höherem Grade auf unsere eigne Entscheidung. Denn mag jenes Wesenhafte von Anfang an in beiden Reichen wirken, erst der Zusammenstoß der Welten treibt es hervor; es erlangt keine volle Wirklichkeit ohne Ergreifung und Vollendung durch eigne Tat. Diese durch den Kampf geweckte, selbständig vordringende Tat verbannt hier durchaus den Gedanken einer natürlichen Entwicklung. So notwendig und fruchtbar dieser Begriff anderswo sein mag, bei der Frage der Wesensbildung verschleiert er die Aufgabe, unterdrückt er das eigne Beginnen, kann er ein Asyl der Trägheit (asylum inertiae) werden. Jene Idee der Wesensbildung erlangt aber eine Anschaulichkeit in folgender Weise. Es heißt, das Tun solle das Sein in sich aufnehmen und sich dadurch zum Wesen erhöhen. Das kann nur so geschehen, daß innerhalb der Tätigkeit eine Abstufung eintritt: es m u ß eine Scheidung zwischen einzelnen Betätigungen samt ihren Komplexen und einer den ganzen Umkreis des Lebens umfassenden, in sich selbst ruhenden Haupt- und Gesamttätigkeit erfolgen; dort eine Richtung über sich hinaus, hier eine Zurückbeziehung zu einer Einheit; dort eine Mannigfaltigkeit und ein unablässiger Wechsel, hier ein Beharren und Zusammenhalten; in dem allen eine Befestigu n g und Vertiefung der Tätigkeit bei sich selbst. Die Gesamttätigkeit dürfte nichts Fremdes an oder hinter sich dulden, sie müßte ihren ganzen Bestand in ursprünglichem Schaffen entfalten. Soweit dies gelingt, gewönne das Tun in sich selbst einen festen Grund und ein Sein, nun hätte der Grund die anfängliche Starrheit und Dunkelheit abgelegt, und das Sein, als von der Tätigkeit selbst getragen und durchleuchtet, würde erst recht unser eigen, erst in dieser Aneignung und Erschlossenheit verdiente es Wesen zu heißen. Mit diesem Probleme der Abstufung und Vertiefung der Tätigkeit, dem Problem der Wesensbildung durch Tätigkeit, entsteht ein Gegensatz für alle Lebensentfaltung; grundverschieden wird sie aus-

Neue Aussichten und A u f g a b e n

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fallen, je nachdem sie entweder ein solches Wesen hinter sich hat, sich darauf bezieht und dieses weiterführt, oder ohne einen solchen Rückhalt, ohne solchen beseelenden Grund bloße Kräfte aufbietet und sie in wechselnde Beziehungen bringt. Das ist der Gegensatz einer wesenhaften und wesenlosen, einer charakterhaften und charakterlosen Lebensführung. Nur dort, wo das Tun in sich selbst die Aufgabe der Aufgaben findet, erhält das Leben eine innere Bewegung und eine Tiefe, hier verknüpft sich alles in einer Fläche mechanisch; dort, wo das Tun auf einen lebendigen Grund zurückweist, kann es etwas ausdrücken und einen Sinn erlangen, hier hat die Frage nach einem Sinn keinen Sinn. Daß aber ein solcher Gegensatz das Leben der Individuen, Völker und Zeiten durchzieht, wer möchte und könnte es leugnen? Wie wären Begriffe wie Überzeugung, Gesinnung, Charakter u. s. w. denkbar ohne eine begründende Einheit innerhalb des Tuns, ohne eine umfassende Gesamttätigkeit? Daß wir nicht nur wirken, sondern in dem Wirken ein Sein erweisen und für das Sein etwas gewinnen können, das gibt allererst dem Begriff des Handelns eine präzise Bedeutung. Wird nunmehr klar, daß alle diese Größen, die wir leicht als bloße und selbstverständliche Formen nehmen, in Wahrheit einen eigentümlichen Inhalt fordern und bekennen, so erhellt, daß sie unserem Leben ein hohes Ideal vorhalten, und daß sie alle in die Idee der Wesensbildung einmünden. Wie viel an Erkennen und Wollen, Fühlen und Wirken kann andererseits aufkommen und den Menschen einnehmen, ohne daß ein Sein und eine Seele darin erscheint und durch sie etwas gewinnt, und wie leer und nichtig ist in aller Selbstbewußtheit solches Tun, solche bloße Kraftäußerung! Kurz ein Gegensatz ist sonnenklar, er bezeugt aber deutlich und gewiß, daß hier ein echtes Problem vorliegt und die Idee der Wesensbildung kein bloßes Phantom ist. Daß sie aber den Ausgangspunkt einer neuen Welt und eines neuen Lebens bedeutet, das bedarf einer näheren Darlegung.

b. Neue Aussichten und Aufgaben. Daß die wesenbildende Tätigkeit in Wahrheit ein neues Leben erschließt und in ihm unser Sein von der Zerrissenheit zur Einheit, von vager Unbestimmtheit zu einem Charakter führt, das wird am ehesten sichtbar in der Überwindung der schroffen Widersprüche, die sonst unser Leben zerreißen.

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D e r K a m p f um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

Unerträgliche Widersprüche im Grundbestände zeigt das bisherige Leben in dreifacher Richtung: sowohl über die Form der Tätigkeit, das Woher und Wie, als über die Kraft, das Womit und Wodurch, als über den Ort und die Hauptrichtung des Lebens waltet härtester Streit. — Die Form des Lebens zeigt den Gegensatz, daß wir einerseits als Stücke einer gegebenen Welt an die sinnliche Mitteilung der Dinge gebunden sind und damit allen Schranken einer solchen unterliegen, daß wir andererseits als Genossen eines freischwebenden Schaffens aus eigner Bewegung eine Welt erzeugen, die nichts duldet, was nicht aus dem Denken stammt und von ihm durchleuchtet wird. So in der Wissenschaft der ewige Streit des Empirismus und des Rationalismus, im Grunde nur ein Ausdruck eines größeren Gegensatzes, des Gegensatzes eines Lebens, das alles aus der Berührung mit der Umgebung schöpft, und eines anderen, das aus geistiger Tätigkeit eine neue Welt als die einzig wahre entwickelt. Das sind nicht bloß zwei Seiten, die sich zu Einem Leben zusammenfinden können, sondern zwei grundverschiedene Lebensprozesse, die einander ausschließen und die kaum miteinander fruchtbar zu streiten vermögen. Das wesenhafte Geistesleben strebt nach einer Überwindung dieses Gegensatzes. Zunächst muß es mit dem Rationalismus darauf bestehen, daß die geistige — nicht bloß die erkennende — Tätigkeit sich vom bloßen Dasein losreiße und sich fest bei sich selbst zusammenschließe. Ohne das keine Ausprägung einer selbständigen geistigen Art, kein innerer Zusammenhang des Denkens, kein Sinn des Lebens. Wenn der Empirismus durch allmähliche, möglichst langsame Anhäufung der Eindrücke dem Sinnlosen einen Sinn entlocken möchte, so wird dabei die Geistigkeit, die als Ergebnis vorschwebt, stets schon vorausgesetzt, und über der Beschäftigung mit dem Einzelnen die Umkehrung übersehen, die durch das Ganze erfolgt. Nur so scheint ohne den Geist die Erfahrung leisten zu können, was sie nur mit ihm vermag. Aber solche Erhebung über das bloße Dasein wird dem neuen Leben nicht zu einer Geringschätzung des Daseins mit seiner Erfahrung. Nachdem eine Substanz hinter der Gegebenheit anerkannt ist, gilt es sie zu erringen und mit dem eignen Leben zu verbinden. Das kann nicht von außen her, sondern nur durch Herstellung einer inneren Berührung geschehen, und sei es zunächst zu schroffem Zusammenstoß. Das Geistesleben muß das andere auf seinen Boden

Neue A u s s i c h t e n u n d A u f g a b e n

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ziehen; es kann dies nur, indem es in seine Ausbreitung, seine Lebensformen, seine Erfahrung eingeht. Es kann dem Äußeren ein Inneres, der Zerstreutheit einen Zusammenhang, dem Fluß der Zeit ein Ewiges abringen nur, wenn es sich in die Äußerlichkeit, Zerstreutheit, Zeitlichkeit versenkt, sich in sie versenken kann, ohne darüber seine eigne Art zu verlieren oder zu verdunkeln. Solche Aneignung, solches Aufsichnehmen des Fremden wirkt zunächst zur Steigerung der Spannung. Denn nun wird jenes zu einem inneren Widerstand, zur unerträglichen Hemmung und Lähmung der Geistigkeit bei sich selbst; aus dem Gegensatz der Welten wird ein Kampf um die Einheit des eignen Wesens, um die Erhaltung des Selbst. Solcher Kampf um Sein oder Nichtsein muß zur Entfaltung bringen, was immer in uns schlummert, er muß die letzte Tiefe bewegen und die höchste Kra'ft entfalten. In dem Kampfe aber, der sich entspinnt, liegt aller Erfolg daran, daß der Erfahrungsbestand zerlegt und daß ihm abgerungen wird, was er an Wesenhaftem enthält, während der Rest zur bloßen Umgebung herabsinkt; jenes hat eine innere Verbindung mit der Selbsttätigkeit einzugehen, dies aus dem Kern des Lebens auszuscheiden. In solchem Läuterungsprozeß wird die Erfahrung rationalisiert; aus dem, was bis dahin als ein Blindpositives gegenüberstand, erwächst eine Bewegung, Weiterbildung, Determination des geistigen Lebens, eine Fortführung innerer Bewegungen, die ohne solche Hülfe ins Stocken gerieten. So wirkt die Aufnahme der Erfahrung in den Geist zur Vernichtung der bloßen Erfahrung; es wird dabei nicht ein vorgefundener Inhalt aufgenommen, wie er ist, sondern alles Mitgeteilte wird auf einen anderen Boden versetzt, um dort eine Vergeistigung zu erfahren. Der Umbildung der Erfahrung entspricht eine Weiterbildung des Geistes, das Positive läßt sich nicht rationalisieren, ohne daß das Rationale positiv wird, die äußere Erfahrung nicht vernichten, ohne daß das Innere selbst einen Erfahrungscharakter erlangt und sich zur Konkretheit gestaltet. Diese Konkretheit läßt sich weder von außen mitteilen, noch aus Innerem und Äußerem zusammensetzen, sie entspringt allein der inneren Arbeit, die das Allgemeine der Tätigkeit mit der Besonderheit der Erfahrung zusammenbringt; die Positivität hat hier eine Bewegung des Geistes hinter sich und erhält daraus eine Durchleuchtung, einen Sinn, eine Vernunft; die Erfahrung ist hier nicht sowohl ein Wahrnehmen eines Vorhandenen als ein bei sich selbst Fortschreiten des Lebens.

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D e r K a m p f um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

Damit ergibt sich ein eigentümliches Grundverhältnis des Geisteslebens zur Welt, die ihm gegenüberliegt. Nur durch die Aufnahme dieser Welt, durch die Fortbildung mittels dieser Welt wird es von der anfänglichen Schattenhaftigkeit befreit, gewinnt es eine volle Wirklichkeit, wird es dieses konkrete, individuelle und unvergleichliche Sein. Denn nur als solches ist es eine volle und feste Wirklichkeit, nicht mit jenen Allgemeingrößen, in denen uns noch immer eine Nachwirkung griechischer Metaphysik das Wesen der Dinge suchen heißt. Diese individuelle Wirklichkeit kann gewiß nicht von außen zufallen, sondern die Arbeit des Geistes muß sie bei sich selbst erringen, aber sie erringt sie nur in Beziehung auf jenes zeiträumliche Dasein, nur in Freilegung und Aneignung der in ihm enthaltenen Substanz. Daher muß die menschliche Arbeit bei aller innern Erhebung über das Dasein immer wieder zu ihm zurückkehren. Auch was als klassisch aus dem Wandel der Zeiten hervorscheint und als Eröffnung ewiger Wahrheit und Schönheit verehrt wird, ist uns nicht aus jenseitiger Höhe in ruhiger und leichter Erschließung zugefallen, sondern es ist in engster Berührung und hartem Zusammenstoß mit der Zeit errungen, im Streben die Zeit von der bloßen Zeit zu befreien. Nur aus der Richtung auf das Hier und das Jetzt entzündete sich die Flamme des Schaffens, in diesem Erdreich mußten Liebe und Sorge feste Wurzeln schlagen, von hier aus strömte Kraft und Glut in das Handeln, um allen Widerstand zu brechen und alle Trägheit zu überwinden. Nur der fernstehende Beobachter konnte diese Kämpfe des Werdens, die Wehen der Geburt, geringachten und übersehen. Wie solche Überzeugung vieles verändert und viel Neues anregt, so ermöglicht sie es allererst, eine ursprüngliche Natur des Geistes zusammen mit einer geschichtlichen Bewegung des Lebens anzuerkennen. Ohne jenes, ohne das, was die Schulsprache a priori nennt, wäre das Geistesleben nicht mehr als ein Spielball wechselnder Eindrücke; ohne einen eignen Einsatz in die Bewegung mitzubringen, könnte es nie zur Selbständigkeit gelangen, nie eine kräftige Gegenwirkung gegen das Äußere üben. Es darf aber dieses Ursprüngliche nicht bloß eine Anzahl einzelner Anregungen, es muß ein Trieb und eine Bewegung zum Ganzen sein; es muß sich über das Erkennen hinaus auf alle Geistestätigkeit erstrecken; es darf nicht eine bloße Form, es muß einen Entwurf, einen Entwicklungskeim volltätigen

N e u e Aussichten und Aufgaben

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Lebens enthalten. Aber in dem allen ist es bei seiner Tatsächlichkeit zugleich ein Problem. Nicht nur ist der allgemeine Gedanke der Verworrenheit des Durchschnittslebens erst zu entwinden, er bedarf auch zu seiner vollen Wirklichkeit einer Weiterbildung zur Konkretheit, und zu dieser ist unentbehrlich die lange und mühsame Erfahrung der Arbeit. Das fördert den Aufbau der Erkenntnis kaum, daß wir ein Vermögen in uns entdecken, die Vorgänge kausal zu verbinden, die Eindrücke auf den festen Punkt einer Substanz zu beziehen, das Chaos der Erscheinungen in ein Reich allgemeiner Begriffe zu verwandeln. Denn es muß bloße Entwürfe für volle Wirklichkeit nehmen, wer nicht in jenem allen ungelöste Aufgaben erblickt, Forderungen, die sagen, was geschehen soll, nicht aber zeigen, wie es geschehen kann. Welche besondere Verbindung eine kausale Ordnung ergebe, wo sich der feste Punkt der Substanz finde, in welcher Richtung die Begriffsbildung das Allgemeine zu suchen habe, das ist erst zu ermitteln, und darum müht sich die Arbeit der Jahrtausende. Das a priori ist demnach so entfernt, eine geschichtliche Ansicht der Dinge aufzuheben, daß im Gegenteil nur da eine wirkliche Geschichte entsteht, wo ein a priori wirkt und sich durchzubilden strebt.

Der Überwindung des Gegensatzes in der Form entspricht eine solche in der treibenden Kraft des Lebens. Hier stehen seelisches Fürsichsein und geistiges Schaffen gegeneinander, jenes im engen Kreise abschließend, dieses sich zur Unendlichkeit eines Alls erweiternd, jenes allein um den eignen Zustand besorgt, dieses auf eine sachliche Wahrheit gerichtet. Wir sahen, daß das Geistesleben keine Selbständigkeit erlangte, ohne sich von dem engen, dumpfen, selbstischen Fürsichsein zu befreien, das alles in seine Besonderheit preßt und nach seinem Wohl und Wehe bemißt, damit aber das Leben in unerträglicher Weise verengt. Daß der Mensch dies erste Leben mit seinen Affekten hinter sich lassen, daß er über den Freuden und Sorgen geistigen Schaffens sein eignes Wohl und Wehe vergessen könne, das galt mit Recht als ein Zeugnis einer größeren und edleren Art, daran hing alles Streben zur Vergeistigung des Daseins. Gewiß mußte auch dies neue Leben mit seelischen Kräften arbeiten, aber sie waren hier in den Dienst des andern gezogen; je mehr das Seelenleben des Subjekts ein bloßes Mittel und Werkzeug der geist-

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D e r K a m p f um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

igen Bewegung geworden war, desto besser schien es seine Aufgabe zu erfüllen, desto höher dünkte der Stand des Ganzen. Mit jener Unterordnung des Seelenlebens wurde ein Leben ohne Liebe und Haß, lediglich aus der Wahrheit und der Notwendigkeit der Dinge zum höchsten Ideal. So z. B. in der Gedankenwelt eines Spinoza. Gewiß hat diese Befreiung ein gutes Recht; ob aber das geistige Schaffen sich allein auf sich selbst stellen und jenes andere ganz zurückschieben kann, ohne selbst schweren Schaden zu nehmen, das ist eine andere Frage. Die Systeme, welche aus dem Menschen ein bloßes Gefäß der geistigen Produktion machen, müssen mit dem Kleinmenschlichen zugleich auch anderes verwerfen, daß sich nicht so leicht aufgeben läßt; Größen wie Gesinnung, Überzeugung, Freiheit, Charakter, Moral finden hier keinen Platz; sie mögen sich auf Umwegen einschleichen, eine volle Anerkennung und eine kräftige Entwicklung können sie nie erlangen. Ein solcher Verzicht aber verrät einen Mangel im eignen Kern der Systeme: jene ausschließliche Hingebung an die geistige Produktion nimmt ihnen eine zentrale Innerlichkeit und zugleich eine durchdringende und zusammenhaltende Beseelung. Ohne sich in dieser Richtung heimlich zu ergänzen, würden sie bald zu toten Mechanismen herabsinken und den Menschen in ein bloßes Rad einer seelenlosen Kulturmaschine verwandeln. So scheint in jenem Fürsichsein mehr zu stecken und ein tieferer Gehalt zu wirken, der nicht zu verwerfen, sondern zu gewinnen ist; zur Aufgabe wird damit eine Scheidung von Niederem und Höherem, die Befreiung einer Grundkraft von der Stufe der Natur und Gegebenheit, die sie zunächst bei sich festhält. Dies aber ist es, was das wesenhafte Geistesleben unternimmt; in der zusammenhaltenden zurückbeziehenden, beseelenden Tätigkeit, die es entwickelt, wird ein Fürsichsein angeeignet, aber zur Stufe der Geistigkeit erhoben und damit völlig verwandelt; hier liegt das Wesen nicht außerhalb, sondern innerhalb der Tätigkeit, so muß es zur Befestigung, Vertiefung, Beseelung des Lebensprozesses wirken. Solche Scheidung zwischen einer unverwerflichen Grundkraft im Seelenleben und ihrer ersten Entfaltung bei uns ergibt eine eigentümliche Überzeugung von den Zielen und Aufgaben des Lebens. Nun wird es zu einem gefährlichen Irrtum, das Selbstleben mit seinen Affekten deswegen herabzusetzen und möglichst zu unterdrücken, weil die nächstvorliegende Form mit der geistigen Entwicklung in Widerspruch gerät; denn die Sache erschöpft sich nicht

Neue Aussichten und Aufgaben

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mit dieser Stufe und Form. Das zeige ein einfaches Beispiel. Die Liebe ist zunächst ein natürlicher Affekt, welcher der bloßen Selbsterhaltung dient und gewöhnlich nur das ergreift, was uns äußerlich nahesteht und durch die Notwendigkeit des Lebens verknüpft ist; als solche kann sie den kleinen Kreis nicht näher zusammenschließen, ohne alles andere auszuschließen; sie verengt das Leben, indem §ie es erwärmt; sie wird mit ihrer Tendenz, das Eigne über das Fremde und die subjektive Empfindung über das Gesetz der Sache zu stellen, zu einer schweren Gefahr für die Wahrheit. Aber ist das alle und jede Liebe? Ist nicht eine Liebe möglich, welche den Menschen von der dunklen Gewalt des natürlichen Ich befreit und ihn durch die Zerstörung hindurch ein weiteres, reineres, echteres Selbst gewinnen läßt, eine Liebe, die neue Zusammenhänge schafft und die natürlichen Empfindungen überwindet, die den Menschen in die tiefsten Nöte des Lebens verwickelt und ihn zugleich über Welt und Tod hinaushebt? Eine solche Liebe ist keine Feindin der Wahrheit, vielmehr können sich Wahrheiten, welche dem Leben einen Sinn und einen Wert verleihen, nicht wohl erschließen ohne eine wesenhafte Gemeinschaft mit Menschen und Dingen, wie nur die Liebe sie herstellt. Und wie der Schlüssel zur Wahrheit, so liegt hier auch die Triebkraft des Lebens. Ein Leben ohne Liebe und Haß wäre ein Leben ohne Seele, ein Schattenspiel, ein Zerrbild echten Lebens. So verwerfen wir jene Weisheit als greisenhaft, welche die Affekte unterdrücken möchte, statt ihre Kraft zu gewinnen und für die Zwecke des Geistes zu nutzen, welche die Natur wegwirft, statt ihr einen unentbehrlichen Kern zu entwinden. Was aber von den Affekten, das gilt auch von den Werten des Lebens. Die Sehnsucht nach Befreiung von aller kleinmenschlichen Art hat sie oft als bloße Erzeugnisse unserer Subjektivität angreifen lassen. In Wahrheit sind die Werte allem seelischen Leben so eng verwachsen, daß sie austreiben jenes selbst vernichten hieße. Aber nach den Stufen des Lebens gibt es Werte niederer und höherer Art, und das Eindringen der niederen in die geistige Arbeit ergibt allerdings viel Verwirrung und Verzerrung. Wollen wir nicht lieber solche Irrung bekämpfen als das Ganze verwerfen, nicht dem geistigen Gebiet seine eignen Werte zuerkennen und ihre Entwicklung fördern? Gerade das Ganze der Wesensbildung mit seiner Begründung des Seins in der Tätigkeit macht begreiflich, wie sich Sein und Wert untrennbar zu verbinden vermögen, wie das — nicht H u c k e n , Kampf.

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leere, sondern inhaltlich erfüllte — Sein zum Gut der Güter zu werden vermag. Daß alle Lebensbewegung schließlich durch die Idee des Guten — natürlich nicht im bloßmoralischen Sinn — beherrscht werde, das ist nicht eine Sondermeinung Piatons, sondern ein Ausdruck allgemeiner und unangreifbarer Wahrheit, die immer wieder alle Verdunklungen überwinden wird. Mit ganzer Kraft begehren können wir nur, was unser echtes Selbst angeht und fördert, und dies eben nennen wir gut; auch die Wahrheit kann nur als ein Gut unser Streben bewegen. In diesen Zusammenhängen wird es verkehrt, dem Menschen einen Verzicht auf Glück zuzumuten und wohl gar darin den Gipfel edler Gesinnung zu finden. Ja, wenn es kein anderes Glück gäbe als das des naturhaften Selbst, des kleinen Ich! Aber das behaupten, heißt das Geistesleben zu einer bloßen Nebensache machen und es vom Kern unseres Wesens ablösen. Denn was solchem Kern angehört, dessen Gelingen oder Mißlingen muß uns glücklich oder unglücklich machen, mit dem müssen wir lieben und leiden, d a s ' können und dürfen wir nicht als gleichgültig von uns weisen. Ein Verzicht würde hier nicht sowohl Größe als Mattheit bekunden. Die Philosophie im besondern ist keine geistige Askese, kein Mittel, das Leben blutleer und schattenhaft zu machen, sondern ein Weg zu seiner Verstärkung und Vertiefung; sie hat das Glücksverlangen dem Menschen nicht auszureden, sondern es auf die rechten Bahnen zu leiten. An Kampf und Entsagung wird es schwerlich dabei fehlen. Aber auch in ihnen ist die treibende Kraft schließlich positiver Art, und der tiefste Zug des Strebens geht immer auf eine Bejahung, nicht eine Verneinung des Seins. Daß dies Verlangen einer Positivität der Lebensführung als eine Empfehlung wilden Lebensdranges oder auch philiströsen Behagens verstanden werde, das ist in diesen Zusammenhängen nicht zu befürchten. Denn wo das Geistesleben seine eigne Tiefe nicht erreichen kann, ohne in das Fremde einzugehen und sich mit ihm auseinanderzusetzen, da trägt die Arbeit in sich einen Widerstand, der ein ruhiges Verweilen wie ein bequemes Ansteigen zwingend verbietet. Alles Aneignen erfolgt hier durch ein Verwerfen und alles Bejahen durch ein Verneinen hindurch; wir können nicht suchen ohne zu fliehen, nicht lieben ohne zu hassen. Mit solcher Gegensätzlichkeit wird unserem Leben ein negativer Zug tief eingepflanzt und ihm alle satte und selbstische Befriedigung gründlich verleidet.

N e u e Aussichten und A u f g a b e n

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Die bisher behandelten Gegensätze führen zu einem weiteren und abschließenden Problem: dem Problem des Ortes und der Hauptrichtung des Lebens. Auch hier nämlich zeigt die Gestaltung der Arbeit wie die Bewegung der Geschichte einen völligen Gegensatz. W o wir alles von der bloßen Erfahrung erwarten und nicht nur die Dinge, sondern auch uns selbst als etwas Äußeres behandeln, wo ferner das unmittelbare Seelenleben unser ganzes Sein bildet, da wird zur Hauptstätte des Lebens das menschliche Zusammensein, wie es in Zeit und Raum vorliegt, da entsteht eine Lebensführung gesellschaftlicher Art. W o wir hingegen glauben, aus freischwebender Tätigkeit unsere Wirklichkeit erzeugen und mit solchem Schaffen unser ganzes Wesen erschöpfen zu können, da wird das Streben zum All, vornehmlich in Wissenschaft und Kunst, zur Hauptsache, da fühlen wir uns vor allem als Weltwesen und erstreben eine Lebensführung kosmischer Art. So streiten um den Menschen Gesellschaft und All. Damit entstehen grundverschiedene Typen, deren Gegensätzlichkeit sich nur deswegen verbirgt, weil das Durchschnittsleben sich einen charakterlosen Kompromiß zwischen beiden gefallen läßt — Die soziale Lebensführung beschäftigt sich vor allem mit der Bildung von Lebensgemeinschaften und findet in dem Wohlbefinden der Gesellschaft das höchste Ziel; die Verhältnisse und Bedürfnisse der Gesellschaft stellen dem Handeln seine Aufgaben und weisen ihm seine Wege; wie alle Ethik hier aus dem Zusammenleben erwachsen soll, so ist sie nichts anderes als das Wirken für andere Menschen, »Altruismus" und Moral bedeuten dasselbe. Die Arbeit an den Weltproblemen ist hier weniger ein Selbstzweck als ein Mittel zur Verbesserung jener gesellschaftlichen Lage. In der kosmischen Lebensführung hingegen ist es der Aufbau einer Geisteswelt, das Ergreifen und Fördern der Weltprobleme, das allererst dem menschlichen Leben einen Wert verleiht und einen Trieb zu geistiger Arbeit einpflanzt. Hier gilt es ein Weitwerden des Wesens ins Unermeßliche unter Abstreifen der menschlichen Kleinheit; zum Kern der Ethik wird das volle und lautere Aufgehen des Menschen in das geistige Schaffen, die selbstlose Hingebung an die Sache. Hier wurzelt alle Verbindung in den Zusammenhängen geistiger Arbeit; das soziale Zusammensein hat nur Wert als Bedingung und Mittel des Schaffens, davon abgelöst scheint es niedrig und klein. Dort eine sensualistische, hier eine abstrakte Kultur; dort ein demökra5*

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tischer Zug zur breiten Masse, hier ein aristokratischer zu großen Individuen; dort der Mensch an die menschliche Umgebung und die äußere Lage, hier an das geistige Vermögen und das innere Schicksal gekettet. Die Geschichte zeigt die Menschheit zwischen beiden Lebensführungen hin- und hergeworfen, sie zeigt sie bald von hier, bald von dort angezogen, bald mehr auf eine schärfere Scheidung, bald auf eine engere Verbindung beider bedacht. Zu vollem Bewußtsein kam das Problem mit der Losreißung der geistigen Arbeit von der bloßsozialen Sphäre, wie sie die Höhe des klassischen Altertums, in der Philosophie die sokratische Schule vollzog. Seitdem ist die Sache nicht wieder zur Ruhe gekommen. Die inneren und äußeren Schranken unseres weltbauenden Vermögens trieben immer wieder zum sozialen Leben als zur sicheren Heimat des Menschen zurück, die Enge und Flachheit der bloßmenschlichen Sphäre hießen immer wieder das Streben zum All zurückkehren und das Weltproblem aufnehmen. Wenn heute die soziale Richtung alles Denken und Sinnen beherrscht, so zeigt sie auch ihre Mängel mit besonderer Stärke. An Versuchen der Oberwindung des Gegensatzes hat es nicht gefehlt, namentlich bildet eine großartige Leistung das kirchliche Lebenssystem des Mittelalters, wie es einerseits die Organisation der menschlichen Gesellschaft an Weltzusammenhänge band, andererseits das All in dieser Organisation gipfeln ließ. Wenn dies System den tiefsten Bedürfnissen der Menschheit nicht genügte und daher schließlich hinter der geschichtlichen Bewegung zurückblieb, so lag die Schuld nicht zum geringsten Teil daran, daß hier die Verbindung zu unmittelbar hergestellt wurde, daß mehr eine Weltanschauung und eine soziale Ordnung aneinander gelegt und ineinander geschoben wurden, als daß ein umfassendes und überlegenes Prinzip vor der Ausgleichung eine Umbildung jedes einzelnen vollzogen hätte. In Wahrheit können beide Lebensführungen nur zusammengehen, wenn sie sich in Seiten und Äußerungen eines ursprünglicheren Lebensprozesses verwandeln, und sie darin umzusetzen gestattet in der Tat das selbsttätige Geistesleben mit seiner Wesensbildung. Hier verdankt der Mensch die Vergeistigung seines Daseins letzthin nicht dem Zusammensein mit den Nebenmenschen, aber auch nicht dem Vermögen einer freischwebenden Tätigkeit, sondern der inneren Zugehörigkeit zu einem Selbstleben des Geistes. Die hier wirksame wesenhafte Innerlichkeit bildet die Hauptstätte seines Lebens, hier weiter zu kommen

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und im Miterleben des unendlichen Ganzen zugleich eine Unvergleichlichkeit eigner Art zu erkämpfen die Hauptaufgabe. Diese Aufgabe ist aber nur mit Hülfe sowohl der Gesellschaft als auch der Weltarbeit lösbar. Der Mensch muß sich vom Menschen losreißen und in ein freischwebendes Schaffen versetzen, um zur nötigen Weite und Ursprünglichkeit des Lebens vorzudringen; aber er würde sich damit ins Leere verlieren, wollte er nicht zum Menschen zurückkehren und das Geistesleben durch die inneren Erfahrungen weiterbilden, die sein besonderer Kreis eröffnet. Jene Lebensführungen bilden die Existenz, nicht aber die Substanz der Geistigkeit; an ihnen und durch sie, nicht aber aus ihnen entwickelt sich eine Substanz des Geistes; nur weil sie eine ursprüngliche Tiefe hinter sich haben, können sie für die Vergeistigung des Daseins leisten, was sie leisten, kann im Menschen mehr gesehen werden als der bloße Mensch, kann die Weltarbeit zur Entfaltung eignen Wesens werden. Mit der Zurückbeziehung auf jenes andere müssen sie sich aber auch die Prüfung, Sichtung, innere Umwandlung gefallen lassen, welche diese neue Stellung mit sich bringt; immer weisen sie über sich selbst hinaus, immer müssen sie sich einem ursprünglicheren Zusammenhange einfügen. Lösen sie dieses Band und wollen — jede für sich — das Letzte und Ganze sein, so werden sie aus einer Existenz des wesenhaften Geisteslebens zu bloß phänomenalen Gebilden und verfallen damit einer Entseelung. Hier wie auch zuvor wird klar, daß die Überwindung der Gegensätze, ja die Arbeit an solcher Überwindung eine Umkehrung des Lebens, die Ausbildung einer eignen wesenhaften Unmittelbarkeit gegenüber den phänomenalen Unmittelbarkeiten des sinnlichen Eindrucks und der freischwebenden Tätigkeit fordert. Jene wesenhafte Geistigkeit darf nicht etwas mühsam Erschlossenes und Herangeholtes, dem andern als bloßer Hintergrund Dienendes sein, sondern sie muß die erste und ursprüngliche Lebensquelle werden, die Kraft, die alles übrige trägt und treibt, der feste Punkt, woran sich alles andere hält. Dazu gehört an erster Stelle, daß ein Allleben wesenhafter Geistigkeit in uns unmittelbar durchbricht, daß es gegenüber allen Schranken und Gefahren unserer Sondernatur sein Wesen unverfälscht bei uns aufrecht erhält Ohne diese axiomatische Tatsache gibt es keine Wahrheit und keine Vernunft unseres Lebens. Aber die sichere Tatsache ist zugleich ein schweres Problem; jener tiefere Grund, der von Haus aus in uns wirkt ist immer erst durch

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freie Tat anzueignen, weiter zu entwickeln, gegen das andere durchzusetzen. Dazu gehört eine Umkehrung der nächsten Lebensführung, die ihre Unmittelbarkeit als die letzte gibt und, bedingt wie sie ist, als unbedingt auftritt. Von ihr aus erscheint das wahrhaft Ursprüngliche und Unmittelbare als etwas Jenseitiges und Unfaßbares, von ihr aus läßt es sich immer bezweifeln. Bei solcher Spannung ist dem Menschen sein eignes Leben ein unablässiges Problem, eine Sache harten und heißen Kampfes, immer neuen Entscheidens und Ergreifens. Was immer uns an Zweifeln packt und bewegt, Zweifel an der Welt und an Gott, an den Menschen und am Leben, es führt schließlich auf diesen Punkt zurück, auf den Zweifel an uns selbst, den Zweifel an der Geistigkeit unserer eignen Natur, an der Gegenwart eines wesenhaften Geisteslebens in unserem Kreise. Hier ist die größte Aufregung, hier aber auch die Möglichkeit, alle Kraft in Eins zusammenzufassen. Wird in solchem Kampf des Menschen um sein eignes Sein eine Gewißheit erreicht, so läßt sich das Übrige ruhig erwarten und getrost der Verwicklung der Weltprobleme entgegensehen. 2. Die Entwicklung des Charakters. Die wesenhafte Geistigkeit könnte nicht so zwingend über die Gegensätze des Lebens hinaustreiben, ohne eine selbständige Art zu besitzen; ob sie sich damit aber zu einem Lebensganzen zu gestalten, dieses durchzusetzen und uns nach Weite und Tiefe darin aufzunehmen vermag, das bleibt zu untersuchen, und damit erst würde über jenen Anspruch entschieden. Die Behandlung dieser Frage aber wird durch die Verworrenheit des unmittelbaren Lebensbefundes gehemmt, in welchem Höheres und Niederes, Eignes und Fremdes, Schaffen und Aneignen, Wirkung und Gegenwirkung einander durchkreuzen; die Sache wird erst angreifbar, wenn wir bei uns selbst zwischen geistiger Produktion und dem Verhalten des empirischen Menschen zu ihr eine Scheidung vollziehen. Die Art, wie sich der nächste Befund unseres Daseins zu der in uns aufgehenden Geisteswelt stellt, enthält besondere Aufgaben, eigentümliche Erfahrungen und Verwicklungen, die für sich betrachtet sein wollen. Das zerlegt unsere Untersuchung in zwei Hauptabschnitte. — Jene Heraushebung des Geisteslebens kann nicht erfolgen ohne eine Entfernung vom unmittelbaren Eindruck. Aber was von Geistigkeit erkannt ist,

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freie Tat anzueignen, weiter zu entwickeln, gegen das andere durchzusetzen. Dazu gehört eine Umkehrung der nächsten Lebensführung, die ihre Unmittelbarkeit als die letzte gibt und, bedingt wie sie ist, als unbedingt auftritt. Von ihr aus erscheint das wahrhaft Ursprüngliche und Unmittelbare als etwas Jenseitiges und Unfaßbares, von ihr aus läßt es sich immer bezweifeln. Bei solcher Spannung ist dem Menschen sein eignes Leben ein unablässiges Problem, eine Sache harten und heißen Kampfes, immer neuen Entscheidens und Ergreifens. Was immer uns an Zweifeln packt und bewegt, Zweifel an der Welt und an Gott, an den Menschen und am Leben, es führt schließlich auf diesen Punkt zurück, auf den Zweifel an uns selbst, den Zweifel an der Geistigkeit unserer eignen Natur, an der Gegenwart eines wesenhaften Geisteslebens in unserem Kreise. Hier ist die größte Aufregung, hier aber auch die Möglichkeit, alle Kraft in Eins zusammenzufassen. Wird in solchem Kampf des Menschen um sein eignes Sein eine Gewißheit erreicht, so läßt sich das Übrige ruhig erwarten und getrost der Verwicklung der Weltprobleme entgegensehen. 2. Die Entwicklung des Charakters. Die wesenhafte Geistigkeit könnte nicht so zwingend über die Gegensätze des Lebens hinaustreiben, ohne eine selbständige Art zu besitzen; ob sie sich damit aber zu einem Lebensganzen zu gestalten, dieses durchzusetzen und uns nach Weite und Tiefe darin aufzunehmen vermag, das bleibt zu untersuchen, und damit erst würde über jenen Anspruch entschieden. Die Behandlung dieser Frage aber wird durch die Verworrenheit des unmittelbaren Lebensbefundes gehemmt, in welchem Höheres und Niederes, Eignes und Fremdes, Schaffen und Aneignen, Wirkung und Gegenwirkung einander durchkreuzen; die Sache wird erst angreifbar, wenn wir bei uns selbst zwischen geistiger Produktion und dem Verhalten des empirischen Menschen zu ihr eine Scheidung vollziehen. Die Art, wie sich der nächste Befund unseres Daseins zu der in uns aufgehenden Geisteswelt stellt, enthält besondere Aufgaben, eigentümliche Erfahrungen und Verwicklungen, die für sich betrachtet sein wollen. Das zerlegt unsere Untersuchung in zwei Hauptabschnitte. — Jene Heraushebung des Geisteslebens kann nicht erfolgen ohne eine Entfernung vom unmittelbaren Eindruck. Aber was von Geistigkeit erkannt ist,

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das braucht deshalb nicht auf eine fortlaufende Bestätigung durch die Erfahrung zu verzichten. Sie vermag eine solche in doppelter Richtung zu finden: einerseits durch ein Aneignen, Aufhellen, Zusammenfassen vorhandener Daten, andererseits durch die Eröffnung neuer Aufgaben und die Weckung neuer Kräfte. Es gilt, sowohl den bisher eröffneten Tatbestand zu gewinnen, als den Lebensprozeß über ihn hinaus zu steigern, sowohl in den Dingen mehr zu sehen, als an ihnen mehr zu bewegen. Das alles gemäß der Hauptüberzeugung unserer Untersuchung, daß uns nicht eine fertige Welt von draußen her zufällt, sondern daß wir von innen her einer Ordnung der Dinge angehören, die selbst erst im Werden begriffen ist, und zu deren Vollendung es unserer eignen Arbeit bedarf. — Es seien aber zunächst einzelne Hauptpunkte betrachtet, an denen sich eine Umwandlung der überkommenen Lage vollzieht, sodann als die Hauptsache des Ganzen ein Gesamtbild entworfen, endlich die wichtigsten Konsequenzen für das individuelle Leben wie die Kulturarbeit entwickelt.

a. Einzelne Hauptpunkte. Das neue Prinzip erweist seine Eigentümlichkeit am deutlichsten in wesentlichen Veränderungen, die es an dem überkommenen Bestände vollzieht. Diese also seien hier verfolgt, und zwar in der Richtung von der Form zum Gehalt. 1. Das Prinzip der Wesensbildung wird durch sein Bestehen auf voller Selbsttätigkeit zu einem unerbittlichen Kampf gegen alle Gebundenheit des Seins getrieben; seine Absicht, das Sein allein aus der Tätigkeit, und zwar einer erst aufzubringenden Tätigkeit, zu gewinnen, kann es nicht ausführen, ohne mit dem vorgefundenen Stande aufs härteste zusammenzustoßen. Denn hier scheint vor aller Tätigkeit ein Sein gegeben, feste Zusammenhänge umfangen uns, und unser Tun erhält sowohl seinen Ausgangspunkt als sein Ziel wie vom Schicksal zugewiesen. Irgendwelche Freiheit, Selbständigkeit, Ursprünglichkeit kann hier nur möglich dünken im Widerspruch mit dem Gefüge des Ganzen, wie ihn nur eine laxe und verschwommene Denkweise erträgt. Demgegenüber entfaltet sich jetzt ein energisches kritisches Wirken, das von der Tätigkeit ausgeht und nach der Tätigkeit mißt. Jenem Sein wird jetzt seine Grundlage entzogen, jene

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Zusammenhänge müssen sich auflösen, die vermeintlichen Anfangsund Endpunkte erscheinen nun nicht mehr als unverrückbare, schicksalgegebene Marksteine, sondern als die Grenzen, welche die Tätigkeit selbst sich setzte, vielleicht nur weil sie an dieser Stelle ermattete. Überall erhellt, wie viel Tätigkeit enthält, was aller Tätigkeit voranzugehen schien. Aber es war eine verschleierte, gebundene, zerstückelte, vor ihren eignen Erzeugnissen sich beugende Tätigkeit, und die genügt jetzt nicht mehr. Tritt mit dem Prinzip der Wesensbildung die Selbsttätigkeit als Ganzes, Autonomes, Alleinherrschendes in Wirkung, so heißt es alles Fremde auszuscheiden, das Eigne aber kräftiger zusammenzuschließen, so müssen alle Ziele und Richtungen aus der Tätigkeit selbst entspringen, alle Festigkeit ihr entstammen, in Ausführung dessen die Welt sich bis zum Grunde erneuern. Das Geistesleben wird dann nicht mehr darin seine Hauptaufgabe sehen, in einer vorhandenen Welt oder einem vorhandenen Lebensstande dieses oder jenes zu verschieben und zu verbessern, sie in dieser oder jener Richtung weiterzuführen, sondern zum Problem wird das Ganze; es handelt sich nicht um eine Verbesserung einer gegebenen Welt, sondern um das Ganze einer besseren Welt, um die allein wahrhaftige und wesenhafte Welt Diese Begründung der Welt auf reine Tätigkeit fordert eine Erweiterung des Begriffs der Tätigkeit und eine Abstufung in ihr. Bis dahin galt das Gesamtgefüge der Welt, die Absteckung des Daseinsraumes, die Ausdehnung und Begrenzung des Lebensprozesses als eine Tatsache axiomatischer Art; vor der Handlung war ihr Hintergrund und ihre Atmosphäre gegeben. Das wird mit der Wendung zur Wesensbildung hinfällig, jene Voraussetzungen verwandeln sich ihr in schwere Probleme, in ein großes Gesamtproblem. Nunmehr muß die Arbeit zwischen Grundlegung und Ausführung, .zwischen prinzipieller und spezieller, zwischen transzendentaler und empirischer Aufgabe scheiden. Die. Geschichte hat diese Aufgabe in Wahrheit vollzogen; nichts trennt mehr die ältere, klassische, von der modernen Art, als daß dort das Wirken seine Welt als «ine gegebene Ordnung und ein unabweisbares Schicksal hinnimmt, während hier die Grundlagen und Zusammenhänge selbst erst erstritten sein wollen, und die Arbeit lieber in die tiefsten Abgründe des Zweifels hinabsteigt, als fremder Anweisung folgt Diese Wandlung erstreckt sich über das Denken hinaus auf das Ganze des Lebens, im besondern auch auf das Handeln. Ebenso notwendig

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wie jenem eine begründende Prinzipienlehre - mag sie Erkenntnislehre oder Metaphysik heißen - , ist dem Handeln eine ursprüngliche Erzeugung von Ideen, ein Gesamtsystem der Werte und Zwecke. Mit dieser neuen Aufgabe erhält die Arbeit eine neue Gestalt. Denn wenn sie nicht mehr sofort auf das Einzelne geht, sondern zunächst mit dem Ganzen zu tun hat, so gewinnt freies Entwerfen und kühnes Wagen einen weiteren Raum; ohne Phantasie und Spekulation ist hier nicht weiter zu kommen, nur in energischer Zusammenfassung der Kräfte läßt sich ein Plan des Ganzen entwerfen. Es besagt aber jene Scheidung nicht, daß die eine Aufgabe erst völlig zu erledigen wäre, ehe sich die andere angreifen ließe, vielmehr steht für unser erst im Werden befindliches Geistesleben beides in unablässiger Wechselwirkung. Gerade dieses, daß an jeder einzelnen Stelle auch das Recht des Ganzen wieder in Frage kommt, daß das Ganze sich immer von neuem zu bestätigen und zu bewähren hat, das eröffnet erst eine echte Erfahrung und gibt dem Leben des Menschen und der Menschheit eine wahrhaftige Geschichte. Denn das wäre keine rechte Geschichte, die bloß eine Anwendung und Ausführung unbestreitbarer Wahrheiten enthielte, die nicht auch immerfort um das Ganze kämpfte, nicht auch in dem Ganzen weiterstrebte. Wenn die Antike die Geschichte nicht recht zu schätzen und auch dem Leben des Individuums keine innere Geschichte zu geben wußte, so lag das mit an dem Schlummern jenes transzendentalen Problems. Wie aber hier, so ergibt auch weiter jene Scheidung fundamentale Umwandlungen in der Struktur und in dem Gehalt des Lebensprozesses. Die volle Begründung des Lebens auf Tätigkeit und die Ausdehnung dieser Tätigkeit auf die Grundlagen und Bedingungen des Daseins zieht eine tiefe Kluft zwischen dem, was aus dem Ganzen ursprünglicher Selbsttätigkeit hervorgeht und hier seinen Platz hat, und dem anderen, was noch unergriffen draußen liegt, was ihm fremd und starr gegenübersteht Jenes allein kann hier als berechtigt und vernünftig gelten, während diesem nur ein bloßer und blinder Tatbestand zukommt So tritt das Problem des Rechts in den Vordergrund. Schwerlich ist es ein Zufall, daß derselbe Kant, dem die Wendung zu einer kritischen und transzendentalen Behandlung der Lebensprobleme weitaus das Meiste verdankt, sein Unternehmen der Vernunftkritik unablässig durch das Bild des Rechtsstreits

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erläutert, ja daß er gern seine ganze Arbeit als die Herstellung eines sicheren Rechtsstandes faßt. Denn es bedeutet hier das Verlangen des Rechts nichts anderes als ein Bestehen auf Begründung aus ursprünglicher Geistestätigkeit. Die Durchführung jenes Verlangens aber und seine Ausdehnung auf das Ganze der Arbeit mit all ihrer Gliederung ist wieder ein charakteristischer Hauptzug der Neuzeit. Mit dem scharfen Auseinanderhalten dessen was geschieht, und dessen, was geschehen soll, verbindet sich hier ein energisches Drängen nach Überwindung dieses Widerspruches, nicht durch eine Anpassung des Rechtes, sondern durch eine Unterwerfung des Tatbestandes. So ein gewaltiger Antrieb zur Umwandlung und Erneuerung, von der felsenfesten Überzeugung getragen, daß das innerlich Notwendige sich schließlich auch nach außen zur Geltung bringen und die ganze Welt einnehmen werde; so die umwälzende Macht der Ideen, ein Flüssigwerden alles Bestehenden. Ohne einen solchen Grundtrieb besäße auch die soziale Bewegung der Gegenwart schwerlich die Gewalt, die sie besitzt. Endlich erklärt sich erst in diesem Zusammenhange eine weltgeschichtliche Tatsache, die wir schon früher feststellten: die Wendung unseres Daseins zur Unsinnlichkeit, die Umsetzung aller Größen in Gedankengrößen, in ideelle Mächte, worin ebenfalls die Neuzeit einen neuen Abschnitt beginnt. Ohne eine Zusammenfassung der Tätigkeit zu einem selbständigen Ganzen und ohne Ausbildung eines Transzendentalcharakters hätte jene nicht aufkommen und sich durchsetzen können. Denn solange die Tätigkeit sich zerstreut und an vorgefundene Dinge bindet, bleibt alle Geistigkeit vom sinnlichen Eindruck abhängig; aller Fortschritt innerhalb dieser Lage kann nur ein anderes Verhältnis der Mischung von Sinnlichem und Unsinnlichem, nicht aber eine Befreiung vom Sinnlichen und die Eröffnung eines Reichs ideeller Größen ergeben. Wird hingegen die Grundlage selbst, der Lebensraum u.s. w., in die Tätigkeit hineingezogen, und wird zugleich anerkannt, daß bei echter geistiger Arbeit in jeder besonderen Leistung eine allgemeine steckt, ja ihr ideell vorangeht, so verliert das nächste Dasein seine Gewißheit und Handfestigkeit, das Sinnliche muß die erste Stelle mit der zweiten vertauschen und sich bescheiden, ein Ausdruck, eine Verkörperung, ja eine Erscheinung einer unsichtbaren Ordnung zu sein. Diese Bewegung erstreckt sich in alle einzelnen Gebiete, und es haben die Kulturvölker der Neuzeit die gemeinsame Aufgabe an

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verschiedenen Punkten angegriffen. In der Philosophie bildet es einen unvergänglichen Ruhmestitel deutscher Art, das Problem mit ganzer Kraft erfaßt und die Denkarbeit allererst zu voller Selbständigkeit geführt zu haben. Solche Wandlungen im innersten Gefüge des Lebens lassen sich zeitweilig verdunkeln und verleugnen, nun und nimmer aber zurücknehmen und außer Wirkung setzen, soweit irgendwelcher historische Zusammenhang reicht. — Auch kann nach solcher Weckung des Lebens darüber kein Zweifel sein, daß wer jenes transzendentale Problem ablehnt, damit keineswegs alle eigne Behauptung unterläßt und sich auf den Boden reiner Tatsächlichkeit stellt. Nur ist seine Behauptung ungeprüft, zerstückelt und durch den ungeklärten Gesamteindruck der Dinge bestimmt; sie glaubt das Problem gelöst, weil sie es nicht fühlt. Solcher Dogmatismus ergibt nicht bloß eine falsche Ansicht vom Leben, er drückt dieses selbst herab. Die Realität des neuen Lebens aus der Selbsttätigkeit des Geistes wurde durch das Ganze der geschichtlichen Bewegung bestätigt, nun und nimmer könnte ein bloß subjektives Meinen und eingebildetes Verlangen so viel Neues einleiten, so schwere Erschütterungen bewirken, so sehr den Gesamtstand des Lebens verändern. Einen Zusammenhang aber gibt der Mannigfaltigkeit erst das Prinzip der Wesensbildung, erst mit ihr gewinnt die geschichtliche Bewegung einen festen Grund und eine innere Einheit. Aber zugleich treibt die Erhebung ins Prinzip über alle besondere geschichtliche Gestaltung hinaus. Jede Behandlung aus einer besondern geschichtlichen Lage hat ihre Zufälligkeit und ihre Schranken; immer von neuem wird demgegenüber die Arbeit aufzunehmen, die Scheidung zwischen Eignem und Fremdem zu verschärfen, das Eigne fester zu einem Ganzen zusammenzuschließen, der Bewegung die Richtung auf das Wesen zu geben sein. Ferner läßt der unmittelbare Eindruck im Fortgang der Geschichte weit mehr die Verneinung als die Bejahung empfinden. Wir sehen die überkommenen Zusammenhänge sich auflösen, das scheinbare Feste flüssig werden, die Anschaulichkeit des unmittelbaren Eindruckes verblassen. Aber lange nicht so deutlich sehen wir den solchem Verlust entsprechenden Gewinn: die Befestigung der Tätigkeit in sich selbst, die Eröffnung neuer Erfahrungen, den Aufbau neuer Ordnungen, die Entwicklung einer vom Gedanken getragenen Welt. Nur eine selbständige Aneignung des Problems, nur ein ursprüng-

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liches Einsetzen der Arbeit kann den Gewinn erkennbar machen und zur vollen Wirkung bringen. Zugleich aber werden weitere Erschließungen der Welt eines wesenhaften Geisteslebens erfolgen.

2. Solche Erschließungen erfolgen zunächst in der Richtung der Verinnerlichung des Daseins; dem Kampf der Selbsttätigkeit gegen alle bloße Gegebenheit entspricht ein Kampf der Innerlichkeit gegen alles Außensein. Sobald das Leben sich in sich selbst zusammenfaßt und über seine eignen Bedingungen Klarheit gewinnt, kann es sich nicht als ein Verkehren mit einer Außenwelt, als einen Austausch von Wirkungen und Gegenwirkungen damit verstehen. Denn nun leuchtet ein, daß etwas .völlig außerhalb unseres Kreises Befindliches uns in keiner Weise erregen und bewegen könnte, ja daß es für uns überhaupt nicht vorhanden sein würde; ein vermeintlich Äußeres kann nur soweit uns anziehen, als es in Wahrheit irgend zu uns gehört; in jener Verhüllung und Entfremdung aber wird es nie zu voller Kraft und reiner Wahrheit gelangen. So wird eine Versetzung ins Innere zur zwingenden Forderung eines nach Kraft und Wahrheit dürstenden Lebens, in der Tat zeigt der Lauf der Geschichte ein mächtiges Vordringen in dieser Richtung. Eine volle Selbständigkeit erreicht aber die Innerlichkeit nicht als ein bloßsubjektives Fürsichsein des Individuums, auch nicht als ein bloßes Gewebe freischwebender Gedanken, sondern nur als eine wesenhafte Welt Erst hier, wo die Tätigkeit sich selbst zu einem Sein vertieft und von ihm her alle Mannigfaltigkeit erlebt, ergab sich eine feste Grundlage, eine umfassende Einheit, eine Gegenwart des Ganzen im Einzelnen, ein Sinn und Inhalt des Lebens. Hier kann das Leben seine Aufgabe nicht in einer Leistung nach außen, sondern nur in seiner eignen Vollendung finden, d. h. darin, im eignen Kreise alle Mannigfaltigkeit zu verbinden, alle Widersprüche zu überwinden, alle Möglichkeit zur Wirklichkeit zu erheben. Alle Arbeit geht hier auf das eigne Selbst, das Erkennen wird zum Selbsterkennen, die Erfahrung zur Selbsterfahrung u. s. w. Auch das Problem der Wirklichkeit liegt hier innerhalb des Lebens, es hat nun keinen anderen Sinn, als daß die Hauptbewegungen unseres Lebens, die jede für sich unfertig und halbwirklich blieben, sich zu einer Einheit zusammenschließen, daß nunmehr der Zwiespalt der erst aufstrebenden Selbsttätigkeit und der Wesenhaftes bei sich festhaltenden Gegebenheit

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glücklich überwunden wird. Erst das ergibt einen festen Kern des Lebens, der das Problem der Ausdehnung und Abgrenzung unserer geistigen Existenz angreifbar macht. Aber die Innerlichkeit, die so viel leisten soll, ist für uns eine schwere Aufgabe, ein hohes Ideal; sie kann nicht einfach deklariert oder dekretiert, sie muß mühsam und Schritt für Schritt einem scheinbar gleichgültigen Dasein abgerungen werden. Erst unter vielfachen Bewegungen und Wandlungen werden sich Beziehungen, Berührungen, Verbindungen finden, mittels derer sich das Fremde in das eigne Lager herüberziehen läßt. Dabei pflegt die Arbeit zwei Stufen zu durchlaufen. Zunächst gilt es, mit dem draußen Befindlichen irgendwelche Fühlung zu gewinnen und es irgend, wenn auch in ungeschiedenem Rohbestande, dem eignen Lebenskreis einzuverleiben. Wir müssen z. B. von den Dingen wissen, um uns mit ihnen befassen, irgend durch sie erregt sein, um uns für sie erwärmen zu können. Aber damit beginnt erst recht die Verwicklung. Nun ist etwas in den Lebenskreis aufgenommen, das den Forderungen des Geisteslebens nicht entspricht; es wird damit zu einem Widerstand, ja einem Widerspruch; innerhalb jenes Kreises stehen sich jetzt zentrales und peripheres Geschehen gegenüber, aufeinander angewiesen, aber einstweilen mehr Gegner als Freunde. Nicht anders ist dieser Spalt zu überwinden als durch eine Weiterbildung beider Seiten, durch eine Anpassung des Fremden an das Selbst wie durch eine Weiterbildung des Selbst in seiner Assimilierung. Nur auf diesem Wege vollzieht sich der Aufstieg vom Kennen zum Erkennen, und es erhellt zugleich, daß ein Erkennen der Dinge nichts anderes bedeutet als ein sich in den Dingen Erkennen; ebenso wird auch das Wollen aus einem bloßen Wollen der Dinge zu einem sich selbst in den Dingen Wollen. Daß solche Verinnerlichung nicht bloß eine neue Art der subjektiven Aneignung, sondern eine reale Umwandlung des Lebens bedeutet, daß es den Gesamtanblick der Wirklichkeit durch neue Aufgaben, neue Kräfte, neue Erfahrungen verändert, das wird am ehesten anschaulich werden, wenn wir es in den Kampf gegen Fremdes und Feindliches verfolgen. Der Lebensprozeß der Menschheit ist zunächst in enge Grenzen gebannt, ohne daß die Enge beunruhigt und die Grenzen zu peinlichen Schranken werden. Dann aber kommen solche zur Empfindung, wir fühlen uns und unser Vermögen klein. Eben dies aber erweist eine größere Weite des Seins und einen Trieb unserer Natur

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über das Engmenschliche hinaus. Denn wie könnte eine Einschränkung, ein Unvermögen, eine Bindung als eine solche erkannt, gefühlt, erlebt werden, wären wir ganz in der Enge befangen; wie könnte eine Leistung als zu klein befunden werden, wenn nicht unsere eigne Natur uns größere Maßstäbe vorhielte? Nunmehr erscheinen die Schranken nicht mehr als äußere Widerstände, sondern als Hemmungen im eignen Lebenskreise, sie werden namentlich dort bemerklich, wo ein Grundtrieb unseres Wesens und unsere Arbeit an den Dingen sich nicht zusammenzufinden vermögen. Mit der deutlichen Erkenntnis dessen verändert sich das Gesamtbild unseres Lebens: nicht nur das Diesseits, auch das Jenseits gehört nunmehr zu uns, wir gewinnen ein größeres und reicheres, aber auch ein bewegteres und minder fertiges Sein. Zugleich tritt aus der Verneinung eine Bejahung hervor. Die schmerzliche Empfindung unserer Endlichkeit wird nun unmittelbar eine Erweisung der Unendlichkeit in unserem Wesen, in der Kleinheit erleben wir die Größe und in dem Unvermögen die Kraft des Strebens. Das Denken kann sich jetzt nicht mit Widersprüchen befassen, ohne eines überlegenen Verlangens nach Einheit inne zu werden, das Handeln kein Gesetz als innerliche Norm, als ein Soll anerkennen, ohne sich mit ihm zu identifizieren, in ihm sein eignes Gr.undwollen zu erkennen. So gibt' es kein Böses ohne ein Gutes vor ihm. Diese Anerkennung des Umfaßtseins der Gegensätze vom Lebensprozeß ist wieder ein unterscheidendes Kennzeichen der neueren, übrigens schon im Ausgang des Altertums kräftig einsetzenden Art gegenüber den klassischen Lebenssystemen; nun entsteht jene unablässig im Schweben befindliche Stimmung, wie sie, aus einem bloßen Durchgangspunkt zur abschließenden Hauptsache gemacht, die Mystik und die Romantik kennzeichnet. Aber so gewiß alles, was solchen Widerspruch in unserm Wesen nicht selbst empfunden hat, starr, dürftig und seelenlos bleibt, dabei verharren und mit solcher Stimmung das ganze Leben erfüllen läßt sich nicht. Ein solcher Widerspruch im eignen Wesen muß selbst ein starker Antrieb werden, die Grenzen des Könnens vorzuschieben und das Unmögliche irgend möglich zu machen. Die Arbeit der Jahrtausende hat in Wahrheit vieles errungen, was früher völlig unmöglich schien, beim Großen wie beim Kleinen, im Wirken zur Welt, in den gesellschaftlichen Verhältnissen und beim Innenleben, im Wissen sowohl als im Handeln. Wenn jede Lösung neue

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Probleme hervorruft und die Aufgabe ins Unermeßliche wächst, so ist auch die Kraft einer weiteren und weiteren Steigerung fähig. Nur wo die Widersprüche gar keine Gegenwirkung mehr hervorzulocken, gar keine Weiterbildung des Lebens anzuregen vermöchten, müßten wir endgültig Halt machen; aber wer will diesen Punkt im voraus bestimmen, wer kann wissen, wie sich durch neue Erfahrungen und vordringende Taten neue Vermögen eröffnen und neue Angriffspunkte zeigen? Solche umwandelnde Kraft der Verinnerlichung kommt zu noch eindringlicherer Wirkung gegenüber dem Feindlichen in unserm Dasein, gegenüber dem Bösen. Das Böse galt der geistigen Arbeit anfänglich als etwas Naturgegebenes, schlechthin Unverrückbares, in der Welt und in der gesellschaftlichen Ordnung, wie in der Seele und Gesinnung des Menschen. Dann konnte es zur Summe der Lebensweisheit werden, sich möglichst wenig mit ihm zu befassen, es von der schaffenden Arbeit fernzuhalten, es möglichst in die Außenseite des Lebens zu drängen. Dann aber vollzieht sich in weltgeschichtlichen Umwälzungen ein gewaltiger Umschwung: das Böse wird in das Zentrum des Lebens aufgenommen, es erscheint als unser eignes Werk, als eine Folge unserer Entscheidung, es wird damit aus einem Schicksal zur Schuld. Damit tritt das moralische Übel vor das physische, und mit dem Aufsichnehmen der Verantwortung wird das Geistesleben schwer belastet, ja bis zum Grunde erschüttert. Aber aus der Erschütterung erwächst eine Vertiefung und Erneuerung des Lebens; alles andere Verlangen ermattet jetzt gegenüber dem einen Drange, jenen Stand der Schuld und Zerrissenheit zu überwinden und ein ihm überlegenes Leben zu gewinnen. So die Macht, man kann wohl sagen Allmacht der Idee der Befreiung und Erlösung über das menschliche Gemüt, so auch als stärkste Triebkraft alles Wirkens das Verlangen, durch unermüdliche Arbeit gegen alle Unvernunft des Daseins die Schuld der Menschheit daran zu tilgen. Diese Bewegungen gehen in großen Wogen durch die Geschichte der Menschheit, sie reichen weit über alle dogmatischen Fassungen hinaus, ja sie können zu ihnen in einen schroffen Gegensatz treten. Alles Dunkel jener Verantwortlichkeit, aller Widerspruch mit einer kausalen Ordnung der Dinge hindert nicht ihr Fortbestehen und ihre Macht. Jene Bewegungen aber sind zugleich innere Erfahrungen, neue Eröffnungen, Zeugnisse unergründlicher Tiefen und Zusammen-

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hänge, solcher Tiefen, welche nicht eine grübelnde Reflexion, sondern nur Kampf und Tat, eigne Erfahrung und Umwandlung zugänglich macht. So verstärkt sich von hier aus der geschichtliche Charakter des Lebens. Zugleich aber erhellt, daß die kritische Lebensführung keineswegs mit der Forderung zusammenfällt, die Schranken unseres Geisteslebens endgültig zu ermessen, d. h. sie in einem bestimmten Zeitpunkt ein- für allemal festzulegen. Denn wo das Leben so sehr im Fluß ist und so sehr in den Erfahrungen wächst, da muß alle kritische und transzendentale Überlegung und Vorentwerfung freien Raum für weitere Eröffnungen lassen. Sonst kann leicht die Kritik sich selbst in Dogmatismus verwandeln und ein Dogmatismus kritischer Reflexion entstehen, der schlimmer ist als ein naiver Dogmatismus. Solche Verschiebungen und Wandlungen bestätigen augenscheinlich die Selbständigkeit eines geistigen Geschehens gegenüber dem bloßseelischen. Jene Erfahrungen und Vertiefungen im Lauf der Geschichte sind offenbar Erfahrungen des Menschen. Aber wir machen und erleben sie nicht aus unserer individuellen Besonderheit, sondern nach unserer geistigen Natur, nicht in der Isolierung, sondern in geistigen Zusammenhängen, nicht für unsere Privatzwecke, sondern für das Ganze der Menschheit. Damit erweist sich eine andere und größere Art des Lebens, des Lebens, nicht der bloßen Betrachtung. Nur weil in Wirklichkeit mehr vorgeht, kann eine neue Art der Betrachtung aufkommen, kann sich dem psychologischen Verfahren gegenüber ein noologisches mit selbständiger Art entwickeln. Daß jenes dem Bestände des geistigen Lebens nicht gewachsen ist, darüber sind bei den einzelnen Gebieten die meisten einig; wir scheiden die logische Behandlung scharf von der psychologischen, wir wissen, daß die Ethik auf die empirische Psychologie gründen sie zerstören heißt. Aber wir sträuben uns gegen eine Erhebung dieser Überzeugungen ins Ganze, gegen ein Anerkennen der Tatsache, daß überhaupt ein ursprünglicherer und wesenhafterer Lebensprozeß in uns waltet als der psychische der unmittelbaren Erfahrung. Erst bei kräftiger Entfaltung dieses Prozesses wird die Innerlichkeit stark genug, eine Welt zu bereiten und damit den Menschen ebenso von der Bindung an eine äußere Welt zu befreien als ihn über die Kleinheit und Zufälligkeit des punktuellen Daseins zu erheben. Gegenüber dem kosmologischen und dem psycholo-

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gischen Typus entwickelt sich damit ein noologischer mit eigentümlichen Aufgaben, Leistungen und Erfahrungen; erst allmählich wird er sich rein herausarbeiten, alsdann aber nicht nur den Gesamtanblick des Lebens verändern, sondern auch die einzelnen Gebiete eigentümlich gestalten. So wird z. B. die Religion sehr an Festigkeit und Tiefe gewinnen, wenn sie für ihre Grundlage und ihren Inhalt an erster Stelle weder auf den Kosmos noch auf die Einzelseele angewiesen ist. Doch darüber näheres in anderen Zusammenhängen.

3. Die Verwandlung des Lebens in reine Innerlichkeit und volle Selbsttätigkeit ist innerhalb der nächsten Lage unerreichbar; es bedarf dazu einer Umkehrung seiner, einer Wendung zur begründenden Substanz; mit ihr erst wird das Ziel und ein Inhalt des neuen Lebens deutlich hervortreten. Dem allgemeinen Gedanken nach ist das zur Genüge erörtert, hier handelt es sich um die nähere Ausführung, um die Frage, was das wesenhafte Selbst an sich weiterbilden kann und muß, um jene Umwandlung durchzusetzen. Und die Antwort kann keine andere sein, als daß es aus einem abstrakten Begriff in eine konkrete Wirklichkeit, in dieses bestimmte und kein anderes Sein übergehen muß, daß es sich vom allgemeinen Impulse zur Stufe der Werkbildung durchzuarbeiten hat, die wir oben als die Achse des Lebensprozesses erkannten, daß aus ihm eine geistige Individualität und damit eine unvergleichliche Konzentration der gesamten Wirklichkeit werden muß. Das aber kann nur geschehen, wenn das Geistesleben selbst einer Individualisierung fähig ist. Dies Eingehen in die Besonderheit, die unbegrenzte Erzeugung eigentümlicher Lebenspunkte, lebendiger Keime eigner Welten, bildet eine axiomatische Tatsache ebenso unableitbarer wie unbestreitbarer Art. Sofern ein Lebenskomplex in jenem Sinne eine geistige Individualität geworden ist, oder, von der anderen Seite angesehen, sofern sich in ihm eine Individualisierung des Geisteslebens vollzogen hat, soll er uns eine Energie heißen; den einheitlichen Sinn aber, den eine solche Energie entwickelt, die ihren ganzen Umfang durchdringende, belebende und gestaltende Kraft möchten wir Idee nennen. In diesem Sinne können wir von der Idee eines Einzellebens, eines Kunstwerkes, eines Staatswesens u. s. w. reden. Überall geht ein gewisses Dasein voran, aber es ist in eine zerstreute, höchstens von außen zusammengehaltene Vielheit aufgelöst, seine Geistigkeit ist geE u c k e n , Kampf.

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bundener Art, es fehlt ein erleuchtender Sinn und eine zusammenhaltende Kraft, es ist im Grunde sich selber fremd und hat als Ganzes kein Eigenleben. Eine Wandlung dahin erfolgt erst, wenn sich in dem Ganzen ein geistiges Selbst entdeckt und in ihm zu einer konkreten Individualität und zugleich zur vollen Verwirklichung aufstrebt, wenn eine Idee mit innerer Einheit alles belebt und verbindet. Eine solche Idee als eine den Dingen immanente Einheit ist grundverschieden vom bloßen Begriff, sie trotzt aller Zerlegung und behauptet eine Transzendenz gegen das unmittelbare Seelenleben. Aber was sich nicht in eine Formel bannen läßt, kann darum bei sich selbst eine Einheit besitzen; daß in Wahrheit solche Einheiten in den Lebenskomplexen durchbrechen und den Lebensprozeß bis zum Grunde verwandeln, das ist der einzige Weg zu einer Durchgeistigung der Wirklichkeit. So verstanden, ist die Id§e für uns nicht sowohl eine Tatsache als eine Aufgabe, die einzelnen Komplexe haben sie erst zu erringen; ob sie darin Erfolg haben oder nicht, das faßt ihre ganze Lebensarbeit in ein einziges Problem zusammen und entscheidet über ihr Gelingen oder Mißlingen. Gewiß hat jene Bewegung ihre Vorbereitung; eine gewisse Substanz wird entgegengebracht, gewisse Ansätze zur Bildung sind vorhanden, gewisse Bahnen stehen offen, während sich andere versperren. Aber das alles ergibt noch keineswegs ein Vordringen zu einem wesenhaften Selbst, ein Zusammenschießen zur inneren Einheit, die Ausprägung einer alles durchwaltenden Idee. Das kann nicht geschehen, ohne daß eine schaffende Tätigkeit sich losreißt, voraneilt und jenseit der Schwere wie der Trübheit des nächsten Daseins sich in sich selbst zusammenschließt; bei solcher Befreiung und inneren Sammlung kann sie ein geistiges Ganzes entwerfen, wetten und wagen, versuchen und schaffen; nur inmitten solcher Bewegungen kann die Idee aufleuchten, eine Konzentration zur Energie sich vollziehen. So ist uns unser eignes Wesen zunächst ein Ideal, und unsere treueste Gehülfin in dem Kampf um unser geistiges Selbst ist die Phantasie. Nicht bloß in der Kunst bringt sie das Schaffen in Fluß, zur künstlerischen Phantasie gesellt sich eine logische, praktische, technische. Die Hypothesen der Forscher wie die Spekulationen der Denker, die großen Erneuerungen in Moral und Religion, die umwälzenden Erfindungen der Technik, sie alle entsprangen in der Region freischaffender Tätigkeit, nicht in der Breite des vorgefundenen Daseins.

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Alle diese Mannigfaltigkeit aber ist nur eine Verzweigung und Äußerung eines unser ganzes Wesen umfassenden Vermögens, des Vermögens, dem ersten Stande voranzueilen, uns über uns selbst zu erhöhen, von der Zerstreutheit zur Einheit, von der Sinnlosigkeit zu einem deutlichen Sinn vorzudringen. Ihre höchste Aufgabe und ihre tiefste Wirkung hat die Phantasie nicht nach außen hin, sondern gegen uns selbst: in der Weiterbildung, ja Erneuerung unseres innersten Wesens. So in den Dienst der Wesensbildung gestellt, ist die Idealbildung nicht eine Flucht aus der Wirklichkeit und ein Suchen ferner, entlegener, jenseitiger Dinge, sondern ein Streben von einer scheinbaren oder nur halbwahren Wirklichkeit zu einer echten in Selbstvertiefung des eignen Wesens. Auch empfiehlt sie nicht ein Schweben und Schwelgen in allgemeinen Oedanken, sondern sie will eine eigentümliche und individuelle Gestaltung, eine solche muß sie auch unsrer Arbeit verleihen. Das Schwärmen für die unbestimmten Gedanken des Guten, Wahren und Schönen hat nie etwas Großes geleistet, oft hat sich nur eine Armut an eignen Gedanken dahinter versteckt Endlich verwirft jene Idealbildung die beliebte und bequeme Idealisierung als eine bloße Karikatur ihres eignen Verlangens. Denn statt wie diese das Dasein in möglichst rosigem Lichte zu malen und durch solche unwahre Schönfärberei das Leben zu erschlaffen, stellt sie ihm ein anderes Sein gegenüber, als ein nicht schon verwirklichtes, sondern erst zu verwirklichendes; so muß sie die Schäden jener Welt mit besonderer Grellheit beleuchten und zu besonders energischem Kampf dagegen treiben. Solche Zerlegung der Wirklichkeit und solches Voraneilen des Schaffens ergibt eine kräftigere Bewegung des Daseins, eine lebendigere Ansicht von der Geschichte und ein aktiveres Verhalten zu den Problemen der Bildung der Menschheit und der Erziehung der Individuen, als eine Evolutionslehre, welche auch das Geistesleben nach Art eines Naturprozesses Schritt für Schritt sicher aufsteigen läßt. Deutlich genug bezeugt auch an dieser Stelle die Erfahrung, wenn nur etwas genauer betrachtet, daß charakterhaftes Geistesleben mehr ist als eine Blüte der Natyr. Gewiß kann bei Individuen, Völkern und Zeiten nicht jedes aus jedem hervorgehen. Aber die Höhe der geistigen Arbeit war überall weniger eine Fortführung als eine Gegenwirkung gegen die bloße Natur, die Selbstbildung war zugleich eine Selbstüberwindung. Die durch und durch individua6*

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listischen und glücksdurstigen Inder fanden die geistige Höhe ihres Seins in dem gänzlichen Aufgehen des Individuums in das All und dem Verzicht auf alles selbstische Glück, und von den beweglichen und leidenschaftlichen Griechen ist das Ideal des Maßes und der in ihrer eignen Anschauung ruhenden Tätigkeit ausgegangen. So erfolgt auch beim Einzelnen meist das Aufsteigen zur geistigen Energie im Kampf mit dem nächsten Befunde des Daseins. Dies Streben nach geistiger Energie und nach einer das ganze Leben beherrschenden Idee bedeutet bei allem Bestehen auf Individualität keine Abschließung und Isolierung. Als geistige Energie ist das eigne Wesen nur mit dem Ganzen und in dem Ganzen zu wollen, seine Bejahung enthält die Bejahung und Verfechtung einer Geisteswelt überhaupt. Das eben ist eine Grundbedingung des geistigen Lebens, daß wie alles Einzelne am Ganzen hängt, so auch das Ganze an den einzelnen Stellen unmittelbar gegenwärtig sein kann, ohne auch bei der Individualgestaltung der Besonderheit zu erliegen, daß es auch im Eingehen in die Mannigfaltigkeit die Überlegenheit einer einheitlichen, allen gemeinsamen Wahrheit behaupten kann. Das eben verlangt und erweist die unvergleichliche Art einer Lebensenergie, daß Gemeinsames und Besonderes an einem Punkte zusammentreffen und eine untrennbare Verbindung bilden, ohne ineinander überzulaufen. So wächst die Individualität zum Mikrokosmos und das All zu einer Welt von Welten. Zugleich aber erhellt, daß jene Ausbildung von Energien das Weltall nicht in zerstreute Stücke zerreißt, sondern daß innerlich das eine auf das andere angewiesen und jedes an die große Welt gebunden bleibt. So unerfaßbar die Einheit dieser großen Welt uns ist, die wir von den Teilen aus arbeiten und von ihnen her Bilder entwerfen, jedenfalls muß das All, geistig verstanden, mehr sein als ein Nebeneinander allgemeiner Gesetze; auch hier bedarf es eines konkreten Individuaiseins, das auch die allgemeinen Wahrheiten zu tragen hat. Demnach vermag die Energie als Mikrokosmos ein unermeßliches Leben aufzunehmen, Selbstleben und Weltleben in einen Prozeß zusammenzuschließen. Frejlich gelingt ihre Vereinigung nicht leicht, der Gegensatz von Weite und Kraft des Lebens, dem wir schon öfter begegneten, erlangt hier seine höchste Spannung, er findet einen greifbaren Ausdruck in dem Streit über die Persönlichkeit und die persönliche Gestaltung des Seins. Es bietet sich hier

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das wunderliche Schauspiel, daß dasselbe, was die einen als höchstes Ziel und leitenden Wert verehren, von den anderen als etwas Niederes und Hemmendes abgelehnt wird. Mag einige Schuld an dieser Verwirrung der vieldeutige Ausdruck Persönlichkeit tragen, wie oft, so ist auch hier der Streit um das Wort nur die Erscheinung eines sachlichen Gegensatzes. Es werden hier zwei grundverschiedene Lebenstypen und Lebensideale ersichtlich. Auf der einen Seite der Drang ins Große und Weite, ein Verlangen nach Reinheit und Klarheit in lichter Höhe eines Weltlebens, ein Abstreifen alles eigentümlich Menschlichen, ein Unterdrücken der Affekte zugunsten eines völligen Aufgehens in die Dinge, ein Verzichten auf Glück für den Preis der Wahrheit. Auf der anderen dagegen ein engeres, aber wärmeres und konzentrierteres Leben, ein Unterwerfen und Zusammendrängen der Dinge, ein Gestalten gemäß den Bedürfnissen des Selbst, ein Gefühlsleben voll Feuer und Flamme, ein allverzehrender Drang nach Glückseligkeit. Für die geistige Art der einzelnen Epochen ist kaum etwas so entscheidend als das Vorwalten der einen oder der anderen Richtung; das Gesamtleben der Menschheit scheint keine von ihnen entbehren zu können. Freilich reicht der Gegensatz zu sehr in den Grund des Lebens hinein, um eine dem Streit überlegene Synthese zu gestatten; soll sich daher nicht das Leben zwischen jenen Widersprüchen zerreiben, so muß der eine Typus sich siegreich über den anderen hinausheben und sich als elastisch genug erweisen, um das Fruchtbare und Berechtigte jenes sich anzueignen und zur eignen Fortbildung zu verwerten; es gilt eine Entscheidung für den einen gegen den andern. Sie kann aber nach den Zusammenhängen unserer Untersuchung nur für das Selbstleben fallen. Denn die Unermeßlichkeit kann uns nur soweit anziehen, als wir in ihr irgend unser eignes Wesen erfassen; ohne eine Beziehung dazu wäre sie für uns ohne Gehalt und Wert, sie wird uns in dem Maße leerer und kälter, als sich der innere Zusammenhang mit jenem Selbstleben lockert. Aber trotzdem ist die Richtung zum unpersönlichen All für unser menschliches Streben nicht zu entbehren. Jenes persönliche Leben pflegt, selbst wo es sich der Natur entgegenstellt, ihren Einfluß nicht so leicht abzuschütteln; ja es entsteht eine gefährliche Verwirrung daraus, daß Natur- und Geistesgrößen sich ineinander schieben und zu scheinbar unzertrennlicher Einheit verwachsen. Damit scheint leicht das ungeschiedene Ganze ein Stück der Vernunft; was in Wahrheit

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das äußerste Ziel, das dünkt hier ein fertiger Ausgangspunkt; statt einer Konzentration innerhalb des Ganzen einer neuen Welt wird das Einzelwesen ein selbstgenugsamer Mittelpunkt, es schließt sich bei aller äußeren Erweiterung dadurch innerlich ab, daß es alles Leben und Sein auf sein eignes Wohl und Wehe bezieht, und entwickelt damit einen Egoismus feinster Art, bald im Selbstgenuß des gebildeten Individuums, bald in einem ungestümen Verlangen nach Erhaltung und Seligkeit um jeden Preis und unter Herabsetzung der ganzen Unendlichkeit und Ewigkeit zu einem bloßen Mittel des eignen Wohlseins. So tiefe Schäden kann kein bloßes Berichtigen im Kleinen, kein allmähliches Zurechtrücken ausrotten. Ohne einen Bruch mit jener Lage und eine Überwindung der Enge jenes Selbst ist hier nicht weiter zu kommen. Damit aber gelangt jenes andere zur Geltung, was sich zunächst als unpersönlich, ja widerpersönlich ausnimmt. Nur das Schmelzfeuer des Allebens kann die gemeine Lebensgier zerstören und das Selbstleben von dem Kleinen und Naturhaften befreien, das ihm zähe anhaftet. Um aber das zu leisten, darf solche Läuterung kein flüchtiger Durchgangspunkt sein. So wenig der Pantheismus und die Mystik uns als letzter Abschluß gefallen, eine Lebensanschauung, die nicht sie durchgemacht hat und nicht sie als ein Moment der Bewegung festhält, verfällt leicht der Gefahr eines Zurücksinkens in die enge und selbstische Art, die es zu überwinden gilt. Aber bei aller Notwendigkeit einer Gegenwirkung gegen die erste Form des Selbstlebens bleibt dieses die überlegene Macht, der das andere nur zur Läuterung und Erweiterung zu dienen hat. So darf in allem Streben zur Unendlichkeit die Energie sich nicht der Unendlichkeit hingeben, sondern sie muß diese zu unterwerfen und zur Einheit zu zwingen suchen. Gewiß ein unermeßliches Unternehmen, dessen Abschluß sich in immer weitere Ferne verlegt, und das wir doch nicht aufgeben können, ohne unser geistiges Selbst aufzugeben. Je mehr aber jene Bewegung des Selbstlebens zu einer höheren Stufe in unabsehbare Probleme verwickelt, desto notwendiger ist es, rasch über bloße Anregungen und Antriebe hinaus zu fruchtbarer Arbeit und innerer Umwandlung des Seins zu gelangen. Das aber ist nur möglich, wenn unsere geistige Organisation von vornherein auf die Weite angelegt ist, wenn sie ein Eingehen und Sichausleben von Neuem innerhalb des eignen Kreises gestattet. Würde nämlich

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der Lebensprozeß alles, was an ihn gebracht wird, sofort assimilieren und gemäß seiner Besonderheit gestalten, so wäre alle äußere Erweiterung fruchtlos, wir würden in alle Unendlichkeit nur die Enge einer Sondernatur hineintragen. In Wahrheit steht es anders. Wir sehen unablässig Fremdes in den Lebenskreis eingehen, auf diesem Boden seine Eigentümlichkeit zeigen, seine Konsequenzen hervortreiben, als Macht gegen das andere wirken. Aller Einfluß des übrigen Lebens läßt sich dabei zunächst fernhalten, so daß die besondere Art zur reinen Aussprache kommt. Solche Selbständigkeit beschränkt sich nicht auf einzelne Punkte, sondern es können sich größere Reihen und Komplexe, ja ganze Reiche bilden, entfalten und ausleben. Aus einem einzigen Faden oder einem alles fortführenden Strome wird damit der Lebensprozeß ein vielfach verschlungenes Gewebe, ein reichhaltiges Ganzes, innerhalb dessen sich verschiedene, gegeneinander selbständige Reihen bewegen, untereinander in Beziehungen und Wechselwirkungen treten, eigne Lebenszentren innerhalb des gesamten Lebens werden. Diese innere Weite und Beweglichkeit ist die Grundbedingung alles Wachstums, sie allein ermöglicht eine Zuführung von Neuem, eine fruchtbare Erfahrung, eine Umbildung durch die Erfahrung. Nur durch dies Vermögen, Neues in den Lebensprozeß selbst zu verpflanzen und es hier ungestört gedeihen zu lassen, erklärt sich alles, was Eingehen in andere Wesen, Versetzung auf den Standpunkt eines andern, Anerkennung sachlicher Notwendigkeiten u. s. w. heißt; nur dadurch wird eine innere Gemeinschaft mit anderen, sei es der Liebe, sei es des Rechtes, eröffnet, nur daraus ergibt sich ein Denken und Handeln aus dem Recht und nach den Forderungen der Sache. In aller scheinbaren Selbstentfremdung ist es aber immer das Selbst, das in den Gegenwurf übergeht, ihm sein Leben einhaucht, ihm die Kraft der Bewegung verleiht. Als ein Urphänomen erweist sich hier die Tatsache, daß etwas scheinbar aus dem Lebenskreise heraustritt und zu ihm einen Gegensatz bildet, und daß es dabei innerlich gegenwärtig bleibt und sich somit als noch vom Lebensprozeß umfaßt erweist, daß es zugleich dem Ich und dem Nicht-ich angehört. So eröffnet sich ein Verkehr des Lebens mit sich selbst, es zeigt sich ein engeres und ein weiteres Selbst, die Möglichkeit einer Spannung zwischen beiden, die Aussicht auf eine unbegrenzte Erweiterung durch ihr Zusammenwirken. Da es eine dem Selbstleben entliehene Kraft ist, mit der das scheinbar Entgegenstehende wirkt, so muß schließlich

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aus aller Ferne die Bewegung sich immer wieder zum Ausgangspunkte zurückfinden und der Bildung des Selbst alles zuführen, was sich der Unendlichkeit abringen ließ. Bei solcher innern Weite des Lebens verschwindet aller Zweifel daran, daß die Energie in der Einheit eine Unendlichkeit und im Selbstleben ein Weltleben zu entwickeln vermag. Mit dem allen erwachsen gegenüber dem Durchschnittsstande gewaltige Aufgaben: die Erweckung selbständiger Lebenszentren, ihre Durchbildung zur Individualität im Ringen mit der Unendlichkeit, ihre Verbindung zu einer Wirklichkeit des Sinnes und der Vernunft. Was dabei an einzelnen Zügen erkennbar wurde, das weist hin auf ein zusammenhängendes Ganzes, auf ein charakteristisches Lebenssystem. Ob aber ein solches aus jener Bewegung hervorzugehen vermag, das fordert eine eigne Untersuchung.

b. Der Umriß des Lebenssystems.

Daß das Prinzip der Wesensbildung starker Wirkungen fähig ist, daß viel Bewegung aus ihm entspringt und ins Unermeßliche strebt, darüber kann kein Zweifel mehr sein. Aber noch immer ist nicht entschieden, ob sich jene Bewegungen zu einem Ganzen zusammenschließen, zu einem Ganzen, das einerseits alles von ihm Umfaßte vollständig determiniert und ohne Rest in diesen Zusammenhang aufgehen läßt, das andererseits alles Draußengelegene unter sich zu bringen und sich als die einzig echte Wirklichkeit durchzusetzen vermag. Das allein ergäbe ein Lebenssystem, und ein solches System könnte bei dem Anspruch der Geisteswelt auf volle Wahrheit sich nur als das einzig mögliche, ausschließlich wahre geben. Erst diese Wendung zum System bringt eine geschlossene Wirklichkeit mit völlig deutlichem Ja und Nein; erst hier kann das Mannigfache sich gegenseitig beleuchten und stützen, erst hier sich zu einer Gliederung und Abstufung des Ganzen verbinden. Erst hier läßt sich die Frage nach dem Vermögen und den Grenzen des Ganzen aufnehmen und zugleich entwickeln, was an Weltanschauung in ihm angelegt ist Denn je nach der inneren Fassung des Lebensprozesses werden sich auch die Voraussetzungen und Umgebungen, wird sich das Gesamtbild der Wirklichkeit eigentümlich gestalten. Was immer an Bestimmtheit des Inhalts und an Kraft der Bewegung in dem Ganzen steckt, das wird erst damit herausgetrieben und zur Wirkung

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gebracht, erst so wird eine Vermittlung zwischen den leitenden Gedanken und der Einzelarbeit gewonnen. Wie sich aber das Gewebe in seinem inneren Gefüge fester zusammenschlingt, so wächst der Lebensprozeß auch ins Große und Weite. Daß bei der Frage des Lebenssystems verschiedene Antworten möglich sind und auch in der Tat versucht wurden, wird gleich sich zeigen. Von hier aus erscheint die Verfechtung eines bestimmten Lebenssystems als eine Behauptung über das Ganze und durch das Ganze, als eine einzige große Frage an die Wirklichkeit. Damit kommt in das Leben eine Bewegung vom Ganzen zum Ganzen; nirgends mehr als hier wird es als Ganzes zur eignen Tat und Entscheidung. Darum geht ein Drang nach solcher Selbstkonzentration durch alle Kulturarbeit. Die verschiedenen Zeiten mögen sich verschieden zu dieser Aufgabe stellen, die einen sich mit Entwürfen begnügen, die anderen auf strenger Durchbildung bestehen, die einen fremde Leistungen aufnehmen, die anderen möglichst ihre eigne Art entfalten, irgend mit der Sache sich abfinden müssen sie alle. Indem sie es tun, erfährt ihr eigner Bestand eine Zerlegung, es erfolgt eine Scheidung zwischen d e m , was einem Systeme angehört oder doch seinem Zuge folgt, und dem anderen, was draußen verbleibt und sich mit jenem erst auseinanderzusetzen hat. So entsteht eine Bewegung vom einen zum andern: das System sucht jenes andere an sich zu ziehen und von sich aus zu bestimmen; das allgemeine Leben hingegen übt seinerseits eine unablässige Kritik an dem Systeme, in aller Unfertigkeit kann es inhaltlich reicher, tiefer, wahrer sein, als jenes andere, das formell überlegen ist und aus größerer Geschlossenheit wirkt. Keine Bewegung greift tiefer in den inneren Bestand der Kultur ein als dieser Kampf zwischen allgemeiner und besonderer Art, dieses Ringen um einen Charakter des Lebens. Die Möglichkeit verschiedener Lebenssysteme erklärt sich in folgender Weise. Eine einheitliche Durchbildung des ganzen Seins mit dem dazu erforderlichen Zusammenschluß von Innerem und Äußerem, von Menschenleben und Welt ist nur so erreichbar, daß sich zunächst innerhalb unseres eignen Lebenskreises eine besondere Tätigkeit über alles andere hinaushebt, es unter sich bringt und nach ihrer Art gestaltet, daß aber dieselbe Tätigkeit zugleich als der Höhepunkt einer Weltbewegung erscheint und durch die ganze Weite des Daseins Anknüpfungen findet. Wird in dieser Weise ein Kontakt zwischen dem Zentrum unseres Lebens und der Weite des Alls

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hergestellt, so läßt sich ein allbeherrschendes Prinzip herausarbeiten, so ist ein Hebel für die Bewegung des trägen Stoffes und ein Schlüssel für das Verständnis unser selbst und der Welt gewonnen; nun vermag die geistige Arbeit sich in den Mittelpunkt der Wirklichkeit zu stellen und die Ausbildung eines Lebenssystems in Angriff zu nehmen. Eine derartige Haupttätigkeit kommt uns aber nicht mit überwältigender Anschaulichkeit entgegen, sondern sie ist dem Chaos erst zu entringen und zu selbständiger Wirkung freizulegen; wie die weltgeschichtliche Erfahrung zeigt, sind hier verschiedene Versuche möglich; je nach dem Stande der inneren Entwicklung, nach dem Grundverhältnis zur Außenwelt, nach den Erfahrungen des gemeinsamen Lebens kann der Mensch seinen eignen geistigen Mittelpunkt an verschiedenen Stellen suchen und damit eine andere geistige Wirklichkeit aufbauen. So ergeben sich verschiedene, einander widerstreitende Lebenssysteme. Gewiß wirkt in aller Abweichung und Gegensätzlichkeit eine einzige Wahrheit — wie könnten ohne ihre innewohnende Macht die einzelnen Systeme die Arbeit beherrschen und die Gesinnung erfüllen? —, aber das erste Bild ist das der Entzweiung und des Streites; erst nach Ergreifung des allbeherrschenden Zieles wird es möglich, die Wahrheit an jeder Stelle von dem anhaftenden Irrtum zu befreien, sowie eine Verständigung der verschiedenen Versuche zu unternehmen. Ein bequemer Kompromiß verbietet sich nirgends mehr als hier, wo jede Behauptung ihre Wahrheit verliert, wenn sie sich nicht als das Ganze durchsetzen kann.

a. D i e ä l t e r e n L e b e n s s y s t e m e .

Die Geschichte übermittelt uns zwei durchgebildete Lebenssysteme, ein älteres und ein neueres, ein ästhetisches der Formgebung und ein dynamisches der Kraftentwicklung. Beide wirken auch in die Gegenwart hinein; daß sie aber weder getrennt noch vereint mehr genügen, darüber lassen schwere Erschütterungen, wie das Empfindlichwerden einer Leere keinen Zweifel. Daß die Gegenwart sichtlich nach einem neuen Lebenssystem verlangt, das gibt auch dem philosophischen Problem die lebendigste Spannung. Es gibt kein »aktuelleres" Problem als dieses. Das ältere System ist eine Schöpfung des Griechentums; es quoll nicht aus seinem Alltagsleben ruhig hervor, sondern es ward auf der Höhe seiner geistigen Arbeit durch Mühe und Kampf errungen.

Der U m r i ß des Lebenssystems

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Es hat, wenn auch stark vergröbert, das Mittelalter beherrscht, dann wiederholt auf seine ursprüngliche Art zurückzugehen und sich zugleich mit der veränderten Lage auseinanderzusetzen gesucht; so wirkt es auf uns von verschiedenen Stellen her in mannigfachster Gestalt. - Dies System verficht als die Haupttätigkeit das künstlerische Wirken, die Verbindung der Mannigfaltigkeit zur Einheit künstlerischen Schaffens und Schauens, und zwar in der besonderen Art des plastischen Kunstwerks. Mit der plastischen Bildung scheint das Leben seine eigne Wahrheit zu finden und zugleich einen Zusammenhang mit der großen Welt zu erlangen, mit ihr die ganze Wirklichkeit sich zur Vernunft zu wenden. Wie die Dinge ihr Wesen erreichen, indem sie sich zum lebensvollen Kunstwerk zusammenschließen, so liegt uns ob, das Kunstwerk aus dem Chaos der ersten Eindrücke herauszusehen oder, wo die Sache unser eignes Sein betrifft, es energisch herauszuarbeiten. Diese Aufgabe reicht von dem großen All durch mannigfache Abstufungen bis ins individuelle Leben hinein: ein Kunstwerk ist das sichtbare — dem Denker auch das unsichtbare — Weltall, ein Kunstwerk soll der Staat, ein Kunstwerk auch die Einzelseele sein. Zugleich wird die geistige Tätigkeit auch in ihrer inneren Art eigentümlich gestaltet. Das Denken wird ein Herausheben des Beharrenden aus dem Wechsel und ein Zusammenschließen der Mannigfaltigkeit zu einem Ganzen; seine Arbeit sttellt die Synthese der Analyse voran; was sie an Begriffen und Methoden entwickelt, das erhält sein rechtes Licht erst durch Beziehung auf jenes künstlerische Schaffen. Die wohldurchdachte alte Metaphysik wird ein leeres Gerüst, sobald sich die Zusammenhänge damit verdunkeln; wenn hier die Begriffe die Formen der Wirklichkeit herausarbeiten sollen, so verlieren sie bei Erstarrung der Formen alle Wurzel der Anschauung. Die praktische Tätigkeit will sich scharf von der technischen scheiden und den Vorrang des Ethischen durchsetzen, aber bei genauerem Zusehen findet sich das künstlerische Bild damit nur von außen nach innen verlegt; statt ein Werk nach draußen abzuliefern, wird das eigne Sein in ein Kunstwerk verwandelt. Ein solches Schaffen enthält ein eigentümliches Verhältnis von freiem Beginnen und gegebenen Ordnungen. Nur die eigne Arbeit kann das Kunstwerk hervorbringen, nur eine unablässige Tätigkeit es der Anschauung gegenwärtig halten; so erlangt hier das Leben weder Inhalt noch Glück ohne eignes Tun. Aber dies Tun ruht

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auf festen Voraussetzungen und steht in einer geschlossenen Welt; bestimmte Richtungen und Kräfte finden sich vor, wohl läßt das Empfangene sich weiterführen, durchleuchten, veredlen, nicht aber in völlig freie Tat verwandeln. Ebenso wirken hier feste und unverrückbare Ziele; die Bewegung geht nicht unter Anbildung immer neuer Vermögen ins Endlose fort, sondern sie erreicht einen Höhepunkt, den sie nicht zu überschreiten vermag, den sie nicht einmal dauernd festhalten kann. So gibt es hier keinen weltgeschichtlichen Prozeß, kein langsames Aufstreben zur Wahrheit durch die Erfahrungen der Geschichte, kein Hoffen und Harren auf eine bessere Zukunft. Vielmehr ist das Leben vornehmlich auf die Gegenwart gestellt und findet hier alle überhaupt erreichbare Wahrheit Demnach hat das Wirken nach allen Richtungen feste Grenzen, die später beengend wurden, aber es hatte damit auch eine volle Sicherheit und innere Geschlossenheit. Überhaupt hält dieses System die großen Gegensätze unseres Lebens noch in einem Gleichgewicht, das später durch schwere Erschütterungen und neue Erfahrungen verloren ging. Wie Natur und Freiheit, so sind auch Subjekt und Objekt, Mensch und Welt noch nicht schroff auseinander gerissen und feindlich gegeneinander gewandt. Wohl befinden wir uns hier jenseits des Naturstandes, wo der Mensch seine unmittelbare Existenz mit voller Naivität in alle Wirklichkeit eintrug; ein Abstand ist zur Empfindung gekommen und bedarf zu seiner Überwindung geistiger Arbeit. Aber diese Überwindung scheint ohne allzu große Mühe und Gefahr zu gelingen. Denn es gilt der Mensch mit seiner innern Art als dem All im Wesen verwandt, und es scheint sich in der Begegnung, es scheint sich namentlich in der künstlerischen Anschauung nur zusammenzufinden, was zueinander gehört und was einander schon suchte. Es scheinen draußen und drinnen im wesentlichen dieselben Ereignisse vorzugehen und Wirkungen vom einen zum andern leicht hinüberzuspielen. Das Geistige bleibt hier auch in der Entgegensetzung gegen das Sinnliche diesem innerlich nahe, und die Grundbegriffe von ihm sind von sinnlichen Vorstellungen durchtränkt. So erfolgt noch kein ernstlicher Bruch zwischen dem Menschen und der Welt. Das Menschliche klärt und veredelt sich an der Welt, aber es gibt damit seine innerste Art nicht auf, es wird nach jener Läuterung um so unbedenklicher als Ausdruck und Höhe des Weltgeschehens behandelt.

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Ausgeglichen scheint in jener Gestaltung der Wirklichkeit zum Kunstwerk auch der Gegensatz von Einheit und Vielheit. Denn das Einzelne hat hier n u r einen Sinn u n d einen Wert als ein Glied des Ganzen, eine Freiheit gibt es hier n u r innerhalb des Ganzen. Das Ganze aber kann sich nur in der Mannigfaltigkeit der Teile bilden und zur Anschauung gelangen. Ausgeglichen scheint hier auch der Gegensatz von Ruhe und Bewegung. Denn die künstlerische Anschauung, die hier das höchste Ziel bildet, will nichts über sich selbst hinaus, sie ist Bewegung, aber auf sich selbst gerichtete, zu sich zurückzukehrende Bewegung, das Glück besteht hier weder im bloßen Streben, noch im trägen Besitz, sondern in der fortlaufenden tätigen Aneignung. Endlich hat hier auch der Gegensatz des Guten u n d des Bösen noch nicht seine Schroffheit aufgetan. Bei allem Fernhalten eines flachen Optimismus findet sich Ruhe und Befriedigung in der Überzeugung, daß die Hemmungen und Störungen nicht in die tiefste Substanz des Lebens hinabreichen, daß die geistige Kraft immer ihre Überlegenheit wahren kann, daß das Böse mehr einen Mangel, eine U n o r d n u n g , als eine radikale Verkehrung bedeutet. Und selbst jener Mangel scheint ein Übel schlechthin nur f ü r die am Einzelpunkte haftende Betrachtung; in dem Zusammenschluß zum Ganzen, wie ihn das künstlerische Denken und Bilden vollzieht, vermag aus dem Fehler der besonderen Stelle ein Vorteil des Ganzen zu werden, und sich schließlich aus allen Disharmonien eine große Harmonie herauszuheben. Dies Lebenssystem enthält eigentümliche Wertschätzungen, sowie Aufgaben und Angriffspunkte. Verworfen wird hier durchgängig das Unendliche als das Ungestaltete und der Bearbeitung Entweichende; eine Grenze sowohl nach dem Großen als nach dem Kleinen hin wird in der Welt als Tatsache angenommen, in den menschlichen Verhältnissen eifrig erstrebt. Ebenso erfolgt im Innern der Wesen eine deutliche Scheidung besonderer Teile, eine kräftige Ausprägung und scharfe Abgrenzung gegeneinander, eine Verwerfung aller fließenden Übergänge und aller Vermengung der Gebiete, ein Z u g nach Spezialisierung und Differenzierung, das aber innerhalb des Ganzen, nicht ohne das Ganze und gegen das Ganze. Daher zugleich ein Streben nach Wiedervereinigung des Geschiedenen zur Gemeinschaft des Werkes, ein Drängen auf ein Gleichgewicht aller Mannigfaltigkeit, auf Abstufung, Ebenmaß und Harmonie in allen Verhältnissen.

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Der Kampf um den Charakter des G e i s t e s l e b e n s

Als leitender Wertbegriff wirkt dabei die Form, nicht als totes Schema, sondern als lebendige Kraft, nicht von draußen den Dingen auferlegt, sondern aus ihrem eignen Wesen hervorquellend. Das ganze Leben ist hier von dem Glauben an die Unwandelbarkeit, Allgegenwart und überlegene Macht der Form durchdrungen; sie erzeugt ein Ideal edler Bildung, das sich in alle einzelnen Gebiete erstreckt, allen Stoff belebt, alle Mannigfaltigkeit zusammenhält. So geht durch alle Arbeit eine gemeinsame Lebensstimmung, eine Stimmu n g freudiger, aber maßvoller und gehaltener Art. Der Mensch steht hier in einer Wirklichkeit der Vernunft und wird von der Wahrheit umfangen; er hat die Aufgabe, den ewigen Bestand auch im menschlichen Kreise zu wahren, treu die Flamme zu hüten. Was sein Wirken an festen Grenzen hat, das empfindet er nicht als eine Einengung, da kein inneres Verlangen darüber hinausdrängt. So ein Lebenssystem geistiger Kraft und geistigen Schaffens, ein System, das nicht n u r mit seiner Ausgleichung der Gegensätze dauernd das Ideal einer universalen Lebensführung vorhält, sondern das auch mit dem Besonderen seiner Behauptung, mit der Form und dem Verlangen der Formgebung, ein Urphänomen und eine bleibende Aufgabe vertritt. Denn wie immer sich die Stellung der Form in der Welt verändert hat, wie sehr auch die Form in den Fluß des Geschehens hineingezogen ist, und wie sehr sie auch bei der Frage des inneren Werdens von Mensch und Menschheit andere Mächte neben, ja über sich anerkennen muß, sie behauptet in allen Wandlungen eine Tatsächlichkeit, die irgendwie jedes Lebenssystem anzuerkennen und sich anzueignen hat. Seine herrschende Stellung aber hat dies System nicht zu behaupten vermocht. Von Anfang an forderte es mit seiner Verwandlung des ganzen Lebens in künstlerisches Schaffen eine geistige Kraft und eine Vornehmheit der Gesinnung, welche nur die Höhe einer produktiven Zeit darbieten konnte. Das Sinken der Produktion mußte alsbald einen Abstand zwischen den Ansprüchen jenes Systems und dem Vermögen der Menschheit bemerklich machen, und die Erweiterung dieser Kluft eine peinliche Leere empfinden lassen. Auch litt jenes System insofern an einem innern Widerspruch, als der enge Zusammenhang des Menschen mit der Welt, die Zugehörigkeit zur Wahrheit, welche hier alle Ausführungen trägt, in ihm nicht sowohl erwiesen als aus eben dem naiveren Lebensstande dahin mitgebracht ist,

Der U m r i ß des Lebenssystems

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über den jener geistige Aufbau hinausstrebte; es waltet hier wie bei anderen Hauptpunkten der Widerspruch, daß jenes System zugleich das griechische Volksleben mit seinen Überzeugungen und Einrichtungen überwinden wollte, und in dem Charakteristischen seiner Behauptung daran gebunden blieb. — Was aber in den geschichtlichen Verhältnissen vornehmlich einer Gegenbewegung zum Siege verhalf, das war das Problem des Bösen, die Erfahrung größerer Widerstände und die Empfindung schwererer Leiden im menschlichen Dasein, vor allem aber das Aufsteigen eines tieferen moralischen Konfliktes, als sie jenes System anzuerkennen und anzugreifen vermochte. Die Menschheit sah sich vor einem Abgrunde, sie hatte einen Kampf um Sein oder Nichtsein zu führen. Der Ernst dieses Kampfes und seine stürmische Leidenschaft drängten jenes Lebensideal geistiger Kraft und freudigen Schaffens weit zurück; gegenüber der schmerzlichen Empfindung einer unerträglichen Unvernunft und bei dem Ringen um das Heil der unsterblichen Seele konnte den alten Christen die Freude an jenem Ideal als eine Frivolität erscheinen und die Sorge um den Inhalt zu barbarischer Geringschätzung der Form verleiten. Später sank die Spannung, und es erfolgte ein Kompromiß mit der Durchschnittslage, nun war wieder an das Ganze des Lebens und zugleich an eine Ausgleichung mit dem antiken Systeme zu denken. Denn es hat in Wahrheit das historische Christentum ein durchgebildetes Lebenssystem aus eignem Vermögen und gemäß seiner eignen Art nicht aufgebracht; ein Lebensganzes ist es nur geworden, indem es das antike System zur Hülfe rief und sich leidlich mit ihm verschmolz. Eine solche Verschmelzung, großartig in äußerer Ausdehnung und Anordnung, voll Klugheit, ja Weisheit in der Abmessung der verschiedenen Interessen, aber mit einem innern Widerspruch behaftet und daher von der Tiefe immer wieder zur Oberfläche gedrängt, bildet die hierarchische Ordnung des Mittelalters. Die Erschütterung dieser Ordnung erfolgte zunächst durch eine Erstarkung und Befreiung des Individuums, das sich dem hergebrachten Zusammenhange entwand, sich direkt zur Antike und zum alten Christentum zurückwandte und bei stärkerer Empfindung ihrer Eigentümlichkeit sofort der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Einigung inne wurde. So fielen die beiden Welten auseinander, und es kam damit in das Leben ein Zwiespalt, der bis zur Gegenwart fort-

96

D e r Kampf um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

dauert. Dann aber begann sich auf dem neuen Boden auch ein eigentümliches Leben zu entwickeln, und zwar von vornherein unter anderen Bedingungen und in anderer Richtung als im Altertum. Das alte System stand freilich im Gegensatz zur unmittelbaren Umgebung, aber es fand kein andersartiges Lebensganzes im Besitz, das es anzugreifen und auszutreiben hatte, es erschien sich selbst als das einzig mögliche, unbestreitbar richtige. Das neue Leben fand dagegen den Platz besetzt, es konnte sich selbst nicht bejahen ohne das andere zu verneinen, es mußte verwerfen und verdrängen, um seine eigne Art entfalten zu können. Schon deswegen ist es weit mehr auf Reflexion gestellt und hat einen höheren Grad der Bewußtheit; es muß den eignen Weg mühsamer suchen und sich mehr mit Zweifeln herumschlagen. Über solche geschichtliche Verwicklungen hinaus greift aber der Zweifel bis in den Grundprozeß unseres Lebens zurück. Nach so vielen Wandlungen und Erschütterungen, nach so schmerzlichen Erfahrungen des Irrtums hat der Mensch den Glauben daran verloren, unmittelbar von der Wahrheit umfangen und von Natur zum rechten Ziel gewiesen zu sein; er sieht sich auf seine Subjektivität als auf das Einzige zurückgeworfen, was ihm im Einsturz der Welten verbleibt. Aber diese Subjektivität steht nun der Wahrheit gegenüber und ist von der Wirklichkeit losgerissen. So ist der Ausgangspunkt jetzt statt des Zusammenhanges der Gegensatz; es erscheint eine tiefe Kluft zwischen Subjekt und Objekt, ohne eine völlige Umwandlung des Weltbildes läßt sich kein Zusammenhang wiedergewinnen. — Mit dem Gegensatz von Subjekt und Objekt verschärft sich zugleich der von Mensch und Welt, von Innerm und Äußerm, von Seelischem und Sinnlichem. Überall ist die Verbindung, die in der Antike wie eine Gabe des Schicksals zuzufallen schien, mühsam erst herzustellen, und die Herstellung fordert eingreifende Wandlungen; die geistige Arbeit gibt uns die Dinge, wesentlich anders zurück als wir sie heranbrachten. In besondern wird, wo harte Gedankenarbeit durch Zweifel und Analyse hindurch alle Wirklichkeit zu vermitteln hat, der erste Eindruck der Dinge gänzlich verblassen, der ganze Umkreis der Wirklichkeit wird einen gedanklichen, ideellen Charakter annehmen. So begründet sich jene Wendung zur Ideellität, der wir als einer geschichtlichen Tatsache schon oben begegneten. Aber das alles ergibt mehr Voraussetzungen eines neuen Lebenssystems als ein solches System selbst. Die Wendung dahin kam in.

Der Umriß des Lebenssystems

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Fluß durch die Idee der fortschreitenden Bewegung, einer wachsenden Kraftentfaltung, durch die Entwicklungsidee; sie bildet den Keim der ganzen modernen Lebensführung. Ohne den Glauben an die eigne größere Kraft hätte man gar nicht wagen dürfen, das so fest eingewurzelte alte Leben anzugreifen, jeder Erfolg aber war eine Bestätigung dieses Glaubens. Dabei konnte sich die neue Kraft zunächst in den Dienst der alten Ziele stellen und nur eine frischere und vollere Aneignung der alten Güter erstreben. Bei weiterem Erstarken aber mußte sie diese Dienstbarkeit als eine Last empfinden und abschütteln, nun suchte sie ihren Zweck in sich selbst, in der eignen, ins Unermeßliche wachsenden Steigerung. Mit solcher Wendung erhält das Geistesleben vom Großen bis ins Kleine eine nähere Bestimmung und Zuspitzung. Seine Hauptaufgabe wird nun, die gesamte Wirklichkeit in uns und außer uns zu immer größerer Kraftentfaltung zu bringen, sie mehr und mehr aus dem Stande der Zerstreuung und Hemmung in den einer Verbindung und vollen Entwicklung überzuführen. Auch wenn das Geistesleben dabei nicht als ein neuer Ausgangspunkt, sondern als eine bloße Fortsetzung der Natur gilt, so hat es doch gegenüber der niederen Stufe seine besondere Art und geht mit seinen Leistungen weit über jene hinaus. Den Inhalt des Lebens bildet hier die Bewegung um der Bewegung, d. h. des Wachstums der Bewegung willen, seinen Ertrag das Mehr der Bewegung, das Maß seines Gelingens der Grad der Kraftentwicklung, sein Glück die Empfindung der Steigerung des Lebensprozesses. Wesentlich ist dabei, daß die Bewegung kein gegebenes Ziel vorfindet, dem sie zu dienen hat, ja daß sie überhaupt kein Ziel außer sich hat, sondern in ihrem eignen Dasein unmittelbar - das Letzte und Ganze bedeutet Sie könnte ein absoluter Selbstzweck heißen, wenn nicht selbst dieser Begriff fremde Vorstellungen einführte, und es sich daher empföhle, von einem System reiner und bloßer Tatsächlichkeit zu sprechen. Was immer eine solche Wirklichkeit an Bestand erhält, das liegt nicht vor der Bewegung, sondern ist aus ihr hervorgegangen und aus ihr zu verstehen; als ein solches Erzeugnis der Bewegung ist es aber auch weiter veränderlich und darf nie als endgültiger Abschluß, nie als bindende Norm der Bewegung entgegengehalten werden. So werden nun auch die Formen erweicht und in den Fluß hineingezogen. Auch gibt es keine beharrenden Werte. Denn als gut kann hier nur gelten, was die Bewegung fördert, die Kraft E u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

7

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D e r Kampf um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

sich reicher entfalten läßt; dies aber wird nach den verschiedenen Lagen der Bewegung verschieden ausfallen, so daß alles in Wechsel und Wandel gerät. Wo das Nützliche im Sinne des der Bewegung Förderlichen die alleinige Norm bildet, da ist der Sieg des Relativismus über alle absolute Gestaltung entschieden, da hat jede Zeit ihre eigne Wahrheit und ihr eignes Glück; da heißt es nicht, die Zeit mit einer ewigen Wahrheit zu erfüllen, sondern jeden Augenblick in seiner Individualität zu erfassen und nach dieser Individualität zu gestalten, mit ganzer Hingebung nur diesem Zeitpunkt zu leben. So verzweigt sich das Leben ins Unendliche, die Spannung teilt sich seiner ganzen Ausdehnung mit, jedes einzelne gewinnt, indem es, ohne aus dem Ganzen herauszutreten, seiner eignen Art leben darf; das Ganze der Wirklichkeit wird damit reicher und freier, durchsichtiger und beweglicher. Dabei hat diese Bewegung keinen Anfang und kein Ende, keine Grenze nach dem Großen wie nach dem Kleinen hin; ohne eine Unermeßlichkeit nach jeder Richtung vermöchte sie sich nicht als selbstherrlich und allgenugsam zu geben. So erhält der Lebensprozeß eine unermeßliche Ausdehnung, gegen welche der ältere Daseinskreis verschwindet; ist äußerlich packender die Eröffnung unendlicher Weiten in Zeit und Raum, so wird für die innere Gestaltung bedeutender die Wendung ins Kleine, die Unendlichkeit des Kleinen. Das Denken wie das Leben greift auf elementare und molekulare Vorgänge zurück: vom Kleinsten her soll verstanden, vom Kleinsten her die Wirklichkeit durch Befreiung der Kräfte, durch Herstellung neuer Kombinationen u. s. w. gehoben werden. So in der Technik, so in der Erziehung, so in Staat und Gesellschaft, so durch das ganze Leben. In dem allen ein gewaltiges Anschwellen der Lebensflut, eine wachsende Beschleunigung der Bewegung, eine reiche Fülle bestätigender Erfahrungen und Leistungen durch alle Weite des Daseins. Aber bei allen solchen Bestätigungen ist das System der Kraftentwicklung nicht ein Erzeugnis der bloßen Erfahrung. Auch dies System hat seinen Glauben, der alle Erfahrung und Beweisführung weit überschreitet. Es ist der Glaube an die Allmacht der Bewegung, an ihr Vermögen, alles in Fluß zu bringen und schließlich auch die zähesten Widerstände zu überwinden; es ist der Glaube an ein Aufsteigen von Höhe zu Höhe, an einen unablässigen Fortschritt, wenn nicht im Einzelnen, so doch im Ganzen. Mit diesem Glauben steht und fällt das System, alle von ihm enthaltene Tatsächlichkeit könnte

Der U m r i ß des Lebenssystems nach

seiner

Erschütterung nicht mehr das

Letzte

99 und G a n z e

be-

deuten. Es ist aber nicht nur ein äußeres M e h r der Leistung, das auf diesem

Wege

erreicht w i r d , auch innerlich erhält die Arbeit

einen neuen Charakter.

Zunächst ergibt das System der

hier

Kraftent-

w i c k l u n g ein eigentümliches Verhältnis von Natur und menschlichem Vermögen.

D i e B e w e g u n g quillt unmittelbar aus der Natur hervor,

ja sie bildet die Natur der Dinge. Leistung v o n einer —

S o wird

der Grundstock

sei es sinnlichen, sei es geistigen —

der

Natur

entgegengebracht, und es m u ß als eine törichte O b e r s p a n n u n g menschlichen V e r m ö g e n s gelten, darin eingreifen, eigne Kräfte aufbringen, eigne Ziele durchsetzen z u wollen.

W a s unser Zutun v e r m a g ,

wesentlich negativer Art: w e n n wir vorgefundene H e m m u n g e n

ist be-

seitigen, drohende Störungen fernhalten, der Natur auf ihrem W e g e z u r Entwicklung H a n d r e i c h u n g leisten, so haben w i r das Beste getan, was wir tun können. ungen

der

Politik,

Daraus erwachsen eigentümliche Gestalt-

Volkswirtschaft

und

Erziehung.

Überall

der

schroffste Gegensatz z u m Mittelalter; war es dort die Idee der O r d n u n g , welche das Leben

z u r Vernunft führen sollte, so wird nun

alles Heil v o n der freien B e w e g u n g erwartet. A u c h die Arbeit am Weltall zeigt einen Gegensatz z u r Art.

Nicht die O r d n u n g

und Schönheit, sondern

älteren

das Leben

und

die Kraft, nicht die ewigen Formen, sondern den unablässigen W a n d e l gilt es nun an den D i n g e n

zu sehen.

S o kann die Wissenschaft

nicht darin bestehen, aus dem C h a o s und dem F l u ß der sinnlichen Eindrücke einen unwandelbaren Kosmos, »eine ewige Z i e r " z u h e b e n , sondern zur A u f g a b e

wird,

die unmittelbar

heraus-

vorliegende,

scheinbar ruhende W e l t in ein Reich lebendiger Kräfte umzusetzen; d i e Begriffe möchten nicht die Grundformen, sondern die einfachen Kräfte erfassen. ersten Befundes. aufzulösen,

D a s verlangt eine weit radikalere U m w a n d l u n g des D a s nächste Dasein ist als eine bloße Erscheinung

ein fester Standort in den

Dingen

erst zu

gewinnen.

N u r mühsame Analyse führt z u den Elementen, aus denen sich ein Verständnis ein

der Wirklichkeit erschließt.

anderes Verhältnis

als bei der älteren Art.

der Teile

Zugleich ergibt sich meist

untereinander und z u m

Ganzen

D i e Wirklichkeit besteht aus lauter einzelnen

Elementen, aber diese Elemente sind nur miteinander, was sie sind, die Kraft entfaltet sich nicht ohne eine G e g e n w i r k u n g , immer bleibt d a s Einzelne auf den

Z u s a m m e n h a n g angewiesen

und

erhält 7*

aus

100

Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens

ihm seine nähere Gestalt. Damit entfallen alle starren Begrenzungen und Abstufungen; die Zwischenbildungen, die Übergänge von der einen Form und Stufe zur anderen, von der älteren Art als eine Störung der Ordnung verabscheut, werden hier ein willkommenes Zeugnis für das alles verbindende und alles durchflutende Leben. Das System der plastischen Anordnung weicht einem System der natürlichen Entwicklung. In diesem System hat das Einzelne nicht eine naturgegebene Grenze zu wahren, sondern es scheint einer unablässigen Erweiterung fähig, die ganze Welt steht ihm offen. Das ergibt eine andere Art nicht nur der Betrachtung, sondern auch des Lebens, andere Ideale der Bildung, andere Ordnungen der Gesellschaft. Ein System, das so viel verlangt und so viel an dem vorgefundenen Stande verändern möchte, kann es mit den Widersprüchen, dem Dunkel und der Unvernunft des Lebens unmöglich leicht nehmen. Im Gegenteil wird es vielfach die Empfindung dafür schärfen und mehr Kraft dagegen aufbieten. Aber Eine Überzeugung steht ihm unerschütterlich fest: die Überzeugung, daß die Kraft den Widerständen gewachsen sei, daß sie weder von vornherein durch sie gelähmt, noch in ihrem Fortgange durch sie endgültig gehemmt werde; das Böse darf nicht in die Elemente des Lebens hineinreichen. So gibt es hier ebensowenig ein radikales Böse wie in der Antike. Hier wie dort scheint alle Unvernunft sich schließlich in lautere Vernunft aufzulösen. Hier ist es der Gedanke, daß eben die Widerstände die Kräfte zu größerer Leistung reizen und dem Weltprozeß mit einer stärkeren Spannung ein größeres Eigenleben geben, wodurch sich endlich alle Wirklichkeit in ein System der Vernunft zu verwandeln scheint. Schon diese Grundzüge konnten mit Mühe einen Gegensatz zurückstellen, der durch die ganze Weite des neuen Lebenssystems geht; jede nähere Ausführung muß sich notwendig mit ihm befassen. Es ist der Gegensatz einer idealistischen und einer realistischen, einer spekulativen und einer empiristischen, einer substantiellen und einer phänomenalen Art des Prozesses. Dort bedeutet der Prozeß das ganze Sein und trägt damit in sich die absolute Wahrheit, hier entwickelt er sich aus den Beziehungen der Dinge untereinander, hinter denen das Sein, unzugänglich liegen bleibt, seine Wahrheit wird damit eine relative. Dort ist die Wirklichkeit im Kerne geistig, hier bildet das Geistesleben, wenn nicht ein Produkt, so doch eine bloße Begleiterscheinung eines andersartigen, dunklen Geschehens. Dort

' Der U m r i ß des Lebenssystems

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ist die Grundkraft die Intelligenz, und den Fortschritt des Weltprozesses bildet das Wachstum der Bewußtheit, das Zusichselbstkommen des Geistes, von der intellektuellen Bildung wird aller Gewinn des Guten, alle Heilung der Schäden erwartet; hier steht die Entscheidung bei den Naturkräften, und es hängt alle geistige Entwicklung am materiellen Gedeihen, der wirtschaftliche Fortschritt wird damit zum Hauptziel des Strebens. Dort erwächst die Welt von der Seele her durch die Bewegung des Denkens; hier von außen aus der Berührung mit der Umgebung. Dort ist der Prozeß ein einheitliches Ganzes, und dies Ganze treibt alle Mannigfaltigkeit aus sich hervor, auch ist das Ganze an jeder Stelle unmittelbar gegenwärtig; hier liegt alle Realität beim Einzelnen, und alles Ganze, das mehr sein will als eine Zusammensetzung der Elemente, wird ein Unding. Dort vollzieht sich der Aufstieg durch eine Bewegung des Ganzen, das im Ausgehen und Zurückkehren, durch Satz und Gegensatz hindurch, mittels großer Umwälzungen seiner eignen Höhe zustrebt; hier durch ein Zusammenwirken der unzähligen Elemente, die ihre Wirkungen summieren und damit langsam, aber sicher ins Ungemessene vorrücken. So und weit darüber hinaus stoßen die beiden Richtungen hart zusammen, um so unversöhnlicher, weil sie denselben Platz verlangen, weil sie denselben Grundgedanken vertreten, der sich nicht durchbilden kann, ohne die eine oder die andere Richtung zu wählen. So reizen und treiben sie sich gegenseitig und machen auch innerlich das Leben zu einem unaufhörlichen Kampfe. Aber durch alle Gegensätzlichkeit hindurch erhält sich und wirkt dieselbe Grundrichtung, hinter dem Streit stehen gemeinsame Behauptungen, diese Gemeinschaft kommt zu besonders deutlichem Ausdruck in der Negation, in der auflösenden und zerstörenden Kraft, die beide vereint gegen alles Fremde üben. Gerade dieses Auseinandergehen des einen Hauptstromes in zwei Arme hat stark dahin gewirkt, alle Gebiete in die Bewegung hineinzuziehen und auch den ganzen Bestand der Arbeit damit zu ergreifen. Nicht nur in den Leistungen, auch in den Problemen und Konflikten erweist sich das Ganze als eine zusammenhängende Tatsächlichkeit. Viel zu viel ist durch die Entwicklung dieser Tatsächlichkeit zerstört, viel zu viel an neuen Erfahrungen und Bewegungen gewonnen, viel zu sehr der Lebensprozeß selbst verändert, als daß sich nicht von hier aus dauernde Wirkungen behaupten müßten.

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Der Kampf um den Charakter des G e i s t e s l e b e n s

Aber das System will nicht bloß eine Tatsache- neben anderen, es will die letzte und ganze Wirklichkeit sein, und dieser Anspruch begegnet immer härterem Widerstand. Und zwar nicht bloß Widerständen von draußen her, die sich zurückschieben und der Zukunft überweisen ließen, sondern Widerständen, die aus der Bewegung selbst entspringen, sich mit ihrem Fortgange steigern und ihr schließlich überlegen zu werden drohen. Sie haben den Glauben an die Allmacht jenes Systems schon stark erschüttert, sie setzen ihr Zerstörungswerk unablässig fort, sie bereiten den Boden für neue Gestaltungen. Offenbar hat das System det Kraftentwicklung seine Höhe schon hinter sich; was uns von außen her noch als lebendige Gegenwart umfängt und auch die Zukunft für sich verlangt, das mutet uns innerlich oft schon an wie eine ferne Vergangenheit. Die Erschütterung beginnt, ähnlich wie bei der Auflösung des alten Systems, nicht von prinzipiellen Erwägungen her, sondern aus den unmittelbaren Erfahrungen des Menschheitslebens, vornehmlich aus der Erfahrung und Empfindung des Bösen. Immer zwingender macht sich bemerklich, daß die Befreiung der Kräfte nicht schon einen sicheren Zusammenschluß und die Richtung auf die Vernunft verbürgt; jene Befreiung, als einziges, letztes, unbedingtes genommen, wirkt in aller Erhöhung des Lebens auch zur Entfesselung wilder Leidenschaften und zerstörender Selbstsucht, sowohl der Individuen als auch der Massen; wir sehen die Kräfte sich feindlich gegeneinander wenden und im Zusammenstoß alle Vernunft des Lebens gefährden. Auch in den äußeren Verhältnissen hat das Neue mit aller Förderung so viele Verwicklungen und Übelstände erzeugt, der vermeintlich reinen Vernunft ist so viel Unvernunft entsprungen, und es hat sich beides so zusammengeschlungen, daß das Vertrauen auf das Ganze zu verschwinden droht, ja weithin verschwunden ist. In solcher Lage aber zu scheiden und zu sondern, sowie den Kampf gegen jenes von innen aufsteigende Böse aufzunehmen, dazu müßte das System seine eigne Grundlage verändern, dazu auf seine herrschende Stellung verzichten, dazu ein anderes werden, als es ist. So wie es ist, steht es jenen Problemen ohne Wehr gegenüber. Aber alle Erfahrung von Schranken des Vermögens könnte den Kern des Ganzen unangetastet lassen, bei allem Schmerze wäre das Böse wohl zu ertragen, wenn das Leben in seiner Substanz kräftig und wertvoll verbliebe, wenn wir aus aller Not und Unsicherheit uns in ein Gebiet sicherer und wesenhafter Wahrheit zu flüchten

Der Umriß des Lebenssystems

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vermöchten. Aber auch darüber ist im modernen Lebenssystem Zweifel entstanden. Nur deshalb üben alle einzelnen Fehler und Mißstände eine so gewaltige Wirkung, weil sie einen Mangel und eine Leere des Ganzen zur Empfindung bringen. Nichtig und leer ist in Wahrheit ein System absoluten Werdens, ein System, das alles in den Wechsel und Wandel hineinzieht und nirgends einen festen Punkt gewährt, um sich diesem Strome zu entziehen, ihm ewige Wahrheiten zu entringen, die unsägliche Arbeit für ein Selbstleben zu verwerten. In unaufhörlicher und unaufhaltsamer Flucht ziehen hier die Erscheinungen an uns vorbei und über uns hinweg, die Leistungen jagen einander, Individuen verdrängen Individuen, und es soll durch Freud und Leid, durch Werden und Vergehen, durch Vernunft und Unvernunft der Lebensprozeß wachsen und sich damit alles ins Gute wenden. Aber was ist dieser Lebensprozeß, dieses allverzehrende Wesen, dieser Moloch, dem wir Gut und Blut, Arbeit und Glück, Ehre und Gewissen aufzuopfern hätten? Wer erlebt sich in dem Ganzen, wer hat etwas von dem Ganzen, wer wird durch das Ganze gefördert? Hat das moderne System darauf keine Antwort, so ist ihm damit das Urteil gesprochen. Es fühlte sich selig in der Gewißheit des Fortschreitens und hing mit seinem Blick allein an der Zukunft. So sah es nicht die andere Seite, es sah nicht das unaufhörliche Versinken, nicht die Schmalheit der Linie, worauf seine Wirklichkeit steht. Das alles kam nicht zur Empfindung bei aufsteigender Jugendkraft, welche kühn die Zustimmung der Erfahrung vorausnahm; es wurde nicht empfunden, solange dem Prozeß aus anderen Zusammenhängen noch eine Substanz entgegenstand und einen Halt gegen die Verflüchtigung im absoluten Werden bot. Aber jene Substanz ist mehr und mehr durch die Bewegung verzehrt, nun hat diese mit eigner Kraft für das Ganze aufzukommen, nun muß der Mangel an Inhalt, die Leere und Sinnlosigkeit des Ganzen zur deutlichen Empfindung gelangen. Das um so mehr, als jene titanische Bewegung den Durst nach Glück gewaltig gesteigert und dem Menschen anscheinend ein Recht auf die volle Befriedigung seiner Wünsche gegeben hat Alles aber ist eher erträglich, Leid und Not, Enge und Druck, als eine Leere bei völlig wachem Leben, bei einmal erregtem Bedürfnis. Eine solche Lage ist unerträglich, sie muß überwunden werden und wird überwunden werden, so gewiß irgendwelche Vernunft in uns waltet.

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D e r Kampf um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s ß. D a s S y s t e m d e r W e s e n s b i l d u n g .

Eine Gegenwirkung gegen die Ausschließlichkeit des modernen Kultursystems ist schon lange im Zuge. Von Anfang an enthielt das Kulturleben der Menschheit mehr als jene besondere Art, dies weitere Leben brachte die mannigfachste Ergänzung und Berichtigung. Zu größerer Tiefe und Wärme wirkte das Christentum, zur Ergänzung der gesamten Lebensordnung bot sich das antike System. Schien doch das eine eben das zu enthalten, was dem anderen fehlte: dort die Form, hier die Kraft; dort Ruhe, Ordnung, Schönheit, hier Werden, Freiheit, Leben; dort die Bewegung vom Objekt zum Subjekt, hier vom Subjekt zum Objekt u. s. w. So schienen sie zusammen das ganze Leben zu umspannen und seine Gegensätze auszugleichen. In Wahrheit bewegt sich zwischen diesen beiden Polen die Kulturarbeit der letzten Jahrhunderte. Die höchste Stufe einer solchen Synthese des Alten und Neuen hat die klassische Literatur Deutschlands erreicht, und es haben große Persönlichkeiten durch große Schöpfungen in Wahrheit eine individuelle Lösung des Problems gefunden. Aber das ist keine Lösung für alle. Jene Lebenssysteme widersprechen einander viel zu sehr, als daß sie sich so unmittelbar aneinänderlegen und zu gemeinsamem Werke verbinden könnten, der Boden für eine bleibende Verständigung ist erst zu gewinnen. Ferner erschöpfen sie, auch zusammengenommen, nicht das gesamte Leben, gewisse Grenzen sind dem modernen und dem antiken System gemeinsam. Beide gleiten viel zu rasch über das Böse hinweg, beide wissen die Innerlichkeit, die sie verfechten, nicht sicher zu begründen, beide das freie Handeln, an dem sie festhalten, nicht gegen die Natur scharf abzugrenzen, beide der ethischen Idee nicht zur nötigen Selbständigkeit zu verhelfen; beide sind im tiefsten Grunde ungeschichtlich, das eine, weil es die Bewegung, das andere, weil es das Beharren unterdrückt, ja aufhebt. So ist der Blick nicht rückwärts, sondern vorwärts zu richten, wir bedürfen eines neuen Lebenssystems, erst von ihm aus würde sich in den überkommenen Ordnungen das Wahre vom Verfehlten, das Bleibende vom Vergänglichen scheiden lassen. Für ein solches System aber bietet sich als Prinzip die Wesensbildung; es gilt nun, zu prüfen, ob sie in der Tat geeignet ist, ein Ganzes der Wirklichkeit zu entfalten und durchweg die Dinge ihrer eignen Tiefe und Wahrheit zuzuführen.

Der U m r i ß d e s L e b e n s s y s t e m s

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aa. Allgemeine Züge.

Seine Eigentümlichkeit gegenüber den Mitbewerbern bekundet das System der Wesensbildung zunächst in einigen allgemeinen Eigenschaften, die hier rasch durchlaufen sein mögen. 1. Das System der Wesensbildung mit seinem Aufsteigen zum Wesen durch eigne Tat ist das erste, das beim Geistesleben deutlich zwischen der allgemeinen Art und der konkreten Gestaltung, zwischen mitgebrachter Natur und eigner Weiterbildung scheidet. Die älteren Systeme verdunkeln und verwirren die Lage, indem sie beides in Einem ergreifen; es fehlt ihnen eine genügende Auseinandersetzung von Generellem und Speziellem und zugleich ein kräftiger Trieb, vom einen zum anderen vorzudringen. Dies Durcheinander führt im weiteren Verlauf zu einer Entzweiung beider Seiten und versetzt die Arbeit in ein haltloses Schwanken. Bald sollen die allgemeinen Formen und Kräfte ohne nähere Determination einen anschaulichen Lebensgehalt aus sich hervortreiben, ein blinder Glaube an die Macht des Abstrakten möchte aus bloßen Möglichkeiten Wirklichkeiten schaffen; bald hingegen unterwerfen wir uns einer unaufgehellten Positivität, einer dunklen und starren Tatsächlichkeit und behandeln sie wie ein Reich der Vernunft. Beides aber, der Kultus des Abstrakten und die Überspannung der Positivität, bei denselben Personen, in denselben Zeiten; an solchem Zwiespalt leidet auch unsere Zeit So ist es nichts Geringes, wenn die Wesensbildung mit ihrer Anerkennung der Zweistufigkeit des Lebens und einer inneren Bewegung von Ganzem zu Ganzem darin Wandel zu schaffen verspricht. 2. Die älteren Systeme vermögen das Verhältnis von selbsttätiger und gebundener Geistigkeit, das der Verlauf der Untersuchung als notwendig ergab, nicht in sich aufzunehmen; wohl aber vermag das die Wesensbildung. Dem antiken System schieben sich Selbsttätigkeit und Gegebenheit noch zu sehr ineinander, als daß jedes seine Eigentümlichkeit deutlich entfalten und der Gegensatz seine Probleme kräftig hervortreiben könnte. Das moderne Leben hat die Scheidung vollzogen, aber ein bloßes Kraftsystem kann nicht beide Reiche nebeneinander anerkennen, es muß das eine dem anderen gänzlich einfügen wollen, sei es, daß die Selbsttätigkeit die Gegebenheit, oder daß die Gegebenheit die Selbsttätigkeit unter sich zwingt, ein Unternehmen, das zu höchst gewaltsamen Verrenkungen der Wirklichkeit führt und schließlich notwendig mißlingt. Wird

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D e r Kampf um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

hingegen im neuen System die Eröffnung eines Wesens erst aus dem Zusammenstoß von freier und gebundener Tätigkeit gewonnen, so ist zugleich beides geschieden und aufeinander verwiesen. Diese Fassung des Verhältnisses gestattet sowohl die Bedeutung der Freiheit als die Macht der Widerstände und Verwicklungen des Lebens vollauf zu würdigen, während sich sonst leicht die Sache zu glatt und einfach ausnimmt und die Aufgabe überrasch in Einem erledigt werden soll. 3. Die Wesensbildung setzt Werk und Qrundleben in ein richtigeres Verhältnis und bringt zugleich den Charakter des Selbstlebens energischer zur Geltung als die älteren Systeme. Bei ihnen sind Aufmerksamkeit und Bewegung einseitig dem Werk zugewandt und in das Werk versenkt; das ganze Leben soll in das Schaffen und Schauen des Kunstwerkes oder in die Förderung der Kraftentwicklung aufgehen. Die Zurückwendung zum Selbst, der Gewinn des Selbst für die Arbeit und seine Befriedigung durch die Arbeit werden hier zu Nebensachen, die ohne weiteres zuzufallen scheinen. - Wir sahen die Innerlichkeit, Kraft und Wahrhaftigkeit des Lebensprozesses durch solche Vernachlässigung einer beherrschenden und zusammenhaltenden Einheit in schwere Gefahr geraten; wir müssen daher eingreifende Wandlungen davon erwarten, wenn die Wesensbildung jenes Problem in den Vordergrund rückt. Auch sie will den Fortgang zum Werk und muß ihn wollen, um aus dem Leben einen Inhalt herauszuarbeiten und es zu einer konkreten Wirklichkeit zu verdichten. Daß aber das Werk seine Eigentümlichkeit nicht darlegen, seine Zusammenhänge nicht finden, seine Konsequenzen nicht entwickeln kann, ohne sich vom Grundleben abzulösen und ihm gegenüber eine Selbständigkeit zu erlangen, davon haben wir uns überzeugt. Ein Heraustreten aus dem ersten Lebensstande, ein Objektivwerden gegen uns selbst, ist daher auch hier eine unerläßliche Forderung. Aber bei der Wesensbildung verbleibt das Werk bei aller Gegensätzlichkeit innerhalb des Lebensprozesses; das Selbst hört nicht auf in ihm zu wirken und es zu sich zurückzuziehen; verständlich wird nun, wie es sich in dem Werk erleben, aus ihm gewinnen und zugleich ihm überlegen bleiben kann. In ein so fruchtbares Verhältnis zum Ganzen kann das Werk nicht treten, ohne ein eignes Leben anzunehmen und von innen her zu einer Einheit zusammenzustreben, ohne ein Verlangen, dem Ganzen des Lebens gewachsen zu werden. Wo immer die Arbeit in den Grund

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zurückgreifen und das Selbst weiterbilden soll, da muß in solcher Weise das Werk beseelt, durchlebt und innerlich überwunden werden, zu dem allen aber bedarf es der Anerkennung einer Wesensbildung. 4. Jedes System findet den Gipfel seiner Tätigkeit in einem eigentümlichen Höhepunkt, der das Übrige beherrscht und die Art des Ganzen zu einem anschaulichen Ausdruck bringt. Das ältere System hatte diesen Höhepunkt im plastischen Gestalten, das neuere entweder in der wachsenden Entfaltung der Naturkräfte oder in der logischen Bewegung des Denkprozesses, das System der Wesensbildu n g muß ihn im ethischen Handeln suchen. Denn der Aufstieg zum Wesen erfolgt hier durch freie Tat, u n d es waltet die Überzeugung, daß die Freiheit ein festes Gesetz enthält, einen eigentümlichen Inhalt des Lebens erzeugt, ja eine neue Wirklichkeit jenseits aller Willkür der Individuen schafft. Das aber kann nicht geschehen, ohne daß der Mensch gegenüber aller Verflechtung in die umgebende Welt eine Aufgabe der reinen Innerlichkeit, gegenüber aller Vielheit der Betätigungen eine Bewegung des ganzen Seins, gegenüberaller Abhängigkeit von fremden Ursachen eine eigne Entscheidung anerkennt; mit solcher Innerlichkeit, Einheit, Selbständigkeit empfängt er ein neues Leben und wird er in ein Reich des ethischen Handelns versetzt. W o immer dies Handeln zu reiner Entwicklung und klarer Bewußtheit kam, da trägt es in sich die Überzeugung, daß die neue Stufe allem anderen Leben unvergleichlich überlegen sei, und daß ein Leben ohne die W e n d u n g dahin ohne Saft und Kraft, ohne Seele und Tiefe bleibe. So können die Systeme, die nicht hier ihren Mittelpunkt suchen, nicht mehr genügen. Das ist eine alte Überzeugung, d e m , was Stoa und altes Christentum, Reformation und kritische Philosophie über die einzigartige Hoheit dieses Lebens gelehrt haben, läßt sich kaum etwas hinzufügen. Aber die alte Wahrheit ist zugleich ein immer neues und immer dringlicheres Problem. Die W e n d u n g zu der neuen O r d n u n g kann nicht aufkommen und erstarken ohne eine Losreißung und Entgegensetzung zum übrigen Leben, und es ist diese Gegensätzlichkeit kein bloßer Durchgangspunkt, sie m u ß bleibend festgehalten werden, wenn das neue Leben seine Eigentümlichkeit wahren und den Kampf mit der Welt aufnehmen soll, statt von dem Fremden abgestumpft, geschwächt und schließlich verschlungen zu werden. Aber die notwendige Forderung ergibt zugleich eine große Gefahr. Will jenes Leben sich nicht verengen, ja erstarren,

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so darf es sich nicht auf die Gegensätzlichkeit zurückziehen und in sie abschließen. Die Aufgabe bleibt, unter Festhaltung der Überlegenheit zur Breite des Daseins zurückzukehren und sie den neuen Zielen gemäß zu gestalten. Die ethische Idee muß die Seele eines charakteristischen Lebenssystems, das Salz der Welt, der Sauerteig eines neuen Lebens werden. Das aber ist weniger eine Überlieferung der Vergangenheit als eine Aufgabe der Zukunft An den klassischen Höhepunkten ethischen Schaffens verharrte die Bewegung viel zu sehr beim Gegensatze und begnügte sich vornehmlich damit, die Gesinnung der Individuen zu gewinnen, ihnen einen unerschütterlichen Halt zu geben, sie über alle Unruhe und Unbill des nächsten Daseins hinauszuheben. Was nicht direkt in diese Aufgabe einmündete, das schien gleichgültig oder doch minderwertig; die Beschäftigung mit ihm galt leicht als ein Raub an wichtigeren Dingen. So kam es nicht zu voller Ergreifung der geistigen Arbeit und voller Durchbildung des gemeinsamen Daseins, nicht zur Verkörperung der ethischen Idee in einem allumfassenden Lebensganzen, zugleich auch nicht zu einer Verwandlung des ganzen Menschen. Hier einzusetzen, ist die Hauptaufgabe der. Gegenwart und Zukunft In der schweren Erschütterung aller geistigen Größen und der scheinbaren Entwertung aller überkommenen Güter, in dem harten Kampf um ein geistiges Sein und dem Zweifel an aller Vernunft des Lebens muß und wird es schließlich doch die ethische Idee sein, zu der sich der Mensch flüchtet, um aus ihr wieder Mut zu schöpfen und seinem Leben einen Wert zu geben. Dahin treibt die innere Notwendigkeit der Sache, die durch das unvertilgbare Glücksverlangen auch unsere eigne Notwendigkeit wird; alle Flachheit der Individuen wird diese Wendung nicht hindern. Auch die Erfahrungen der Jahrtausende lassen nun darauf bestehen, daß die ethische Idee nicht bloß in ihrer jenseitigen Hoheit verharre, sondern von der Abweisung auch zur Aneignung fortschreite, daß sie als Seele eines Lebenssystems die ganze Wirklichkeit durchdringe, läutere, erhöhe. In den Dienst dieser Aufgabe stellt sich auch das System der Wesensbildung; gewinnt es in der ethischen Idee eine belebende Seele und einen anschaulichen Ausdruck, so vermag es seinerseits ihr eine breitere Grundlage zu gewähren und ihr Wachstum zur allbeherrschenden Weltmacht zu fördern. Nur in Ergreifung eines solchen Zieles kann die Arbeit die unerträgliche Sinnlosigkeit der heutigen Kulturlage überwinden, nur so können zur Gemeinschaft des Wirkens wir uns

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zusammenfinden, die wir sowohl der Gebundenheit einer kirchlich hierarchischen Ordnung als der Flachheit einer naturwissenschaftlich verbrämten Aufklärung widerstehen.

bb. Welt und Natur.

So hat das System der Wesensbildung eine deutliche Abgrenzung gegen die anderen Systeme; wenden wir uns jetzt zu seiner eignen Entwicklung und sehen wir, wie sich unter seinem Einfluß der Qrundprozeß des Lebens, das Bild der Welt, vor allem aber die menschliche Wirklichkeit gestaltet. Welche Aufgaben jenes System enthält, und in welche Bewegung es den überkommenen Stand der Dinge versetzt, das muß dabei klar zur Erscheinung kommen. - Die Wesensbildung hat ihre eignen Überzeugungen vom Leben und Sein. Wo die Welt allererst in der Wendung zum Geist ihr Wesen und ihre Wahrheit erreicht, da muß alles eine Beziehung zum Geistesleben besitzen, da gibt es nichts schlechthin Außergeistiges. Mag in unserer Erfahrung das Geistige sich als die späte Frucht einer langwierigen Weltbewegung ausnehmen: schon von der Wurzel her muß ein Trieb dahin wirken, wenn sich in jener Frucht das Ganze vollenden soll; mag ferner jene Erfahrung eine erdrückende Übermacht des Untergeistigen sowie einen Stand der Zersplitterung und der Veräußerlichung zeigen, sie selbst bedeutet hier nicht die ganze Wirklichkeit, vielmehr muß gegenüber der Zersplitterung eine Einheit und gegenüber der Veräußerlichung eine Tiefe unablässig am Werke sein, wenn die Wendung zum Wesen erfolgen soll, die sich auch in unserem Kreise erweist. Nie könnte aus dem völlig Sinnlosen ein Sinn, ja auch nur der Gedanke, das Verlangen eines Sinnes, nie aus der Zerstreuung toter Elemente ein lebendiges Selbst hervorgehen. ' Zugleich wird auch der Lebensprozeß fester in sich zusammengeschlossen und strenger auf sich selbst gerichtet. Er ist hier kein Verkehren mit einem fremden Sein, kein Suchen einer draußen befindlichen Welt Sondern sein Grundtrieb ist das Suchen seiner selbst, der Drang nach eigner Vollendung, nach Überwindung alles Unfertigen, Widersprechenden, Feindlichen im eignen Bereiche. In solchem Zusammenhange bedeutet Wahrheit nicht eine Übereinstimmung mit einem jenseitigen, der Tätigkeit gegenüberliegenden Sein, sondern ein Einswerden in sich selbst, das heißt aber eine Erreich-

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Der Kampf um den Charakter des G e i s t e s l e b e n s

ung des eignen Wesens, eine Erhöhung des Lebens bei sich selbst, eine Entwicklung und Zusammenfassung alles Vermögens. Eine solche Wahrheit liegt nicht hinter uns, sondern vor uns; sie ist nicht zu entdecken, sondern zu erringen, ja zu schaffen. So verstanden, kann der Lebensprozeß nicht einfach hinnehmen, was immer von draußen an ihn kommt, auch im Aufnehmen muß er alles verwandeln und erhöhen. Damit wird alles flüssiger, durchsichtiger, innerlicher; das Ereignis vertieft sich zum Erlebnis, die äußere Erfahrung fremder Dinge zu einer inneren Erfahrung eignen Vermögens, eigner Taten, eigner Geschicke. Aber mit der Aufgabe wächst auch der Widerstand der Verhältnisse und die Spannung der Arbeit An dem Verlangen eines echten Seins und einer wesenhaften Lebensführung gemessen, scheint in der vorgefundenen Lage die Substanz an ein sinnloses Dasein gekettet undi darin begraben; in Selbstentfremdung des Seins ist eine Welt entstanden, die bei unermeßlicher Bewegung und strenger Gesetzlichkeit kein Eigenleben, keinen Sinn, ja keine echte Wirklichlichkeit hat Diese Welt ist wie von draußen auferlegt und gehört doch zu unserem eignen Sein; sie erscheint wie ein fremdes Gewand und läßt sich doch nicht wie ein solches abwerfen; wir müssen unser eignes Wesen in ihr suchen und können das nicht, ohne sie in ihrem unmittelbaren Bestand zu zerstören. Kommen solche Konflikte zur Entfaltung, so muß der Drang nach Einheit und Wahrhaftigkeit alles andere Streben unter sich bringen und sich inmitten aller Dunkelheit unserer Weltstellung und aller Ungewißheit unserer Begriffe kräftig, ja trotzig aufrechterhalten. Diese Überzeugungen erweisen und bewähren sich zunächst an unserer Stellung zur Natur wie auch an dem eignen Bilde der Natur. Von hier aus fällt Licht auf das Doppelverhältnis des Menschen zur Natur, wie es die geistige Arbeit entwickelt: ein Verhältnis der Ferne und der Nähe, der Abstoßung und der Anziehung. Mit der Austreibung menschlicher Vorstellungsbilder, Interessen und Zwecke durch die Wissenschaft wird die Natur uns fremd und unzugänglich, ihre Elemente hüllen sich in ein tiefes Dunkel, ihre Unermeßlichkeit trotzt allen Versuchen einer Zusammenfassung; hier ist das Reich, wo jenseits alles Geschehens unergriffen und teilnahmlos Dinge verharren, wo die schroffe Scheidung zwischen Erscheinung und Sein ihr Recht hat. Aber das ist nur die eine Seite. Bliebe es gänzlich bei solcher Entgegensetzung, so könnte uns die

Der Umriß des Lebenssystems

III

Natur unmöglich soviel sein, als sie es ist; ein völlig Fremdes könnte zur inneren Entwicklung unseres Lebens nicht das Mindeste beitragen. In Wahrheit können wir das Streben nicht einstellen, die Natur innerlich wiederzugewinnen und zu ihr in ein Verhältnis der Bejahung zu treten. Wir hören nicht auf, sie als ein Ganzes zu behandeln, unermüdlich sind wir am Werke, sie in Gedankengrößen umzusetzen, in Begriffe, die der Arbeit des Geistes entstammen. Denn wir verwandeln sie in ein Gewebe von Beziehungen, wir erkennen in ihr einen durchgängigen Kausalzusammenhang, wir führen sie auf Kräfte und Gesetze zurück. Alle diese Größen sind nicht Mitteilungen der Außenwelt, sondern Gebilde des Denkens; sie sind nicht bloße Umschreibungen, sondern Umwandlungen des Empfangenen. Wollten wir auch diese geistige Leistung als eine fremde Zutat zurückziehen, so würde die Natur allen lebendigen Zusammenhang verlieren und wie ein totes Gerippe auseinanderfallen. Auch die Hoffnung, das Geistesleben durch den Verkehr mit ihr zu erweitern, zu läutern, zu befestigen, ist nur bei Fortführung des Kampfes um eine Vergeistigung der Natur aufrechtzuerhalten. Nur sofern wir unsere Kräfte an ihr messen und sie zu uns herüberziehen, kann sie uns von der Enge und Dürftigkeit kleinmenschlicher Art befreien; ihre Ordnung, Festigkeit, Unermeßlichkeit, ihr Erhabensein über unser Meinen und Begehren, sie können uns nur ergreifen und weiterbilden, sofern sie in unseren Gedankenkreis eingehen und ein Stück unseres eignen Lebens werden. So ist es gerade die Doppelheit des Verhältnisses, das Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung, wodurch die Natur so tief auf das Geistesleben wirkt. Im eignen Bereich der Natur vermag die Wesensbildung den Stand der Vereinzelung und Zerstreuung, die Auflösung in lauter Beziehungen, die starre Gleichgültigkeit der Elemente gegeneinander, die Gewalt des blinden Kampfes ums Dasein voll zu würdigen, das Recht der exaktmechanischen Erklärung anzuerkennen und alle Einmengung spekulativer Prinzipien und Methoden in ihr Gebiet abzuweisen. Aber sie kann mit dieser Art des Geschehens nicht die Wirklichkeit völlig erschöpft glauben, sie wird nicht nur einen tieferen Grund verlangen, sondern auch im Prozesse selbst mehr finden, als jene Erklärung zum Ausdruck bringt Was immer die mechanische Theorie als letzte Tatsachen und Voraussetzungen hinnimmt, das verwandelt sich der Wesenbildung in Probleme; schon das Bewußtwerden solcher Probleme verändert

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das Gesamtbild. Die Zusammenhänge, auf denen der Naturprozeß ruht: die Wechselwirkung der Dinge und die durchgängige Gesetzlichkeit des Geschehens, sie werden hier Zeugnisse für eine das Ganze zusammenhaltende Einheit. Die Kraftentwicklung und die Formbildung im Reich der Natur bedeuten hier nicht den letzten Kern des Geschehens, sondern sie werden zu Erscheinungen, zu Seiten und Stufen eines Aufstrebens zur Selbständigkeit, einer Zusammenschließung und Belebung des Daseins. Nur so erklärt sich von innen her der Fortschritt des Ganzen, das Wachstum der Differenzierung, Spezifizierung, Organisierung, das Aufsteigen immer weiterer und festerer Lebenskomplexe aus dem Strom des Geschehens, das unerschöpfliche Hervorquellen des Seelenlebens aus der Natur. Mit so gutem Recht der Mechanismus das alles zunächst aus einer Verweburtg der Elemente versteht, diese Verwebung weist über sich selbst hinaus auf eine Einheit und ein Wirken aus dem Ganzen. So gewiß ferner die Bewegung im Reich des Lebendigen nicht ohne den Kampf ums Dasein vorwärts kommt, so unentbehrlich der Trieb und die Not der Einzelwesen zur Aufrüttelung der Kräfte und zur Ausnutzung aller Vorteile ist, mit aller solcher Leistung wird der Kampf ums Dasein noch nicht die das Ganze schaffende Kraft; vielmehr setzt er eine ursprüngliche Produktion anderer Art voraus, er ist der Geburtshelfer, nicht der Vater, der Dinge. So kommt nicht der ganze Befund der Natur auf die Interessen und Motive der streitenden Wesen zurück, die Natur ist mehr als eine Werkstatt der Nützlichkeit. Wohl kann sich hier nichts durchsetzen und behaupten, ohne den Individuen zu nützen, aber darum braucht keineswegs alles ift diese Nützlichkeit aufzugehen, es kann, ja es muß eine Ablösung von den Zwecken der nur um das eigne Wohl besorgten Individuen erfolgen, und eine in sich ruhende Ordnung der Dinge aus allem Wechsel und Wandel, aller Hast und Leidenschaft hervorscheinen. Schließlich behauptet sich gegenüber aller Ableitung aus dem Werden ein Verstehen aus der Tiefe lebendigen Wesens, mit ihm das Recht einer unmittelbaren Erklärung sowie das einer intuitiven Betrachtung im Sinne der Kunst. Mag dabei viel Dunkel verbleiben, schon die Anerkennung einer größeren Tiefe behütet die Forschung vor selbstgefälliger Flachheit und gibt der Kunst das Bewußtsein, einer echten Wahrheit zu dienen. Mit den Grenzen der exakten Erkenntnis die Wirklichkeit abschließen, das heißt die Welt und das Leben recht dürftig gestalten.

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Ist aber einmal der Blick nach dieser Richtung gelenkt, so gewinnt an Zusammenhang und an Bedeutung auch, was sich im Seelenleben der einzelnen Wesen an Befreiung vom Zwange der Selbsterhaltung, an frohem Spiel der Kräfte, an gegenseitiger Teilnahme zeigt. Mag jene Befreiung sich selbst auf der Höhe der Tierwelt recht bescheiden ausnehmen, mag die Intelligenz nur selten und flüchtig sich dem Zwang des Begehrens entwinden, mögen Liebe und Aufopferung noch so sehr Naturtrieben anhangen, auch bei geringer Ausdehnung bleibt das Faktum bemerkenswert; deutlich genug kündigt sich ein neues Leben an und erscheint eine Vorstufe einer neuen Ordnung der Dinge.

cc. Der Mensch.

Sicherlich gehört auch der Mensch zur Natur; ihn davon losreißen und ihn nur auf sich selbst verweisen, heißt weniger vom Menschen groß als von der Natur klein denken. Aber den Menschen im Zusammenhang mit der Natur verstehen, kann da, wo die Natur selbst nur eine Stufe der Wirklichkeit bedeutet, nicht ihn lediglich aus der Natur verstehen heißen. Das Neue aber, das ihn auszeichnet, findet die Wesensbildung nicht in einem bloßen Mehr der seelischen Anlagen und Leistungen, etwa in einer beweglicheren Intelligenz, einem feineren Gefühl, einem kräftigeren Wollen. Wer darin allein den Vorzug des Menschen setzt, kann ihn nur gleich den Tieren anreihen. Vielmehr wird alles, was sich an solchem Mehr findet, nur wertvoll als Erscheinung und Erweisung einer wesentlich neuen Art des Lebens. Es erfolgt eine große Wendung dadurch, daß beim Menschen ein Selbstleben innerhalb des Weltprozesses erwacht, daß hier ein ursprüngliches Leben und Schaffen durchbricht, eine sich selbst angehörige Wirklichkeit aufsteigt. Der rastlose Strom der Bewegung kommt hier zum Stehen, und dem blinden Naturgetriebe entringt sich ein Verlangen nach einem Sinn und Inhalt des Daseins. Das aber verwandelt die Lage von Grund aus und stellt gänzlich neue Aufgaben. Jenes neue Leben ist ein Weltleben, es verlangt eine Ablösung von der Enge einer besonderen Natur, eine Teilnahme an der Weite und Wahrheit des Alls. Und zwar muß das Leben diesen Weltcharakter nicht als zweiten, sondern als ersten, nicht als mühsam erschlossenen, sondern als ursprünglich und unmittelbar wirksamen Zug besitzen. Aller Spaltung, aller EntE u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

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gegensetzung muß hier eine umfassende Einheit vorangehen und überlegen bleiben. Aber es ist nicht die bloße Hingebung an die Welt um uns, nicht die Beruhigung bei der vorgefundenen Ordnung der Dinge, die hier genügen kann. Denn die Ergreifung der Weltidee enthält hier bestimmte Ansprüche an die Wirklichkeit und erweckt einen energischen Kampf gegen alles bloß gegebene Dasein, in der Forderung der Ursprünglichkeit liegt die Forderung einer neuen Welt. Soll der Mensch diese neue Ordnung heraufführen helfen, so muß er die Verkettung mit der alten Welt abschütteln und aus einem bloßen Niederschlag der Geschichte und Umgebung ein Keim selbständigen Lebens werden. Es entsteht hier in aller Festhaltung des Weltcharakters ein völlig anderes Lebensideal als das des Pantheismus mit seinem Streben, die Wirklichkeit so wie sie ist als vernünftig aufzuweisen und dem Menschen die Befriedigung bei dieser Wirklichkeit als höchste Weisheit zu empfehlen. Denn wo der Weltstand selbst zum Problem wird, da gilt es nicht nur zu billigen, sondern auch zu verwerfen, nicht bloß zu lieben, sondern auch zu hassen. Aus der matten Friedfertigkeit und bequemen Vertrauensseligkeit des Pantheismus wird hier das Leben zu einem unerbittlichen Kampf gegen das Niedere und Böse aufgerufen; es wird seinen Kern nun nicht mehr in irgendwelcher, sei es ästhetischer, sei es spekulativer, Betrachtung, sondern in einer seinen ganzen Umkreis bewegenden Tätigkeit finden. Hier führt ein Weg zur Selbstbehauptung nur durch die enge Pforte der Selbstverneinung; als Teilhaber an dem Kampf der Welten steht der Mensch inmitten der Ursprünge der Dinge und hat eine Freiheit jenseits alles natürlichen Daseins. Die geistige Unmittelbarkeit, die damit aufkommt, ist die einzige wahre Unmittelbarkeit; sie allein ergibt eine wahrhaftige Gegenwart und ein eignes Leben. Denn die gegebene Welt bietet ein solches nur scheinbar. Wo die einzelnen Elemente keine Selbständigkeit haben, sondern im Tun und Ergehen gänzlich durch das Verhältnis zur Umgebung bestimmt sind, da mag die sinnliche Empfindung eine Unmittelbarkeit vortäuschen, die Erkenntnis wird unablässig an der Zerstörung solches Scheins arbeiten und uns als ein bloßes Rad der großen Maschine erweisen. Entweder muß der Fortgang der Kultur das Leben immer abhängiger, verwickelter, seelenloser machen, oder es gibt eine geistige Ursprünglichkeit, welche dem Verlust einen Gewinn entgegenhält und das Leben jener inneren Auflösung entzieht. Die Gegebenheit streng auf ihre

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eigne Art einschränken, das heißt ihr allen Inhalt nehmen und die Unmöglichkeit eines Abschlusses bei ihr erkennen. Wie überhaupt erst mit der Wesensbildung die Geistigkeit eine Selbständigkeit und Sicherheit gegen den Naturprozeß erlangt, so kommen auch ihre Ziele und Güter nun erst zu voller Ausprägung und Wirksamkeit. In der Natur dient alles Streben der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung in der Fläche des Daseins. Auch auf geistigem Gebiet stellt die Wesensbildung alle Arbeit unter die Aufgabe der Selbsterhaltung, aber hier handelt es sich nicht um ein gegebenes Selbst, das uns mit der blinden Tatsächlichkeit eines Naturtriebes umklammert, sondern um ein Selbst der Freiheit, in dem unsere eigne Tat steckt, und hjer bewegt uns nicht unsere Stellung in der Gegebenheit, sondern unsere Zugehörigkeit zu den schaffenden Gründen der Wirklichkeit; es ist ein Kampf nicht um das physische, sondern um ein metaphysisches Sein, um die Erhaltung einer Persönlichkeit, und dieser Kampf weist über das Reich der Erfahrung hinaus in eine unergründliche Tiefe. Es gelangt damit auch philosophisch zur Anerkennung, was die Religionen von dem unvergleichlichen Werte der Seele und ihrer Rettung lehren; es erhellt zugleich, wie weit die Güter der neuen Ordnung die der alten überragen. Wie verschwindend erscheinen gegenüber der Frage, ob auch an dieser Stelle ein ursprünglicher Lebensprozeß aufgenommen und eine Teilnahme an seiner ganzen Unendlichkeit gewonnen wird, alle Erfahrungen, Gewinne und Verluste auf jener Fläche des Daseins; nicht bloß dieses oder jenes wird hier unzulänglich, sondern das Ganze bleibt hinter den geistigen Forderungen der menschlichen Art weit zurück; hier gelangt die Flachheit und Nichtigkeit alles und jedes Nützlichkeitsstrebens, mag es noch so gefällige Formen annehmen, zur deutlichen Empfindung. Jenes Ringen um ein geistiges Selbst, um die Behauptung des dem Menschen anvertrauten Seins, vermag eine unermeßliche Kraft zu entzünden, ja die Welt aus den Angeln zu heben; in solchen Kämpfen, in solcher Not und Sorge um das ewige Heil der Seele kann zur völligen Gleichgültigkeit herabsinken, was in jener anderen Ordnung zum Vorteil oder Nachteil geschieht. Gewinnt so das Leben des Menschen eine größere Tiefe, so wird auch das gegenseitige Verhältnis ein wesentlich anderes als im bloßen Dasein mit seiner Bindung an sichtbare Leistungen. Alle echte Teilnahme und Liebe wird nicht durch das begrenzt und 8*

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bedingt, was der Mensch der Erscheinung aufweist, sie ergreift dahinter den Keim eines ursprünglichen und unendlichen Lebens, sie schöpft daraus immer neue Kraft und neuen Mut gegenüber allen Mißständen der vorhandenen Lage. So allein wird es möglich, den Menschen, wie er ist, zu durchschauen und nicht an ihm zu verzweifeln, mit klarer Menschenkenntnis Glauben und Wärme für das Menschenwesen zu verbinden. Denn über die Unzulänglichkeit, ja Kleinlichkeit des menschlichen Durchschnitts besteht unter den Denkern kaum ein Streit; diese Unzulänglichkeit gestattet keine Hoffnung, innerhalb jener Lage erheblich weiter zu kommen; entweder täuschen über solche Verwicklung Phrasen von Fortschritt und Menschenwürde hinweg, oder es erfolgt eine Anerkennung jener neuen Welt und einer größeren Tiefe im Menschen. Als drittes bliebe nur die gänzliche Verzweiflung. So bildet jene Grundtatsache ein Axiom, mit dem alle Wahrheit und alle Arbeit des Lebens steht und fällt Aber die Tatsache erscheint zugleich als eine unermeßliche Aufgabe. Mit dem bloßen Vorsatz ist hier wenig getan, unmöglich kann ein einziger heroischer Entschluß uns jene Welt zu eigen machen. So notwendig eine Wendung des ganzen Wesens, ohne zähe Arbeit und lange Erfahrung bleibt die Aufgabe ungelöst; seinen näheren Inhalt erschließt das Geistesleben erst im Ringen mit der menschlichen Art und durch die Erfahrung der menschlichen Arbeit Denn das ist der Kern dieser Erfahrung und der Hauptertrag der Geschichte, was durch Leistung und Erlebnis, durch Erfolg und Mißerfolg an Vertiefung und Erweiterung des geistigen Grundprozesses, an Erschließung eines Ganzen des Geisteslebens gewonnen wird. Diese Selbsterfahrung, über unser Wesen und Vermögen ist die Zentralerfahrung, sie entscheidet letzthin wie über die Richtung der Arbeit so über das Bild der Wirklichkeit. Jene Erfahrung kann aber nur erfolgen, indem der menschlichen Art eine Geistigkeit abgerungen wird, sie verlangt eine tiefgehende Scheidung innerhalb unseres Lebens. Das Geistige muß sich hier zunächst vom Menschlichen absondern, aber nicht um in der Entgegensetzung zu verharren, sondern um zu jenem, zurückzukehren und sich selbst durch solche Wendung weiterzubilden. So geht durch die ganze Geschichte ein Sichfliehen und Sichsuchen, ein Wechselspiel von Abstoßung und Anziehung, von Entfernung und Annäherung. Wo das Geistesleben rasch mit der menschlichen Art zusammenrinnt und diese Art in alles Schaffen

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hineinträgt, da folgt überallhin das Kleinmenschliche und verstrickt alle Wirklichkeit in sein enges Gewebe; wo aber die notwendige Scheidung zu einer schroffen und starren Spaltung wird, da entfällt die bewegende Kraft, da muß das Leben immer blasser, matter und leerer werden, da kann das Geistige schließlich zu einer bloßen Verneinung sinken. Dieser Gegensatz erstreckt sich aus dem Ganzen des Lebens in alle einzelnen Gebiete. So hat z. B. die Religion unablässig ihren Weg zwischen einer anthropomorphen Gestaltung zu suchen, die an den sinnlichen Vorstellungen und den natürlichen Begehrungen des Menschen wenig verändert, und einer Ablösung und Entgegensetzung des Göttlichen gegen alles Menschliche, wobei alles innere Verhältnis aufhört und das Göttliche sich schließlich uns ganz entfremdet. So muß überall sowohl die Kleinheit als die Größe des Menschen, sowohl sein Gegensatz als seine Zugehörigkeit zur Geisteswelt Anerkennung finden; jede Vernachlässigung einer dieser Seiten rächt sich am Ganzen. Das aber sind die Höhepunkte in Leben und Geschichte, die großen Festtage der Menschheit, wo gegenüber der Spaltung eine Einigung siegt und sich als überlegene Macht in volltätigem Schaffen, in der Eröffnung neuer Wirklichkeiten bewährt. So kann, was wir an Wesensbildung erreichen, sich immer nur in hartem Kampfe nach außen wie nach innen entfalten; einen schroffen Zusammenstoß zeigt schon die Form des Lebens. Die Gegebenheit bildet ein Gewebe mechanischer Kausalität, der Zusammenhang, das Miteinander und das Nacheinander bestimmt alles einzelne Geschehen. Nur eine Unklarheit kann in diesem Netze Lücken entdecken und damit einen Spielraum für Willkür finden; in diesem Gebiet hat der Determinismus ein gutes und unbestreitbares Recht Aber sein Unrecht beginnt damit, daß er ohne weiteres jenes Reich als das Ganze der Wirklichkeit behandelt ¡und damit für selbstverständlich erklärt, was zum mindesten ein offnes Problem ist; ihm stellt sich nun die Wesensbildung mit der Behauptung einer Ursprünglichkeit des Handelns und ¡des Werdens einer Wirklichkeit aus solcher Tätigkeit entgegen, ihre Entwicklung ist eine Erweisung der Freiheit, eine Überwindung der Gebundenheit. Aber diese Freiheit, eine Grundtatsache des menschlichen Seins, ist zugleich eine immer neue Aufgabe für das Leben, sie will vom einzelnen immer erst erworben und angeeignet sein. Der

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Mensch kann nicht mit raschem Entschluß die Notwendigkeit abschütteln, die ihn aus Natur, Gesellschaft und Seele umklammert; sie hält ihn fest, bedrückt sein Handeln und reißt es an sich. Das verhindert freilich nicht ein Aufkommen der Freiheit; diese kann alle Hemmungen durchbrechen, alle Einwirkung von Vererbung und Umgebung zu bloßen Anregungen und Antrieben herabsetzen, die sich überwinden und umwandeln lassen, sie kann das Zentrum des Lebens hinter den Bereich der Gebundenheit zurückverlegen und jenes alles zur bloßen Außenseite machen. Aber sie kann das nur in hartem Zusammenstoß mit dem anderen, in Aufrüttelung und Erschütterung des ganzen Daseins, mit immer neu einsetzender Arbeit So gestaltet sich das Leben zu einem unablässigen Kampf zwischen Freiheit und Schicksal und erhält damit allererst eine Geschichte, ja eine dramatische Spannung; es kann in ihm eine Tragik daraus entstehen, daß innere Wendungen erfolgt sind, sie aber im Verlauf nicht dem zähen Widerstand des Gegners gewachsen bleiben, daß so der Mensch von der scheinbar erklommenen Höhe wieder in die Tiefe zurücksinkt Was aber vom Leben des Einzelnen, das gilt auch vom Leben der Menschheit in der Weltgeschichte. Auch hier sehen wir einerseits alles kausal verbunden und erkennen im Späteren die notwendige Folge des Früheren. Aber auch hier erklärt das nur die Außenseite der Dinge, nicht ihren geistigen Charakter, nicht irgendwelche lebendige Gegenwart, nicht irgendwelche schaffende Leistung. So gewiß alles Große seine Bedingungen und Voraussetzungen in Vergangenheit und Umgebung hat, in seinem Kern ist es ursprünglicher und unmittelbarer Art, und bedeutet es nicht sowohl eine Wirkung der Zeit als eine Gegenwirkung wider die Zeit, ein Abschütteln des Bloßzeitlichen, eine Versetzung in eine zeitlose, an sich gültige Wahrheit. Das aber versetzt in das Reich der Freiheit; so enthält auch das Leben der Menschheit einen Kampf zwischen Freiheit und Schicksal. Ein Gegensatz und ein Kampf entwickelt sich auch innerhalb der neuen Lebensführung. Je entschiedener die Wesensbildung auf der Hervorbringung einer selbständigen Wirklichkeit bestehen muß, desto mehr macht ihr die Tatsache zu schaffen, daß das Geistesleben für uns Menschen zu einer vollen Durchbildung und Verkörperung nur durch ein Eingehen in die sinnliche Welt zu kommen vermag; Zunächst scheint hier ein unauflösbarer

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Widerspruch vorhanden. Die neue Ordnung wird das Individuum voranstellen als die Stätte, wo allein die Geisteswelt unmittelbar durchbricht; von hier muß alles ausgehen, hieher alles zurückkehren, was an neuem Leben entsteht. Aber zugleich ist das Individuum durchaus unfähig zum Aufbau einer Welt. Wohl mag es in seiner Stimmung Unendliches bewegen und sich frei über alle Welten emporheben, seine Arbeit ist eng beschränkt, nur in strenger Konzentration auf einen begrenzten Vorwurf kann sie gelingen. Soll dieser Widerspruch nicht das Leben zerstören, so muß sich die geistige Arbeit über das Individuum hinaus eigentümliche Formen schaffen; sie tut das in der Entwicklung von Geschichte und Gesellschaft, indem sich dort das Nacheinander, hier das Nebeneinander verbindet und eng zusammmenschließt. Solcher Gemeinschaft wird das sonst Unmögliche möglich, hier vermag das geistige Leben sich als Ganzes am Werk zu erweisen und als Ganzes aus ihm zu gewinnen, hier wird der unerträgliche Zwiespalt im eignen Sein überwunden. Aber solche Begründung von Geschichte und Gesellschaft aus einer inneren Notwendigkeit unseres Wesens bezeichnet zugleich ihre Schranken. Nur in der Rückkehr zur Ewigkeit und Innerlichkeit können sie leisten, was sie hier leisten sollen; werden sie bei sich selbst abgeschlossen und festgelegt, so verfallen sie den Formen der Gegebenheit, der Veräußerlichung und der Zerstreuung. Alsdann verschwindet die Kraft, welche die Geschichte innerlich zusammenhält, indem sie das Bloßzeitliche an ihr überwindet; alsdann belastet und schädigt uns die Vergangenheit mehr als sie uns fördert Ferner fehlt dann der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit die Gegenwirkung einer innerlich zusammenhaltenden Einheit; berühren sich aber die einzelnen Kreise nur von außen und wird jeder Punkt auf seine besondere Leistung eingeschränkt, so sinkt das Ganze zu einem seelenlosen Mechanismus herab, und der Geist ist um seinen Gewinn betrogen. So muß immer wieder das bloße Nacheinander der Geschichte, das bloße Nebeneinander der Gesellschaft überwunden, das Endliche und Sinnliche an ihnen zur bloßen Erscheinung herabgesetzt werden. Dazu aber genügt nicht eine leichte Umrechnung, sondern es fordert eine ernstliche Umwandlung, ein Sichten, Ausscheiden, Zusammenfassen, einen harten Kampf mit der Selbstgenügsamkeit der geschichtlich-gesellschaftlichen Sphäre. Geschichte und Gesellschaft fördern die Vergeistigung der Wirklichkeit nur nach dem Maß des ursprünglichen Lebens, das ihnen gegenüber entfaltet wird;

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das Geistesleben bildet sich an der Geschichte und an der Gesellschaft, aber nicht aus ihnen, nicht als ihr Erzeugnis. Wie in solchen Bewegungen mehr und mehr Geistigkeit zur Aneignung gelangt, so wird auch das Individuum dadurch über die anfängliche Enge hinausgehoben und zur geisterfüllten Persönlichkeit erhöht. Als solche hat es eine Welt nicht neben, sondern in sich. Nun erhält es eine doppelte Bedeutung und zugleich eine zwiefache Stellung zur Geschichte und Gesellschaft. Nach seinem unmittelbarem Befunde steht es unter ihnen und erhält aus ihnen seine Aufgabe; mit seiner geistigen Ursprünglichkeit und dem Idealgehalt seines Wesens überragt es sie und hat sie immer von neuem auf ihren geistigen Gehalt zurückzuführen. Ein solches Doppelverhältnis von Freiheit und Bindung, eine solche Gegenläufigkeit der Bewegung entzieht sich jeder einfachen Formel, im besonderen genügt hier nicht das Bild des organischen Zusammenhanges, das dazu weniger der modernen als der antiken Lebensstufe entspricht. Offenbar gebührt hier bei aller Bedeutung der Bindung der Vorrang der Freiheit, als Wesensfreiheit erhält sie hier einen unendlichen Wert. Handelt es sich doch dabei um die Zugehörigkeit des Menschen zu den Ursprüngen, um seine Überlegenheit gegen alles bloße Dasein. Nur als Entfaltung und Ausdruck dieser Wesensfreiheit hat Halt und Wert, was sich an politischer, sozialer, religiöser Freiheit entwickelt Die Freiheit aber in der Breite des Lebens als ein hohes Gut zu verehren, in seinem Grunde hingegen zu leugnen, das gehört zu den schreienden Widersprüchen des modernen Lebens.

dd. Die Wesens- und Geisteskultur. Eine ähnliche Bewegung wie bei den Formen des Lebens wird die Wesensbildung auch bei seinem Inhalt erzeugen. Auch hier ist eine Entfaltung und Steigerung des Vermögens am Gegenstande, ist feste und greifbare Arbeit ebenso nötig wie ein Zurücknehmen und Zurückverwandeln in die reine Innerlichkeit. Jene Arbeit, als Ganzes angesehen, bedeutet uns die Kultur; nur mit ihrer Hilfe kann die Wesensbildung zu fester Gestalt und konkretem Inhalt fortschreiten; wie notwendig jene ist, das haben die Religionen zu ihrem eignen Schaden erfahren, wo sie für sich allein ohne die erziehende Macht der Kulturarbeit der Menschheit genügen wollten. Aber nicht minder notwendig als die Arbeit

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ist ein Kampf gegen die Arbeit, eine Befreiung von ihrer erdrückenden und entseelenden Macht. Einen Wert für das Ganze und Innere unseres Seins kann die Arbeit nur gewinnen, wenn sie vom Selbstleben umspannt bleibt und in Zurückbeziehung zur Einheit einfache Grundzüge, durchgehende Erfahrungen, leitende Ideen hervorscheinen läßt. Aus solcher Einfügung der Kultur in die Wesensbildung erwächst eine scharfe Kritik aller auf sich selbst gestellten und selbstgenugsamen Kultur. Eine solche selbstherrliche Kultur läßt den Menschen in die bloße Arbeit und Kraftbetätigung aufgehen und gefährdet damit die Selbständigkeit des Inneren; sie bindet ihn an die Weltumgebung und zerstört damit die Ursprünglichkeit des Lebens; sie erzeugt eine satte Selbstbefriedigung und schwächt dadurch die Empfindung der Widersprüche des Daseins. Bleibt diese Bewegung ohne eine Gegenwirkung, so führt sie immer weiter ins Flache, Profane, Gemeine; statt den Menschen zu neuem Wesen in eine geistige Wirklichkeit zu erheben, zieht eine solche Kultur alles Vermögen in den Dienst des Bloßmenschlichen und täuscht den Menschen über die wahren Bedürfnisse seines Wesens hinweg. Um die Kultur vor solcher Karikatur zu bewahren, bedarf es immer wieder einer Bewegung gegen die bloße Kultur, einer Zurückführung zu den inneren Zusammenhängen der Wesensbildung. Immer von neuem gilt es eine Scheidung zwischen Kern und Schale, eine Vertiefung und Schärfung der Probleme dahin, daß schließlich nicht um unser Verhältnis zur Außenwelt, nicht auch um das zur Gesellschaft, sondern um das zu uns selbst, um die Überwindung eines unerträglichen Zwiespalts, um die Einigung unseres Daseins und unseres Wesens gekämpft wird. Mit solcher Zusammenhaltung der Gegensätze und solcher überwindenden Macht der Wesensbildung gelangt der ethische Charakter dieses Lebenssystemes zu deutlichster Ausprägung. Moral und Kultur stehen sich so lange kalt, ja feindlich entgegen, als die bloße Kultur mit ihrer Richtung auf die Leistung, ihrer Erhöhung des Kraftbewußtseins, ihrer Gebundenheit an natürliche Bedingungen und Anlagen selbstherrlich auftritt und das Ganze des Lebens bedeuten will, als andererseits die Moral sich auf die subjektive Gesinnung beschränkt und dem Aufbau einer neuen Welt entzieht Indem die Wesensbildung beide Größen, in ihrem Sinne gefaßt, zu einer gemeinsamen Aufgabe verbindet, schafft sie ein Verhältnis fruchtbarer

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Wechselwirkung. Wir sahen, daß die Wesensbildung sowohl einen ursprünglichen Lebensprozeß, eine Versetzung des Daseins in Freiheit, eine fortlaufende Entscheidung, als auch eine Erhebung von der Punktualität zu einem Leben aus dem Ganzen verlangt; damit aber besitzt sie die beiden Hauptseiten der ethischen Aufgabe und erhebt sie zugleich mit der Aufnahme in die schaffenden Gründe über die Zufälligkeit und Zerstreutheit der bloßen Erscheinung, sie enthüllt ihren engen Zusammenhang mit dem Ganzen der neuen Wirklichkeit. So verstanden, wird die Moral eine notwendige Voraussetzung, ja unentbehrliche Triebkraft aller echten Kulturarbeit. Denn die prinzipielle Entscheidung, die volle Aneignung, die jene enthält, ist unentbehrlich zur Aufbietung aller Kraft, zur Erreichung der letzten Tiefe, zur Verbindung aller Mannigfaltigkeit zu einheitlichem Streben. N u r so läßt sich alles Äußere und Fremde abstreifen, nur so unser ganzes Selbst einsetzen, nur so lassen sich Erfahrungen für dieses Selbst sowie Weiterbildungen dieses Selbst gewinnen. Solche Vertiefung der Arbeit zu einem Kampf um das eigne Sein und solches Zurückgreifen auf die eigne Tat ist besonders nötig, wo große Wendungen der Kultur im Werke sind, wo es neue Anfänge zu setzen gilt. Aber die Kultur empfängt nicht nur von der Moral, sie erstattet ihr auch vieles zurück, sie dient ihr, wenn auch nicht zur Begründung, so zur Befestigung und Entfaltung im menschlichen Kreise. Denn mag die Kultur ihre Arbeit auf die Gegenstände richten und das Subjekt einem Gesetz der Sache unterwerfen, oder mag sie die Menschen einander verbinden und aus der Gemeinschaft des Strebens einen Einklang der Gesinnung entwickeln, hier wie da fördert sie ein Weitwerden des Wesens, eine Befreiung von einengender Selbstsucht. Ferner enthält alle Kulturarbeit mit ihrem Aufbau einer neuen Welt gegenüber dem natürlichen Dasein ein Element der Freiheit; nicht die bloße Notwendigkeit der physischen Erhaltung erzeugt eine Wissenschaft, eine Kunst, eine Rechtsordnung, es gehört dazu ein eignes Vorgehen des Geistes, ein ursprüngliches und fortlaufendes Wirken innerer Art. Freilich ist die hier vorhandene ethische Gesinnung zunächst an den Gegenstand gebunden, sie kann sich so in die Arbeit versenken, daß sie für den Menschen als Ganzes, für seine Gesinnung und innere Haltung nicht zur Wirkung gelangt. Aber wenn jenes Überschreiten des natürlichen Selbst und jene Erhebung zur Freiheit aus der Kulturarbeit immer erst herausgehoben sein will, so ist solcher Be-

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freiung der ethischen Kräfte der Arbeit die Wesensbildung vollauf gewachsen, sie vermag, indem sie jene entfaltet, eine innere Verbindung zwischen Kultur und Moral zu erreichen. In solcher Weise einen ethischen Grundstock der Kultur verlangen, das heißt nicht einem aufdringlichen und pharisäischen Moralismus huldigen. Wie überall, so wirkt auch hier die Tendenz zerstörend, weil sie aus bloßer Reflexion hervorbringen will, was nur eine innere Notwendigkeit vermag, und weil sie die Arbeit zu einem bloßen Mittel erniedrigt, statt sie den Zwecken innerlich zu verbinden. Alle diese Bestrebungen der Wesensbildung dienen dem einen Ziele, das Werk und die Innerlichkeit in fruchtbare Wechselwirkung und feste Verbindung zu bringen; erreicht aber wird dies Ziel erst mit der Wendung zur Energie, in dem Sinne wie sie sich uns oben erschloß; die ganze Weite der Welt zur Energie in Beziehung setzen, das heißt die Wesensbildung zu einem charakteristischen System ausbauen. Unter Energie verstanden wir eine selbständige und eigentümliche Entfaltung des Geisteslebens am einzelnen Punkte, ein Aufquellen ursprünglichen Lebens gerade an dieser Stelle; damit wird der Inhalt des besonderen Kreises von einer tätigen Einheit umspannt und charakteristisch gestaltet, und es wird die eigne Vollendung unmittelbar eine Mitarbeit am großen Werke der neuen Welt. Erst mit der Verwandlung der Wirklichkeit in ein Gewebe solcher Energien erfaßt die Wesensbildung ihre Weite und Breite und verwandelt sie in ein durchgliedertes Lebensganzes, das den Systemen der Formgebung und Kraftsteigerung gewachsen, ja als das tieferdringende und kräftigere überlegen ist. Die Bedingungen und die Forderungen der Energie wurden oben dargelegt. Die weitere Verfolgung muß davon namentlich gegenwärtig halten, daß die Energie nicht direkt aus der gegebenen Lage herauswächst, sondern nur durch eine Umkehrung, nur durch ein Aufnehmen ursprünglicher Tätigkeit zustande kommt. Und von freier Tat muß sie fortwährend getragen bleiben, sie darf sich nie davon ablösen. So ist auch der Inhalt der Energie dem gewöhnlichen Dasein überlegen; was sie diesem an Voraussetzungen und Vorbereitungen entnimmt, das pflegt eine wesentliche Umwandlung zu erfahren. Daß aber die Wendung zu diesem neuen Leben an allen Hauptpunkten unseres Tuns und Seins zur Aufgabe und Forderung wird, ist leicht zu ersehen. Zur Energie bildet sich das Individuum

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Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens

mit der Erhebung zur geisterfüllten Persönlichkeit, damit aber zu einem eignen Lebenszentrum, einer eignen Wirklichkeit Ohne innere Einheiten in jenem Sinne zu werden, könnten die menschlichen Gemeinschaften keinen geistigen Charakter entwickeln und weder die volle Hingebung für sich gewinnen, noch den Aufbau einer wesenhaften Welt fördern. Auch die Arbeitskomplexe, wie Wissenschaft und Kunst, werden selbständige Mitarbeiter am Geistesleben nur mit' jener Zusammenfassung und Beseelung. Bei dem allen sind die Quellpunkte ursprünglichen Lebens nicht von Anfang an festgelegt und abgegrenzt, sondern der Lauf der Geschichte hält sie in unablässiger Wandlung und Steigerung. Nicht nur erneuern sich fort und fort die Individuen, auch die Gemeinschaften wie die Arbeitskomplexe wachsen durch fortschreitende Differenzierung. Was früher in eins zusammengeschoben war, tritt später auseinander, und was anfänglich einem anderen dienen mußte, wird nachher zum Träger eignen Lebens. Den Zug der geistigen Arbeit zur Differenzierung erfahren wir heute stärker als je; sein Kern aber ist nichts anderes als die Bildung immer neuer selbständiger Zentren. Nicht so merklich ist jener Prozeß bei der menschlichen Gemeinschaft, aber wir brauchen nur größere Strecken zu überschauen, brauchen z. B. nur die Fülle von Lebensgemeinschaften, an denen wir jetzt teil haben, mit der Ausschließlichkeit des altgriechischen Stadtstaates zu vergleichen, um eine fruchtbare Bewegung, eine Bildung immer neuer Lebenszentren auch hier zu gewahren. Auch die wachsende Ausprägung und Wechselwirkung verschiedener Kulturvölker gehört hierher. Wohl gibt es in dieser Bewegung auch Verluste: Individuen und Völker versinken, um nur in der Erinnerung ein Schattendasein zu fristen, einzelne Richtungen und Konzentrationen der Arbeit werden durch den Fortgang der Kultur als unwahr erwiesen und aufgelöst (Astrologie, Alchemie u. s. w.), auch erfolgen Rückfälle zu einfacheren Lebensformen. Aber im Ganzen bleibt der Sieg dem Wachstum der Verzweigung, immer reicher wird unsere Welt, immerj mehr Eigenleben erwacht in ihr, immer mehr steigert sich durch die Entwicklung von Energien unsere Wirklichkeit zu einer Geisteswelt Es hat aber an jeder Stelle die Wendung zur Energie vornehmlich deshalb so viel fortbildende und umwandelnde Macht, weil es sich dabei nicht sowohl um die Ergreifung oder Anwendung einer bloßen Lebensform handelt, als darum, durch ein Zusammenwirken

Der Umriß des Lebenssystems

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von Kraft und Gegenwurf eine volltätige Wirksamkeit, ein von Tätigkeit getragenes Sein zu erreichen. Auch die Lebenslage mit ihren Begegnissen und Schicksalen wird hier in die Arbeit aufgenommen; nur aus dem Zusammenstoß und dem Zusammenschluß von innerer Art und zugewiesenem Geschick entspringt ein Charakter des Lebens. Auch unsere Bedingtheit sowie das Feindliche in unserer Lebenserfahrung gilt hier nicht als etwas schlechthin fremdes, das möglichst fernzuhalten und abzuweisen sei, sondern es ist in den Lebensprozeß hineinzuziehen und als eignes auf sich zu nehmen, es muß zur Ausprägung seiner Eigentümlichkeit, zur Absteckung seines Bereiches, zur Schmiedung seines Charakters helfen. So trägt zunächst der einzelne eine gewaltige Aufgabe in sich; ein weiter Abstand trennt die Zerstreutheit und Subjektivität des natürlichen Individuums und die Lebensentfaltung der geisterfüllten Persönlichkeit, die nicht dem Reichtum des Seins gegenübersteht, sondern seinen ganzen Inhalt aufnimmt. Hier heißt es, an dieser besonderen Stelle das Ganze der geistigen Bewegung zu ergreifen und anzueignen; diese Entscheidung über das Ganze bleibt die erste Tat grundlegender Art. Aber sofort entspringt daraus die Aufgabe, innerhalb des Ganzen eine eigne Welt zu werden, sich zu einer unvergleichlichen Einheit fortzubilden, die alle Zerstreutheit und Gegensätzlichkeit der ersten Lage überwindet, alles Besondere eigentümlich gestaltet, aller Betätigung und aller Erfahrung eine unterscheidende Art gibt Die Entscheidung für das Ganze und die Bildung bei sich selbst sind im Grunde nur verschiedene Seiten derselben Sache; die Entscheidung für das Ganze hat nur volle Wahrheit und durchdringende Kraft, wenn sie mit der Gestaltung des Einzelkreises sich in Werk und Tat verwandelt. Solche Unterordnung unter das Ganze und solche Kritik aus dem Ganzen unterscheidet diese Verfechtung der Individualenergie scharf von jeder Anpreisung des natürlichen Individuaiseins, einem Hegen und Pflegen seiner Zufälligkeit, oder gar einem sich Aufspreizen zum Wahngebilde eines »Übermenschen". Eine Energie in jenem Sinne ist nur durch eine Wendung gegen die bloße Natur, nur durch eine innere Wiedergeburt des Menschen erreichbar. Hier erhält das Leben in sich selbst eine einzige Hauptaufgabe und wird dadurch unablässig bewegt, getrieben, in Fluß gehalten; die Hauptfrage, die über sein Gelingen entscheidet, wird nun, ob jener Zusammenschluß zu einer geistigen Einheit und zugleich eine feste Begründung im Ganzen der Geisteswelt

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D e r Kampf um den C h a r a k t e r des G e i s t e s l e b e n s

gewonnen wird oder nicht. Hat aber das Leben so viel bei sich selbst zu tun, und hängt an der Lösung dieser Aufgabe sein Bestand und sein Heil, so wird es seine Arbeit erstwesentlich gegen sich selbst kehren und sein Ziel bei sich selbst suchen; es wird von müssiger Befassung mit fremden Dingen und scheelsüchtiger Vergleichung mit anderen Schicksalen befreit werden. Hier wird seine Größe von der äußeren Leistung unabhängig, hier kann sich auch in den bescheidensten Maßen ein Heldentum entwickeln. Das ergibt eine energische Gegenwirkung gegen die gewöhnliche Lebensführung auch auf der Höhe der Kultur. Dort ein Durcheinander von Eignem und Fremdem, von Freiheit und Natur, eine äußere Hast und eine innere Trägheit, zu wenig Sinn, um zu befriedigen, zu viel Verlangen nach Sinn, um auf Befriedigung verzichten zu können. Dagegen nun ein Durchschauen der Widersprüche, ein Empfinden der Nichtigkeit, ein Aufrütteln zu allumfassender, neubegründender Tat. Nicht minder wird die menschliche Gemeinschaft mit der Wendung zur Energie in neue Bahnen getrieben. Ihr Durchschnittsstand ist voller Widersprüche und stets in Gefahr, einem seelenlosen Mechanismus zu verfallen. Eine arge Verkehrung droht besonders aus der unausrottbaren Neigung des menschlichen Zusammenseins, sich, wie es vorliegt, nicht nur als fertig, sondern auch als höchsten Selbstzweck zu geben und damit alle Entwicklung der Geistigkeit unter bloßmenschliche Interessen zu beugen, statt in sich eine schwere Aufgabe zu entdecken und sich selbst zu einer Konzentration des Geisteslebens zu vertiefen. Auf diesen Weg treibt die Wesensbildung mit ihrer Wendung zur Energie. Denn hier wird sowohl ein fester Zusammenhang mit dem Ganzen des Geisteslebens als eine Überwindung der Zerstreuung im eignen Kreise verlangt. Anlage und Geschichte, Umgebung und Leistung schließen sich damit zu einer tätigen Einheit zusammen; es entsteht von innen her ein selbständiges Lebenszentrum, das den ganzen Umfang des Gemeinschaftslebens eigentümlich durchbildet und an jeder Stelle das Ganze gegenwärtig hält, das seine eignen Erfahrungen macht und allem Befunde seine Art aufdrückt. Hier ist es die Macht einer Idee, welche die einzelnen Glieder zusammenhält; nicht durch den bloßen Nutzen, sondern durch eine innere Notwendigkeit, durch die Gebundenheit der eignen Entwicklung an die Arbeit der Gemeinschaft wird hier der eine auf den anderen gewiesen und ihm verkettet. So kann die Arbeit für die Zwecke der Gesellschaft zugleich eine Arbeit für uns selbst

Der U m r i ß des Lebenssystems

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sein, es kann sich die ganze Innerlichkeit des Menschen, sein Glauben und Hoffen, in jenes Wirken hineinlegen und in dem Äußeren ein Inneres, in dem Zeitlichen ein Ewiges suchen. Innerhalb der Gemeinschaft aber gibt das Bewußtsein, das Ganze durch vereinte Arbeit zu tragen, den einzelnen Gliedern eine innere Gleichheit, die allen Unterschieden von Stellung und Leistung ein Gegengewicht hält. Die Gegebenheit in Natur und Geschichte ist das Reich der Ungleichheit, kein Gesetz, auch keine Gewalt kann sie daraus vertreiben; nur die Ursprünglichkeit des Geisteslebens mit ihren Ideen vermag eine Gleichheit zu begründen und durchzusetzen. Die Anerkennung solcher Ziele stellt große Aufgaben und erweckt eine kräftige Bewegung gegen den Durchschnittsstand mit seiner Vermengung von Vernunft und Unvernunft. Die Unvernunft können wir nicht einfach abstreifen, wohl aber streben, die Vernunft herauszuheben und ihr überlegen zu machen. Vor allem gilt es, im Leben der Menschheit die Möglichkeiten solcher Einheit aufzusuchen und sie zu entwickeln, von Mittelpunkten aus allen Stoff zu beleben, in ihren gegenseitigen Beziehungen eine unermeßliche Erfahrung zu eröffnen. Wie wenig dabei zu reinem Abschluß gelangen mag, eine Vergeistigung der Wirklichkeit kommt auch hier in Fluß, und die Welt erweist sich unvergleichlich reicher und tiefer, als es das Chaos des ersten Eindrucks zeigt. Ähnliches wie für die Lebensgemeinschaften gilt für die Arbeitskomplexe. Auch für die Arbeit an den Dingen muß sich ein neuer Anblick eröffnen, wenn sie nicht sowohl mit den Formen oder den Kräften als mit den Lebenszentren zu tun hat, wenn sie mit ihrer Aufdeckung und Durchbildung die Wirklichkeit abstuft und belebt. Das um so mehr, als jene Wirkung sich nicht auf den Umriß der Gebiete beschränkt, sondern auch ihre Gliederung ergreifen m u ß ; selbst die letzten Elemente, wie z. B. die Begriffe der Wissenschaft, werden sich unter dem Einfiuß des neuen Prinzips eigentümlich gestalten. Demnach kann über die universale Geltung und Macht jenes Prinzips kein Zweifel bestehen. Jene Wendung zur Ursprünglichkeit und jene Individualisierung des ursprünglichen Lebens führt eine neue Welt herauf und eröffnet eine unermeßliche Fülle von Tatsächlichkeit. Neue Tatsachen sind zunächst die einzelnen Energien selbst, denn die Bildung einer jeden von ihnen ist eine besondere Erfahrung, eine eigentümliche Erschließung; weitere Tat-

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Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens

Sachen ergeben sich aus der Entwicklung und den gegenseitigen Beziehungen der Energien; alle Mannigfaltigkeit aber führt schließlich zur Tatsächlichkeit einer neuen Welt. Alle diese Tatsächlichkeit aber ist und bleibt zugleich eine unerschöpfliche Aufgabe; mit der Anerkennung des neuen Zieles muß eine unablässige Bewegung entstehen, die nicht wie die Kraftsteigerung nach außen, sondern als Wesenserhöhung nach innen, gegen sich selbst gekehrt ist, damit aber unvergleichlich eingreifender wirkt als aller Lebensdrang jener Kraftentwicklung. Wohl mag zunächst mit der Bildung der Energien die Wirklichkeit auseinanderzustreben und die verschiedenen Lebensbahnen unbekümmert um einander zu verlaufen scheinen. Aber dieser Schein ist nur bei Verdunklung der Tatsache möglich, daß jede Energie nur vom Ganzen her entsteht und nur unter Festhaltung des Zusammenhanges bestehen kann, daß ferner alle Entwicklung der Besonderheit nicht das Streben aufhebt, die Wahrheit und die Unendlichkeit des Ganzen auch an dieser besonderen Stelle zu erleben. Daher wird auch innerhalb der einzelnen Lebenskreise hier der Bewegung zur Besonderheit eine Bewegung zum Ganzen entgegenwirken, das Einzelne ist auch im Gelingen seines eignen Werkes ergänzungsbedürftig, es wird um so bedürftiger, je schärfer es seine Eigentümlichkeit ausprägt. So drängt es aus aller Verzweigung zurück zum Ganzen, zu einem inneren Zusammenschluß der Wirklichkeit, und es ist schließlich das Ganze, das in Ausgehen und Zurückkehren zu einer konkreten Wirklichkeit, einer vollen Tatsächlichkeit, einer lebendigen Energie aufstrebt.

c. Konsequenzen und Entwicklungen. Die Wesensbildung muß in ihrem Ausbau zum System den ganzen Umfang der Wirklichkeit in Fluß bringen und überall neue Aufgaben stellen. Hier seien von den Wandlungen nur einige hervorgehoben, die dem Bilde] des Ganzen weitere Züge hinzufügen. Sie alle ruhen auf der Voraussetzung, daß auf dem neuen Boden die Hauptbewegung nicht aus der gegebenen Lage hervorgeht, sondern eine Umkehrung ihrer in sich schließt, daß aber diese Umkehrung auch in der Gegebenheit unvergleichlich mehr zu erkennen und zu tun gibt; sie alle verfechten die Überzeugung, daß Scheidung und Kampf innerhalb eines umfassenden Ganzen des neuen Lebens Kennzeichen bilden.

Konsequenzen und Entwicklungen

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a. D i e V e r s ö h n u n g v o n E i n h e i t u n d V i e l h e i t

Die früheren Systeme entwickeln — jedes in seiner Weise — ein eigentümliches Verhältnis von Einheit und Vielheit, das in vielfachsten Wirkungen fortlebt, schließlich aber entweder mit den Forderungen des Denkens oder mit dem Reichtum der Wirklichkeit in Widerspruch gerät. Das alte System hat Einheit und Vielheit noch nicht deutlich gegeneinander geschieden, sondern es schiebt beides in Einer Fläche des Daseins zusammen; es trägt kein Bedenken, ein Ding mit verschiedenen Merkmalen auszustatten, eine Substanz mit vielen Eigenschaften zu bekleiden. Der Neuzeit erscheint ein solches Ineinander als ein unerträgliches Durcheinander, sie will nur das eine oder das andere als wirklich anerkennen, sie möchte das eine vom anderen ableiten. So wird entweder alles Ganze zu einer bloßen Zusammensetzung der Elemente oder aber alle Mannigfaltigkeit zur bloßen Zubehör einer Weltsubstanz; beides ergibt eine energische Konzentration, aber auch eine höchst einseitige Gestaltung der Wirklichkeit, mit der sich unmöglich abschließen läßt. Die Wesensbildung will eine umfassende Einheit festhalten, aber auch die Vielheit nicht aufheben; sie kann beide Forderungen durch die ihr eigentümliche Scheidung von Substanz und Existenz verbinden. Was nämlich in der Substanz ein einheitliches Ganzes bildet, das legt sich in der Existenz zur Vielheit auseinander; jedes Glied der Mannigfaltigkeit kann hier eine Selbständigkeit erlangen, sofern sich das Ganze in es hineinlegt und aus ihm wirkt; es kann das Ganze fördern, sofern die Bewegung zu diesem zurückkehrt und ihm ihren Ertrag abliefert. Dies Ausgehen und Zurückkehren ist deshalb nötig und wichtig, weil hier der Gesamtstand als unfertig gilt; nur durch jene Scheidung und Bewegung mit ihren Erfahrungen kann er seine eigne Vollendung erreichen. Alles Einzelne bleibt hier vom Ganzen umfaßt, aber mit seiner Besonderheit wird es ein selbständiger Mitarbeiter am Ganzen, es teilt den Kampf um das Ganze, die Spannung der Gesamtaufgabe dehnt sich über den ganzen Umfang des Lebens aus. — Alles Nähere sei den einzelnen Gebieten vorbehalten, von denen uns hier vornehmlich das Seelenleben und die Kulturarbeit angehen. Daß das alte Nebeneinander verschiedener Seelenvermögen die Einheit der Seele zerstört, darüber besteht Klarheit nicht erst seit E u c k e n , Kampf. II. Aufl.

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130

Der Kampf um den Charakter des G e i s t e s l e b e n s

Herbart, sondern seit Beginn der neuen Philosophie. Zugleich entsprang das Streben, alle Mannigfaltigkeit des Befundes auf eine einzige Art des Geschehens zurückzuführen. Alle möglichen Versuche sind gemacht, eine Fülle neuer Durchsichten entworfen. Aber das erstrebte Ziel ward nicht erreicht. Nicht nur preßten jene Versuche die Wirklichkeit in ein zu enges Schema, sie mußten auf Umwegen jene Vielheit wieder einführen, die sie austreiben wollten. Aber das alte Nebeneinander einfach wiederaufnehmen kann nur eine unwissenschaftliche Denkweise, es gilt einen neuen Weg zu finden, einen solchen eröffnet die Wesensbildung. — Sie bekämpft nicht die Vielheit des. unmittelbaren Seelenlebens, aber sie macht dieses ganze Gebiet zur Peripherie eines tiefergegründeten Prozesses, zur Existenz einer geistigen Substanz. Alsdann .widerstreitet die Vielheit nicht mehr der Einheit, sondern sie vermag ihr zu dienen, die Sonderung und selbständige Ausprägung einzelner Seiten wird zur Notwendigkeit für die eigne Vollendung des Ganzen; aber sie nützt dafür nur, wenn jene Seiten vom Ganzen umspannt bleiben, wenn das Ganze sich in ihnen erlebt und näher bestimmt. So gewinnt das Leben eine innere Bewegung, es hat in sich selbst einen Gegensatz und eine Spannung. Bei allem inneren Zusammenhange erlangen die einzelnen Gebiete Selbständigkeit genug, um eigne Kräfte zu entwickeln und eigne Gesetze zu erweisen, damit aber das Ganze sowohl weiterzuführen als an seinem Inhalt Kritik zu üben. Aber mit solcher Scheidung entsteht auch die Gefahr eines Festwerdens des Gegensatzes, einer Losreißung der einzelnen Gebiete zu vermeintlich völliger Selbständigkeit, damit aber einer Herabdrückung und Zersplitterung des Lebens. Nur in der Zurückbeziehung erhalten die einzelnen Betätigungen auch unter sich einen Zusammenhang, nur in der Zurückbeziehung vermögen sie einen geistigen Inhalt zu entwickeln; in der Isolierung verlieren sie eine Verbindung mit der Arbeit und Erfahrung des Ganzen, damit aber auch eine sichere Richtung bei sich selbst. Denn bei ungenügender Entwicklung des Zusammenhanges mit dem Ganzen wird freischwebenden Kräften zugemutet, was sie nicht leisten' können, die bloße Reflexion z. B. soll eine Erkenntnis erzeugen u. s. w.; das macht das Leben leerer und leerer und läßt es immer mehr ins Schattenhafte verfallen. Alle Bewegung an der Peripherie, alle Aufreguug des Denkens, Fühlens und Handelns kann den Kern des Seins unergriffen lassen und das Ganze nicht zu

Konsequenzen und Entwicklungen

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selbständiger Tat aufrufen. Von hier aus muß es als besonders verfehlt erscheinen, ganze Gebiete geistiger Arbeit besonderen Seelenvermögen zuzuweisen, etwa die Religion dem Gefühl, die Wissenschaft dem Intellekt, die Kunst der Phantasie. Denn das heißt diese Gebiete nicht bloß ins Periphere und damit ins Phänomenale versetzen, sondern auch ihre Verbindung mit der Erfahrung des Gesamtlebens zerschneiden und sie wachsender Leere preisgeben. So trägt das Seelenleben eine zwiefache Aufgabe und eine gegenläufige Bewegung in sich. Einmal geht der Zug in die Vielheit hinein, um dem Grundleben gegenüber eine Existenz zu entwickeln. Hier heißt es, alle Besonderheit deutlich abzuheben und kräftig auszubilden. Sodann aber ist von der Verzweigung immer wieder zur umfassenden Einheit zurückzukehren und der Ertrag der einzelnen Kreise in einen Gewinn für das Ganze zu verwandeln. Beides zusammen fordert eine Wendung gegen das Chaos der ersten Lage, wo das Entgegengesetzte ungeschieden und träge durcheinander liegt; beides verlangt eine Anerkennung dessen, daß das unmittelbare seelische Dasein nicht unser ganzes Leben bedeutet, daß es jenseits der Verzweigung eine durchgehende Einheit zu ergreifen und auszubilden gilt. Sie allein vermag eine selbständige Innerlichkeit zu begründen und dem Leben eine Einheit wie eine Tiefe zu geben. Von hier aus entstehen Größen wie Gesinnung und Überzeugung, von hier aus entwickelt sich ein Gemütsleben aktiver Art, erst von hier aus wird der Mensch Persönlichkeit in dem Sinne, wie wir diesen vieldeutigen und abgenutzten Ausdruck verstehen. In dem allen zeigt sich das Seelenleben mitten im Fluß; es ist nicht ein fertiger Stand, sondern eine Stätte der Bewegung und des Kampfes, die nach dem Aufgebot der Kraft und dem Gelingen der Arbeit ein verschiedenartiges Bild gewährt. Ähnliche Verhältnisse und Aufgaben zeigt die Kulturarbeit. Sowohl das ältere als das neuere System geben ihr eine eigentümliche Ordnung, die uns heute nicht mehr befriedigt Die ältere Art, die von Aristoteles her durch ihre Blütezeit im Mittelalter tief in die Neuzeit reicht, verkettet alle Mannigfaltigkeit der Gebiete zu einer großen Hierarchie; die allgemeinen Wahrheiten werden vorab gesichert und ergeben von sich aus ein in den Hauptzügen fertiges Gesamtbild; dann erst kommen die anderen Gebiete und erhalten jene Wahrheiten von der Spitze her mitgeteilt; auch wenn sie dieselben in der Anwendung auf ihr eignes Gebiet frucht9*

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D e r K a m p f um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

bar weiterentwickeln, so bleiben sie immer eingefügt und untergeordnet, nie können sie das Gesamtproblem selbständig aufnehmen und eine Umwandlung der Gesamtlage herbeiführen. Der Grundstock gilt hier als fest und geschlossen, für eine vordringende Bewegung gibt es keinen Platz. Gegen dieses hierarchisch-metaphysische System erhebt sich in der Neuzeit das Verlangen nach mehr Freiheit, mehr Individualität, mehr. Bewegung; das Leben schien dort in der Entwicklung seiner Fülle gehemmt und zugleich viel zu starr ein- für allemal festgelegt; zur Erneuerung und Erhöhung des Ganzen bedurfte es einer Zerstörung jener Hierarchie und des Aufkommens einer neuen Ordnung. So ward jene zerschlagen oder doch erschüttert, die einzelnen Gebiete emanzipierten sich und brachten ihre Eigentümlichkeit voll zum Ausdruck, alle Dinge gerieten in Fluß, überall wurde eine engere Verbindung mit der Erfahrung gewonnen und ein reicher Strom von Anschauung der Arbeit zugeführt Das gestaltete das Leben mannigfacher, bewegter, gesättigter; für einen Zusammenhang aber sollte die gegenseitige Berührung und Verflechtung der einzelnen Gebiete sorgen. Das aber erwies sich als nicht so einfach. Mangels einer inneren Einheit kamen die einzelnen Gebiete in Gefahr, sich um einander wenig zu kümmern und immer weiter auseinanderzustreben, bis aller Zusammenhang entschwand; bei aller Lebensfülle drohte eine geistige Zersplitterung und Auflösung; zu vermeiden war eine solche auf diesem Boden nur dadurch, daß sich eine besondere Arbeitsrichtung über alle anderen hinaushob und das ganze Leben ihrem Einfluß unterwarf. Zu solcher Hauptstellung gelangte einerseits die intellektuelle Tätigkeit mit ihrer Durchleuchtung des Daseins und ihrer Rationalisierung der Verhältnisse, andererseits die wirtschaftlich-soziale Bewegung mit ihrer Unterordnung aller Aufgaben unter die materielle Entwicklung und ihrer Heranziehung aller Individuen zu Besitz und Genuß. Aber die Einheit ward in beiden Fällen zu teuer erkauft durch eine höchst einseitige Gestaltung, eine Verengung und Verkümmerung des Gesamtlebens; der Sozialismus wird auf die Dauer die Menschheit ebensowenig befriedigen, als es der Intellektualismus vermocht hat. So erwächst mit Notwendigkeit das Verlangen nach einer neuen Ordnung, einer Ordnung, welche eine überlegene Einheit mit einer Selbständigkeit der Vielheit verbinde; diesem Verlangen aber kommt das Streben der Wesensbildung entgegen.

K o n s e q u e n z e n und E n t w i c k l u n g e n

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Denn sie verficht eine allumfassende Einheit, ohne damit die Mannigfaltigkeit erdrücken

zu wollen; sie glaubt die Einheit nicht

als im Dasein schon vorhanden ergreifen zu können und nur anzuwenden zu brauchen, sondern sie erwartet sie von freier, wesenerhöhender Tat; sie ist zugleich überzeugt, durch solche Tat nicht mit Einem Schlage das Ziel zu erreichen, sondern von einem unbestimmten Entwürfe zur vollen Durchbildung erst durch ein Heraustreten aus dem Grundleben in die Existenz, durch eine Ausbreitung des Lebensprozesses vorzudringen. licht

und eine Entgegensetzung gegen die Einheit

N u r ein Selbständigwerden der Verzweigung ermög-

eine enge Berührung

gründlichen

Kampf

mit den

Reichtums der Erfahrung. eine vielfache und können

der Kraft mit dem Gegenwurf, einen Widerständen,

ein Aufnehmen

des

So erwächst hier innerhalb des Lebens

fruchtbare Bewegung.

Die

einzelnen

Gebiete

hier Eigentümliches leisten, indem sie eine Selbständigkeit

erlangen, eigne Lebenszentren werden, unbekümmert um alles andere ihren W e g gehen und ihre Erfahrungen entwickeln. hat seine

Jedes Gebiet

besonderen Kräfte und Gesetze, seine besonderen

Auf-

gaben; um ihnen gerecht zu werden, muß es sich fest in sich selbst zusammenschließen und alles Fremde rücksichtslos ausscheiden.

So

werden die Wissenschaft, die Kunst, die Religion u. s. w. eigentümliche Durchschnitte

der Wirklichkeit,

eigne Lebenskreise, ja

eigne

Wirklichkeiten, sie müssen bei sich selbst als ausschließliche Selbstzwecke gelten.

Wie aber selbständig gegen das Ganze, so werden

sie auch unabhängig gegeneinander.

Will das eine das andere in

seine Kreise ziehen und ihm seine Maße aufdringen, so wird jedes in seiner Eigentümlichkeit gestört und in seiner Kraft gelähmt; es hat nicht nur der Wissenschaft, es hat auch der Religion geschadet, daß die Religion die Wissenschaft als ihre Magd behandelte.

Nur

bei gegenseitiger Anerkennung, nur durch das Ganze hindurch und im Zusammenhange des Ganzen können die einzelnen Gebiete glücklich aufeinander wirken. Aber

diese Befreiung kann nicht zu einer völligen Ablösung

werden, wo feststeht, daß alle bewegende Kraft im Ganzen wurzelt und vom Ganzen den einzelnen Gebieten zugeht; hier können nur bei Wahrung eines inneren Zusammenhanges mit dem Ganzen die Einzelgebiete

ihre

eigne Bestimmung

Wirklichkeit aufbauen helfen.

erfüllen

und

eine

geistige

In ihnen allen stecken Behauptungen

vom Ganzen, und die Art dieser Behauptungen gestaltet auch ihren

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Der Kampf um den C h a r a k t e r des G e i s t e s l e b e n s

Anblick und ihre Aufgabe. Grundverschieden wird die Wissenschaft, wird die Kunst ausfallen, je nachdem das Geistesleben als eine bloße Begleiterscheinung der sinnlichen Natur gilt, oder als ein unsinnlicher, aber unpersönlicher Lebensprozeß, oder als eine in freier Tat gegründete und von freier Tat getragene Wirklichkeit. Wie ferner der Mensch zum Geistesleben steht, was seinem Streben an Widerständen begegnet, was Schuld und Schicksal ihm auferlegen, wie sich im Kampf dagegen sein Leben gestaltet, alle solche Grundund Haupterfahrungen erschließen sich nicht in der Besonderheit der einzelnen Gebiete, sondern nur in der Zusammenfassung zum Ganzen, nur in dem Kampf um das Ganze. Nur mit der Wendung dahin läßt sich eine ursprüngliche Tiefe, die Innerlichkeit einer Gemütswelt, die Umsetzung des Lebens in Freiheit erreichen, nur so das Zufällige, Äußere, Naturhafte abstreifen, das aller bloßen Besonderheit anhaftet; nur damit gewinnt die Bewegung des Lebens die Kraft eines Kampfes um ein geistiges Sein und ein wahrhaftiges Selbst. So muß das Ganze die Einzelgebiete umfassen und ihrer Arbeit innerlich zugegen sein. Das verdammt aber die Einzelgebiete nicht zu einem bloß passiven Verhalten, es mutet ihnen nicht zu, fertige Ergebnisse blindlings aufzunehmen und als Zwangsgebote auszuführen. Sondern was an sie gelangt, das verwandeln sie in ein neues und eignes Problem, das hat sich auf ihrem Boden neu zu erweisen, das wird damit auch für sich selbst gewinnen. Die besondere Stelle ist hier nämlich einer Kritik und Gegenwirkung fähig, sie kann aus ihren Erfahrungen das Empfangene bestätigen und weiterführen, sie kann es aber auch bezweifeln und zur Umbildung treiben. So dienen die Einzelgebiete gerade in der Wahrung ihrer Besonderheit auch dem Ganzen am besten, sie enthalten keine große Leistung, keine neue Wendung, die nicht in das Ganze zurückgriffe und ihm zu Nutzen gereichte. Indem so jeder Punkt das Ganze mitzutragen hat, verbreitet sich die Spannung über den gesamten Umkreis des Lebens. Damit entsteht ein eigentümliches Gesamtbild der Kultur. Ein Streben zum Ganzen muß alle Betätigung durchdringen und beseelen. Aber zur Verkörperung kommt die Bewegung nur in der Wendung zur Besonderheit; einzelne Lebenskreise, Teilwirklichkeiten, müssen sich bilden, aufrechterhalten und ausleben. Die Beziehung zur Einheit des Selbstlebens ist hier, wenn auch nicht völlig gelöst, so doch stark gelockert; die Arbeit, das Ringen der Kraft mit dem

Konsequenzen und E n t w i c k l u n g e n

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Gegenstande, erscheint hier als die Hauptsache und der beherrschende Zweck; zur Hauptform der Bewegung wird hier der Prozeß, ein Fortschreiten aus der Konsequenz und nach den Forderungen der Sache. So verwandelt sich das Leben in eine Vielheit einzelner Ströme, die Leistung verdrängt die subjektive Gesinnung, und das Werk will das Wesen des Menschen bedeuten. Das alles aber gilt nunmehr nur als die eine Richtung der Bewegung, eine andere stellt sich ihr entgegen und nimmt den Kampf mit ihr auf. Den Geistescharakter hat das Leben nie als eine ruhende Eigenschaft und einen fertigen Besitz, es gilt ihn immer von neuem zu gewinnen und ursprünglich zu erzeugen. Das aber kann nur von der Einheit her und durch freie Tat geschehen, erst die Verwandlung des Seins in Tat und die Überwindung des bloßen Prozesses gibt dem Leben ein Selbst, eine Seele, einen Inhalt. Ohne die Gegenwart einer solchen wesenbildenden Tat verlieren die Prozesse ihre Innerlichkeit und ihre Geistigkeit, die völlige Losreißung von jener Tat und die Ausbildung einer Selbstherrlichkeit gegen das Ganze führt notwendig zu einer Selbstzerstörung auch der Einzelgebiete, alle technische Exaktheit ersetzt nicht den Mangel an Ideen, die leere Form verdrängt den Gehalt, ein mechanisches Getriebe den Geist. Nicht geringere Mißstände drohen, wenn ein Einzelgebiet alle anderen unterwerfen und das Ganze in seine Bahn ziehen will. Oft schon ist das versucht, und immer neu wird es versucht werden. Aber immer wieder wird es auch eine Gegenbewegung hervorrufen, immer wieder wird das Verlangen nach einer nicht vorwiegend politischen, sozialen, ästhetischen, wissenschaftlichen, religiösen, sondern einer wesen- und universalgeistigen Lebensführung entstehen, einer Lebensführung, die jener aller bedarf, die aber weder mit den einzelnen noch mit ihrer Summe zusammenfällt, die ihren ersten Ausdruck in der ethischen Belebung und Umwandlung des ganzen Seins erhält. Eine solche Ordnung des Kulturlebens muß mit dem Durchschnittsstande der Kultur hart zusammenstoßen. Gegenüber dem verworrenen Durcheinander wird sie auf eine deutliche Scheidung und Abstufung innerhalb der Kulturarbeit dringen, wird sie ebenso eine scharfe Ausprägung der einzelnen Gebiete und Teükulturen verlangen wie ihnen gegenüber ein kräftiges Gesamtleben mit ethischer Grundrichtung anregen. Wenn beides in eine fruchtbare Wechselwirkung tritt, wenn die Kräfte hinüber- und herüberspielen und die

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D e r K a m p f um den C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

Erfahrungen sich gegenseitig mitteilen, so eröffnet sich die Aussicht auf eine große Bereicherung, Beseelung, Vertiefung des Lebens. Aber in allen Erfolgen bleibt nicht nur die Ausführung unfertig, immer von neuem ist auch um die Wahrheit des Ganzen zu kämpfen, immer neu dem Ganzen die Grundlage zu sichern. ß. D i e B e f r e i u n g v o m I n t e l l e k t u a l i s m u s .

Ähnliche Gedankengänge führen auch zu einer Befreiung vom Intellektualismus, den wir heute weder ertragen noch abschütteln können. Das ältere wie das neuere System sind darin einig, den Intellekt zum Kern des Seelenlebens und die Erkenntnisarbeit zur Substanz der Kultur zu machen; jene Schätzung hat sich daher tief in unser geschichtliches Dasein eingegraben, sie wirkt — offen oder versteckt - aufs stärkste aus den überkommenen Begriffen und Schätzungen. Über die Notwendigkeit einer Befreiung davon sind heute die meisten einig. Schwere Erschütterungen und schmerzliche Erfahrungen haben uns viel zu deutlich gelehrt, wie wenig Denken und Seele, Erkennen und Geistesleben in Eins zusammenfallen, wie mißlich es ist, unser ganzes Schicksal an die Leistung des Erkennens zu binden, wie leicht ein vermeintlich absolutes Denken in bloße und leere Reflexion umschlägt, und wie diese zwischen uns und die Dinge, ja zwischen uns und unser eignes Wesen unsere Vorstellung schiebt, wie sie schließlich alle Wirklichkeit in Schein und Schatten zu verflüchtigen droht. Wäre nur die Überwindung solcher Mißstände ebenso leicht wie ihre Erkenntnis! Aber wir entrinnen dem Intellektualismus nicht dadurch, daß wir ihn schelten, herabsetzen, zum Sündenbock aller Verkehrtheit machen; wir entrinnen ihm auch nicht dadurch, daß wir uns auf derselben Fläche des Lebens in das gerade Gegenteil werfen und die praktische Tätigkeit, das Wollen, die Affekte anpreisen. Denn auch der Intellekt gehört zum Bestände des Lebens und ist aus seiner Arbeit nicht zu vertreiben; im nächsten Dasein des Menschen hat er alles einzuleiten und alle Entwicklung zu begleiten; kein Seelenleben ohne Vorstellung, kein geistiges Schaffen ohne Denkarbeit, daran können alle Klagen nichts ändern. So wäre der Intellektualismus unüberwindlich, wenn das unmittelbare Leben unser ganzes Leben wäre und nicht eine Tiefe hinter sich hätte, wenn nicht eine Umkehrung der Art erfolgen könnte, daß jenes Dasein zur Entfaltung und Erweisung eines ur-

Konsequenzen und Entwicklungen

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sprünglicheren Lebens wird. Denn dann könnte, was im Dasein vorangeht und aus eigner Kraft zu wirken scheint, letzthin einem größeren und tiefer gegründeten Ganzen angehören und nur in Verbindung damit Antriebe und Richtungen, Inhalt und Charakter gewinnen. Die Wesensbildung mit ihrer Zurückverlegung des Lebensprozesses, ihrer Scheidung und gegenläufigen Bewegung in unserem geistigen Sein verwirklicht diese Möglichkeit Wenn sie in der Existenz dem Intellekt die Führung zugesteht, so macht sie ihn damit keineswegs zur Substanz des Lebens, so läßt sie die Erkenntnis selbst ihren Inhalt nicht aus dem Vermögen des bloßen Erkennens und noch weniger aus bloßer Reflexion, sondern nur im Zusammenhang mit einem begründenden und umfassenden Gesamtleben erlangen. Gewiß kann auch hier das einzelne Gebiet nichts vom Ganzen aufnehmen, ohne es bei sich zu prüfen und eigentümlich zu gestalten. Aber auch dabei bleibt das Ganze gegenwärtig und wirksam; es gibt kein vordringendes Erkennen, in dem nicht ein geistiges Schaffen lebte, und das uns die geistige Wirklichkeit nicht irgend erweiterte. Diese Wandlungen treffen zunächst das seelische Gebiet. Der Intellektualismus findet das Wesen der Seele im Bewußtsein, sei es, daß dies mit dem Empirismus passiv als ein Aneignen zugeführter Eindrücke, sei es, daß es mit der Spekulation aktiv als ein Selbstproduzieren durch Hin- und Herbewegung des Denkens verstanden wird. Demgegenüber besteht die Wesensbildung darauf, daß kein Bewußtsein ohne ein Ich möglich ist, und daß die Vorstellungen nicht als freischwebende Größen, sondern nur als Betätigungen eines Subjekts existieren. Die Einheit ist nicht eine nachträgliche Zutat zu den einzelnen Vorstellungen, sondern eine jede von ihnen ist was sie ist nur als unsere eigne und daher unter Voraussetzung einer Einheit, auch erfahren wir nicht bloß einzelne Vorstellungen, sondern auch ihre Durchkreuzungen und Verwebungen; was immer an Mannigfaltigkeit vorgeht, das ist ein Erlebnis des Ganzen oder könne es doch werden. Ein passives Bewußtsein, in dem die Vorgänge wie in einem leeren Gefäß zusammenträfen, kann den wirklichen Leistungen gewachsen nur scheinen, wenn unvermerkt eine Aktivität mit bildender Kraft hinzugedacht wird; ein aktives aber trägt den Widerspruch in sich selbst, da die Bewegung eines bloßen Intellektes das Ich, das sie erzeugen soll, vielmehr schon voraussetzt und in sich trägt.

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Der Kampf um den C h a r a k t e r des Geisteslebens

So darf uns das Bewußtsein nicht als die Substanz der Seele, sondern nur als die Grundform ihrer Entwicklung gelten. Wie der Mensch in der Zeit lebt und zugleich über der Zeit steht, wie sich ihm alles, räumlich gestaltet, und zugleich alle geistige Tätigkeit den Raum überwindet, so kann das Leben sich im Bewußtsein abspielen und zugleich in seinem Kern ihm überlegen sein. Und zwar ist dieser Kern nicht mühsam erschlossen, nicht nachträglich als Erklärung hinzugedacht, sondern das Geistesleben ist unmittelbar als Selbstleben ursprünglicher und realer als das Bewußtsein; je selbständiger es sich entwickelt und zu einer eignen Welt ausbaut, desto mehr wird das Bewußtsein vom Selbstleben umfaßt und getragen. — Wohl behält das Bewußtsein auch als Existenzform eines ursprünglicheren Lebens eine große Bedeutung. Denn für unser unfertiges und von Gegensätzen durchwirktes Leben ist unentbehrlich die Entwicklung und Klärung, Auseinandersetzung und Verbindung, die nirgends anders als hier erfolgen kann; nur hier kommen die Widersprüche zur Empfindung, nur hier läßt sich ein Zusammenhang herstellen. Auch hat für den Menschen keine volle Wirklichkeit, was sich nicht auch hierher erstreckt. Aber das alles macht jenen Schauplatz des Lebens noch nicht zum schaffenden Grundprozeß; auch was im Bewußtsein vorgeht, verlangt zu seiner eignen Erklärung mehr als das bloße Bewußtsein. Ähnliches erfährt der Intellektualismus bei der Kulturarbeit. Hier verficht er eine völlige Selbständigkeit des Erkennens und läßt es alle anderen Gebiete beherrschen. Aber durchaus selbständig würde das Erkennen nur dann sein, wenn es ganz in die freischwebende Tätigkeit des mit sich selbst befaßten Denkens aufginge. Nun hat allerdings das Denken ein Verhältnis zu sich selbst, es kann sich selbst fixieren und als Denken des Denkens eine gewisse Wirklichkeit erzeugen. Aber wie leer und schattenhaft diese Wirklichkeit ausfällt, wie sie den Schein einer lebendigen Welt nur durch ein unablässiges Aneignen fremder Elemente erschleicht, das zeigt die Geschichte der spekulativen Konstruktion von Plotin bis Hegel deutlich genug. Ist aber das Denken nicht die ganze Wirklichkeit, so muß es ein Verhältnis zur übrigen erst suchen. Um sie zu finden, genügt nicht ein bloßes Reflektieren über sein Vermögen und seine Stellung zu den Dingen, sondern es bedarf dazu vor allem einer Aufhellung des Ganzen des Geisteslebens, einer Orientierung über den Kern der geistigen Wirklichkeit. Die Entscheidung

Konsequenzen und Entwicklungen

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darüber enthält auch eine Weisung f ü r die Stellung und den Ausgangspunkt, den Verlauf und die Wege, das Vermögen und die Schranken der Erkenntnisarbeit; erst nach solcher Grundlegung kann das Technische sein Werk beginnen, nur bei Festhalten an ihr es glücklich vollführen. Auf jenes Zentralproblem weisen alle erkenntnistheoretischen Kämpfe zurück, sie werden unfruchtbar, wenn sie diesen Zusammenhang aufgeben. Freilich hat die Erkenntnisarbeit den Prinzipienkampf auf ihren eignen Boden zu verpflanzen und ihn mit ihren eignen Waffen auszufechten, auch eine eigentümliche Weiterentwicklung wird ihr durchaus nicht bestritten. Aber alle ihre Bewegung darf nicht in der Isolierung, sie muß im Zusammenhange und unter Vergegenwärtigung des Gesamtbildes erfolgen. Nur der Grundprozeß des Geisteslebens entwirft die Wirklichkeit, die das Erkennen weiter zu entfalten und zu klären hat, die es nicht fördern kann, ohne dem Ganzen auch eine eigne Art entgegenzuhalten. So wird das Erkennen nur siegreich vordringen, wenn das Ganze des Geisteslebens in ihm wirkt und schafft; dann aber sind seine Erfolge zugleich Erweiterungen und Vertiefungen der geistigen Wirklichkeit. Die Leistungen der großen Denker sind nicht bloß verschiedene Spiegelungen einer um uns vorhandenen Welt, subjektive Meinungen und Ansichten von derselben Sache. Sondern die Sache selbst ist im Fluß, und an ihrer Förderung erwiesen jene Denker ihre Eigentümlichkeit; deshalb und darin waren sie groß, daß sie eine eigne Wirklichkeit hatten und mit ihr das Ganze des Geisteslebens weiterführten. Als Denker waren sie in ihrer Weise ebenso schöpferisch, wie der Künstler in seiner. Sie konnten das aber nur sein, weil sie mehr als bloße Theoretiker waren, weil ihnen die Denkarbeit nur den Höhepunkt einer Lebensbewegung bildete. So auf das Ganze des Lebens angewiesen, kann die Wissenschaft nicht aus eignem Vermögen den anderen Gebieten ihren Gehalt zuführen und ihre Grenze abstecken, wie es der Intellektualismus unternimmt. Er gewährt den einzelnen Gebieten nur so viel Realität, als sie vor dem Erkennen zu erweisen vermögen, das Maß des Erkennens wird hier zum Maße des Lebens. Die Religion, die Kunst, die Moral u. s. w. bestehen hier nur soweit zu Recht, als sie vor der Wissenschaft erwiesen und in ihre Begriffe eingegangen sind; die ganze Wirklichkeit, unser eignes Leben, unser Ich werden problematisch, wenn sie sich nicht der Theorie mit einleuchtenden Gründen dartun können.

140

Der Kampf um den C h a r a k t e r des Geisteslebens

Die Wesensbildung erklärt das alles für eine Verkehrung, welche die zweite Ansicht zur ersten, die Ausführung zur Begründung macht. Gewiß treibt der Lebensprozeß über die sinnliche Unmittelbarkeit hinaus zum Verlangen einer geistigen; diese muß sich für unser Bewußtsein dartun und entwickeln, aber sie entsteht deshalb nicht aus solcher Entwicklung, sie weist immer auf eine ursprüngliche, wesenbildende Tat des Ganzen zurück. Durch den Zusammenhang damit erhalten die einzelnen Gebiete ihre Kraft und Gewißheit; wohl haben sie einen Beweis ihrer Wahrheit zu führen, aber sie können ihn nicht durch ein deduktives Ableiten führen, sondern nur durch ein Aufdecken ihrer Verbindung mit jener Grundtat des Geisteslebens, durch ihre Fruchtbarkeit für das Ganze der geistigen Wirklichkeit, ihr Erzeugen neuer und eigentümlicher Lebensprozesse. Diese geistige Produktivität, die keine Willkür der Individuen und keine bloße Reflexion hervorbringen kann, wird nunmehr das Maß der Wahrheit und echten Wirklichkeit, nicht die Klarheit und Deutlichkeit eines freischwebenden Erkennens, wie das der Intellektualismus verkündete. Wie schlimm stünde es um die Religion, hinge ihr Wirken von der Überzeugungskraft der Beweise für das Dasein Gottes, wie schlimm um die Moral, dürften wir nicht eher mit Fug und Recht die Wahrheit sprechen, ehe die Pflicht der Wahrhaftigkeit sonnenklar erwiesen wäre, wie schlimm um die Kunst, müßten wir die Zustimmung zum Schönen so lange verschieben, bis wir sie begründen könnten! In Wahrheit ist überall die Vernunft reicher als die Erkenntnis und sind die Beweise des Geistes und der Kraft stärker als die der bloßen Theorie. Damit wird nicht der reinen Wissenschaft eine eigentümliche und wichtige Aufgabe abgesprochen. Schon das ist nichts Geringes, daß sie allen geistigen Besitz zu klären und zu sichten, zu entwickeln und in ein Ganzes zusammenzufassen vermag, daß sie ihn damit durchleuchtet und uns näher bringt, ihn in höherem Grade in einen eignen Erwerb, ein wahrhaftiges Eigentum verwandelt. Solches ist die Forderung jeder herangereiften Kultur; hier kann daher nichts Geistiges seine volle Wirkung üben ohne sich auch vor dem Erkennen darzulegen und zu rechtfertigen. Aber noch mehr! Für unser im Werden befindliches und der Irrung offenstehendes Leben kann die Erkenntnisarbeit auch in die Substanz zurückgreifen und den Grundprozeß fördern. Ihr Auseinandersetzen und Verketten kann Widersprüche hervortreiben und Irrungen be-

Konsequenzen und E n t w i c k l u n g e n

141

merklich machen, es kann zugleich neue Forderungen stellen, neue Möglichkeiten entwerfen, große W e n d u n g e n anregen. Das alles aber nicht aus dem Vermögen des isolierten Erkennens, sondern nur sofern das Erkennen einen Zusammenhang mit der Gesamttätigkeit wahrt, sofern in seiner Arbeit das Ganze lebt und wirkt. So heißt es, den substantiellen Gehalt und die Lehrform sowohl auseinanderzuhalten als aufeinander zu beziehen; wiederum entwickelt das Leben bei sich selbst eine Scheidung und eine innere Bewegung; zugleich entgeht es einem haltlosen Schwanken zwischen einer Überschätzung und einer Unterschätzung der Erkenntnisarbeit.

f. Das Unrecht und das Recht der G e s c h i c h t e . Die Art, wie das Leben sich zur Geschichte stellt, ist so bezeichnend f ü r sein eigentümliches Wesen, daß auch unsere Überzeugung sich hier zu erweisen hat. Die Wesensbildung m u ß mit jener Schätzung der Geschichte brechen, die das 19. Jahrhundert durchdringt, die zuerst in spekulativer Fassung die Geister gewann, dann aber mit zäher Arbeit den ganzen Befund der Erfahrung ergriff und verwandelte. Der dabei waltenden Überzeugung wird die Geschichte zur ausschließlichen Wirklichkeit des Geistes und gehört unser Leben und Sein, unsere Gesinnung und Leistung ganz Das Jahrhundert sah in dem allen n u r ihrem rastlosen Strom. den Gewinn: das Flüssigwerden starrer G r ö ß e n , die Herstellung umfassender Zusammenhänge, die Verjüngung und Kräftigung des Lebens; es sah nicht die Kehrseite, die dem System der Wesensbildung nicht entgehen kann. Denn wie könnte die Wesensbildung ein Selbstleben des Geistes aller bloßen Betätigung und Kraftentfaltung entgegensetzen, ohne die Flüchtigkeit und Nichtigkeit der bloßen Geschichte zu durchschauen? Sie findet in jener völligen Hingebung an den Strom der Dinge eine Preisgebung aller Selbständigkeit und Ursprünglichkeit der Gegenwart, eine Auflösung aller festen Größen zugunsten eines sich selbst verzehrenden Relativismus, ja die Vernichtung aller und jeder Gegenwart und zugleich aller geistigen Wirklichkeit. Denn was anders wird hier das Sein als ein Heer vorüberziehender Schatten? Wenn hier der eine Augenblick f ü r den anderen sorgen und das eine Geschlecht f ü r das andere leben soll, und dieses wieder f ü r ein anderes, und das so weiter und weiter ohne Ende, so braucht ein Selbstleben nur nach einem Sinn

142

D e r Kampf um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

und Zweck zu fragen, und die Nichtigkeit des Ganzen ist augenscheinlich. Aus der Verneinung aber entwickelt sich die Behauptung, daß die Geschichte einen tieferen Grund, eine ewige Ordnung der Dinge hinter sich haben muß, um geistig irgend etwas zu schaffen, um Geistesgeschichte gegenüber einer bloßen Naturgeschichte zu sein; nicht als ein selbstgenugsames Reich und eine freischwebende Macht, sondern nur als Existenz eines substantiellen Lebens kann sich jene behaupten. So kann die Geschichte unmöglich den ersten Platz behaupten. Aber auf dem zweiten Platz eröffnet ihr gerade die Wesensbildung eine bedeutende Aufgabe. Aus zeitloser Ursprünglichkeit allein kann unser menschliches Geistesleben weder zu voller Durchbildung noch zu voller Wirklichkeit gelangen; den Weg dahin findet es nur durch ein Eingehen in die Zeit und die Erzeugung einer Geschichte; nur eine Auseinandersetzung mit dem was auf diesem Boden wächst und wird, nur eine Überwindung der hier vorhandenen Widerstände und eine Verwandlung der gegenständlichen Erfahrung in Selbsterfahrung läßt jene Vollendung erreichen. Damit wird die Geschichte zum Hauptmittel des Kampfes um eine geistige Wirklichkeit, zugleich erhebt sie sich sicher und weit über umlaufende Meinungen des Alltags. Sie hat keineswegs bloß eine vorhandene Wirklichkeit in unseren Vorstellungen abzuspiegeln, sondern Arbeit und Kampf wollen Wandlungen in der Substanz bewirken, die rechten Ziele und Wege ermitteln, neue Kräfte gewinnen, eine Welt der Vernunft gegenüber der des bloßen Daseins erringen. Sie hat auch den Menschen nicht als fertig hinzunehmen und den bloßen Zwecken seines Wohlbefindens zu dienen, sondern mit jenen Wandlungen arbeitet sie auch an seinem Innern und will durch neue Zusammenhänge sein Wesen erst bilden. Was die erste Ansicht als festen Ausgangspunkt nimmt, das wird im Fortgang mehr und mehr zum Problem; es erhellt, daß uns nicht von Haus aus deutlich die Bahn gewiesen ist, die wir sorglos nur weiterzuwandeln brauchten, sondern daß auch die Hauptrichtung in Frage steht und sich nur durch Wagen und Schaffen, durch Zweifel und Kampf, durch Erfahrung und Selbsterfahrung gewinnen läßt. Nicht anders ist hier ein Fortgang denkbar, als durch die Bewegung des Lebens selbst, als in Selbstermessung des eignen Wesens. Auf dem Boden der Geschichte muß das Geistesleben sich zu umfassender Tat zusammenschließen, zu einem Werke ver-

Konsequenzen und Entwicklungen körpern und daran sein ganzes Streben V e r m ö g e n zu verwirklichen suchen.

setzen,

143

damit sein

ganzes

In solchem Schaffen steckt ein

W a g n i s , steckt die Behauptung, d a ß es das einzig wahre und vollgenügende

sei.

Über

das Recht dieser Behauptung kann nur das

Sichausleben selbst entscheiden, nur die D u r c h f ü h r u n g jenes Unternehmens Weite

kann

und

ersehen

Tiefe

des

lassen,

o b wirklich jene Bahn

Geisteslebens

in

sich

aufnimmt,

die

ganze

ob

nicht

draußen und drinnen Widerstände b l e i b e n , die nach und nach aus der

Verborgenheit

schüttern,

sowie

hervorbrechen

eine W e n d u n g

solche Selbsterfahrung,

und zu

schließlich

neuen

das

Zielen

Ganze

anregen.

ein solches Sichweiterbilden

erEine

wird aber nur

dadurch möglich, daß das Geistesleben in das geschichtliche Dasein eine zeitüberlegene Art hineinlegt

und

in seinen

Kämpfen

gegen-

wärtig hält; nur durch eine solche Immanenz des Ewigen wird die Geschichte mehr als Erscheinung und Schein, dient sie z u m A u f b a u einer geistigen

Wirklichkeit

A b e r das E w i g e m u ß nicht nur unablässig in die Zeit eingehen und sich

mit

ihr

verschmelzen,

es

muß

fortwährend

Überlegenheit bewahren und aus ihr zurückkehren. lichen V e r s e n k u n g

auch

eine

Mit der gänz-

in die Zeit und Geschichte w ü r d e das Geistes-

leben unter fremde Formen und Gewalten geraten, w ü r d e es immer mehr in die Z e r s t r e u u n g und Veräußerlichung ist die Leistung der Geschichte Ursprüngliche u m z u w e n d e n , energisch abzustreifen;

hineingezogen.

So

in das E w i g e

und

immer wieder

das b l o ß Zeitliche an der Geschichte

nur eine Gegenläufigkeit der B e w e g u n g im

Suchen und im Fliehen der Zeit ist der A u f g a b e gewachsen. erhält unser Verhalten zur Geschichte einen dialektischen

Damit

Charakter:

bei uns m u ß das Geistesleben die Geschichte s o w o h l aufbauen als zerstören, sich mit ihr verbinden und v o n ihr ablösen, in ihr sein W e s e n suchen und sie z u r Erscheinung herabsetzen.

Diese Dialektik

unseres Verhältnisses z u r Geschichte gibt unserem Leben ablässige S p a n n u n g und einen eigentümlichen Anblick.

eine

un-

Sehen wir,

wie sich danach die Hauptpunkte gestalten. Das Eingehen der Ewigkeit in die Zeit und zugleich der U n endlichkeit in ein endliches W e r k istischen

Lebensführung,

Leistung das G a n z e die sogenannten

die

erweist sich in jeder

mit ihrer

besonderen

des Geisteslebens sein will.

historischen

geschlossener Lebenssysteme.

charakter-

Aufgabe

und

Hierher gehören

Ideen, hierher auch die

Entwicklung

Bei jenen Ideen sehen w i r eigentüm-

144

D e r K a m p f um d e n C h a r a k t e r d e s G e i s t e s l e b e n s

liehe Gedankenmassen und Interessenkomplexe als die einzige, vollgenügende Wahrheit auftreten und den ganzen Menschen in Anspruch nehmen. Solche Ideen haben ihre natürlichen Bedingungen und ihre historischen Zusammenhänge, aber sie haben zugleich eine Ursprünglichkeit, die augenscheinlich eine Wendung zur eignen und freien Tat bekundet; sie behaupten eine Überlegenheit, ja Einzigkeit, welche den Anspruch in sich schließt, mit ihrer Leistung das Ganze des Geisteslebens zu verwirklichen. Die Ideen haben das engste Verhältnis zur Zeitlage, nur als eine Frage des Jetzt erhalten sie die Eindringlichkeit, erhalten sie auch die volle Individualität, ohne die sie nicht bestehen können. Aber diese scheinbaren Kinder der Zeit werden in Wahrheit zu Herren der Zeit. Sie wollen der Zeit nicht bloß dienen, nicht bloß für ihre Bedürfnisse sorgen, sondern sie verfechten ihren eignen Inhalt als etwas schlechthin wahres, unabhängig von der Zeitlage, ja im Gegensatz dazu gültiges, sie geben sich nicht als einen Punkt einer fortlaufenden Reihe, als ein Mittel für weitere Zwecke, sondern als einen völligen Selbstzweck; der Fluß der Geschichte scheint hier zum Stehen gebracht, die bloße Zeit vernichtet, eine Gegenwart gewonnen, die nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit angehört. Das alles ist ein deutliches Zeugnis für jenes Eingehen des Ewigen in die Zeit, eines ursprünglichen Schaffens in die Verkettung der Dinge; eben dieses Zusammentreffen ist es, was den Ideen eine so merkwürdige Macht gibt, die alle sonstige Leistung überbietet Denn bei der Idee sehen wir eine Aufgabe alle anderen zurückdrängen, ja verdrängen, in dem Einen scheint alLes erreichbar, vor dem hier Erstrebten verblaßt alles übrige Streben. Was hierher gehört, scheint aus dem Lebensprozeß selbst als eine axiomatische Wahrheit hervorzuquellen, es wirkt mit der Macht unbestreitbarer Selbstverständlichkeit. Hierher geht denn auch der Affekt der Zeit, wie ihr Glaube, hierher richtet sich die Begeisterung und die Leidenschaft des Menschen, hier wird die äußerste Kraft angespannt, hier das Individuum über die Kleinheit der partikularen Selbsterhaltung hinaus zur Überwindung und Aufopferung seiner eignen Interessen getrieben, sowie von allen Zweifeln klügelnder Reflexion durch die freudige Gewißheit eines unabweisbaren Schaffens befreit Wie aber der Mensch hier über sich selbst hinauswächst, so vermögen sich auch die mannigfachen Leistungen der Einzelnen zu summieren und zu einem gemeinsamen Werke zusammenzufinden. Im Besitz so

Konsequenzen und Entwicklungen

145

gewaltiger Kräfte kann die Idee getrost den Kampf gegen eine feindliche Welt unternehmen, sie wird mit unerbittlicher Logik alle ihre Konsequenzen hervortreiben, alle Verhältnisse nach ihren Forderungen gestalten, immer tiefer in den Bestand des Lebens eindringen. So erfahren wir es heute mit der sozialen Idee. Wem wäre das Walten geistiger Mächte über den Menschen anschaulich zu machen, der es nicht in den Ideen zu erkennen vermöchte? Aber die Geschichte zeigt nicht nur ein Aufsteigen, sie zeigt auch ein Sinken der Ideen, auch der Welttag der Ideen geht zu Ende, dem siegreichen Vordringen folgt ein Niedergang und eine Auflösung. Und zwar führt meist der Sieg selbst zur Wendung. Die volle Entwicklung der Idee bringt auch ihre Schranken zur Empfindung; die innige Verschmelzung von Besonderem und Allgemeinem, von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Zeitlichem und Ewigem, die zunächst eine gewaltige Stärke gab, wird zur Schwäche, sobald die damit umgrenzte Wirklichkeit in ihrem Festwerden sich als zu eng für die Unermeßlichkeit des Geisteslebens erweist, und es sich auch hier bewährt, daß für den Menschen es keine Determination ohne eine Negation gibt. Auch muß es sich rächen, daß im Siege die Idee ihre Jenseitigkeit aufgibt und sich dem Dasein mit seinen Formen und Kräften aufs engste verkettet Denn das Besiegte behauptet auch in der Unterordnung seine Art, es verstrickt und verfängt darin den Sieger; das Äußere, Mechanische, Kleinmenschliche gewinnt immer mehr Raum bis zur Verdunklung und Gefährdung aller Geistigkeit. So sinkt denn der Glaube und die Hingebung des Menschen, die früher so einleuchtenden Wahrheiten verfallen dem Zweifel, die alten Werte verlieren ihren Kurs, die Götter werden zu Götzen, die Reflexion verdrängt das Schaffen, die positive Epoche weicht einer kritischen. Glaubte sich dort der Mensch dem Geistesleben untrennbar verbunden, so muß er nun den weiten Abstand, ja den Gegensatz schmerzlich empfinden, sein Unvermögen wird augenscheinlich, und er kann seine Grenzen nicht eng genug ziehen. Aber jene Wendung ist keineswegs ein bloßer Verlust Auch ein Gewinn wird in ihr ersichtlich, sobald sie in ihrer wahren Natur verstanden wird, als ein Zurückkehren des Geisteslebens aus dem Werke der Zeit zu seiner eignen Ewigkeit und reinen Ursprünglichkeit, als ein Zeugnis dessen, daß es sich nun und nimmer in das besondere Werk und die geschichtliche Lage ausgibt, sondern E u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

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146

D e r Kampf um den Charakter des Geisteslebens

ihnen allen eine unveräußerliche Natur entgegensetzt und daraus an aller Leistung der Zeit eine Kritik übt. Solche Erhabenheit muß den Menschen zunächst zur Kleinheit herabdrücken, aber sie wird ihn auch wieder erheben, da ihm jene Wendung nicht von außen her zufällt, sondern sich in seinem eignen Innern vollzieht; so teilt er auch die Größe, Unendlichkeit und Innerlichkeit des Geistes. Mag er sie zunächst im Gegensatz zu aller positiven Gestaltung und daher in voller Unbestimmtheit und Formlosigkeit empfinden, er kann sich hierher aus allen Sorgen und Schmerzen des Daseins als in seine unverlierbare Heimat flüchten, er kann hier inmitten alles Zweifels und aller Unfertigkeit eine sichere Grundüberzeugung behaupten. Ja noch mehr! Jene Verneinung könnte unmöglich so zerstörend wirken ohne eine in ihr enthaltene, wenn auch noch so versteckte Bejahung. Dies Ja, zunächst zerstreut und für die Wirkung verloren, wird sich allmählich sammeln und deutlicher ausprägen; es bedarf nur der Gunst der Lage und vor allem großer Persönlichkeiten, um auf die Höhe zü gelangen und die Bewegung zu führen. So erhebt sich gegen die alte These eine neue, sie wird ihr nicht bloß einen äußeren Widerstand, sondern auch eine andere Art entgegensetzen. Namentlich das, was in der früheren Leistung sein Recht nicht erhielt, was unterdrückt und mißachtet war, wird nun mit frischer Kraft aufsteigen und die Führung übernehmen. Demnach wird sich die Geschichte nicht in gerader Linie, sondern in Gegensätzen bewegen. Eine solche Gegensätzlichkeit anerkennen heißt aber nicht sich zur Hegeischen Lehre von einem gleichförmigen Fortschreiten durch Bejahung und Verneinung, durch Scheidung und Wiederverbindung bekennen. Schon deswegen nicht, weil die Wesensbildung, gemäß ihrem Streben nach einem Inhalt des Selbstlebens, nicht vornehmlich mit formalen Gegensätzen logischer Art, sondern mit realen Gegensätzen zu tun hat. Bei diesen aber sind verschiedene Gestaltungen, verschiedene Wendungen möglich; so kann auch der Angriff auf das alte Lebenssystem verschiedene Ausgangspunkte und Richtungen haben. Welche von diesen Möglichkeiten die anderen überwindet, darüber kann uns keine Formel belehren. Ist nämlich in solchem kritischen Zeitpunkt das Eisen einmal in Fluß geraten, so wird es schmieden, wer kühn vorangeht und der Bewegung deutliche Bahnen weist. Das aber ist das Wesen großer Persönlichkeiten. Sie vermögen alle Voraussetzungen abzu-

K o n s e q u e n z e n und E n t w i c k l u n g e n

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brechen, auf ein ursprüngliches Schaffen zurückzugreifen, neue Grundelemente zur Wirkung zu bringen. Ein Augustin, ein Luther, ein Kant kann der ganzen Bewegung eine unerwartete Wendung geben. Damit wird die Geschichte irrational und widersteht aller Auflösung in eine einfache Formel, aller Verwandlung in ein aufgezogenes Uhrwerk. Es eröffnet sich die Aussicht auf einen Wechsel von Aufund Absteigen und auf eine unermeßliche Fülle neuer Bildungen. Die Frage wird unabweisbar, ob sich alle Mannigfaltigkeit zu einem Ganzen zusammenfügt und dem Menschen einen sicheren Gewinn bringt. Diese Frage bejaht mit stolzer Zuversicht die geschichtsphilosophische Überzeugung, welche von Hegel her das ganze Jahrhundert durchdrang und noch immer ein Hauptstück unserer Gedankenwelt bildet. Ihr erscheint die Geschichte als ein einziger großer Prozeß, durch den sich, weniger durch langsamen Zuwachs als durch den Streit der Gegensätze eine Vernunft, aber eine unpersönliche Vernunft aufarbeitet; nicht irgendwelche Überlegung und bewußte Zielsetzung lenkt diese Bewegung, sondern eine sachliche Notwendigkeit, eine Logik der Dinge; sie treibt Widerstände heraus, aber sie überwindet sie auch, sie erklimmt in sicherem Zuge immer weitere Höhen. Der Mensch wird hier zum bloßen Werkzeug unpersönlicher Mächte, sein Weg ist ihm gewiesen, ein ehernes Schicksal waltet über seinem Wollen und spielt mit seinen Plänen und Hoffnungen. Aber aus der Unterordnung empfängt er zugleich die Gewißheit, mit seiner Arbeit am Bau der Welten zu wirken, und über alle Endlichkeit hinaus trägt ihn das Denken in die Unendlichkeit des Alllebens. Solche bestrickenden Lehren haben sich immer mehr zu einem festen Glauben verdichtet, der auch da sich zähe behauptet, wo sonst die Skepsis der Zeit allem Glauben an eine Vernunft entsagt hat Die Wesensbildung muß dem allen eine bestimmte Grenze setzen. Daß einzelne Gedankenmassen eine gewisse Selbständigkeit auch gegen das Ganze des Geisteslebens erlangen, daß Kräfte sich mit ihren Gegenständen zu Prozessen und Potenzen eigentümlicher Art zusammenschließen, das sahen wir schon, wie auch dieses, daß ohne eine solche Emanzipation es keine Befreiung von der subjektiven Zuständlichkeit, keine Sonderung der verschiedenen Lebensfäden, keine Aneignung des Sachgehalts der Erfahrung gibt. Aber die Vernunft verwandelt sich in Unvernunft und der Freund in einen 10*

148

Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens

Feind, wenn jene Emanzipation zu einer völligen Ablösung wird, wenn jene Prozesse aus selbsteigner Kraft leben und wirken, ja alle Geistigkeit an sich ziehen wollen. Denn das Leben der einzelnen Gebiete und Komplexe wurzelt einmal im Gesamtleben, der Prozeß selbst muß als Ganzes von einer Tat getragen und umspannt werden, ja er wird zu einem Ganzen nur durch die Tat. Wird daher jene Beziehung zum Ganzen und zur Tat aufgegeben oder doch gelockert, so versiegen die Quellen des Lebens und die Bewegung verliert ihren Haupttrieb; die Arbeit verfällt einem seelenlosen Mechanismus, der um so zerstörender wirkt, als er nicht außerhalb, sondern innerhalb des Lebens liegt. So sind jene Prozesse und Gewalten nicht die höchsten Gewalten, und es ist keine absolute, sondern nur ein relative Notwendigkeit, die aus ihnen wirkt. Denn im Grunde ist es nur das Fehlen einer Gegenwirkung, das ihnen eine überwältigende Macht verleiht, es ist die Schwäche des zentralen Lebens, der Mangel an wesenbildender Tat, die ihnen das ganze Feld einzunehmen gestatten. Jene Tat kann den Kampf gegen die Prozesse aufnehmen, kann ihnen eine selbständige Geisteswelt entgegenstellen, kann sie von hier aus innerlich zu bewältigen suchen, indem sie das Wahre in ihnen, anerkennt und an sich zieht, das Unwahre aber bestreitet und auflöst Dieser Kampf wird im Lauf der Geschichte immer heftiger werden, da die Ausdehnung und Vertiefung der Arbeit die Kräfte immer enger mit den Gegenständen verflicht und eigne Lebenskreise daraus gestaltet, da sich immer mächtiger unpersönliche Potenzen erheben und gegen uns wirken. Die gefährlichsten Gegner schafft uns die eigne Arbeit, und mehr als die äußere Natur geben uns die eignen Gebilde des Geistes zu tun. Aber zugleich lassen sich von einer glücklichen Überwindung jener Potenzen um so größere Weiterbildungen und Vertiefungen des Selbstlebens erhoffen; auch hier bewährt sich, daß der Streit das Gesetz dieser Welt, der Vater und König der Dinge ist Mit solcher Anerkennung der Tat als des letzten Weltprinzipes und des Selbstlebens als des Hauptcharakters des Geistes muß jene mechanische Evolutionslehre zusammenbrechen, muß überhaupt die Geschichte ihre Selbstherrlichkeit einbüßen. Die Tat liegt über dem bloßen Nacheinander, sie kann nicht in Eins zusammenfassen und als Eins aufrechterhalten, ohne aus dem Fluß der Zeit in eine zeitlose Gegenwart zu versetzen. Was immer die Geschichte an wahr-

Konsequenzen und Entwicklungen

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haft Großem und Geistigem aufweist, das ist ein Werk solcher zeitlosen Gegenwart. Diese erschien im Hervorbringen allbeherrschender Ideen, sie erschien auch in der Zerstörung der Ideen; ohne sie gibt es keinen inneren, keinen geistigen Zusammenhang der Zeiten, kein Wachstum durch das Ganze der Bewegung. Denn die Selbsterfahrung, diese Grundbedingung aller Vertiefung, entsteht nie aus dem bloßen Strome heraus, sondern nur bei eiinem Anhalten des Stromes, nur nach Erlangung eines Ruhepunktes, an dem sich,die Mannigfaltigkeit zusammenfinden und aufeinander wirken kann. Es ist aber jene Tat keine feste Größe, die, einmal erreicht, ohne weiteres beharrt, sondern sie will immer von neuem aufgebracht sein, sie sinkt und versinkt mit dem Nachlaß der Spannung, mit der Hingebung an ungeistige oder halbgeistige Gewalten. So besteht bei diesem Hauptpunkt keine Sicherheit eines Fortschritts durch die ganze Breite des Lebens. Vielmehr zeigt die Erfahrung ein Steigen und ein Fallen, und zwar nicht in einem gesetzlichen Rhythmus, sondern in einer für uns durchaus irrationalen Art; die Höhepunkte ursprünglichen Schaffens und reinen Gestaltens sind seltene Festtage, aus denen das Durchschnittsleben rasch in die Prosa des Alltages zurücksinkt und von deren Ertrage es lange zehren muß; dies Sinken ist keineswegs bloß ein Zurückfluten innerhalb des Geisteslebens, ein Widerstand, den seine eigne Bewegung hervortreibt und für ihren inneren Fortgang verlangt, sondern es bedeutet ein Nachlassen des Lebensprozesses selbst, ein Erschlaffen der selbständigen Geistigkeit, ein Zurückweichen vor ungeistigen, ja widergeistigen Mächten. Der Glaube an irgendwelchen Fortschritt Und die Überzeugung, daß die Arbeit der Geschichte für das Geistesleben nicht verloren ist, kann sich nur auf eine dem Dasein und der bloßen Zeitfolge überlegene Sphäre beziehen; in solcher höheren Ordnung mag jene Geistesarbeit der Geschichte einen den Schwankungen unseres Daseins überlegenen Bestand und Wert haben. Für den Menschen der Erfahrung aber ist der Ertrag der Geschichte zunächst nur ein Gewinn von Möglichkeiten; er kann sich die Erfahrungen und Vertiefungen jener Bewegung aneignen, er kann ein unvergleichlich reicheres Leben entwickeln, als er es ohne alle Beziehung zur Geschichte vermöchte, aber er kann das nur bei Verwandlung des Ganzen in eigne Tat, nur in Herausarbeitung einer zeitlosen Gegenwart aus der Geschichte. So ist die Geschichte, geistig angesehen, für uns weit mehr Aufgabe als Tatsache, und es

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Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens

beinißt sich ihr Wert nach dem Grade der Entwicklung eines überzeitlichen Vermögens. Alles das läßt die übliche Selbstgenügsamkeit der Geschichte und die Verwandlung des Menschen in ein bloßgeschichtliches Wesen mit höchstem Nachdruck zurückweisen. Jene Selbstgenügsamkeit zerstört schließlich mit der Preisgebung eines selbständigen Geisteslebens die Wurzel alles Geisteslebens. Der Mensch aber ist im Kern seiner Geistigkeit ein übergeschichtliches Wesen, ein geschichtliches ist er nur in der näheren Durchbildung und vollen Aneignung jener. Er bildet sich letzthin weniger aus der Geschichte als an ,der Geschichte. Die rückhaltlose Hingebung an sie ergibt entweder einen blinden Kult der Tatsächlichkeit, der verehrt, was einmal da ist, oder eine unwahre Schönfärberei, die mit allen Mitteln das Dasein als vernünftig darstellt; beides erzeugt mit Notwendigkeit den Rückschlag eines geschichtsfeindlichen Radikalismus und gibt seiner Flachheit ein Recht. Aus solchem Dilemma befreit nichts anderes als die Wendung von der bloßen Geschichte zu einer zeitüberlegenen Gegenwart. Eine Gegenwart, eine echte Gegenwart, eine geistige Gegenwart, sie ist es vornehmlich, deren Erreichung über den Inhalt des Lebens und seinen Anteil an Wahrheit entscheidet. Eine solche Gegenwart besitzen wir nicht, wir suchen sie erst; sie wächst uns nicht aus dem unmittelbaren Dasein zu, sondern sie will durch eigne Tat im Kampf mit jenem erstritten sein; eine solche Gegenwart wird schmerzlich entbehrt, wo immer ein Verlangen nach selbständiger Geistigkeit aufkommt, zu ihr drängt aller Kampf um ein geistiges Sein, aller Trieb nach geistiger Selbstbehauptung. So ist in allen Beziehungen, die das menschliche Leben zur Geschichte hat, die Hauptaufgabe die Umwandlung der bloßen Zeit in eine echte Gegenwart; wir kämpfen darum sowohl in dem Verhältnis zur eignen Zeit als in dem zur gesamten Folge der Zeiten als endlich im Gegensatz zu aller Zeit, wir kämpfen um eine zeitgeschichtliche, eine weltgeschichtliche, eine ewige Gegenwart. Eine Gegenwart begehren wir zunächst gegenüber der eignen Zeit Denn nicht schon liefern uns jene die Eindrücke und Antriebe des sogenannten Milieu, das uns alle umfängt und dem sich auch der Gegner der Zeit nicht entziehen kann. Denn in dieser Sphäre des unmittelbaren Daseins herrscht ein unablässiger Wirbel und Wandel, widerstreitende Mächte durchkreuzen sich, von Augenblick zu Augen-

Konsequenzen und Entwicklungen

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blick wechselt die Schätzung, nirgends ein überlegenes Ziel, nirgends eine ruhige Sammlung; so verfallen wir schließlich jener Ergebung an die flüchtigsten und nichtigsten Eindrücke, die sich heute »Aktualität" nennt, in Wahrheit aber nichts anderes ist als ein Fliehen vor sich selbst, ein Zerrbild echter Gegenwart Auch in der eignen Zeit müssen wir die Gegenwart erst suchen, und wir können sie nicht anders finden als durch eine Anknüpfung ihrer Arbeit an die letzten Ziele des Geisteslebens, durch jene Verbindung von Zeit und Ewigkeit, wie die geschichtliche Idee sie erkennen ließ. Ein sonst unerreichter Höhepunkt muß jetzt erreichbar scheinen, jetzt eben gilt es etwas zu tun, das, wenn nicht jetzt gewonnen, f ü r immer verloren ist. Erhält das Jetzt nicht in dieser Weise eine unersetzliche Bedeutung, so wird es zu einem gleichgültigen Punkt einer endlosen Linie. Warum sollte es uns aber dann als etwas besonderes gelten, was hätten wir in ihm zu erreichen, was zu versäumen? Gewinnt es aber jene Beziehung zu tieferen Gründen und einer ewigen Ordnung, so wächst es ins Unermeßliche und erhält eine einzigartige Aufgabe, die alle Unendlichkeit der Zeitfolge ihm nicht abnehmen kann. So steht Großes auf dem Spiel, und es trägt jede Zeit in sich ein Entweder — Oder; sie kann ergreifen, was gerade ihr an ursprünglicher und wesenhafter Geistigkeit offensteht, und damit Ewiges in den menschlichen Gesichts- und Lebenskreis ziehen, sie kann es unterlassen und damit ihr geistiges Leben verlieren. Im bejahenden Fall werden wir unvergleichlich mehr in der Zeit sehen und an ihr haben, auch es als Torheit erkennen, der Zeit entfliehen zu wollen, statt sie in sich zu vertiefen und in ihr Ewiges zu finden, auch unser Handeln wird daher den engsten Anschluß an die Zeit suchen; das alles aber nur, sofern uns eine geistige Gegenwart aus Sklaven der Zeit zu Herren der Zeit macht. Über die zeitgeschichtliche Gegenwart aber treibt es mit Notwendigkeit hinaus zu einer weltgeschichtlichen Gegenwart. So zwingend uns die unvergleichliche Zuspitzung der Wirklichkeit in dem Jetzt umfängt, der Mensch erschöpft sich nicht in dieses Jetzt, ihm verschwindet nicht die Vergangenheit in das Jetzt, die geistige Arbeit erweckt sie zu neuem Leben und ruft sie zu uns zurück. Es entwickelt sich ein neuer Lebenskreis des weltgeschichtlichen Daseins; sein Inhalt beschäftigt uns nicht nur in seiner Wirkung auf unsere Lage, sondern auch direkt und an sich selbst; das Ganze ergibt ein gewisses Niveau, dem alles entsprechen muß, was den ganzen Menschen

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Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens

befriedigen will; von hier aus wird an den einzelnen Zeiten eine Kritik geübt, und manche selbstbewußte Leistung, die sich den eignen Umgebungen weit überlegen fühlt, unterliegt den stillen Gegnern, den unsichtbaren Geistern, die aus der Vergangenheit aufsteigen. Dieser weltgeschichtliche Lebenskreis mit seiner Mannigfaltigkeit schließt sich aber keineswegs von selbst zu einem Ganzen zusammen; er tut es nur bei Verwandlung jenes Nacheinander in eine unmittelbare Gegenwart, bei Umsetzung des Fremden in eignes und ursprüngliches Tun. Dazu gehört ein kritisches Wirken, ein Sichten und Sondern, ein Abstreifen des Zufälligen und Vergänglichen, nicht minder aber auch ein Herausheben des Ewigen, ein Verjüngen und Neubeleben des Wesenhaften, ein energisches Zusammenfassen zum Ganzen einer Wirklichkeit. So liegt auch die Vergangenheit nicht fertig und abgeschlossen hinter uns, sondern immer von neuem wird um sie gekämpft, immer neues in ihr entdeckt Die Weltgeschichte ist ebensowenig ein Reich der reinen Vernunft wie die Zeitgeschichte, und was an Vernunft in ihr steckt, das fließt uns nicht in sicherm Strome zu, sondern das bedarf zu seiner Freilegung mühevoller Arbeit. Aber es eröffnet dann zugleich eine Individualität und Positivität, die das Leben reicher, anschaulicher, kräftiger macht. Eine Individualität der weltgeschichtlichen Arbeit und Gegenwart ist nicht zu erfassen ohne eine Berufung an eine noch höhere Ordnung, ohne ein Messen aus reiner Ursprünglichkeit und Ewigkeit. So erhebt sich notwendig die Idee einer ewigen Gegenwart als der Quelle aller geistigen Gegenwart. Jene Idee wirkt für uns zunächst nur innerhalb der zeitgeschichtlichen und der weltgeschichtlichen Ordnung, aber sie könnte hier nicht so wirken wie sie wirkt, sie könnte nicht über alle Endlichkeit und Bedingtheit hinaustreiben ohne eine volle Selbständigkeit und Überlegenheit gegen die Zeit Gänzlich in die ewige Gegenwart aufzugehen und die Zeit völlig abzustreifen suchen, wie es frühere Zeiten wollten, das können wir Neuern nicht mehr, durch lange und harte Erfahrung über die Schranken des Menschen und sein Unvermögen belehrt, jener abgelösten Ewigkeit irgendwelchen Inhalt zu geben. Aber ohne den Abschluß in jener ewigen Gegenwart verfällt und vergeht alles Streben nach Gegenwart, ohne die Befestigung an jenem sichern Ruhepunkte zerbröckelt das Leben in flüchtige Phasen und verschwindende Augenblicke, und aus der Wirklichkeit wird damit ein sinnloses Dahinfliehen, ein Schatten und Traum.

Das P r o b l e m

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2. Die Auseinandersetzung mit der menschlichen Lage. a.

Das Problem.

Im System der Wesensbildung war es ein Hauptpunkt, daß das Geistesleben eine volle Wirklichkeit nicht werden könne aus freischwebender Tätigkeit, sondern daß es dafür zum Reich der Erfahrung zurückkehren müsse, um durch seine Unterwerfung sich selbst zu vollenden. Daß aber diese Unterwerfung gelinge, daß durch Arbeit und Kampf die geistige Bewegung innerlich fortschreite, das wurde als sicher vorausgesetzt. Aber die Frage ist nicht zu umgehen, ob das immer so glücklich verläuft, ob nicht der Widerstand eine solche Stärke und Starrheit erreicht, daß daraus schwere Stockungen erwachsen, daß das Aufkommen der Vernunft gehemmt und die Reinheit des geistigen Charakters gefährdet wird. Dies Problem des Widerstandes wird uns noch viel zu schaffen machen; hier beschränken wir uns auf die Seite der Frage, ob überhaupt eine fruchtbare Beziehung zwischen dem geistigen Schaffen und dem Grundstock des Daseins zustande kommt, ob sich dieses irgend in die geistige Bewegung hineinziehen läßt und nicht ihr gegenüber in träger und schroffer Ablehnung beharrt. In diesem Fall ginge die Einheit des Seins verloren und das Geistesleben drohte in eine jenseitige Ferne zu verschwinden. Daß an dieser Stelle ernste Verwicklungen entstehen, daß in der Tat nicht nur hie und da, sondern durch die ganze Ausdehnung des Daseins ein zäher Widerstand geleistet wird, das kann niemandem entgehen, dem nicht die konventionellen Beschwichtigungen der Alltagskultur den wahren Stand der Dinge verbergen. Ihre Schönfärberei entfernen, das heißt eine klägliche Ohnmacht der geistigen Faktoren im unmittelbaren Dasein bloßlegen. Hier ist es die natürliche Existenz, es sind die Triebe der punktuellen Selbsterhaltung, welche die Kraft und die Arbeit beherrschen, den Affekt und die Leidenschaft entzünden; hierher scheint das ganze Sein des Menschen zu gehören, hier wird sein Streben mit tausend Klammern festgehalten. Alle Einrichtungen des gesellschaftlichen Durchschnittes setzen diese selbstische Gesinnung voraus; die Kultur mag die Roheit des Naturtriebes durch ein gefälliges Rankenwerk konventioneller Formen verdecken, seinen Kern läßt sie unangetastet, das aufgestutzte Ich des Kulturmenschen ist alles eher als ein geistiges Selbst. So fehlt hier

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dem Geistesleben aller selbständige Wert, alle aufrüttelnde und erhöhende Kraft; wird es überhaupt erstrebt, so gilt es als ein bloßer Zusatz zum sonstigen Leben, als ein Mittel für andere Zwecke. Die Wesensbildung muß dies ablehnende Verhalten des Daseins besonders schwer empfinden. Denn ihre Behauptung, daß in der Wendung zur Qeistigkeit das Sein seinem eignen Wesen zustrebe, enthält die Forderung, daß überall ein Trieb nach jener Richtung wirke, daß der Strom der Vergeistigung alles in sich zu ziehen und mit sich fortzureißen vermöge. Bei Nichterfüllung dieser Forderung scheint die Wahrheit des Ganzen gefährdet, unser Prinzip kann sich schlechterdings keinen Abzug gefallen lassen, der äußere Widerstand wird hier unvermeidlich zu einem inneren Widerspruch. So kämpft jenes Prinzip für seine Selbsterhaltung, wenn es immer von neuem fragt, ob sich nicht trotz alles entgegenstehenden Scheines die Kluft zwischen dem geistigen Schaffen und dem Dasein irgend überbrücken und eine Bewegung auch auf dieser Seite anregen lasse. Dabei ist jener Widerstand von außen her kaum der schlimmste Gegner, auch in seinem inneren Bestände scheint das Geistesleben für den Menschen keine volle und selbständige Wirklichkeit zu erreichen. Die Erhebung zur Selbsttätigkeit sollte von der Sinnlichkeit befreien, die zuerst alles Sein beherrschte. Aber die Reinheit, welche das Geistesleben in der Entgegensetzung gewinnt, ist bedenklich nahe einer Leere verwandt: wir erhalten von ihm nur negative Merkmale. Überall scheinen die Begriffe des geistigen Gebiets von der Verneinung her gebildet: was wir nicht sinnlich zu fassen vermögen, das nennen wir geistig; im Gegensatz zum Bedingten, Endlichen, Weltlichen entwerfen wir die Begriffe des Unbedingten, Unendlichen, Göttlichen; aber wieviel Inhalt verbleibt diesen Begriffen, wenn sie von dem Gegensatz abgelöst und auf sich selbst gestellt werden? Auch was wir Glück, was wir Tugend nennen, bezeichnet mehr die Abwesenheit von Schmerzen, das Fehlen von Lastern als etwas positives; auch ihre Größe messen wir mehr nach der Stärke des überwundenen Widerstandes als nach einer eignen Beschaffenheit Sobald gegenüber solcher Negation ein eignes Gestalten versucht wird, geraten wir unter die Macht eben des Sinnlichen, von dem wir uns mühsam losrissen; in Bildern, Empfindungen, Affekten dringt es tausendfach ein und reißt die Bewegung mit sich fort. Von Alters her ist der Religion vorgehalten, daß sie in ihren Begriffen vom Göttlichen entweder der Bildlichkeit oder der bloßen

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Verneinung verfalle und n u r durch das Hin- und Herschwanken zwischen beiden den Schein eines Inhalts erschleiche; in Wahrheit leidet alles geistige Schaffen an dem Dilemma einer unsinnlichen Leere oder einer versteckten Sinnlichkeit; von da aus aber kann es keine Macht über das menschliche Gemüt erhalten, es bleibt dem Eindringen kleiner und selbstischer Motive wehrlos preisgegeben. So bietet die Geschichte der Religionen, auf die Motive der Handelnden angesehen, ein wenig erquickliches Schauspiel. So tief eingreifende Probleme können nicht ruhig dahingestellt bleiben, sie müssen mit aller Kraft aufgenommen werden; es gilt also zu untersuchen, erstens ob nicht auch innerhalb unseres Daseins eine Bewegung zur Geistigkeit aufkommt, und zweitens, ob nicht das Geistesleben trotz jener Hemmungen eine bejahende Art zu behaupten und selbst aus dem Widerstande einen positiven Gewinn zu ziehen vermag.

b. Die Bewegung des Daseins zum Geist. U m ein besseres Verhältnis zur Geisteswelt zu gewinnen, m u ß das Dasein selbst unter einen neuen Anblick treten und mehr in sich zu erkennen geben, als die erste Betrachtung erfaßte. Näher handelt es sich hier um zwei Hauptbedingungen, die sich gegenseitig ergänzen. 1. Das Dasein darf nicht so wie es vorliegt als in sich gegründet und geschlossen gelten. Vielmehr muß es ein tieferes Wesen in sich bergen, das zurzeit an diese besondere Lage und Stufe gebunden, nicht aber letzthin in sie aufgegangen ist. Ohne den Auftrieb einer tieferen Natur im Menschen, ohne einen unserem augenblicklichen Tun und Befinden überlegenen Z u g unseres Wesens bestünde keine Hoffnung, jenen ungeistigen Stand des Daseins zu überwinden. Jene Annahme einer tieferen Natur entspricht aber gerade der Wesensbildung mit ihrer Auffassung von Natur und Geist als zweier Stufen Eines Seins. Gerade hier kann die niedere Stufe nicht bloß einen Gegensatz, sondern auch eine Vorbereitung bedeuten. 2. Aber das bloße Bestehen eines solchen Auftriebes genügt noch nicht, er m u ß auch bestimmte Durchbruchspunkte finden, mittels derer er sich aufarbeitet, um dann die Kräfte der bloßen Natur zu entwinden und zum Geist hinüberzuleiten. W i r bedürfen

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besonderer Hilfen, guter Geister der Menschheit, Erzieher zur Geistigkeit, um jene lähmende Kluft im eignen Wesen zu überbrücken. Jene Durchbruchspunkte sind keineswegs die Schöpfer des Geisteslebens, vielmehr bedürfen sie einer überlegenen Geistigkeit ursprünglicher und selbständiger Art, um wirken zu können, was sie wirken sollen; ohne die lebendige Gegenwart eines Ideengehaltes hilft jene Vermittlung nichts. Aus der bloßen Natur hervorzaubern läßt sich das Geistige mit allen Kunstgriffen, auch mit der Hilfe endloser Zeiten nicht. Aber nach den Ideen und mit den Ideen bleibt jene Vermittlung wichtig als das einzige Mittel, den ganzen Menschen für das Geistesleben zu gewinnen. So tritt neben die Hauptaufgabe des geistigen Schaffens diese zweite der seelischen Aneignung; es eröffnet sich eine psychagogische und anthropagogische Aufgabe, eine Aufgabe, die sich theoretisch nur in Umrissen fassen läßt, während die Hauptentscheidung bei praktischer Einsicht und glücklichem Geschick liegt. Aber in Kürze müssen auch wir uns damit befassen. Das Durchbrechen des Geistes innerhalb des Daseins ist zweiseitiger Art: es enthält eine Verneinung und eine Bejahung, ein Zerstören und ein Aufbauen; jenes sofern innerhalb des Daseins das Ungenügen des bloßen Daseins uns aufgeht, dieses sofern in ihm ein Aufsteigen zum Geist beginnt, eine Umbildung der Kräfte erfolgt. Beides muß sich die Wage halten, um die rechte Gesamtwirkung zu erzeugen, ein Nein ohne alles Ja würde einen trostlosen Pessimismus, ein Ja, das nicht ein Nein in sich schließt, einen flachen Optimismus ergeben. Von Verneinung und Zerstörung reden wir, sofern innerhalb des Daseins Mißstände erwachsen, welche eine Befriedigung bei ihm schlechterdings verbieten und darum entweder eine neue Art des Lebens hervortreiben oder alle Lust am Leben verleiden. Einer derartigen Wirkung sind nicht solche Mißstände fähig, welche mehr gelegentlich an der Oberfläche des Daseins entstehen; solche lassen sich da, wo sie entsprungen sind, überwinden oder doch angreifen, sie werden durch das Aufbieten von Kraft und Arbeit uns mehr an das Dasein fesseln als von ihm befreien. Vielmehr handelt es sich um solche Mißstände, die der gesamten Natur des Daseins anhaften, die seine Grundbedingungen treffen, sich bis in seine innerste Wurzel erstrecken und daher durch alle spätere Arbeit nicht zu heben sind. Solche Mißstände mögen im äußeren Gelingen noch schärfer

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zum Ausdruck kommen als im Mißlingen, im Glück noch mehr als im Unglück; in ihrer Hoffnungslosigkeit müssen sie einen Bruch mit dem Ganzen jener Lage erzwingen und das Sinnen des Menschen gründlich davon ablösen. Bedeutet aber dieser Bruch nicht eine gänzliche Vernichtung, sondern die Anbahnung eines höheren Lebens, so werden jene Mißstände in aller peinlichen Erschütterung und allem gewaltigen Schmerz zu guten Geistern der Menschheit, ohne deren strenge Erziehung sich nicht vorwärts gelangen läßt. Solche wesentlichen Mißstände könnten nicht zur Empfindung kommen, wenn nicht eine tiefere Natur im Menschen wirksam wäre; aber diese Natur ist zunächst wie gebannt und begraben, sie muß erst befreit und zur Selbständigkeit erweckt werden, und das geht nicht anders als durch jenen Weg der Verneinung. So sind in jenem Sinne als gute Geister der Menschheit zu begrüßen die Widersprüche, die Leiden, selbst der Tod. Die Widersprüche sind es vornehmlich, welche das Denken über die Sinnlichkeit hinaus zum Bau einer eignen Welt treiben; sind sie nicht bloß gelegentliche Anstöße, die eine verständige Betrachtung leicht beschwichtigt, sondern eine Aufdeckung der Unstätigkeit oder Unzulänglichkeit der elementaren Größen, der Sinnlosigkeit aller bloß mechanischen Prozesse, ein Aufweis des Unvermögens gegenüber unerläßlichen Aufgaben, so müssen sie kräftig zur Aufrüttelung und Erschütterung wirken, so müssen sie entweder in einen absoluten Skeptizismus oder zu voller Selbständigkeit einer Gedankenwelt führen. Diese aufrüttelnde und befreiende Kraft des Widerspruches hat schon Plato in großen Zügen geschildert, so hat sie sich auch durch den Lauf der Geschichte bewährt; nirgends hat die Wissenschaft eine innere Selbständigkeit gegen das gewöhnliche Weltbild erreicht ohne ein Hindurchgehen durch das Fegefeuer solcher Widersprüche; die Philosophie aber, der die Hauptsorge für solche Selbständigkeit obliegt, verliert ohne das den Haupttitel ihrer Existenzberechtigung, sie droht ein bloßer Ausputz, eine gleichgültige Zutat zum sonstigen Wissen zu werden. Schon das bloße Auftreten solcher Widersprüche bezeugt eine Gegenwart des Denkens in unserer Arbeit, aber erst die Entwicklung und Überwindung des Widerspruches erhebt das Denken zu einem deutlichen Bewußtsein seiner Aufgabe und seines Vermögens, die energische Auseinandersetzung mit den Widersprüchen ist das Hauptkennzeichen der wissenschaftlichen Philosophie gegenüber aller bloßen Popularphilosophie.

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Denn wissenschaftRph ist nicht die Philosophie, welche möglichst viel aus anderen Wissenschaften entlehnt, sondern die, welche ihre eigne Aufgabe scharf erfaßt und kräftig ausführt. Was für das Denken die Widersprüche, das sind für das Leben die Leiden. Auch hier erzwingen den Bruch mit dem Dasein nicht einzelne Schäden und Mängel, denn diese könnte man mit den Mitteln jenes Daseins zu überwinden hoffen; wohl aber erzwingt ihn das Erfahren der Unzulänglichkeit jenes ganzen Gebietes für das Glücksverlangen, den Lebensaffekt eines vernünftigen Wesens. Hier fällt ins Gewicht die Gebundenheit unserer Lage, die Abhängigkeit alles Strebens, die Zufälligkeit und Unsicherheit alles Erfolges, die Sisyphusarbeit des unablässigen Mühens und Hastens, mehr als alles das aber die Leere und Sinnlosigkeit des mit so viel Mühe umworbenen und errungenen Glücks. Denn auch der schwerste Widerstand, den das Streben findet, kann nicht so lähmen wie die Einsicht in die Nichtigkeit des höchsten Zieles; erscheint doch damit nicht nur dieses oder jenes Unternehmen als verfehlt, sondern alles irgend mögliche Streben als eitel und fruchtlos. Das kann in den Abgrund der Verzweiflung stürzen, aber es kann auch, wenn anders die menschliche Natur irgend noch tieferes in sich birgt, dieses aufreizen und zu einem rücksichtslosen Kampf für die geistige Selbsterhaltung entflammen; eben aus der Erfahrung der Unmöglichkeit jenes Weges kann sich die feste Zuversicht neuer Ziele erheben. Das Problem aber auf diese Höhe zu erheben, daran arbeiten gemeinsam Religion, Kunst und Philosophie. In dem Besonderen, was sich an Leid und Leere findet, schauen sie die Gesamtlage; mit ihrer Entwicklung und eindringlichen Vorhaltung verleiden sie dem Menschen gründlich die Lust an jenem Dasein und stellen ihn vor die große Entscheidung zwischen Vernichtung und Erhöhung. Sie erreichen das nicht durch eine bloße Verallgemeinerung der individuellen Erfahrungen, wobei sogar der Egoismus einen Trost daraus schöpfen könnte, das eigne Leid überall draußen wiederzufinden. Vielmehr handelt es sich um eine wesentliche Vertiefung der ersten Ansicht, um eine Erhebung ins Ganze, Prinzipielle, Wesentliche; hier erhält der Schmerz eine innere Weihe, denn nun vermag in ihm eine tiefere Natur hervorzubrechen und alles Leid der Verneinung, wenn auch dunkel, so doch merklich genug die Gewalt eines aufsteigenden Ja zu bekunden.

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Selbst den Tod dürfen wir in diesem Zusammenhange zu den guten Geistern der Menschheit rechnen. Er könnte gar nicht als ein Übel gelten, wenn sich unser Sein in dieser Zeitspanne auslebte, und unsere Hauptprobleme hier im wesentlichen gelöst oder doch erheblich gefördert würden; er könnte uns nicht so tief aufregen und so unablässig beschäftigen, wenn nicht ein Ewiges in unserem Leben und Streben sein Zerschneiden des Fadens als eine schroffe Verneinung empfände, und so in uns selbst ein unerträglicher Widerspruch entstünde. Eine Überwindung dieses Widerspruches sucht eine flache Ansicht mit gemeiner Lebensgier in der bloßen Ausdehnung jener Zeitspanne und ersinnt dafür ein neues Leben völlig analog jenem alten, unzulänglichen. Ein tieferes Denken hingegen findet das Problem nicht sowohl, in der zeitlichen Begrenzung als in der Zeitlichkeit überhaupt; ihr Mißverhältnis zur Ewigkeit und der Widersinn eines bloß der Zeit angehörigen und mit ihr fortwährend versinkenden Geisteslebens, den der gewöhnliche Lauf des Daseins unter gefälligen Täuschungen versteckt, wird durch den Tod zu unbarmherziger Klarheit hervorgetrieben. Aber die Klärung kann zur Befreiung dienen, wenn der Mensch des Ewigen seiner Art inne wird und von ihm aus ein unvergleichlich gehaltvolleres Leben entwickelt als in dem trüben Gemenge des Durchschnitts. — So ist es überall die Negation, welche weckt und reizt, weitertreibt und zur Entscheidung zwingt. Aber so gewiß die Negation diese umwälzende Kraft nur der Position verdankt, die in ihr steckt, es bedarf einer Entwicklung der Position, um eine kräftige Bewegung hervorzubringen. Diese Entwicklung erfolgt auf zwei Hauptwegen: einmal wachsen die Grundformen des Lebens durch den Lebensprozeß selbst ins Geistige, ferner aber entstehen unter besonderen Verhältnissen Höhepunkte der Leistung, die sich dann von der anfänglichen Begrenzung ablösen und für das Ganze fruchtbar machen lassen. Mit jenem ersten hat es folgende Bewandtnis. Das Leben steht anfänglich mit allen seinen Formen unter der Herrschaft der natürlichen Selbsterhaltung, der erste Trieb geht auf die Förderung des bloßen Ich. Aber es gibt keine Entfaltung des Lebensprozesses ohne ein Hinausgehen über den bloßen Punkt, ohne ein Anknüpfen und Ausbilden von Beziehungen, ohne eine Verkettung mit der Umgebung. So tritt auch ein gegenständliches Element, eine Beschaffenheit der Dinge, in unseren Lebenskreis ein, und nun vollzieht sich

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eine folgenreiche Wendung dahin, daß dies Sachliche den Menschen anzieht und zu sich hinüberzieht; die Tätigkeit des Menschen entwächst seinen anfänglichen Motiven, es erfolgt eine Befreiung von der Enge jener Punktualität. Diese Wendung ist ein deutliches Zeugnis dafür, daß unser Leben nicht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit der bloßen Selbsterhaltung dient, sondern daß es das nur in einer gewissen Lage tut, und daß seine eigne Bewegung diese Lage überwinden kann. Diese Überwindung erfolgt in verschiedenen Stufen; je schärfer sich die Tätigkeit ausprägt und je enger sie uns mit der Wirklichkeit verflicht, desto mehr wird sie jene erhöhende und reinigende Kraft üben. Eine emporziehende Macht hat die Tätigkeit schon in ihrer unbestimmtesten Fassung. Sie entspringt zunächst den Antrieben des Ich und dient seiner Lustempfindung. Aber sie reißt sich durch ihre eigne Entwicklung von dieser Empfindung los und gewinnt eine Freude in sich selbst. Die Lust am Wirken, an der Spannung der Kräfte, an der Bewegung des Lebens bewältigt den Menschen und befähigt ihn, von dem Nutzen für das kleine Ich abzusehen, ja solchem Nutzen zuwiderzuhandeln. Diese Wirkung steigert sich gewaltig in der Arbeit, bei dem Tun, das den Gegenstand erfaßt und weiterbilden will. Die Arbeit mit ihrer Gebundenheit — im Gegensatz zur freien Tätigkeit — ist nicht ein Naturtrieb des Menschen, vielmehr empfindet der natürliche Mensch an ihr Unlust, und es ist vielmehr die Notwendigkeit der Lebenserhaltung, verstärkt durch den Zwang der gesellschaftlichen Ordnung, welche uns die Arbeit auferlegt. Aber je mehr die Arbeit sich entwickelt und uns in einen Verkehr mit den Dingen bringt, desto mehr vollzieht sich eine Ablösung von jenen äußerlichen Zwecken, das Werk wird uns wertvoll auch ohne eine Beziehung auf jene, wir freuen uns der Produktion und in ihr auch des Gegenstandes, wir vermögen seine Gesetze anzuerkennen, seine Forderungen zu erfüllen, überhaupt uns von einer sachlichen Notwendigkeit bewegen zu lassen. So eine Überwindung des Egoismus, ein Sichselbstvergessen in die Arbeit, ein Weit- und Freiwerden durch die Arbeit; das aber nicht durch den bloßen Mechanismus der äußeren Leistung, sondern nur durch das Erwachen einer tieferen Natur, das Aufsteigen eines geistigen Selbst im Menschen. Solches umbildende Wirken wird die Arbeit um so mehr üben, je mehr sie einen individuellen Charakter annimmt, je weniger sich

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das Tun des Einzelnen als eine unbestimmte Größe in die Masse verliert. Damit kommen wir auf die Betätigung der Individualität als ein Hauptmittel der Vergeistigung des Daseins. Die individuelle Art ist zunächst auch etwas naturgegebenes und wird daher als ein Stück der natürlichen Selbsterhaltung verfochten. Aber jedes Individuelle enthält mit seiner Bestimmtheit auch eine Absteckung und Begrenzung, die der Roheit des blinden Naturtriebes entgegenwirkt; das Individuelle verfechten, das heißt innerhalb der eignen Art ein Maß und Gesetz anerkennen. Dabei hat die Individualität in sich selbst viel Bewegung, ja Verwandlung. Zunächst erscheint sie nur in einzelnen und zerstreuten Zügen, die alle Bearbeitung ablehnen und kein Gesetz über sich anerkennen. Im Fortgang des Lebens aber vermögen sich diese Züge zusammenzuschließen und miteinander zu erhalten; damit wird die Individualität immer weniger bloßes Schicksal, immer mehr auch Sache unserer eignen Tat, unser eignes Werk; in solcher Erhöhung vermag sie nicht nur der allgemeinen Ordnung gegenüber, sondern auch innerhalb ihrer zu wirken; in der kräftigen Entwicklung der eignen Art vermag nun der Einzelne zugleich eine Konzentration einer universalen Vernunft zu werden. So ist es auch hier die tatsächliche Bewegung des Lebens, welche, aller bloßen Reflexion überlegen, das Streben der Natur entwindet und dem Geiste zuführt. Diese Individualisierung erstreckt sich über den Gesamtanblick des Lebens hinaus auch in die einzelnen Betätigungen, überall aber wirkt sie zur Formgebung und Veredlung, zur Befreiung von der Roheit und Blindheit bloßer Naturtriebe. So wird z. B. der Geschlechtstrieb, der sonst den Menschen auf der Stufe der Tierheit festhalten würde, durch die Individualisierung veredelt und ins Geistige erhöht; die Entfaltung der individuellen Art vermag hier allen äußeren Verhältnissen Trotz zu bieten, sie kann zu den größten Opfern, ja zur Selbstvernichtung treiben. Bei allem Problematischen enthält solche Wertschätzung der Individualität eine Größe, die den Menschen aller bloßen Natur und auch der gesellschaftlichen Sphäre überlegen zeigt. Bei Individualität denken wir zunächst an das Einzelwesen, und dies bleibt auch ihr Hauptsitz. Aber daß sich auch kleinere oder größere Kreise zu individueller Art zusammenschließen, sei darüber nicht vergessen, denn diese Erweiterung ist für die Heranziehung der ganzen Breite der Menschheit zu geistigen E u c k e n , Kampf.

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Aufgaben von besonderer Bedeutung. Wir denken hier an die Tatsache der Parteibildung, an das Auseinandertreten der Menschen zu widerstreitender Behauptung und die Entscheidung der Individuen für diese oder jene Seite; wir erblicken darin ein unentbehrliches Mittel für die Bewegung der trägen Massen, für das Wurzelschlagen geistiger Interessen in dem sterilen Boden des natürlichen und gesellschaftlichen Daseins. Was den Einzelnen zunächst zur Partei hinzieht, ist nichts anderes als die, freilich vor sich selbst versteckte Überzeugung, hier am besten die eignen Interessen verfochten zu finden, die ihm zugleich als die an sich wichtigsten gelten. Wenn große geistige Bewegungen die Massen mit sich fortgerissen haben, so ist von vornherein anzunehmen, daß nicht der reine Geistesgehalt, der Idealgehalt in seiner Ablösung vom Dasein, allein solche Wirkung übte, sondern daß es zunächst die mit den Ideen verbundene Aussicht auf eine Verbesserung der eignen Lage im Dasein war, welche die Gemüter gewann. Auch die religiösen Bewegungen machen keine Ausnahme davon, auch hier wird man überall Interessen, vornehmlich soziale Interessen, aufzusuchen haben. Aber so gewiß solche Interessen die Sache in Fluß zu bringen haben, so wenig genügen sie zur Erklärung des Ganzen. In dem Anschluß an die Partei ergreift das Individuum den Inhalt der Parteibehauptung als seine eigne Angelegenheit, es identifiziert sich damit, es legt seinen Affekt und seine Leidenschaft hinein, es wird damit zu selbstloser Arbeit, ja zu großen Opfern fähig und bereit, es wird mit Einem Worte, indem es seinen Vorteil sucht, von der Idee überwältigt und weit über alle Interessen, ja über sein ganzes Ich hinausgehoben. Nirgends mehr als hier trifft zu was Hegel von der List der Idee sagt, die den Menschen für ihre Zwecke benutzt, während er für sich selbst zu arbeiten meint Ja die Sache ist noch verwickelter als sie sich bei Hegel ausnimmt. Denn zuerst glaubt der Mensch in ehrlicher Meinung der Sache zu dienen, wo ihn in Wahrheit noch seine eignen Interessen beherrschen; dann aber führt ihn der Komplex von Kräften und Gedanken, von dem sie Befriedigung hofften, durch eine innere Unterwerfung über den ganzen Standort der Interessen hinaus und läßt ihn sein Ich willig unterordnen. Damit verschwindet freilich nicht alles Unlautere, Trübe, Selbstische, wir bleiben in einem Mittelgebiete, wo die Vermengung von Niederem und Höherem oft höchst unerquickliche Gebilde erzeugt; aber daß in dem ganzen

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Getriebe Kraft für geistige Aufgaben gewonnen und das Individuum aus der stumpfen Gleichgültigkeit herausgerissen wird, das behält seine Wahrheit. So sehen wir überall das Leben durch seine eigne Bewegung die anfängliche Enge zersprengen, die große Welt mit dem menschlichen Streben verflechten, die bloße Natur durch geistige Leistungen zurückdrängen. Alle Verworrenheit läßt einen aufsteigenden Zug deutlich durchscheinen, eine Selbsterziehung des Lebens, eine innere Selbsterhöhung ist unverkennbar. Die andere Bahn des Fortschrittes ist die, daß Leistungen, die zunächst nur in begrenzten Gebieten, auf besonderen Höhepunkten, unter glücklichen Bedingungen und Einflüssen gelingen, von solcher Schranke befreit und ins Ganze ausgedehnt werden. Es handelt sich hier um den Gewinn von Annäherungen, von Berührungspunkten zwischen Geist und Natur, die dem Aufstreben des Geistes die leichtesten Bahnen bereiten. Jene Erweiterung kann aber nicht durch eine bloß mechanische Ausbreitung erfolgen, denn wie wäre dabei die anfängliche Bindung und der bloße Naturcharakter zu überwinden? Auch kann die Bewegung nicht vom Einzelnen auf das Ganze übergehen ohne eine innere Umwandlung zu erfahren. Zu beidem ist notwendig, daß die Anregung von innerer Kraft aufgenommen und verarbeitet wird, daß ein Grundzug geistigen Vermögens jene Gelegenheiten benutzt und in freie Tat verwandelt. Aber dabei behält der besondere Anstoß seinen Wert als das, was die Sache in Fluß bringt. Jene Wendung zum Ganzen erscheint in einfachster Form als eine Ausdehnung vom begrenzten Gebiet auf den gesamten Umfang, vom Teil auf das Ganze. Was sich an Interessen und Gefühlen unter der Gunst besonderer Lagen und in einzelnen Richtungen bildet, das entwindet sich der anfänglichen Einschränkung' und erstreckt seine Wirkung auf das Ganze; die Geistigkeit, die zunächst an der Hand einer geneigten Natur in Bewegung kam, vermag nach genügender Kräftigung den Führer zu entbehren und selbständig ihren Weg zu verfolgen. So treibt den Menschen über die natürliche Selbstsucht zuerst der enge Kreis des Familienlebens hinaus, der natürliche Instinkt kommt hier entgegen, die Notwendigkeit des Lebens ergibt eine Interessengemeinschaft und zwingt zu Arbeit, Sorge und Opfer; so findet hier das Durchbrechen einer selbstlosen Gesinnung am wenigsten Widerstand, und 11*

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diese wird von hier zu einer Macht auch für die Breite des Lebens. Denn schon der flüchtigste Blick auf die Entwicklung von Humanität und Religion zeigt den mächtigen Einfluß der in jenem Kreise natürlicher Zusammengehörigkeit erwachsenen Gefühle: die Ideen der Brüderlichkeit der Menschen, der Kindschaft gegen Gott, sie bekunden, wie die Grundverhältnisse jenes kleinsten Kreises für alle Verhältnisse zwischen Vernunftwesen typisch geworden sind, und wie sie alle zu schlichter Einfalt und Wahrhaftigkeit zurückrufen; die Kräfte, die dort erwachsen und erstarkt sind, geben dem ganzen Leben Wärme und Innigkeit. Freilich nicht in unmittelbarer Übertragung auf die anderen Gebiete, sondern nur unter innerer Läuterung des eignen Befundes und unter Abstreifung des Zufälligen, Äußerlichen, bloß Naturhaften durch ein Aufdecken reinmenschlicher Kräfte, die in jenem besonderen Kreise wohl zuerst erscheinen, nicht aber letzthin entstehen. Aber mögen wir von jenem Kreise zur Tiefe unseres Wesens erst vordringen müssen: daß von dort ein Weg gebahnt ist, bleibt etwas großes und unersetzliches. Aber nicht nur besondere Kreise, auch besondere Lagen erweisen sich der Pflege und Heranbildung von Gefühlen günstig, die schließlich alles Leben durchdringen. Unvergleichlich viel leichter wird dem Menschen die Teilnahme an dem Leide als an der Freude des anderen; diese hat den ganzen Widerstand der Selbstsucht und des Neides zu überwinden, der Mitempfindung des Leides hingegen fehlt nicht nur solcher Widerstand, sondern ihr kommt die Natur sogar entgegen, indem die Vergegenwärtigung des fremden Schmerzes unmittelbar eignes Unbehagen erweckt. Ein so eng bloßen Naturtrieben verwachsenes, mehr passives, von zufälligen Eindrücken abhängiges Mitleid vermag freilich für sich allein nicht viel, aber es beginnt damit doch ein Schmelzen der anfänglichen Starrheit, ein Weich- und Weitwerden der Empfindung, und es kann das bei einem Entgegenstreben des Kernes unseres Wesens sich in sich selbst vertiefen, selbständig vordringen und alle Verhältnisse ergreifen; Liebe, Teilnahme, Aufopferung können daran in die Höhe ranken. So viel anderes zu solchen Wendungen gehört, für die menschliche Lage bleibt es wichtig, den Anknüpfungspunkt in der Natur festzuhalten; eine ethische Betätigung, in die nicht der Ton einfachen Mitleides hineinklingt, wird leicht seelenlos, und selbst die Liebe droht flach und matt zu werden, wenn sie nicht die aufrüttelnde Kraft des Mitleids einschließt.

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Von hier aus ergeben sich eigentümliche Überzeugungen und Winke für den Aufbau des Kulturlebens, es erhellt die Bedeutung der Bildung geschlossener Kreise, in denen sich das geistige Leben zu befestigen, Gestalt zu gewinnen und kräftig auszuprägen vermag, um sich dann erst in die unermeßliche Weite zu ergießen. Nur ein starker Optimismus kann solche Konzentrationen, wie sie z. B. in den Nationen, den Ständen, in festen Bildungstraditionen u. s. w. vorliegen, für überflüssig erklären und sofort gleichmäßig zur ganzen Breite wirken wollen. Der Zug zur abstrakten Gleichmacherei kann leicht im Bestehen auf dem Unmöglichen das Mögliche verscherzen. Aber freilich fordern neben dieser Seite der Sache auch andere Erwägungen ihr Recht, und es werden jene Konzentrationen nur dann zum Segen wirken, wenn sie sich in den Dienst des Ganzen stellen und die errungene Kraft über den engen Kreis hinausführen, nicht in hochmütiger Abschließung sie daran binden. In verwandter Art wirkt die Festhaltung großer Momente und die Verwandlung ihrer Leistungen in einen dauernden Besitz. Daß in gewissen Augenblicken durch schwere Aufgaben und dringende Gefahren, durch ein Zusammentreffen günstiger Umstände, durch den Zwang, die äußersten Kräfte aufzubieten, der Mensch zu einer den Durchschnitt weit überragenden Höhe der Leistung und Größe der Gesinnung gehoben werden kann, das erleben die Individuen wie die Völker wie die Menschheit als Ganzes. Solchen wunderbaren Augenblicken wird notwendig mit dem Nachlassen der Spannung ein Sinken folgen. Aber was einmal unser war, kann sich uns nie wieder völlig entfremden, es bleibt als ein Stück unserer Erfahrung, ja unseres Seins gegenwärtig, es enthält ein Maß, an dem sich alles Spätere prüfen muß, es zieht auch positiv in die Höhe und vermag in trüben Tagen Mut und Kraft zu spenden. So der Segen einer großen Vergangenheit, mit ihren klassischen Höhepunkten ist sie ein Kapital, auf das sich immer wieder zurückgreifen läßt; so gewiß dieses Kapital nur bei Umsetzung in eigne Arbeit wahren Nutzen stiften kann, die Arbeit selbst ist erleichtert, nachdem einmal die Bahn gebrochen und das Vertrauen auf das eigne Vermögen durch die Tat begründet ist. Ein wegung zunächst an uns

anderer Weg der Erziehung der Menschheit ist die Bevon außen nach innen, die innere Aneignung dessen, was die Gewalt äußerer Umstände, ja ein drückender Zwang gebracht hat. Hieher gehört die Macht aller äußeren

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Disziplin, der Sitte und Gewöhnung, hieher gehört auch die rückwirkende Kraft des Tuns, die Bildung der Gesinnung durch die Tat, des Wesens durch das Werk. Überall findet sich hier die Erfahrung, daß, was zunächst uns von draußen auferlegt ist und uns innerlich kaum zu berühren scheint, bei fortgesetztem Tun allmählich in uns Wurzel schlägt, eine Macht unserer Wahl wird und schließlich als eignes Ziel mit freiem Willen verfolgt wird. Das bedeutet nicht bloß eine leise Verschiebung, sondern eine völlige Umkehrung; der Schwerpunkt des Geschehens wird hier verlegt, seine Aufgabe und sein Sinn verwandelt. Solche Wirkungen sind nicht durch einen mechanischen Niederschlag des Äußeren oder durch bloße Dressur erreichbar, wiederum ist ein Erwachen einer inneren Natur unentbehrlich, das Äußere kann n u r die Anregung, nicht die letzte Begründung geben; jede Überspannung des Äußeren, jede Abschwächung der Selbständigkeit des Inneren rächt sich durch ein Verfallen in Werkgerechtigkeit, durch eine Mechanisierung des Lebens, von der selbst ein Aristoteles nicht ganz frei war und die im mittelalterlichen Kirchensystem einen bedenklichen Umfang angenommen hat. Aber bei aller Möglichkeit von Irrungen, bei aller Gefahr, in dem stecken zu bleiben, was nur als Vermittlung tieferer Erlebnisse Wert hat, bleibt jenes Beginnen vom Äußeren und Fortschreiten zum Inneren ein unumgänglicher W e g zur Erziehung des Individuums wie der Menschheit, ein großes Faktum der weltgeschichtlichen Bewegung. In den besonderen Verhältnissen erfährt diese Einwärtswendung weitere Verzweigungen. So erwächst z. B. zwischen den Individuen aus dem äußeren Zusammentreffen am Werk nach und nach eine innere Gemeinschaft; an wem wir zunächst bloß die Leistung des Mitarbeiters schätzen, der kann allmählich unter Vertiefung des Verhältnisses zum Freunde werden. Überall ist es das Äußere, was zunächst die Kraft belebt und Verbindungen herstellt, aber die Kräfte und Verbindungen selbst drängen über den Anfangsstand hinaus und erhöhen sich mit der W e n d u n g nach innen. In naher Verwandtschaft mit dieser Bewegung steht der Zug, die geistige Betätigung aus einem anfänglichen Mittel f ü r fremde Zwecke in einen Selbstzweck zu verwandeln, die Umkehrung von Mittel und Zweck. Der erste Drang geht auf die natürliche Selbsterhaltung, aber bei der wachsenden Verwicklung der menschlichen Lage ist diese nicht einfach, sie ist nicht erreichbar ohne ein

Die B e w e g u n g des D a s e i n s zum Geist

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Aufgebot mannigfacher geistiger Kraft, die einstweilen nur f ü r die Zwecke der Natur wirken mag. So finden wir das geistige Leben zuerst im Dienst der natürlichen Selbsterhaltung; f ü r ihr erstes Aufkommen sind Wissenschaft und Kunst, Staat und Recht keiner Macht zu größerem Dank verpflichtet als der Not. Aber was die Not ins Dasein hob, das hat sich allmählich von ihr abgelöst, das Schöne hat eine eigne Anziehungskraft erwiesen, sich über das bloß Nützliche hinausgehoben und es sich unterzuordnen verstanden. Aber ohne den Kampf ums Dasein wäre es schwerlich eine Macht f ü r den Menschen geworden. Diese Umkehrung von Mittel und Zweck, dies Aufsteigen zum Schönen durch das Nützliche erscheint besonders deutlich im Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft. Er handelt zunächst, um im gesellschaftlichen Dasein etwas zu erreichen, um bei den anderen Beifall und Gunst zu finden, um anderen voranzukommen. So wird der Ehrgeiz der mächtigste Hebel des Handelns, im kleinen wie im großen Kreise, ihn kann die soziale O r d n u n g nicht wohl entbehren; aller Inhalt dagegen erscheint zu Beginn als ein an sich gleichgültiges Mittel. Aber mehr und mehr zieht er selbst die Kraft und das Interesse an sich; nachdem die Sache einmal in Fluß geraten, wächst die Bewegung über die anfänglichen Motive weit hinaus, der Ehrgeiz verblaßt gegenüber der Freude an dem Guten und Schönen, dem menschlichen Getriebe entwinden sich Güter, welche die Schätzung umkehren und alles gesellschaftliche Leben als bloßes Mittel behandeln. Aber ehe sich das Feuer zu reiner Flamme klären konnte, mußte es entzündet sein, und hierfür war jenes Mittel nicht zu entbehren. Mit dem allen gewinnt das Dasein einen wesentlich anderen Anblick als in der ersten Betrachtung. Neben den roheren Zügen, die zunächst die Aufmerksamkeit beherrschten, erscheinen feinere von anderer und höherer Art; in tausendfachen Fäden sehen wir eine Bewegung am Werk, die anfängliche Starrheit aufzulösen und die Kräfte aufwärts zu führen. Das aber unabhängig von der Reflexion und der bewußten Wahl der Individuen, das nicht hie u n d da, sondern durch den ganzen Umfang des Daseins bis in die elementaren G r u n d f o r m e n hinein. So bleibt die Kluft zwischen der Selbsttätigkeit und dem Dasein nicht ohne Vermittlung, und die Arbeit des Menschen braucht nicht zu verzweifeln.

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Der Kampf um den Charakter des G e i s t e s l e b e n s c. Die Versöhnung von Idealismus und Realismus.

Die zweite Frage war, ob das Geistesleben des Menschen eine volle Positivität erlangen und das Schwanken zwischen versteckter Sinnlichkeit und abstrakter Leere überwinden kann. Die erste Erfahrung schien dagegen zu sprechen, aber es fragt sich, ob diese Erfahrung die höchste Instanz bildet In der Tat kann sich bei uns keine Oeistigkeit entfalten, ohne daß auch ein Sinnliches mitbewegt wird; wir können solche Bindung nicht mit einem kühnen Ruck abstreifen und uns ganz in ein reines Geistesreich versetzen. Aber deshalb brauchen noch nicht Geistiges und Sinnliches völlig in Eins zusammenzurinnen und die Formen des Sinnlichen sich allem geistigen Streben als Maße und Schranken aufzulegen; warum könnte nicht in allem Zwange des Zusammenseins das Geistige eine Selbständigkeit behaupten und eine Überlegenheit erweisen? So aber steht es in der Tat, und zwar reicht jene Selbständigkeit soweit als die Selbsttätigkeit. Durch die Tätigkeit und innerhalb der Tätigkeit erfolgt eine Scheidung zwischen Sinnlichem und Unsinnlichem; hier vermag das Unsinnliche sich rein zu entfalten und auch zu einem Ganzen zusammenzuschließen, die Tätigkeit kann sich des Eindringens fremder Elemente erwehren, das Sinnliche aus dem Kern in die Außenseite drängen und es zu einer nebensächlichen Begleiterscheinung herabsetzen. Erst bei Erschlaffung und Erstarrung des Tuns verfällt das Geistige unrettbar der Vermengung mit dem Sinnlichen. Es kann seine Unabhängigkeit nicht wahren ohne einen Heroismns im Aufsteigen und Aufrechterhalten, aber ein solcher Heroismus gehört wesentlich zu seiner Natur. Diese Überlegenheit der geistigen Arbeit erscheint besonders deutlich in der souveränen Behandlung der sinnlichen Elemente seitens des Denkens. So wenig unser Denken die Begleitung sinnlicher Vorstellungen ablehnen kann, wir vermögen zwischen dem. was dem Begriff, und dem, was der bloßen Vorstellung angehört, scharf zu scheiden, zugleich aber dieser allen Einfluß auf die Gestaltung des Begriffs zu versagen; wir bedürfen zur Veranschaulichung der Bilder, aber wir erkennen das Bild als ein bloßes Bild, wir können mit den Bildern frei schalten und walten, sie bald näher bald ferner rücken, sie nach unserem Ermessen wechseln, überhaupt den Standort der Betrachtung über ihnen, nicht in ihnen nehmen. So ist das Denken auch der Sprache nicht wie einem übermächtigen

Die Versöhnung von Idealismus und Realismus

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Schicksal blind unterworfen, bei aller Bindung an sie übt es auch eine Gegenwirkung, ja es führt gegen sie, wenn auch meist versteckt, einen unablässigen Kampf. Solche Differenz, die sich im Alltagsleben verbirgt, kommt zu kräftiger Empfindung, sobald geistige Umwälzungen erfolgen und neue Qedankenmassen hervortreiben. Dann hemmt die Sprache mehr als sie fördert, eine Auseinandersetzung mit ihr ist nicht zu vermeiden. So erfuhr es das Christentum gegenüber der hellenistischen, die aufstrebende Neuzeit gegenüber der scholastischen Sprache, so ist auch heute die überkommene Sprache ein wenig genügendes Gefäß für die wahren Probleme der Zeit. Das Problem des Denkens ist aber nur ein Ausschnitt aus dem Problem des Lebens, überall kann die höhere Stufe eine Selbständigkeit wahren. So brauchen die kleinen Motive der Individuen nicht mit den Triebkräften des geistigen Schaffens zusammenzurinnen und damit jenes Schaffen zu verzerren. Gewiß behaupten Sinnlichkeit und Selbstsucht bei uns einen Platz und lassen sich nicht leicht daran verhindern, bei aller Bewegung des Lebens mitzuschwingen. Aber daß sie zu Komponenten des geistigen Bestandes werden, das läßt sich allerdings verhindern, alles Anhaften jener niederen Interessen braucht die Substanz des Geisteslebens nicht zu schädigen. Deshalb also, weil es ziemlich überall gelingt, jenes Kleine aufzuweisen, in kleinkluger Weise davon alles Große und Edle abzuleiten und dies zugleich in einen bloßen Schein aufzulösen, ist sachlich falsch und erklärt nicht einmal den Schein; es ist das die Gesinnung eines Bedienten, der an dem Großen nur das Kleine gewahrt und dem es eine Herzensfreude ist, bei diesem zu verweilen. So wenig sich daher sagen läßt, daß reines Denken und reines Wollen als fertige Größen vorhanden sind, sie sind Tatsachen, Wirklichkeiten im Reich der Tätigkeit, sie sind Triebkräfte geistigen Schaffens. Solche Selbständigkeit des Geistigen anerkennen, das heißt ihm auch eine positive Art zuerkennen. Nur eine Betrachtung von draußen her und eine Messung nach einem fremden Maßstabe kann ihm diese versagen. Denn warum anders wird es bloß negativ gescholten, als weil ihm die Möglichkeit einer sinnlichen Ausführung oder Darstellung fehlt? Aber muß es darum in sich selbst negativ sein, kann es nicht in seiner eignen Arbeit eine Positivität besitzen und entwickeln? Von der Tatsächlichkeit einer solchen Umkehrung überzeugten wir uns schon oben. Begriffe wie die des Unendlichen,

170

Der Kampf um den C h a r a k t e r des G e i s t e s l e b e n s

Unbedingten u. s. w. werden in der geistigen Arbeit positive Größen; auch hat alle jene Bildlichkeit oder Negativität des Gottesbegriffes den Aufbau eines Reiches der Religion nicht gehindert; wie hätte sie von den großen Ordnungen des Menschheitslebens bis ins innerste Gemüt des Individuums so mächtig wirken können, wenn nicht die Größen innerhalb ihres Gebietes eine positive Bedeutung gewonnen hätten? Verständlich wird allerdings diese geistige Positivität erst vom Selbstleben aus; denn, wie wir sahen, kann erst dadurch, daß ein Selbst in den Betätigungen gegenwärtig bleibt, in ihnen Erfahrungen macht, aus ihnen zur Einheit zurückkehrt, dem Leben ein Inhalt erwachsen. So darf bei deutlicher Abgrenzung der Selbsttätigkeit gegen das Dasein über die Selbständigkeit und die Positivität des Geisteslebens keine Sorge sein. Aber noch mehr, das Sinnliche braucht nicht nur das Geistige nicht zu hemmen, es kann ihm zu seiner Entwicklung nützen und dienen. Solche Förderung wird dadurch zum Bedürfnis, daß, wie wir fanden, die geistige Bewegung in der bloßen Entgegensetzung gegen das Dasein ihre eigne Vollendung nicht erreichen kann; von dem scheinbaren Gegner muß ihr Hilfe kommen, eine Hilfe, die sich freilich nicht passiv aufnehmen läßt, sondern die nur in der Aneignung und Umbildung wertvoll wird. Ein solches Wachstum des Geisteslebens durch das Dasein wird eben durch die Wesensbildung verständlich, indem sie auf beiden Seiten eine Substanz erkennt und in dem Dasein nur eine Lebensform dieser Substanz, nicht ihren Kern erblickt. So kann hier ganz wohl im Zusammenstoß des Daseins mit der Selbsttätigkeit etwas neues entspringen; in dem, was zunächst bloß sinnlich scheint, mag die Berührung mit der Selbsttätigkeit eine geistige Leistung erwecken. Hieher gehört die Wirkung der Phantasie, ohne die es kein Gedeihen nicht nur der Kunst, sondern aller Zweige des Geisteslebens gibt. Sie bewegt sich zunächst im Elemente des Sinnlichen und scheint vornehmlich auf seine Anschaulichkeit angewiesen. Aber jene geistige Leistung wäre unmöglich, wenn nicht in dem Sinnlichen ein Geistiges stäcke, nicht in den Kombinationen der sinnlichen Elemente geistige Synthesen aufstrebten, nicht in dem Bilde ein Gedanke schlummerte, der nur erweckt zu werden braucht. So wird das Sinnliche ein Mittel geistiger Entwicklung, nicht von sich aus, aber durch die befreiende Macht der Selbsttätigkeit. Wie

Die Versöhnung von Idealismus und Realismus

171

viel Förderung in diesem Sinne erhält nicht das Denken durch die der Sprache innewohnende Phantasie? Aber nicht nur eine Bereicherung des Inhalts, auch eine Verstärkung der Kraft läßt sich von diesem Wege erwarten. Das natürliche Ich scheint zunächst ein Feind aller geistigen Bewegung; es würde es letzthin sein, wenn es die tiefste Wurzel des Seins und nicht eine Stufe seiner Entwicklung bedeutete. Seine gewaltige Macht aber verdankt es nicht der bloßen Natur, sondern dem substantiellen Selbst, das es an sich zieht und bei sich festhält; so lange aber die geistige Arbeit dieses nicht ganz ergriffen hat, entbehrt sie selbst der vollen Triebkraft; so wird es zur Aufgabe, das Selbst von jener Festlegung zu befreien und für die Geistigkeit zu gewinnen. Damit erhält das natürliche Ich eine positive Bedeutung, seine Kraft und Frische darf nicht verloren gehen, sie kann die geistige Arbeit beträchtlich steigern, freilich nur unter innerer Wandlung und Läuterung. An allen diesen Punkten erscheint ein freundlicheres Verhältnis des Geistigen und des Sinnlichen, der Selbsttätigkeit und des Daseins, als es die Anfangsbetrachtung fand. Aus solchen Wendungen entspringt die Möglichkeit, den alten Gegensatz des Idealismus und des Realismus zu verstehen und zu versöhnen. Zunächst erhalten die meist so verschwommenen Begriffe nunmehr einen präziseren Sinn. Den Kern und die Wahrheit des Idealismus bildet die Überzeugung, daß in der Geistigkeit eine neue Welt mit neuen Größen und unvergleichlichen Gütern aufsteigt und sich als absoluten Selbstzweck gibt; als nähere Ausführung aber kommt hinzu, daß sich für uns Menschen diese neue Welt nur in Ablösung und Entgegensetzung gegen das Dasein entfalten kann, daß sie sich in unablässigem Kampfe dagegen zu behaupten hat. Diese Überzeugung ergibt sehr eingreifende Konsequenzen. Denn aus ihr folgt unmittelbar, daß die geistige Arbeit sich nun und nimmer in den Dienst des Daseins stellen darf, sondern daß sie ihre Zwecke bei sich selbst, in der Schöpfung einer eignen und neuen Welt zu suchen hat. Hier kann nicht die Ethik ein Mittel für das Wohl der Gesellschaft, nicht die Religion eine Hilfe für das bedrängte Individuum oder die erschütterte Gesellschaft, nicht die Metaphysik die Befriedigung eines subjektiven Bedürfnisses nach Ordnung der Erscheinungen bedeuten. Solche Bindung an das Niedere und solche Beugung unter seine Zwecke erscheint hier als

172

Der Kampf um den Charakter des G e i s t e s l e b e n s

eine innere Zerstörung; entweder eröffnen jene Gebiete alle, jedes in seiner Weise, eine neue Wirklichkeit, oder sie verlieren alle Existenzberechtigung, und es bleibt nur die strengste Einschränkung auf das bloße Dasein mit der Abweisung aller weiteren Bestrebungen. Ethik, Religion und Metaphysik sind entweder Zeugnisse einer neuen Welt oder leere Illusionen. So duldet der Idealismus in jenem Sinne durchaus keine Abschwächung. Aber es erhellte zugleich, daß die Selbsttätigkeit immer zum Dasein zurückkehren muß, um zur vollen Durchbildung zu gelangen; das Dasein kann aber nicht leisten, was es hier leisten soll, wenn es von vornherein unter ein auferlegtes Schema gestellt, wenn es nicht in seinem Befunde vollauf anerkannt und gewürdigt wird, wenn es sich nicht in voller Unabhängigkeit und Unbefangenheit aussprechen kann. Und hier beginnt das Recht des Realismus, er darf, ja er muß Verlangen, daß diese Seite der Wirklichkeit sich mit voller Kraft und Anschaulichkeit darlege. Hier muß alle Bedingtheit unseres Seins und unserer Weltlage zur Geltung kommen: die Abhängigkeit alles geistigen Wirkens, die Macht des Äußeren und Materiellen, die Mühen und Sorgen der Lebenserhaltung, die verschwindende Kleinheit der Anfänge, die Mühseligkeit des Aufsteigens, der Wandel und Wechsel menschlicher Verhältnisse, der brutale Kampf ums Dasein, die Vereinzelung und Zerstreuung der Individuen, diese ganze Kehrseite der Dinge muß und kann hier zu voller Entwicklung und Anerkennung gelangen. Hier hat die Unmittelbarkeit des Eindrucks, der Anschauung, der Empfindung ihr unbestrittenes Recht, die ganze Breite der Erfahrung muß hier durchwandert, ihre ganze Dunkelheit ausgekostet werden. Zum schweren Fehler wird es, davon irgend etwas abzuschwächen oder zu vertuschen, um einer Verwicklung der Probleme zu entgehen. Diese doppelte Betrachtung stellt auch eine doppelte Aufgabe. Überall gilt es nicht nur uns eines Geistesgehaltes zu bemächtigen, sondern ihn auch im Dasein zur Wirkung zu bringen. Ein anderes ist z. B. der Ideengehalt der christlichen Religion, ein anderes seine Ergreifung und Behandlung seitens der Menschen und Zeiten; eine andere Aufgabe ist es, jene Ideen rein herauszuheben, eine andere, die Seele der Individuen dafür zu gewinnen. Bei der zweiten Frage gilt es die Ermittlung von Berührungen zwischen dem Dasein und der Selbsttätigkeit, den Gewinn von Durchbruchspunkten des Geisteslebens wie sie vorher geschildert wurden. Das ist eine Sache für

D i e V e r s ö h n u n g von I d e a l i s m u s und R e a l i s m u s

173

sich, und es kann hier ein an sich tieferes und gehaltvolleres Geistesleben größere Schwierigkeiten zu überwinden haben; das Christentum z. B. mag hier sowohl gegen den Buddhismus als gegen den Mohammedanismus zunächst im Nachteil sein. jene Wirkung im geistigen

unmittelbaren Dasein

Bewegungen

erweisen

Immer aber bleibt

ein wichtiger Punkt,

hier nicht nur eine

Macht

die nach

außen, sondern sie empfangen selbst von daher eine neue Beleuchtung; hier mögen bei ungehemmter Wirkung des Gesamteindruckes neue Probleme auftauchen, Weiterbildungen angeregt werden, selbst Wandlungen des Ganzen in Fluß kommen; zum mindesten verbietet der

Realismus

allen vorzeitigen Abschluß

und

alle

dogmatische

Starrheit. So sind in der Sache der Realismus und der Idealismus nicht sowohl G e g n e r , als Mitarbeiter an einem gemeinsamen Werk, sie müssen

sich,

recht verstanden,

gegenseitig

Handreichung

leisten.

Sie können namentlich in der Bekämpfung eines gemeinsamen G e g ners zusammengehen. Dieser Gegner ist kein anderer als die Durchschnittskultur des Alltages mit ihrem Ineinanderschieben beider Reihen und der Abschwächung ihrer Eigentümlichkeit, mit ihrer Abschleifung und

Herabziehung

der Selbsttätigkeit

einerseits,

und Aufstutzen des Daseins andererseits.

ihrem Ausputzen

So wird jedwedes

kümmert und es erlahmt aller Antrieb zur Bewegung. herrlichung dieses Mischmasches

aber übernimmt

der

ver-

Die Verlandläufige

Idealismus mit seinem Idealisieren des Bestehenden, seinem Anpreisen der besten aller möglichen Welten.

Aus seinem trüben und ver-

fälschten Bilde der Wirklichkeit steigt keine große Aufgabe empor, um den Menschen mit fortzureißen, sondern die Spitzen der Probleme sind von vornherein abgebrochen, der träge Schlaf kann sofort beginnen.

Diese Philosophie der Bequemlichkeit ist so unausrottbar

wie die Bequemlichkeit selbst; um so notwendiger ist das Zusammenhalten der beiden Gedankenreihen zu ihrer Bekämpfung. In dieser Weise "ehrlich zusammenhalten aber können die beiden Seiten nur, wenn

sie zunächst deutlich auseinandertreten und

Recht gegenseitig anerkennen.

Alsdann aber kann

anderen zur direkten Förderung gereichen. Idealismus

wird

eine

Gerade

energische Wirkung auf

das

das eine ein

ihr dem

kräftiger

Dasein

üben

wollen; um so mehr muß er sich mit ihm befassen, es erkennen und bewegen, um so mehr wird er in den Dingen entdecken, ihre Positivität und ihren Widerstand empfinden. So zeigt z. B. die G e -

174

Der Kampf um den C h a r a k t e r des G e i s t e s l e b e n s

schichte der Philosophie, daß die Wendung zum Empirismus und Positivismus namentlich da fruchtbar wurde, wo eine große Bewegung spekulativer Gedankenarbeit voranging und alle Begriffe schärfte. So haben auch die Umwälzungen der Ethik und der Religion neue Seiten der Erfahrung erschlossen, das Dasein reicher und verwickelter gemacht. Andererseits, treibt der Realismus, aus dem Ganzen des Lebens erfaßt, notwendig zum Idealismus, zu einem kräftigen und selbständigen Idealismus. Je mehr das Dunkel, die Verworrenheit, die Unstätigkeit des Daseins zur Empfindung kommt, je schärfer es in seinem tatsächlichen Bestände erfaßt wird, desto mehr muß seine Unfähigkeit erhellen, aus eignem Vermögen die Geisteswelt aufzubauen, desto stärker wird das Bedürfnis nach einem festen Halt in der Selbsttätigkeit werden. Ferner je mehr Arbeit, Mühe und Sorge jenes Dasein kostet, desto unmöglicher wird es, in ihm mit seiner geistigen Leere das ganze Leben des Menschen zu sehen. Wenn aber der Realismus durch seine eigne Entwicklung zu einem Idealismus treibt, so wird es ein kräftiger und substantieller Idealismus sein müssen, bei dem allein er Befriedigung finden kann. So wird der Realismus zum Kritiker des Idealismus in dessen eignem Interesse, er drängt ihn zu seiner eignen Tiefe; die Hemmung, welche die geistige Bewegung durch den Widerstand erfährt, muß schließlich zu ihrer Berichtigung und Stärkung dienen. Aber was in der Sache aufeinander angewiesen ist, das kann in den menschlichen Verhältnissen sich zerwerfen und arg verfeinden, das kann sich gegenseitig alles Recht zum Dasein bestreiten. Das aber zum Schaden nicht nur des Ganzen, sondern auch jeder Seite; ja gemäß der unser Dasein durchdringenden Dialektik wird leicht das Streben in das gerade Gegenteil dessen umschlagen, was es wollte oder doch zu wollen glaubte: der Idealismus wird in einen Pseudorealismus, der Realismus in einen Pseudoidealismus auslaufen. Ein Idealismus, der selbstbewußt nicht über den abgesteckten Kreis hinausblickt und den Werdecharakter unseres Lebens verkennt, gerät in Gefahr, die Widerstände zu unterschätzen, das Aufgebot eigner Kraft herabzumindern und die Kritik gegen sich selbst einzustellen. So ein voreiliger Abschluß, eine Festlegung in einer besonderen historischen Lage, ein Verfallen unter die Formen und Kräfte des Daseins. So entsteht ein dogmatischer, ein offizieller Idealismus mit seiner Unterdrückung der Freiheit und Gefährdung

Die V e r s ö h n u n g von Idealismus und Realismus

175

der Wahrheit, damit aber leicht ein Erlahmen aller kräftigen Impulse, eine bequeme Akkommodation an die gegebenen Verhältnisse, eine Herabsetzung der geistigen Güter zu bloßen Mitteln für die Interessen einzelner Klassen, kurz eine innere Auflösung des Idealismus und ein üppiges Aufwuchern eines Pseudorealismus. Oder sind nicht die Vertreter eines solchen offiziellen Idealismus ihrer subjektiven Gesinnung nach meistens derbe Realisten oder vielmehr Pseudorealisten ? Der Kampf dagegen ist ein gutes Recht und ein wahres Verdienst des Realismus; sein Unrecht aber beginnt, wenn er, der Totengräber eines erstorbenen Idealismus, glaubt, allen und jeden Idealismus zerstören und selbst die ganze Wirklichkeit bilden zu können. Ein solcher Schein ist deshalb möglich, weil die geistige Arbeit ihre Wirkung mit tausend Fäden in das Dasein erstreckt und sich daher hier überall Anknüpfungspunkte finden; die Gegebenheit, bereichert durch den Ertrag jener Arbeit, kann sich völlig emanzipieren und zu einer selbständigen und selbstgenugsamen Welt aufbauschen. Aber aller blendende Schein vermeintlicher Anschaulichkeit darf nicht über die Verkehrtheit des Verfahrens täuschen, das Ursprüngliche vom Abgeleiteten, das Reine aus der Vermengung entstehen zu lassen. Das Geistige ist hier viel zu zerstückelt und zerstreut, viel zu abhängig und schwankend, als daß es sich von hier aus zu einer eignen Natur und neuen Ordnung aufringen könnte; wenn es aussieht, als ob uns langsame Entwicklung und allmähliche Anhäufung zum Ziele führte, so wird im Grunde die andere Welt, die Welt des Idealismus, stillschweigend vorausgesetzt und dahin alle Leistung umgedeutet; wer aus dem Vorstellungsgetriebe eine Wissenschaft herausklaubt, der pflegt ein Reich der Kausalität und der Begriffe jenseits jenes Getriebes anzunehmen und dahin alle einzelnen Leistungen zu versetzen; wer aus dem Nützlichen, etwa dem Nutzen der Gesellschaft, das Gute herausspinnt, der verkennt die völlige Umwälzung, die in jener Wendung liegt; er hält das, was in Wahrheit vorausgesetzt wird, für erklärt, weil er die Voraussetzung stückweise eingeführt hat. Verpönt aber der Realismus alle Richtung auf die Geisteswelt und möchte er sich streng auf das Dasein beschränken, so müßte er sich willenlos von seinen Wellen dahintreiben lassen und nicht nur alle Gegenwirkung, sondern auch allen eignen Zusammenschluß zum Ganzen unterlassen. Er dürfte nicht als Prinzip auftreten

176

Der Kampf um den Charakter des Geisteslebens

und könnte nicht Sache der Überzeugung werden. Denn wie sollte sich in dem regellosen Fluß der Eindrücke der dazu nötige feste Standort und die umfassende Übersicht finden? Aber auch abgesehen von diesem Anstoß ist der Realismus zur Führung der Kulturbewegung offenbar untauglich. Dem Durcheinander, das ihm bei strenger Fassung die Welt werden muß, lassen sich keine klaren Formen und Gesetze abringen, das Sein wird hier vom Werden, der Zweck vom Mittel, das Innere vom Äußeren verschlungen, für die inneren Probleme und Gegensätze des Lebens fehlt alles Verständnis. Diese Richtung ist weit fähiger, einen vorhandenen Lebensstand zu kritisieren als neues zu erzeugen, geneigter, die Probleme aufzudecken als an ihrer Lösung zu arbeiten, geschickter, zu beschreiben und eindringlich vorzuhalten als zu ergründen und energisch umzuwandeln. Sobald sie zu positiver Leistung übergeht, muß sie in Ideen, Überzeugung und Glauben Waffen aus der Rüstkammer des Idealismus borgen. In die Bahnen des Idealismus gerät sie auch insofern, als sie nicht irgendwelche Wertschätzungen und Zielsetzungen vollziehen kann, ohne einzelne Punkte auszuzeichnen, sie über den wirklichen Stand hinauszuheben, in sie etwas Großes und Schönes hineinzusehen, damit aber das Dasein zu idealisieren. Es wird z. B. die von der Kultur unberührte Natur, die Volksmasse oder auch umgekehrt das starke Individuum idealisiert. So schlägt in Wahrheit der Realismus in einen Idealismus um, jedoch in einen Pseudoidealismus; beim vollen Gegenteil sehen wir demnach beide Richtungen in ihrer Isolierung anlangen. So zeigt sich direkt wie indirekt, daß beide nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern daß sie zusammengehören und erst miteinander einen gesunden und kräftigen Lebensprozeß hervorbringen. Es bleibt für uns eine zwiefache Aufgabe: einen Idealgehalt des Lebens zu erringen und das Dasein ganz dafür zu gewinnen; dort das Problem geistigen Schaffens, hier das der Belebung und Heranbildung des menschlichen Kreises; so eine doppelte Reihe von Erfahrungen, ein Arbeiten von entgegengesetzten Polen, ein Hinüber- und Herüberwirken der Kräfte, eine innere Bewegung des gesamten Lebens. Der Hauptertrag dieser Bewegung ist aber, daß was zunächst nur Widerstand scheint, sich in Förderung verwandelt, und daß sich schließlich die positiven Mächte über alle Verwicklung siegreich hinausheben. Daß aber die Wesensbildung die zu solcher Bewegung nötige Weite und Tiefe des Lebensprozesses

Die V e r s ö h n u n g von Idealismus und Realismus

177

gewährt, und daß sich hier die scheinbar entgegengesetzten Interessen des Idealismus und des Realismus versöhnen lassen, das bildet eine wichtige Bestätigung dieser Überzeugung. Aber es sei keinen Augenblick vergessen, daß solche Versöhnung nicht die Anerkennung eines gleichen Wertes, nicht einen charakterlosen Kompromiß bedeutet. Nur Eins kann herrschen und entscheiden; dies aber ist ohne Zweifel die Selbsttätigkeit, hier liegen die letzten Ziele und auch die treibenden Kräfte. Mag jene Tätigkeit noch so sehr des anderen bedürfen, sie bleibt dabei überlegen, sie sucht in dem anderen das Ihrige, sie kehrt aus der scheinbaren Entfremdung stets zu sich selbst zurück. Die Seite der Erfahrung, die im Realismus ihren Ausdruck findet, ist viel zu lange zurückgedrängt, als daß nicht eine zeitweilige Überschätzung vollauf verständlich wäre. Aber verstehen heißt keineswegs billigen. Es ist ein kurzsichtiges Verfahren, den Idealismus überhaupt zu verschmähen, weil die überkommene Art nicht mehr befriedigt, den Grundgedanken und die besondere Ausführung in Eins zusammenzuwerfen. Den Grundgedanken können wir wohl einige Zeit zurückstellen, nicht aber endgültig aufgeben. Was also heute an großen Wogen des ¡Realismus durch die Menschheit geht und die Gemüter so mächtig packt, seinen Wert, ja seine Kraft hat es schließlich nur als Ausdruck innerer Wandlungen, nur als Vorbereitung eines neuen Idealismus.

Hucken, Kampf. II. Aufl.

12

C. D e r Kampf um die W e l t m a c h t d e s G e i s t e s l e b e n s .

1. Das Problem. I m Kampf um ein geistiges Sein war zunächst dem Geistesleben * eine Selbständigkeit zu sichern; es geschah das durch eine Zerlegung des ersten Befundes und einen Zusammenschluß der geistigen Arbeit gegenüber dem unmittelbaren Dasein. Aber aus der Antwort erwuchs sofort eine Frage: wird das Geistesleben in solcher Entgegensetzung nicht einer Leere verfallen, wird es von hier aus zur Ausbildung eines Charakters gelangen? Wie ein solcher in Zurückwendung zum Dasein und in siegreichem Kampf mit den Widerständen zu erringen sei, das bildete den Vorwurf des vorigen Abschnittes. Aber auch hier verwandelt sich die Antwort alsbald in eine Frage. Wohl zerschmolz die Starrheit des Daseins, und es erfolgte eine Zurückdrängung der feindlichen Mächte, das Geistesleben erschien als die überlegene und überwindende Macht, das sich den Durchschnitt der Dinge unterwirft und ihn allmählich zu sich heranbildet. Aber dagegen wieder erhebt sich der Zweifel, ob das alles so glatt und glücklich verläuft, ob die im vorigen Abschnitt aufgewiesenen Hilfen den unermeßlichen Widerständen in Wahrheit gewachsen sind, ob nicht das Niedere, das dienen soll, das Höhere festhält und sich unterwirft Solche Frage zwingt zu einem genaueren Eingehen auf den Befund der Erfahrung; was bis dahin im Hintergrunde blieb und nur gelegentlich beachtet wurde, das muß nun als Ganzes zur Darstellung kommen und sein volles Recht erlangen. Damit wird sich in Richtung und Ton eine Umkehrung gegen die bisherige Behandlung vollziehen. Die bis dahin zurückgehaltene Flut des Dunklen und Feindlichen wird nun um so mächtiger hervorbrechen und uns mit fortzureißen drohen, das sonst Unterdrückte wird sich nun um so deutlicher und kräftiger aussprechen. Das mag eine Erschütterung des Ganzen bewirken; soll

Die Natur

179

nicht aller Gewinn wieder verloren gehen, so werden erhebliche Wendungen und Weiterbildungen unerläßlich. Den Reichtum der Erfahrung können wir nicht würdigen, ohne eine Mannigfaltigkeit von Reihen nacheinander zu durchlaufen, alle Mannigfaltigkeit aber wird sich leicht zu einem Oesamtbilde verbinden, und dies wird uns von neuem vor eine prinzipielle Entscheidung stellen.

a. Die Natur.

Dem System der Wesensbildung bedeutet die Natur eine Vorstufe des Geistes. Als solche muß sie eine gewisse Vernunft enthalten und eine höhere vorbereiten. Wie sich die Natur mit ihren Gesetzen, Formen und Zusammenhängen, ihrem Aufsteigen zu immer reicheren Gestaltungen und ihrem Hervorbringen des Seelenlebens als ein Reich der Vernunft darstellt, davon haben wir uns überzeugt; gerade die neuere Forschung hat zu völliger Klarheit erhoben, daß jene nicht ein wirres Knäuel durcheinanderlaufender Vorgänge, sondern ein Ganzes fester Ordnungen bildet. Aber je mehr Ordnung und Gesetzlichkeit die Natur bei sich selbst entwickelt, desto ferner scheint sie dem Geiste zu rücken; je mehr Vernunft sie an sich zieht, desto undurchsichtiger wird sie dem Menschen. Wir konnten der Natur uns nahe fühlen, so lange sie als das Werk eines überlegenen Geistes galt, so lange Zwecke sie durchwalteten und ihre Kräfte seelischen Vorgängen glichen; mit Erlangung voller Selbständigkeit weicht sie nicht nur für unsere Begriffe in ein undurchdringliches Dunkel zurück, sondern stellt sie sich auch fremd und kalt gegen unser, gegen alles geistige Streben. Die Naturkräfte wirken und schaffen in bloßer und blinder Tatsächlichkeit, völlig unbesorgt darum, was an Geistigem dadurch gehemmt und zerstört wird; unterschiedslos verheeren und vernichten in gewaltigen Katastrophen Feuer und Wasser, Stürme und Erdbeben, unterschiedslos auch wirken mit unheimlichem Eifer die Kleinkräfte der Zerstörung, unterschiedslos trifft Gunst oder Ungunst der Naturbedingungen Gute und Böse, Starke und Schwache. Denn unfühlend ist die Natur, sie behandelt das Individuum, diesen Hauptwert des Geisteslebens, dieses »Samenkorn der Ewigkeit", mit völliger Gleichgültigkeit, sie erzeugt es und vernichtet es wie in spielender Laune, sie verfolgt ihren Weg, indem sie die Individuen maßlos vergeudet, ja zur gegenseitigen Zerstörung wider einander treibt. 12*

180

Der Kampf um die Weltmacht des Geisteslebens

Dabei wird die Abhängigkeit des Menschen von der Natur immer einleuchtender und immer drückender. Stand früher die Bedingtheit alles Seelenlebens durch den Körper nur im Umriß vor Augen, so wird sie sehr viel anschaulicher und eindringlicher durch den Nachweis, wie durchgängig besondere seelische Leistungen an besonderen körperlichen Vorgängen hängen; ähnlich wird auch die alte Tatsache der Vererbung wie ein neuer Druck empfunden, je mehr ihre Ausbreitung über das Einzelne erkannt wird; immer mehr erscheinen wir mit unserem ganzen Leben und Sein als ein streng gebundenes Glied der unendlichen Verkettung der Natur. In dieser Verkettung ist nicht nur das Dasein des Einzelnen knapp bemessen, auch die Menschheit als Ganzes bildet eine bloße Episode des Weltprozesses; entstanden auf dem Boden der Natur, und zwar als ein spätes Ergebnis, wird sie auf ihm auch mit dem Sinken der Lebensbedingungen vergehen. Nirgends ordnet sich hier dies Niedere dem Höheren unter, sondern dieses weicht und verschwindet, sobald es mit jenem zusammenstößt So erscheint unsere ganze Existenz als ein bloßer Anhang der Natur. Aber auch das eigne Innere des Geisteslebens umklammert die Natur mit überlegener Gewalt. Elementare Naturtriebe sind die stärksten Gewalten auch im menschlichen Dasein. Da es die individuelle Existenz immer von neuem der Natur abzuringen gilt, so hält uns der Kampf um sie unablässig in Atem; zu ihm gesellt sich »der Trieb der Fortpflanzung, und es werden Hunger und Liebe — Liebe in diesem gemeinen Sinn — die Herrscher der Welt. Der Zusammenstoß der Individuen entzündet einen harten Kampf ums Dasein, auch hier steigert der Mensch nur, was die Natur ihm zuführt. Dabei mag überall das Wachstum der Kultur die bloße Naturform verstecken oder auch verfeinern, den Kern der Sache läßt es unverändert; ja in dem größeren Raffinement des Lebens und bei dem immer engeren Zusammendrängen der Menschheit entwickelt sich unvergleichlich mehr List, mehr Leidenschaft, mehr Selbstsucht als in der untergeistigen Natur. Was hier schlichte Tatsache war, das wird zur Roheit, zur Brutalität als Erlebnis denkender Wesen. Die nähere Gestalt aber, die jene Selbstbehauptung in den wechselnden Lagen annimmt, bestimmt den jeweiligen Charakter des Lebens, die Art der Arbeit um die Mittel des Lebens gestaltet die Interessen und beherrscht das Denken und Sinnen des Menschen, die Ideale mit ihrer Mannigfaltigkeit scheinen lediglich die wechseln-

Die Natur

181

den Phasen des Kampfes ums Dasein zum Ausdruck zu bringen. So ein starker Realismus, den die soziale Bewegung der Gegenwart uns mit zwingender Anschaulichkeit vor Augen hält. In dem allen erscheint das menschliche und geistige Leben mehr als eine höhere Stufe innerhalb der Natur denn als ein neues Reich ihr gegenüber; die Mittel und Wege der natürlichen Selbsterhaltung sind verändert, aber ein neues Leben, ein Inhalt des Daseins, eine selbständige Innerlichkeit ist nicht erreicht Die Zerstörung der Naivetät ist keineswegs schon der Gewinn einer geistigen Substanz. Diese innere Leere und Sinnlosigkeit des Daseins, dessen Erhaltung so unsägliche Mühe bereitet, muß aber der Mensch als einen schweren, ja unerträglichen Mißstand empfinden; so endet das Ganze mit einem ebenso unabweisbaren als unauflösbaren Zweifel. Über solcher Bindung des Menschen an die Natur sei nicht sein Emporklimmen über die Natur vergessen. Erkennen und Technik dringen unablässig vor, die Übel werden angegriffen und zurückgewiesen, das Leben gewinnt einen größeren Reichtum, die Natur wird mehr zum Besitz des Menschen. Weithin scheint er über sie wie ein freier Herr zu schalten, und aus dem stolzen Bewußtsein solches Vermögens schöpft er Mut und Glück. Aber nur zu bald werden auch hier enge Schranken bemerklich. Alle Leistung liegt innerhalb der Bedingungen des Naturlebens; Krankheit und Tod, Elend und Not können wir zurückdrängen, nicht aber aufheben; auch wo wir sie überwunden glaubten, kehren sie in neuen Formen zurück, immer von neuem gilt es einen Kampf. Die Zweischneidigkeit aber des Sieges selbst, die Gefahr eines inneren Unterliegens durch das Eindringen des Mechanismus in unsere Arbeit und unsere Gesinnung erkannten wir schon zu Anfang. Endlich füllt aller Sieg und alle Macht über die Natur, alle Entwicklung einer technischen Kultur, unser Leben nicht aus; immer geht dabei die Bewegung nach außen, immer von neuem erhebt sich die Frage, was denn das handelnde Subjekt für sich selbst aus allen Erfolgen gewinne, immer wieder stellt sich als Ergebnis heraus, daß wir nicht zu einem selbständigen Leben der Natur gegenüber gelangen. So hält die Natur das Geistesleben fest, ohne daß die formale Vernunft, die in ihr wirkt, sich zu einer realen steigert.

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D e r Kampf u m d i e W e l t m a c h t d e s G e i s t e s l e b e n s

b. Das geistige Vermögen. Aber aller Widerstand feindlicher Mächte und alle Schwäche des Menschen erschüttert nicht die Grundtatsache der Wendung zu einer geistigen Welt. Das Zusiehselbstkommen der Wirklichkeit, das Erwachen eines Selbstlebens von draußen her abzuleiten, ist durchaus unmöglich. Es bleibt dabei, daß eine neue Welt aufzuleuchten beginnt, daß neue Ordnungen uns umfangen, neue Aufgaben uns zugehen. Eine Welt ewiger Wahrheiten und an sich gültiger Werte wölbt sich in sicherer Hoheit über dem Tun und Treiben, dem Suchen und Irren des Menschen. Wäre nur das Licht der neuen Welt für uns nicht durch so viel Nebel getrübt und verfinstert! So aber trägt all unser Tun eine peinliche Ungewißheit in sich. Wir stehen nicht in der Wahrheit, sondern müssen den Weg zu ihr uns erst bahnen, wir suchen dafür nach untrüglichen Kennzeichen und können sie nur demselben Stande entnehmen, über den wir hinauswollen. Allerdings entwindet der Fortgang der Kulturarbeit weite Gebiete des Denkens und Handelns dem Zweifel: aus einem Tummelplatz wechselnder Meinungen werden Natur und Geschichte ein Reich exakter Einsicht und männlicher Betätigung, und im menschlichen Zusammensein, das zunächst der Willkür und Laune von Individuen oder Massen preisgegeben war, befestigen sich immer mehr vernünftige Ziele und durchgehende Ordnungen. So scheint das Leben der Menschheit aus anfänglichem Schwanken immer mehr in sichere Bahnen zu kommen. Aber prüfen wir genauer, so reicht die Sicherheit nicht weiter als unsere Beziehung zur sinnlichen Welt; bei dem Innern, rein Geistigen wächst die Ungewißheit mehr als sie abnimmt. Nur deshalb ist die exakte Wissenschaft so unangreifbar, weil sie die Frage nach dem Wesen völlig zurückschiebt, d. h. weil sie auf Erkenntnis in tieferem Sinne verzichtet; nur deshalb rühmen wir uns sicherer Erfolge der praktischen Arbeit, weil wir ein weites Gebiet der Leistungen von den Prinzipienfragen abzusondern gelernt haben, d. h. weil wir in der Durchschnittskultur die letzten Zwecke unseres Daseins, weil wir die geistige Erhöhung unseres Lebens ganz aus dem Spiel lassen. Sobald aber die unterdrückten Fragen wieder auftauchen, — und sie müssen und werden es, soll nicht das Leben veröden —, so übermannt uns sofort die Unsicherheit, dem Einfluß der Subjektivität scheint das Geistige sich nicht entziehen zu können. Die Haupt-

Das g e i s t i g e V e r m ö g e n

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richtung der inneren Arbeit wird uns weder von Haus aus gewiesen noch leicht durch geschichtliche Arbeit gefunden, sie unterliegt den stärksten Schwankungen und scheint oft vom Zufall so oder anders bestimmt Nichts bestimmt den eigentümlichen Charakter philosophischer Systeme mehr als das Ergreifen, Betonen und Durchsetzen einzelner Tatsachen oder Tatsachengruppen aus Natur oder Geistesleben, Geschichte oder Gesellschaft; indem sie über die Alltagsfassung zu voller Reinheit und absoluter Gültigkeit gesteigert werden und mit gestaltender Kraft überallhin wirken, empfängt die ganze Welt eine neue Beleuchtung. Wer aber entscheidet über solchen Anspruch der Grundtatsachen? Steht hier nicht Behauptung gegen Behauptung, ohne daß eine zwingende Notwendigkeit siegreich hervorträte? — Was aber von der Philosophie, das gilt von aller geistigen Arbeit und vom Ganzen der Kultur: von einer scheinbar unbegrenzten Fülle von Möglichkeiten werden einzelne kühn und keck ergriffen, energisch verfolgt und zu Ende geführt, von dem weiten Reiche der Möglichkeiten bildet die Wirklichkeit nur einen kleinen Ausschnitt Worin aber liegt die Gewähr, daß gerade die erwählten Möglichkeiten die vernünftigen, die letzthin gültigen sind? Mögen die bevorzugten Lebenskreise so lange als abschließend und unangreifbar erscheinen, so lange wir innerhalb ihrer stehen, der problematische Charakter, die Abhängigkeit von geschichtlichen Lagen und Stimmungen, erhellt sofort, wie wir aus ihnen heraustreten und sie einer Prüfung unterziehen. Einen unbeirrten Glauben scheint in menschlichen Verhältnissen nur die Enge zu haben. Auch scheint solche Unsicherheit mit der Ausdehnung der geschichtlichen Erfahrung unablässig zu wachsen. Zu Anfang mag das eigne Werk als das einzig mögliche und selbstverständliche gelten; die schmerzliche Erfahrung hingegen, daß alle Kraft und Wärme subjektiver Gesinnung nicht vor schwerer Irrung bewahrte, daß wir zurücknehmen mußten, was wir freudig bejaht hatten, vernichtet alle Unbefangenheit und breitet den Zweifel wie einen Mehltau über alles Schaffen; mehr und mehr erhebt sich als Schatten der geistigen Arbeit die Reflexion, wächst ihr über den Kopf und zerstört, selbst völlig unfruchtbar, mit mephistophelischer Schärfe alle naive Hingebung, alle reine Freude am Schaffen. So scheint die Wahrheit uns immer ferner zu rücken, und die Kultur zeigt immer schwerere Verwicklungen. Diese Unsicherheit wird dadurch besonders peinlich, daß große

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Der Kampf um die Weltmacht des Geisteslebens

Gegensätze unsere Welt durchdringen und unsere Entscheidung verlangen. Wir erkannten den dialektischen Charakter aller geistigen Arbeit, den unablässigen Zusammenstoß von Gegensätzen. Daß diese umspannt und überwunden würden, darauf beruhte alles Gelingen der Arbeit. Aber der Durchschnitt der menschlichen Lage erreicht solche Überwindung nicht, der Mensch steht nicht über, sondern unter und zwischen den Gegensätzen, sie werden damit für ihn zu schroffen Widersprüchen, die ihn hinundherwerfen und mit innerer Zerstörung bedrohen. So kämpfen z. B. um den Menschen, unter heftigen Erschütterungen der Gesamtlage, die Richtung zum Individuum und die zum Ganzen, die Idee der Freiheit und die der Ordnung; es kämpfen eine kosmische Lebensführung, die das Grundverhältnis des Menschen in seine Beziehung zum All setzt, und eine soziale, die es in der zur Gesellschaft sucht; zur Führung erbieten sich hier die praktische, dort die theoretische Vernunft; es läßt einmal das Vollgefühl der Kraft und das Erkennen fruchtbarer Aufgaben den Menschen sich dieser nächsten Welt eng verbinden, es treibt dann wieder das Verlangen nach reineren Idealen und ursprünglicheren Kräften zum Suchen einer neuen Welt Ähnlich ergreift die Entzweiung auch die einzelnen Gebiete und treibt sie feindlich gegeneinander. Indem dabei jedes Besondere in seiner Besonderheit zugleich das Ganze sein will, wird das Wahre mit Falschem untrennbar verquickt, und der Mensch bald hierher bald dorthin gezogen. Eine Versöhnung der Gegensätze scheint leicht, solange wir sie aus der Ferne betrachten und wie etwas fremdes behandeln; sobald wir aber selbst in die Arbeit eintreten, versagt jene matte Gerechtigkeit, der Wirbel der Parteiung erfaßt auch uns, und das bequeme Sowohl — Als auch muß dem unerbittlichen Entweder — Oder weichen. Allerdings wird in diesen Bewegungen bei aller Unfertigkeit viel Kraft erweckt, und diese Kraft befreit sich immer mehr von der Gebundenheit an einen besonderen Vorwurf, wie eine selbständige Macht schwebt sie schließlich über den Dingen. Aber das ergibt eine neue Gefahr: es droht ein Gleichgültigwerden gegen allen Gehalt, die Ablösung einer formalen Vernunft von der materialen. Diese Scheidung von formaler und materialer Vernunft, von Inhalt und Form, ist eine Notwendigkeit für die Entwicklung und Befreiung der Gesamtvernunft; sobald aber der Gegensatz erstarrt, und das ist unter menschlichen Verhältnissen die Regel, überwiegen die Miß-

Das geistige Vermögen

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stände. Am deutlichsten ist das auf intellektuellem Gebiet in der verhängnisvollen Macht der formalen Logik. Ihr Ausdenken, Verketten und Zusammenschließen der Gedanken ist unentbehrlich für alle Kulturarbeit, aber bei ihrer Gleichgültigkeit gegen den Inhalt kann sie sich ebensogut in den Dienst der Unvernunft wie in den der Vernunft stellen und der Unvernunft eine Macht verleihen, die sie nimmer aus sich selbst erlangt hätte. Bei dem unverwandten Fortschreiten von Konsequenz zu Konsequenz wird die Anschauung, die unmittelbare Empfindung, der schlichte Eindruck mehr und mehr verdrängt, verwischt, vernichtet und das Leben mit einem künstlichen Formelsystem umsponnen; dieses entgeistigten Apparats kann sich auch der Irrtum, die Leidenschaft, das Parteiwesen bemächtigen und die Wahrheit mit ihren eignen Waffen bekämpfen. Nie wäre der religiöse Fanatismus so verderblich geworden ohne jene Macht der starren Konsequenz, die das einmal Ergriffene ohne Zurückbeziehung auf die geistigen Grundprozesse weiter und weiter ausspinnt und dem Gegner alles zuschiebt, was er nach der Logik des anderen aus seinen Prinzipien ableiten müßte. Diese seelenlose Logik ist es auch, die das Recht, so oft aus einem Segen zu einem Fluch der Menschheit gemacht hat. Ein geistvoller Jurist, der selbst allem Formalismus weit überlegen war, hat die Form eine Zwillingsschwester der Freiheit genannt. Vielleicht hätte er sie besser eine Stiefschwester genannt. Denn von Haus aus stehen beide keineswegs in einem freundlichen Verhältnis; sie müssen ein solches erst finden und geraten nicht selten immer weiter auseinander. So wird das logische Vermögen eine dämonische Macht, der Gut und Böse gleichgültig sind. Ähnliches gilt von den anderen geistigen Kräften. Auch Begehrungen, Gefühle, Stimmungen u. s. w. werden freischwebende Mächte, sie gehören und gehorchen dem, der sie kühn ergreift, der Starke reißt sie als Beute an sich und benutzt sie für seine Zwecke. O b die Vernunft dabei einen Inhalt gewinnt, scheint niemandes Sorge. Jene bloße formale Vernunft aber kann eine gewisse Kultur aus eignen Mitteln bestreiten, emsig die Geschäfte betreiben und sich allen Aufgaben unterziehen. Im Innern aber kann dabei völlige Leere walten und alle Substanz fehlen. Diese Möglichkeit und Tatsächlichkeit einer inhaltleeren Kultur wird aber der Wesensbildung zum härtesten Anstoß. Wir fanden die Natur gleichgültig gegen die Vernunft, nun finden wir sogar eine Vernunft

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Der Kampf um die W e l t m a c h t des G e i s t e s l e b e n s

gleichgültig gegen den Geist, nun erscheint das Geistesleben als uneins in sich selbst, nun erzeugt es aus seinem eignen Schoß einen schlimmeren Feind als alle äußeren Gegner. Kann es bei solcher Entzweiung sich als Weltmacht durchzusetzen hoffen?

c. Die moralische Oesinnung.

Aber alle Verwicklung geistiger Arbeit kann Eine Zuflucht nicht versperren: dem Menschen bleibt das Reich der Moral; wenn alles andere schwankt und zerbricht, der Wert des guten Willens, der edlen Gesinnung bleibt unerschüttert In diesem Reiche erhebt sich der Mensch von der Gebundenheit natürlicher Anlage zur Freiheit des Handelns und Seins, hier wird die Enge der bloßen Punktualität zersprengt, und das Ich, der «dunkle Despot", weicht dem Leben mit den Genossen, ja mit der Unendlichkeit des Seins. Dieser Boden erzeugt eine allem Vermögen der Natur unvergleichlich überlegene Größe und Würde, Freude und Liebe, ein neues Selbst, ein neues Leben. Auch scheint uns hier eine innere Stimme sicher zur Wahrheit zu weisen und aller Streit über die nähere Ausführung einen Grundstock nicht zu berühren. Aber dafür erscheinen andere Verwicklungen. Wir sahen, wie den Menschen die moralische Welt nur zu gewinnen vermag unter Benutzung von Übergangspunkten, wo das natürliche Seelenleben der moralischen Forderung entgegenkommt; zuerst muß in kleinen Kreisen und unter der Gunst besonderer Umstände keimen und reifen, was schließlich dem Ganzen des Lebens zukommen soll. Nun aber gewahren wir, daß die Übergangspunkte keineswegs in jenen Dienst völlig aufgehen; sie beharren und halten die Bewegung bei sich fest, das Gute scheint an dieselbe Natur gekettet zu bleiben, über die es hinauswollte; damit aber droht eine Vermengung und innere Entstellung. Das zeigen beide Hauptrichtungen, welche die Entwicklung des Guten einschlägt, die Liebe wie die Gerechtigkeit Die Liebe scheint volle Kraft und Wärme nur in den kleinen naturgegebenen Kreisen und in engster Verflechtung mit Naturtrieben zu erlangen; sie kann aber die Individuen in diese Kreise nicht zusammenschließen, ohne sie gegen das Übrige abzuschließen; je mehr der Mensch dort seinen Affekt ausgibt, desto fremder und gleichgültiger wird ihm das Jenseitige. Wie verschwindend ist die Liebe, wie matt und träge das

Die moralische G e s i n n u n g

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Wohlwollen jenseits jener natürlichen Zusammenhänge! Wo sie einmal in großer, allüberwindender, selbstaufopfernder Stärke hervorbrechen, da verehren wir sie wie seltene Wunder und bekunden damit deutlich, wie gering wir vom Durchschnitt des Lebens denken. Hier lassen jene kleinen Kreise zwischen sich eine völlige Leere, sie bilden zerstreute und verlorene Punkte wie die Weltkörper im unermeßlichen Raum. Nicht anders steht es mit der Gerechtigkeit. Wo das Recht uns, unserem besonderen Kreise, unserer Partei, unserem Volke, unserer Religion günstig dünkt, da gewinnt es leicht unseren Eifer und erfüllt uns mit freudiger Zuversicht; wo es aber gegen uns und die Unsrigen spricht, da verfliegt rasch der Eifer, und es wird sonnenklar, daß wir in dem Recht weniger die sittliche Macht als einen Qehülfen unserer Interessen schätzen. Doppeltes Maß, doppeltes Gewicht, je nachdem wir über uns oder andere urteilen, das ist eine alte Klage; diese Ungerechtigkeit dringt vergiftend in alle soziale und geistige Arbeit; die Parteiung, vorher als ein Hebel der Kräfte anerkannt, wird damit zum Unsegen. So ist auch hier das Moralische eine Macht nur mit der Natur, nicht gegen sie; hat es aber in solcher Gebundenheit und Vermengung überhaupt einen Wert? Aber die Verwicklung reicht noch weiter: die Natur hält nicht nur die Bewegung zur Moral bei sich fest, sie tritt zu ihr in einen vollen Gegensatz, insofern alle Entwicklung des Geisteslebens in den Dienst des bloßen Ich gezogen, dieses selbst aber in ein Zwittergebilde von Natur und Geist verwandelt wird. Bei solcher Wendung muß aller Fortschritt der Kultur den Egoismus verstärken, es wächst unaufhörlich die Kraft, es wächst auch das Raffinement der Selbstsucht, welche die geistige Bewegung nicht nur begleitet, sondern in sie eindringt und sie entstellt. Wo immer etwas Großes auf dem Boden der Geschichte erscheint, da erwächst alsbald das Schmarotzertum der kleinen und selbstischen Interessen; dies Unkraut wuchert weiter und weiter, bis es endlich das Edle überwuchert und erstickt. So erfuhren es alle großen Ideen, die anfänglich den Menschen so weit über seine Kleinheit hinauszuheben schienen; so erlebt es z. B. die Neuzeit mit der Idee der Befreiung des Individuums, die zuerst die Tiefe und Wahrheit des Lebens unermeßlich zu fördern schien, und an die sich dann so viel rücksichtslose Selbstsucht und eitle Überhebung, so viel erbitterter Streit und dreiste

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D e r K a m p f um d i e W e l t m a c h t d e s G e i s t e s l e b e n s

Ausbeutung anschloß, bis endlich der Wert des Ganzen in Zweifel geriet Daß hier in dem Bösen eine eigentliche Verkehrung entsteht, und daß diese Verkehrung in das Geistige selbst hineinreicht, das ist der Kern der Lehre von einem radikalen Bösen im Menschen. Die Preisgebung dieser Lehre bedeutet ein Sichverschließen vor augenscheinlichen Tatsachen und zugleich eine verhängnisvolle Verflachung der Lebensprobleme. Ein radikales Böse anerkennen heißt aber keineswegs alles Böse auf den menschlichen Willen schieben und den Menschen als von Grund aus verderbt behandeln. Vielmehr ist es auch die Natur, die ihm Triebe niederer Art einflößt, es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihm Aufgaben stellen, wodurch er innerlich, wenn nicht herabgezogen, so doch gefährdet wird. Da an die Erhaltung des natürlichen Ich alle und jede Betätigung geknüpft ist, so kann sich unser Streben nicht völlig von ihm ablösen; die körperliche Organisation führt dem Menschen Triebe und Begierden zu, welche die natürliche Unschuld stören und schwere Gefahren bereiten; dann kommt das gesellschaftliche Leben mit seinen wirklichen und eingebildeten Bedürfnissen, die Enge des Raumes läßt die Individuen immer härter zusammenstoßen, die Kraft des einen kann sich nicht ohne eine Einengung des anderen entwickeln, Ehrgeiz, Eifersucht, Neid werden hier ins Grenzenlose entfacht; andererseits wirkt die bittere Not der Lebenserhaltung mit ihren Mühen und Sorgen zur Abstumpfung edlerer Gefühle, zur Erzeugung gemeiner. Das Leben um des bloßen Lebens willen verlangt soviel Zeit und Kraft, daß das Schöne gegen das Notwendige keinen Platz gewinnt; die Not und Hast des Alltags läßt selbst eindringende Erfahrungen und schwerste Erschütterungen oft spurlos vorbeiziehen. Bis zum Überdruß wird die bildende und erziehende Macht des Lebens gepriesen. Die Gerechtigkeit verlangt auch der Kehrseite zu gedenken und sein, herabziehendes, erniedrigendes, vergemeinerndes Wirken als Gegengewicht in die Wage zu werfen. Würden wir uns so nach der Reinheit und Unschuld der Kindheit sehnen und in der kindlichen Gesinnung ein hohes Ideal verehren, wenn der Verlauf des Lebens uns nicht so weit davon abführte? Was aber für das kurze Leben des Individuums, das gilt wohl noch mehr für das geschichtliche Leben der Menschheit. Hier wie da geraten wir immer tiefer in die Verwicklung hinein, und indem Schuld und Schicksal in engster Verkettung immer größere Lasten

Die Geschichte

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anhäufen, verschwindet immer mehr die Hoffnung, ein Reich des Guten auf Erden zu gründen und sich dahin aus aller Unbill des Daseins zu retten.

d. Die Geschichte.

Zeigte der Durchschnitt des Lebens bis jetzt einen wenig erquicklichen Anblick, so lag die Schuld vielleicht daran, daß hier die Zusammenhänge noch nicht zur Würdigung gelangten, welche die Zerstreuung in Zeit und Raum überwinden und die Leistung über das Vermögen der einzelnen Individuen und Augenblicke weit hinausheben: die Geschichte und die Gesellschaft. Wir sahen, daß der Mensch eine andere Art der Geschichte hat oder doch haben kann als die bloße Natur. Eine Geschichte im geistigen Sinne enthält ein Heraustreten aus der Zeit und eine Überwindung der Zeit; wenn sie die Zeiten überblickt, durchlebt, verbindet, so erfolgt nicht bloß eine äußere Summierung, sondern eine Scheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, die Freilegung von Ursprünglichem und Zeitüberlegenem, es entsteht eine Selbsterfahrung und Selbstvertiefung des Geistes. So bildet die Geschichte ebenso ein Zeugnis für eine höhere Art des Menschen wie einen Hebel großer, der bloßen Zeitspanne weit überlegener Leistungen. Aber eine solche Stellung kann die Geschichte nur erlangen, wenn sie von einem ursprünglichen Geistesleben getragen wird, das aus der zeitlichen Leistung eine ewige Wahrheit herauszuheben und alles Erzeugnis in ein Erlebnis zurückzuverwandeln vermag. Die Kraft aber, derer es dazu bedarf, pflegt dem Durchschnitt des menschlichen Daseins zu fehlen. Der Mensch läßt sich willenlos von der Geschichte dahintragen, statt sie durch sein geistiges Vermögen zu halten und zu beseelen, wie ein Schicksal läßt er sie über sich ergehen. Damit aber entfällt die Möglichkeit, die endlose Mannigfaltigkeit innerlich zu verbinden und Vernunft und Unvernunft voneinander zu scheiden. Indem uns Zeitlichkeit und Zufälligkeit bewältigen, erwachsen Mißstände, die leicht alle Vorteile der Geschichte überwiegen. Hierher gehört zunächst die Schmälerung unserer Unabhängigkeit, die Bedrohung einer frischen und kräftigen Gegenwart. Wir nehmen willig auf, was die Vergangenheit an uns bringt, wir lassen als vernünftig gelten, was wir als wirklich vorfinden. Solches passive

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D e r Kampf um d i e W e l t m a c h t d e s G e i s t e s l e b e n s

und massenhafte Aufnehmen belastet unser Leben aufs schwerste; was uns beschäftigt, bleibt uns innerlich fremd, und was sich an Eignem regt, kommt gegen jene Hemmung nicht auf. Dabei ist es bei solcher Unselbständigkeit nicht der Kern des Großen, der an uns gelangt: zerstreute Erscheinungen teilen sich leichter mit als die belebende Einheit, greifbare Formeln leichter als der unsichtbare Geist So halten wir uns an die Daten und Formeln, um sie schließlich gegen den Geist zu wenden, dem sie dienen sollten. Statt von den Daten zu ihren Gründen aufzusteigen, schieben wir jene zwischen uns und die Gründe, wir schätzen die Mausoleen statt der Helden, oder auch wir machen die Helden zu Gegenständen blinder Verehrung, statt durch ihr Leben eignes Leben zu erwecken; wir glauben nicht mit ihnen, sondern an sie. Auch die Verehrung kann ein Mittel werden, das Große innerlich fernzuhalten. Auch kann das Große unmöglich mit der Siegeskraft und dem unbedingten Rechte an uns kommen, die es zu seiner eignen Zeit besaß. Denn wie viel Unvergängliches es in sich tragen mag, in seinem Wirken muß es ein Verhältnis zur Zeit suchen und gerät damit unter die Bedingungen der Zeit; Vergängliches verquickt sich auch mit dem Besten, nach Veränderung der Lage kann anfängliche Vernunft zur Unvernunft, kann Wohltat zur Plage werden. Aber zur Abstreifung solches Vergänglichen fehlt jener passiven Behandlung der Geschichte aller Antrieb und alle Kraft; sie sucht in dem Greifbaren, Sinnfälligen, Zeitlichen die echte Wirklichkeit. So wird jenes innerlich Überwundene, unvernünftig Gewordene mit besonderem Eifer festgehalten, und es muß sich die Arbeit der Menschheit fortwährend mit Irrtümern befassen, über die sie innerlich hinaus ist oder doch hinaus sein könnte. Dazu kommt als weitere Verwicklung, daß die geschichtliche Überlieferung uns grundverschiedene Gedankenmassen und Lebensrichtungen miteinander zuführt und zusammen auf uns eindringen läßt Denn die Bewegung des Geisteslebens hat nicht eine einzige Linie weiterverfolgt, sie hat beträchtliche Wandlungen durchgemacht, ist nach verschiedenen Richtungen gezogen und wohl gar in das volle Gegenteil umgeschlagen. Alle Phasen aber haben ihre Folgen und Spuren hinterlassen, deren ungeschiedenes Gemenge zu uns wirkt. So umschließt z. B. unsere heutige Bildung klassisches Altertum und Christentum, Aufklärung und modernen Humanismus, alles dabei in verschiedenen Phasen. Diese Mächte sind so wie sie sich

Die Geschichte

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unmittelbar geben, Gegensätze, ja Widersprüche; an diesen Widersprüchen könnte sich neues Leben entzünden, jedoch nur, wenn eine überlegene geistige Kraft sie ergriffe und innerlich überwände. Das aber vermag jene Durchschnittsbehandlung der Geschichte nicht. So verbleibt das Verschiedenartigste und Widerstreitendste miteinander und durcheinander, alle Besonderheit muß möglichst abgestumpft, das Ganze zu matter Alltäglichkeit herabgestimmt werden, damit nur nicht der Widerspruch hervortrete und die träge Ruhe störe. Demnach liegt die Geschichte auf der Menschheit wie ein Alp, sie raubt uns das eigne Leben und gibt uns dafür ein fremdes. Das alles aber muß der Zeitverlauf weiter und weiter steigern. Kein Wunder, daß sich viel Gegenbewegung erhob, daß der Mensch jene Last mit allen Kräften abzuschütteln suchte. Das selbst aber erzeugte neue Verwicklungen. Die Reaktion gegen die Geschichte vollzieht sich in milderer und in schrofferer Art: dort ein Zurückgehen zu einfachen und ursprünglicheren Lebensformen, hier eine radikale Bewegung gegen alle und jede Geschichte. Ein Aufsuchen reiner Anfänge, ein Wiederaufnehmen bahnbrechender und neubegründender Leistungen erfolgt überall, wo die Kultur sich in sich selbst verwickelt hat und auf der eingeschlagenen Bahn nicht vorwärts kommt. An jenem Einfachen möchte sie sich über die eigne Aufgabe orientieren, aus seiner unversieglichen Jugendfrische neue Kraft schöpfen. So namentlich in der Religion und in der Kunst, so aber auch in der Philosophie; daß das Neue hier wohl geradezu als eine Wiederlebung des Alten galt, das erleichterte nicht nur die Wirkung nach außen, das stärkte auch das eigne Glauben und Schaffen. So dünkte hier die Geschichte ein sicheres Mittel zur Kräftigung ursprünglichen Lebens. Aber auch hier kam schließlich ein innerer Widerspruch zur Empfindung. Die neue Zeit sucht im Alten, was ihr selber not tut, sie muß notwendig etwas neues in ihm sehen, etwas neues aus ihm machen. Es gibt keine völlige Restauration. Der Glaube daran ist nicht nur ein Irrtum der gelehrten Meinung, er schädigt das Leben, indem die Bindung an das Alte das Neue in der reinen Entfaltung seiner eignen Art hemmt, oder indem sich Altes und Neues ohne Klärung ineinanderschiebt. Diese Störung wird um so größer werden, je mehr der Antrieb sich abschwächt, der zu jenen Anfängen zurücktrieb. ' So ist es begreiflich, daß die Bewegung gegen die Geschichte noch einen Schritt weiter ging, daß sie nicht diese oder jene Epoche,

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sondern daß sie alle und jede geschichtliche Kultur angriff und ihr die reine, geschichtslose Natur entgegenhielt. Alle Mißstände jener Kultur schienen solches Streben zu rechtfertigen und zu unterstützen. Aber so stark diese These in der Verneinung, so schwach ist sie in der Bejahung. Was bleibt dem Menschen, wenn man ihm alles entzieht was die Geschichte aus ihm gemacht hat, und ihn auf die bloße Natur zurückführt? Wie klein und flach wird ein Leben, das alles auf die unmittelbare Gegenwart stellt? Man täuscht sich über die dann unvermeidliche Leere, indem in die Natur der Ertrag der Geschichte, geläutert und veredelt, hineingesehen und einer Naturromantik gehuldigt wird, die einen beinahe kindlichen Optimismus verrät Auch wird der Mensch in dieser Weise die Geschichte trotz aller Bemühung nicht los. Jene Reaktion entsprang nicht nur aus besonderen geschichtlichen Lagen, sie trägt auch den Stempel dieser Lagen, sie ist selbst etwas geschichtliches und wird ein Stück des weiteren Verlaufs der Geschichte. Das empfindet alsbald die folgende Zeit Die naturrechtlichen Denker und Praktiker des 18. Jahrhunderts glaubten sich frei von allen Zusammenhängen der Geschichte, wir erkennen in allen ihren Gedanken und Bestrebungen die charakteristische Art des 18. Jahrhunderts, sie wollten etwas Zeitloses und erfaßten es nur im besonderen Gewände ihrer Zeit. Demnach hält die Geschichte den Menschen fest, er kann sich ihrer nicht durch einen raschen Entschluß entledigen, er muß sich mit ihr auseinandersetzen, er kann sie nur überwinden, indem er ihr ihren Wahrheitsgehalt entwindet Fehlt dazu die Kraft, so verbleibt ein verworrenes Verhältnis zur Geschichte, ein Schwanken zwischen willenloser Hingebung und ungerechter Befehdung. So aber ist es die Regel; die Augenblicke, wo ein ursprüngliches Schaffen die zeitliche Ordnung in eine ewige und die Folge der Zeiten in eine wahrhaftige Gegenwart verwandelt, bilden seltene und angestaunte Höhepunkte.

e. Die Gesellschaft. Die Hauptverwicklungen der Geschichte erscheinen aber erst im Zusammenhange mit der Gesellschaft, im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben. Wie sehr die menschlich-geistige Gesellsdhaft alles bloßnatürliche Zusammensein überragt, wie sie den Menschen

Die G e s e l l s c h a f t

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nicht bloß nach außen hin kräftigt, sondern auch innerlich hebt, wie die Gemeinschaft des Werkes und des Schicksals auch eine Verbindung der Gemüter zu fördern vermag, darüber sind wir uns einig und klar. Aber alle Leistung der Gesellschaft kann der Wesensbildung nur dann als ein echter Gewinn gelten, wenn sie sich in den Dienst der Geisteswelt stellt, wenn sie mit all ihrem Wirken und Wollen nur ein ursprüngliches Selbstleben vertreten und entwickeln, nicht aber aus eignem Vermögen leben und die ganze Wirklichkeit des Menschen bedeuten will. Zerreißt sie jene Beziehung und behandelt sie ihr eignes Ergehen als den abschließenden und ausschließenden Selbstzweck, so drohen schwere Mißstände, ja eine Verkehrung des gesamten Lebens. Diese Ablösung zeigen aber die menschlichen Verhältnisse als die Regel; mag je nach der Hauptrichtung des Lebens bald der Staat, bald die Kirche, bald das freie Zusammensein der Menschen das Letzte und Höchste sein wollen, im Grunde ist es ein und dieselbe Selbstüberhebung des Menschen, die nur ihre Gestalt verändert. Das Verhängnisvolle solcher Usurpation der gesamten geistigen Wirklichkeit durch die Gesellschaft beruht darin, daß diese ihr eignes Bestehen und Ergehen nicht zur Hauptsache erheben kann, ohne das Geistesleben zur Nebensache herabzudrücken und es unter fremde Maße zu stellen. Wissenschaft und Kunst, Recht, Religion und Moral bedeuten hier nicht Eröffnungen einer neuen Welt, innere Erhöhungen des Menschen, sondern bloße Einrichtungen zum Nutzen der Gesellschaft, Hilfs- und Heilmittel für ihr Gedeihen. Solche Herabsetzung zu bloßen Mitteln lähmt aber ihre innere Triebkraft. Das Nützliche verdrängt hier das Gute, die Zwecke der Gesellschaft bestimmen, was gut oder böse, ihre Meinungen, was wahr oder falsch sei; der Mensch, nicht als Individuum, aber als Durchschnitt wird zum Maß aller Dinge. Zugleich werden die Daseinsformen der Gesellschaft: das Nebeneinandersein in Raum und Zeit, das Wirken von außen nach innen, das Gebundensein an den seelischen Stand des Menschen, zu Bedingungen und Gesetzen des Geisteslebens. Dabei pflegt die Gesellschaft die Unterordnung des Geistigen, die sie vornimmt, nicht nur anderen, sondern auch sich selbst zu verbergen; sie hegt und pflegt mit allen Mitteln den Schein, das Gute und Wahre um seiner selbst willen zu wollen. So gesellt sich zur Verkehrtheit der Sache eine Unwahrhaftigkeit der Gesinnung. E u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

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Das bloßgesellschaftliche Leben kann nicht alles auf den Menschen zuspitzen, ohne dem Durchschnitt der Meinungen und Strebungen die leitende Stellung einzuräumen. Denn wie aristokratisch die äußere Gliederung der Gesellschaft sein mag, ihre innere Art bestimmt immer der Durchschnitt. Wird aber unsere Arbeit mit all ihren Problemen auf den Durchschnitt gestimmt, so droht zunächst eine Abschleifung des Individuellen und Charakteristischen, eine Unterdrückung oder doch Isolierung des Großen, es droht ein schematisches und schablonenhaftes Leben. Soweit der gesellschaftliche Betrieb der Kultur reicht, weist jene Durchschnittsbildung den Einzelnen nicht nur bei verwickeiteren Aufgaben auf ausgetretene Pfade, sie umfängt und beherrscht ihn schon bei den einfachsten Elementen; seine Begriffe folgen den Worten der Sprache, seine Empfindungen und Affekte dem Zuge des gesellschaftlichen Lebens, für alle Äußerungen seines Gefühles, für Lust und Leid, für Seligkeit und Verzweiflung liegen bequeme Formeln bereit, derer sich bedienen muß, wer nicht anstoßen will. Solche Bindung an fertige Schablonen wirkt aber unvermeidlich vom Äußeren ins Innere zurück, sie erstickt von vornherein die Kraft und die Frische aller Regung, sie macht uns matt und unwahr nicht nur gegen andere, sondern auch gegen uns selbst. Das Leben bleibt hier ein Zwittergebilde von Wirklichkeit und Schein. Anders stünde es, wenn der Durchschnitt eine Summierung der Vernunft vollzöge, damit das Individuum über sich selbst hinaushöbe oder alle in ihm schlummernde Vernunft weckte. Große Denker haben eine solche Summierung der Vernunft verfochten, von der maßvollen Fassung eines Aristoteles bis zur radikalen eines Rousseau. Aber es waren das Denker, deren Behandlung menschlicher Dinge überhaupt optimistisch gestimmt war und die inneren Verwicklungen unseres Lebens nicht genügend würdigte. Seit Plato ist ihnen die Lehre von einer Summierung der Unvernunft entgegengehalten; mochten die Optimisten eine gewisse Ausscheidung von Verkehrtem und eine Heraushebung gewisser Wahrheiten durch das Zusammensein für sich anführen, es ließ sich erwidern, daß diese Wahrheiten nicht die Grundüberzeugungen sind, die dem Leben Sinn und Wert verleihen, und daß die schöpferischen Ideen nicht nur zur Zeit ihres Entstehens paradox waren, sondern daß sie alle Zeit paradox geblieben sind; entgegenhalten ferner, daß das Zusammenwirken in Massen notwendig eine Unterdrückung der feineren

Die G e s e l l s c h a f t

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Züge, eine Vergröberung der Arbeit, ein Anschwellen der Affekte und Leidenschaften bis zur Gefährdung aller sachlichen Wahrheit bewirkt. Wenn der Mensch so sehr von Naturtrieben beherrscht wird, wenn die geistige Regung so schwach, die moralische Gesinnung so unzulänglich ist, wie wir es fanden, so wäre es ein Wunder, wenn die bloße Anhäufung solcher Elemente eine neue Ordnung, ein Reich der Vernunft hervorbringen könnte. An ein Wunder innerhalb unseres Lebenskreises aber möchten wir am wenigsten glauben. Wie die Gesellschaft der sichtbaren Welt, dem Reich der Erscheinung angehört, so kann sie nur schätzen, was in dieses Reich fällt, so muß sie das Äußere vor das Innere, das Ergebnis vor das Streben, die Leistung vor die Gesinnung stellen; überall muß sie nach dem Erfolge urteilen und dem Erfolge nachlaufen. Im Einzelnen wird das wohl als eine Ungerechtigkeit empfunden, leicht aber übersehen, daß das Ganze auf diesem Boden unvermeidlich ist. Das Dasein ist ein Nebeneinander einzelner Erscheinungen; so muß auch die Gesellschaft sich an das Einzelne halten und alles, was sich als ein Ganzes gibt, in einzelne Elemente zerlegen. Die Tüchtigkeit bedeutet hier eine Summe nützlicher Leistungen, die Überzeugung eine Anzahl von Lehrsätzen, aus der Religion schält sich eine Sammlung sogenannter »religiöser Verpflichtungen" heraus; ein Ganzes jenseits dieser Zerstreuung, ein Ganzes, das alle Mannigfaltigkeit beseelte und prüfte, wird mit Bedenken und Mißtrauen betrachtet, leicht erscheint es hier als eine gefährliche Illusion. Für das Dasein ist nur das Feste und Greifbare wirklich; so läßt auch die Gesellschaft vom Geistigen nur gelten, was ihr fertig und abgeschlossen dargeboten wird; ihr gilt nur das Vorhandene, Festgewordene, autoritativ Übermittelte, nicht das im Werden und Streben Befindliche. Der Kult des Toten hemmt hier die Schätzung des Lebendigen, das Große der Vergangenheit wird zum Feinde des Großen der Gegenwart. Solches Haften am Einzelnen, Äußeren, Fertigen wird sich gegenseitig steigern und zu einer geistig geringen Lebensführung verbinden. Auf diesem Boden überwiegt das Legale das Moralische, die konventionellen Satzungen die ewigen Ordnungen, die Form die Sache, der Schein das Sein. Notwendige Wahrheiten werden an vergängliche Erscheinungsformen gebunden und diese jedem Einzelnen auferlegt. Durch die Ansprüche der Gesellschaft unablässig in Atem 13*

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gehalten, kommt der Mensch nicht zu einem ruhigen Anblick und einer richtigen Würdigung des Lebens als eines Ganzen, nicht zu einem Aufnehmen der Hauptprobleme des Seins. Das alles natürlich in mannigfachen Abstufungen und Verzweigungen, unter manchen Gegensätzen bei sich selbst. Namentlich geht durch alle diese Lebensführung ein Gegensatz und Kampf einer festen und einer freien Form der Gesellschaft. Einerseits die offiziellen Lebenssysteme, die ihren Bestand als absolute und ewige Wahrheit geben, nichts anerkennen als was sie genehmigt haben, und zugleich alle Betätigung ins Enge und Zunftmäßige gestalten; andererseits das freie Zusammenschießen der Meinungen und Gefühlslagen mit seiner Unbeständigkeit und seiner Wehrlosigkeit gegen die zufälligsten Eindrücke, mit seiner Neigung, gewisse Überzeugungen, Schätzungen u. s. w. auch von den heiligsten Dingen als ein Kennzeichen bevorzugter sozialer Schichten zu behandeln, sie wie bloße Moden mitzumachen, sie fallen zu lassen, sobald ihnen durch Verbreitung in die anderen Schichten ihre unterscheidende und auszeichnende Kraft verloren ging. In dem Augenblick, wo alle diese Schäden nicht nur an einzelnen Punkten, — denn da sieht sie jeder —, sondern als Eigenschaften des Ganzen, und nicht nur als oberflächliche Störungen, sondern als mit einer bloßgesellschaftlichen Lebensführung untrennbar verbunden erkannt werden, muß eine innere Abwendung davon erfolgen, das Ganze als eine unerträgliche Verkehrung erscheinen, und zugunsten von Wahrheit und Glück ein energischer Kampf dagegen aufgenommen werden. Dieser Kampf kann von verschiedenen Punkten ausgehen und sich sehr verschieden gestalten. Eine besonders tiefgehende Gegenwirkung erfolgte von d e r Religion her. Denn den von ihr erfüllten Gemütern schien jene Selbstherrlichkeit der Gesellschaft als eine Auflehnung des mit dem Schein des Göttlichen umkleideten Menschlichen gegen das wahrhaft Göttliche; so ließ sich hier die tiefste Innerlichkeit der Gesinnung und die ganze Kraft der moralischen Überzeugung zum Kampf aufbieten.. Den klassischen Ausdruck solcher Gesinnung bildet das 23. Kapitel des Matthäusevangeliums. Auch die individuelle Seelenlage der schaffenden Geister der religiösen Welt befand sich in einem schroffen Gegensatze zur Gesellschaft, in der Empfindung voller Einsamkeit gegen das Durchschnittstreiben. Einsam war Jesus nicht nur in Gethsemane, sondern durch sein ganzes Leben; einsam m u ß sich in.

Die Gesellschaft

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der Fülle des Besitzes Buddha gefühlt haben, wenn er den Kreis der Seinen verließ, um in der Fremde den Weg der Wahrheit zu suchen; eine ähnliche Empfindung klingt auch aus den Worten Mohammeds: »Hat er mich nicht einsam gefunden und mir eine Heimat gegeben?" Aber diese Wendung gegen die Gesellschaft verlangt die feste Überzeugung von einer überweltlichen Wirklichkeit. Gewöhnlich liegt es näher, besonders auch unserer Zeit, die Gesellschaft innerhalb des Daseins anzugreifen. Das geschieht mit der Wendung zum Individuum, durch die Berufung an seine ungebrochene und unverfälschte Natur, durch das Streben, die hier vorhandenen Kräfte aller sozialen Einschnürung zu entziehen und in ihrem vollen Umfang zu entfalten. In dieser Richtung wirkt heute der naturalistische Subjektivismus, er hat eine gewaltige Stärke und ein unbestreitbares Recht in seiner Kritik der Gesellschaft, in der Bekämpfung ihrer Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit, in der Entfernung des trüben Nebels, worin sie das menschliche Dasein hüllt. Die Frage ist nur, ob die positive Leistung der Kritik entspricht, und ob der Punkt, den man wählt, in Wahrheit einen sicheren Standort gewährt. Uns erscheint das Verfahren des Subjektivismus als ein kurzsichtiges und in einseitiger Tendenz befangenes; seine Vertreter gehören zu den Menschen, die nach einem Ausdruck Leibnizens nur in einem einzigen Syllogismus, nicht in mehreren denken. Denn ganz erfüllt von der einen Aufgabe, die Schäden der Gesellschaft möglichst scharf und grell zu beleuchten, vergessen sie zu prüfen, wie es mit dem Vermögen des Individuums steht, das der Gesellschaft so siegesgewiß entgegengehalten wird; ihre Kritik erschöpft sich so bei der Gesellschaft, daß für das Individuum nur die romantische Verherrlichung übrig bleibt; mit der Wendung dahin verwandelt sich der sonstige Pessimismus gegen menschliche Dinge in einen blinden Optimismus. Denn was ist das Individuum der Erfahrung mit seiner Gebundenheit an die Natur, seiner Stumpfheit für geistige Zwecke, seiner gröberen oder feineren Selbstsucht? Gewinnen wir etwas damit, daß wir für die Selbstherrlichkeit und Eitelkeit der Gesellschaft die des Individuums eintauschen? Wir empfinden die Seelenlosigkeit der bloßen Autorität, aber fahren wir besser bei der Willkür und dem Eigensinn der bloßen Individuen? Die Starrheit und Äußerlichkeit der gesellschaftlichen Ordnung ist gewiß ein Übel, aber darf sich der Naturtrieb mit seiner Roheit

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und seiner Flüchtigkeit überlegen dünken, muß jene nicht ihm gegenüber noch immer als eine Erzieherin gelten? Die Gesellschaft drängt und beengt das Individuum in tyrannischer Weise, aber wäre ohne, solche handgreiflichen Impulse seine natürliche Trägheit irgend zu überwinden? Die Gesellschaft unterwirft uns dem Schein, aber der Schein enthält nicht nur eine gewisse Huldigung gegen die Wahrheit, er kann aus dem Gröbsten herauszubilden und die Selbstsucht wenigstens in einige Zucht zu nehmen helfen. So ist es eben der Stand des Individuums, welcher der Gesellschaft ein Recht gibt und ihr trübes Gemenge von Vernunft und Unvernunft unentbehrlich macht. Das geistige und sittliche Niveau der empirischen Gesellschaft und des bloßen Individuums ist im Grunde genau dasselbe; statt sich gegenseitig die Schuld an dem kläglichen Stande des Daseins zuzuschieben, sollten sie an dem Ganzen Kritik üben und über das Ganze hinausstreben. Das aber gehört auf ein anderes Blatt; der erste Stand erscheint in Bewegung und Gegenbewegung, in Ja und Nein, in dem unablässigen Schwanken zwischen der Selbstgerechtigkeit der Gesellschaft und der Überspannung des Individuums als durchaus unzulänglich; hier wie da befindet das Geistesleben sich wie in der Fremde.

f. Das Schicksal.

So kann den Menschen sein eignes Tun nicht wohl befriedigen, die Geisteswelt, worin sein Wesen wurzelt, scheint für sein Dasein und Leben wie verloren. Aber immer bleibt noch Eine Aussicht und Hoffnung. Alle Verkehrtheit und Unbill unserer Welt wäre erträglich, waltete zweifellos und augenscheinlich über uns eine höhere Macht zur Förderung und Stärkung des Guten, zur Hemmung und Brechung d e s ' B ö s e n , lenkten Liebe und Gerechtigkeit unsere Geschicke, und gäbe es eine Wendung von aller Unzulänglichkeit der menschlichen Verhältnisse zu einer überlegenen Macht als einem sicheren Halt und Trost. Die Wirklichkeit einer solchen Macht sei keinenfalls rasch und keck verneint. Viel zu sehr stehen wir Menschen am Saume der Dinge, viel zu undurchsichtig ist die Weltlage und viel zu verwickelt das Getriebe des menschlichen Daseins, als daß wir mit unserem geringen Wissen alle Möglichkeit ausschließen und eine endgültige Leugnung wagen dürften. Aber solche Zurückhaltung kann nicht die unbefangene Erörterung der Frage verwehren, ob

Das Schicksal

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sich innerhalb unserer Erfahrung eine solche Macht deutlich und unwidersprechlich erweist, ob Sterne, die unsere Geschicke lenken, durch den trüben Nebel unseres Daseins mit genügender Klarheit hervorscheinen. Es stellt hier aber das Leben den Menschen nicht unter einfache und eindeutige Eindrücke, sondern entgegengesetzte Stimmungen sehen wir einander bald ablösen, bald auch durchkreuzen. Einerseits glaubten wir im Leben der Individuen wie der Völker das Walten einer allmächtigen Liebe zu erkennen, die den Menschen, über sein eignes Wissen und Wollen hinaus, behütet und führt; aus dem Vertrauen auf solche Liebe erhob sich die Idee eines Reiches Gottes wie im Himmel so auf Erden. Bald hingegen glaubten wir zu erfahren, daß zwar Bedeutendes vorgeht und sichere Verkettungen alle Mannigfaltigkeit zusammenhalten, daß aber diese Verkettungen gegen das Wohl und Wehe des Menschen gleichgültig sind, daß ein ehernes Schicksal ihn als ein bloßes Mittel behandelt, ihn bald ergreift und erhebt, bald verwirft und zermalmt. Endlich bieten die Erlebnisse so viel Wechsel und Wandel, so viel Unvermitteltes und Plötzliches, so viel Umschlagen ohne erkennbaren G r u n d , solche Macht des Kleinen und Augenblicklichen, daß alles dem bloßen Zufall überantwortet, der blinden Laune der Glückgöttin preisgegeben scheint. So schwankt die Überzeugung des Menschen zwischen Vorsehung, Schicksal und Zufall; der Wechsel der Erfahrungen macht ihn bald diesem, bald jenem geneigter und wirft ihn von einer Seite zur anderen. Bei allen diesen Problemen ist das erste und dringlichste Verlangen des Menschen das nach Gerechtigkeit. Das innerlich Wertvolle müßte sich auch zur Wirklichkeit bringen und als Macht erweisen, das Gute sollte das Starke und Siegreiche, das Böse das Schwache und Unterliegende sein. Aber die sittliche Ordnung, die wir aus innerer Notwendigkeit fordern, findet sich nicht durch unsere Erfahrung bestätigt. Diese zeigt zunächst bei der eignen Seele des Menschen ein Auseinandergehen von Kraft und Gesinnung. Edle Gesinnung ist oft wehrlos und schwach, schlechte und gemeine voll Kraft; selbst großes geistiges Schaffen kann mit moralischer Enge, zerstörender Leidenschaft, kleinlicher Eitelkeit, ja rücksichtsloser Selbstsucht gepaart sein. — Ein Spalt erscheint weiter in den Erlebnissen, beim Verhältnis von Tun und Ergehen. Das Gute gelangt durch sein eignes Vermögen keineswegs schon zum Siege. Was es im mensch-

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liehen Dasein an Vorteilen besitzt, verdankt es weniger seinen inneren Vorzügen als seiner Verflechtung mit der äußeren Ordnung der Dinge, seinem Nutzen für die Gesellschaft u. s. w. Aber je deutlicher wir die Allgewalt einer physischen Kausalität empfinden, um so schmerzlicher vermissen wir eine moralische Kausalität, eine Angemessenheit der Folgen und der Absicht, ein Durchdringen des Guten, einen Niedergang des Bösen. So wenig im Durchschnitt des Daseins regelmäßig das Gute siegt, ebenso wenig rächt sich hier alles Böse. Vielmehr scheint alles bunt durcheinander zu wirbeln und über uns mehr Laune als Gerechtigkeit zu walten. Bald hinterlassen auch schwere Verschuldungen keinerlei Spur, nicht einmal in dem eignen stumpfen Gewissen des Täters, bald wird strengste Abrechnung gehalten, eine unbarmherzige Kausalität schmiedet den Menschen an die einmal begangene Tat und die Erinnyen folgen seiner Ferse; bald scheint unser Tun den Lauf des Geschehens zu lenken, bald vermag auch der kräftigste Wille nichts gegen die Starrheit der Verhältnisse oder die Blindheit des Zufalls; auch kann in der unübersehbaren Verkettung der Dinge eine verschwindende Nebensache über die größten Angelegenheiten, ein Punkt über das Ganze, ein Augenblick über die Geschicke von Jahrhunderten entscheiden. Ja es läßt das trübe Durcheinander der Lage das menschliche Handeln oft das Gegenteil von dem erreichen was es wollte, das Schicksal verkehrt das Gute in Böses, das Böse in Gutes. Wenn den Menschen in solchen Verwicklungen viel Leid ohne seine Schuld trifft, so kann er sich nicht von aller Schuld entlasten, vielmehr ist es eine undurchsichtige Verwebung von Schuld und Schicksal, die sein Leben bedrückt. Mag er dunkel in seinen Geschicken ein Walten überlegener Mächte empfinden, eine sittliche Ordnung wird seinem Auge darin nicht erkennbar. Die Ungleichmäßigkeit der Behandlung, die im Verhältnis von Tun und Ergehen ersichtlich wird, die Gleichgültigkeit des Weltlaufes gegen die Individuen, erstreckt sich über dies besondere Problem hinaus auf die ganze Weite des Lebens; sie wird um so mehr zur Härte, als dabei nicht nur der Erfolg nach außen, sondern auch die innere Bildung in Frage steht. Innerlich und äußerlich wird dem einen das Leben leicht, dem anderen schwer gemacht; oft fällt dem einen spielend in den Schoß, was der unermüdlichen Arbeit des anderen versagt bleibt; oft trifft den Sorglichen das Unglück, während der Leichtsinnige seinen Weg ohne Schaden verfolgt

Das Schicksal

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Bei dem einen wird das Gute und Edle, das aufstrebt, gehegt und gepflegt, bei dem anderen, so scheint es, im Keime zertreten; der eine wird vor aller Versuchung behütet, der andere wehrlos ihr preisgegeben. Wie oft drängt sich die Empfindung auf, daß der eine in allem Unternehmen den Strom und Wind ebenso für sich, wie der andere ihn gegen sich hat. Was in solchen Erlebnissen an Unbill steckt, wird weiter gesteigert durch die Verkettung des Schicksals des einen mit dem des anderen. Diese Verkettung wächst mit dem Fortschritt der Kultur, mit der Verwicklung der Verhältnisse; immer abhängiger wird das Individuum von dem Tun und Ergehen anderer Menschen. Wie leicht kann hier der Untüchtige den Tüchtigen, der Böse den Guten in den Abgrund reißen! Oft trägt der eine die Schuld, der andere die Folgen, der Leichtsinn des einen gereicht zum Verderben des anderen. In dem allen vermissen und entbehren wir die Gerechtigkeit. Noch weniger können wir hoffen, darin ein Walten der Liebe zu entdecken. Wohl gewahren wir bisweilen ein merkwürdiges Zusammentreffen von Umständen, das uns zum Segen gereichte; auch unser Handeln scheint wohl durch eine unsichtbare Macht auf rechte Ziele gelenkt und vor menschlicher Irrung behütet. Aber alle Versuche, solche Fälle zu deuten oder zu einer Lehre ausziibauen, stoßen auf die Schranken menschlichen Vermögens und geraten zugleich unter den Einfluß menschlicher Überhebung und Eitelkeit, die sich gern als den Mittelpunkt aller Wirklichkeit nimmt. Gegen den Tatbestand aber läßt sich einwenden, daß in anderen Fällen ein merkwürdiges Zusammentreffen kleiner Umstände großes Unheil bewirkte, oder eine geringe Handreichung zur Verhütung unsäglichen Elends genügt hätte. Leicht war der Strauchelnde dem Abgrund zu entreißen, leicht der Versinkende zu retten, aber die helfende Hand bot sich nicht, wenigstens nicht für unser Auge. Diese negativen Fälle schiebt das menschliche Glücksverlangen gern zurück, um bei den positiven zu verweilen; der Dank der Geretteten führt das Wort so laut, daß die stumme Klage der Gefallenen dagegen nicht aufkommt. So erscheint undurchsichtig und unbegreiflich die Ordnung der Geschicke. Dazu reicht die Dunkelheit über das Ergehen hinaus in den Kern des Seins; das Sein, das wir als unser eigen anerkennen und für das wir uns verantwortlich fühlen, ist in Wahrheit weit

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weniger unser Werk als das jener dunklen Mächte; ja so sehr umfängt uns an jeder Stelle ein Schicksal, daß kaum irgendwelcher Zunächst Platz für eigne Wahl und Tat zu verbleiben scheint. unterstehen wir dem Schicksal unserer eignen Natur. Die besondere Art, die uns von Haus aus zugewiesen ist, die Individualität, enthält das Maß unserer Kräfte, sie zeichnet unserem Streben seine Richtung vor, sie begrenzt unseren Lebenskreis mit festen, unverschiebbaren Linien. Diese Natur ist bei dem einen zu harmonischer Einheit angelegt, bei dem anderen klafft sie in schroffe Widersprüche auseinander; sie gibt dem einen die Neigung zum Großen und Guten, dem andern zum Kleinen und Bösen. In aller solchen Verschiedenheit aber erscheint sie als das eigne Werk des Menschen und wird ihm bald zum Verdienst bald zur Schuld gerechnet. Zum Schicksal der Natur gesellt sich das Schicksal der Verhältnisse, der Umgebung, der Lebenslage. Was die Natur unfertig ließ, das wird hier bearbeitet und gestaltet, dabei aber bald gestärkt und gehoben, bald geschwächt und herabgedrückt. Hierher gehört auch das Schicksal der Zeit, ihr verschiedenes Verhältnis zum Individuum. Die Zeit kann den Menschen in große Aufgaben oder in eine geistige Leere stellen, ihm den Weg zur Tiefe der Geisteswelt und seines eignen Wesens erleichtern oder erschweren, die Hauptrichtung seiner individuellen Art freundlich aufnehmen oder feindlich abweisen, ihn danach mehr zur Mitarbeit oder zum Kampfe aufrufen. Das alles entscheidet zum guten Teil über Inhalt und Glück seines Lebens; wie aber das Los hier fällt, bestimmt nicht die eigne Hand. Auch die eigne Tat verwandelt sich uns in ein Schicksal. Sie geht nicht spurlos vorbei, sie wirkt auf den Träger zurück, am Werk erst bildet sich die Gesinnung, das Wesen. Was von unseren Kräften zur Tat erweckt wird, das erfährt damit eine innere Verstärkung; Ungewecktes hingegen verkümmert und verschwindet. Aber jene Umsetzung in Tat liegt oft mehr bei den Umständen als bei unserem Willen; so gilt als edel und tapfer, als hilfreich und großmütig, dem weniger eignes Verdienst als die Gunst der Lage zu entsprechender Handlung verholfen hat. Wir preisen oder verdammen den Menschen und vergessen den wahren Werkmeister: das Schicksal. Diese Ungleichmäßigkeit und Undurchsichtigkeit der Behandlung begleitet den Menschen bis an sein Ende, auch der Tod be-

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kündet jene Unbill des Schicksals. Ist dem einen vergönnt, sein Lebenswerk zu vollenden, sich, menschlich gesprochen, auszuleben, so wird der andere schon im Aufstreben vernichtet oder mitten in der Arbeit abberufen. Der Tod läßt oft auf sich warten, wo das Leben zur drückenden Last ward; dann wieder zerstört er ein Leben, das unentbehrlich und unersetzlich dünkt. Aber an dieser Stelle verschwindet alle Unbill der einzelnen Fälle gegen die Unbill des Ganzen, gegen die Unverständlichkeit des gemeinsamen Schicksals. Nur äußerlich angesehen, kann unser Sein sich in dieser Zeitspanne ausleben, können hier die Aufgaben unseres Wesens gelöst werden. In Wahrheit bleiben wir beim Gelingen ebenso unfertig wie beim Mißlingen, die Hauptprobleme der inneren Bildung werden kaum angegriffen, höchstens ein wenig gefördert, wir haben die Arbeit kaum ernstlich aufgenommen, wo der Tod für unseren Blick allem Streben ein Ziel setzt. Die Sache steht hier nicht so, daß nur ein Teil der Blüten nicht zur Reife gelangt, sondern zur vollen Reife kommt nichts, das Ziel unserer Lebensbewegung wird nirgends erreicht. So läuft das Ganze, vom sichtbaren Dasein aus betrachtet, in einen schrillen Mißklang aus. Noch bleibt eine Berufung von aller Dunkelheit und Unvernunft der individuellen Geschicke an das Geschick der Menschheit wie die Weltgeschichte es aufrollt; vielleicht lassen hier die größeren Züge erkennen, was die Kleinheit des Einzellebens verbarg. Aber sehr bald überzeugen wir uns, daß im wesentlichen dieselben Probleme wiederkehren. Die Lehre, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, enthält, soweit sie wahr ist, keinen Trost; sofern sie aber Trost bringen könnte, ist sie nicht zu erweisen. Gewiß erlaubt die zunehmende Entfernung des Beobachters eine unbefangenere Beurteilung, viel Schein verschwindet, manche Täuschung wird durchschaut, wenn Interessen und Leidenschaften der Zeit verrauscht sind. Aber ein solches »objektives« Urteil hat auch alle Kühle der Ferne, gerecht sind wir im Grunde nur gegen das, was uns gleichgültig ward, während das wahrhaft Bedeutende und durch die Zeiten Fortwirkende nie aus dem Streit heraustritt. Und mag sich die Einsicht berichtigen, was hilft eine Erkenntnis, die dem Leben so sehr nachhinkt, was nützt dem Unterlegenen und Zertretenen das Urteil und der Beifall einer fernen Zukunft? Anders stünde die Sache, wenn nachweisbar wäre, daß die Geschichte mit innerer Notwendigkeit das Kleine und Niedrige aus-

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scheidet, das G r o ß e und Gute zur vollen Wirkung bringt. Aber nur ein starker Optimismus kann das bei den Fragen behaupten, die uns hier beschäftigen. Was uns die Geschichte anschaulich und eindringlich vorhält, das ist vielmehr die Beschränktheit und Vergänglichkeit alles menschlichen Strebens und Tuns. Großes ist unternommen und hat eine Zeitlang die Kräfte gewonnen, aber dann kam ein Stillstand, ein Sinken, der Untergang; wohl erhielten sich Spuren, aber nun und nimmer konnten sie das entschwundene Leben ersetzen. In Wirkung und Gegenwirkung, in Bilden und Zerstören, ist ein gewisser Kausalzusammenhang unverkennbar, nicht aber erscheint ein deutlicher Plan, nicht ein sicheres Aufsteigen zu einem allbeherrschenden Ziele. Indem die Kräfte in der Geschichte ihr Vermögen enthüllen und die Bewegungen sich ausleben, erweisen sich deutliche Schranken, und das Böse findet ein Ziel. Aber mit dem Bösen versinkt auch das Gute, und ein gemeinsames G r a b deckt alles Streben. Im Einzelnen freilich ist manches erreicht, ein Zusammentreffen glücklicher Umstände ließ manches gelingen, oft wurden große Augenblicke benutzt, oft kam der rechte Mann zur rechten Zeit. Aber um das als ein Werk nicht des Zufalls, sondern einer überlegenen Vernunft zu verstehen, müßten wir auch die Gegenrechnung machen, müßten wir prüfen können, ob nicht auch viele Gelegenheiten versäumt wurden, ob nicht oft der Zeit der rechte Mann fehlte, müßten wir die verlorenen Möglichkeiten, das Reich des Ungeborenen, übersehen können, und das können wir nicht. So bleibt jene Frage ungelöst, und es läßt das Ganze der Geschichte mit ihrem steten Versinken und der Hinfälligkeit alles Unternehmens mehr eine Kleinheit als eine G r ö ß e des Menschen empfinden, es enthüllt mehr eine Unnahbarkeit höherer Gewalten als eine innere Gemeinschaft mit ihnen. Die Geschichte zeigt uns mehr das Walten des alttestamentlichen Gottes, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern, als das des neutestamentlichen, dessen Liebe auch das Kleinste nicht verloren gibt. U m diesen Eindruck der Geschichte mit voller Deutlichkeit zu empfinden, brauchen wir nur im Geist eine hervorragende Stätte geschichtlichen Lebens, etwa Rom, zu überschauen und uns zu vergegenwärtigen, was dort vorging. Hohe Ziele wurden verfolgt und glänzende Siege errungen, aber in alles G r o ß e verwoben sich menschliche Interessen und Leidenschaften und zerstörten schließlich seine

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Kraft. Neue Ideale entstanden, ein neuer Glaube gab neue Kräfte, und der Zug ging wieder aufwärts, um endlich ebenfalls die Schranke des Menschen zu erfahren. Hier war nichts flüchtig, sondern alles hatte Zeit zu vollem Sichausleben; um so mächtiger spricht zu uns sein Geschick. Hier war alles gewaltig und weltbewegend, aber auch gewalttätig und weltbedrückend. Und wenn wir nun fragen, was in all den unsäglichen Mühen und Kämpfen, in Aufbau und Zerstörung an bleibendem Ertrag für das Ganze der Menschheit gewonnen, wie der innere Mensch dadurch gefördert ist, so kann die Antwort gewissenhafterweise nicht zuversichtlich lauten. Großes ist in Wahrheit geschehen, aber es zog mehr über den Menschen dahin, als daß es ihm selbst gehörte und sein bleibender Besitz wurde; die Bewegungen packten ihn und ließen ihn fallen; das Große versank, und die Erinnerungen rufen auch in der lebhaftesten Ausmalung nie das vergangene Leben zurück; wohl aber lasten sie mit erdrückender Wucht auf der Gegenwart und lassen ihren Kampf um das Dasein, ihr geschäftiges Alltagstreiben als würdelos und nichtig erscheinen. Die Geisterhaftigkeit des Vergangenen droht auch die Gegenwart zu umklammern und in das Nichts herabzuziehen, bevor sie sich recht entfaltet hat. So durchgängig eine Riesengewalt des Schicksals, ein Unvermögen des Menschen.

Überblicken wir in Einem, was uns bei Natur, geistiger Kraft, moralischer Gesinnung, Geschichte, Gesellschaft und Schicksal entgegentrat, so ist eine durchgängige Hemmung und Einengung des menschlichen Daseins nicht zu verkennen. Nicht an der bloßen Oberfläche liegen die Schäden, sie erstrecken sich bis in den Grund unseres Daseins; was an Vernunft bemerklich wird, das scheint zu schwach, die starren Widerstände zu brechen, das bildet mehr eine gegen den Inhalt gleichgültige Form als eine selbständige Welt. Dabei läßt der Lauf der Geschichte die Verwicklungen eher wachsen als abnehmen, jedenfalls bringt er sie zu immer deutlicherem Bewußtsein. Denn mehr u n d - m e h r versinken die Illusionen jugendlicherer Zeiten, zerreißen die Schleier, mit denen eine gefällige Phantasie die Wirklichkeit umhüllte; schien früher der Himmel die Erde zu berühren, so scheiden sich schärfer und schärfer die Gegensätze; Möglichkeiten, die früher die Hoffnung beflügelten, entfallen, die Klarheit eines wacheren Seins zieht dem Leben bei wachsender

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Ausdehnung innerlich immer engere Kreise und weist es in unverrückbare Bahnen. Und in diesen Bahnen trifft es auf so viel Widerstand und Hemmung, wird es in seinem eignen Grunde so hart angegriffen und so schwer erschüttert! Wie soll es solcher Verwicklung begegnen, wie sich gegen alle herabziehenden und zerstörenden Mächte erhalten?

2. Das Suchen nach Lösungen. Der Widerspruch, der sich uns auftat, kann unmöglich so stehen bleiben; wir kämpfen um den Sinn unseres Lebens und um die Behauptung eines geistigen Seins, wenn wir mit aller Energie seine Überwindung oder doch Milderung fordern. So ist die weltgeschichtliche Arbeit voller Versuche, ja sie bildet einen unablässigen Versuch, dem peinlichen Zwiespalt irgend zu entrinnen. Mannigfaches ist hier unternommen, völlig entgegengesetzte Bahnen sind eingeschlagen, verschiedenste Antworten auf jene Frage umwerben den Menschen. Aus dieser Fülle sollen uns nur die Haupttypen beschäftigen, sie müssen es, weil nur die Auschließung der unzulänglichen Versuche uns zu dem Wege treibt, der weiterzuführen vermag. Zunächst seien die Versuche erwogen, den Widerspruch in einfachster Weise durch ausschließliche Anerkennung der einen Seite zu lösen. Das aber kann in entgegengesetzter Richtung geschehen: auf dem Wege der Bejahung und dem der Verneinung. Die einen glauben unser Leben vom Bösen irgendwie befreien und rein in das Gute stellen zu können, die anderen erwarten das Heil von dem Durchschauen der Scheinbarkeit aller Güter und dem gänzlichen Verzicht Wie sich jede dieser Bewegungen weiter verzweigt, das wird die Untersuchung selbst zeigen. a. Die Wegdeutung des Bösen. Als einfachster Ausweg empfiehlt sich der Versuch, das Böse trotz alles widersprechenden Scheines wegzudeuten; ihn ergreift und verfolgt die optimistische Fassung von Leben und Welt. Gegenüber der unermeßlichen Ausdehnung des Bösen kann sie auf einen Erfolg nur hoffen, wenn sie eine neue Art der Betrachtung und Beurteilung einführt; das aber unternimmt sie in Wahrheit. Jene

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Ausdehnung innerlich immer engere Kreise und weist es in unverrückbare Bahnen. Und in diesen Bahnen trifft es auf so viel Widerstand und Hemmung, wird es in seinem eignen Grunde so hart angegriffen und so schwer erschüttert! Wie soll es solcher Verwicklung begegnen, wie sich gegen alle herabziehenden und zerstörenden Mächte erhalten?

2. Das Suchen nach Lösungen. Der Widerspruch, der sich uns auftat, kann unmöglich so stehen bleiben; wir kämpfen um den Sinn unseres Lebens und um die Behauptung eines geistigen Seins, wenn wir mit aller Energie seine Überwindung oder doch Milderung fordern. So ist die weltgeschichtliche Arbeit voller Versuche, ja sie bildet einen unablässigen Versuch, dem peinlichen Zwiespalt irgend zu entrinnen. Mannigfaches ist hier unternommen, völlig entgegengesetzte Bahnen sind eingeschlagen, verschiedenste Antworten auf jene Frage umwerben den Menschen. Aus dieser Fülle sollen uns nur die Haupttypen beschäftigen, sie müssen es, weil nur die Auschließung der unzulänglichen Versuche uns zu dem Wege treibt, der weiterzuführen vermag. Zunächst seien die Versuche erwogen, den Widerspruch in einfachster Weise durch ausschließliche Anerkennung der einen Seite zu lösen. Das aber kann in entgegengesetzter Richtung geschehen: auf dem Wege der Bejahung und dem der Verneinung. Die einen glauben unser Leben vom Bösen irgendwie befreien und rein in das Gute stellen zu können, die anderen erwarten das Heil von dem Durchschauen der Scheinbarkeit aller Güter und dem gänzlichen Verzicht Wie sich jede dieser Bewegungen weiter verzweigt, das wird die Untersuchung selbst zeigen. a. Die Wegdeutung des Bösen. Als einfachster Ausweg empfiehlt sich der Versuch, das Böse trotz alles widersprechenden Scheines wegzudeuten; ihn ergreift und verfolgt die optimistische Fassung von Leben und Welt. Gegenüber der unermeßlichen Ausdehnung des Bösen kann sie auf einen Erfolg nur hoffen, wenn sie eine neue Art der Betrachtung und Beurteilung einführt; das aber unternimmt sie in Wahrheit. Jene

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überwältigende Macht, so heißt es, erhielt das Böse nur dadurch, daß der Mensch die Erfahrung zu direkt auf seine eigne Empfindung bezog und nach seinen besonderen Zwecken schätzte, damit aber ein viel zu enges Maß an die Wirklichkeit brachte. Dem aber läßt sich begegnen: vom Standort des Menschen können wir uns auf den des Alls versetzen, das Ganze, das uns einschließt, aus sich selbst zu verstehen und in seinen eignen Zusammenhängen zu würdigen suchen. Neue Möglichkeiten und Aussichten eröffnen sich damit; es steht zu hoffen, daß, wie sich dem Astronomen durch Verlegung seines ideellen Standorts von der Erde in die Sonne die scheinbare Verwicklung des Sonnensystems in eitel Ordnung und Gesetzlichkeit verwandelte, so auch dem Philosophen eine Harmonie der Welten aufgehen wird, sobald er »das Auge in die Sonne stellt" (Leibniz). So wird in der Tat etwas Neues geboten, seiner Prüfung können wir uns nicht entziehen. Dafür gilt es auf die näheren Gestaltungen einzugehen, die jener Gedanke einer Betrachtung aus dem Ganzen in der weltgeschichtlichen Arbeit gefunden hat. Es hat nämlich ein jedes der großen geschichtlichen Lebenssysteme hier eine eigne Antwort gegeben und damit einen eigentümlichen Optimismus bereitet. Wer immer unsere Welt zur Einheit zusammenfaßt, der scheint damit auch die Verpflichtung zu übernehmen, die Vernunft der Wirklichkeit aufzuweisen. Die Welt wird frei von Unvernunft und zeigt sich als die beste der Welten, wenn sie als ein großes Kunstwerk verstanden wird: so lehrt der künstlerische Optimismus vom Altertum bis in die Neuzeit hinein. Denn das Kunstwerk kann durch seine Verbindung der Mannigfaltigkeit zum Ganzen den anfänglichen Eindruck völlig umwandeln; was einander zuerst zu hemmen und stören schien, das mag als Glied einer umfassenden Harmonie sich versöhnen und gegenseitig erhöhen; ja es kann ein Kunstwerk schwerlich eine innere Bewegung und einen kräftigen Gehalt erlangen, ohne Disharmonien hervorzubringen und sie aufzulösen. So scheint eine Disharmonie dem Weltall nötig, damit die Harmonie desto vollkommener werde; diese aber läßt ein weltüberschauendes Denken uns Menschen miterleben. Die Welt ist gut als eine lückenlose Verkettung von Ursachen und Wirkungen, als ein System von Gesetzen, als ein Reich formaler Vernunft: so meint ein logischer Optimismus, den niemand

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reiner ausgesprochen hat als Spinoza. Was an den einzelnen Punkten dunkel und sinnlos scheint, daher aufregt und schmerzt, das wird als Glied jener Verkettung klar und vernünftig. Der Einzelne muß sein echtes Wesen im Ganzen suchen, seine Größe in der Hingebung der Besonderheit finden. Dazu bedarf es einer Wendung von der Subjektivität der Empfindung zur Objektivität der Erkenntnis; indem diese die Notwendigkeit aufdeckt, vernichtet sie den trüben Affekt und versöhnt sie mit der Wirklichkeit; die Kraft und Freude des weltumspannenden Denkens überwiegt weitaus den Schmeiz, den der Zustand des isolierten, doch nur scheinbar selbständigen Einzelwesens bereiten mag. Die Welt ist die beste Welt als ein unablässig, und zwar durch eigne Kraft fortschreitender Prozeß, als ein System der Kraftentwicklung, so ist die Überzeugung eines dynamischen Optimismus, der von allen Formen des Hauptgedankens unserer Zeit am nächsten steht. Was fortschreiten soll, kann nicht fertig gegeben sein, es muß sich erst in die Höhe arbeiten; soll ferner die Bewegung erstarken, so muß sie Widerstände finden und überwinden; auch die Hemmung wird hier nützlich und wertvoll, sofern sie die Kraft anregt und über die bisherige Leistung hinaustreibt Die Sorgen und Schmerzen des einzelnen Augenblicks verschwinden gegenüber der Freude an der Belebung des ganzen Wesens und an dem Vordringen aus eigner Kraft. Viel besser dünkt es Kampf und Not auf sich zu nehmen, aber zugleich sein Leben und Befinden selbst zu bereiten, als sich von draußen her ein Paradies zuweisen zu lassen. Le monde esj ce qu'il doit être pour un être actif, c'est-à-dire fertile en obstacles (Vauvenargues). Endlich hat auch die religiöse Weltanschauung ihren besonderen Optimismus. Die Welt ist die beste als das Reich des göttlichen Waltens. Was uns Menschen Leid dünkt, ist lediglich ein Mittel der Erziehung, es ist zur Verinnerlichung des Lebens unentbehrlich, so wirkt es schließlich zum Guten. Ja selbst die sittliche Schuld rechtfertigt sich in dieser Ordnung (felix culpa), da die Erlösung von ihr eine größere Tiefe der göttlichen Liebe und Gnade offenbart, auch eine größere Innigkeit menschlichen Glaubens und Vertrauens erweckt, als ohne das möglich wäre. So die Haupttypen des Optimismus. Sie einzeln durchzusprechen, gehört nicht hieher; auch zeigen sie deutlich genug gemeinsame Züge, die f ü r ein Gesamturteil genügen. — Alle Arten

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des Optimismus sind weit mehr darauf bedacht, Möglichkeiten zu entwerfen und auszumalen als ihre Wirklichkeit zu erhärten; sie nehmen den Nachweis, daß manchmal das Böse Gutes erzeugt, als einen vollgültigen Beweis dafür, daß es das immer tut, und daß alle scheinbare Unvernunft in Vernunft ausläuft. Aber dazu sind die Verwicklungen zu schwer und die Erschütterungen zu tief, als daß ihnen gegenüber bloße Möglichkeiten, unsichere Anweisungen, vage Hoffnungen genügen könnten, es bedarf hier einer augenscheinlichen und felsenfesten Tatsächlichkeit, eine solche aber zeigt uns der Optimismus nicht. - Ferner behandelt er in allen seinen Arten den Menschen als ein vorwiegend betrachtendes Wesen; nur ein solches kann sich über die Region des Konfliktes hinausschwingen und das harte und wilde Weltgetriebe in ein angenehmes Schauspiel verwandeln oder auch zum Gegenstand einer erbaulichen Meditation machen; von der Forderung eines Selbstlebens des Geistes aus aber muß eine solche Flucht zur bloßen Betrachtung eine Verflachung und Verflüchtigung des Lebensprozesses dünken. - Alle jene Formen behandeln das Böse als etwas bloß anhangendes, gelegentliches, vereinzeltes, so nur kann es als in sicherer Überwindung begriffen erscheinen. Hat sich uns dagegen gezeigt, daß die Hemmung bis in den tiefsten Grund hinabreicht, daß in den allgemeinen Bedingungen des Lebens viel Unvernunft steckt, und daß die Vernunft sich selbst bis zu schroffen Gegensätzen entzweit, so muß die Betrachtung im Ganzen den Druck des Bösen eher steigern als mindern, jedenfalls hebt sie das Böse nicht auf. Eine Kritik des Optimismus kann leicht erweisen, daß er die Herrschaft der Vernunft weniger zeigt als voraussetzt, dann alle Kraft und Mühe aufbietet, das Dasein möglichst dem vorgefaßten Bilde anzupassen, damit aber leicht seine wahren Probleme abstumpft und seine Spannung verringert. Das gilt besonders von dem Unternehmen einer Theodicee, das mit seiner Verquickung vpn Philosophie und Religion leicht den wahren Interessen sowohl der Philosophie als der Religion widerstreitet. Denn Sache der Philosophie ist es keineswegs, das Weltall möglichst annehmbar darzustellen, das Unbequeme und Dunkle hingegen aus den Augen zu rücken; wo aber die Religion in den Gemütern eine Macht ward, da empfindet der Mensch viel zu stark unversöhnliche Gegensätze, als daß er auf ihre Abschwächung ausgehen könnte, da fühlt er sich viel zu schwach, um es wagen zu dürfen, den Anwalt der Gottheit zu spielen (causam E u c k e n , Kampf.

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dei agere). Fürwahr, wer eine so künstliche Argumentation gelten läßt, wie die Vorkämpfer der Theodicee sie verwenden, der kann ohne Mühe die Sache umkehren und eine Satanodicee entwerfen, der kann guten Muts den Beweis antreten, daß alle Vernunft zur Unvernunft wirkte, und daß alle Entwicklung von Gutem der Steigerung des Bösen diente. Wir wollen über solcher Abweisung des Optimismus nicht seine Verdienste vergessen. Daß er das Problem des Glückes vom ersten Eindruck ablöst, daß er die Gedankenarbeit aufruft und eine Würdigung aus dem Ganzen verficht, das eröffnet, namentlich in der Verzweigung der näheren Ausführung, neue Aussichten und ergibt neue Angriffspunkte, die deshalb, weil sie zur Lösung der Hauptaufgabe nicht ausreichen, keineswegs unfruchtbar sind. Vornehmlich aber gibt das dem Optimismus immer neue Kraft, daß er mit besonderem Eifer eine Wahrheit vertritt, die wir alle nicht aufgeben können und dürfen. Das ist die Überzeugung von dem Walten einer Vernunft im tiefsten Grunde der Dinge. Ohne eine solche Überzeugung könnte der Mensch weder Mut noch Kraft zum Wirken und Schaffen finden, ohne diesen Anker würde sein Leben haltlos dahintreiben. Aber was diese Idee an Recht enthält, das gerät ins Unrecht, wenn der letzthin gehoffte, nur mit höchster Anstrengung und unter eingreifender Wandlung des Weltbildes zu erringende Abschluß als unmittelbar gegeben oder doch leicht erreichbar behandelt wird. So bedarf es einer entschiedenen Verwahrung gegen jene Philosophie der Bequemlichkeit, deren Schönfärberei die Wahrheit entstellt, und deren Verwandlung des Menschen in einen bloßen Zuschauer des großen Weltkampfes die Energie des Lebens herabsetzt.

b. Die Zurückdrängung des Bösen. So mißlingt der Versuch einer völligen Wegdeutung des Bösen. Aber vielleicht ist es möglich, es so weit zurückzudrängen, daß es eine fruchtbare Lebensarbeit nicht hindert und die Freude am Guten nicht stört. Das ist in der Tat versucht, und zwar in der Weise, daß einzelne Gebiete, innerhalb derer ein reiner Sieg der Vernunft möglich schien, zur Hauptsache des Ganzen, zur Seele des Lebens erklärt wurden; indem sich die Tätigkeit hierauf konzentrierte, schien alle Unvernunft in die Peripherie verwiesen und in ihrer Macht ge-

Die Z u r ü c k d r ä n g u n g des Bösen

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brochen. Hier ward nicht bloß die Betrachtung, sondern die Arbeit aufgeboten, eigne Reiche sollten entstehen, die dem Guten einen sicheren Wohnsitz böten und das Böse durch die Tat unschädlich machten. Aber alle Abweichung läßt nicht einen Parallelismus mit den Bestrebungen des Optimismus verkennen, seinen Weltbildern entsprechen eigentümliche Lebensrichtungen, die prinzipiell geringere Ansprüche als jene machen, in der Tat aber fester wurzeln, mehr leisten und das Dasein tiefer erregen, die jenen kühnen Spekulationen erst einen leidlichen Untergrund geben. Dem ästhetischen Optimismus entspricht die Erhebung der Kunst zur Seele des Lebens, die Flucht aus den Mühen und Sorgen des Alltags zum Reiche des Schönen. Hier entwickelt die Phantasie mit ewiger Jugendfrische eine neue Welt, die keine Schwere des Stoffes kennt, da sie die Dinge nur mit ihrer reinen Gestalt in sich aufnimmt; hier überwindet ein frohes Spiel der Kräfte allen Druck der Notwendigkeit; hier gibt es kein Rohes, Gemeines und Undurchsichtiges. Die Teilnahme an dieser Welt hebt den Menschen auf eine H ö h e , von der aus das gewöhnliche Dasein als niedrig, äußerlich, gleichgültig erscheinen mag; auch was in Wirklichkeit verletzt, mag im Bilde Freude bereiten. O h n e Zweifel bringt solche Bewegung unserem Leben Freiheit und Leichtigkeit, ohne diese Hilfe würde die Wirklichkeit mit hartem Druck auf uns lasten, wäre unserem Empfinden alle Frische und Beweglichkeit versagt, müßte unser Leben auch bei innerer Tiefe starr und ungefüge bleiben. Aber an dieser Stelle geht die Frage nicht darauf, ob jenes Schaffen großes vermag, sondern darauf, ob es uns ganz erfüllen und sicher über alles Leid hinausheben kann, und diese Frage läßt sich nicht wohl bejahen. Denn die Kunst selbst erschöpft sich nicht in jene Flucht zum Schönen, sie müßte bis zur Flachheit sinken, wollte sie bei jener Ablösung und Entgegensetzung verharren. Den ganzen und inneren Menschen bewegt und fördert sie n u r , wenn sie den Inhalt des Lebens mit allen seinen Problemen in sich aufnimmt u n d sich auch den tiefsten Abgründen von Zweifel und Schmerz nicht entzieht; mag sie dabei durch ihre Form eine Erleichterung bringen, die Sache selbst macht sie nur noch eindringlicher; mit ihrer eigentümlichen Art vollzieht sie eine Vergeistigung, eine innere Läuterung der Probleme, aber in dieser Vergeistigung kann nur Mißverständnis eine Minderung oder gar völlige Lösung 14*

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erblicken. So begleiten uns die Verwicklungen des Lebens auch in das Reich der Kunst, nur unter Schädigung ihrer eignen Wahrheit und Tiefe kann sie sich ihnen entziehen. Genügt aber jene Flucht zum Schönen nicht einmal für die Kunst selbst, so kann sie noch weniger zur Seele des ganzen Lebens werden und eine Erlösung von allem Übel bewirken. Hat einmal die Menschheit einen Kampf mit der Unvernunft des Daseins aufzunehmen, um seinen harten Widerständen ein geistiges Selbst erst abzuringen, so kann die Flucht zur Schönheit eine Flucht vor der Wahrheit werden. Demnach bildet jenes Reich des abgelösten Schönen eine bloße Oase, die uns eine Rast auf der Wanderschaft gewähren, die aber nicht unser dauernder Wohnsitz sein kann. Dem logischen Optimismus entspricht die Emporhebung der wissenschaftlichen Arbeit, die Überzeugung, in ihrer unermüdlichen und fruchtbaren Tätigkeit einen Schutz gegen alle Unbill des Lebens zu finden. An die Stelle der Schönheit tritt hier die Wahrheit, Wahrheit im Sinne einer Erfassung der objektiven Wirklichkeit. Diese anzueignen und in Gedanken umzusetzen, wird zu einer unermeßlichen Aufgabe; der Mensch kann sie nicht angreifen, ohne sein subjektives Meinen und Mögen abzulegen und sich in die Welt der Gegenstände zu versenken, der sachlichen Notwendigkeit gänzlich zu folgen. So entspringt eine tüchtige und emsige, das Leben bis in die einzelnen Augenblicke ausfüllende Arbeit und zugleich eine große Beruhigung des Gemütes, ein Schweigen der Affekte, die reine und selbstlose Freude der Forschung. Diese Arbeit trägt ihren Zweck in sich selbst; was außer ihr liegt, sinkt zur Nebensache, zu einer bloßen Bedingung und Umgebung, die den Frieden dieses Lebens nicht scheint stören zu können. Auch hier ist der Wert, ja die Unentbehrlichkeit der Leistung nicht zu bestreiten, ein Verzicht auf das erweiternde, klärende, beruhigende Wirken der wissenschaftlichen Arbeit müßte das gesamte Leben schädigen. Aber das besagt nicht, daß sich in jenes Gebiet alle Hoffnung des Lebens flüchten kann, und daß sein Licht alles Dunkel erhellt. Die Erkenntnis selbst erreicht ihre letzte Tiefe und eine volle Gewißheit nicht in der bloßen Befassung mit Gegenständen. Denn damit sich uns der Gegenstand erschließe, damit wir ein inneres Verhältnis zu ihm erlangen und dadurch für unser Wesen gewinnen, dazu müßte er die bloße Gegensätzlichkeit ablegen und in ein umfassendes Ganzes des Lebens aufgenommen, in ein

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Stück unseres Selbst verwandelt sein; so drängt es über alle Erfolge der bloßen Forschungsarbeit mit Notwendigkeit hinaus zum Problem der Wahrheit des ganzen Seins, die Wahrheit der Erkenntnis muß ihren tiefsten Grund in einer Wahrheit des geistigen Schaffens suchen. Entzieht sich die Wissenschaft diesen inneren Zusammenhängen, so wird sie bei allem Gewinn an den Dingen geistig immer mehr ins Flache und Leere geraten und statt eines Erkennens ein bloßes Kennen bieten; mit der Entwicklung jener Zusammenhänge aber erscheinen sofort alle Probleme wieder, von denen die Forschungsarbeit befreien sollte, alle Zweifel und Sorgen steigen neu wieder auf. Wenn aber jene Arbeit nicht einmal für die Wissenschaft selbst auslangt, wie viel weniger kann sie unser ganzes Leben beseelen und alles Leid überwinden. Den Idealen der Kunst und der Wissenschaft tritt das Ideal der gesellschaftlichen Arbeit gegenüber, das Mühen und Schaffen für die Mitmenschen, das Streben, den gemeinsamen Stand, sei es durch unermüdliches Wirken im Einzelnen, sei es durch eingreifende Umwandlungen und Erneuerungen des Ganzen zu erhöhen. Dieses Streben entspricht am meisten dem Optimismus der Kraftentwicklung. Denn nirgends ist man des Fortschritts gewisser als hier, die Verwicklungen der Weltprobleme stören diese Arbeit nicht, sichere Angriffspunkte bieten sich leicht, die Fruchtbarkeit des Wirkens und sein stetes Vordringen steht außer Zweifel. Hier wird der Affekt des Menschen nicht abgeschwächt, sondern zu höchster Kraft geweckt; hier beschränkt sich die Bewegung nicht auf einzelne hervorragende Individuen, sondern sie ergreift alles »was Menschengesicht trägt", ein festerer Zusammenschluß der Menschheit erzeugt das Gefühl innerer Solidarität und ein williges Schaffen aller für alle. So ist hier der Boden für das Evangelium der Arbeit; so sehr scheinen wir in diese alles Grübeln und Sorgen versenken und vergessen zu können, daß sie den Einsturz aller Ideale zu überdauern vermag. Travaillons sans raisonner —, c'est le seul moyen de rendre la vie supportable (Voltaire). Die Bedeutung dieser gesellschaftlichen Arbeit läßt sich nicht leicht überschätzen, ihr erziehendes und stählendes, verbindendes und abschleifendes Wirken nicht ohne schweren Schaden entbehren. Den Einfluß der äußeren Verhältnisse und Einrichtungen, die Erweckung und Entfaltung des Inneren durch das Äußere geringzuachten, das sei einem abstrakten Idealismus überlassen, der sich überlegen dünkt,

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weil er die Bedingungen unserer Entwicklung ignoriert — Aber solche Bedeutung hat die gesellschaftliche Arbeit nicht in einer Abschließung gegen das Ganze des Geisteslebens, sondern nur als seine Erscheinung und Verkörperung; die äußeren Verbesserungen ziehen innere Belebungen und Vertiefungen nach sich nicht durch eine mechanische Kausalität, sondern nur bei Einfügung in ein tieferes und ursprünglicheres Gesamtleben, nur bei Aufbietung des ganzen und inneren Menschen. Das aber ruft sofort alle Probleme und Verwicklungen wieder auf, welche die Wendung zur gesellschaftlichen Arbeit zurückstellen hieß. Welche Verkehrung und innere Zerstörung aber das Geistesleben mit der Beugung unter ein bloßgesellschaftliches Leben erfährt, davon haben wir uns schon überzeugt; das Befinden der Gesellschaft zum letzten Selbstzweck machen, das heißt alles ursprüngliche Schaffen preisgeben und das Leben zu innerer Enge verdammen. «Alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter den Händen der Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden« (Kant). Und wenn es heißt, daß wir arbeiten sollen ohne zu räsonnieren, so ist zu erwidern, daß wir geistig nicht arbeiten können ohne zu denken und Überzeugungen auszubilden, daß also jenes Geheiß uns zu bloßer Tagelöhnerarbeit verdammen würde. Endlich erhebt mit besonderem Nachdruck die Religion den Anspruch, die Seele des Lebens zu bilden und den Menschen gegen alle Not des Lebens zu schützen; sie bricht mit dem unmittelbaren Dasein ebenso entschieden wie die soziale Lebensführung den Menschen daran festschmiedet Bei einer vom übrigen Leben abgelösten Religion soll eine unsichtbare. Ordnung der Dinge, eine jenseitige Welt, dem Menschen eine Zuflucht gewähren. Glaube und Hoffnung halten ihm diese Welt gegenwärtig und entrücken ihn allen Sorgen des Daseins, versichern ihn einer überschwänglichen Seligkeit. Das übrige Leben weicht in die Ferne zurück und erhält eine traumhafte Art, wohl erstreckt das religiöse Leben auch dorthin ein hilfreiches Wirken, aber nur nebenbei und als Vorbereitung der übersinnlichen Ordnung. Das verspricht eine große Befreiung und Verinnerlichung des Lebens: »In dieser Region des Geistes strömen die Lethefluten, aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, alle Härten, Dunkelheiten der Zeit zu einem Traumbild gestaltet und zum Lichtglanz des Ewigen verklärt" (Hegel). Wie notwendig und wie umwälzend die Einfügung der nächsten

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Welt in eine wesenhaftere und ursprünglichere Ordnung ist, das wird der weitere Verlauf voll zur Anerkennung bringen. Aber hier steht in Frage, ob die Religion, abgelöst und dem übrigen Dasein entgegengestellt, alles zum Guten wenden kann, und das läßt sich nicht leicht bejahen. Denn die Religion kann sich in der Ablösung nicht befestigen, ohne das übrige Leben als nebensächlich und geringwertig zu behandeln, die Spannung des Ganzen zu verringern, die Kraft zu schwächen. Das aber wird zur Gefahr und zum Schaden für die Religion selbst. Denn sie schöpft ihre Stärke zum guten Teil aus dem Gegensatz; es sind die Erfahrungen, Leiden, Schranken des Lebens, welche mit dem nächsten Dasein brechen heißen und zu einer neuen Welt treiben, die das geistige Selbst zu retten vermag. Jene Erfahrungen aber können nur eindringlich wirken, jene Leiden und Schranken nur als eigne empfunden werden, so lange der gesamte Lebensprozeß von uns kräftig aufgenommen und mit ganzer Hingebung geführt wird. Mit einem Verzicht darauf sinkt auch die Energie der Gegenwirkung, die Religion droht in der Entfremdung starr und formelhaft zu werden, jenes Leben und Weben des Gemütes nicht den Kern des Lebens zu ergreifen und umzuwandeln, sondern das übrige Leben nur wie eine nebensächliche Erscheinung, eine machtlose Stimmung zu begleiten. Nahe liegt bei solcher Absonderung und Erstarrung die Gefahr, daß die Religion statt die Selbstsucht des Menschen zu brechen und seine Leidenschaften zu überwinden, sie in ihr eignes Gebiet eindringen und dort üppig aufwuchern läßt; nicht minder auch die Gefahr, daß sie nicht durch neue Ideen eine innere Umwandlung unserer Gedankenwelt vollzieht, sondern nur die vorhandene Welt mit all ihrer Äußerlichkeit und Zeitlichkeit über dies Dasein hinaus in ein Jenseits verpflanzt; so wird sie durch die Isolierung leicht ihren Hauptzwecken untreu. Auch hat eine bloß religiöse Lebensführung besondere Not, ihre Wahrheit und Wirklichkeit zu erhärten. Denn wie leicht kann sie nach Zerstörung aller Verbindung mit der übrigen Geistesarbeit als ein bloßes Gewebe subjektiver Wünsche und Hoffnungen angefochten werden, die lediglich ausmalen, was des Menschen Herz begehrt, unbekümmert um ihre Tatsächlichkeit. Wenn aber, wie unvermeidlich, dagegen der Zweifel erwacht, wird dann nicht alle Wirkung gelähmt, werden nicht die Kämpfe und Sorgen nur noch gesteigert? So machen alle einzelnen Gebiete dieselbe Erfahrung. Sie alle

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besitzen eine eigentümliche Aufgabe und sind mit ihrer Leistung, jedes in seiner Weise, dem Menschen unentbehrlich. Aber sie alle geraten unter dasselbe Dilemma. Wollen sie sich absondern und ihr Besonderes für das Ganze einsetzen, so verlieren sie den belebenden Geist, so verfallen sie einer Verflachung und können alsdann unmöglich die Seele des Lebens bilden. Wollen sie hingegen die Kraft und die Tiefe ihrer Arbeit behaupten, so müssen sie den Zusammenhang mit dem Gesamtleben wahren, zugleich aber auch seine Probleme auf sich nehmen. Das aber wirft uns in alle Verwicklungen zurück, denen wir mit der Wendung zu einem besonderen Gebiet entfliehen wollten.

c. Der Verzicht auf die Oeisteswelt.

Das Mißlingen aller Versuche, den Sieg des Guten zu sichern, wirft notwendig das Streben in die gerade entgegengesetzte Bahn. Lehrt der Mißerfolg nicht deutlich genug, daß das Verlangen nach einer vermeintlich höheren Welt sich nicht befriedigen läßt, und erweist er nicht wie ein Gottesurteil, daß jenes Unternehmen nicht eine sachliche Notwendigkeit hinter sich hat, sondern nur dem Meinen und Mögen des Menschen angehört, dabei aber seine Kraft überspannt? Nach solcher Aufklärung gebietet, so scheint es, die Pflicht der Wahrheit wie die Sorge um das Glück, das Ganze als eine schädliche Illusion aufzugeben, auf ein selbständiges Geistesleben ein für allemal zu verzichten und uns auf das Gebiet des natürlichen Daseins zurückzuziehen, wo unser Recht unbestritten ist, und wo unsere Kräfte den Aufgaben genügen. So erhebt sich von neuem der Naturalismus, mit dem wir schon anfänglich zu tun hatten, aber er hat sich gegen den Anfang nicht wenig verändert. Das Nein, das er jetzt in sich trägt und gern hervorkehrt, macht ihn bewußter und kritischer, zu einer Hauptaufgabe wird ihm jetzt die Abweisung alles Weiterstrebens; die unausgesetzte Polemik aber zeigt auch gegen den eignen Willen einen Zug der Resignation, eine Annäherung an eine pessimistische Stimmung. Zunächst freilich hält er dagegen Stand und sucht eine Beruhigung in dem Einstellen aller unnützen Versuche und der um so kräftigeren Bearbeitung des uns von Natur gewiesenen Feldes. Könnte er dabei nur völlig abstreifen und vergessen lassen, •was der Mensch inzwischen getan und erfahren hat! Aber dafür

Die P h i l o s o p h i e der E n t s a g u n g

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hat die Bewegung zur Geistigkeit zu mächtig unser Leben ergriffen, zu tief hat sie unser ganzes Wesen aufgewühlt, zu viel hat sie in Fluß gebracht, als daß sie ohne einen peinlichen Zwiespalt und eine Lähmung aller Arbeitsfreude einzustellen wäre. Denn mögen die neuen Aufgaben nicht gelöst, die Fragen nicht beantwortet sein, auch als Fragen und Aufgaben sind sie Tatsachen und Mächte; daß sie überhaupt gestellt werden konnten, bekundet eine eigentümliche G r ö ß e des Menschen; was ferner das Mühen um sie an Kräften geweckt hat, das kann nicht auf ein Gebot des Unmuts sofort wieder verschwinden; was an Zielen und Maßen in jenem Streben steckt, das fährt auch gegen unseren Willen zu wirken fort. Ein Verzicht auf das alles wäre eine Unterdrückung lebendiger Kräfte; wäre eine solche überhaupt möglich, so könnte keinenfalls der Mensch sich dabei wohl befinden. Auch unser Verhältnis zum natürlichen Dasein haben jene inneren Wandlungen verschoben. Was dort an Schranken vorliegt, das kommt nun unablässig zur Empfindung und wird zu einengendem Druck; was sich aber leisten läßt, das ist f ü r den durch so schwere Erschütterungen hindurchgegangenen Menschen völlig unzulänglich geworden. So ist an dieser Stelle unmöglich Halt zu gebieten; augenscheinlich stellt uns die Preisgebung der Geisteswelt auf eine schiefe Ebene, auf der wir notwendig weiter und weiter hinabgleiten müssen bis zum Nullpunkt völliger Entsagung, bis zur Ergebung an einen allesverneinenden Pessimismus.

d. Die Philosophie der Entsagung. Den mannigfachen Formen des Pessimismus, deren Unterschiede uns hier nicht zu kümmern brauchen, ist die Überzeugung gemeinsam, daß in unserer Welt die Vernunft gegenüber der Unvernunft nichts vermöge, daß sie nicht einmal eine volle Wirklichkeit besitze, sondern sich bei genauerer P r ü f u n g als bloßer Schein erweise; den praktischen Schluß daraus bildet der Rat, alles Mühen um eine Verbesserung des Daseins als aussichtslos einzustellen. Zu solchem Ergebnis drängt mehr noch als alle Hemmungen und Leiden die Empfindung der Nichtigkeit unseres Daseins und der Leere des Glückes, wie sie sich gerade auf der Höhe einer vollentwickelten, aber keiner großen Ziele und inneren Zusammenhänge gewissen Kultur einzustellen pflegt; hier findet der Pessimismus einen weit

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günstigeren Boden als in Zeiten, wo Leid und Not den Menschen bedrängen und seine Kraft anfeuern. Die Wendung zum Pessimismus verhilft aber neuen Stimmungen zum Ausdruck und verwandelt die Lebensweisheit in das gerade Gegenteil der früheren Art. Der völlige und willige Verzicht gilt hier als die Höhe idealer Gesinnung. Zwingt das Leben uns unablässig im Einzelnen zu entsagen, so erscheint eine eigentümliche Größe darin, durch eigne Tat dem Ganzen zu entsagen; die Notwendigkeit verwandelt sich damit in Freiheit und gegenüber der gewöhnlichen Glücks- und Lebensgier erscheint solcher Verzicht als ein Ausdruck vornehmer Denkart. Solcher Verzicht aber bildet zugleich den Weg zum wahren Glück, indem er von der Hast und Aufregung, von den Mühen und Sorgen des Durchschnittslebens gründlich befreit; das Durchschauen der Nichtigkeit unserer Welt verheißt dem Menschen eine sichere Überlegenheit, eine unerschütterliche Ruhe, einen inneren Frieden. Die Aufgabe der Philosophie besteht nun nicht mehr darin, überall eine verborgene Vernunft aufzustöbern, sondern darin, unermüdlich die immer von neuem aufsteigenden Illusionen zu zerstören und die Nichtigkeit des Ganzen gegen alle scheinbar widersprechenden Eindrücke festzuhalten. Mit solcher Grundstimmung ist der Pessimismus dem Optimismus in manchem voraus. Er gestattet dem Menschen ein offenes Aussprechen und volles Ausklingenlassen des Leides, was gegenüber einer Unterdrückung und künstlichen Wegdeutung wie eine Wohltat und Befreiung wirken mag; er befaßt sich sorgfältiger mit der menschlichen Lage und ihren Erfahrungen, er läßt den unmittelbaren Eindruck der Dinge mit voller Kraft auf uns wirken. Die Hauptsache aber ist, daß der hier erfolgende Bruch mit der nächsten Welt und der landläufigen Wertung der Dinge, daß das Durchschauen der Flüchtigkeit und Nichtigkeit aller dort erreichbaren Erfolge, daß das Gleichgültigwerden dieser ganzen Sphäre für die große Wendung des Lebens, für die durchgreifende Läuterung und Umwandlung unseres Seins unentbehrlich ist, ohne die ein geistiges Leben für uns keine Wahrheit gewinnt. Ein Leben, das nicht diese Erschütterung durchmacht und in der Innerlichkeit seiner Gesinnung immerfort erneuert, ist der Gefahr einer Verflachung und Entseelung nicht gewachsen; eine Bejahung des Willens zum Leben, die nicht eine kräftige Verneinung enthält, rinnt unvermeidlich mit gemeiner Lebensgier und enger Selbstsucht zusammen; ohne wahrhaftige, nicht

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bloß scheinbare Opfer gibt es keine innere Erhöhung, keine geistige Wiedergeburt. Aber das vollauf anerkennen und die Verneinung als ein Hauptstück dem Leben einfügen, heißt noch keineswegs den Pessimismus als die Lösung des Problems und der Weisheit Schluß anerkennen. Um seinen Anspruch darauf zu prüfen, müssen wir ihn möglichst rein fassen, nicht in der Abschwächung und Zwischengestaltung, die er gewöhnlich aufweist, auch bei den Indern. Ein solcher milderer Pessimismus verwirft nicht alles Sein, sondern nur diese besondere Art, nur diese unsere Welt, er läßt ihr gegenüber im Denken und Glauben eine neue Welt entstehen, eine Welt, die sich unserem Dasein gegenüber als bloße Verneinung ausnehmen mag, die aber in sich selbst irgendwelche Bejahung trägt. Solche Wendung zu einer Positivität im G r u n d e stellt aber auch die nächste Welt in ein besseres Licht Sie kann nicht durchaus nichtig und verwerflich sein, wenn sie das höhere, wahrhaftige Sein in ihren Gesichtskreis ziehen und in Mitleid und Aufopferung, in Friedfertigkeit und Entsagung einen Weg zu ihm finden, ja es in eine innere Gegenwart stellen kann. Der Pessimismus selbst erhöht ihren Wert und arbeitet seiner eignen Absicht entgegen, wenn er das Denken und Sinnen mit jenem neuen Sein erfüllt und dem Streben die Richtung dahin gibt. So ist bei diesem Lebenstypus der Verzicht kein völliger, der Gegensatz von Gut und Böse wird nicht durch eine Preisgebung des Guten gelöst, sondern nur noch schroffer gespannt Eine völlig einfache Lösung bietet nur der absolute Pessimismus mit seiner Aufhebung aller Vernunft, mit seinem Abschneiden aller Ausflüchte. Hier gibt es gar nichts Wertvolles, alle angebliche Weisheit und Einsicht, alles Gute und Edle verschwindet als Lug und Trug, und es bleibt nach dem Einsturz aller Ideale nur eine einzige große Leere, nur die Ruhe des Grabes. Die Bewegung des menschlichen Lebenskreises zur Geistigkeit muß hier mit allem, was sie an eigentümlichen Größen und Gütern aufbringt, als eine bloße Verirrung erscheinen, die an der Härte der Erfahrung zusammenbrechen muß. Sofern hier überhaupt eine Lebensweisheit möglich ist, kann sie nur die Einstellung alles Strebens, die Abstumpfung gegen Lust und Unlust, eine Ablösung von allen Zusammenhängen empfehlen. Alle Liebe ist hier nicht mehr als eine Illusion und eine Verstrickung in Leid. Solche Stimmungen gehen in breiten Wogen durch die Mensch-

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heit und beherrschen zeitweilig die Überzeugung. Aber zu einem festen Lebensganzen können sie sich nicht verdichten, ohne daß starke Widersprüche in ihnen hervortreten, und daß ein tieferes Wesen des Menschen sich gegen solche Selbstvernichtung aufbäumt. — Einen inneren Widerspruch bildet es zunächst, die Schwere des Leides, die Schmerzlichkeit des Verlustes hervorzukehren und darüber zu vergessen, daß Leid und Verlust, namentlich als innere Erlebnisse, immer auf positive Güter zurückweisen, ja daß sie mit der Tiefe ihrer Empfindung die Größe dieser Güter indirekt bezeugen. Hätte das Leben nicht einen positiven Kern, so könnte das Leid nun und nimmer so gewaltig werden. Denn es ist ein Unding, den Verlust von etwas schwer zu nehmen, dessen Besitz nicht das Mindeste wert war; bestehen keine Güter, so kann auch die Entbehrung kein Leid sein. So gewiß das Böse mehr als eine Hemmung und Minderung des Guten bedeutet, so gewiß es in Schmerz und Bosheit eine Selbständigkeit erlangt, immer weist es auf ein, wenn auch weiter zurückliegendes und zunächst verborgenes Gutes. Die Höhe des körperlichen und geistigen Schmerzes wächst mit der Feinheit der Organisation; es gäbe keine Schuld ohne eine Freiheit des Handelns und eine sittliche Verantwortlichkeit; keine Schranke kann zur Einengung werden, wenn nicht von innen her eine Bewegung darüber hinaustreibt. Gewiß wird der Verlust gewöhnlich stärker empfunden als der Besitz, und oft ermessen wir erst im Verlust den Wert des früheren Besitzes; das Übergewicht des Leides wäre daher entschieden, wenn der Mensch in die Empfindung ganz aufginge. Aber daß er das nicht tut oder doch nicht zu tun braucht, das bedarf nach der Untersuchungen der früheren Abschnitte keiner Erörterung; wir sahen, daß uns eine Wendung zur Tätigkeit und damit eine Umkehrung des Lebens offen steht; von da aus müssen wir es dem Pessimismus zum Vorwurf machen, daß er den Menschen auf der niederen Stufe festhält und seine geistige Art an die Empfindung anschmiedet, statt sie zu männlicher Selbsttätigkeit, zu innerer Aneignung der schaffenden Kräfte, zu einem Aufsich nehmen des Weitprozesses anzutreiben. Je mehr die Tätigkeit sich in sich selbst befestigt, desto mehr kann sie dem Leid eine positive Seite abgewinnen, desto mehr in ihm nicht bloß die Hemmung, sondern auch eine Freilegung des Guten erblicken und erleben. In diesem Sinne haben oft christliche Denker das »Selig sind die da Leid tragen" verstanden.

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Der Pessimismus schroffer Gestaltung mag solche Erwägungen ablehnen und sich auf den Standpunkt absoluter Verneinung zurückziehen. Aber vermag er sich auf ihm zu halten ohne mit der inneren Erfahrung des Menschen, mit dem Kern seiner Natur in Widerspruch zu geraten? Gerade die Erhebung der Verneinung zum Prinzip, gerade der Versuch, aller Vernunft zu entsagen, läßt die Unmöglichkeit des Verzichtes deutlich empfinden und zeigt mit überzeugender Kraft die Unverdrängbarkeit der Vernunft aus der Wurzel unseres Wesens. Der Mensch kann wohl für sich allein, er kann nicht für das Ganze der Menschheit und der Geisteswelt verzichten; er kann sein subjektives Glück, er kann nicht die Geistigkeit seines Wesens preisgeben. Das Verlangen nach Leben und Sein ist nicht bloß physischer, sondern auch metaphysischer Art. Es handelt sich, wie wir sahen, nicht bloß darum, die punktuelle Existenz zu behaupten und ihr Wohlbefinden zu fördern, sondern darum, den Geistesprozeß, der auch in uns aufstrebt, zu ergreifen und weiterzuführen, ihn sowohl in seiner allgemeinen Art an dieser Stelle zu beleben, als ihm hier eine eigentümliche Gestalt zu geben. Das ist zugleich ein Mitarbeiten am Bau der Welten und ein Kampf um die eigne Seele; das ganze Leben des Menschen verwandelt sich damit in eine Aufgabe, die nicht seine eigne Willkür, sondern eine innere Notwendigkeit seines geistigen Wesens, seine Zugehörigkeit zu einer unsichtbaren Ordnung der Dinge stellt; in dieser Bewegung wird nicht die anfängliche, naturhafte Art des Menschen nur weitergeführt und angenehm beschäftigt, sondern es erfolgt eine eingreifende Gegenwirkung, schwere Opfer werden auferlegt, eine völlige Umwandlung verlangt, das alles ein deutliches Zeichen dafür, daß hinter jener Bewegung mehr steckt als eine gemeines Glücksverlangen und eine selbstische Überhebung des Menschen. Jene Tiefe aber aus dem Gemenge des ersten Befundes zu selbständigem Wirken hervorzutreiben, dafür scheint die Erschütterung durch Not und Leid unentbehrlich, indem sie zuerst das Leben in einen Kampf um ein geistiges Sein verwandelt. Mag das Feindliche die Welt zerstören, die zu Anfang das Denken und Sinnen gänzlich erfüllt, die Bewegung verläuft nicht in das reine Nichts, sie treibt zu einer neuen Welt; das alte Ich mag untergehen, ein geistiges Selbst hebt sich dafür hervor, die Bedrängung des niederen Lebenstriebes macht das Beharren eines höheren um so offenbarer;

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eben in der Entsagung wird deutlich, daß der tiefste Zug des Lebens nicht mit dem Drängen nach selbstischem Glück zusammenfällt, daß eine Selbstbehauptung in vollem Gegensatz zu niedriger Lebensgier möglich ist, und daß sie nicht eine bloße Privatangelegenheit des Menschen bedeutet. Mit der Anerkennung dessen verschwindet nicht die Tatsächlichkeit, wohl aber die Vorherrschaft des Bösen; das Menschenwesen gewinnt eine innere Überlegenheit über die Sphäre der Verwicklung, aus allen Hemmungen und Einbußen entsteht als etwas Positives die Persönlichkeit; indem sie immer von neuem eine Gegenwirkung gegen das Feindliche aufzunehmen und sich immer mehr in sich selbst zu vertiefen vermag, erschließt sie eine neue Welt jenseits der Konflikte und macht sie die alte Welt mehr und mehr zu einer Außenwelt, zur bloßen Umgebung des Lebens. In dem Zweifel, in der peinigenden Ungewißheit, ob nicht all die unsägliche Mühe und Arbeit vergeblich sei, lag ein Hauptantrieb zum Pessimismus; er wird ihm durch nichts sicherer entwunden, als durch das Leid selbst mit dem Ernst seiner Kämpfe und der Tiefe seiner Wandlungen. Für Schein und Traum läßt sich das Leben erklären, so lange die Bewegung an der Oberfläche haftet und in ihrem Spiel nichts findet, was jene Mühe lohnt; seine Wesenhaftigkeit wird unangreifbar, sobald die ungeheuren Widerstände die letzte Tiefe aufwühlen und die Kräfte des Grundes hervortreiben. Das alles liegt freilich jenseits der Sphäre der Beweise, jenseits aller räsonnierenden Begründung. Aber selbst bei der wissenschaftlichen Forschung erreicht die Arbeit endlich einen Punkt, wo alle Beweise in eine axiomatische Einsicht einmünden; um so weniger kann es Bedenken erregen, das Ganze des Lebens auf eine Tatsache axiomatischer Art zu gründen, anzuerkennen, daß schließlich alle Probleme auf das eine Problem einer positiven oder negativen Stellung zum Leben und zur Wirklichkeit führen. Dort ein Ergreifen der Aufgabe als einer eignen Angelegenheit und ein freudiges Eintreten in den Kampf mit all seiner Verwicklung, hier ein Ablehnen der Mühen und ein sich fremd zu den Dingen Verhalten; dort Liebe, Glaube und Arbeit, hier Kälte, Unglaube und Räsonnement; dort ein williges Aufsichnehmen des Leides, weil aus ihm Liebe hervorzugehen vermag, hier ein Einstellen der Liebe, um nur ja nicht in Leid zu geraten. Da es kein Drittes, da es keine höhere Instanz gibt, vor der die Gegner ihren Streit ausfechten

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könnten, so stehen wir hier vor einem fundamentalen Entweder — Oder, vor einer einzigen wesenbegründenden und lebenbestimmenden Tat. Die Entscheidung liegt dann nicht mehr bei verstandesmäßigen Beweisen, sondern bei Zeugnissen des Geistes und der Kraft. Diese aber sprechen nicht zugunsten des Pessimismus. Denn wenn es seine Art ist, die Bewegung des Lebens mehr von außenher zu betrachten, als sie tätig mitzumachen, sie wie ein fremdes Werk sich gegenüberzustellen, statt sie als eignes anzuerkennen, bei dem gegebenen Bestände endgültig abzuschließen, alles innere Aufstreben, alles Hervorbrechen neuer Kräfte, alle wesentlichen Wandlungen und Erhöhungen hingegen abzuschneiden, so kann er nichts fördern und wecken, so muß er alle Liebe vernichten, da diese positive Werte voraussetzt und diese Werte unermeßlich steigert, so muß er überall lähmend, niederdrückend, ertötend wirken. Wo es zum Kern der Lebensweisheit wird, die Spannung herabzumindern, den Menschen und seine ganze Welt als gleichgültig zu nehmen, da kann nichts Großes keimen und reifen. Ist doch das Größte menschlicher Leistung daraus erwachsen, daß in Glauben und Vertrauen Unmögliches als möglich gesetzt und durch schaffende Tat zur Wirklichkeit geführt wurde; während da, wo ein Unglaube des Wesens ein Aufquellen neuen Lebens hemmt, alle Regung ins Kleine und Flache auslaufen muß. Wenn aber dann der Mensch mit allem, was er hat und ist, den feindlichen Mächten unterliegt, so hat ihn nicht ein unabwendbares Schicksal dazu verdammt, sondern er selbst hat sich verdammt, indem er sich nicht zum Mute reinen Lebens erhob. Was immer daher jene Philosophie der Entsagung mit ihrer Schärfung des Nein bedeuten mag, nur so weit kann es zur Förderung dienen, als das Nein in ein Ja einmündet und ihm dient; der Pessimismus hat ein gutes Recht nur als Stück einer weiteren Überzeugung, einer Bewegung, die über ihn hinausgeht Wie die absolute Negation das Leben verflacht und verflüchtigt, so macht sie uns auch wehrlos gegen die Abarten eines echten Pessimismus, die der Markt der Durchschnittskultur in reicher Fülle aufweist. Hier gewahren wir einen professionellen und deklamatorischen Pessimismus, der das Problem der Vernunft unseres Daseins wie eine Schulthese mit Lust und Behagen verhandelt, seinen Witz und Scharfsinn daran übt und die ganze Kunst seiner Rhetorik dafür aufbietet, die Leiden des Daseins möglichst grell erscheinen zu lassen;

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Der Kampf um die Weltmacht des Geisteslebens

wir gewahren ferner einen Pessimismus der Eitelkeit, bei dem die Aufweisung der Torheit und Schlechtigkeit anderer vornehmlich die Überlegenheit des eignen Urteils und des eignen Geschmacks ins Licht setzen soll, und der aller Nichtigkeit gegenüber wenigstens in dem Beobachter selbst Ein Wesen höherer Art anerkennt; wir gewahren endlich einen verbissenen und verärgerten Pessimismus, der hinter allem Großen Kleines, hinter allem Edlen Gemeines wittert, es schadenfroh aufstöbert und dem Menschen überall die Freude am Guten und Schönen vergällen möchte. Mit solchen pathologischen Erscheinungen hat der echtphilosophische Pessimismus unmittelbar nichts zu tun. Aber wie er sie mit seinen Mitteln überwinden will, ist nicht zu ersehen; auch zeigen sie deutlich, daß die Verneinung des Lebens ebenso wenig gegen eine Verzerrung durch menschliche Kleinheit geschützt ist als die Bejahung, daß der Pessimismus ebenso flach werden kann als der Optimismus.

So läßt uns weder der eine noch der andere Weg der schweren Verwicklung entrinnen. Wohl widerlegen der Optimismus und der Pessimismus einander gegenseitig, nicht aber kann einer von ihnen den anderen gänzlich verdrängen und allein sich selber behaupten. Ja es kann keine Richtung das Ganze sein wollen, ohne daß das Leben erstarrt und verflacht; nur der Gegensatz scheint es wach zu erhalten. — Wie aber unser Leben den Gegensatz umspannen und den Widerspruch überwinden könne, das ist bis jetzt noch nicht aufgehellt; was hier und da an Aussicht darauf erschien, das müßte viel weiter verfolgt und viel festeren Zusammenhängen eingefügt werden, um über den Zwiespalt hinauszuführen. So wie sich die Sache bis jetzt ausnimmt, bleibt die Lage ungeklärt und das Leben im eignen Bestände gespalten. Der Vernunft gibt es zu viel, als daß wir völlig verzichten, der Unvernunft zu viel, als daß wir freudig bejahen könnten; eine Tiefe der Dinge wurde ersichtlich, aber zur vollen Wirklichkeit gelangte sie nicht; die Geisteswelt mit ihren Gütern will nicht verschwinden, aber für uns Menschen behält sie eine gespenstische Art; so kann sie das Feindliche von dem Platz, den sie selbst fordern muß, nicht vertreiben. Daher bleibt die Stimmung geteilt und das Handeln gelähmt, zu Großem scheinen wir berufen, aber nicht mit der Kraft der Ausführung versehen; die Lösungen waren den Problemen bei weitem nicht gewachsen.

Begründung

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So verbietet sich ein Abschluß an dieser Stelle, es gilt weiter und weiter nach anderen Lösungen, es gilt nach einer Wendung zu suchen, die nicht den Zwiespalt aufhebt, wohl aber uns über seine Macht hinaushebt.

3. Der Weg der Rettung. a. Begründung.

Wenn im Weltprozeß ein Aufsteigen zur Vernunft, die Eröffnung eines geistigen Reiches mit neuen Größen und Gütern ebenso unbestreitbar ist, wie die Tatsache eines unüberwindlichen Widerstandes, einer lähmenden Hemmung, und wenn damit unser ganzes Leben in einen einzigen Widerspruch ausläuft, so bietet sich kein anderer Weg zur Rettung als eine Erhebung über jene Region des Konfliktes; die Welt des Zusammenstoßes darf nicht die einzige und letzte bleiben, die Hemmung nicht die ganze Tiefe der Wirklichkeit erreichen, wenn sich irgend Mut und Kraft zum Leben erhalten sollen. So entsteht mit zwingender Notwendigkeit die Frage, ob sich nicht ein Wirken der Vernunft jenseits der Verwicklung erschließt, und ob wir uns nicht mit dem innersten Kern unseres Wesens in solches Wirken versetzen und aus seiner Kraft den Widerspruch angreifen können. Diese neue Ordnung würde von der Breite des Daseins aus als etwas Jenseitiges, als eine Überwelt erscheinen, in Wahrheit würde sie vielmehr den Begriff der Wirklichkeit erweitern, innerhalb des neuen Raumes aber für sich die erste Stelle verlangen, die übrige Welt hingegen als etwas in einer besonderen Lage und unter besonderen Ordnungen befindliches in die zweite Stelle drängen. Volle Befriedigung könnte aber solche neue Ordnung nur geben, wenn sie selbst die letzte und schlechthin ursprüngliche bedeutete und damit aller Hemmung und Entstellung überlegen wäre; nur wenn wir mit ihr zu einer absoluten Macht und Wahrheit, zu einer reinen Vernunft gelangen, sind wir sicher, nicht wieder in alle Verwicklungen zurückzusinken, denen wir entgehen wollten. Daher wächst das Verlangen nach einer überlegenen Vernunft sofort zu dem nach einer absoluten, einer in sich vollendeten und alles beherrschenden Vernunft. Das Streben, diesen letzten Punkt zu ergreifen und ihm das menschE u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

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Begründung

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So verbietet sich ein Abschluß an dieser Stelle, es gilt weiter und weiter nach anderen Lösungen, es gilt nach einer Wendung zu suchen, die nicht den Zwiespalt aufhebt, wohl aber uns über seine Macht hinaushebt.

3. Der Weg der Rettung. a. Begründung.

Wenn im Weltprozeß ein Aufsteigen zur Vernunft, die Eröffnung eines geistigen Reiches mit neuen Größen und Gütern ebenso unbestreitbar ist, wie die Tatsache eines unüberwindlichen Widerstandes, einer lähmenden Hemmung, und wenn damit unser ganzes Leben in einen einzigen Widerspruch ausläuft, so bietet sich kein anderer Weg zur Rettung als eine Erhebung über jene Region des Konfliktes; die Welt des Zusammenstoßes darf nicht die einzige und letzte bleiben, die Hemmung nicht die ganze Tiefe der Wirklichkeit erreichen, wenn sich irgend Mut und Kraft zum Leben erhalten sollen. So entsteht mit zwingender Notwendigkeit die Frage, ob sich nicht ein Wirken der Vernunft jenseits der Verwicklung erschließt, und ob wir uns nicht mit dem innersten Kern unseres Wesens in solches Wirken versetzen und aus seiner Kraft den Widerspruch angreifen können. Diese neue Ordnung würde von der Breite des Daseins aus als etwas Jenseitiges, als eine Überwelt erscheinen, in Wahrheit würde sie vielmehr den Begriff der Wirklichkeit erweitern, innerhalb des neuen Raumes aber für sich die erste Stelle verlangen, die übrige Welt hingegen als etwas in einer besonderen Lage und unter besonderen Ordnungen befindliches in die zweite Stelle drängen. Volle Befriedigung könnte aber solche neue Ordnung nur geben, wenn sie selbst die letzte und schlechthin ursprüngliche bedeutete und damit aller Hemmung und Entstellung überlegen wäre; nur wenn wir mit ihr zu einer absoluten Macht und Wahrheit, zu einer reinen Vernunft gelangen, sind wir sicher, nicht wieder in alle Verwicklungen zurückzusinken, denen wir entgehen wollten. Daher wächst das Verlangen nach einer überlegenen Vernunft sofort zu dem nach einer absoluten, einer in sich vollendeten und alles beherrschenden Vernunft. Das Streben, diesen letzten Punkt zu ergreifen und ihm das menschE u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

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liehe Tun zu verknüpfen, ist die Seele aller Religionen; für unsere Untersuchung hat das Problem einen weiteren Sinn, sofern hier die Bewegung des Ganzen voransteht, während die Religionen von dem Besonderen der neuen Ordnung auszugehen pflegen. Die Frage eines Reiches der reinen Vernunft, einer widerspruchsfreien Welt, ist vor allem eine Frage der Tatsächlichkeit; nun und nimmer genügt eine bloße Ablösung und Entgegenhaltung in unseren Begriffen. Ein bloßes Sichhinausschwingen des Denkens über die Welt, um alsbald zu ihr zurückzukehren, ein dialektisches Spiel zwischen Immanenz und Transzendenz, wie es die Hegeische Philosophie oft hervorgebracht hat, mag für den Augenblick blenden, muß aber bald als nichtig befunden werden. Wie nahe hier der Umschlag von der vermeintlichen Wahrheit in ein Gewebe bloßer Illusionen liegt, das zeigt die Geschichte der Hegeischen Philosophie selbst in der Wendung zu einem verneinenden Radikalismus deutlich genug. Es handelt sich also um die Eröffnung einer neuen, weltumfassenden Tatsächlichkeit; reale Mächte sollen eintreten, ein neuer Standort, ein neuer Inhalt des Lebens gewonnen werden, eine klare Entscheidung zwischen dem Ja und dem Nein ist hier nicht zu vermeiden. Das Ja ergibt mit Notwendigkeit eine gewisse Zweiheit der Welt und des Lebens, wenn auch innerhalb einer allumfassenden Wirklichkeit. Aber solche Zweiheit könnte und dürfte uns nicht erschrecken, wenn anders wir nicht die Welt gemäß unseren Wünschen zurechtlegen, sondern ihren wirklichen Bestand offen und ehrlich anerkennen wollen. Aber jede Tatsache will bewiesen oder vielmehr aufgewiesen sein, der Aufweis einer so umfassenden und so umwälzenden Tatsache, wie sie hier in Frage steht, hat aber gewaltige Schwierigkeiten, denen gegenüber alle Hülfen versagen, welche sich für die Ermittlung von Tatsachen innerhalb unserer Erfahrung darbieten. Selbst der Standort, von dem aus sich der Beweis einer neuen Welt unternehmen läßt, ist erst zu erringen, und es hat die Erfahrung der geistigen Arbeit hier manche Versuche als unzulänglich erwiesen, die sich als die nächsten empfahlen. Der Beweis ist nicht von der uns umgebenden Welt her zu führen, sei es der Natur, sei es der Geschichte. Denn diese mit all ihren Widersprüchen sind viel zu verworren und vieldeutig, um von sich aus die entscheidende Wendung zu erzwingen; auch ist was hier an Vernunft aufleuchtet, viel zu gebunden und eingeschränkt, um uns

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einer absoluten Macht und Güte vergewissern zu können. Den Gipfel der Absolutheit erklimmt die ontologische Spekulation, das Grübeln über Einheit und Ewigkeit, aber auf ihm droht aller lebendige Inhalt zu verschwinden; auch wird jene Spekulation in aller Leistung mehr den Weltbegriff vertiefen als eine wesentlich neue Ordnung eröffnen. — Das Scheitern der Versuche beim Makrokosmos legte eine Wendung zum Mikrokosmos nahe, das kosmologische Verfahren wich einem psychologischen. Die eigne, innere Erfahrung des Menschen sollte Tatsachen aufweisen, welche jene überlegene Vernunft bezeugen und durch ihre Entwicklung sie uns näher bringen. Eine größere Frische und Unmittelbarkeit des Erlebens ist hier unbestreitbar, gegenüber den blassen Umrissen aller Entwürfe von der Welt her zeigt dies Erleben eine unvergleichlich kräftigere Farbe. Aber solange das Seelenleben sich auf seine Besonderheit einschränkt, die große Welt liegen läßt und zugleich sich an die einzelnen Individuen verstreut, ist es für die Grundlegung einer neuen Welt viel zu schwankend und schwach, über seine eigne Zuständlichkeit kann es schwerlich hinausführen. Auch bleibt dies seelische Leben leicht viel zu abhängig vom gegebenen Befunde, leicht fließen der naturhafte Glückstrieb und die kleinmenschliche Denkart in eben die Welt ein, die über sie hinausheben sollte. Der einzige Standort, der weiteres versuchen läßt, ist durch den Gesamtverlauf der früheren Abschnitte dargetan und gerechtfertigt worden; es ist jene noologische Behandlung, die weder die Welt noch die Seele zum Ausgang nimmt, sondern das Geistesleben, das den Gegensatz umspannt und sich nicht von draußen her auf eine Welt bezieht, sondern sich innerlich selbst zu einer Welt erweitert. Freilich gilt dies Verfahren und verheißt es einen Weg zur Wahrheit nur als Ausdruck einer Grundüberzeugung, die jenseits aller bloß methodologischen Erwägung liegt: die Erfahrungen des Geisteslebens sind nur Erschließungen der Tiefe der Wirklichkeit, wenn das Geistesleben selbst eine zentrale Stellung hat, wenn in der Erhebung zu ihm eine reale Bewegung des Weltprozesses, ein Selbständigwerden und eine Selbstvollendung der Wirklichkeit anerkannt wird. Nur dann kann die Teilnahme am Geistesleben den Menschen aus der Mitte des Stromes heraus in die reinen Ursprünge versetzen und ihn eine Wahrheit echter Art gewinnen lassen. Wer das noologische Verfahren und seine Grundlage ablehnt, der begibt sich jeder Möglichkeit, auf wissenschaftlichem Wege zu einer Welt der reinen 15*

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Vernunft vorzudringen und dadurch das menschliche Sein dem zerstörenden Widerspruch zu entziehen. Wie das bezeichnete Verfahren unsere Frage zu beantworten vermag, das ist nun näher zu erwägen. Dabei haben die Erlebnisse und Erfahrungen des geistigen Prozesses selbst zu sprechen, sie werden sprechen, wenn in dem Ganzen des Lebens eine innere Abstufung bemerklich wird, wenn sich eine geistige Betätigung, die den Konflikt hinter sich hat, genügend von der in ihn verwickelten scheidet, wenn sich damit die Vernunft nicht nur als strebend und kämpfend, sondern auch als überwindend und vollendend erweist. Gibt es eine Art geistigen Lebens, welche die Tatsache der Unvernunft vollauf zu würdigen und sich gegenwärtig zu halten vermag, ja welche sich immer darauf zurückbezieht, und die doch nicht unter ihrem Banne verbleibt, vielmehr neues zu schaffen und dies Neue zu einem Ganzen zusammenzuschließen vermag, das ist die Frage, welche hier zum Mittelpunkt der Untersuchung wird. Nun haben schon die früheren Abschnitte sich so bemüht, das Geistesleben als Ganzes zu erfassen, daß wir an dieser Stelle nicht etwas völlig neues, plötzliches, überraschendes erwarten können; schon in dem Früheren muß das, wonach wir uns jetzt umsehen, irgend enthalten sein. Aber dort war die Frage noch nicht nach der Richtung gewandt, in der die Erfahrung der schweren Verwicklung uns suchen heißt, zwischen dem, was vor oder nach dieser Erfahrung liegt, war noch nicht mit genügender Deutlichkeit geschieden; so kann es sein, daß, was wir jetzt suchen, schon dort vorhanden war, aber noch mit anderem vermengt, daher ohne scharfe Ausprägung und ohne volle Aufbietung seines Vermögens. Sollte nun aber eine Scheidung möglich und notwendig werden, so mag sich das Neue zum Ganzen zusammenfassen und damit auch für uns als etwas neues wirken, es mag eine innere Bewegung des Lebens von einer grundlegenden und kämpfenden zu einer überwindenden Geistigkeit erkennbar werden, es mögen sich neue Tatsachen in Fülle erschließen. Denn es ist ein roher Materialismus der Methode, eine Bereicherung der Tatsächlichkeit nur von außen her zu erwarten, da doch die bedeutendsten Fortschritte stets von innen gekommen sind, indem schärfer zerlegt wurde, was zunächst einfach und gleichartig dünkte, indem Bewegungen entdeckt wurden, wo zunächst volle Ruhe zu walten schien. Das aber muß vor allem von den Prinzipienfragen des Geisteslebens gelten.

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Es ist aber bei dieser Frage der Scheidung das Augenmerk vornehmlich darauf zu richten, ob jenseits der Hemmung und Erschütterung ein selbständiges und selbstgenugsames Geistesleben aufzukommen vermag. Denn das war ja der Hauptgrund der Verwicklung, daß das Geistesleben wohl eine Selbsttätigkeit aufnehmen, daß es aber für den Menschen nicht zu einem vollen Abschluß und ausgeprägten Charakter gelangen konnte, ohne sich eines entgegenstehenden Daseins zu bemächtigen und sich in seiner Aneignung weiterzubilden. Das Fremde aber, auf das wir damit angewiesen wurden, zeigte eine weit größere Macht und Zähigkeit als zu Anfang erwartet wurde; indem es sich starr behauptete und die aufsteigende Bewegung festhielt, entstand jene schwere Verwicklung, über die wir hinausstreben. Nur dann läßt sich eine Befreiung erhoffen, wenn das Geistesleben jenseits des Konfliktes in sich selbst einen Abschluß findet, wenn die neue Welt eine volle Wirklichkeit in sich trägt. So weit die Frage, nun handelt es sich um die Antwort. Wir stehen hier zu einem entschiedenen Ja. Wo immer jene Analyse des geistigen Innenlebens ihr Recht erhält, da muß nicht bloß eine begründende, nicht bloß eine kämpfende, sondern auch eine überwindende Geistigkeit zur Anerkennung gelangen. Die Erschütterung, welche so tief zurückgreift und unser Geistesleben zwischen Sein und Nichtsein stellt, endet nicht mit gänzlicher Vernichtung, mit der Auflösung in das völlige Nichts, sondern sie läßt eine neue Art des Lebens hervorgehen; das Geistesleben, aus dem Konflikt auf sich selbst zurückgeworfen, bleibt nicht gelähmt, machtlos und unproduktiv, sondern es vermag ein neues Schaffen aufzubringen; gegenüber der Welt des Kampfes und der Vermengung erfolgt eine Wiedergeburt des Lebens und Seins. Dies neue Leben fließt aus der Entfaltung der zu sich selbst zurückgekehrten Innerlichkeit, aus einer tätigen Erweisung des vollen Beisichselbstseins des Geistes, hier beginnt eine in sich selbst konzentrierte Innerlichkeit einen eignen Inhalt zu zeigen und ihn gegen alles Fremde und Feindliche durchzusetzen. Dies Schaffen umspannt nicht gleichmäßig alle Weite des Seins, sondern es bildet sich ein besonderes Reich als die Seele des Ganzen; in diesem soll die Vernunft zu vollem Siege gelangen. Es wird sich aber die neue Welt sowohl im unmittelbaren Leben des Einzelnen als in großen Bildungen der Geschichte zu

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bewähren haben; hier wie da muß sie sowohl einen neuen Ausgangspunkt der Bewegung und eine Zusammenfassung zum Ganzen als eine Entfaltung mannigfacher Kräfte und Werte bieten; sie wird nicht bloß den Inhalt, sie wird auch die Art des Lebens verändern, sofern die Tätigkeit nun nicht mehr in Einem Zuge oder nach Einer Formel verläuft, sondern aus schwerer Erschütterung neue Anfänge hervorgehen und das Leben aus einer kontinuierlichen Reihe in ein Auf- und Abwogen innerer Bildungen verwandeln. So erscheint es zunächst im unmittelbaren Leben des Einzelnen und in der allgemeinen Art des geistigen Prozesses. Jenseits aller Aufregung und Verwicklung, aller Hemmung und Erschütterung entsteht ein Reich bei sich selbst befindlichen Lebens und erweist sich in der Bildung einer weltüberlegenen Persönlichkeit. Es kann ein solches Leben aber nur dadurch entstehen, daß im Grunde unseres Wesens sich ein direktes Verhältnis zum absoluten Leben eröffnet und ein Verhältnis von Ganzem zu Ganzem entwickelt. Mag ein solches Leben wie etwas jenseitiges über der Wirklichkeit zu schweben scheinen, es behauptet mit gutem Recht, die Seele der Wirklichkeit zu bilden, es muß alles andere Leben, dem die direkte Beziehung auf das absolute Leben fehlt, zu einer bloßen Umgebung herabsetzen. Daß der Mensch in diesem neuen Leben nicht ausschließlich seine Stellung nehmen und das Reich seiner Arbeit nicht unmittelbar daran anschließen kann, das wird uns später zu beschäftigen haben ; daß wir überhaupt in ihm Stellung zu nehmen und von ihm aus die Wirklichkeit zu prüfen vermögen, das ergibt eingreifende Wandlungen unseres ganzen Seins. Wie das Geistesleben erst mit jener Wendung eine volle Ursprünglichkeit gewinnt, die ihm innerhalb der Welt verkümmert wurde, so erhalten erst durch die hier erfolgende Verinnerlichung die ihm unentbehrlichen Größen eines selbständigen Handelns und einer vollen Freiheit einen festen Grund und werden allen Hemmungen von innen und außen gewachsen. Sonst stellt die Welt des Menschen das Handeln unter den Zwang mechanischer Kausalität und gibt der Entwicklung eine solche Gestalt, daß sie alle Selbsttätigkeit zerstört. Denn wo eine einzige Verkettung den ganzen Lauf der Zeiten umspannt und das Vorhandene alles Spätere als notwendige Folge aus sich hervortreibt, da gibt es kein eignes Handeln, da gibt es zugleich keine echte Geschichte und auch keine Gegenwart. Entwicklung und Geschichte, Größen, welche die Ver-

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worrenheit des heutigen Denkens oft als gleichbedeutend nimmt, sind in Wahrheit schroffe Gegensätze: wo bloße Entwicklung, da ist keine Geschichte, wo echte Geschichte, da ist keine Entwicklung. Eine Geschichte aber und zugleich eine Gegenwart eröffnet sich uns mit Sicherheit erst durch die Möglichkeit, von der Weltarbeit auf ein ursprünglicheres Leben zurückzugehen, hier die scheinbar erledigte Frage von neuem aufzunehmen und von hier dem in Mechanismus und Routine verfallenden Dasein frische Kräfte zuzuführen. So gewiß wir ein eignes Handeln und eine lebendige Gegenwart fordern, so gewiß verlangen und bejahen wir auch eine neue Art des Seins, eine überlegene und überwindende Geistigkeit. Handeln und Gegenwart aber ruhen auf dem Begriff der Freiheit; auch diesen rettet nur die besondere W e n d u n g , welche er hier erhält.] Wohl enthält das Geistesleben von Haus aus eine Selbsttätigkeit gegenüber aller Bindung durch Kausalität; Freiheit und Ursprünglichkeit sind die G r u n d b e d i n g u n g einer geistigen Welt. Aber in den menschlichen Verhältnissen kam die Freiheit gegen feindliche Mächte nicht auf, Natur und Schicksal wirkten ihr mehr noch von innen als von außen mit solcher Gewalt entgegen, daß sie aufs stärkste verkümmert, ja beinahe erdrückt wurde. Wenn nun jene direkte W e n d u n g zum absoluten Leben eine neue Welt eröffnet und uns zur Entscheidung über das Ganze aufruft, so wird damit wieder ein Platz f ü r die Freiheit gewonnen und ihr ein Recht in der inneren Werkstatt des Lebens gesichert. N u r bei einer solchen Begründung in einer neuen Welt und nur als Entscheidung über das Ganze kann sich die Freiheit behaupten, nicht wo unser ganzes Sein einer gegebenen Welt angehört und alles Handeln ein bloßes Stück ihres Getriebes bildet. Daher m u ß die Freiheit überall zu einem Wahngebilde sinken, wo die Scheidung der Welten und die innere Spannung des Lebens verkannt wird. Wie aber die überwindende Geistigkeit uns allererst eine Freiheit, ein eignes Handeln und eine echte Gegenwart zurückgibt, so läßt sich auch getrost behaupten, daß alle wesentlichen Fortbildungen der geistigen Wirklichkeit, alles vordringende und umwandelnde Schaffen, aus einer Wechselwirkung beider Lebensstufen, einem Hin- und Hergehen von der einen zur anderen, einem Streben nach Verbindung zu einem Gesamtleben entsteht. Der Punkt des Zusammenstoßes bildet die Stelle, wo die tiefsten Quellen des geistigen Schaffens fließen, wo innere Erweiterungen die Schranken unseres

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Seins mehr und mehr zurückschieben und das Unmögliche durchsetzen können. Was so schon der allgemeine Anblick des Lebens erkennen läßt, das bestätigt und befestigt weiter die weltgeschichtliche Bewegung. Hier sind es besonders die Religionen, welche die Macht einer überwindenden Geistigkeit verkünden. Das Hervortreten der Religion als eines besonderen Gebietes ist selbst etwas neues. Denn so gewiß von Haus aus alle Entfaltung geistigen Lebens vom Wirken eines Ganzen getragen wird, so entstand aus der Beziehung darauf kein eigentümliches Leben, solange die Arbeit nicht durch den Widerstand auf das Ganze zurückgeworfen wurde; so blieb die Religion hier ein bloßer Anhang der Kulturarbeit, die Vertiefung dieser war zugleich eine Stärkung des Göttlichen; was durch die ganze Ausdehnung wirkte, bedurfte keiner Verkörperung zu einem besonderen Gebiet. Die selbständige Macht, welche die Religionen gewonnen, und die Fülle von Leben, die sie erschlossen haben, sind beredte Zeugnisse für die Realität einer überwindenden Geistigkeit. W o das religiöse Problem einmal die Menschen und Völker packte, da wurde es ihnen bald zur Seele des Lebens und ließ sie nicht wieder los; selbst wenn sie sich für die Verneinung entschieden, war es doch das Problem des Absoluten, das ihre höchste Leidenschaft entzündete und ihr Innerstes am stärksten hervortrieb. Wie die Einzelnen so prägen auch die Völker ihre Eigentümlichkeit nirgends kräftiger aus als auf diesem Gebiet. Auch verbindet dieselbe Macht, welche die letzte Tiefe der Innerlichkeit aufregt, die Menschen zu großen Gemeinschaften und wird leicht zur Hauptmacht ihres Zusammenseins. Die stärkste Bewegung innerhalb der Welt erzeugte schließlich die Idee einer Überwelt. Dabei weiß sich die Religion mit ihrer unmittelbaren Beziehung auf das absolute Leben aller bloßen Kulturarbeit, die jenes nur durch Vermittlungen ergreift, unvergleichlich überlegen; während sie jene als etwas gleichgültiges behandelt, gibt sie- ihren eignen Inhalt als einen völligen Selbstzweck, als keiner Schätzung von draußen her faßbar, keiner Begründung von draußen bedürftig. Solche Überlegenheit verlangt eine Jenseitigkeit, aber nicht eine inhaltlose Jenseitigkeit, welche die Religion bald hätte ins Leere führen müssen, sondern eine solche, die einen neuen Inhalt des Lebens, eine neue Art grundmenschlichen Seins entfaltet, die Tiefen erschließt, die der Mensch nicht wieder aufgeben kann. Von hier aus erhält auch der Kampf gegen die Religion ein anderes

Ansehen als gewöhnlich. Wenn die Geschichte zusammen mit dem Aufsteigen der Religion auch ein eifriges Widerstreben gegen sie zeigt, und zwar nicht nur gegen die Besonderheit ihrer Gestaltung, sondern auch gegen ihre Gesamtidee, so richtet sich der Angriff, näher betrachtet, meist nur gegen die Ablösung und Isolierung jener neuen Welt, nicht gegen die Verinnerlichung, Erweiterung und Umwandlung des Ganzen, welche sie brachte; von dieser hat unser gemeinsames Geistesleben in der Tat Besitz genommen; ohne die Möglichkeit, sich in ein der Verwicklung überlegenes Reich als in eine sichere Heimat zurückzuziehen und dort aus voller Ursprünglichkeit neue Kräfte zu schöpfen, hätte es sich in den harten Kämpfen und Widerständen schwerlich aufrecht erhalten. Nur jener Rückhalt ergab die Möglichkeit, durchgreifende Erneuerungen zu vollziehen und gegenüber allem Verbrauch und Greisenhaftwerden der Kräfte eine ewige Jugend zu wahren. Nur das läßt auch für das Ganze eine Geschichte entstehen und verwandelt ihre Bewegung aus einer bloßen Leistung für die Kultur in eine innere Erfahrung und Erhöhung, in einen Kampf des Lebens um sein eignes Wesen. Es wird aber die überwindende Geistigkeit, indem sie den Gesamtbegriff der Geschichte bekräftigt, innerhalb seiner eine eigne Art der Geschichte erzeugen, die sich gegen das übrige Vorgehen abgrenzt. Die Eigentümlichkeit dieses Neuen erhellt am deutlichsten aus der veränderten und gehobenen Stellung der Persönlichkeit. Denn auf dem neuen Boden sind es durchweg einzelne Persönlichkeiten, seltene Männer ursprünglichen Lebens, die das Schaffen tragen; nur die Gewalt und die Tiefe ihres Lebenskampfes vermag jene innere Bewegung von Welt zu Welt aufzubringen, vermag von allem Bedingten und Vermittelten auf eine reine Unmittelbarkeit des Geisteslebens zurückzugreifen und ihr deutliche Gestalten wie einen kräftigen Inhalt abzuringen. Diese Persönlichkeiten hätten nie wirken können was sie gewirkt haben, wären sie isolierte Punkte geblieben, hätten sich nicht von ihnen aus Lebenstypen und Lebensmächte gebildet, welche durch Jahrhunderte und Jahrtausende walten und zu gemeinsamem Besitztum der Menschheit werden. Dies Universalwerden des zunächst in einzelnen Persönlichkeiten durchbrechenden Lebens ist selbst eine wichtige Tatsache, es zeigt dieses Leben aller Zufälligkeit und Begrenztheit der bloßen Individualität überlegen, es bildet ein beredtes Zeugnis für die Wirklichkeit, ja Notwendigkeit der neuen Welt. Aber die Persönlichkeiten sinken damit nicht zu

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einem bloßen Mittel und Werkzeug, in ihnen allein gewann das neue Leben volle Gestalt, ward es zu Fleisch und Blut, aus ihnen wirkt es mit überwältigender Klarheit und Kraft; so müssen sie der Gesamtheit gegenwärtig bleiben und ihren Fortgang zu sich zurücklenken, das Weiterstreben selbst wird hier ein Zurückgreifen auf reine Anfänge. Damit ein völlig anderer Anblick der Geschichte, auch eine andere Stellung des Einzelnen zur weltgeschichtlichen Bewegung. Dies neue Leben erscheint, als Ganzes betrachtet, weit unfertiger und zerrissener als die Kulturarbeit, die Ergebnisse verwandeln sich immer wieder in Probleme, und immer von Neuem verlangt das Ganze einen Kampf. Aber die Wirklichkeit des neuen Lebens erschüttert das nicht. Denn nirgends mehr als hier, bei der Erschließung innerster Tiefen, sind die Probleme mit ihrer bewegenden und fortbildenden Kraft sichere Zeugnisse von Tatsachen, ja Tatsachen selbst. Die Wandlungen und Weiterentwicklungen behandelten wir zunächst als Erlebnisse unseres eignen Kreises, nirgends anders als hier können wir das neue Leben ergreifen. Aber die Meinung ist dabei nicht, es auf uns zu beschränken und uns in ihm gegen das All abzusondern; so gewiß wir von dem Seelenleben des bloßen Individuums ein Geistesleben scheiden und ihm eine eigne Erfahrung zuerkennen, so gewiß gilt uns auch jenes neue Leben als unmittelbar einem Weltleben angehörig; den Weltcharakter erhält es nicht nachträglich mit Hilfe künstlicher Schlußfolgerung, sondern es besitzt ihn von vornherein, es hat ihn nur weiter zu klären und deutlicher abzugrenzen. Von Anfang an konnte das Aufkommen des Geisteslebens gegenüber der Natur nicht als ein Werk der zerstreuten Individuen gelten, sie wären gegenüber den überlegenen Weltaufgaben gänzlich verloren; das Unternehmen des Menschen mußte von innen her über das Vermögen des bloßen Punktes hinausgehoben und einem Gesamtleben eingefügt sein, um auch nur als Streben verständlich zu werden; alle späteren Hemmungen und Verwicklungen heben diesen Weltcharakter des Geisteslebens nicht auf. Diesen Charakter muß die Wendung zu einer überwindenden Geistigkeit noch kräftiger hervorkehren und noch stärker zur Empfindung bringen. Denn nunmehr ist das Unvermögen des bloßen Menschen noch unbestreitbarer geworden, sein Gespaltensein durch Widersprüche, seine Ohnmacht gegenüber dunklen Gewalten steht klar vor Augen. Erfolgt trotzdem eine durchgreifende Wendung

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und Erneuerung und bildet sich ein neuer Lebenstypus, so kann das nur als eine neue Eröffnung der Geisteswelt, als ein Schaffen aus einem überlegenen Ganzen, als eine Gegenwirkung seiner gegen die weltbedrohende Unvernunft gelten. Jenes Ganze erweist sich damit in überwindender Tat, es erscheint nun nicht mehr bloß als eine Macht der Grundlegung und der Erhaltung, sondern auch als eine Macht der Rettung und der Erneuerung. Das aber muß das Gesamtbild der Wirklichkeit wesentlich ändern. Der Grundbegriff des Seins wird vertieft, der Kern des Geschehens zurückverlegt. Es erscheint eine Welt lauterer Vernunft jenseits der Welt der Widersprüche, diese ist nicht mehr die letzte und ganze Wirklichkeit, sie wird zu einer besonderen Art des Seins, zu einem Gebiete, wo eine tiefer gegründete und mit ihrer Wurzel in tieferen Gründen verharrende Geistigkeit sich erst aufzuringen und im Kampf gegen feindliche Mächte durchzusetzen hat. Woher dieser Widerstand komme, und ob er schließlich doch einem Vernunftzweck diene, das können wir nun und nimmer ergründen; die Erklärungsversuche führen uns entweder in phantastische Spekulationen, die das Rätsel durch größere Rätsel zu lösen versuchen, oder in die Gefahr einer Abschwächung des Tatbestandes der Unvernunft; augenscheinlich ist hier ein Grenzpunkt, jenseits dessen alles Mühen unfruchtbar wird. So müssen wir uns an die Tatsache halten, daß allem Feindlichen gegenüber schließlich die Vernunft eine Überlegenheit erweist, und daß die Wirkung dessen auch in unser Leben hineinreicht und uns mit ursprünglicher Kraft über die Welt des Zwiespalts hinaushebt. Auch diese Welt aber tritt in ein anderes Licht, wenn das Leben nicht mehr in ihr abschließt, sondern sie ein Ausschnitt eines größeren Ganzen wird; nun verlieren ihre Schranken und Bedingungen die absolute Gültigkeit, nun ergibt sich die Möglichkeit, daß, was hier unfertig bleibt, schließlich doch irgend vollendet wird, daß, was hier bare Unvernunft scheint, in unerforschlichen Zusammenhängen irgendwelche Beziehung zur Vernunft gewinnt. Könnte es nicht zu unserer Erziehung gehören, daß auch solches, was sich schließlich zur Vernunft wenden mag, uns als voller Gegensatz zur Vernunft erscheinen m u ß ? Das sind zunächst bloße Möglichkeiten, ungewisse, sofort in Nebel verschwimmende Aussichten. Aber über den Stand beliebiger Einfälle und leerer Phantasien hebt sie die Tatsache hinaus, daß im Zentrum unseres Leben die Wendung zur überwindenden Geistigkeit eine

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Notwendigkeit der geistigen Selbsterhaltung wird; jene Wendung aber schließt eine neue Welt in sich, alle Unmöglichkeit einer näheren Entwicklung kann nicht die Grundtatsache erschüttern. In diesem Hauptfaktum aber erscheint das neue Leben nicht als etwas fernes und erst zu erhoffendes, sondern als etwas unmittelbar gegenwärtiges und völlig gewisses, es ist kein Jenseits, sondern ein Diesseits. Aber es ist dies nur unter Umkehrung nicht nur des ersten Bildes der Welt, sondern auch der Aufgaben des Lebens, es ist es nur bei Anerkennung der Tatsache, daß wir letzthin nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen leben und sehen.

Alles dies kann die Philosophie nur im allgemeinen Umriß entwerfen, sie kann nur den Rahmen ermitteln, den die nähere Erfahrung des Lebens auszufüllen hat. Diese Aufgabe ergreifen vornehmlich die geschichtlichen Religionen, mit ihrer Begründung durch ursprüngliche Persönlichkeiten und ihrer Entfaltung charakteristischer Lebenstypen suchen sie dem neuen Leben eine volle Wirklichkeit zu sichern. Der Beweis der Wahrheit hat hier seinen Kern und seine Kraft in der Anschaulichkeit und überwältigenden Macht des Lebensprozesses, der bei den schaffenden Persönlichkeiten aus dem direkten Verhältnis zum absoluten Leben entstand; daß dies Verhältnis hier zum allesbeherrschenden Mittelpunkte wurde, daß hier die überwindende Geistigkeit mit der Gewißheit einer unmittelbaren Gegenwart wirkte und zugleich sich zu einer völlig durchgebildeten Art verkörperte, das schien die Grundtatsache allem Zweifel zu entheben und das neue Leben in sichere Bahnen zu leiten. Aber die alleinige Festhaltung dieser Art kann zu hartem Zusammenstoß mit der philosophischen Betrachtung führen; sie führt zu ihm, sobald alles neue Leben an diesen besonderen Punkt gekettet und die gesamte Geschichte lediglich auf ihn bezogen wird. Denn dann wird das Maß zu eng, viel echtes Leben wird entweder ganz ausgeschlossen oder doch unbillig herabgesetzt; auch entsteht die Gefahr, daß an dem Hauptpunkte das Ewige nicht genügend von dem Zeitlichen geschieden wird, und daß dieses die Ansprüche erhebt, die nur jenem zustehen. Damit empfängt die Philosophie die Aufgabe, gegenüber jener drohenden Einengung die allgemeine Tatsache aufrecht zu erhalten, durch die ganze Geschichte eine fortlaufende Erweisung jener überwindenden Geistigkeit zu zeigen,

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auch die Religion bei aller Anerkennung des Geschichtlichen von der Zufälligkeit des Geschichtlichen zu befreien. Sie wird darauf bestehen müssen, daß alle Eigentümlichkeit, so neu und unvergleichlich sie sein mag, doch von der allgemeinen Tatsache umfaßt bleibe; ferner aber wird sie insofern auch eine positive Schätzung der verschiedenen geschichtlichen Bildungen vollziehen, als sie zu prüfen vermag, welche von ihnen am meisten das Ganze jenes Lebensprozesses aufnimmt und weiterführt. Dabei wird sie die Religionen nicht als fertige Daten verstehen, die abgeschlossen hinter uns liegen, sondern als lebendige Typen und Mächte, die sich immer neu zu gestalten und immer reiner auszuprägen h a b e n , die nicht minder Aufgaben als Tatsachen bedeuten. — F ü r jene Schätzung kommt besonders in Betracht, ob sowohl die positive als die negative Seite des Lebens zur Entwicklung gelangt, ob die H e m m u n g , das Leid, die Verkehrung voll gewürdigt und zugleich aller bloß naturhafte Lebensdrang gebrochen wird, ob andererseits die Bewegung nicht in der bloßen Verneinung stecken bleibt, sondern sich aus der Erschütterung mit aufbauender Kraft ein neues Leben erhebt. Die drei Weltreligionen, der Buddhismus, das Christentum, der Mohammedanismus, treten bei dieser Frage deutlich auseinander: das Christentum aber darf sich hier entschieden als die Spitze fühlen. Denn dem Mohammedanismus fehlt zu sehr die innere Erschütterung und zugleich die Erhebung über die bloße Natur; der Buddhismus vollzieht die Verneinung so gründlich wie möglich, aber die Bejahung kommt nicht zur entsprechenden Kraft; indem das Christentum — in jenem Sinne als fortzeugendes Leben verstanden — beide Seiten gleichmäßig umspannt, vermag es die stärkste innere Bewegung zu erwecken und das Verlangen nach einer überwindenden Geistigkeit zu führen.

b. Auseinandersetzung mit dem Zweifel. Die neue Wirklichkeit bedarf offenbar einer weiteren Klärung und Entwicklung, aber diese Aufgabe können wir nicht angreifen, ohne uns zuvor mit dem Zweifel auseinanderzusetzen, der sich gegen das Ganze erhebt und seine Wahrheit bedroht. Gewiß hat er guten Grund, der neuen Wirklichkeit mangelt f ü r unseren Blick sowohl in der Erweisung nach außen als in der Durchbildung bei sich selbst so viel, daß die Frage sehr begreiflich ist, ob sie sich

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überhaupt zu halten vermag. Die Umwälzung, welche erfolgen sollte, zeigt keinerlei sichtbare Wirkungen in unserer Welt, äußerlich bleibt hier alles beim Alten, die Unvernunft wird nicht gehemmt, die Vernunft nicht gefördert, das Böse kann sich breit entfalten, das Gute hat keine Waffen, die verheerenden, zerstörenden, herabziehenden Mächte verrichten ihr Werk ungestört. Was sollen wir davon denken? Wäre nicht zu erwarten, daß der Quell der überwindenden Geistigkeit mit überlegener Macht in den Weltlauf eingriffe und dem Guten zum Siege verhülfe? Und wenn unser Auge mit aller Mühe das nicht zu erkennen vermag, wenn der Weltlauf sich zu der in unserem Inneren vollzogenen Wendung starr und gleichgültig verhält, wenn selbst die überzeugtesten Anhänger schließlich nur die Unerforschlichkeit der göttlichen Ratschläge anrufen können, wird dann nicht der Zweifel an der Wirklichkeit jener Tiefe zu einem Recht, ja einer Pflicht? Zu solcher Ohnmacht nach außen gesellt sich unser Unvermögen, die Grundtatsache selbst genau zu fassen und sie uns irgend verständlich zu machen. Wir vermögen mit aller Mühe keine anschauliche Vorstellung von jener höheren Macht und der Art ihres Wirkens zu gewinnen, wir scheinen unrettbar dem Anthropomorphismus verfallen, sobald wir jenes versuchen. Muß sich damit nicht der Eindruck verstärken, daß in dem Ganzen nicht sowohl sich eine unbestrittene Tatsächlichkeit des Alls erweist als vielmehr der Mensch bloß die eignen Wünsche und Hoffnungen zu einer Wirklichkeit verdichtet? Verwickelt ihn der vermeintliche Aufschwung nicht in ein Gewebe von Illusionen, das die Pflicht der Wahrhaftigkeit und schließlich wohl auch die Sorge um das Glück zu zerstören gebietet? So wurde von alters her gefragt, und zwar auch auf der Höhe des Schaffens. Denn auch die leitenden Geister blieben nicht vom Zweifel verschont, sie haben ihn vielleicht am stärksten durchkosten müssen, sie hätten sonst schwerlich die Tiefe und Kraft des Lebensprozesses erreicht, welche die anderen unwiderstehlich fortriß. Den Zweifel rasch beiseite geschoben und ihn als etwas ungeheuerliches verdammt haben zumeist die sekundären Naturen, welche in den Spuren anderer wandelten und sich durch ihre Autorität die neue Welt als etwas unantastbares versichern ließen. Gewiß kann die Beantwortung jenes Problems nicht rasch und nach dem unmittelbaren Eindruck der Dinge, sondern nur nach mannigfacher Vermittlung und aus dem Ganzen der Lebensbeweg-

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ung erfolgen; erst allmählich können wir uns zu dem Punkt der Entscheidung hinarbeiten. — Die Frage ist in verneinendem Sinn für den entschieden, der dies sinnliche Dasein als die letzte und ganze Welt behandelt, in ihm keine Verwicklung und hinter ihm kein Geheimnis findet, der zugleich alles geistige Leben zu einer Nebenerscheinung herabsetzt. Denn eine solche Denkweise kann schlechterdings nicht verstehen, wie innere Erlebnisse Macht und Gehalt genug erlangen sollen, um den Grundbegriff der Wirklichkeit umzugestalten, um Aufgaben des Inneren gegen den Widerspruch der ganzen sichtbaren Welt durchzusetzen; das Nein ist dann selbstverständlich, alles Schwanken kann nur als eine Schwäche erscheinen. Solche Ausschließlichkeit der Sinneswelt mag den nächsten Eindruck der Dinge für sich haben und aus ihm immer von neuem hervorgehen, ebenso deutlich hat sie den Hauptzug der geschichtlichen Arbeit gegen sich. Wenn diese das Geheimnis innerhalb der nächsten Welt in dem Maße auflöste, als sie alle Mannigfaltigkeit einem Kausalgewebe einfügte und allgemeinen Gesetzen unterwarf, so ist uns die Grundlage des Ganzen um so undurchsichtiger, um so geheimnisvoller geworden, so hat sie für das Denken mehr und m e h r ihre Handfestigkeit und Selbstverständlichkeit eingebüßt. Wir brauchen nicht Kantianer zu sein, um den Erscheinungscharakter dieser nächsten Wirklichkeit anzuerkennen, um in ihr nicht den Kern, sondern nur eine besonderen Bedingungen unterworfene Betätigung eines wesenhafteren Seins zu erblicken. Zu diesen besonderen Bedingungen gehört vor allem die Organisation des anschauenden Subjekts, es wird zum unerträglichen Dogmatismus, davon abzusehen und die Welt unserer Erfahrung und Vorstellung ohne weiteres als das Reich der Dinge zu geben. Der Zurückschiebung des Sinnlichen entsprach eine wachsende Entfaltung und Schätzung des Innenlebens. Denn mehr und mehr hat dieses sich von der anfänglichen Zerstreutheit zu einem Ganzen zusammengefunden und aller schwankenden Zuständlichkeit des bloßen Subjekts feste Gesetze entgegengehalten; immer mehr erweist es eine selbständige Art und nimmt damit den Kampf gegen die Außenwelt auf. Wie solche Wandlungen den Gesamtcharakter unseres Lebens und unserer Wirklichkeit verändern, wie sie mehr und mehr die Gedankenwelt zur Hauptsache machen und die sinnliche in ihren Dienst ziehen, das hat uns genügend beschäftigt.

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Solche Verschiebung des Schwerpunktes aber eröffnet die Möglichkeit, von dem unscheinbaren Innern her tiefer in die Wirklichkeit einzudringen als aus aller Sinnfälligkeit der Außenwelt, ja sie macht es notwendig, die für das Ganze unserer Überzeugung entscheidenden Tatsachen nicht hier, sondern dort zu suchen. Auch aller Einblick in die innere Entwicklung der Individuen bestätigt das; denn er zeigt, daß die Hauptrichtung des Denkens nicht durch das bestimmt wird, was von draußen an den Menschen kommt, sondern durch das, was er selbst aus sich macht; das, worin er den Kern seines eignen Wesens setzt, entscheidet darüber, in welchem Lichte er das Ganze der Wirklichkeit sieht. Zugleich gewahren wir, daß diese Entscheidung einen persönlichen Faktor enthält, der jenseits der Sphäre des Beweises liegt. Mag das Innere noch so sehr die bewegende und gestaltende Kraft sein, es bedarf der Anerkennung seiner Überlegenheit, um auch die Überzeugung zu gewinnen; diese Anerkennung aber ist nicht ohne eine Aneignung der Bewegung, ohne ein selbsttätiges Eintreten in den Kampf zu erreichen. Das aber läßt sich niemandem von außen her aufzwingen. Die Macht dieses persönlichen Faktors beschränkt sich nicht auf den Allgemeinbegriff des Geisteslebens, sie erstreckt sich auch in seine Erfahrung hinein, sie erweist sich besonders bei der Schätzung des Feindlichen, des Bösen. Mag die Ausdehnung der Unvernunft noch so sorgfältig aufgewiesen, noch so beredt geschildert werden, nun und nimmer wird dadurch entschieden, wie schwer sie für uns als Ganzes in die Wagschale fällt, nun und nimmer läßt sich dadurch eine prinzipielle Überzeugung, eine innere Stellungnahme zum Bösen erzwingen. Denn keine theoretische Anerkennung der Unvernunft kann bewirken, daß die Mißstände den Menschen innerlich packen und bewegen, daß das Problem die letzte Tiefe seines Wesens ergreift. Wiederum kommen wir hier auf einen Punkt freier Entscheidung, selbständiger Aneignung; erst das Aufsichnehmen des Problems macht die Unvernunft unerträglich, ruft alle Kräfte zur Gegenwehr auf, verwandelt das Leben in einen Kampf um das geistige Sein, um die Selbsterhaltung des eignen Wesens. Auch hier liegt die Entscheidung bei der inneren Energie des Lebens, unverkennbar ist die Macht eines persönlichen Faktors. Wie wichtig aber die Stellung zum Problem des Bösen für das Ganze der Überzeugung ist, das bekundet die Erfahrung sowohl des geschichtlichen

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Lebens als der individuellen Entwicklung. Denn wo die Unvernunft der Welt flach gefaßt oder leichthin bei Seite geschoben wird, da fehlt dem Lebensprozeß das Salz und die Schärfe, da bleibt etwas Unergriffenes, Undurchleuchtetes, da wird die Lösung der Probleme bei aller einschmeichelnden Glätte nicht dauernd befriedigen. Aber auch dieser Wendepunkt bildet noch nicht den Punkt der letzten Entscheidung. Die volle Anerkennung der ungeheuren Macht des Bösen kann den Menschen dem Zweifel und der Verzweiflung überantworten; er ist der Vernichtung verfallen, wenn nicht eine überlegene Macht der Unvernunft entgegentritt und ihn selbst an der Überwindung teilnehmen läßt. Mit wie umwandelnder Kraft eine überwindende Geistigkeit auch in unser Leben hineinragt, davon haben wir uns überzeugt. Aber mehr als auf den früheren Stufen leuchtet hier ein, daß was immer an Tatsächlichkeit vorliegt, eine volle Wirklichkeit und eine überzeugende Gewißheit für uns nur durch unsere Aneignung erhält, durch das Aufnehmen in den Kern unseres Lebens, durch ein Verwandeln dieses Kernes in ein Ergreifen und Entwickeln jener überwindenden Mächte. Nur damit können die einzelnen Züge sich in ein Ganzes zusammenfassen, nur dadurch kann die volle und reine Ursprünglichkeit jenes ^Schaffens zum eignen Erlebnis werden, nur damit das Neue stark genug werden, um einer widerstreitenden Welt Trotz zu bieten. Die Entscheidung erscheint aber namentlich hier eben in der kräftigsten Aufbietung unseres Wesens zugleich als das'Werk einer überlegenen Macht, ja sie dünkt nur möglich durch die umbildende Kraft des Ganzen; damit aber vergewissert sie uns unmittelbar auch der Wirklichkeit des Ganzen. Ist die Erschütterung unseres Seins durch alles Dunkle und Feindliche voll zur Wirkung gelangt, so gerät das Leben in die schwerste Krise. Die völlige Nichtigkeit des Menschen, die Unhaltbarkeit seiner Stellung in der Welt, sein Unvermögen gegenüber den Aufgaben seines eignen Wesens, die gänzliche Gleichgültigkeit des Individuums für die Menschheit wie für die Welt ist augenscheinlich geworden. In diesem Reich der Verwicklung gibt es nichts, was ihn hält und trägt, nichts, was seinem Streben Kraft und seinem Leben Wert gibt. Solche Erschütterung muß allen Trieb zum Leben brechen, muß auch allen naturhaften Glücksdrang ausrotten. Wenn trotzdem das Leben nicht völlig erlischt, wenn aus der Vernichtung der alten Art eine neue entspringt, und wenn sich gar das ganze Sein zu einer erhöhenden Tat aufrafft, so E u c k e n , Kampf.

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ist die Wirkung einer neuen Welt unverkennbar, so sind wir aller bloßen Willkür und Reflexion entronnen. Dies Neue, mit seinem Gegensatz zu allem bloß naturhaften Streben, mit seiner Gegenwirkung gegen den ersten Befund, als ein Erzeugnis selbstischen Glücksverlangens, als ein Hineinspielen menschlicher Wünsche in das All verstehen kann nur die gröblichste Verkennung des Tatbestandes. Unleugbar aber spielt hier der persönliche Faktor eine noch weit größere Rolle als an den anderen Stellen, und kommt schließlich alles auf eine persönliche Entscheidung hinaus. Aber diese Entscheidung ist nicht etwas Isoliertes und Zufälliges, sondern es drängt sich in sie das ganze Leben zusammen, und es sind bei ihr auch die anderen Stufen gegenwärtig; die früheren Entscheidungen werden mit in diese Hauptentscheidung aufgenommen, die früheren Probleme erneuern und verstärken sich hier zu einem einzigen Hauptproblem. Denn wenn hier eine Verneinung oder doch keine entschiedene Bejahung erfolgt, so wird alles bisher Gewonnene hinfällig, so erwachen alle Zweifel von neuem, so sinken wir in die alte Ungewißheit, ja Nichtigkeit zurück. Wenn nämlich das Geistesleben zur Überwindung jener Widerstände zu schwach ist, wenn es an ihnen erlahmt, ermattet, sich verzehrt, so kann es überhaupt seine Weltstellung nicht mehr behaupten, nicht mehr den Kern der Wirklichkeit bilden, auch nicht mehr in unserem Leben zu wirken fortfahren. Zur Utopie wird es nun, durch die weltgeschichtliche Arbeit gegenüber der Natur ein eignes Reich des Geistes errichten zu wollen, als leere Trugbilder erweisen sich die diesem Reiche eigentümlichen Größen und Güter: Gutes und Edles, Liebe und Barmherzigkeit, Wahrheit und Recht, Achtung und Pflicht. Und mit den Gütern müssen auch die Schmerzen geistiger Art verschwinden, mit der Liebe versinkt auch das Leid. Denn wo nichts zu gewinnen ist, da kann das Mißlingen kein Leid erzeugen; wo es nichts zu ehren und zu achten gibt, da gibt es auch nichts zu verwerfen und zu verachten. So müßte sich eine volle Gleichgültigkeit hinsichtlich aller jener Dinge unser bemächtigen, nichts könnte uns mehr aufregen, nichts in Zorn und Schmerz versetzen. Nur dagegen müßte unser Affekt sich kehren, daß wir überhaupt in eine solche Verirrung verlockt und verstrickt sind; was immer an Energie verbleibt, das müßte zum Kampf gegen jenen Wahn des Geisteslebens aufgeboten werden. Nur eine unklare und matte Denkart kann hier eine Vermittlung zwischen dem Entweder—Oder suchen.

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W o sich das Geistesleben nicht als die Seele und Höhe der Wirklichkeit zu behaupten vermag, da wird es zum Verfälscher und Zerstörer der Wahrheit, zu einer Macht der Lüge, gegen die es nur eine Aufgabe des Kampfes gibt. Solche Verbindung und Steigerung aller Probleme zu einem einzigen Problem ergibt eine wesentlich neue Lage, alle bisherigen Hilfen versagen, alles scheinbar Gewonnene wird bestritten, es gilt eine neue und unmittelbare Entscheidung, die in dem Einen über das Ganze befindet und allererst die Kette des Lebens sicher zusammenschließt. Aber wenn hier alles wieder in Fluß gerät und der Zweifel seinen höchsten Gipfel erreicht, so muß auch zu verstärkter Wirkung gelangen, was die Gesamtbewegung zur Geistigkeit an Tatbestand enthält; gerade der Versuch einer völligen Zurückziehung muß die Tatsachen kräftiger hervortreiben, sie zu deutlicherer Aussprache reizen, sie mit der Aufrufung zum Kampf um die eigne Erhaltung in tätige Bundesgenossen verwandeln. Mit neuer Kraft erhebt sich zunächst, was die frühere Untersuchung darzutun strebte, daß die Wendung des Lebens zur Geistigkeit mit ihrem Erzeugen des Denkens und ihrer Durchleuchtung des Seins, mit ihrer Eröffnung eines Wollens und Handelns aus dem Ganzen, mit der Befestigung eines Selbstlebens und einer Innenwelt gegenüber der Welt der Beziehungen eine fundamentale Wandlung der Wirklichkeit bedeutet, die keine Anstrengung des bloßen Menschen hervorbringen konnte, noch auch wieder zurücknehmen kann. Von hier aus entstand jenes geschichtlich-gesellschaftliche Leben eigentümlich menschlicher Art, dem wir uns nicht entziehen können; von hier stammt jene innere Erweiterung des unmittelbaren Lebens, in der wir uns von der Punktualität des natürlichen Daseins in ein Streben und Schaffen aus der Unendlichkeit des Alls versetzt sehen; nicht von draußen ließ sich ein solches Weltleben zuführen, als eine elementare Tatsache mußte es von innen entspringen; kann es, so verstanden, ein Machwerk des bloßen Menschen sein? Wohl verwickelte uns jene Wendung in unermeßliche Probleme, die unsere Kraft übersteigen und unser Wesen zu zersprengen drohen. Aber gerade dieses ward ein Zeugnis dafür, daß die Sache unsere Willkür übersteigt, daß wir in Bewegungen der Welten verflochten sind, und daß nicht die bloße Fürsorge für unser Behagen uns in jene Angelegenheiten verwickelt. Die Gewalten, die uns er16*

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greifen und hin- und herschleudern, mögen in ihrer Unzugänglichkeit als dämonische erscheinen, bloße Wahngebilde sind sie keinenfalls. Selbst in den Leiden mit ihrer Erschütterung und Vertiefung erkannten wir beredte Zeugen für die Realität des geistigen Lebensprozesses; wir können uns unmöglich ganz gegen sie abstumpfen, sie gleichgültig über uns ergehen lassen. So hält uns das geistige Leben eben mit seinen Mühen und Sorgen, seinen Leiden und Schmerzen fest, wir können es nicht lassen, auch wenn wir es in diesen Verwicklungen mehr wie eine Last als eine Lust, mehr wie einen Unsegen als einen Segen empfinden, in ihm mehr ein bedrückendes Schicksal als eine selbsterkorene freundliche Macht erkennen. Dann aber erschien wie ein Licht in der Finsternis gegenüber aller äußeren und inneren Hemmung eine überwindende Geistigkeit. Waltet einerseits volle Klarheit über die Ohnmacht des bloßen Menschen in den schweren, bis zur Wurzel reichenden Verwicklungen, findet andererseits der unvergleichliche Charakter des Neuen seine Anerkennnung, so wird die Eröffnung einer allem subjektiven Vermögen überlegenen Tatsächlichkeit augenscheinlich. Aber daß diese Tatsächlichkeit zu einem Ganzen zusammengeht, und daß dieses eine neue Stufe der gesamten Wirklichkeit und zugleich zur Seele unseres Lebens wird, das läßt sich nun und nimmer von draußen her dartun, das kann uns nie zur Gewißheit werden, so lange wir uns jenes Neue wie etwas Fremdes gegenüberstellen und uns lediglich als Betrachter und Beobachter zu ihm verhalten. Vielmehr bedarf es hier einer Tat von innen her, es gilt, sich mit dem Neuen zu identifizieren, den Kern des eignen Wesens darin zu setzen. Nur indem wir selbst zur Tätigkeit aufsteigen, können wir Tätigkeit erfahren; nur indem wir das eigne Sein zu einem Ganzen zusammenfassen, eines Ganzen inne werden; nur indem wir die letzte Tiefe des Wesens erregen und in den Kampf hineinwerfen, die Ursprünglichkeit und Absolutheit der überwindenden Geistigkeit uns selbst aneignen. So steht die Sache schließlich auf einer persönlichen Entscheidung, auf einer axiomatischen Tat. Diese ist dadurch vorbereitet, daß an diesem Punkte als dem Zentrum alle Fäden des Lebens zusammenlaufen, die doch nicht bloße Willkür gewoben hat, daß die Verneinung hier einen unerträglichen Widerspruch ergibt, indem sie in ihren Konsequenzen alle Geistigkeit aufhebt, die sich doch nicht aufheben läßt. Aber alle Vorbereitungen und Empfehlungen können die entscheidende Tat nicht erzwingen, sie bleibt

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stets eine Sache der Freiheit. Denn wo keine Energie des Lebens und Wesens waltet, da kann seine Zusammenfassung zur Einheit unterbleiben, da mögen wir die Widersprüche ruhig ertragen und bald dem einen bald dem anderen Antriebe folgen. So liegt alles an einem Vordringen des Ganzen durch wesenumfassende Tat. Eine solche Tat aber kann ihre Wahrheit nur durch sich selbst, durch ihr eignes Gelingen, das heißt hier aber durch die Umkehrung des Lebens und die Entwicklung einer neuen Welt erweisen. Der Lebensprozeß befindet sich hier an dem Punkt der innersten und letzten Bildung, er hat seinen eignen Kern erst zu suchen, ja zu schaffen, er ist dabei rein auf sich selbst gestellt, er schwebt zwischen dem Nichts und der Unendlichkeit. Der Mensch, bisher durch den Zusammenstoß ganzer Welten erdrückt, wird hier zum Schaffen einer neuen Art und zugleich zum Mitschaffen einer neuen Welt aufgerufen. Solche Umkehrung weist alles, was sonst fest und sicher schien, auf die Freiheit als seine wahre Begründung, sie macht aber diese, d. h. ein von allen gegebenen Voraussetzungen unabhängiges Schaffen, dies Rätsel aller Rätsel, zum schlechthin Gewissen und Unmittelbaren. Die Möglichkeit einer so fundamentalen Wendung, die Möglichkeit einer Identifizierung des Menschen mit der überwindenden Geistigkeit, ist nur durch die Tatsache ihrer Verwirklichung zu erhärten, nur die Wirklichkeit kann hier die Möglichkeit erweisen. Wenn aber jene umwälzende Tat die höchste Freiheit des Menschen zeigt, so ist sie zugleich nur verständlich und haltbar als eine Tat und Offenbarung eines Ganzen der Freiheit; das neu errungene Wesen kann nie dem bloßen Menschen entstammen, das Geschaffene muß zugleich ein Empfangenes und Erfahrenes sein, das Neue aus inneren Zusammenhängen entgegenkommen, bevor es sich aneignen läßt. Die Einheit von voller Freiheit und voller Abhängigkeit, das ist das unlösbare Geheimnis und zugleich die sonnenklare Wahrheit alles produktiven Geisteslebens. So finden wir das Leben schließlich auf eine axiomatische Tat gestellt und diese als den Quell aller Gewißheit einer überlegenen Vernunft Daran Anstoß nehmen kann nur, wer verkennt, daß alle geistige Tätigkeit auf Axiomen beruht. Alle Forschung endet in Grundwahrheiten, die sich nicht mehr beweisen lassen, sondern unmittelbar einleuchten müssen; das Handeln läßt sich nicht ins Unendliche weiter motivieren, es muß schließlich seinen Zweck

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in sich selbst tragen. Alle einzelnen Tätigkeiten aber führen auf eine das ganze Leben umfassende Haupttat, ihre Axiome müssen an jenes Grundaxiom Anschluß suchen, wenn sie feststehen wollen. Daß aber die letzte Entscheidung in die Freiheit gestellt wird, und daß schließlich die Wahrheit selbst einen persönlichen Charakter annimmt, das entspricht durchaus der Grundüberzeugung eines energischen Idealismus, die letzte Wurzel der Wirklichkeit in der Freiheit zu suchen. Das war auch die Meinung der Religionen, wenn sie die Verbindung mit dem Göttlichen nicht auf ein ableitendes Wissen, sondern auf ein unmittelbares Erfassen gründeten. Ein solches suchten sie in dem Glauben, sie verstanden ihn damit als eine Sache freier Tat, die als Pflicht an den Menschen komme. Von hier aus wirkt der Grundgedanke eindringlich zur Menschheit. Aber die Religionen haben oft die Ausführung nicht im Einklang mit der Grundidee gehalten, ja sie wohl gar dazu in Gegensatz gebracht. Denn sie haben viel zu sehr den Glauben nur als eine andere Art des Wissens behandelt, sie haben ihn bald auf historische Daten und Wunder, bald auf spekulative Lehren vom Wesen der Gottheit bezogen. Solche Daten und Lehren aber haben keinen axiomatischen Charakter, sie sind entweder beweisbar und lassen sich dann von jedem erzwingen, oder der Beweis gelingt nicht, dann kann es nun und nimmer Pflicht sein, sie ohne einen solchen gelten zu lassen oder die Anforderungen an die Beweisführung herabzustimmen. Die Religionen müssen eine festere Wahrheit besitzen, als alles Wissen zu geben vermag, sie sollten zu stolz sein, sich bei ihrer Hauptbegründung vom Wissen etwas schenken zu lassen. Wenn sie ferner oft den Glauben im Sinne eines Wissens von göttlichen Dingen mit dem Glauben im Sinne einer Wendung des Wesens zur überwindenden Geistigkeit vermengten, so haben sie damit einen schweren geistigen Druck erzeugt, das menschliche Leben verwirrt, schließlich aber am meisten sich selbst geschädigt. Daß solche Vermengung aufhöre oder doch energisch bekämpft werde, das ist eben jetzt eine wichtige Angelegenheit der Menschheit geworden. Glaube und Freiheit haben ein Recht nur da, wo innere Bewegungen und Wandlungen in Frage stehen, die jeder unmittelbar erfahren kann, nur da, wo es gilt, das eigne Sein in eine Tat zusammenzufassen und an dem Schaffen einer neuen Welt teilzugewinnen. Das besagt zugleich, daß die letzte Begründung der neuen

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Welt nicht von der Geschichte her, sondern im unmittelbaren Leben zu erfolgen hat. Die Geschichte kann nur fördern, sofern sie sich an es anschließt und es weiterführt; sie voranstellen, das heißt die Innerlichkeit und weiter auch die Sicherheit des Ganzen erschüttern. Damit wird keineswegs jene Weiterführung durch die Geschichte etwas Geringfügiges. Daß das neue Leben überhaupt auf dem Boden der Geschichte zu umfassenden Bildungen, zur Verkörperung u n d Machtentfaltung gelangt, ist ein wichtiges Zeugnis für das Hinausreichen des Problemes über das bloße Einzelleben; wichtiger als dieses äußere Zeugnis ist die innere Bewährung, welche in der geschichtlichen Fortbildung des allgemeinen Gedankens zu konkreten u n d individualen Gestaltungen liegt, da solcher Fortgang eine durch keine künstlichen Mittel erreichbare Entwicklungsfähigkeit des Prinzipes bekundet; am wichtigsten aber ist die starke Wirkung, die innerhalb dieser neuen Welt von den leitenden Geistern geübt wird. Denn da ihr Leben ganz von der überwindenden Geistigkeit erfüllt und das unmittelbare Verhältnis zur Quelle dieser Geistigkeit die Grundlage und die Seele ihres Seins geworden war, so ward hier eine innere Wirklichkeit über alle Verwicklungen der Welt des Kampfes sicher hinausgehoben und in sich selbst zur festen Einheit eines Charakters zusammengeschlossen; in durchgreifender Umkehrung ist hier das Schwerste zum Selbstverständlichen geworden und aus dem Verwickeltsten eine schlichte Einfalt entsprungen, zugleich aber hat das neue Leben eine solche Anschaulichkeit erlangt, daß es als ein Urquell der Erweckung und Veredlung mit unversieglicher Jugendfrische nicht nur die Individuen zu ergreifen, sondern auch den Gesamtstand der Menschheit zu erneuern vermochte. Das innere Wunder, welches alle Eröffnung der überwindenden Geistigkeit mit ihrer Erweisung des unmittelbaren Wirkens des absoluten Lebens enthält, gelangt hier zur deutlichen und überwältigenden Erscheinung; es ist begreiflich, daß bei den Späteren die Bewegung von hier aus geweckt wird und sich auch in ihrem Fortgang darauf zurückbezieht. Aber bei aller Bedeutung und Unentbehrlichkeit der Ergänzung durch die Geschichte wird das Leben keine Zusammensetzung von Geschichte und unmittelbarer Tätigkeit. Diese Tätigkeit muß immer überlegen bleiben, die Leistung der Geschichte auf ihren Boden ziehen, hier entwickeln und beleben, was jene an bleibender Wahrheit enthält. Die Unmittelbarkeit einer zeitüberlegenen Art ist dem Geistesleben unentbehrlich; die Geschichte kann zum Un-

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segen werden, wenn sie sich zur Hauptsache macht; sie wird zur wertvollen Verstärkung des Lebens, wenn sie sich der ewigen Aufgabe einfügt Je mehr sich so das neue Leben bei sich selbst erfüllt und befestigt, desto zuversichtlicher kann es den Kampf gegen die Widerstände aufnehmen, die es anfänglich ganz zu erdrücken schienen. Weder die innere Unfertigkeit noch die äußere Hemmung vermag nun an ihm irre zu machen. Unser Unvermögen, die neue Wirklichkeit begrifflich durchzubilden und zu anschaulicher Vorstellung zu bringen, wäre nur gefährlich, wenn die Sache uns von draußen auf dem Wege der Welterkenntnis zugeführt würde; denn dann müßte allerdings in ausgeführtem Bilde gegenwärtig sein, was auf uns wirken und unsere Teilnahme gewinnen sollte. Aber hier handelt es sich um eine Wendung des Lebens von innen her, um eine innere Erhöhung in der Ergreifung der neuen Welt; dabei können alle Verwicklungen der Ausführung die Haupttatsache nicht erschüttern, ja sie mögen die Macht und die Unwiderstehlichkeit jener Tatsache besonders deutlich empfinden lassen. Gewiß muß die neue Welt zu einer Entwicklung in Begriffen und Gestalten streben, aber das ist nur ihre Erscheinung, nicht ihre Substanz, die Erscheinung kann in Wandel und Fluß bleiben, ohne daß die Substanz dadurch unsicher wird. — Ebenso kann auch der Widerstand und die Gleichgültigkeit der nächsten Welt die überwindende Geistigkeit nicht ins Wanken bringen. Denn so wenig sie jenes leicht nehmen darf, und so wenig sie auf einen vollen Sieg verzichten kann, viel zu deutlich durchschaut sie die Bedingtheit und Beschränktheit jener Welt, um die nächste Erfahrung für die letzte Entscheidung zu nehmen. So erschüttert jene zwiefache Einwendung die innere Gewißheit des neuen Lebens nicht. Aber seine Existenzform f ü r den Menschen wird allerdings die eines unablässigen Kampfes. Denn das nächste Dasein gehört überwiegend den fremden oder feindlichen Mächten. Ihr Wirken dringt unablässig auf uns ein und umfängt uns mit der Macht der Selbstverständlichkeit, der zähe "Widerstand des Kleinen und Alltäglichen lähmt den Aufschwung des Geistes, das Bild und die Ansprüche der sinnlichen Welt beherrschen den Menschen und machen ihm die andere Welt fremd und unsicher. Je mehr sich das befestigt, um so mehr muß der Zweifel um sich greifen; was der Mensch in der Wurzel seines Wesens

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sicher erfaßt, das wird ungewiß für die breite Fläche des Lebens. So ist bei der Begegnung von Zweifel und Gewißheit in demselben Leben jener für die erste Ansicht im Vorteil, das andere scheint sich dagegen nicht aufarbeiten zu können, dem Menschen ist seine eigne Tiefe wie verschlossen, eine unerträgliche Last scheint ihm auferlegt. Das läßt ihn in seinem Mute wanken und einer inneren Bangigkeit verfallen, es wird ihm wieder fraglich, was schon sicher gewonnen schien. Daß der Mensch in solcher Erschütterung nach Hilfe von außen rief, ist durchaus begreiflich, ebenso auch, daß er eine solche vornehmlich von sinnlichen Zeichen und Wundern erwartete. Denn nur sie schienen ein siegreiches Wirken der überwindenden Geistigkeit auch innerhalb der äußeren Welt zu erweisen, etwas unerschütterlich festes zu bieten und dem lähmenden Zweifel ein sicheres Ende zu bereiten. O b aber in dieser Weise eine höhere Macht mit sichtbarer Wirkung in die sinnliche Welt eingreift, darüber kann nur die Erfahrung des Lebens und der Geschichte entscheiden; bejahendenfalls müßten die behaupteten Daten keinem Zweifel unterliegen, sie müßten mit unzweideutiger Klarheit der Menschheit entgegenstrahlen, gleichmäßig für alle Bildungsstufen und Gemütslagen, Völker und Zeiten; sie müßten zu solchem Zweck sich unablässig erneuern, um nicht allmählich zu verblassen und aus dunkler Ferne zu wirken, die nur durch vielfach vermittelte Berichte zugänglich wird. Mit solcher unangreifbaren Gewißheit und Augenscheinlichkeit sind uns aber äußere Wunder nicht gegenwärtig, sie werden mehr in der Ferne behauptet als in der Nähe aufgezeigt, dazu widersprechen sich vielfach die Berichte, immer stärker werden die Bedenken der Wissenschaft, die den lückenlosen Zusammenhang der Naturordnung verficht; so verfällt das, was den Zweifel überwinden sollte, selbst dem Zweifel, ja mit seiner Ungewißheit und inneren Schwierigkeit hat es oft den Zweifel gesteigert, ist es der Überzeugung vieler mehr eine Bürde als eine Stütze geworden. So ist in dieser Weise der Ungewißheit nicht zu begegnen, sichtbare Zeichen sind dem Menschen versagt, er bleibt in unserer Weltordnung auf die inneren Beweise des Geistes und der Kraft angewiesen. Daß diese aber unerschöpflich und jugendfrisch immer von neuem aufquellen, daß die überwindende Geistigkeit uns gegenwärtig bleibt, ihr Schaffen nicht einstellt, sondern allen Anfechtungen immer neue und höhere Bildungen entgegensetzt, diese innere, von jedem zu erlebende, ja selbst zu vollziehende Tatsache der Bildung

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einer neuen Welt, dies Wachstum durch die Erschütterung, dies innere Wunder ist stark genug, um allen Zweifel zu überwinden und im Kampf einen festen Rückhalt zu geben. Auf der Energie und Wahrhaftigkeit des inneren Schaffens steht hier schließlich das Ganze. Das Leben erhält damit einen heroischen Charakter, seine Aufgabe wird nun, das innerlich Notwendige gegen allen widersprechenden Schein, die Hauptidee gegen alle Verwicklungen der Ausführung, das unerläßliche Ziel gegen alle Unzulänglichkeit der uns erkennbaren Mittel aufrechtzuhalten. Die Überzeugung schließt dabei von dem Größeren aufs Kleinere (a majori ad minus): wo das Größere Wirklichkeit ward, da wird schließlich auch das Kleinere vollbracht werden; das Größere aber ist die Schöpfung einer neuen Welt und eines neuen Lebens. Ja wenn hier die innere Tatsache rein bei sich selbst ergriffen und das neue Leben allein auf seine eigne Kraft gestellt wird, so kann eben der Widerstand seine Festigkeit noch verstärken; gerade die Angriffe können die Unverlierbarkeit der neuen Welt und ihre Überlegenheit gegen die Sphäre jener Angriffe zu vollem Bewußtsein bringen. Hier entwickelt sich eine Gesinnung, welche nicht von der Vernunft, sondern von der Unvernunft der Welt ihren Weg zum Göttlichen findet, welche durch den Widerspruch zu einer fast trotzigen Betonung ihrer Selbstgewißheit gereizt wird; aus ihr erklärt sich auch jenes credo quia absurdum, ein freilich sehr anfechtbarer Ausdruck einer wohlverständlichen Denkart. Denn wer kann leugnen, daß nicht das Glück, sondern das Unglück die Menschen zur Religion zu führen pflegt, daß namentlich da die Tempel aus der Erde wachsen, wo schweres Leid die Menschen traf. Das ist nicht bloß ein selbstisches und äußerliches Hilfesuchen, sondern aus der innersten Notwendigkeit des Lebens wird die neue Welt dem Menschen um so gewisser, je mehr die Unzulänglichkeit der alten zur Empfindung gelangt. Demnach ist es überall die Tiefe und Kraft des Lebens, woraus die Überzeugung ihre Gewißheit schöpft; jenes Leben steigern, das heißt auch die Überzeugung stärken. So ist das Beste, was zur Befestigung der neuen Welt in menschlichen Verhältnissen geschehen kann, die Verbindung zu gemeinsamer Arbeit, die Gestaltung eines dem Durchschnitt überlegenen Lebenskreises, der Aufbau eines neuen Reiches innerlicher Art, wo jene neue Welt auch bei uns eine Verwirklichung erlangt, wo die Güter des neuen Lebens zu Mächten

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werden, wo ihre Werte gelten, wo die 'aufstrebenden Kräfte sich gegenseitig heben und stützen und eine gemeinsame geistige Atmosphäre das Leben und Tun umfaßt. Auf den verschiedenen Stufen hat die Tat einen verschiedenen Sinn, auf jeder von ihnen aber ist sie es, der die Hauptüberwindung des Zweifels zufällt, nicht das Grübeln, das vielmehr nur immer weiter in ihn hineintreibt.

c. Entwicklung der neuen Welt.

Aus der Begründung der neuen Welt erwächst unmittelbar die Forderung einer näheren Entwicklung ihres Inhalts. Denn die axiomatische Tat, bei der sich die letzte Entscheidung fand, verlangt zu ihrer Befestigung einen Aufweis ihrer Fruchtbarkeit, und diesen kann nur eine solche Entwicklung bieten; so wird sie eine notwendige Ergänzung der bisherigen Darlegung. Zur Befestigung wird sie aber namentlich dann beitragen, wenn sich zeigen läßt, daß die überwindende Geistigkeit eine eigentümliche Gestaltung des Lebens mit neuen Größen und Werten aufbringt, die für alle Vertiefung des Lebensprozesses unentbehrlich sind, die in Wahrheit überall anerkannt werden, wo das Streben die Richtung zur Tiefe nimmt. Denn so wird das ganze Leben zum Zeugnis für das Recht der überwindenden Geistigkeit. Dabei muß das Neue sein Eigentümliches zunächst als etwas Unterscheidendes, ja Gegensätzliches darbieten; alsdann erst läßt sich fragen, ob durch diese besondere Ausführung der gesamte Geistescharakter des Lebens gestützt und vor sonst drohender Zerstörung bewahrt wird. In der Verfolgung dieser Aufgabe darf sich die Philosophie nicht an eine der besonderen Gestaltungen binden, welche die einzelnen Religionen dem neuen Leben gegeben haben, sie muß das Problem in allgemeinster Fassung aufnehmen und behandeln. Wennschon das auf diesem Wege erreichbare Bild nicht über Umrisse hinauskommt, so hat eine solche Herausstellung des Gemeinsamen, Allgemeinmenschlichen einen selbständigen Wert; auch die besondere Gestaltung geschichtlicher Art kann sicherer auftreten und kräftiger wirken, wenn sie diese allgemeine Tatsache hinter sich hat. Die Entwicklung des neuen Lebens aber kann sich uns nicht darlegen, ohne daß wir die Haupttatsache, das Erscheinen einer überwindenden Geistigkeit in unserem menschlichen Lebenskreise, in sich abstufen und in der Richtung vom Allgemeinen zum Be-

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sonderen verfolgen; nur so wird eine Mannigfaltigkeit faßbar und kann sich der Reichtum des neuen Lebens erschließen. — Solche Abstufung erblicken wir namentlich in vier Punkten. Gewaltige Folgen hat es zunächst, daß überhaupt ein unmittelbares Verhältnis zum absoluten Leben entsteht, weiter, daß das damit gesetzte Leben eine Hinaushebung über das Reich der Verwicklung bietet, ferner daß die Überwindung in der Innenwelt erfolgt und hier eine neue Art des Seins bereitet, endlich, daß damit das Individuum eine neue Stellung zum Ganzen und zugleich eine beträchtliche innere Erhöhung erhält. Diese Folgen sind nun Punkt für Punkt zu betrachten. Aus dem unmittelbaren Verhältnis zum absoluten Leben entwickelt sich ein neuer Typus gegenüber den Richtungen des Lebens auf die Menschen oder auf das All, die beide die Vernunft nur in der Ausbreitung und unter Bedingungen und Vermittlungen erfassen. Wie schwere Verwicklungen daraus erwuchsen, hat sich uns zur Genüge gezeigt. Weder beim Menschen noch bei der Welt fand sich eine reine Vernunft; wird das Leben letzthin daran gebunden, so erstreckt sich die Unvernunft bis in seine tiefste Wurzel und läßt sich nun und nimmer überwinden. Es wird dann zwischen der Kälte und Starrheit einer fremden Natur und der Kleinheit und Selbstsucht der menschlichen Art hin- und hergeworfen. Daher ward das Streben, sich diesem Gegensatz zu entwinden und ein eignes, ihm überlegenes Reich zu schaffen, ein Hauptzug aller geistigen Arbeit. Aber ohne die überwindende Geistigkeit ist dies Streben viel zu schwach, um durchzudringen; es bleibt eine bloße Regung, ein aussichtsloses Unternehmen, bis es einen festen Rückhalt in der Entwicklung eines direkten Verhältnisses zum absoluten Leben gewinnt und daraus Mut und Kraft auch für die allgemeinere Aufgabe schöpft. Denn in jenem Verhältnis liegt sowohl eine Erwärmung und Verinnerlichung der Welt gegenüber der Seelenlosigkeit der bloßen Natur, als eine Befreiung von den bloßen Menschen, ihren Lagen und Launen, ihrer Torheit und Flachheit; dort kann sich ein reiches Leben im Kampf gegen die Menschen auch in Verlassenheit von den Menschen entwickeln. So sichert erst jene Wendung ein Beisichselbstsein des Geisteslebens und kräftigt zugleich alles andere Streben, das f ü r solche Unabhängigkeit eintritt. Auch macht nur eine unmittelbare Begründung im absoluten Leben es verständlich, wie im Menschen ein von aller Verderbnis des Durchschnitts unberührter Kern oder vielmehr Keim verbleiben kann, wie

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sich darauf aus allen Erschütterungen zurückgehen, und wie sich in aller Widerwärtigkeit des menschlichen Treibens eine Liebe zu den Menschen und ein Glaube an die Menschen erhalten läßt. Denn wie sich das aus dem bloßen Durchschnittsstande ohne jene Wendung rechtfertigen soll, ist nicht zu ersehen. Auch pflegt dieser Stand den Einzelnen als ein bloßes Mittel zu behandeln, ihm nirgends einen Selbstwert zuzuerkennen, für den Kern seines Wesens, für die Reinheit seines Herzens, für die Rettung seiner Seele keine Sorge zu tragen. Nur in den Zusammenhängen der überwindenden Geistigkeit vermögen sich solche Ziele zu behaupten, nur hier ist das Leben in einer überlegenen Vernunft sicher geborgen. So erscheint schon zu Anfang die neue Stufe zugleich als die Vollendung und als die notwendige Begründung des Geisteslebens. Der zweite Punkt zeigt die neue Welt schon deutlicher ausgeprägt. Hier handelt es sich um das Einsetzen einer überlegenen Ordnung gegenüber dem Reich des Konfliktes. Das Neue trägt dabei den Charakter freier Tat und bildet somit einen vollen Gegensatz zu aller gegebenen Natur und aller ihr angehörigen Entwicklung; alles was nicht von jener Tat getragen wird, sinkt hier zur bloßen Natur herab; so auch die geistige Kraft, ja alles geistige Leben, das vor jener Wendung liegt oder gar sie ablehnt. Wie aber das Neue nur durch die Erfahrung und Empfindung des Widerspruches zugänglich wird, so muß das Unvermögen aller Natur erkannt und anerkannt werden, damit das Neue freien Platz finde; nur aus der Erschütterung des Alten kann Neues hervorgehen. Das ergibt eine energische Abweisung aller bloß naturhaften Sittlichkeit; alles Gute, das bloßnatürlicher Kraft und Neigung entstammt, wird unzulänglich, ja wertlos. Zugleich aber regen sich neue Kräfte, es beginnt ein Aufkeimen von Bestrebungen und Empfindungen jenseits aller Natur, nur diese Zusammenhänge machen Liebe zum Feinde begreiflich, während sie dem natürlichen Verstände mit Konfucius als ein Unding erscheinen muß, nur hier kann Dankbarkeit aus einer drückend empfundenen Erniedrigung zu einer freudigen Erhöhung werden. Auch zeigt sich nun, wie alles Leben geistiger Art sich nicht auf ein Verwenden und Verknüpfen gegebener Kräfte beschränkt, sondern wie es die Kräfte zu erhöhen, den vorgefundenen Bestand zu steigern vermag. Es ist die überwindende Geistigkeit, auf Grund derer das menschliche Wesen durch das Ringen mit dem Gegenstande der Arbeit zu wachsen vermag, nur kraft jener Geistig-

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keit kann Liebe und Gemeinschaft mehr aus uns machen, neue Strebungen und Gesinnungen in uns erwecken. Solche Einführung eines neuen Inhalts ist aber zugleich eine Befreiung von der alten Form, eine Überwindung der bloßnatürlichen Kausalität, welche zunächst die Herrschaft besitzt und sie in der Außenwelt dauernd behält. Könnte auch die Geisteswelt sie nirgends abschütteln, blieben wir dauernd an die natürliche Verkettung geschmiedet, so wäre bei der tatsächlichen Verwicklung der Welt und der Schwäche des Guten die Lage eine verzweifelte; immer schwerer müßten die Folgen unserer Handlungen auf uns lasten, immer matter müßte unter solchem Druck die aufstrebende Bewegung, immer geringer das Vermögen zum Reinen und Guten werden. Ein Abbrechen der Reihe, ein Neueinsetzen, ein ursprüngliches Schaffen, ein inneres Wunder ist unentbehrlich, wenn nicht das Leben der Riesengröße der hemmenden und zerstörenden Mächte erliegen, wenn sich nicht auch die beste Kraft nutzlos verbrauchen und verzehren soll. Dieses Abbrechens und Neueinsetzens bedarf alle innere Bildung, es durchdringt als Gnade und Versöhnung, als Selbstüberwindung und Aufopferung alle menschlichen Verhältnisse. Aber einen Gehalt und einen Grund erhält es erst mit dem Selbständigwerden einer überwindenden Geistigkeit. Sie allein läßt eine Unerschöpflichkeit des Lebens gewinnen, sowie eine Möglichkeit neuer Wendungen, einer Rückkehr zur Einfachheit und Kindlichkeit, während sonst das Leben immer verwickelter, abgenutzter, greisenhafter werden müßte. Die Möglichkeit reiner Anfänge, einer Erweckung jugendfrischer, ursprünglicher, schuldloser Mächte ist eine Notwendigkeit für die Erhaltung wahrhaftigen Lebens sowohl bei dem Einzelnen als bei der Menschheit. Wir fanden solche Freiheit unentbehrlich für alle echte Geschichte und Gegenwart. Ferner wächst die Gesamtbedeutung des Lebens gewaltig, wenn es derartige Umwandlungen und Erneuerungen enthält. Wenn große Möglichkeiten offen stehen und die Bildung des Ganzen noch in Fluß ist, so wird es aus einem Spiel an der Oberfläche ein Suchen seiner eignen Tiefe, aus einer bloßen Nutzung gegebener Kräfte ein Kampf um ein neues Wesen, aus einem willenlosen Dahintreiben mit der Natur ein selbständiges Drama von reichem Gehalt. Das alles wird stillschweigend anerkannt, wo immer die Bewegung sich nach innen kehrt und die Hoffnung und Arbeit auf wesentliche Erneuerungen geht, es ist die Voraussetzung aller ursprünglichen Produktion.

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Wie aber ist es den Hemmungen und Verwicklungen gewachsen ohne eine überwindende Geistigkeit? In engem Zusammenhange damit steht ein eigentümliches Verhältnis von Vernunft und Unvernunft, von Gutem und Bösem, das erst mit jener Überwindung volle Klarheit gewinnt, das in der Tat aber von dem Ganzen des Lebens wie vorausgesetzt so bestätigt wird. Nur die Befestigung eines Guten jenseits des Reiches der Verwicklungen läßt einen festen Punkt gewinnen, an dem sich das Leben halten und stützen kann. Zugleich aber besagt die Anerkennung einer wesentlich höheren Stufe, daß in der Bewegung des Lebens ein Mehr errungen, eine positive Erneuerung vollzogen, nicht bloß ein Schaden geheilt, ein Verlust ersetzt wird. Die Praxis der Religionen hat das nicht selten verkannt; so sehr erfüllte die Heilung der Schäden, die Befreiung vom Bösen die Gemüter, daß die Erneuerung und Erhöhung darüber vergessen oder doch verdunkelt wurde. Aber die ausschließliche Verfolgung dieser Richtung kann die Religion zu einem Spital des Geistes machen, das nur Schwache und Verkrüppelte anzieht, Kräftige und Mutige aber abstößt. Und doch bedarf es der Kraft und des Mutes, um den geistigen Kampf wie aufzunehmen so durchzuführen; die Religion selbst mit ihrer starken Empfindung des Konfliktes leidet Schaden an ihrer Wahrhaftigkeit, wenn nicht eine Energie des Lebens, eine Bewegung aller Kräfte hinter ihr steht, in ihr drängt und treibt. So müssen wir fordern, daß der schwere Kampf auch einen Ertrag bringe, sich nicht im Leben Verlust und Gewinn einfach aufheben. Aber zugleich bleibt das Böse in mächtiger Wirkung, sie wird durch die Wendung weniger verringert als gesteigert. Denn nun erscheint jenes als ein schroffer Widerstand gegen das überlegene Gute, als ein Versuch der Hemmung und Herabziehung, es läßt sich nicht mehr als ein der Natur anhaftender Mangel verstehen und entschuldigen, es wird zum vollen und direkten Gegensatz. Damit wächst auch sein Dunkel, alle Deutungsversuche zerschellen an der Undurchsichtigkeit der Tatsache. Aber bei aller solchen Verschärfung verliert das Böse die niederdrückende und zerstörende Macht, die es haben muß, wo die Welt, der es anhängt, das Letzte und Ganze bedeutet, wo es keine Berufung von ihr an eine höhere Ordnung gibt; die Eröffnung eines neuen Reiches verleiht die Kraft, das Leben trotz aller Hemmung aufrechtzuhalten, indem sie ihm einen von jener unberührten Inhalt gewährt. Keine der Überzeug-

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ungen vermag das Böse zu erklären, aber es belastet sie in sehr verschiedener Weise. Der Pantheismus, der die Wirklichkeit unmittelbar in einen einzigen Zusammenhang bringen will, scheitert rettungslos am Problem des Bösen; denn er müßte es erklären und rechtfertigen, und vermag das ebensowenig wie wir anderen. Auch für den Theismus bleibt das Böse ein unlösbares Rätsel, nicht aber wird er dadurch bis zu seinem tiefsten Grunde erschüttert, da er eine andere Welt als diese Mischung von Vernunft und Unvernunft kennt und daher die Lösung der Frage ablehnen kann ohne sich selbst preiszugeben. So vermag allein die Anerkennung einer überwindenden Geistigkeit beide Seiten des Gegensatzes ihre volle Stärke entfalten zu lassen, ohne das Leben zu zerreißen, die Tatsächlichkeit des Bösen vollauf anzuerkennen und ihr doch nicht zu unterliegen. Eine Lösung bringt hier nicht eine Einstellung oder Milderung des Kampfes, sondern ein Hervorgehen neuer Güter, ja eines neuen Lebens aus allem Gewirr des Kampfes. Luther drückt dies in seiner Weise SO 3.US l )> Das ist die geistige Macht, welche herrscht inmitten der Feinde und gewaltig ist in allen Unterdrückungen. Dies aber ist nichts anderes, als daß die Tugend in der Schwachheit vollendet wird, und daß ich in allen Dingen am Heil gewinnen kann, so daß Kreuz und Tod gezwungen werden, mir zu dienen und zum Heil mitzuwirken". An dritter Stelle kommt zur Geltung, daß die überwindende Macht allererst ein sicheres Reich der Innerlichkeit aufbaut. Es besagt das nicht eine stärkere Wirkung des bloßen Gefühls, denn ein Wallen und Wogen des Gefühls, das nicht einen wahren Tatbestand ausdrückt, mag als angenehmes Spiel den Lebensprozeß begleiten und umsäumen, nun und nimmer kann es in den stürmischen Wirren einen festen Halt gewähren, noch auch der Unvernunft des vorgefundenen Bestandes kräftig entgegentreten. Das vermag nur eine neue Wirklichkeit, die größere und ursprünglichere Kräfte zuführt. Wir sahen, wie ein den Gegensätzen überlegenes Innenleben die Grundbedingung alles geistigen Schaffens bildet, wir sahen aber auch, wie ihm aus der Weltverwicklung starke Widersacher erwachsen, denen es zu erliegen droht. Nun aber entsteht aus der direkten Beziehung unseres Lebens auf das absolute Leben eine eigentümliche Art der Innerlichkeit, die von jenen Hemmungen nicht betroffen wird, und die mit der eignen Entwicklung den allgemeinen

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Begriff rettet und alles Wirken für das Innenleben unterstützt. Denn jene Beziehung entfaltet sich gänzlich jenseits der Verwicklungen der Welt, zugleich weiß sich das neue Leben unvergleichlich wertvoller als alle Leistung in der Ausbreitung der Dinge. Gegenüber der Hauptaufgabe der Begründung des Wesens im absoluten Leben verschwinden alle anderen Aufgaben und Mühen, die äußeren Sorgen, diese „Sandbank der Zeitlichkeit", weichen der inneren Sorge, die alles Streben zusammenfaßt und auf ein einziges Ziel richtet Ja das ganze Reich des Äußeren, sofern es das Streben festhält, sinkt zur Welt im schlechten Sinne herab, die abgewiesen und verworfen wird. Bei sich selbst aber wächst mit jener Konzentration die Innerlichkeit zur Innigkeit, sie umfaßt nicht mehr gleichmäßig den ganzen Umfang des Lebens, aber sie verbindet alles, was aus der Bewegung vom Ganzen zum Ganzen hervorgeht, zu einer Einheit, verlegt dahin den Schwerpunkt der Tätigkeit und vollzieht zugleich eine innere Abstufung des Lebens. Die Wesensbildung, die sonst an den Widerständen scheiterte, vermag sich nun als Herzensbildung zu verwirklichen. Hier fallen Wesen und Wert nicht mehr auseinander wie sonst, sondern sie verschmelzen untrennbar; hier, aber auch nur hier, in diesem Reich freien Schaffens aus dem Verhältnis zum absoluten Leben, wird alles Sein gut, alles Wirkliche vernünftig. Nunmehr vermögen die Größen des Innenlebens alles Naturhafte abzustreifen, erst in diesen Zusamenhängen wachsen Begriffe wie Persönlichkeit, Charakter u. s. w. aus halben Naturbegriffen zu reingeistigen, schlechthin wertvollen Größen. Auch das wird mit jener Zurückverlegung und Befreiung des Lebens erreicht, daß die letzte Schätzung des Menschen nicht mehr von Unterschieden der äußeren Stellung, Begabung und Leistung abhängt. Diese werden, mag der Mensch sich dagegen noch so sehr sträuben, überall da den Ausschlag geben, wo keine reine Innenwelt besteht und sich nicht das ganze Wesen zu einer Tat zusammenfaßt; kein noch so demokratisches Programm kann davor bewahren. Denn die Idee einer Gleichheit der Menschen widerspricht aller Erfahrung der Welt; nicht nur im Werk, auch im Vermögen walten hier die weitesten Abstände. Nur bei der innersten Aufgabe des Lebenswerkes wird der Mensch von allem Fremden befreit und rein auf sich selbst gestellt, hier fällt alles Äußere ab, und stehen wir alle unter wesentlich gleichen Bedingungen. Diese Vertiefung und Befreiung des menschlichen Lebens wird E u c k e n , Kampf.

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aber da, wo seine Erfahrung als einem Weltgeschehen zugehörig verstanden wird, ein unmittelbares Zeugnis für eine größere Tiefe des Alls. Die Welt des Guten wird hier zur Seele und zur Hauptmacht alles Seins, eine reine Innerlichkeit zum Träger aller Wirklichkeit; nun wächst die Idee des absoluten Lebens zu der einer Gottheit, die Geisteswelt zu einem Reich Gottes, die Vernunft zur allmächtigen Liebe, die Freiheit besiegt endgültig das Schicksal. Das alles entwickelt sich zunächst in der besonderen Richtung, die nicht das ganze Leben an sich ziehen kann, die vielmehr in einem Gegensatze zum Übrigen verharren muß, um ihre Selbständigkeit zu wahren und ihre Eigentümlichkeit auszuprägen. Aber eben in der Befestigung seiner Besonderheit stützt und fördert es auch den allgemeineren Gedanken einer weltüberlegenen Innerlichkeit Des Rückhaltes einer solchen Innerlichkeit bedarf alles echte und wesenbildende Schaffen. Denn ohne die Möglichkeit, aus aller Verwirrung und Verwicklung der Weltverhältnisse auf eine reine Ursprünglichkeit des Lebens zurückzugehen, hier eine Weltüberlegenheit zu gewinnen, ohne damit ins Leere zu fallen, gibt es keine innere Gewißheit der Arbeit, keine Selbständigkeit des Charakters, keine Energie des Kampfes gegen die Unvernunft, keine Größe und Würde der Gesinnung. Die geschichtliche Erfahrung bestätigt das mit dem Aufweis, daß solche Gesinnung alles kräftige Wirken für ideale Güter erfüllte, auch wo das Bewußtsein andere und entgegengesetzte Weltbilder entwarf; selbst die politischen und sozialen Bewegungen haben ihre Kraft zum guten Teil aus der Hoffnung auf eine innere Erhöhung des Menschen geschöpft und in dem Streben nach wesentlichen Erneuerungen das Vermögen bezeugt, sich dem vorgefundenen Weltstande kühn entgegenzusetzen und aus der Innerlichkeit des Geistes eigne Ziele zu entwerfen, neue Kräfte zu erwecken. Wo der Mensch nicht um ein weltüberlegenes Wesen kämpft, nicht auf eine reine Ursprünglichkeit zurückgreifen kann, da fehlt seinem Streben aller Glaube und alle Glut Aber wird jene lebenbeseelende Weltüberlegenheit nicht eine leere Phrase, wenn wir in Wahrheit allein der Welt der Erfahrung angehören, wenn ein reines Innenleben nirgends eine sichere Stätte findet? Da wir nicht als Folge festhalten können, was wir im Grunde aufheben, so ergibt sich das unerbittliche Dilemma, entweder alle jene Antriebe und damit alle Größe des Lebens preiszugeben oder eine weltüberlegene Innerlichkeit mit den Zusammenhängen, welche sie fordert, anzuerkennen.

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Der vierte Punkt betraf die neue Stellung des Individuums. Das Individuum erfährt zunächst die bedeutendste Erhöhung dadurch, daß seine Innerlichkeit den Durchbruchspunkt der neuen Welt bildet. Wohl erschien, so sahen wir, von Anfang an eine Gegenwart des Gesamtlebens im Individuum, ohne sie gab es keine Geistigkeit. Aber dieser Zusammenhang mit dem Ganzen wurde durch die Hemmungen des Durchschnittsstandes verdunkelt und erdrückt, undurchsichtige Mächte bezwangen den Menschen und verwandelten ihn in ein bloßes Mittel und Werkzeug. Gewinnt er hingegen jetzt ein direktes Verhältnis zum absoluten Leben, so erreicht er zugleich eine Selbständigkeit; der geistige Prozeß, der sonst gleichgültig über ihn fortging, kehrt nunmehr zu ihm zurück und versichert ihn eines absoluten Wertes. Die Weltprobleme werden jetzt auch innerhalb der Seele des Einzelnen aufgenommen, es wird hier um das Ganze und mit der Kraft des Ganzen gekämpft, für das Ganze erhält Bedeutung was hier geschieht, dem Ganzen darf diese besondere Welt nicht verloren gehen. Damit gewinnt das Einzelleben eine Geschichte bei sich selbst; wichtig, ja zur Hauptsache wird, was es in seiner Individualgestaltung aus sich macht, während sonst nur die Leistüng für die allgemeinen Ordnungen zählte. Dies Wachstum des Lebensinhalts erhöht die gesamte Stellung des Individuums. Das unmittelbare Verhältnis zu den schaffenden und erneuernden Gründen erhebt es über alle bloße Zeit und sichtbare Welt, es sichert dem innersten Kern seines Wesens eine Ewigkeit und eine Rettung aus allen Gefahren. Dies aber führt weiter zu der Forderung und der Überzeugung, daß trotz alles widersprechenden Scheines auch das Ergehen des Individuums nicht einem starren Schicksal oder dem blinden Zufall überlassen bleibt, sondern daß es in der Hand einer höheren Macht der Liebe und Weisheit steht, daß auch in seinem Leben irgendwelcher Sinn waltet und gelegentlich in der Lenkung von Arbeit und Geschick auch durch alles Dunkel der Weltverhältnisse hindurchschimmert. Aber dies alles hat eine Kehrseite, in jener Erhöhung des Lebens steckt zugleich eine Unterordnung und Bindung. Denn der Gewinn erscheint in diesen Zusammenhängen nicht als eine eigne Leistung, sondern als das Werk jener überlegenen Macht, welche aus den Verwicklungen in eine neue Welt erhebt; das Errungene wird damit etwas Empfangenes, ein Geschenk freier Gnade. Ohne solche Grundlage versinkt alles menschliche Leben und verfällt der 17*

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Zerstörung, ein Sieg der Vernunft im Einzelnen ist ohne ihren Sieg im Ganzen undenkbar. Selbst die Freiheit des Menschen, ohne die sich die neue Welt nicht aneignen läßt, bedeutet hier nicht ein von jener Macht unabhängiges Vermögen, sondern etwas durch sie gesetztes und immerfort aus ihr quellendes; so erscheint auch die höchste Leistung des Menschen nicht als ein Verdienst, sondern als eine freie Gabe höherer Gewalten. An dieser Stelle der letzten Begründung zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Gnade und Freiheit teilen zu wollen, sowie dem Menschen irgendwelches selbständige Verdienst beizulegen, ist ebenso unerträglich als Spaltung wie als Verflachung des Lebens. So hat hier die Abhängigkeit keine Schranken, und es ist unter den verschiedenen Auffassungen jenes Verhältnisses, die innerhalb der Religionen miteinander streiten, die strengste gewiß auch die tiefste und wahrste. Aber zu ihrer Wahrheit gehört, daß das erneuernde Wirken der überwindenden Geistigkeit nicht an einen einzelnen Punkt der Geschichte und des Lebens gebunden werde, sondern daß sich die Gegenwirkung gegen die Unvernunft über das Ganze erstrecke. Sonst kann jene Abhängigkeit des Menschen zur Verwerfung von viel Edlem und Großem und zu einer Herabdrückung des Lebens führen. Nirgends mehr als an dieser zentralen Stelle bedarf es so sehr einer universalen Fassung, um die Wahrheit gegen Entstellung zu schützen, nirgends mehr als hier erscheinen Freiheit und Tiefe, die sich in den menschlichen Verhältnissen leicht entzweien, als Zwillingsgeschwister. So kommt mit dem neuen Leben eine gewaltige Spannung in das menschliche Sein; Größe und Kleinheit, Selbständigkeit und Abhängigkeit werden hier aufeinander angewiesen, sie bilden verschiedene Seiten desselben Prozesses. Der dialektische Charakter, den das menschliche Geistesleben durchgängig zeigt, erreicht hier seine höchste Höhe. Das neue Leben hat nach außen wie nach innen zu kämpfen, sein Licht läßt das Dunkel der Welt um so tiefer erscheinen, bei sich selbst aber kennt es kein Aufbauen ohne ein Zerstören, keine Rettung ohne ein Opfer. So ist seine ganze Entwicklung von Gegensätzen durchwoben: es verheißt eine allem anderen Glück unvergleichliche Seligkeit und zwingt alle Unvernunft des Daseins auf sich zu nehmen, es will vollen Frieden und verwickelt in endlosen Streit, es bringt eine abschließende Tatsächlichkeit und verwandelt das Leben in ein unablässiges Suchen, es gibt dem Menschen die Ruhe und Gewißheit einer ewigen Wahrheit und

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wirft ihn zugleich in die ärgsten Zweifel, es hebt in dem allen einerseits über das Reich der Gegensätze hinaus, es hält uns andererseits bei ihm fest und läßt uns seine Mühen und Sorgen tiefer empfinden als je zuvor. Demnach vollzieht das neue Leben wohl eine innere Befreiung, aber es bringt keinen fertigen Abschluß; unser Sein wird bewegter, gehaltvoller, bedeutsamer, nicht aber fügt es sich zu einem harmonischen Ganzen, nicht verschwindet aus ihm die Unvernunft. An der tiefsten Stelle ist ein fester Grund und ein sicherer Friede erreichbar, sonst aber bleiben wir mitten im Kampfe; das Feindliche wird innerlich gebrochen, nicht aber völlig überwunden. So kann auch in allem Gewinn das Leben nie zu bloßem Genuß und tändelndem Spiel werden, die Notwendigkeit unaufhörlicher Kämpfe, Verzichte, Opfer, ja des Werdens des Neuen durch den Untergang des Alten gibt ihm einen tragischen Grundzug. Ein Sieg wird errungen, aber zugleich wird die Welt verwandelt und dasjenige Sein vernichtet, was zunächst befriedigt sein wollte. Aber bei aller Einschränkung verbleibt die Kräftigung der Vernunft durch jene Wendung, das sonst der Erstarrung verfallene Leben kommt damit wieder in Fluß. Durch die ganze Erörterung blieb uns gegenwärtig, daß die neue Geistigkeit mit der Entwicklung ihrer besonderen Art zugleich den gesamten Lebensprozeß aufrechthält und ihm unentbehrliche Größen sichert, welche die Weltverwicklung hart gefährdete. Die Größen einer reinen Geistigkeit, Innerlichkeit, Freiheit erlangen durch die Befestigung in dem besonderen Gebiet überhaupt erst eine sichere Wirklichkeit; von dort wird alles verstärkt und gehoben, was sonst zu solcher Höhe aufstrebt; die Wesensbildung gewinnt hier einen festen Kern und kann nun ihre Aufgabe auch im allgemeineren Sinne angreifen; eine allem menschlichen Tun und Treiben überlegene Wahrheit wirkt von hier auch zur Förderung des übrigen Lebens. Diese Kräftigung der Vernunft erstreckt sich auch auf die beiden Stufen zurück, welche der überwindenden Geistigkeit vorangingen; sie erscheinen nicht nur in neuer Beleuchtung, sie vermögen auch zum Ganzen des Lebens mehr beizutragen. Das Geistesleben entwickelte zunächst ein grundlegendes Schaffen, alle spätere Hemmung konnte diese Tatsache nicht aufheben. Wohl aber wurde sie für die menschliche Anschauung und Empfindung weit zurückgedrängt; daß die Kämpfe und Nöte des Lebens so sehr voranstehen, das

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war es, was dem Pessimismus so viel Macht über die Gemüter verlieh. Nun aber befreit die Erhöhung des Gesamtlebens die begründende Geistigkeit von jenem Druck, die Haupttatsache vermag sich von den Verwicklungen der Ausführung abzulösen, der Idealgehalt des Früheren erlangt seine volle Geltung; es läßt sich das Gute beleben, das vor dem Bösen, das Streben, das vor der Irrung, die Tatsache, die in dem Problem liegt; der Geistesgehalt und die ethische Kraft der Arbeit kommen nun voll zur Wirkung. So vermag das Neue in dem Alten neue Kräfte zu erwecken. Endlich wird selbst das Feindliche von der Wandlung ergriffen. So unerklärlich die Ünvernunft bleibt und so wenig ihr Tatbestand verringert wird, die Hemmung nimmt sich anders aus, wenn sie zum Anlaß wird, daß neue Kräfte hervorbrechen, ja sich eine neue Welt eröffnet; der Kampf gegen die Unvernunft aber hat nicht mehr das Aussichtslose, das ihm anhaftete, solange es keine Erhebung über das Reich der Unvernunft gab. So verbinden sich nun die drei Stufen der grundlegenden, kämpfenden, überwindenden Geistigkeit zu einem Ganzen des Lebens. Wohl müssen diese Stufen auch hier auseinander gehalten werden, damit der Inhalt der Wirklichkeit dem Menschen zu eigner Erfahrung werde, aber nunmehr vermögen sie sich gegenseitig zu stützen und zu fördern, nun können sich die Welten der Arbeit, des Kampfes, der Wiedergeburt zu der einen allumfassenden Aufgabe der Wesensbildung verbinden.

d. Verwicklungen und Abgrenzungen. Das Verhältnis der verschiedenen Stufen und die Wirkung des Neuen erschien bis dahin als einfach und klar. Aber es konnte so nur erscheinen, weil die Betrachtung beim allgemeinsten Umriß beharrte. Strebt sie darüber hinaus, so zeigen sich nicht geringe Verwicklungen, die viel zu sehr das Gesamtbild des Lebens berühren, um nicht auch hier eine Erörterung zu fordern. Es finden sich solche Verwicklungen sowohl im eignen Bestände der überwindenden Geistigkeit, wie sie vornehmlich in der Religion zur Verkörperung gelangt, als in ihrem Verhältnis zum übrigen Leben; hier wie dort erwachsen Gegensätze, die sich nicht mit Einem Schlage aufheben lassen, sondern die beharren und durch unablässige Arbeit immer von neuem bezwungen sein wollen.

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— Die Religion kann nicht selbständig und kräftig wirken, ohne sich von dem übrigen Leben abzuheben und gegenüber aller Arbeit an der Welt ein eignes Reich aus der direkten Beziehung auf das absolute Leben zu entwickeln, ohne mit ihrem G r u n d e in sicherer Weltüberlegenheit zu stehen. Aber in solcher bloßen Weltüberlegenheit erreicht sie keineswegs schon einen lebendigen Inhalt. Dafür bedarf sie einer Zurückwendung zur Welt der Arbeit und des Kampfes, um mit Hilfe der Erfahrung beim Endlichen die U n endlichkeit ihres Wesens zur Gestaltung zu bringen. Denn der Inhalt des Geisteslebens eröffnet sich uns Menschen mit einer näheren u n d anschaulichen Beschaffenheit nur von der Welt her; wir verzichten auf eine solche Beschaffenheit auch f ü r d a s Unendliche, wenn alle Beziehung zur Welt aufgegeben wird. Begriffe aus der Welterfahrung sind uns zu irgendwelcher lebendigen Fassung des Überweltlichen unentbehrlich; auch sein Wirken bleibt uns in nebelhafter Ferne, wenn wir es nicht auch innerhalb der Welt ergreifen. Daraus aber, daß so bei der überwindenden Geistigkeit mit einer Überlegenheit im Wesen eine Gebundenheit f ü r unsere Lage zusammentrifft, daß die Religion sich f ü r ihre eigne Entfaltung auf die Mittel derselben Welt angewiesen sieht, über die sie innerlich hinausführt, entsteht eine eigentümliche Verwicklung, die schwere Mißstände erzeugt hat und immerfort zu erzeugen droht. Das Überweltliche ausdrücken und weiterbilden kann aller Befund der Welt nur, wenn daraus alles, was der bloßen Welt und Endlichkeit angehört, entfernt und der alsdann verbleibende Kern zur Unendlichkeit erhöht wird. Daß dies möglich ist, und daß die Bewegung zur überwindenden Geistigkeit nicht beim bloßen Suchen und Sehnen, bei matten Umrissen und fernen Aussichten bleibt, sondern daß die neue Welt auch dem Menschen mit reichem Inhalt nahe und gegenwärtig zu werden vermag, das ist der Nerv alles Strebens und die Grundüberzeugung alles Schaffens aus der neuen O r d n u n g . Aber auch in dem Gelingen ist hier die Schranke des Menschen unverkennbar. Mag die geistige Substanz sich noch so sicher ü b e r die Verwicklung hinausheben, es verschwindet damit nicht die endliche und menschliche Art des Erlebens; diese hat eigentümliche seelische Bedingungen und Schranken und erhält sich damit neben u n d . an dem geistigen Schaffen, sie droht bei irgendwelcher Minderu n g der Spannung in seine Substanz einzufließen u n d sie zu entstellen. So wird es zur Notwendigkeit, eben das, was wir in seinem

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Kern festzuhalten und zur Unendlichkeit zu erhöhen streben, seiner Daseinsform nach anzugreifen; wir mögen z. B. bei der Idee der Persönlichkeit zugleich den geistigen Gehalt als den Hauptbegriff der neuen Welt anerkennen und die Einmengung der menschlichen Art des Persönlichseins in die letzten Gründe energisch abweisen. Es gilt demnach zugleich anzueignen und abzustoßen, zu billigen und zu verwerfen; es bedarf einer unablässigen Scheidung der Substanz von der Daseinsform, einer scharfen Sonderung von Geistigem und Bloßmenschlichem, einer siegreichen Aufrechterhaltung des Geistigen gegen das Bloßmenschliche. Wie das geschehen kann, das hat uns eben beschäftigt. Aber jene Aufgabe wird immer nur annähernd gelingen, sie wird nicht selten gründlich mißlingen. Im besondern enthält jene Doppelaufgabe einen zwiefachen Keim der Irrung. Einerseits verleitet der Drang nach reiner Fassung des Überweltlichen dazu, mit der menschlichen Lebensform auch die geistige Substanz unserer Erfahrung als eine Entstellung von ihm fernzuhalten; ein solcher gänzlicher Bruch aber ergibt nicht nur eine Gleichgültigkeit, ja Feindschaft gegen alle Weltarbeit, sondern er enthält auch einen Verzicht der Religion auf einen lebendigen Inhalt und eine weltumwandelnde Wirkung. Andererseits läßt das Verlangen nach einer nahen, verständlichen, lebenswarmen Gestalt des Göttlichen mit dem geistigen Kern zugleich die Daseinsform des Menschen darin aufnehmen und beides eng miteinander verquicken, so daß schließlich Göttliches und Menschliches in Eins zusammenrinnen; alsdann wird jenes von seiner Höhe herabgezogen, dieses hingegen über sein Vermögen aufgebauscht, ein unerquickliches Gemisch droht das Leben zu entstellen. Das Streben, das Göttliche von allem Weltlichen abzulösen und rein bei sich selbst zu fassen, hat eine gewaltige, ja berückende Macht über das menschliche Gemüt; indem jenes alle Verengung des Unendlichen abweist und zugleich dem Menschen an ihm teilgibt, scheint es sowohl ihn von der Kleinheit einer Sondernatur zu befreien als dem Göttlichen zuerst sein volles Recht zu gewähren. Nirgends dünkt der Mensch sich größer als in solcher Wendung gegen sich selbst und seine Welt. — Nach der Seite des Denkens hat jenes Streben sich namentlich in der mystischen Spekulation verkörpert. Die Unzulänglichkeit aller menschlichen Begriffe für das Absolute findet hier einen besonders kräftigen Ausdruck; was

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immer auch im höchsten Aufschwung des Denkens an Annäherung versucht wird, das scheint alsbald eine Verweltlichung und Entstellung zu werden, das Ja verwandelt sich in ein Nein, die Bewegung überfliegt und verschmäht jede Gestaltung. Höchstens ein Bild mag hier zulässig scheinen, und es wird auf diesem Wege die ganze Wirklichkeit zu einem bloßen Gleichnis; da sie aber das Gleichnis eines Unbekannten ist, so erhält das Ganze eine traumhafte Art, alle nähere Beschaffenheit verschwebt und verschwindet, wie beim Erwachen die Gestalten des Traumes, die wir festhalten möchten. Und für diesen Verlust einer anschaulichen Welt findet sich kein Ersatz bei der Idee der Gottheit, denn auch diese verliert bei solcher Jenseitigkeit allen eigentümlichen Inhalt und alle belebende Kraft; die Religion wird durchaus abstrakt und kann nur in unbestimmtester Regung, nicht mit erneuerndem Schaffen das Leben bewegen. Nicht minder zerstörend wirkt die Entgegensetzung des Göttlichen und des Weltlichen für das Handeln. Die Religion kann nicht von der Überzeugung lassen, daß alles menschliche Tun nur Wert hat, wenn es in einem göttlichen wurzelt, daß alle menschliche Liebe echter Art aus der göttlichen quillt und zu ihr zurückkehren muß. Aber diese Forderung wird zu einer Bedrohung des menschlichen Lebens, wenn das göttliche von ihm abgelöst und ihm schroff entgegengestellt wird. Denn leicht erscheint dann alles, was dem Menschen erwiesen wird, als ein Raub an der Gottheit; verwerflich wird alles, was neben dem Göttlichen Arbeit und Liebe fordert; alles Menschliche gering zu achten, ja sich dagegen bis zur vollen Gleichgültigkeit abzustumpfen, das mag dann die Höhe rechter Gesinnung dünken. Alle Liebe zu Angehörigen und Genossen, aller Eifer für Staat und Vaterland, alle Arbeit für Kunst und Wissenschaft wird hier wertlos, ja eine verwerfliche Abwendung vom allein wahren Ziele. Eifersüchtig duldet hier die Idee des Absoluten nicht das Mindeste neben sich, die Religion kann als allesverzehrender Moloch selbst die Humanität verschlingen. Zugleich aber droht bei solcher Entgegensetzung gegen Menschen und Welt das Leben auch in der Richtung auf das Göttliche leer und kalt zu werden; aller stürmische Aufschwung der Stimmung, alles Schwelgen in unfaßbaren Gefühlen bietet keinen Ersatz für das Unvermögen, die seelische Regung in Arbeit und Liebe umzusetzen. Die Geschichte aller Religionen bietet Beispiele in Hülle und Fülle dafür, daß in solcher Weise die Entgegensetzung des Göttlichen und des Menschlichen

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sowohl die Wirkung des Göttlichen bei uns gefährdete als die Entwicklung des Menschlichen hemmte. Irrungen anderer, aber nicht geringerer Art erzeugt eine Vermengung des Göttlichen und Menschlichen. Wenn das Verlangen nach einer lebendigen Nähe zu einer Forderung sichtbaren und sinnfälligen Daseins sinkt, so entsteht die Gefahr, die bloßmenschliche Vorstellungs- und Lebensform in die Substanz des Göttlichen zu verpflanzen, damit aber sowohl das Göttliche in eine niedere Sphäre herabzuziehen, als für das Menschliche die Ansprüche zu erheben, die nur dem Göttlichen zustehen. Die Ablösung des Göttlichen vom Menschlichen brachte die Ewigkeit in einen schroffen Konflikt mit der Zeit und drohte die Geschichte alles Wertes zu berauben; die Verquickung stellt umgekehrt das Ewige, statt es die Geschichte als Ganzes umspannen zu lassen, mitten in sie hinein und bindet es an einzelne Punkte; wird es aber in dieser besonderen Gestaltung gegen allen Wechsel und Wandel der Dinge als etwas unantastbares festgehalten, so muß das ebenso zur Erstarrung der Religion, wie zur Hemmung der Kulturarbeit, zur Gefährdung der Freiheit und Unmittelbarkeit wirken. Die absolute Wahrheit, die dem Ewigen zukommt, und an der auch der Kern des Menschenwesens teilhaben muß, wird zu schwerem Druck, wenn sie auf die bloßmenschliche Seite übertragen, und wenn für einzelne Stellen hier der Anspruch der Unfehlbarkeit erhoben wird, auf den das Göttliche nicht verzichten kann. O b dabei gewisse Ämter oder Schriften oder Lehren den Vorzug erhalten, das macht für die Hauptsache keinen Unterschied; es bleibt in allen Fällen eine Vermengung von Zeitlichem und Ewigem, von Menschlichem und Göttlichem. Diese Vermengung bedroht zugleich den Inhalt des Lebens. Zunächst ist bei der Vorstellung vom Göttlichen dem Anthropomor-. phismus Tor und 'Tür geöffnet, wenn der Geistesgehalt nicht unablässig von der menschlichen Daseinsform geschieden und in seiner Reinheit behauptet wird; leicht kann hier, was als überweltlich gilt, den Menschen in der Enge seiner Welt nur noch weiter bestärken, statt ihn davon zu befreien. Noch schwerer sind die Folgen der Vermengung für das Leben. Denn hier erhält die Sache die Gestalt, daß gewisse Aufgaben und Gebiete, als dem Göttlichen näher verwandt, von dem Übrigen abgesondert und ihm entgegengesetzt werden, daß eine Scheidung von Heiligem und Profanem das Leben zerreißt. Da sich aber unmög-

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lieh die eine Seite erhöhen läßt ohne eine Erniedrigung der anderen, so sinkt die allgemeine Aufgabe, die schlichtmenschliche Moral, zu etwas nebensächlichem, sie wird im Fall eines Konfliktes unbedenklich preisgegeben. Zugleich erfolgt ein Sicheinspinnen in die Enge eines Sonderkreises, es erwächst die Selbstgefälligkeit eines partikular religiösen Lebens. Daraus bei ungehemmter Weiterentwicklung eine wachsende Überspannung des Menschlichen, eine Veräußerlichung des Göttlichen, eine innere Unwahrhaftigkeit, jenes Gewebe des Pharisäismus, das alle Männer ursprünglicher Gesinnung auf Leben und Tod bekämpften, niemand mehr als die Helden der Religion selbst. Denn ihr ganzes Leben und Wirken bildete einen Protest gegen jene Vermengung des Göttlichen und des Menschlichen, sie brauchten das Göttliche nicht an besonderer Stelle zu suchen, weil es ihnen im Ganzen gegenwärtig war. Der Pharisäism u s ist nicht ein Erzeugnis einer einzelnen und vergangenen Zeit, sondern eine stete Gefahr, ja Begleiterscheinung der Religion. So erzeugt die Vermengung des Göttlichen und des Menschlichen nicht geringere Irrungen als eine schroffe Entgegensetzung. Dabei schützt die eine Richtung nicht vor der anderen, vielmehr pflegen sie sich gegenseitig hervorzurufen und zu verstärken. Je mehr die Ablösung von der Welt dem Leeren zutreibt, desto dringlicher wird eine Anlehnung an sichtbare Verkörperungen, und je mehr diese wiederum in alle Schranken und Mißstände des Weltlebens verwickeln, desto unwiderstehlicher wird das Verlangen, solcher Verwicklung durch die Flucht in ein Gebiet voller Weltüberlegenheit zu entgehen. Abstrakte Mystik und kirchliche Werkheiligkeit mögen f ü r die Einzelnen unversöhnliche Gegensätze sein; daß sie es nicht f ü r das Ganze der Menschheit sind, zeigt die Erfahrung der Geschichte deutlich genug. Demnach gilt es, zwischen den Verirrungen nach beiden Seiten das rechte Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem zu suchen, wir müssen in der Substanz eine Einigung erreichen und zugleich die menschliche Lebensform draußen lassen. Unablässig muß hier der Mensch in sich selbst eine Scheidung vollziehen, er hat zugleich einen Kampf gegen die Besonderheit seiner Art aufzunehmen und einer universalen Geistigkeit innezuwerden; er wird das nicht können ohne eine U m k e h r u n g der ersten Lage, er m u ß den Standort in schöpferischer Selbsttätigkeit nehmen und aus den hier eröffneten Zusammenhängen das Leben unablässig erneuern, wie das nach

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seinen allgemeinen Bedingungen oben erörtert wurde. Der inneren Abstufung des Lebens, die wir dabei erkannten, bedarf besonders die Religion, um die Einigung von Göttlichem und Menschlichem, von Zeitlichem und Ewigem zu erreichen, ohne die sie selbst, ja alle geistige Wirklichkeit der Auflösung verfällt. In einem Kern des Wesens muß unverlierbar und wirksam vorhanden sein, was die Lebensentfaltung erst zu suchen und anzueignen hat; haltlos würden wir auf den Wogen der Zeit einhertreiben, wenn nicht aus jener Tiefe ein Ewiges wirkte und richtete; das Ewige aber wird zu starrem Druck, wenn es sich auch in der Lebensentfaltung als fertig gibt, wenn der sichere Besitz nicht zugleich eine unermeßliche Aufgabe besagt. Für uns vollendet sich auch das Ewige nur durch die Zeit. So bleibt unser Leben zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Menschlichem und Übermenschlichem in unablässige Bewegung gestellt; bei diesen letzten Fragen der Wesensbildung ist alle echte Arbeit in der Zeit zugleich die Herausarbeitung eines Ewigen aus der Zeit und damit ein Abstreifen der Zeit, alle Vertiefung des Menschlichen zugleich ein Ergreifen eines Übermenschlichen.

Mit der Frage der inneren Gestaltung der Religion berührt sich eng das Problem ihrer Stellung im Ganzen des Lebens. Es ist hier namentlich das Verhältnis zur Weltarbeit, zur Kultur im engeren Sinne, wobei die Sache zum Austrag kommt Eine eigentümliche Verwicklung ist dabei unverkennbar. Die Religion und die Kultur befinden sich in einer steten Spannung gegeneinander, jede neigt dahin, der anderen ein selbständiges Recht zu bestreiten und alles Leben an sich zu ziehen, zum mindesten verlangt jede für sich eine unbeschränkte Hegemonie. So sind harte Zusammenstöße unvermeidlich, bald hat die eine, bald die andere einen Kampf ums Dasein zu führen. Aber zugleich sehen wir die Menschheit immer wieder auf beide zurückkommen, nie bei einer dauernd verweilen, ja im Kampf selbst scheinen sie einander ebenso zu suchen wie zu fliehen, sie scheinen einander nicht entbehren zu können. Alles das ein Zeichen, daß die Lage nicht einfach ist, sondern der Aufklärung bedarf. Die Religion wird den eigentümlichen Lebenstypus, den sie aus der direkten Beziehung auf das absolute Leben gewinnt, nicht in enger Abschließung halten, sondern dem ganzen Umfang unseres

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Denkens und Tuns mitzuteilen suchen. Die ganze Welt wird hier zum Widerschein der Gottheit; die Macht und Herrlichkeit Gottes zu verkünden, das wird ihre vornehmste, ja ihre einzige Aufgabe; alles Gute erscheint als ein unmittelbares Werk Gottes, alles Böse als Widerstand gegen Gott; nur die Richtung auf Gott gibt dem Handeln einen Wert, ja die Verbindung mit Gott wird zum einzigen Inhalt des Lebens. In solchem Leben fühlt die Religion sich nicht nur von aller Weltarbeit unabhängig, sondern ihr unermeßlich überlegen; so weit das Unendliche alles Endliche überragt, so sehr scheint auch die Beschäftigung mit ihm alle Leistung im Reiche der Bedingungen und Vermittlungen hinter sich zu lassen. Von hier aus erwuchs eine starke Geringschätzung der Kultur, bald wurde sie als etwas Wertloses gänzlich bei Seite geschoben, bald nur soweit anerkannt, als sie sich der religiösen Aufgabe willig anschloß. Jene völlige Verwerfung der Kulturarbeit liegt am nächsten, wo die Religion sich gegen eine ihr feindliche Kultur aufzuarbeiten hat, und wo es strengster Konzentration der eignen Art bedarf, um sich des von allen Seiten zuströmenden Fremden zu erwehren; wir verstehen und würdigen so die kulturfeindlichen Stimmungen, die das alte Christentum namentlich auf römischem Boden aufweist Aber zugleich kann solche völlige Ablehnung der Kultur nur eine vorübergehende Erscheinung bedeuten; bei genügender Sicherung ihres Bestandes muß die Religion schon für die eignen Zwecke die Kultur irgend heranziehen und ein freundlicheres Verhältnis zu ihr suchen. Durchaus erfüllt von ihrer Überlegenheit wird sie zunächst dies so gestalten, daß irgendwie der ganze Umfang des Lebens aufgenommen, dabei aber die Religion als ausschließliches Ziel gesetzt wird; alle anderen Gebiete weisen hier über sich selbst hinaus zu ihr hin und haben ihr alle Ergebnisse darzubringen, Gutes, Wahres, Schönes sind nur Wege und Anstiege zum Göttlichen; je rascher Wissenschaft und Kunst von der Mannigfaltigkeit zur letzten Einheit, von allem Endlichen zum Unendlichen als der Quelle aller Wahrheit und Schönheit führen, desto besser scheinen sie ihr Werk zu verrichten; alles Verweilen bei der Besonderheit dünkt hier unnütz, ja gefährlich. So ein allumfassendes religiöses Lebenssystem, wie es innerhalb des Christentums namentlich Augustin vertritt. Das Problematische dieses Lebenssystems liegt nicht darin, daß die Religion ihre Denk- und Empfindungsweise über das Ganze des Lebens ausdehnt, — das muß sie tun, wenn sie groß von sich

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selbst denkt, — sondern darin, daß sie diese Denkweise zur ausschließlichen macht und alles Interesse für die eigentümliche Art des Gegenständlichen zerstört. Denn damit verschwindet zugleich aller Antrieb zur Arbeit an ihm, die Breite der Wirklichkeit bleibt unergriffen und unerschlossen, die geistige Bewegung schwebt über den Dingen, statt in sie einzugehen und sich aus ihnen zu erfüllen. Jener weltüberlegene Lebensstand droht mit seiner alles verschlingenden Stimmung die Weltarbeit völlig zu vernichten, höchstens vermag er eine vorhandene Kultur aufzunehmen und in seinem Sinne zu verwerten, nicht aber kann er aus sich eine Kultur hervortreiben oder auch nur fördern. Was nie Selbstzweck werden kann, dem bleibt das Vermögen des Weckens und Schaffens versagt. Aber solche Preisgebung einer selbständigen Kultur wird zugleich eine Schädigung der Religion, leicht verwandelt sich der äußere Erfolg in einen inneren Verlust. Wo die Arbeit und das Ringen mit dem Gegenstande fehlt, da fehlt auch eine kräftige Gegenwirkung gegen das Bloßmenschliche; der Mensch droht sich viel zu rasch in eine weltüberlegene Stimmung einzuspinnen und die subjektive Art seines Erlebens ohne weiteres für den Gehalt der Geisteswelt zu geben. Aus zwei Hauptgründen kann und darf die Religion nicht das Ganze des Lebens sein, sondern muß sie sich bescheiden, innerhalb eines größeren Ganzen zu wirken. Einmal läßt sich die Überlegenheit des Göttlichen über alles Weltliche nicht auf unsere menschliche Beschäftigung mit dem Göttlichen übertragen; denn diese unterliegt besonderen Bedingungen und Hemmungen, zu deren Bekämpfung es dringend der Arbeit an der Welt bedarf; daß die Religion nicht bloß eine Eröffnung des Göttlichen, sondern auch eine Aneignung seitens des Menschen enthält, wird nicht ohne schweren Schaden verdunkelt. Ferner hat auch die Weltarbeit keineswegs bloß mit Endlichem zu tun, sondern in aller Vermittlung und Bedingung ist auch hier das Unendliche gegenwärtig und dem Menschen zugänglich; die Religion ist nicht die einzige Art der Erschließung des Göttlichen. So kann und muß die Kultur einen selbständigen Ausgangspunkt des Lebens bilden; Religion und Kultur müssen sich gegenseitig ergänzen, sich gegenseitig Probleme stellen, sich gegenseitig in Atem halten, wenn das Leben gesund und kräftig sein soll. Nur so findet der ganze Tatbestand der Wirklichkeit sein Recht; die Religion aber kann als Tiefe des Lebens nur rein und kräftig wirken, wenn sie nicht für sich alles sein will.

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Nicht minder aber als die Selbständigkeit der Kultur gegenüber der Religion ist die Selbständigkeit der Religion gegenüber der Kultur zu verfechten. Die Kultur ist leicht geneigt, nur die Weltarbeit als echte Tätigkeit gelten zu lassen und von hier aus die Religion als etwas nebensächliches, ja wesenloses zu behandeln; so weit von jener eine Beschäftigung mit dem Göttlichen überhaupt anerkannt wird, soll sie sich in der Weltarbeit selbst finden und nie von ihr ablösen; die Religion wird hier eine bloße Begleiterscheinung der Kultur, eine W e n d u n g ihres Gehalts zum Gemüt und zur Gesinnung des Einzelnen. So entsteht eine Religion der Kultur und verkörpert sich im Pantheismus; denn das ist diesem eigentümlich, sich ausschließlich an das innerhalb der Weltarbeit faßbare Unendliche zu halten und alle darüber hinausstrebende Religion als eine Verengung und leicht auch Vermenschlichung des Göttlichen zu verwerfen; er hat seine Stärke in der Verbindung der religiösen Stimmung mit der Arbeit, in dem Aufsuchen des Göttlichen auf allen Wegen, seinem Heraushören aus den Stimmen der Natur wie der Geschichte, in dem Wirken gegen alle abschließende Gestaltung, in der Richtung des Gefühls aufs Weite und Freie. Aber dies alles kann der Pantheismus nicht im Gegensatz zur Religion der überwindenden Geistigkeit, sondern n u r im Zusammenhang mit ihr und ihrer ausgeprägten Art leisten. Denn das Unendliche, das in der Welt zur Erscheinung kommt, ist viel zu sehr mit Fremdem und Feindlichem verquickt, viel zu sehr durch den Widerstand gebunden, es ist auch in seiner Vernunft viel zu formal, als daß von da aus die Idee des Göttlichen entstehen und sich befestigen könnte. Den Charakter der Göttlichkeit erhält die der Welt immanente Vernunft nur als Ausdruck einer reinen, weltüberlegenen Vernunft; ohne eine solche mag es einen Pankosmismus, auch einen Panlogismus, nicht aber einen Pantheismus geben. Der Pantheismus, der sich feindlich gegen den Theismus wendet und sich selbst zur absoluten Religion aufwirft, zerstört seine eigne Grundlage und damit sich selbst, er wird alsbald zu einer inneren Unwahrheit; was immer er bei solcher Erschütterung f ü r die Stimmung leisten mag, das wird durch den Schaden der Abstumpfung der vorhandenen Gegensätze und einer optimistischen Verflachung des Lebensproblems weit überboten. So hat auch in der Geschichte der Pantheismus vornehmlich da fruchtbar gewirkt, wo hinter ihm ein kräftiger Theismus stand, an dem er sich immerfort aufrichten u n d befestigen konnte; die

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Preisgebung dieses Rückhaltes hat ihn rasch zu einer vagen und matten Stimmung herabsinken lassen. Besitzt so die Religion in ihrem Kern eine Selbständigkeit, so kann ihr auch der Kleinkrieg nicht schaden, den die Kultur als Aufklärung und Kritik gegen sie zu führen pflegt. Die Religion muß mit der Kultur zusammenstoßen, sobald sie zur Gestaltung fortschreitet, sobald sie sich innerhalb der Weltverhältnisse zur Erscheinung bringt. Damit nämlich betritt sie den Boden der Kultur und muß sich hier ihrem Urteil unterwerfen; hier kann sie ihre Behauptung nicht der Kultur aufzwingen und gegen ihren Widerstand durchsetzen. Aber es ist ein starker Fehler, den sowohl Freunde als Feinde der Religion begehen, die Gestaltung und das Wesen der Religion in Eins zusammenzuwerfen und damit die Überlegenheit der Kultur über ihre Gestaltung in eine Überlegenheit über ihr Wesen zu verwandeln. Die Religion kann sich aus aller Verwicklung und Ungewißheit der Gestaltung immer wieder auf ein unantastbares und unverlierbares Wesen zurückziehen und hier eine volle Überlegenheit gegen alle Angriffe finden. In dieser Seele besitzt sie eine unantastbare Hoheit und eine von allen Wandlungen der Kultur unberührte ewige Wahrheit. Wenn die Religion durch die Kultur Gefahr und Not zu leiden scheint, so zeigt das nur, daß sie bei sich selbst zwischen Kern und Schale nicht zu scheiden versteht und über ihr eignes Innere unsicher ward; so schiebt sie die Schuld nach draußen, die vor allem bei ihr selbst liegt. Auch die besondere Art der Religion ist nie durch bloße Kultur, sondern nur von der Religion her zu überwinden; die Religion berichtigen kann nur die Religion selbst. So ergibt sich das Verhältnis, daß Religion und Kultur sowohl ihre Selbständigkeit gegeneinander zu wahren haben, als gegenseitig aufeinander angewiesen sind; sie müssen sich weit genug trennen, damit jede ein ursprüngliches und selbständiges Leben aufnehmen und ihre Eigentümlichkeit voll entwickeln kann: sie müssen sich nahe genug bleiben, um in fruchtbarer Wechselwirkung sich gegenseitig weiterzutreiben. Das zusammen ist nur möglich, wenn sie beide sich einem umfassenden Leben einfügen, wie die Wesensbildung es eröffnet, wenn die Bewegung sich weder hier noch da festlegt, sondern von beiden Seiten zum Ganzen strebt, wenn beide zum Ganzen wirken, innerhalb des Ganzen sich berühren, aus dem Ganzen empfangen. Die eine Geisteswelt erschließt sich dem Menschen

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in zwiefacher Weise: in vermittelter und bedingter durch das Reich der Arbeit, unmittelbar in der überwindenden Geistigkeit; hier wie da gilt es ein Überwinden des Bloßmenschlichen und «in Erringen einer geistigen Substanz; bei dieser Aufgabe kann das eine das andere unterstützen; sie müssen sowohl auseinander als zueinander streben, zugleich im Kampf und im Frieden stehen, damit für das Ganze erreicht werde, was dem Menschen irgend erreichbar ist. Solche Überzeugung kann nicht eine Teilung des Lebens zwischen den beiden Bewerbern billigen, wie sie im Gegensatz zum mittelalterlichen System mit seiner zu engen Zusammenschmiedung beider wohl auf protestantischer Seite versucht wurde. Diese Teilung läßt Religion und Kultur unbekümmert umeinander ihre eignen Wege gehen, jede das Recht der anderen anerkennen, alle Berührung aber möglichst vermeiden. Als Abweisung einer Vermengung und als Wahrung der Selbständigkeit der einen Seite gegen die andere ist das durchaus berechtigt, problematisch und verfehlt aber wird es, wenn es jeden Zusammenhang aufgibt und das Leben in zwei gesonderte Hälften scheidet. Denn so weit dies überhaupt durchführbar ist und nicht in der Tat immer eines der Gebiete zur Hauptsache wird, muß es eine Schädigung jeder Seite und eine Herabdrückung des Gesamtlebens erzeugen. Nur wenn ein Ganzes beide Seiten umspannt und sie aufeinander wirken läßt, kann jede ihre eigne Vollendung erreichen. Die Kultur bedarf eines unablässigen Antriebes, sich zur Wesensbildung zu vertiefen und den ganzen Menschen zu ergreifen, wenn sie nicht bloße Oberfläche bleiben und ein seelenloser Mechanismus werden soll; jenen Antrieb aber empfängt sie, wenn auch nicht direkt von der Religion her, sondern aus dem Ganzen, so doch nicht ohne die Hilfe der Religion; nur von ihr aus wird die ganze Tiefe aufgeregt und kommt die Unendlichkeit des Problems zur lebendigen Gegenwart, ohne sie droht die Kultur den Zusammenhang mit den höchsten Fragen des menschlichen Seins zu verlieren. Aber auch die Religion kann nicht gedeihen, die zur Kultur nur ein äußeres, nicht auch ein inneres Verhältnis hat. Denn dann erwachen alle die Gefahren der Absonderung, die vorher zur Sprache kamen, die Gefahren, sich auf allgemeine Impulse zu beschränken und die geistige Substanz nicht zu fördern. Ja die Ablehnung aller Begründung aus dem Ganzen des Lebens kann selbst die Sicherheit der Religion erschüttern. So gewiß sie direkt und bei sich selbst E u c k e n , Kampf.

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durch ursprüngliche Tatsachen erwiesen sein will, nicht sich aus einer allgemeinen Weltanschauung als bloße Folgerung ableiten läßt, jene Tatsachen scheinen uns nicht von außen entgegen, sondern an den Punkt ihrer Erschließung führen erst innere Bewegungen und Erfahrungen; diese aber können sich nur innerhalb eines umfassenden Lebensprozesses bilden, der die geistige Aufgabe anerkennt und ergreift. Dazu aber gehört notwendig eine kräftige Kulturarbeit. Die beiden Seiten ohne alle Beziehung zu lassen, etwa hier Materialist oder Positivist zu sein, dort aber einer strengen Fassung der Religion zu huldigen, ist allenfalls möglich, wo ein geschichtlich überkommenes, in sich festgeschlossenes Religionssystem auf Autorität hin angenommen wird; es ist unmöglich, wo die Religion vornehmlich auf die eigne Überzeugung und Erfahrung gestellt wird. Wir können und müssen in einer Wahrheit zwei Seiten und Ausgangspunkte, wir dürfen nicht eine doppelte Wahrheit gelten lassen; an jeder Stelle wird das Leben verflachen, Wo nicht der ganze Mensch aufgeboten wird und die Bewegung bis zur einheitlichen Wurzel seines Wesens durchdringt So bestätigt sich das Ergebnis, daß Religion und Kultur nicht voneinander lassen können, daß aber ihre Wirkung aufeinander keine direkte sein darf, sondern durch das Ganze des Lebens vermittelt sein muß; jede hat zunächst auf das Ganze zu wirken und erst von hier aus auf die andere; die Religion wie die Kultur können auch ihre eigne Höhe nicht erreichen, ohne sich der einen Aufgabe der Wesensbildung unterzuordnen.

Nach diesen Erörterungen läßt sich zum Schluß kurz zusammenfassen, wie die Wirkung der Religion, dieser Verkörperung der überwindendem Geistigkeit, auf das übrige Leben zu denken und zu wünschen ist. Solche Wirkung wird um so kräftiger sein, je weniger sie direkt auf die einzelnen Gebiete, je mehr sie zunächst auf das Ganze geht; sie wird um so tiefer dringen, je weniger sie irgendwelcher Tendenz unterliegt, je mehr sie einer inneren Notwendigkeit folgt. Der Gewinn des Ganzen besteht aber vornehmlich darin, daß durch eine neue Erschließung der Vernunft die Vernunft überhaupt gesichert und wiederbelebt wird, ohne daß die Dunkelheiten und Widerstände des Daseins eine künstliche Wegdeutung erfahren. So ein mutiges Fortführen des Lebens inmitten der ungeheuren Hemmungen, ein Behaupten eines Sinnes inmitten aller Unvernunft,

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einer unergründlichen Tiefe in aller Flachheit, einer Reinheit und Unschuld in aller Verworrenheit und Verderbtheit, einer Seligkeit inmitten alles Leides und aller Dunkelheit. Die dialektische Art, welche das Geistesleben im Verhältnis zum Menschen — nicht das Geistesleben bei sich selbst — durchgängig zeigte, erreicht hier ihren höchsten Gipfel. Denn nirgends ist der Gegensatz so schroff, nirgends betrifft er so sehr die Substanz des Lebens, nirgends wird er so unmittelbar zur eignen Angelegenheit auch des Einzelnen. Den Kern aller Religion bildet die volle Einigung von göttlicher und menschlicher Natur in der überwindenden Geistigkeit; solche Einigung erhebt den Menschen im Kernpunkt seines Wesens zur höchsten Höhe, aber zugleich bringt sie alle Abgründe seiner Lage und seiner Art zur deutlichsten Empfindung. Dort die Teilnahme nicht n u r an der Unendlichkeit und Ewigkeit, sondern auch an der geistigen Vollkommenheit und sittlichen Hoheit, hier die verschwindende Kleinheit des Menschen, die Schwäche aller geistigen Antriebe, die zähe Festhaltung der selbstischen Natur. Nirgends ist daher die Kritik gegen das Bloßmenschliche schärfer als an dieser Stelle, nirgends aber erhebt sich deutlicher aus aller Erschütterung und Erniedrigung ein unverlierbares Wesen, nirgends wird die Scheidung zwischen Universalgeistigem und Bloßmenschlichem gründlicher vollzogen. Indem aber das Menschenleben an dem Zusammenstoß der Welten und an dem Hervorbrechen ursprünglichen Schaffens teilnimmt, erhält es aller Erfahrung gegenüber eine unvergleichliche Größe u n d unerschöpfliche Tiefe; die Möglichkeit einer Befriedigung bei der Gegebenheit ist völlig zerstört, allem Abschließen bei endlichen G r ö ß e n , allem selbstgenugsamen Dogmatismus des Denkens und Lebens sicher vorgebeugt. Der Kampf der Welten aber und die Entwicklung des Neuen erzeugt eine unermeßliche Bewegung, aus allen Problemen scheint ein Hauptproblem hervor und umspannt alle Ausdehnung des Lebens. Nunmehr kann sich nichts träge verschließen und starr absondern, sondern alles kommt in regen Fluß, alle Mannigfaltigkeit muß aneinander Anschluß suchen, alle einzelnen Bewegungen vereinigen sich zu Einem Lebensstrome. Dies Zusammendrängen des Lebens an einen Mittel- und Hauptpunkt muß das persönliche Element sehr stärken und ein geistiges Selbst aller Zerstreuung entwinden; ein solches Selbst aber ist es, was durchgängig den Kampf mit der Endlosigkeit der Erfahrungen aufzunehmen und ihrer scheinbar 18'

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blinden Tatsächlichkeit einen Sinn abzuringen hat. Diese Aufgabe findet unter den Widerständen des menschlichen Daseins nie eine reine Lösung, immer wieder entweicht die Unendlichkeit den auferlegten Maßen und verschließt sich in tiefes Dunkel. Aber daß das Unvollendbare nicht widersinnig ist, das beweist die Fruchtbarkeit dieses Strebens. An ihm hängt alle geistige Produktion, nur in kräftiger Entfaltung eines geistigen Selbst und in mutigem Ringen mit der Welt gewinnt das Leben eine Tiefe und die Arbeit eine Substanz; wo jener Kampf endgültig eingestellt wird, da fällt alles auseinander, da siegt das Äußere über das Innere, da endet das Leben in einen seelenlosen Mechanismus. Charakteristisch war der religiösen Bewegung, daß der Sieg nicht den Widerstand völlig vernichtet, sondern seine Gewalt durch die Eröffnung eines neuen Lebenskreises innerlich bricht. So verbleibt eine Geteiltheit der Stimmung, ein Hin- und Herschweben vom einen zum anderen, ein innerer Kontrast; trug doch selbst die Seligkeit den Schmerz über das Feindliche oder Verlorene in sich. In solchem Kontrast, dessen Auf- und Abwogen die religiöse Kunst zu ergreifendem Ausdruck bringt, liegt wie eine Abweisung aller bequemen Ruhe so eine Ablösung von aller greifbaren Gestalt Die Gefahr eines Verfallens ins Formlose ist hier augenscheinlich, aber diese Gefahr läßt sich durch eine kräftige Zurückbeziehung des Lebens auf den Inhalt der Wirklichkeit mit seinen Problemen überwinden; so kann die Verinnerlichung des Seins und das Offenhalten einer unablässigen Bewegung zu reinem Gewinn werden. Solche Frische und Beweglichkeit hat dieses Leben nicht nur im Kampf nach außen, sondern auch bei sich selbst, die niederdrückenden Zweifel, die sich ihm entgegenstellen, kann es nur durch stetes Neuentstehen, durch ein unablässiges Hervorgehen aus freier Tat überwinden. Nirgends mehr als hier ist das Leben ein immer neues Schaffen, gehört die Freiheit so sehr zur Wurzel des Wesens. Von hier aber kann sie den ganzen Umfang durchdringen und überall zur Verwandlung der Arbeit in Tat, Überzeugung und Wesensentfaltung wirken. In aller Freiheit hat aber das Leben zugleich einen tiefen Ernst Aus unergründlicher Tiefe kommt das Problem der Welten an den Menschen, nun erstreckt sich von dem zentralen Problem ein Entweder—Oder über alles Tun und fordert an jeder Stelle unsere eigne Entscheidung. Daß die Wendung zur Geisteswelt

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eine völlige Umwälzung bedeutet, daß sie eine Herabsetzung des nächsten Daseins zu einer niederen Sphäre, einen Bruch des Menschen mit der Welt, mit den Menschen, ja mit sich selbst in sich trägt, das kommt von hier zu eindringlichster Wirkung. Dem allen kann sich das Kulturleben nur entziehen, wenn es das Problem der Wesensbildung von sich weist und alle Betätigung entweder in den Dienst der natürlichen Selbsterhaltung stellt oder in ein bloßes Spiel der Kräfte verwandelt Sobald die Kultur mehr sein will, sobald sie ein selbständiges Innenleben und damit eine Geisteswelt herausarbeitet, wird sie jene Impulse anerkennen und sich aneignen, im besonderen die Kräftigung des Persönlichseins, die von dort ausging; sie wird dann die Bewegung auch den einzelnen Gebieten zuführen, um so mehr, je direkter sie am Ganzen teilhaben. — Obenan steht hier das ethische Gebiet. Wohl muß es seine Selbständigkeit auch der Religion gegenüber wahren. Denn es hat eine breitere Grundlage in dem Gesamtverhältnis des Menschen zum Geistesleben, namentlich zur Wesensbildung; es kann sich weder seinen Inhalt erst von der Religion zuführen lassen noch ihr seine Motive entlehnen; eine derartige direkte Unterordnung unter die Religion bedroht die Ethik mit schweren Gefahren. Aber eine Ethik, welche die Vertiefungen und die Erfahrungen der Religion ablehnt, verurteilt unvermeidlich sich selbst zur Flachheit und Unfruchtbarkeit Oder sollte sie ohne schweren Nachteil sich gegen die Erwärmung und Kräftigung der Lebensaufgabe verschließen können, welche von der persönlicheren und eindringlicheren Gestaltung jener ausgeht, gegen die Neubelebung des Wesens, welche aus dem Zusammenstoß der Welten und dem Aufleuchten einer höheren Ordnung entspringt, gegen den Zug zur inneren Einigung des ganzen Menschen, wie er von dort aller Zerstreuung des Durchschnittslebens entgegenwirkt? Nur im Zusammenhange mit der Religion vermag die Ethik die Überwindung aller bloß naturhaften Art durchzusetzen, nur so wird ein unverlierbarer Keim des Guten vor aller Verkehrtheit und Verderbnis des Durchschnittslebens gerettet, nur so die Unvergleichlichkeit der ethischen Aufgabe gegenüber allen anderen Aufgaben sicher begründet Über solche allgemeinere Wirkung hinaus entwickelt sich aber von der Religion her auch ein eigentümlicher ethischer Typus, der sich nicht ohne Schaden direkt über das ganze Leben ausbreiten kann, der aber mit seiner beseelenden und umwandelnden Kraft das ganze Leben fördert Es ist der

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Typus der Liebe und Gnade, der Typus, in dem einerseits die Gegensätze aufs schroffste gespannt, andererseits aber völlig aufgehoben werden. Damit eine durchgreifende Erschütterung des Menschen, ein Schmelzen aller Härte vor der Gewalt neuer Lebensfluten, ein zwingender Antrieb zur Betätigung von Dank und Liebe, ein Erstarken von Hingebung und Aufopferung, von Demut und Feindesliebe. Was aber an besonderer und an allgemeinerer Wirkung erreichbar ist, das kommt für das Ganze des Menschheitslebens zu kräftiger Entfaltung nur, wenn sich auf diesem Boden ein eigner Lebenskreis zusammenschließt, sich eine neue Art menschlicher Gemeinschaft im Dienst der überwindenden Geistigkeit bildet: eine ethisch-religiöse Gemeinschaft muß neben der politisch-rechtlichen stehen. Denn der Staat darf nur die allgemeine Natur des Geisteslebens voraussetzen und verwerten, nicht die weiteren, auf volle Freiheit angewiesenen Erfahrungen, er ist den Notwendigkeiten des Lebens enge verflochten und kann des Zwanges nicht entbehren, er wird von dem Wechsel und Wandel der Zeit und selbst von den Schwankungen des Augenblickes stärker bewegt, er entfesselt mit seinen gewaltigen Machtmitteln unermeßliche Kämpfe und Leidenschaften, er kann den inneren und ewigen Aufgaben des Menschenwesens nun lind nimmer genügen. Daß uns heute die Kirche, wie sie ist, nicht befriedigt, das sollte uns nicht in der Überzeugung beirren, daß eine mehr auf Freiheit und Innerlichkeit gegründete und die weiteren Erfahrungen der Geisteswelt aufnehmende Gemeinschaft des Lebens, Kämpfens und Wirkens ein unerläßliches Bedürfnis der Menschheit ist, und daß eine solche innere Gemeinschaft ein flüchtiges Luftgebilde bleibt ohne einen Anschluß an die Vertiefungen und Umwälzungen, welche aus der Religion hervorgehen. Diese neue Gemeinschaft aber, derer wir heute mehr bedürfen als je, wird ihre Aufgabe um so besser erfüllen, je mehr sie ihre Selbständigkeit und Eigentümlichkeit gegenüber der politischen wahrt; sie darf weder äußerlich vom Staate abhängig sein und schließlich zum gehorsamen Diener der jeweiligen Regierung herabsinken, wie oft der Protestantismus, noch auch von innen her unter die Macht der Staatsidee geraten, bei sich selbst zu einem geistlichen Staate werden, wie oft der Katholizismus. Endlich müssen die Erregungen und Vertiefungen des Gesamtlebens durch die überwindende Geistigkeit auch den einzelnen Arbeitsgruppen zugute kommen, sie lassen sich nirgends ablehnen,

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w o das Streben die Richtung zum Ganzen und zur Wesensbildung einschlägt. W o immer die Arbeit sich nicht bloß in den Erscheinu n g e n zurechtfinden will, sondern zu einem Sinn und Charakter aufstrebt, da bedarf sie der Einsetzung eines geistigen Selbst, eines naturüberlegenen Persönlichseins, das innerhalb der Leistung wirkt u n d aus ihr zu sich zurückkehrt. Ferner gelangt der Mensch zu keinem wesentlichen Erfolge, ohne durch Widerstand und Hemmung, durch Zweifel und Erschütterung zum Schaffen vorzudringen, ohne durch die Erfahrungen der Arbeit innerlich fortzuschreiten und dadurch dem zu Beginn Unmöglichen gewachsen zu werden. Endlich enthält alles Schaffen die Aufgabe, die Arbeit von der Subjektivität u n d der Besonderheit menschlicher Art zu befreien und in den eignen Bestand der Dinge, in ein Reich der Wahrheit zu versetzen; dazu gehört aber sowohl eine innere Scheidung unseres Lebenskreises als die Befestigung in einer der Verwicklung überlegenen Ordnung. Das führt wiederum zu demselben Problem, das den Mittelpunkt der Religion bildet. Alle solche Anregungen und Einwirkungen müssen sich durch das Ganze des Lebens hindurch auch auf die Philosophie erstrecken. G e w i ß darf sie sich ihre volle Freiheit und Unbefangenheit nicht durch die Religion irgend verkümmern lassen, sie m u ß alles, was von dort an sie kommt, bei sich selbst zum Problem machen u n d bei sich selbst erwiesen sehen wollen. Aber sobald sie von der bloßen Sammlung und Anordnung der Erscheinungen zu einem Kampf um eine innere Aneignung der Wirklichkeit fortschreitet, wird sie die überwindende Geistigkeit und ihre Verkörperung zu würdigen haben und f ü r die Gesamtart des Strebens von dort fruchtbarste Anregungen empfangen. Ohne ein starkes persönliches Element kann die Philosophie nicht den Kampf mit der Unendlichkeit der Dinge aufnehmen, nicht irgendwelche Einheit des Weltbildes erstreben, noch sich selbst zum Systeme ausbilden. Gewiß will sie damit etwas unvollendbares, es wird alle Leistung immer wieder als zu klein befunden werden. Aber ebenso gewiß wurde n u r durch die hierbei erfolgte Konzentration und Aufbietung des ganzen Wesens erreicht, was die Philosophie an Großem und Fruchtbarem irgend erreicht hat. Im Kampf gegen die Unermeßlichkeit der Welt ist der Mensch verloren, wenn er sich nicht von innen her einer Unendlichkeit bemächtigen kann. Auch den anderen Wissenschaften gegenüber kann die Philosophie eine selbständige Stellung

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nur behaupten, wenn sie die Tatsächlichkeit eines überlegenen Geisteslebens vertritt und daraus auch ein eigentümliches Verfahren gewinnt. Nur dann kann sie einen neuen Weltdurchblick bieten, nur dann wird sie eine innere Notwendigkeit, während sie ohne solche Wurzel zu einem intellektuellen Sport herabsinkt. So erscheinen überall innere Zusammenhänge des Lebens, Zusammenhänge freilich, die sich nicht mechanisch mitteilen, sondern die durch Freiheit angeeignet sein wollen. Daß jede Stelle voller Selbständigkeit bedarf, wir uns aber zugleich an jeder Stelle im Ganzen befinden und um das Ganze kämpfen, das ist es, was das Leben schwer, aber was es zugleich spannend und groß macht.

II. A b s t e i g e n d e r Teil.

Das Gesamtbild im Verhältnis zur Zeit. I

Jer absteigende Teil setzt sich zur Aufgabe, zunächst die Ergebnisse der bisherigen Erörterung kurz zusammenzufassen, sodann eine engere Beziehung zur Zeit zu suchen, als sich bis dahin ergab. Es muß damit sowohl das Gesamtbild der Zeit eine hellere Beleuchtung erhalten, als auch müssen sich ihr gegenüber neue Ziele eröffnen. Wird in dieser Weise ein Kontakt zwischen den Grundgedanken und den Zeitbestrebungen hergestellt, so muß das ebenso zur anschaulicheren Gestaltung wie zur Befestigung jener dienen, damit aber eine wichtige Ergänzung des ersten Teiles bieten. A. Das G e s a m t b i l d des G e i s t e s l e b e n s . 1. Der allgemeine Anblick. In drei Stufen fanden wir die Bewegung aufsteigen, in drei Durchsichten sich die Wirklichkeit erschließen, mit drei Aufgaben das Geistesleben an uns kommen. Das erste Problem war das der Selbständigkeit des Geisteslebens. Es zeigte sich, daß dieses Leben nicht als eine bloße Nebenerscheinung eines andersartigen Geschehens bestehen kann; nur als ein eignes Reich, ja eine eigne Welt kann es sich rein ausprägen und die Macht zu siegreichem Aufsteigen finden. Dazu aber gehört in der Form eine Losreißung von dem bisherigen Durcheinander und das Einsetzen eines ursprünglichen Lebensprozesses, in der Sache die Entwicklung eines Reiches neuer, ideeller Größen und Güter, das seinen Wert, und zwar einen unvergleichlichen Wert, in sich selbst hat, ihn nicht erst durch die Beziehung auf das Dasein erlangt. Mit solcher Ausbildung einer

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Das O e s a m t b i l d des G e i s t e s l e b e n s

Selbständigkeit wurde aber das Geistesleben nicht eine Sonderwelt, welche die übrige Wirklichkeit draußen läßt, sondern wir erkannten in ihm die Seele der gesamten Wirklichkeit, eine Wendung des Seins zu seiner eignen Tiefe, ein Sichselbstfinden und Erschließen des Lebens. So verständen ist es mehr als ein innermenschliches Phänomen, vielmehr zeigt es den Menschen in Weltbewegungen, die seine besonderen Kräfte und Ziele weit übersteigen, die ihm die Aufgabe einer inneren Umbildung stellen und zugleich über die bloße Durchschnittskultur hinaustreiben. Ihr gegenüber die Selbständigkeit und die Reinheit des Geisteslebens vollauf zu wahren und auch in der Denkarbeit alle offne oder versteckte Ableitung aus der bloßen Natur und Gegebenheit unbedingt abzuweisen, das erschien als die erste Forderung, als die notwendige Voraussetzung alles glücklichen Fortganges. Aber so notwendig diese Ablösung und Entgegensetzung des Geisteslebens war, und so sehr es in allen weiteren Erfahrungen die errungene Überlegenheit zu behaupten hatte, jene Entgegensetzung ließ seine eigne Gestaltung nur zu allgemeinen Umrissen, nicht zu einer vollen Durchbildung kommen. Dafür war seine Zurückwendung zum Dasein nicht zu entbehren, nicht um es in seinem unmittelbaren Befunde als einen gleichberechtigten Faktor anzuerkennen und sich mit ihm zusammenzusetzen, sondern um es auf den Boden des Geisteslebens zu ziehen, ihm hier einen geistigen Gehalt abzuringen und damit zugleich sich selber weiterzubilden. Dieses Streben konnte nicht gelingen, ohne alle Einzelarbeit mit einem Bilden vom Ganzen zum Ganzen zu umspannen, es galt die Herstellung eines Lebenssystems, eines Gesamtwerkes, in dem das Geistesleben zu einer vollen und selbstgenugsamen Wirklichkeit würde. Das Streben nach einem solchen System durchdrang die ganze Geschichte, es war nur ein anderer Ausdruck für das Verlangen nach einem Charakter des Geisteslebens, alle selbständige und kräftige Kultur hatte hier ihre eigne Behauptung. Wir sahen aus den positiven und negativen Erfahrungen der Zeiten die Forderung eines Systems der Wesensbildung erwachsen; nur ein solches konnte das Fremde und Feindliche angreifen und überwinden, nur hier entfaltete die Tätigkeit aus sich selbst eine Wirklichkeit. Aus einem solchen System entsprangen durchweg neue Aussichten und Aufgaben, es begann ein hartes, aber fruchtbares Ringen mit der Erfahrung, eine Zurückverlegung des Lebensprozesses gestattete sonst unversöhnlichen Gegen-

Der a l l g e m e i n e A n b l i c k

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Sätzen sich zu verständigen und sich einem überlegenen Ganzen einzufügen, ein neues Kulturideal begann seinen Aufstieg. Auch zeigte sich, daß es den geistigen Bewegungen nicht an Anknüpfungspunkten innerhalb des Daseins fehlt, daß ihnen von hier ein aufsteigender Zug entgegenstrebt, der nur der Klärung und Verstärkung bedarf. So schien ein glücklicher Abschluß des Lebens und' eine Befriedigung mit der Wirklichkeit erreicht. Aber neue Verwicklungen entstanden bei einem näheren Eingehen auf den Befund unserer menschlichen Welt und Erfahrung. Hatte das Geistesleben bis dahin neben den äußeren Hemmungen nur eine innere Unfertigkeit zu überwinden, so zeigte es nun sich selbst von schroffen Widersprüchen zerrissen und seiner eignen Art entfremdet, zugleich aber an eine starre und gleichgültige Welt gebunden. Alle Ausgleichungen innerhalb der gegebenen Lage erwiesen sich als unzulänglich, ohne die Eröffnung einer neuen Welt überwindender Geistigkeit war das Ganze verloren. Aber bei der Wendung dahin durfte dem Menschen die alte Welt nicht entschwinden, ein Leben vor und nach dem Konflikte war sowohl auseinanderzuhalten als zu einander in Beziehung zu setzen, nur ihr Zusammenwirken vermochte die Aufgabe der Wesensbildung zu fördern. Ein fertiger Abschluß freilich wurde auch so nicht erreicht. Denn so gewiß ein letzter Punkt fester Art ergriffen wurde, das übrige Leben verblieb in Arbeit und Kampf, Geheimnisse umsäumten unseren Weg, nur als ein Glied weiterer, ihrer näheren Beschaffenheit nach undurchsichtiger Zusammenhänge konnte das Leben seine Vernunft bewahren. Das Ganze dieser fortschreitenden Bewegungen enthält eine entschiedene Abweisuug solcher Überzeugungen, welche sich an einem früheren Punkte festlegen und gegen den Fortgang des Ganzen verschließen. So wird als verworren oder matt alle Weltanschauung verworfen, welche eine Geistigkeit bejaht, aber keine selbständige Geisteswelt anerkennt, verworfen wird auch das Beharren bei der Abstraktheit einer dem Dasein schroff entgegengesetzten Geistigkeit, verworfen der Versuch, aus einzelnen freischwebenden Tätigkeiten ein Lebenssystem zu entwickeln, als verflachender Optimismus verworfen die Leugnung oder Wegdeutung der Widersprüche unseres Daseins, verworfen aber auch der Pessimismus mit seiner matten Ergebung in diese Widersprüche. Aber nicht minder als auf den Fortgang ist darauf zu dringen, daß die späteren Stufen die früheren fest-

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Das G e s a m t b i l d des G e i s t e s l e b e n s

halten und fortwirken lassen, da das Leben sonst sich verengt und erstarrt So geschieht es, wenn die überwindende Geistigkeit für sich einen geschlossenen Kreis bilden und alle Beziehung zur grundlegenden abbrechen will, so wenn die Wendung zu einem Lebenssystem nicht immer neu von der breiteren Grundlage des gesamten Geisteslebens aus erfolgt, so wenn das Geistesleben überhaupt das entgegenstehende Dasein als nicht vorhanden betrachtet und den Kampf mit ihm einstellt. An allen Punkten ist die selbstgerechte Abschließung zugleich eine Absperrung von den Quellen des Lebens, nur als ein Glied des Ganzen kann die besondere Stufe ihre Kraft und Wahrheit behaupten. So müssen alle jene Stufen und Richtungen in unablässiger Beziehung und der ganze Lebensprozeß in steter Bewegung bleiben. Jede Stufe hat ihre eignen Erfahrungen, die sich bei Durchkreuzung von denen anderer Stufen nicht vollständig ausleben und rein aussprechen können. Auch können nur bei deutlicher Scheidung und ungestörter Entwicklung die Stufen als Ganzes auf einander wirken und damit Gesamterfahrungen wie Gesamtbewegungen erzeugen. Gilt es als eine besonders wichtige Eigenschaft des unmittelbaren Seelenlebens, daß die einzelnen Vorstellungen zu einander in Beziehung treten ohne zusammenzurinnen, so ist auch für das Geistesleben die Diskretheit der Lebensstufen und Gedankenmassen von höchstem Wert. Nur so kann es sein ganzes Vermögen erschließen, nur so die Fülle der Wirklichkeit an sich ziehen und in eigne Erfahrung verwandeln. Im besondern fordern die Gegensätze, die das Ganze jener Bewegung enthält, eine gleichmäßige Entfaltung: sowohl die Losreißung vom Dasein als die Rückkehr zu ihm, sowohl das Vermögen als die Schranke unseres Geisteslebens, sowohl der Widerstand als die Überwindung. Denn mag der Einzelne je nach seiner individuellen Art und Lebenserfahrung auf dieser oder jener Seite und Stufe Stellung nehmen und sich damit ein Ausblick auf eine reiche Fülle individueller Gedankenwelten eröffnen, das Ganze des Lebens muß innerlich weit genug sein, um alle Seiten und Stufen zu umspannen und zu einem einzigen Leben zu verbinden; von hier muß ein Gleichgewicht der Bewegungen wirken, das der Einzelne immer nur annähernd erreicht; hier ist die Universalität zu erstreben, ohne die es keine Wahrheit gibt. Je mehr aber auf eine Festhaltung der Mannigfaltigkeit gedrungen wird, desto notwendiger ist zur Fernhaltung einer synkre-

Der allgemeine Anblick

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tistischen Zusammensetzung die kräftige Ausprägung und lebendige Gegenwart einer allbeherrschenden Gesamtidee. Diese fand sich in der Erfassung der Geisteswelt als des Selbstlebens der Wirklichkeit. Ein subjektives und ein substantielles Selbstleben schied sich hier aufs schärfste voneinander; die Welt wird hier nicht auf ein außer ihr stehendes Subjekt bezogen, um sein Besitz und Genuß zu werden, sondern es zeigt sich die Wirklichkeit selbst in Bewegung, sie sucht in dem Geistesleben ihre eigne Vollendung, ihre ursprüngliche Tiefe. Der Weltcharakter wird dem Geistesleben nicht nachträglich beigelegt, es würde ihn nie erlangen können, wenn es ihn nicht von Haus aus besäße und nur weiter zu klären hätte. Ohne mit dem Kern seines Wesens an solchem Weltleben teilzuhaben, wäre der Mensch für immer von der Wahrheit abgeschnitten; auch er muß sein echtes Selbst in dem All als geistigem All finden, wenn das Geistesleben sein Leben, die Seele und Freude seines Daseins werden und ihn unmittelbar, nicht durch die Wirkung auf das kleine Ich, bewegen soll. Der Gegensatz von Selbst und Welt ist nie von außen, sondern nur von innen her zu überwinden; ohne seine Überwindung aber bleibt der Mensch endgültig in den engen Sonderkreis gebannt. In jener Wendung erkannten wir eine völlige Umwälzung der ersten Lebensführung und Weltansicht Nun fand sich der Mensch nicht mehr in einer gegebenen Welt und erhielt nicht seine Aufgabe durch äußere oder innere Notwendigkeit zugewiesen, sondern er mußte die echte Wirklichkeit und zugleich seinen eignen Weg erst suchen, der Gesamtstand der Welt wurde zum Problem, Weltordnungen stießen hart aufeinander; solcher Kampf aber war mit seiner Auflösung aller scheinbar festen Ordnungen zugleich ein Zeugnis für die Überlegenheit des Geistes, gegenüber der schweren Erschütterung war nirgends anders als bei ihm selbst ein sicherer Halt zu finden, nirgends anders als von hier die Arbeit aufzunehmen. Die neue Welt brachte namentlich eine durchgreifende Verinnerlichung des Lebens und Seins. Unmöglich konnte das Geistesleben als die Vollendung des Seins auftreten, ohne daß von vornherein ein Inneres als der Grund der Wirklichkeit, das Äußere als etwas sekundäres, ja in seiner bloßen Äußerlichkeit als etwas abgelöstes und entfremdetes gilt; ein schlechthin Äußeres ist hier ein völlig unmöglicher Gedanke. Jene Innerlichkeit hat das Recht, alles an

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Das Gesamtbild des G e i s t e s l e b e n s

sich zu ziehen und aus sich zu erfüllen; damit erst gewinnt auch das andere seine Wahrheit. So wird überall zur Aufgabe, die Beziehung zur Innerlichkeit herzustellen und in aller Leistung ihr Wirken zu erfassen; die Innerlichkeit gibt den Standort, von dem aus alles Leben zu entfalten und alles Sein zu verstehen ist. Aber die Tatsache ist zugleich ein unermeßliches Problem, zwischen der Erhebung und der Durchführung des Anspruches liegt die weiteste Kluft, liegt die ganze Arbeit unserer Welt. Denn jene Innerlichkeit ist uns zunächst nur im allgemeinsten Umriß erreichbar, zwischen ihr und uns liegt die Unermeßlichkeit einer fremden und gleichgültigen Welt und scheint uns mit ihrer Wucht zu erdrücken. Und doch muß die Innerlichkeit sich jene Welt unterwerfen, ihrer Starrheit einen Sinn, ihrer Äußerlichkeit eine Geistigkeit abringen; erst in solchem Kampf erreicht sie ihre eigne Vollendung, gewinnt sie die Durchbildung ihres Inhalts. Schon daraus erhellt, daß die Verinnerlichung der Wirklichkeit nicht mit Einem Schlage oder doch in raschem Zuge erfolgen kann. Die Anknüpfungspunkte zwischen hier und dort wollen Schritt für Schritt gewonnen sein, nur langsam kann die Arbeit vorrücken. Aber alle Verwicklung wäre unvergleichlich leichter zu überwinden, als sie es ist, wenn die Welt, unsere Welt, bei sich selbst ein vollendetes System substantieller Innerlichkeit bildete und alle Äußerlichkeit nur aus unserer menschlichen Auffassung stammte; dann könnte eine energische Berichtigung unserer Begriffe uns rasch ans Ziel versetzen. Die Untersuchung zeigte aber, daß die Verwicklungen nicht bloß von uns in die Welt hineingetragen sind, sondern ihrem eignen Bestände anhaften; die Welt selbst ist in Bewegung begriffen, und diese Bewegung unterliegt undurchsichtigen Bedingungen, sie stößt auf harte, scheinbar unüberwindliche Widerstände. Spät erst und wie ein Nebenschößling erscheint in unserer Welt ein geistiges Leben, es zeigt keine sichere Richtung und keinen inneren Zusammenhang, ja es gerät in harten Widerspruch mit sich selbst, es sieht sich nicht nur von außen gehemmt, sondern auch im eignen Innern zerspalten. Soll dabei die Welt ihrer Substanz nach geistig sein, so ergibt das unauflösbare Rätsel, es macht die Verinnerlichung der Wirklichkeit für uns unvollendbar. Aber je größer die Widerstände erscheinen, desto größer erscheinen auch die Gegenwirkungen, desto deutlicher werden in ihnen gewaltige Weltmächte, desto stattlicher wird bei allem Dunkel die wirkliche Leist-

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ung. Daß aller Hemmung gegenüber das Geistesleben eine solche Macht werden konnte, wie es die Gesamttatsache der Kultur aufweist, daß es aus aller Zerstreuung so energisch zu einem Charakter strebt, daß so kräftig eine den Verwicklungen überlegene Geistigkeit wirkt, dieses ganze Sichbehaupten und Vordringen, es zeigt unser Leben und Streben in Weltzusammenhängen und gibt ihm in allen Kämpfen und Zweifeln das Bewußtsein einer unverlierbaren Wahrheit. Je unfertiger aber die Leistung bleibt, desto notwendiger sind feste Richtungen in dem Werben und Ringen um eine geistige Wirklichkeit. Zwei Forderungen erheben sich hier mit besonderem Nachdruck: das Verlangen nach scharfer Scheidung von Universalgeistigem und Bloßmenschlichem und das Bestehen auf energischer Konzentration des Geisteslebens bei sich selbst. Wäre die subjektivmenschliche Lebensform der geistigen Substanz untrennbar verwachsen, so würde nicht nur das Weltbild für immer ein Gewebe anthropomorpher Vorstellungen bleiben, sondern auch unser Handeln könnte sich von den sinnlichen und selbstischen Zwecken nie befreien; nicht nur die volle Lösung der Aufgabe, auch alles Streben dahin würde unmöglich. Daß der Mensch einer besonderen Art bewußt werden und das Bloßmenschliche von dem Kern der Arbeit fernhalten kann, ist wie ein sicheres Zeugnis seiner Größe so eine unerläßliche Bedingung alles Gelingens. Aber auch diese Aufgabe läßt sich nicht sofort lösen, auch sie bedarf der unermüdlichen Arbeit der Geschichte. Das Bloßmenschliche hat zunächst das volle Übergewicht, und es kann nicht die bloße Reflexion ihm seine Grenze weisen, sondern es bedarf dafür der Erfahrungen, der Erfolge und der Mißerfolge der Arbeit. Jede eingreifende Wendung der Zeiten bringt hier neue Scheidungen und Aufklärungen, immer weiter wird das Bloßmenschliche zurückgetrieben, immer größer wird die innere Kluft, immer härter der Kampf des Menschen gegen sich selbst, immer gewaltiger mit dem allen die geistige Spannung des Lebens. Ferner erlangte das Geistesleben eine Wesensbildung und damit den Aufbau einer selbständigen Wirklichkeit nur bei einer Zurückverlegung des Hauptprozesses hinter die einzelnen Tätigkeiten und besonderen Gebiete, bei Unterordnung aller Leistungen unter ein überlegenes Ganzes. In diesem Ganzen mußte die Bewegung von der Einheit zur Vielheit gehen, um zur Gestaltung fortzuschreiten,

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Das Gesamtbild des Geisteslebens

von der Vielheit aber zur Einheit zurückzukehren, um in der Substanz zu gewinnen; beide Richtungen aber mußte Ein Lebensprozeß umspannen, wenn das Wirken das Wesen fördern sollte. So erhielt das Leben eine Tiefe, aber zugleich einen Gegensatz zum unmittelbaren Dasein. Denn dieses gehört der Vereinzelung und Zerstreuung. So gilt es dagegen einen inneren Stand zu erkämpfen, ihn gegen allen Widerspruch festzuhalten, aus ihm eine stete Gegenwirkung gegen den unmittelbaren Eindruck zu üben. Wieder wird eine Abstufung und eine Umwandlung nötig, wo zunächst die Bewegung in einer Fläche zu verlaufen schien. So fand sich eine Fülle von Gegensätzen, von Spannungen und Aufgaben. Unser Leben würde ein Spielball sich durchkreuzender Bewegungen werden, wenn nicht auch in ihm ein einziges Streben alle Mannigfaltigkeit durchdränge und zusammenhielte. Ein solches Streben zeigte sich in der Tat, es war das Verlangen nach echter Selbsterhaltung und zugleich nach einem Inhalt des Lebens. Dies Verlangen, dieser Durst nach Realität, steht vor allen besonderen Aufgaben und gibt ihnen erst eine bewegende Kraft; alle anderen Affekte überwiegt der Affekt des Lebens und des Seins im Leben. Dies aber ließ sich nicht entwickeln ohne die schärfste Abgrenzung gegen den bloßen Naturtrieb mit seiner unbedingten Festhaltung des kleinen Ich in einer gegebenen Welt. Gab es doch ohne die Überwindung dieses naturhaften leeren Selbst kein Durchdringen zu einem wahren Selbst, das eine Einigung mit dem Ganzen und ein Leben aus dem Ganzen enthält Nicht minder zeigte die Form des Lebens einen schroffen Gegensatz zur Natur und bloßen Gegebenheit: dort das strenge Walten einer mechanischen Kausalität, hier kein Bilden und Schaffen ohne eine Ursprünglichkeit und Freiheit. So ist das geistige Selbstleben gegenüber der naturhaften Ordnung ein wesentlich neues Leben; seine Energie ist nicht die physische des blinden Triebes, sondern die geistige der freien Tat; ja es ist die ethische Tat, die jene ganze Welt trägt und den Menschen bei ihr festhält. Durch den tiefsten Grund des menschlichen Lebens geht ein schroffes Entweder-Oder, die Notwendigkeit einer Entscheidung über das Ganze, die nicht durch gegebene Motive gelenkt wird, sondern aus sich alle Motive hervortreibt Alle Verdunklung dieses ethischen Charakters des neuen Lebens führt zur Vermengung von Geist und Natur und zur Preisgebung der Seele jenes Lebens.

Die Lage des Menschen

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Diese Bewegungen reichen unmittelbar in das Einzelleben hinein, sie tun es in seiner Erhebung zur Persönlichkeit, zum Persönlichwerden. Aber sie tun es nur, wenn in dem Persönlichsein das Naturhafte zurückgestellt und eine unermeßliche Aufgabe anerkannt wird, wenn kein Zweifel darüber waltet, daß es kein Persönlichsein gibt ohne die Gegenwart und ohne eine charakteristische Gestaltung der Welt des Selbstlebens, kein Zweifel darüber, daß alles Wirken wahrhaftig, kräftig und fruchtbar nur wird, wenn es den Ausdruck eines solchen Persönlichseins bildet. Dieses Persönlichsein kann, so verloren es in der Welt scheint, der ganzen Welt Trotz bieten und von sich aus ihren Wert bestimmen, hier können die verschiedenen Gedankenmassen sich berühren und gegenseitig weitertreiben, hier wird sowohl das Geschick des Ganzen erlebt als um ein besonderes Sein gekämpft; kurz hier ist der Hauptort der Erfahrungen, hier die Werkstätte des geistigen Lebens. So ergab sich ein durchaus eigentümliches Leben. Was aber das bloße Wissen dafür vermag, das beschränkt sich auf ein Entwerfen von Umrissen, sie zu einem vollen Bilde ausführen kann nur die vereinte Arbeit der verschiedenen Lebensgebiete im Aufbau einer geistigen Wirklichkeit. Darauf also muß bei diesen Fragen alles Streben nach Wahrheit vertrauen, von hier aus erst kann es seine Bestätigung finden. Schließlich hat nicht das Wissen das Leben, sondern das Leben das Wissen zu stützen und zu sichern.

2. Die Lage des Menschen. Das System des Selbstlebens der Wirklichkeit und der Wesensbildung gab auch dem Menschen eine eigentümliche Stellung. So wenig er sich als den Mittelpunkt der Welt betrachten durfte, als Geisteswesen gewann er Anteil an den schaffenden Gründen und an einer letzten Wahrheit; ferner wurde innerhalb unserer Welterfahrung seine Sphäre zu einem wichtigen Wendepunkt, er erhielt eine einzigartige Bedeutung dadurch, daß bei ihm das Problem einer inneren Umwandlung des Seins aufgenommen, daß hier der Hauptzug des Strebens der Natur entwunden und zum Geist geführt werden soll. Mag dabei die Leistung noch so unfertig bleiben, das Problem erregt den Menschen und läßt ihn nicht wieder los. In dem Problem selbst aber sind ihm erlösende und erhöhende Mächte gegenwärtig, alle Unfertigkeit kann nicht die Grundtatsache E i c k e n , Kampf. II. Aufl.

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Diese Bewegungen reichen unmittelbar in das Einzelleben hinein, sie tun es in seiner Erhebung zur Persönlichkeit, zum Persönlichwerden. Aber sie tun es nur, wenn in dem Persönlichsein das Naturhafte zurückgestellt und eine unermeßliche Aufgabe anerkannt wird, wenn kein Zweifel darüber waltet, daß es kein Persönlichsein gibt ohne die Gegenwart und ohne eine charakteristische Gestaltung der Welt des Selbstlebens, kein Zweifel darüber, daß alles Wirken wahrhaftig, kräftig und fruchtbar nur wird, wenn es den Ausdruck eines solchen Persönlichseins bildet. Dieses Persönlichsein kann, so verloren es in der Welt scheint, der ganzen Welt Trotz bieten und von sich aus ihren Wert bestimmen, hier können die verschiedenen Gedankenmassen sich berühren und gegenseitig weitertreiben, hier wird sowohl das Geschick des Ganzen erlebt als um ein besonderes Sein gekämpft; kurz hier ist der Hauptort der Erfahrungen, hier die Werkstätte des geistigen Lebens. So ergab sich ein durchaus eigentümliches Leben. Was aber das bloße Wissen dafür vermag, das beschränkt sich auf ein Entwerfen von Umrissen, sie zu einem vollen Bilde ausführen kann nur die vereinte Arbeit der verschiedenen Lebensgebiete im Aufbau einer geistigen Wirklichkeit. Darauf also muß bei diesen Fragen alles Streben nach Wahrheit vertrauen, von hier aus erst kann es seine Bestätigung finden. Schließlich hat nicht das Wissen das Leben, sondern das Leben das Wissen zu stützen und zu sichern.

2. Die Lage des Menschen. Das System des Selbstlebens der Wirklichkeit und der Wesensbildung gab auch dem Menschen eine eigentümliche Stellung. So wenig er sich als den Mittelpunkt der Welt betrachten durfte, als Geisteswesen gewann er Anteil an den schaffenden Gründen und an einer letzten Wahrheit; ferner wurde innerhalb unserer Welterfahrung seine Sphäre zu einem wichtigen Wendepunkt, er erhielt eine einzigartige Bedeutung dadurch, daß bei ihm das Problem einer inneren Umwandlung des Seins aufgenommen, daß hier der Hauptzug des Strebens der Natur entwunden und zum Geist geführt werden soll. Mag dabei die Leistung noch so unfertig bleiben, das Problem erregt den Menschen und läßt ihn nicht wieder los. In dem Problem selbst aber sind ihm erlösende und erhöhende Mächte gegenwärtig, alle Unfertigkeit kann nicht die Grundtatsache E i c k e n , Kampf. II. Aufl.

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D a s G e s a m t b i l d des G e i s t e s l e b e n s

antasten, daß der Mensch eine unvergleichliche Größe gegenüber der Natur hat, und sein Leben inmitten alles Leides und Dunkels eine überwindende Vernunft enthält. Eine derartige Fassung des Lebens ergab die entschiedenste Abweisung einer bloß geschichtlich-gesellschaftlichen Lebensführung, die sich auch heute gern als die Hauptsache gibt Geschichte und Gesellschaft erwiesen sich als notwendige Entwicklungsformen des menschlichen Geisteslebens, aber sie drohten es zu veräußerlichen, ja zu vernichten, wenn sie sich von einem unmittelbaren Leben überlegener Art ablösten und im eignen Bereiche abschließen wollten. Das Eingehen in die Zeit und die Bildung einer Geschichte zeigte sich als unentbehrlich, um das Vermögen des Geistes zu erschließen, ihn in Selbsterfahrungen zu versetzen und durch solche Erfahrungen weiterzubilden. Für uns erlangt ohne den Aufbau einer geschichtlichen Welt das Geistesleben keine Konkretheit Aber zugleich erhellte, daß alles geistige Wesen in ein Werden zu setzen es zerstören, und daß dem Menschen eine bloßgeschichtliche Existenz zuzuerkennen ihn alles selbständigen Lebens berauben heißt; eine Geschichte geistiger Art entsteht nur durch die Beziehung auf eine zeitüberlegene Ordnung und eine Umsetzung alles Geschehens in unmittelbares Leben. So werden alle ihre Ergebnisse und Erfahrungen dem Menschen nicht mühelos zugeführt, sondern sie sind immer von neuem zu erringen. Dazu sahen wir in der Verwicklung seiner Verhältnisse nicht nur die Vernunft, sondern auch die Unvernunft wachsen, ja die Vernunft selbst in Unvernunft umschlagen. Endlich ist der Mensch auch ein Kind des Augenblicks, immerfort droht ihn das bloß Momentane, das Zeitgeschichtliche, zu fesseln und die Wirkung der weltgeschichtlichen Arbeit aufzuheben. So ist die Geschichte, geistig angesehen, weit mehr Problem als fertige Tatsache, sie bereichert das Leben mit ihren Erfahrungen nur, soweit sie sich in eine Gegenwart verwandeln läßt, sie bedarf für ihre eigne Wirkung einer Gegenwirkung; das Beste was sie geben kann, ist, daß sie die Möglichkeit eines weiteren; reicheren, gesättigteren Lebens fördert, aber stets bedarf sie der Tat, welche die Möglichkeit in Wirklichkeit umsetzt Ähnlich steht es mit der sozialen Lebensführung. So notwendig für die Entwicklung des Geisteslebens das Zusammensein der Menschen und die Gemeinschaft der Arbeit ist, es bleibt dabei, daß die ausschließliche Bindung an diese Sphäre eine Unterdrückung und

Die Lage des Menschen

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bald auch Zerstörung aller selbständigen Innerlichkeit bedeutet, daß die Welt des bloß mit sich selbst beschäftigten Menschen jämmerlich klein wird. Nur die Erhebung aus der dumpfen Luft dieser engen Sphäre in den Äther des Lebens und Schaffens aus einer selbständigen Geisteswelt vermag unserem Leben eine innere Weite, einen Wert und eine Freude zu geben. So kann das geschichtlich-gesellschaftliche Dasein nur als die Existenz, nicht als die Substanz des Geisteslebens gelten; ihm gegenüber hat sich ein unmittelbares Leben reiner Innerlichkeit zu entfalten, das alle Erfahrungen der Geschichte und Gesellschaft aufnimmt, sie in Selbsterfahrungen verwandelt, ihnen einen geistigen Inhalt abgewinnt und ihn zur eignen Förderung wendet. Eine solche Innenwelt jenseits aller empirischen Lebensformen anerkennen und hier das Hauptleben suchen, das heißt zugleich den Schwerpunkt des Lebens in die Einzelnen, nicht als natürliche Einzelwesen, sondern als geisterfüllte Persönlichkeiten, verlegen. Hier allein kann sich das wahre Grundverhältnis des Geisteslebens, das Verhältnis zu sich selbst, d. h. das zu der im eignen Kreise gegenwärtigen Ewigkeit und Unendlichkeit selbständig entfalten, hier allein ist das Leben ganz gegen sich selbst gekehrt und von aller äußeren Beziehung befreit, hier erhält es die Wärme und die Gewalt des Kampfes um ein echtes Sein, von hier kann wahrhaftige Überzeugung in alle Betätigung strömen und auch ihr eine Wahrheit geben, hier, in dem Ringen mit jener Unendlichkeit, ist der Urquell alles Schaffens und aller Größe. Namentlich deswegen ist die Aufgabe hier so bedeutend, weil sich nicht nur das Drama der Welten an jeder Stelle erneuert, sondern auch jeder Punkt mit seiner geistigen Individualität ein eigentümlicher Mikrokosmos, eine unvergleichliche Konzentration des Alls zu werden vermag. Nur eine Vermengung von Natur und Geist konnte eine solche Individualität als eine Gabe der bloßen Natur verstehen; in Wahrheit wird von dort nur eine Vorbereitung entgegengebracht, das entscheidende Werk, die Ausbildung eines geistigen Charakters, bleibt immer eine Sache eigner und freier Tat, ist immer ein Zeugnis einer neuen Welt So steht der Mensch inmitten der Welten, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, und sein äußerlich so unscheinbarer Lebenskreis hält alle Hauptprobleme, aber auch alle Hauptbewegungen unserer Welt gegenwärtig. 19

B. A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit. 1. Geschichtliche Orientierung. T

| e r Gesamtinhalt der Untersuchung schützt uns zur Genüge vor dem Verdacht, das Geistesleben als eine bloße Zeiterscheinung zu behandeln und die Arbeit in den Dienst einer besonderen Zeitlage zu stellen. Aber deshalb brauchen wir das Verhältnis zur Zeit nicht gering zu achten. Ohne die engste Beziehung zur Gegenwart erlangt für uns das Geistesleben keine Durchbildung und keine anschauliche Nähe; wenn die Zeit eine wahre und wertvolle Individualität nur durch die geistige Arbeit erringt, so ist solcher Erfolg zugleich für das Geistesleben selbst ein Gewinn; in den besonderen Umständen kann es sich dem Menschen in eigentümlicher, ja einzigartiger Weise eröffnen, gerade dieser Augenblick mag vor allen anderen etwas erreichbar machen, was zu bleibender Förderung wirkt. Aber es ist keine einfache Sache, das geistige Bild einer Zeit zu fassen. Als solches pflegt sich zunächst die Summierung von Stimmungen und Strebungen zu geben, die sich nach außen hin am meisten bemerklich macht. Ob aber diese Stimmungen die wirkliche Arbeit und die innere Bewegung der Zeit auch nur annähernd zum Ausdruck bringen, ist keineswegs sicher; Meinung und Tatsache können hier weit auseinandergehen. Aber auch in der Arbeit sind die Zeiten gewöhnlich nicht einfach, sondern sie pflegen bei sich selbst einen Gegensatz zu erzeugen; ein Hauptzug bildet sich, aber ihm pflegt ein Widerstand zu erwachsen, die Zeit enthält meist ein Gegenstück zu sich selbst, freilich in verschiedenem Grade und in verschiedener Art. Endlich ist eine Zeit erheblich mehr als die Gesammtheit des unmittelbar jetzt unternommenen Strebens, die Vergangenheit bleibt in ihr gegenwärtig und wirkt durch Gesetze, Sitten, Begriffe, Sprache u. s. w. unablässig

Geschichtliche Orientierung

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fort ohne den Willen, ja gegen den Willen der Lebenden, so bildet auch sie einen wichtigen Faktor der Zeit. Das alles läuft zunächst in einen Gesamteindruck zusammen und erzeugt hier ein wirres Gemenge. Eine Zerlegung dieses Eindruckes ist unerläßlich, sie ist aber nicht möglich ohne eine geschichtliche Besinnung, ohne eine Aufklärung darüber, wie die Gedankenmassen einander folgten, wie die eine die andere hervortrieb. Eine solche geschichtliche Besinnung wird auch eine Beurteilung der Zeit unterstützen, welche aus der Gerechtigkeit keine Mattheit und aus der Energie keine Parteilichkeit werden läßt. Unsere Beurteilung hat vor allem die durch die gesamte Untersuchung begründeten Überzeugungen anzuwenden, solche Betrachtung aber sei durch eine immanente Kritik der Zeit ergänzt, durch eine Prüfung, wie weit die Zeit mit sich selbst übereinstimmt und wieviel Spaltung sie aufweist. Bei Verbindung dieser Angriffspunkte hoffen wir mit der Kritik der Zeit nicht in ein leeres Schelten und Klagen über die Zeit zu verfallen. Was sich heute mit besonderem Nachdruck „modern" nennt, ist eine starke und unbegrenzte Entwicklung des Subjektivismus und Individualismus. Das Individuum mit seiner Subjektivität erscheint als der Kern aller Wirklichkeit, die freie Entfaltung seiner Kräfte und der volle Genuß seines Daseins wird zum Ziel alles Strebens, seine freischwebende Stimmung gilt als die Seele des Lebens und soll auch das Schaffen beherrschen. In ihrer Unendlichkeit fühlt sich der Mensch von allem Druck der Wirklichkeit befreit und keinerlei Bindung bedürftig. So wird, was immer der vollen Entwicklung des Subjektes Schranken setzt und. ihr feste Ordnungen entgegenhält, als eine ungebührliche Hemmung verpönt. Wie das Individuum alle Bindung an die Gesellschaft, so verwirft der Augenblick alle Unterordnung unter die Geschichte; alle geschichtlich-gesellschaftliche Lebensführung erscheint als eine niedere, eines freien Menschen unwürdige Stufe. Die Abweisung aller Autorität trifft auch die Moral, auch sie erscheint als ein bloßes Erzeugnis jener niederen Stufe, das eine frische und volle Entfaltung des Lebens nur hemmen kann. So eine Umwertung aller Werte, wie wir bis zum Überdruß hören. Dies Aufwuchern eines schrankenlosen Subjektivismus wäre kaum begreiflich, bildete dieser nicht einen Rückschlag gegen einen unwillig empfundenen Druck, gegen einen starr und geistlos ge-

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A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

wordenen Objektivismus. Wie er das in der alten Sophistik und öfter in ähnlichen Lagen war, so ist er es auch in der Gegenwart. Das vorige Jahrhundert hat eine starke Bewegung gegen alle Überspannung des Subjektes aufgebracht und in neuem Zuge des Lebens größere und festere Zusammenhänge gesucht; so hat sich eine geschichtlich-gesellschaftliche Lebensführung gestaltet und ihr Wirken nach allen Seiten ausgedehnt. Das Leben war hier nichts anderes als ein Entwickeln der Beziehungen zur Umgebung, es band sich ganz und gar an die Außenwelt, es setzte alle selbständige Innerlichkeit zu einem Trugbild herab und hielt sie der Arbeit möglichst fern. So findet die Wissenschaft ihre Aufgabe ganz in der um uns gelegenen Welt, die Erkenntnis wird durchaus auf eine Mitteilung der Dinge, auf Beobachtung und Erfahrung angewiesen; die eigne Leistung des Geistes auf ein verschwindendes Minimum zu reduzieren, das konnte als besonderer Triumph der exakten Forschung gelten. Überall galt es hier, große Zusammenhänge zu finden und daraus mannigfache Beziehungen für den Einzelpunkt zu entwickeln. So hatte sich die Gegenwart einer fortlaufenden geschichtlichen Bewegung wie ein Glied einer Kette einzufügen, so hatte sich das Individuum sowohl von der Gesellschaft her zu verstehen als auch im Handeln darauf zu beziehen, in der Leistung für die Gesellschaft lag sein Wert, der Stand der Gesellschaft entschied auch über sein Befinden. Hier mußte überall das Zuständliche dem Gegenständlichen, das unmittelbare Geschehen der Einordnung in die Zusammenhänge, die absolute Beurteilung einer relativen weichen. Der schroffe Gegensatz zu dem vorher geschilderten Subjektivismus ist augenscheinlich, aber in einem allgemeineren Gedanken besteht trotzdem ein innerer Zusammenhang, ja eine Verwandtschaft. Ohne das würden beide nicht so hart zusammenstoßen, wie sie es tun. Das Gemeinsame aber ist das volle Aufgehen des Menschen in das unmittelbare Dasein, in die Welt der Erfahrung, die Ablehnung aller Anknüpfung an tiefere Gründe, die Leugnung aller selbständigen Geistigkeit mit einer erhöhenden und umwandelnden Kraft gegenüber dem Tun und Treiben des Menschen. Der Mensch mit der ihn umgebenden Welt gilt hier als das Ganze, aus eigner Kraft soll er die Vollendung des Lebens und das höchste Glück erreichen. Das ist ein gemeinsamer Boden gegenüber dem geschichtlich befestigten Idealismus, der eine Geisteswelt jenseits des bloßen

Geschichtliche Orientierung

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Menschen verfocht und das nächste Dasein zur zweiten Welt herabsetzte. Aber auf jenem Boden hat man sich hart entzweit, die Arbeit am Gegenständlichen und das Befinden des Subjekts sind schroffe Gegensätze geworden. Dort ein Realismus und Rationalismus) hier eine Romantik des Subjekts mit weichem Gefühl; dort alles möglichst fest und handgreiflich, hier alles flüssig und flüchtig, in raschem Wandel der Gestaltung. Wenn aber beide bei allem Gegensatz in der Abweisung der überkommenen, vom Idealismus geleiteten Lebensführung übereinstimmen, so wird diese schwerlich ohne Schuld daran sein; erinnern wir uns in Kürze ihrer Eigentümlichkeit. — Das Kulturideal der Neuzeit hat einen durchgehenden Charakter, den alle Unterschiede und Gegensätze nicht zu verwischen vermögen. Namentlich enthält er eine zwiefache Behauptung, eine allgemeinere und eine speziellere These. Jene verficht eine aller Zersplitterung in einzelne Lebenskreise wie allem Vorherrschen einzelner Tätigkeitsrichtungen überlegene Universalkultur, die im Ganzen seines Seins den Menschen bewegen und erhöhen, sowie eine sein ganzes Leben umfangende Welt der Vernunft aufbauen soll. Das besagt eine Wendung gegen eine bloß nationale Kultur, die sowohl äußerlich auf einen geschlossenen Kreis beschränkt bleibt als auch innerlich von Naturbedingungen abhängt; es besagt zugleich, wenn auch versteckter, eine Wendung gegen eine bloß religiöse Lebensführung, die alle geistige Betätigung den Zwecken der Religion unterwirft und damit unvermeidlich einer Verengung verfällt. Hat sich diese Idee einer Universalkultur durch Leben und Tat so befestigt, wie das in der Neuzeit geschah, so läßt sie sich nicht wieder zurücknehmen; am wenigsten können wir an ihr Zweifel hegen, die das Ganze der Erörterung auf sie hinwies, und denen die Wesensbildung eine Verwirklichung jener Idee eröffnete. Aber nicht so unangreifbar wie der allgemeine Gedanke ist die nähere Ausführung, die ihm die Neuzeit durch einen weiteren Zug ihres Strebens gab. Sie ruht auf der Überzeugung, daß unsere Welt im Kern ein System der Vernunft bildet, daß sie das Göttliche in sich trägt und uns damit von allen Seiten umfängt. Es gilt dann nur, zu dieser Vernunft durch allen hemmenden Schein hindurchzudringen und ihr zu voller Wirkung auch bei uns zu verhelfen. Dieser Leistung aber fühlt sich der Mensch gewachsen, von stolzem Bewußtsein der Kraft wird seine Arbeit getragen.

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Dabei brauchte keineswegs die Vernunft als fertig zu gelten, so daß unser Werk in die Anschauung ihrer Vollkommenheit aufginge, sondern das All konnte ein System aufsteigender Entwicklung bilden und diese Entwicklung unsere Kraft aufs äußerste anspannen. Das allerdings durfte nicht zweifelhaft sein, daß die Vernunft unablässig vordringt und allen Widerstand, auch eine etwa aus ihr selbst erwachsende Hemmung, siegreich überwindet, wie auch dieses nicht, daß wir Menschen an dieser Bewegung teilhaben und mit ihr fortschreiten; Böses und Zweifel dürfen nicht in die tiefste Wurzel zurückgreifen. Bleibt aber der Kern unangetastet und der Sieg des Guten durch eigne Kraft in sicherer Aussicht, so werden auch die schwersten Widerstände mit ihrer Anspannung der Kraft zu einem Reiz des Lebens, so wird die letzte Schätzung der Dinge eine durchaus positive und optimistische. Finden wir so um uns die Vernunft verwirklicht und uns selbst in sicherer Verbindung mit ihr, so bedarf es nicht so sehr innerer Wandlungen als einer völligen Belebung unseres Seins; die moralische Aufgabe der Herzensbildung weicht der intellektuellen Tätigkeit, die uns die eigne Seele wie die Welt klärt und belebt Kraftentwicklung unter Leitung der Intelligenz, das bildet die leitende Idee und den Haupttrieb der Neuzeit. Wie großes mit der Entfaltung dieses Triebes, mit der Umsetzung des ungestümen Verlangens in fruchtbare Arbeit geleistet ist, wie sehr alle Verhältnisse davon ergriffen und das ganze Leben erneuert ward, das wissen wir alle; um so mehr bedarf die Frage einer Erwägung, warum diese so erfolgreiche Lebensentwicklung die menschliche Überzeugung nicht dauernd festzuhalten vermochte und im Lauf der Zeit zu schweren Verwicklungen führte. Der Hauptgrund lag wohl darin, daß die Welt schroffere Gegensätze und tiefere Abgründe enthält, als sie jenes Kulturideal anzuerkennen vermag, und daß auch der Mensch nicht so leicht den Weg zur Wahrheit findet als es dort erscheint; so entstehen Aufgaben, denen jene Lebensführung nicht gewachsen ist und deren Hervortreten sie erschüttern muß. Diese Erschütterung ist nicht die Folge einer abstrakten Betrachtung, welche von außen her über die Sache reflektiert, sondern der Entfaltung und des Sichauslebens der Bewegungen selbst; sie können dabei nicht ihr Vermögen zeigen, ohne auch ihrer Grenzen innezuwerden. Wie sich dieser Prozeß vollzog, wie die Erweisung der Kräfte zugleich ein Aufdecken der Schranken wurde,

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wie sowohl die Weltumgebung unüberwindliche Widerstände entgegenhielt als auch im eignen Innern des Menschen ungelöste Probleme aufstiegen, das können und brauchen wir hier nicht zu verfolgen. Tatsache ist, daß die Widerstände immer heftiger wurden, und daß die Kulturbewegung entweder zu ihrer Überwindung immer kühnere Behauptungen wagen mußte, wie z. B. in der konstruktiven Philosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, oder ihnen durch eine immer abstraktere Fassung der Ideale aus dem Wege zu gehen hatte, was sie unvermeidlich innerlich schwächte. Da man zugleich von der allgemeinsten Idee einer Universalkultur nicht lassen wollte und konnte, so verwickelte sich das Leben mehr und mehr bei sich selbst, immer stärker mußte die Neigung werden, sich allen diesen Schwierigkeiten durch eine Wendung zum unmittelbaren Dasein zu entziehen. Was sich so von innen anbahnte, das wäre aber schwerlich so rasch zu siegreichem Durchbruch gelangt ohne das Entgegenkommen einer Bewegung aus der Arbeit der Menschheit. Wieviel wichtiger uns das Verhältnis zur sinnlichen Umgebung geworden ist, wie schwere Aufgaben und Verwicklungen hier entstanden sind, wie stark das Sinnen und Tun des Menschen von hier angezogen und festgehalten wird, das sahen wir oben; so können wir uns hier auf die früheren Darlegungen einfach berufen. Die Schwächung der idealen und die Stärkung der realen Faktoren erklärt miteinander den jähen Umschlag, den das 19. Jahrhundert gebracht hat. Nirgends ist er anschaulicher als bei der Hegeischen Philosophie, dieser dämonischen, in Wirkung, Nachwirkung und Gegenwirkung wohl größten geistigen Macht des vergangenen Jahrhunderts. Bewegungen, die den Menschen ganz in ein Gedankenwesen und seine Welt in ein reines Gedankenreich verwandeln sollten, sahen wir den Boden des unmittelbaren Daseins betreten, hier unermeßliche Leidenschaften entzünden und die stärkste Triebkraft einer sozialen Umwälzung werden. Wo nach der anfänglichen Absicht der Mensch ein Werkzeug der Ideen werden sollte, da sind schließlich die Ideen ganz in den Dienst seines Wohlseins gezogen. Die Wendung zum unmittelbaren Dasein nahm zunächst die Richtung zum Objektivismus, der Naturalismus hat zu Beginn einen durchaus realistischen Charakter. Man ist einer Idealkultur satt und müde geworden, man empfindet ihre Probleme nicht mehr als zwingend und wahr, man ersehnt ein anschaulicheres, frischeres, ge-

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sättigteres Leben. Für alles Streben gilt es eine breitere Basis und festere Zusammenhänge mit dem All zu gewinnen, von einer anthropomorphen Gestaltung zu einer kosmischen durchzudringen, nicht mehr im Gewebe subjektiver Meinungen und Wünsche zu verharren, sondern alles Tun mit den Dingen zu verketten und aus den Dingen zu erfüllen, ihm damit allererst eine volle Wahrheit zu geben. Die Idee der Wahrheit wurde zur Beherrscherin aller Arbeit, der Wahrheit aber im Sinne einer Übereinstimmung mit der Weltumgebung, als einer Aneignung des unverfälschten Tatbestandes der Dinge. Der Fortgang dieses Strebens schien uralte Irrungen zu zerstören und schwere Nebel zu vertreiben, die sich lange zwischen uns und die Welt gelegt hatten; eine neue Ansicht der Dinge, die sonst nur stückweise durchgeschimmert hatte, brach nun mit siegreicher Klarheit hervor und wirkte mit der Unwiderstehlichkeit einer jugendfrischen, einfachen und fruchtbaren Wahrheit; eine Umkehrung des gesamten Lebens ward damit unvermeidlich. Diese Umkehrung betraf gleichmäßig das Erkennen und das Handeln. Die sinnliche Welt, rein bei sich selbst erfaßt, erschloß eine unermeßliche Fülle von Tatsachen, der für einfach erachtete Strom des Geschehens zerlegte sich in ein reiches und feines Geäder einzelner Bewegungen, die Mannigfaltigkeit aber verfiel nicht der Zerstreuung,, sondern sie wurde durch die Wirklichkeit selbst unaufhörlich aufeinander bezogen und sicher zusammengehalten. Nicht mindere Kräftigung und Bereicherung erhielt das Gebiet des Handelns. Wurde nun das Lebensproblem nicht mehr wie früher von innen, sondern von außen her angegriffen, so schien damit erst die unmittelbare Lage des Menschen, ja der Mensch überhaupt sein volles Recht zu erlangen; sichere Angriffspunkte schienen hier auf politischem, ökonomischem, technischem Gebiet leicht zu erreichen, unendlich viel gab es hier zu bewegen und zu fördern, ja bei energischer Arbeit schien sich von hier das ganze Leben bis in die Innerlichkeit hinein zu einem Reich der Vernunft gestalten zu lassen. Auch hier ergibt die Befreiung des Einzelwesens keine Vereinzelung und Zerstreuung. Denn wo Leben ein Entwickeln von Beziehungen zur Umgebung ist, da findet es einen Inhalt nur im Verhältnis des Einzelnen zu anderen Wesen, da wird es gänzlich an das Nach- und das Nebeneinander, an die Geschichte und an die Gesellschaft gebunden. Alsdann aber ist die Steigerung der

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eignen Kraft zugleich eine Unterordnung unter Zusammenhänge, so scheint in den Grundtrieb des Lebens ein ethischer Zug aufgenommen. So ein System der Leistungen, ein System, das einen gewaltigen Lebensstrom hinter sich hat, das eine bedeutende Wendung der geistigen Arbeit zum Ausdruck bringt. Wir erkennen in ihm eine historische Tatsache, die vor allem innerlich mitzuempfinden und in ihrem Rechte zu würdigen ist, die nicht verketzert und in Bausch und Bogen verworfen werden darf. Aber die historische Tatsächlichkeit erweist keineswegs schon ein absolutes Recht, jene Leistung verfällt der Kritik, sobald sie sich festlegt und als das Letzte und Ganze ausgibt Alsdann reizt sie alles Draußengelassene zum Kampfe auf, und in diesem Kampf wird sie schwerlich siegen. Der Ausschließlichkeit einer realistischen Lebensführung widerspricht ein doppeltes Bedenken. — Zunächst ist der Realismus nicht so rein tatsächlich, nicht so frei von subjektiver Zutat als er selbst sich hält, ja eben aus dem Grunde der eignen Arbeit kann er das Subjekt nicht entfernen. Mag die gegenständliche Welt bei sich selbst noch so geschlossen sein, dem Subjekt eröffnet sie sich nicht ohne ein Entgegenkommen des Subjekts, mit der dem Subjekt gegenwärtigen Welt aber haben wir es hier zu tun. Namentlich ist ein Zusammenschluß der realen Elemente zu einem Lebensganzen nicht wohl unmöglich ohne eine Aufbietung seelischer Kräfte. Denn wie könnte jener erfolgen, ohne daß die Mannigfaltigkeit der Eindrücke auf einen Einheitspunkt bezogen und von da aus bearbeitet wird? Mag diese Bearbeitung nur ein bloßes Ordnen und Zurechtlegen sein, sie verwandelt den ersten chaotischen Eindruck, sie enthält eine Gegenwirkung des Subjekts gegen die Außenwelt. Aber noch mehr. Eine Gegenständlichkeit ist für uns an erster Stelle nicht draußen, sondern drinnen vorhanden; auch wenn jene nur durch die Richtung unseres Denkens auf ein äußeres Objekt zu erreichen wäre, immer wäre die innere Leistung, die Denktätigkeit das Begründende; wir erhalten auf diesem Wege nicht sowohl eine bloß sinnliche Wirklichkeit als eine sinnlich gebundene Gedankenwelt, die aber auch in der Bindung Gedankenwelt bleibt. Mag also in diesem System der Geist noch so zurückgedrängt werden, ganz zum Verschwinden bringen läßt er sich nicht; wenn er sich aber nur irgend behauptet, so verschiebt sich das Gesamtbild der Wirklichkeit gegen den Entwurf des Realismus.

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Dieselbe Erscheinung zeigt das praktische Gebiet. Bei aller Steigerung der sinnlichen Güter sind nicht sie es, welche letzthin das Streben bewegen, sondern die mit ihrer Erringung und Nutzung erfolgende Entfaltung der Kraft, das Wachstum des Lebensprozesses, also ein innerer Stand des Subjektes. Und wenn dies Leben seine Zentralidee in der Wahrheit findet, wenn die Freude an einer wahrhaftigen Gestaltung unseres Daseins alle Arbeit durchdringt, so ererweist sich damit als die mächtigste Triebkraft ein Verlangen innerlicher Art. Denn wie sollte ein bloßes Naturwesen zur Frage der Wahrheit gelangen? So läßt sich auf das Subjekt nicht verzichten, für seine eigne Begründung und Entwicklung bedarf der Realismus dessen, das er mit aller Macht zu vertreiben sich müht. Ein solcher Widerspruch aber muß zur Lähmung des Lebens wirken. Was das Streben bewußt als Ziel ergreift, das kann es nicht voll erreichen, und eine innere Gegenwirkung verhindert eine Befriedigung beim äußeren Erfolg. Zu solchen Einwendungen einer immanenten Kritik gesellen sich noch gewichtigere aus einer absoluten Beurteilung. Das Leben, das der Realismus besten Falls erreichen kann, bleibt weit hinter den Ansprüchen zurück, die ein Geisteswesen aus seiner Natur und aus seinem Grundverhältnis zur Wirklichkeit entwickelt und entwickeln muß; diese Ansprüche werden zu direkten Gegenwirkungen, wenn sie in großen geschichtlichen Leistungen zur Verkörperung gelangt sind und von hier aus zum Menschen sprechen. Viel zu sehr ist das Geistesleben durch die Bewegungen und Wandlungen der weltgeschichtlichen Arbeit geweckt, viel zu sehr ist es durch Erfahrung und Erschütterung einer Tiefe seines Wesens inne geworden, viel zu sehr hat sich ihm durch Gelingen und Mißlingen das Verhältnis zur Umgebung in einen Kampf um sein eignes Selbst verwandelt, als daß es nicht die Festlegung auf den ihm vom Realismus zugewiesenen Stand als eine schmerzliche, ja unerträgliche Erniedrigung empfinden und sich mit voller Kraft dagegen wehren müßte. Erfahren doch hier alle Gebiete, die sich an das Ganze und Innere des Menschen wenden, die stärkste Verkümmerung, indem sie zu bloßen Begleiterscheinungen und Zutaten eines andersartigen Lebensprozesses werden. Sofern hier überhaupt eine Religion anerkannt wird, ist sie nur ein Empfinden der Kleinheit und Bedingtheit des Einzelnen gegenüber der Unendlichkeit des unerforschlichen

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Alls; die Philosophie hat nur zusammenzustellen und zu verallgemeinern, was die Einzelwissenschaften ihr an Ergebnissen darbieten; die Kunst hat die Erscheinung möglichst genau zu kopieren, es fehlt alles zwingende Bedürfnis, die Resonanz der Welt in der Seele durch eine schöne Literatur zum Ausdruck zu bringen. W o nichts ist und nichts vorgeht, läßt sich auch nichts zur Darstellung bringen. Die Moral aber hat hier keine andere Aufgabe als ein angemessenes Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft herzustellen, „altruistische" Handlungen in genügendem Maße gegenüber den egoistischen zu entwickeln. Eine Erhöhung des Wesens, eine Bildung von Gesinnung und Charakter von ihr zu verlangen, das wäre hier ebenso töricht wie die Forderung einer großen Kunst, einer spekulativen Philosophie, einer befreienden und erhöhenden Religion. Die geistige Arbeit wird hier völlig zur Technik, von klarer Einsicht geleitete Technik; das Leben in einen sich selbst regulierenden Mechanismus zu verwandeln, das müßte als das Ziel aller Wünsche gelten. Wie keine Notwendigkeit, ja keine Möglichkeit innerer Wandlungen, so gibt es hier auch keine inneren Probleme, keinen Kampf um einen Lebensinhalt, um eine Seele; jene Gebiete einer höheren Geisteskultur bedeuten nicht mehr als einen Luxus, den sich zu verschaffen und auch anderen zu gönnen, dem gebildeten Manne wohl geziemt. Wie dürftig, wie kläglich ist das alles gegenüber den wahren Problemen und Verwicklungen des Lebens! Ein rasches Sinken des geistigen Niveaus ist bei solcher Wendung nicht zu verhüten, die Verachtung des Geistes wird sich durch ein Geistloswerden des Wirkens rächen, ein solches Leben mag betriebsame und geschickte Arbeiter, es wird flache und leere Menschen erzeugen. Schließlich sei auch der Widerspruch beachtet, den dieses realistische Leben in seinem Grundbegriffe trägt und dessen Entwicklung es mit Zerstörung bedroht. Es verlegt alle Tätigkeit in die Beziehungen nach außen, es gibt dem Einzelpunkte nur durch die Zusammenhänge eine Bedeutung. Das Individuum gewinnt allen Inhalt aus der Gesellschaft und hat einen Wert nur durch die Leistung für die Gesellschaft, in dem Leben für die anderen; die Gegenwart ist nichts für sich, sondern sie besagt etwas nur als ein Punkt der geschichtlichen Bewegung, nur als der Übergang von der Vergangenheit zur Zukunft. Da nun aber nach den realistischen Überzeugungen die Gesellschaft nichts anderes ist als ein Nebeneinander

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von Individuen, die Geschichte nichts anderes als ein Nacheinander von Augenblicken, so wird nie ein Punkt erreicht, wo das Leben ein Selbstleben wird und eine wahrhaftige Gegenwart gewinnt; vielmehr verweist der eine Punkt auf einen anderen, und dieser wieder auf einen anderen, und so ins Endlose weiter; ein stetes Vonsichschieben und Weiterblicken, ein gieriges Lebenwollen, aber kein wahrhaftiges Leben, eine Flucht des Lebens vor sich selbst. So raubt eben der Realismus mit seiner Ausschließlichkeit dem Menschen eine Wirklichkeit echter Art. Denselben Widerspruch zeigt die Fassung des höchsten Gutes. Wo alles Streben nach außen gerichtet ist, da wird das Nützliche zum ausschließlichen Ziel, da kann es nichts an sich wertvolles, da kann es keinen Selbstzweck geben. Aber schließlich ist es ein Unding, alle Kraft, eine unermeßliche Kraft, an die Lebensbedingungen, an die Mittel des Daseins zu setzen, dem Leben selbst aber nirgends einen Inhalt, einen Wert, eine Freude zu sichern, überall vorzubereiten, aber nie zur Sache selbst zu gelangen. Das muß dies Leben in aller unermeßlichen Fülle der Leistungen innerlich arm machen; alle Sinnfälligkeit seines Getriebes schützt es nicht vor einer Verflüchtigung zu einer leeren Illusion, sobald das Problem des Glückes erwacht und auf den Plan tritt Denn hinter dem Glück steht das Selbst, das viel zu sehr durch die Fülle der Arbeit geweckt und in seinem Lebensdrange gestärkt ist, um sich am entscheidenden Punkt wieder einschläfern zu lassen und die völlige Leere des Endergebnisses ruhig zu ertragen. Es war kein Zufall, daß eben der Mann, dem die philosophische Gestaltung des Realismus das meiste verdankt, daß Comte schließlich einen völligen Umschwung in der Richtung des Subjektivismus vollzog. Wie aber hier, so wird überhaupt das unterdrückte und mißhandelte Subjekt schließlich sein Recht erzwingen. Dieser Umschlag ist in der Tat erfolgt und hat eine völlig veränderte Lage geschaffen. Das Subjekt emanzipiert sich kühnlich von allem Druck, es durchschaut die Nichtigkeit alles nach draußen gerichteten Lebens, es verwirft alle Bindung an eine ihm von dort auferlegte Autorität. Warum soll es sich anderen Individuen unterordnen, die nicht mehr sind als es selbst, warum sich für eine Gesellschaft aufopfern, welcher der Einzelne gleichgültig ist, und die ihm ihren Wert erst zu erweisen hätte. Warum soll sich ferner die Gegenwart von früheren Zeiten abhängig stellen, die tot und

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vergangen hinter uns liegen, warum soll sie sich die Last und Schuld jener aufbürden lassen? Warum sollen wir uns überall einschränken, unsere Ansprüche an das Glück herabstimmen, unsere Kraft zurückhalten, f ü r andere, nicht für uns selbst leben? So werden denn die Schranken, die uns Entsagung geboten, zerbrochen, das Subjekt ergreift seine Souveränität und verwandelt die ganze Wirklichkeit in sein eignes Ergehen, in seine Zuständlichkeit. Zur Seele des Lebens wird damit die Stimmung, welche sich frei über die Dinge erhebt und sie in flüchtigem Spiel unter Abweisung aller Festlegung bald so bald anders gestaltet Das Leben steht hier ganz auf sich selbst, es bedarf keiner Bestätigung und keiner Unterstützung von außen her, es fühlt sich selbstgenugsam im eignen Weben und Schweben, in seiner Unendlichkeit und Weltüberlegenheit. — Das alles kehrt sich mit besonderem Nachdruck gegen den Realismus und geißelt seine Lebensführung als flach, mechanisch und seelenlos. Die Unmittelbarkeit des Lebens, das Fürsichsein der Seele, die Sehnsucht nach Glück, die Eigenart und der Selbstwert des Individuums, alles, was dort so arg verkümmert war, es darf sich jetzt in völliger Freiheit entfalten. Die neue Lebensführung müßte ihre Eigentümlichkeit verleugnen, wollte sie den Aufbau eines regelrechten Systems unternehmen, der ja unvermeidlich in die gegenständliche Welt verwickeln und an ihre Ordnungen binden würde. Ihre Hauptleistung bleibt die Entfaltung eines Lebenskreises reiner Zuständlichkeit, bloßsubjektiver Empfindung. So kommt die Kunst und im besonderen auch die Literatur neu zu Ehren, aus einer nebensächlichen Umsäumung des Lebensprozesses, wie im Realismus, wird sie nun zum dringendsten Bedürfnis, zur Hauptstätte des Lebens. Denn hier ist die Resonanz in der Seele unvergleichlich wichtiger als alles was draußen vorgeht. Es wird aber die Kunst in diesen Zusammenhängen ihre Aufgabe nicht sowohl darin finden, geschlossene Werke zu schaffen, als darin, die wechselnde Stimmung und Lage des Individuums in ihrer unerschöpflichen Fülle immer von neuem zum Ausdruck zu bringen. Hier gilt es, das flüchtige Leben möglichst klar und kräftig zu fassen, den unmittelbaren Eindruck rein wiederzugeben, alle Schwingungen voll ausklingen zu lassen, in farbenreichem Kaleidoskop die Welt bald so bald so zu schauen. Mag damit alle Leistung aphoristischer Art bleiben, das Subjekt bildet einen überlegenen Einheitspunkt, der aller Zerstreuung entgegenwirkt.

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So eine geistige Bewegung, die mit der Ablösung der Stimmung von der Arbeit sich deutlich genug als eine Art der Romantik erweist. Als Rückschlag gegen einen seelenlosen Realismus hat sie ein gutes Recht, und sie mag mit dem Eintreten für die Erstgeburt der Innerlichkeit als eine wertvolle Vorbereitung einer Wendung zu einem Selbstleben des Geistes erscheinen. Aber dies Recht wird ein Unrecht, sobald der Subjektivismus das einzige und allumfassende Lebensganze sein will, mit dem bloßen Subjekte abschließt und auf das freischwebende Individuum alle Rechte des geistigen Selbst überträgt. Denn die Unzulänglichkeit einer solchen Abschließung muß bald erhellen, es wird zunächst ein arges Mißverhältnis zwischen Anspruch und Leistung zur Empfindung kommen. Sich der Welt entwinden und ihr gegenüber selbständig werden ohne damit ins Leere zu fallen, das kann das Individuum nur als geisterfüllte Persönlichkeit, nur in festem Zusammenhange mit einer unsichtbaren Welt, nur gehoben durch die Kräfte und die Güter einer solchen Welt. Auf Individuen in diesem Sinne hat überall die Bewegung der Geschichte zurückgreifen müssen, wo wesentliche Fortbewegungen und Erneuerungen in Frage standen. Aber das ist nicht das Individuum des Subjektivismus; dieser kennt wie der Realismus keine andere Welt als die des unmittelbaren Daseins, er kennt kein anderes Individuum als das der bloßen Erfahrung. Ein solches Individuum findet sich aber nicht nur von der Umgebung in Gesellschaft und Geschichte in stärkstem Maße abhängig, es hat auch kein Vermögen, sich dieser Abhängigkeit zu entziehen; mag es sich noch so stark und überlegen geberden, es ist und bleibt ein Produkt der natürlichen Ordnung. So trägt auch das moderne Subjekt die Spuren seines Werdens aufs deutlichste an sich, es ist nicht vom Himmel gefallen oder aus dem Nichts emporgestiegen, sondern es hat sich in seiner besonderen Art aus den geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt, es bleibt auch in der schroffsten Opposition an sie gebunden. Ist aber jene Selbstherrlichkeit, jene Souveränität des Individuums nur erträumt, nur erschlichen, so droht alles Schaffen aus ihr einer Unwahrheit zu verfallen. Ein der Welt und der Gesellschaft überlegenes Individuum müßte fest in sich selbst wurzeln, aus innerer Notwendigkeit und rein um seiner selbst willen schaffen, unbekümmert um die anderen und ihre Meinung; indem es seine Leistung an den inneren Forderungen der Sache und damit an einer

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absoluten Größe mäße, würde es einen weiten Abstand zwischen dem Sein und Sollen empfinden und deshalb auch durch den glänzendsten Erfolg nicht übermütig werden. Der moderne Subjektivist hingegen blickt in seinem Schaffen auf die anderen wie von stolzer Höhe herab, er fühlt sich in seiner Stimmung ihnen, den »Heerdenmenschen«, unermeßlich überlegen, und doch bedarf er ihrer Vergegenwärtigung, um solche Überlegenheit voll zu empfinden, er bedarf ihrer staunenden Bewunderung und bleibt demnach innerlich stets an sie gebunden. Was anderes verrät die unablässige Beschäftigung mit dem eignen Zustande, das Schwelgen in dem Bewußtsein der eignen Größe als eine innere Leere? Solche Leere aber läßt keine wahre Unabhängigkeit aufkommen. Der Subjektivist glaubt sich unabhängig, wenn er das Gegenteil von dem sagt und tut was die anderen tun, aber auch das ergibt ein Verhältnis der Abhängigkeit, eine indirekte Abhängigkeit, die kaum besser ist als eine direkte. Für dies ganze Getriebe mit seiner Eitelkeit paßt Piatos Wort, »die Menschen sind oft um so mehr was sie nicht zu sein meinen, als sie es nicht zu sein meinen". Dieser eingebildeteten Größe entspricht ein schiefes Verhältnis zur Sache. Wo die Individualität nicht eine Wahrheit der Sache sucht und die Arbeit keine Gesetze der Sache kennt, sondern wo die Sache ein bloßes Mittel dazu wird, die Kraft und Größe des Subjekts zu offenbaren, da wird unvermeidlich der Sinn für die Tiefen der Dinge geschwächt, da kann kein fruchtbarer Verkehr mit der Sache, kein inneres Wachsturn durch die Arbeit entstehen. Es muß sich hier das Schaffen so auffallend, unterscheidend, raffiniert wie möglich gestalten, während das Einfache, Schlichte, Gesunde geringgeschätzt wird. Schließlich müssen die verschiedensten Höhenlagen gleichwertig werden, wo das souveräne Individuum das Maß aller Dinge bildet. Das ist eine neue Art der Sophistik, ein neuer, nur in der Färbung der Zeit eigentümlicher Sproß eines uralten Baumes. Ihren Charakter zeigt diese Sophistik nirgends deutlicher als in ihrem Verhalten zur Moral, in ihrem Antimoralismus. Gewiß ist es hier nur konsequent, die Moral zu verwerfen. Aber diese notwendige Konsequenz beleuchtet die Eigentümlichkeit des Ganzen besonders grell. Die Moral wird als eine eingebildete Macht der Einengung und Bedrückung verworfen, es heißt, daß sie das Leben und die Entwicklung des Individuums schwäche und hemme. Das E n c l e n , Kampf.

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würde sie in Wahrheit tun, wenn sie nichts anderes wäre als was der Realismus und abhängig von ihm der Subjektivismus aus ihr macht, wenn sie nur eine von draußen auferlegte und erzwungene Satzung bedeutete, wenn sie nur ein Handeln für fremdes Wohl, nicht zugleich für das eigne, wenn sie ein bloßes Verzichten und Herabsteigen wäre. Aber was kann die Moral dafür, daß der Realismus so dürftig von ihr denkt, und daß der Subjektivismus an einer solchen Karikatur haften bleibt? Wo immer die Moral zu reiner und starker Ausbildung kam, da war ihre Unterordnung zugleich eine Erhöhung, ihre Einschränkung eine Erweiterung und Befreiung. Denn die Macht, die aus ihr wirkte, war nicht draußen und fremd, sondern im eignen Innern gegenwärtig, das eigne Wollen nahm sie auf, sie wurde zum Kern des eignen Wesens. Damit aber wuchs dies Wesen selbst zu einer Welt, zu einer aller Natur unvergleichlich überlegenen Welt, eine innere Würde und Hoheit wurde im Menschen offenbar. Auf solche Fassung der Moral geht das Wort Kants: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«. So aus ihrem echten Wesen verstanden, hat die Moral nicht zur Schwächung, sondern zur Kräftigung des Handelns und Wesens gewirkt Man betrachte die Männer, deren Lebensarbeit mit besonderer Energie für eine ursprüngliche und wesenbildende Moral eingetreten ist, Männer wie Sokrates, Plato, Luther, Kant, Fichte, Männer, welche von einer überlegenen Ordnung aus die vorgefundene Welt aus den Angeln zu heben vermochten, und vergleiche sie mit den sensiblen »Übermenschen« des modernen Subjektivismus, kann man zweifeln, auf welcher Seite mehr wahre Kraft, mehr wahre Größe ist? Die ewigen Ordnungen der Moral stehen zu hoch über allem Treiben des Menschen, um von jener Torheit irgend getroffen zu werden. Wohl aber schädigt es den Menschen, wenn er in Spiel und Spott verwandelt, woran der Adel seines Wesens hängt, und was ihm in der Dunkelheit seiner Geschicke den sichersten Halt gewährt. Eine neue Welt steigt im Menschen auf, aber mit ihr erwachen schwere Konflikte; dunkle Gewalten des Gemeinen und Bösen schlummern im Menschen und können jederzeit hervorbrechen, um ein Ewiges seines Wesens, um den Gewinn einer Seele hat der

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Mensch immer neu zu kämpfen. Mit diesem bleibenden Problem aber verknüpft sich der Gegenwart eng die besondere Aufgabe der Zeit, denn nur eine Wiederbelebung der moralischen Welt, nur eine kräftigere Entfaltung von Pflicht und Liebe, von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit der Gesinnung kann uns den Verwicklungen der Lage gewachsen machen. Jene Sophistik des Antimoralismus mag die Oberflächenmenschen als geistreich und interessant noch so sehr fesseln, geistig muß sie an ihrer eignen Leere und Nichtigkeit zugrunde gehen. Je mehr ein echtes Verlangen nach Glück wieder durchbricht, je mehr zugleich die gewaltigen Probleme, ja Abgründe unseres Daseins Anerkennung finden, je mehr den Menschen die Sorge um die Rettung einer geistigen Substanz ergreift, desto eher wird das leere Subjekt durch das geistige Selbst mit seinen Weltzusammenhängen verdrängt werden. Aber mit dem Subjektivismus muß dann auch der Realismus und die gemeinsame Grundlage beider, der Naturalismus, fallen; denn jener ist nur die letzte und folgerichtige Konsequenz der ganzen Bewegung.

2. Die Verwicklung der Zeit Die historische Orientierung ergab einen deutlichen Einblick in die geistige Zersplitterung der Gegenwart Die Bewegungen prinzipieller Art, die am meisten ihr selbst angehören, die Entwicklung eines absoluten Subjekts und der Aufbau einer bloß gegenständlichen Kultur, bilden den schroffsten Gegensatz, sie teilen aber miteinander die völlige Hingebung des Lebens an das unmittelbare Dasein, die Leugnung aller selbständigen Geisteswelt. Dies Ja und Nein widerspricht aber direkt der überkommenen Idealkultur, von der die Individuen sich weithin losgerissen haben, die aber aus den geschichtlich-gesellschaftlichen Ordnungen noch immer eine große Macht übt. Aber auch hier ist die Wirkung nicht einfach und ungehemmt. Eine immanente Weltkultur und die Religion, ein Leben aus einer universalen und aus einer konzentrierten Geistigkeit behaupten eine Selbständigkeit gegeneinander, ja sie geraten leicht in einen schroffen Gegensatz, sie werden durch kein gemeinsames Ziel zusammengehalten. Bei solcher Spaltung droht die Kultur die Tiefe des Wesens nicht zu erreichen und zu fördern; die Religion aber hat sich auf eine besondere Form festgelegt, die weniger den 20*

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Mensch immer neu zu kämpfen. Mit diesem bleibenden Problem aber verknüpft sich der Gegenwart eng die besondere Aufgabe der Zeit, denn nur eine Wiederbelebung der moralischen Welt, nur eine kräftigere Entfaltung von Pflicht und Liebe, von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit der Gesinnung kann uns den Verwicklungen der Lage gewachsen machen. Jene Sophistik des Antimoralismus mag die Oberflächenmenschen als geistreich und interessant noch so sehr fesseln, geistig muß sie an ihrer eignen Leere und Nichtigkeit zugrunde gehen. Je mehr ein echtes Verlangen nach Glück wieder durchbricht, je mehr zugleich die gewaltigen Probleme, ja Abgründe unseres Daseins Anerkennung finden, je mehr den Menschen die Sorge um die Rettung einer geistigen Substanz ergreift, desto eher wird das leere Subjekt durch das geistige Selbst mit seinen Weltzusammenhängen verdrängt werden. Aber mit dem Subjektivismus muß dann auch der Realismus und die gemeinsame Grundlage beider, der Naturalismus, fallen; denn jener ist nur die letzte und folgerichtige Konsequenz der ganzen Bewegung.

2. Die Verwicklung der Zeit Die historische Orientierung ergab einen deutlichen Einblick in die geistige Zersplitterung der Gegenwart Die Bewegungen prinzipieller Art, die am meisten ihr selbst angehören, die Entwicklung eines absoluten Subjekts und der Aufbau einer bloß gegenständlichen Kultur, bilden den schroffsten Gegensatz, sie teilen aber miteinander die völlige Hingebung des Lebens an das unmittelbare Dasein, die Leugnung aller selbständigen Geisteswelt. Dies Ja und Nein widerspricht aber direkt der überkommenen Idealkultur, von der die Individuen sich weithin losgerissen haben, die aber aus den geschichtlich-gesellschaftlichen Ordnungen noch immer eine große Macht übt. Aber auch hier ist die Wirkung nicht einfach und ungehemmt. Eine immanente Weltkultur und die Religion, ein Leben aus einer universalen und aus einer konzentrierten Geistigkeit behaupten eine Selbständigkeit gegeneinander, ja sie geraten leicht in einen schroffen Gegensatz, sie werden durch kein gemeinsames Ziel zusammengehalten. Bei solcher Spaltung droht die Kultur die Tiefe des Wesens nicht zu erreichen und zu fördern; die Religion aber hat sich auf eine besondere Form festgelegt, die weniger den 20*

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Bedürfnissen der eignen als denen einer vergangenen Zeit entspricht. So ist die Idealkultur nicht weniger bei sich gespalten als der Naturalismus, zugleich stehen die beiden Hauptrichtungen einander unversöhnlich gegenüber. Damit zeigt sich das Leben der Neuzeit in stärkster innerer Zersplitterung, hier scheint kaum irgendwelche Verständigung möglich. Zugleich freilich findet sich ein großer Reichtum der Bildung und Bewegung, alle Anlagen und Kräfte vermögen sich frei zu entfalten, jedes Individuum kann seine eigne Bahn verfolgen, jedem Eindruck ist die Seele geöffnet; eine überströmende Lebensfülle, ein unablässiger Wechsel, ein Flüssigwerden alles Festen und Starren. Aber in allem dem mehr subjektive Kraft als geistige Substanz, mehr buntes Spiel als selbständiger Charakter; die verschiedenen Bewegungen müssen sich gegenseitig durchkreuzen, stören und hemmen. Die gegenwärtige Lage der Kulturarbeit verschärft solche Spannungen. Über die Tüchtigkeit der jetzigen Arbeit besteht kein Zweifel. Immer fester hat unser Wirken die Gegenstände erfaßt, immer mehr ist es in ihrer Unterwerfung bei sich selbst gewachsen. Auch der steigende Kampf ums Dasein treibt die Individuen tiefer in die Arbeit hinein, immer mehr ergreift sie alle Schichten und alle Völker und versetzt sie in eine fieberhafte Bewegung, nie war so sehr die Arbeit der Kern des Lebens, nie stand die Technik auch nur annähernd auf solcher Höhe, nie wurde der Mensch zu solcher Leistung gehoben. Aber daß das alles eine Kehrseite hat, daß der Mensch in dem äußeren Siege ein Sklave der Arbeit zu werden droht, daß die Technik von außen nach innen dringt und die Seele des Menschen schädigt, das sahen wir gleich zu Beginn; in Wahrheit gefährdet jene gewaltige Entwicklung der Arbeit alle selbständige Innerlichkeit und zwingt den Menschen zum Kampf um ein geistiges Sein. So fern unsere Überzeugung dem Sozialismus ist, das wissen wir an ihm zu schätzen, daß er nicht so rasch wie wohl andere über das Problem des menschlichen Befindens, über den lebendigen Menschen mit seinen Sorgen und Nöten hinwegeilt, sondern dies Problem mit ganzer Wärme ergreift und ihm alle anderen Fragen unterordnet. Aber die Verwicklung. greift viel tiefer zurück und wurzelt weit mehr im Ganzen und Innern unserer menschlichen Lage, als daß sie sich durch eine bloß ökonomische Wandlung, etwa die Aufhebung des kapitalistischen Produktionsverfahrens, heben ließe. Wir sahen, wie das Geistesleben sein eignes Wesen nicht finden kann,

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ohne in sich selbst eine Scheidung zu vollziehen, eine gegenständliche Welt der reinen Innerlichkeit entgegenzusetzen und eine fruchtbare Arbeit an den Gegenständen auszubilden. Aber diese Arbeit drohte in eine Selbstentfremdung umzuschlagen, wo nicht ein umfassender Lebensprozeß sie umspannte und sie aus jener Entfernung unablässig zur reinen Innerlichkeit zurückkehren hieß; ohne dies mußte die Scheidung zur Spaltung und Zerstörung wirken. Jene Ablösung der Arbeit ist aber in der Neuzeit in einem Maße erfolgt wie nie zuvor; sie ist in zwei Richtungen erfolgt, die sich einerseits hart bekämpfen, andererseits gegenseitig unterstützen und zu gemeinsamer Wirkung verbinden. Einmal ist durch unser eignes Bemühen ein Mechanismus der Naturkräfte zu gigantischer Stärke gelangt, er durchdringt alle Verhältnisse und bewältigt auch das Innere; sodann hat sich ein freischwebender logischer Prozeß entwickelt, der uns von innen her packt, uns in sein seelenloses Getriebe hineinzieht, allen wesenhaften Bestand aufzulösen und zu verflüchtigen droht. Beide Mächte suchen die ganze Wirklichkeit an sich zu ziehen und gestalten sie in ihrer Weise, beide aber sind unpersönlicher Art, beide verwerfen ein Selbstleben des Geistes, beide arbeiten, in der Anmaßung einer höchsten und souveränen Gewalt, an der inneren Zerstörung des Geistes. Diese Mächte sind nur zu überwinden durch eine positive Gegenwirkung, durch ein Zurückgehen des Geisteslebens auf seine eigne Tiefe, durch eine kräftige Entfaltung ursprünglichen Selbstlebens und den Aufbau einer ihm entsprechenden Wirklichkeit Dann mag der Kampf das Leben steigern und auch der Widerstand Großes anregen. Aber davon sind wir zurzeit noch weit entfernt; so gewiß eine Bewegung nach jener Richtung sich im Aufsteigen befindet, die unpersönlichen Gewalten besitzen einstweilen das Feld, und dem Durchschnitt des Lebens ist alle Geistigkeit zweifelhaft geworden. So bietet uns gegenüber dem Streit der Ideen und Stimmungen die Arbeit keine sichere Zuflucht, sie selbst verschärft die Verwicklung. Im Ganzen der Lage wird das moderne Individuum in einen Wirbel widerstreitender Eindrücke und Erregungen gezogen und bald hieher bald dorthin geworfen. Die unermeßliche Arbeit mit ihrer reichen Erfahrung hat eine Fülle von Kraft und Geschick erzeugt, aber diese Kraft schwebt frei in der Luft, sie wird nicht durch einen Inhalt gebunden, sie gehört wie ein herrenloses Gut dem Kühnen, der sich ihrer bemächtigt. Aus solcher Lage entspringt

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A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der Z e i t

eine vielseitige Bildung ohne eine geistige Substanz, immer verbreiteter wird der Typus des Menschen mit vielen Kenntnissen und großer Gewandtheit, aber von innerer Leere, des Menschen, der mit allen Gaben nichts sagen und nichts schaffen kann, weil er geistig nichts, erlebt und daher nichts zu sagen hat. Da sich jedoch auf den Schein eines Inhalts nicht wohl verzichten läßt, so entsteht viel gespreiztes Scheinwesen, es greifen Rhetorik und Affektation um sich, und es droht die Kultur zur Kulturkomödie zu sinken, deren Nichtigkeit der kluge Mann nicht verkennt, die er aber doch nicht völlig abschütteln kann. Denn was bleibt, wenn auf sie verzichtet wird? Wie sich das moderne Publikum bei solcher inneren Leere und geistigen Wehrlosigkeit unter dem unablässigen Zuströmen neuer und widersprechender Eindrücke gestalten muß, das ist viel zu oft geschildert, um uns hier beschäftigen zu dürfen. Aber auch das geistige Schaffen, wie es sich im Durchschnitt der Zeit ausnimmt, wird von jener inneren Unsicherheit betroffen und dadurch in seiner Energie gelähmt Eine Ermattung finden wir in der Scheu, sich im Denken von der Durchschnittsmeinung und dem nächsten Weltbilde zu entfernen oder gar ihm zu widersprechen, eine Mattheit in der Neigung zu bequemen Kompromissen, die das große Entweder—Oder unseres Lebens in unleidlicher Weise verdunkeln, eine Mattheit endlich in dem ruhigen Hinnehmen, ja Nichtgewahren schwerer Widersprüche in unserer Gedankenwelt Wir folgen z. B. unbedenklich dem geschichtlichgesellschaftlichen Zuge der Zeit und gestalten das eigne Leben von der Vergangenheit und der sozialen Umgebung her, aber zugleich bekennen wir uns zur Philosophie Kants, welche die Zeit in ein bloßes Phänomen verwandelt und zur Hauptstätte des Lebens die allen sozialen Zusammenhängen überlegene Persönlichkeit macht Wir erklären den Kampf ums Dasein mit seiner rücksichtslosen Behauptung des Ich zum leitenden Gesetz auch des menschlichen Lebens, und glauben zugleich eine innere Vernunft der Welt und die Idee der Humanität aufrecht erhalten zu können. Wir empfinden stark die Dunkelheit und Unvernunft der Welt, aber das hindert uns nicht, als Pantheisten dieselbe Welt mit dem Schein der Göttlichkeit zu umkleiden und in der Hingebung an diese von Widersprüchen zerrissene Wirklichkeit die höchste Lebensweisheit zu finden. Wir durchschauen klar das Gemeine und Selbstische der menschlichen Natur, und unsere

Die Verwicklung der Zeit

3H

Kunst wird nicht müde, uns das eindringlich vorzuhalten, aber zugleich begeistern wir uns für die Menschheit und ihren Fortschritt, möchten aus dem Verhältnis von Mensch zu Mensch eine Ethik entwickeln und setzen den Kern unseres Seins in das soziale Zusammenleben. Die Empfindung schwerster Erschütterung der Kultur, ja einer Unzulänglichkeit aller bloßen Kultur hindert uns nicht an einem selbstgefälligen Kulturenthusiasmus. In den Opfern, welche die moderne Gesellschaft dem Individuum auferlegt, wird bei diesem eine ideale Gesinnung und eine unbedingte Wertschätzung idealer Güter wie selbstverständlich vorausgesetzt, — denken wir nur an die Wehrpflicht mit ihren Forderungen der Tapferkeit und Ehre —, aber die wissenschaftliche Gestaltung einer dementsprechenden Weltanschauung wird als eine Torheit abgelehnt, ja verspottet Für eine Freiheit im Grunde des Lebens ist kein Platz, und wer nicht dem Determinismus huldigt, scheint hinter der Zeit zurückzubleiben, aber auf praktisch-politischem Gebiet halten wir zuversichtlich an der Freiheit fest und verehren sie wie ein hohes Gut. So wird gerade bei den Hauptpunkten dasselbe in der Erscheinung verfochten und im Grunde aufgehoben, wir verwahren uns gegen den Schlußsatz, wo die Prämissen als selbstverständlich gelten, wir lassen uns von starken Eindrücken des unmittelbaren Lebens ins Unbestimmte fortreißen und geraten bei der Mannigfaltigkeit dieser Eindrücke in die Gefahr eines Zerfalles unseres Lebens in zerstreute und widersprechende Gedankenkreise. Das mag zunächst als ein bloßer Mangel an Logik erscheinen, wie beim Kinde verschiedenartige, ja widerstreitende Gedankenmassen ruhig nebeneinander zu liegen pflegen. Aber hinter dem Mangel an Logik steckt ein Mangel an geistiger Energie, die zentrale Kraft ist den peripheren Erregungen nicht gewachsen; statt die Dinge zu beherrschen und zur Einigung zu führen, läßt sich das Geistesleben von ihnen bezwingen und zerstückeln; die Welt und namentlich die eignen Werke sind dem Geistesleben über den Kopf gewachsen und drohen es ganz zu bewältigen. Ob es sich dessen erwehren und wieder eine Überlegenheit gewinnen kann, das ist die größte Frage der Zeit, das überviegt alle anderen Fragen, die sich oft zuversichtlich als die Hauptsache geben.

312

A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

3. Forderungen für Gegenwart und Zukunft. a. Forderungen des Ganzen.

Das Hauptproblem der Zeit erkennen heißt zugleich die Richtung bezeichnen, die allein eine Lösung verheißt Wo die Verwicklungen bis in die tiefste Wurzel zurückreichen, wo uns die Erfolge nicht mehr befriedigen und die eigne Tätigkeit fremd wird, wo das Leben sich selbst zerworfen und entzweit hat, da ist die entscheidende Hülfe von äußeren Reformen nicht zu erwarten, seien sie noch so nützlicher Art, da genügt es nicht, die überkommenen Elemente neu zu kombinieren oder die Schärfe der Gegensätze durch freundliche Kompromisse zu mildern, da kann nur eine Wendung im Ganzen, nur eine innere Erneuerung der Auflösung Einhalt gebieten. Es gilt, von innen her den Problemen und Widerständen gewachsen zu werden; die Innerlichkeit muß sich verstärken, um die entfremdete und zugleich seelenlos werdende Arbeit zu sich zurückzuziehen und sie mit belebender Kraft zu umspannen; eine Neuerweckung geistiger Zentraltätigkeit ist der einzige Weg zur Rettung. Am Beginn dieses Weges fanden wir den modernen Subjektivismus, er soll uns soweit willkommen sein, als seine Kritik den Widersinn des realistischen Unternehmens zur deutlichen Empfindung bringt, das Subjekt und den Geist aus der Wirklichkeit möglichst ganz zu entfernen. Aber das Verfehlte seiner eignen Behauptung wurde uns klar, es ist ein Unding, das empirische Subjekt mit seiner Abhängigkeit von der gegebenen Welt eine neue Welt aufbauen zu lassen. Die Wendung zur Innerlichkeit kann ihr Ziel nur erreichen, wenn sie eine neue Art des Seins einzuführen und eine Umkehrung des Lebens gegenüber der bloßen Gegebenheit zu vollziehen vermag. Sollen Arbeit und Lebenstimmung nicht immer weiter auseinandergehen, so muß das Gegenständliche selbst in das geistige Leben hineingezogen werden, so muß seine Entwicklung zur unmittelbaren Förderung des Selbst werden. Das aber wurde erst mit der Fassung des Geisteslebens als des Selbstlebens der Wirklichkeit möglich. So weist das Bedürfnis der Zeit nach derselben Richtung, welche die prinzipielle Erörterung vertrat; beides trifft im Grundgedanken zusammen und kann sich gegenseitig bestärken. Aber um die Zeit für jenes Prinzip zu gewinnen, genügt nicht ein bloßes Wiederaufnehmen eines schon in unserem Kreise vor-

F o r d e r u n g e n des G a n z e n handenen

Lebens, es bedarf

schaffens.

dazu

313

eines Weiterbildens

und

Neu-

W i r sahen, wie der Mensch zuerst der Peripherie an-

gehört und mühselig genug dazu gelangt, daß sich ihm die Dinge in ein inneres und eignes Leben verwandeln; was den G r u n d und Kern seines eignen Wesens bildet, das hat seine Tätigkeit erst durch die lange Arbeit der Geschichte zu erringen und zu verwandeln.

in vollen Besitz

U n d zwar schreitet bei diesem Zentralproblem die

Arbeit nicht in sicherem und ruhigem Anstiege fort, sondern sie ist voll großer Wandlungen; was die eine Zeit befriedigte

und

ihre

Tätigkeit beherrschte, das wird endlich durch sein eignes Ausleben als ungenügend befunden; den Perioden sicheren Vertrauens

und

ansammelnder Arbeit folgen Zeiten des Zweifels und der Erschütteru n g ; Zweifel und Erschütterung aber drängen dahin, eine bis dahin verschlossene

Tiefe

des Wesens

zu

eröffnen,

eine

Urerzeugung

geistigen Lebens zu vollziehen, im besonderen das Geistesleben als Ganzes klarer und kräftiger zu entwickeln und dadurch dem Menschen wieder einen Halt z u gewähren. Solche Erneuerungen

und Urerzeugungen

bot

die

klassische

Zeit des Altertums, deren philosophische H ö h e die sokratische Schule bildet, es bot sie die innere Erneuerung der Menschheit durch

das

Christentum, es bot sie auch das Aufsteigen der Neuzeit in

der

Bildung des modernen Menschen; eine solche Erneuerung und Urerzeugung müssen wir auch von der Zukunft hoffen und für sie in der Gegenwart wirken.

Denn augenscheinlich steht die Menschheit

wieder an einem Wendepunkt; alles G r o ß e und Wahre, das aus Vergangenheit und Gegenwart zu uns spricht, kommt nicht zu

voller

und reiner Wirkung, weil eine innere Einheit des Lebens fehlt, die es aufnehmen

und

vereinigen

könnte;

so

verbleiben

wir

unter

wide-sprechenden Eindrücken und drohen in allem Reichtum innerlich zu verarmen. D e r Hauptfehler der neuen Kulturbewegung, welche diese unhaltbare Lage erzeugt hat, bestand darin, daß sie den notwendigen und unverlierbaren Gedanken einer universalen Kultur viel z u rasch und unmittelbar durchführen wollte, daß sie unbedenklich die Welt unseres Gesichtskreises zum Ganzen der Wirklichkeit erhob und zugleich das Geistesleben des Menschen als das normale, ja absolute behandelte.

Es entsprang das einer Weltfreude und einem

Kraft-

g e f ü l l , die als ein Rückschlag gegen das Mittelalter durchaus verständlich sind, die aber schließlich ebenso notwendig einen Rück-

314-

A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

schlag gegen sich selbst hervorrufen müssen. Jener Überzeugung entsprach eine eigentümliche Gestaltung der Tätigkeit. Wo die Wirklichkeit ihrem Kern nach als vernünftig oder doch als in sicherem Aufstieg zur Vernunft begriffen gilt, da wird es zur Hauptaufgabe, zu dieser Vernunft durch alle verhüllenden Schleier hindurchzudringen und sich jener Weltbewegung anzuschließen; es gilt dann vornehmlich, einen sicheren Boden und eine freie Bahn für die Entwicklung der eignen Kraft zu finden, die nun zum Ganzen des Lebens wird. In Wahrheit hat diese Entwicklung in schwerste Verwicklungen geführt, und diese Verwicklungen lassen deutlich ersehen, daß alle Kraftbetätigung, auch im Gelingen, den Menschen nie befriedigen kann, daß er stets darauf dringen muß, jene Betätigung auf einen überlegenen Einheits- und Wesenspunkt zurückzubeziehen und nach dem Ertrage dafür zu messen. Diese Wendung aber läßt Probleme aus dem Grunde des Lebens aufsteigen, worüber die Neuzeit rasch hinweggegangen war, die aber, einmal erwacht, alles andere zurückdrängen und allen Gewinn wieder unsicher machen. Ein Umschlag der Stimmung und des Strebens wird unvermeidlich. Das Hauptverlangen wird nun das nach einer geistigen Substanz, einem Sinn und einer Vernunft in aller Betätigung; gegenüber einem unablässigen Fortschreiten um des Fortschreitens willen erhebt sich die Forderung eines dauernden Bestandes, ein Verlangen nach Ruhe und Ewigkeit gegenüber der rastlosen Flucht der Erscheinungen. Der bloßen Kultur beginnen wir satt und müde zu werden, aus ihrem schillernden und verworrenen Durcheinander zieht es uns immer mächtiger zu einer schlichten Einfalt im Zurückgehen auf die Urelemente des Lebens, zu den Fragen der Wesensbildung, zugleich aber auch zu einer Klärung unserer Stellung gegenüber den letzten Gründen der Wirklichkeit. Solche Wendung stellt aber alsbald alle Schranken des Menschen, die Dunkelheit seiner Weltlage, die Schwäche seines geistigen Vermögens, die tiefen Konflikte innerhalb seines Wesens mit voller Deutlichkeit vor Augen. Ohne weitere Zusammenhänge, ohne ein inneres Teilgewinnen an Weltbewegungen könnte er derartige Probleme nicht irgend angreifen. Hier nun kommen die allgemeinen Erörterungen entgegen und zeigen einen Weg; hier ist der Punkt, wo gegenüber aller geschichtlichen Lage eine ursprüngliche Bewegung zur Vertiefung des Lebens einzusetzen hat Wir sahen, daß der Mensch ein geistiges Leben nicht behaupten kann, ohne an einer Welt teilzuhaben, ja diese Welt als ein Ganzes

F o r d e r u n g e n des G a n z e n

315

zu erfassen; erst auf Grund dieses Ganzen kann er eine geistige Selbständigkeit erlangen, einen Mikrokosmos gibt es nicht ohne eine innere Gegenwart des Makrokosmos. Dieses Geistesleben umfing den Menschen aber nicht mit unmittelbarer Wirksamkeit, sondern es ließ sich nur durch eine Umkehrung der ersten Lage erreichen; aber dabei stand es den Dingen nicht fern und fremd gegenüber, sondern als das Selbstleben der Wirklichkeit bildete es ihren Kern und ihre Wahrheit, alles Untergeistige erschien als unfertig und seiner Vollendung erst harrend. Bei dem Überwiegen des Untergeistigen in unserem Kreise entstand daraus eine schwere Aufgabe und unermeßliche Arbeit. Den Standort dieser Arbeit bildet nicht das Bewußtsein des Individuums, sondern das Geistesleben selbst; für die wissenschaftliche Betrachtung ist nicht das Individuum das Feste und Gewisse, der archimedische Punkt, sondern es ist der Grundprozeß des Geisteslebens selbst, der alles zu tragen hat, und der von sich aus erst dem Individuum ein wahrhaftes Sein verleiht. Wenn demnach eine Unterwerfung der vorgefundenen Welt unter das Geistesleben erstrebt wird, so bedeutet das nicht nach der Art der Aufklärung ein Zurückführen auf das Subjekt, eine Umsetzung in seine Begriffe und eine Ausscheidung alles dessen, was sich hier nicht mit voller Evidenz begreifen läßt, sondern es bedeutet eine Verbindung mit jenem geistigen Grundprozeß und eine Gestaltung aus ihm; es genügt hier nicht, den Größen Klarheit und Deutlichkeit zu geben, sondern es gilt zu ihrer geistigen Substanz vorzudringen, es gilt nicht eine Umsetzung in eine Welt des Subjekts, sondern eine Vertiefung zu einer Welt wesenhafter Geistigkeit. Dafür bedarf es vornehmlich einer Scheidung zwischen Wesenhaftem und Wesenlosem; was kein eignes Wesen hat, das muß entweder zur Erscheinung und Erweisung einer Substanz werden oder aber als eine Verirrung ausscheiden. So eine gewaltige, den ganzen Lebenskreis umfassende Bewegung. An dieser Bewegung zur Wahrheit des Lebens kann der Mensch nur teilgewinnen, sofern sich auch in seinem Kreise eine Zerlegung des unmittelbaren Befundes vollziehen und das Erleben einer ur. sprünglichen Welt von dem Befinden eines Punktes der Gegebenheit, zugleich aber eine noologische Betrachtung von einer empirischpsychologischen abheben läßt Ohne solche Scheidung wäre selbst das Problem der Wahrheit unmöglich. Dieses aber, daß der Mensch in seinem-Kreise und als den Kern seines Wesens eine Welt ur-

316

A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der Z e i t

sprünglichen Schaffens ergreift, und daß er sich als Ganzes dem Ganzen dieser Welt verbindet, dabei Erfahrungen macht und Wirkungen hervorbringen kann, dieses Durchbrechen und Selbstwerden der Ewigkeit und Unendlichkeit des Seins , an der besonderen Stelle, das gibt dem menschlichen Leben eine unvergleichliche Größe und Würde, das läßt alle Zwecke des bloßen Daseins als klein und nichtig erscheinen, das allein ist es, was mit Recht von einem Inhalt des Lebens sprechen und solchen Inhalt erstreben läßt. Denn nur wo Welt und Selbst sich in Eins zusammenfinden, wo alle Unendlichkeit des Seins zur Entwicklung des geistigen Selbst wird, kann sich das Geschehen in ein Erleben, die Erfahrung in Selbsterfahrung verwandeln und damit ein Inhalt des Lebens entstehen. Zugleich aber ergibt sich eine eigentümliche Gestaltung des Schaffens und aller Kultur. Nunmehr läßt sich nicht bei der unmittelbaren Leistung abschließen und bei der bloßen Entfaltung der Kräfte eine Befriedigung finden. Sondern alle Betätigung und alle Lebensführung ist daraufhin zu prüfen, ob in ihr ein geistiger Inhalt zur Entfaltung kommt und sich mit ihr ein Wachstum der geistigen Wirklichkeit vollzieht; ist das der Fall, so wird sie damit über das bloße Dasein hinausgehoben und zu einer Quelle echten Glückes; ist es nicht der Fall, so kann alles Ungestüm der Kraftaufbietung eine innere Leere und schließliche Unbefriedigung nicht verhindern. Dies Maß ist aber wie an den Lebenskreis der Individuen und der Gemeinschaften, so an die Arbeitskomplexe und an das Ganze der Kultur anzulegen; ob in jedem Gebiet ein geistiger Inhalt zur Entfaltung gelangt und jenes damit einen Sinn, eine Idee erreicht, das ist die Frage, die über den Wert der Arbeit entscheidet; auf diesen Ertrag ist auch die moderne Kultur bis in alle Verzweigung zu prüfen. Mit solchem Gegensatz zum modernen Ideal der Kraftentwicklung verschiebt sich auch der Begriff der Wirklichkeit gegen die moderne Fassung. Zwar können auch wir nicht getrennte Welten nebeneinander anerkennen, aber das verpflichtet uns nicht, die volle Wirklichkeit schon in dem zu finden, was uns entweder von draußen umfängt oder sich von innen her unmittelbar aufbringen läßt. Denn weder dieses noch jenes gewährt einen geistigen Inhalt Zu seiner Erreichung bedarf es einer Umkehrung, die uns jenes alles, sofern es nicht feindlich widersteht, als Entfaltung eines tieferen Kernes

Forderungen des G a n z e n

317

verstehen und behandeln läßt Die echte Wirklichkeit ist dann kein reiner und ruhiger Besitz, sondern sie ist immerfort im Kampf zu erringen und im Kampf zu behaupten. Erst in solchem Kampf erringt das Leben einen Sinn und eine Tiefe. Wo aber das Geistesleben in dieser Weise als eine Umkehrung der vorgefundenen Lage gilt, da tritt die freie Tat und zugleich die ethische Idee unvergleichlich stärker hervor als im modernen Leben. Hier galt das Geistesleben als ein aus zwingender Notwendigkeit fortschreitender Prozeß, bald mehr physikalischer, bald mehr logischer Art; die Freiheit hatte hier keinen Platz, und ethisch zu handeln bedeutete nichts anderes als jenen Weltprozeß auch für das Subjekt gelten zu lassen, seinen Forderungen alles eigne Wollen und Meinen zu unterwerfen. Solche Fassung aber ist zunächst im Streit mit sich selbst, denn in einem Gewebe strenger Notwendigkeit ist wie für irgendwelche Entscheidung so auch für jene Entscheidung des Subjekts schlechterdings kein Raum; sie stellt ferner die ethische Aufgabe viel zu niedrig, indem sie jene von der Substanz der Wirklichkeit gänzlich fernhält. Solche Herabsetzung trägt ein gutes Stück Schuld an der Verflachung und Entseelung des modernen Lebens. Denn nirgends so wie bei dem ethischen Probleme kämpft der Mensch mit dem Ganzen der Welt um das Ganze seines Wesens, nirgends befindet sich die Wirklichkeit so in Fluß, nirgends greift das Tun so sehr in das Wesen zurück. Die Wesensbildung kann dem allen sein volles Recht gewähren. Denn sie hat keinen Zweifel darüber, daß alle Geistigkeit wie auf einer Wendung gegen die vorgefundene Lage, so auf freier Tat beruht, und daß diese Tat auch alles zu tragen und zu durchdringen hat, was sich im Verlauf des Lebens an Prozessen entwickelt, hier gibt es kein Aufsteigen des Einzelnen ohne eine Unterordnung unter das Ganze, ja ein Neuwerden, eine Wiedergeburt aus dem Ganzen, hier bildet das Ganze selbst keinen blinden Naturprozeß, sondern ein Reich der Freiheit und der Tat. — Die ethische Idee kann sich nicht, ohne ins Enge und Starre zu geraten, als eine besondere Aufgabe anderen Aufgaben entgegenstellen, aber wenn sie das Salz des ganzen Lebens wird, so muß sie überall zur Scheidung und zur Schärfung wirken, so wird sie den Menschen und die Menschheit aus der Trägheit der empirischen Lage aufrütteln, gewaltige Probleme, ja ungeheure Abgründe in seinem Wesen entdecken, aber sie wird zugleich sein Leben unvergleichlich bedeutender machen, dem Menschen eine selb-

318

A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

ständige Innenwelt eröffnen und ihm damit eine Überlegenheit gegen alle Umgebung verleihen. So stellt die Wesensbildung wesentlich andere Aufgaben als die Kraftentwicklung; wo das Leben von der Wirkung nach außen auf das Suchen der eignen Tiefe, auf das Erringen einer geistigen Substanz gerichtet wird, da muß sich alles verwandeln. Im Näheren bleibt dabei vieles im Dunkel, erst die Zukunft kann hier mit dem Fortgang der Arbeit eine weitere Klärung bringen. Aber über die Unzulänglichkeit des modernen Systems der immanenten Kraftentwicklung kann kein Zweifel bestehen. Viel zu stark wird jetzt die Leere der Arbeit, die innere Armut in allem Glanz der Leistungen, die Nichtigkeit eines alle tieferen Zusammenhänge aufgebenden Kulturlebens empfunden, als daß wir ruhig die alten Wege weiterwandeln könnten. Entweder behält der absolute Pessimismus das Feld, oder es müssen sich innere Wandlungen vollziehen; daß sie möglich sind, dafür kämpft das Ganze unserer Untersuchung.

b. Forderungen der einzelnen Stufen.

Wie in der Gegenwart die Gesamtidee eines Selbstlebens der Wirklichkeit nach einer neuen Gestaltung drängt, so bedürfen auch die einzelnen Stufen des Ganzen einer Fortbildung gemäß der weltgeschichtlichen Lage. Eben die Gefährdungen und Erschütterungen, welche jene Stufen in der Neuzeit erfuhren, müssen zu kräftiger Erneuerung treiben, und es wird die besondere Art des Angriffes eine besondere Art der Abwehr herausfordern. 1. Die erste Bedingung einer geistigen Wirklichkeit war das Selbständigwerden des Geisteslebens, es schließt einen Selbstwert seiner Betätigung in sich. Durch den ganzen Lauf der Geschichte hat diese Idee die Versuche zu bekämpfen, das Geistesleben entweder aus der sinnlichen Natur herzuleiten oder aber es in eine bloße Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens zu verwandeln. Die direkte Zurückführung des Geistes auf die Natur in der rohen Art des Materialismus ist trotz aller Sympathie des großen Haufens aus allen Klassen minder gefährlich als ein inneres Vordringen von Naturbegriffen in das Geistesleben. Das Streben der Neuzeit, die beiden Stufen der Wirklichkeit möglichst eng zu Einer Welt zu verbinden, unterstützt solchen Zug, zahlreiche Begriffe sind von der Natur zum Geist hinübergewandert, Begriffe wie Entwicklung, organisch, Ge-

F o r d e r u n g e n der e i n z e l n e n S t u f e n

319

setz u. s. w., das Problematische der Übertragung wird dabei oft gar nicht empfunden. Auch wird zwischen dem Entweder—Oder ein bequemer Mittelweg versucht, der im Monismus, Pantheismus, Realidealismus, immanenten Idealismus u. s. w. mannigfache Verzweigungen bildet und eine nicht geringe Anziehung übt. In Wahrheit läßt sich in solcher Weise der Gegensatz nicht überbrücken. So gewiß wir alle eine letzte Einheit der Wirklichkeit zu suchen haben, sie ist nur entweder von der Natur oder vom Geist her, nicht aber von beiden zugleich und in parallelem Fortgang zu finden. Daher gibt es zwischen Naturalismus und Idealismus keinerlei Vermittlung, und die Entscheidung für den Idealismus enthält zugleich die Aufforderung, das Geistesleben streng in seiner eignen Art zu fassen und alle naturhafte Zutat auszuscheiden, sie enthält zugleich eine Abweisung aller Zusammensetzung des Weltbildes aus beiden Überzeugungen. Nicht minder gefährlich als die Verschwommenheit solcher vermittelnden Theorien wird der Selbständigkeit des Geisteslebens die Neigung, das menschliche Dasein, wie es vorliegt, zur Hauptsache und zum Selbstzweck zu machen, das Geistesleben ihm als eine bloße Eigenschaft anzufügen oder als ein Mittel unterzuordnen. Solche Unterordnung unter das Bloßmenschliche ward erst spät überwunden, und was errungen war, hatte sich immerfort mit Arbeit und Mühe aufrecht zu erhalten. Aber dem alten Problem gab die Neuzeit eine neue Gestalt durch eine wesentliche Steigerung des gesellschaftlichen Kreises, sie schien ihm möglich zu machen, die geistigen Aufgaben vollauf anzuerkennen und besser zu lösen als je zuvor. Das gesellschaftliche Leben hat sich fester zusammengeschlossen und mannigfach gegliedert, es scheint eine selbständige Welt zu werden und als solche alle Bewegungen umspannen zu können, die sich sonst von ihm losrissen und eigne Wege versuchten. War das Glück des Einzelnen als zu niedrig verworfen, so erschien das Wohlbefinden des ganzen Geschlechts als ein würdiges Ziel aller Arbeit; die Richtung darauf gab dem Leben eine unablässige Erregung und Bewegung, die Wendung zum lebendigen Menschen schien alles Tun zu beleben und zu erwärmen, zugleich aber von den Verwicklungen der Weltprobleme zu befreien. Nach dem Verlauf der Untersuchung brauchen wir nicht zu erörtern, weshalb uns diese Bewegung bei allen Verdiensten im Einzelnen als Ganzes eine Verirrung dünkt Für eine solche müssen wir sie

320

A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der Z e i t

vornehmlich deswegen halten, weil das Grundverhältnis des Menschen nicht das zu den anderen Menschen, sondern das zu sich selbst und der in seinem Wesen gegenwärtigen Qeisteswelt ist; sodann aber deshalb, weil unser Leben in jener Grundbeziehung schwere Aufgaben und arge Verwicklungen enthält, denen das soziale Leben bei weitem nicht gewachsen ist; man muß entweder jene Aufgaben bis zur Verflüchtigung alles Geistesgehalts herabstimmen oder aber die wirkliche Lage des Menschen und der Menschheit flach optimistisch beurteilen. Dieses geschieht, indem in die Gesellschaft weit mehr hineingesehen wird, als sie von sich aus aufbringen kann, indem namentlich das Geistesleben, das sie hier hervorbringen müßte, bei ihr schon vorausgesetzt wird; so wird die Gestalt und die Bedeutung, welche das Gesellschaftsleben als Verkörperung der Geisteswelt erhält, ihm selbst beigelegt. Demgegenüber gilt das Dilemma, daß entweder jene begründende Tiefe anzuerkennen und zugleich eine Unterordnung der Gesellschaft zu vollziehen ist, oder aber die empirische Gesellschaft rein zu fassen und alle idealen Größen aus ihrem Bereiche zu entfernen sind. Auch hier sind es die Zwitterbildungen mit ihrer versteckten Idealisierung, welche verdunkeln und verflachen. Aber es handelt sich nicht um einen bloßen Irrtum der Begriffe. In der kräftigeren Wendung zum Menschen steckt gewiß ein gutes Stück Wahrheit, das sich gerade aus unserer Überzeugung vollauf würdigen läßt. Wo der Kern des Geisteslebens nicht in irgendwelche Leistungen des Erkennens, künstlerischen Schaffens u. s. w., sondern in die Bildung eines inneren Selbst, einer geistigen Wirklichkeit gesetzt wird, da kann das Ergehen und Erfahren des Menschen und der Menschheit besonders viel eröffnen und besonders wertvoll werden. Nur darf nicht der Mensch sein empirisches Befinden ¡zum Selbstzweck machen, nur darf er nicht vergessen, daß, wenn das Individuum, als bloßes Naturwesen, nicht viel bedeutet, auch die Anhäufung keine Wandlung zu bringen vermag; die bloße Summierung von Nullen ergibt keine positive Größe. So ist die Wendung" zum Menschen nicht hinzunehmen, wie sie sich unmittelbar gibt, sondern es gilt ihren Wahrheitsgehalt erst herauszuarbeiten. 2. Das zweite Hauptproblem war das eines Charakters des Geisteslebens. Irrungen drohen hier in zwiefacher Richtung, so besonders auch heute. Die zahlreichen geistigen Bewegungen mit ihrer gegenseitigen Verstärkung, Durchkreuzung und Hemmung haben eine Fülle freischwebender, überschüssiger Kraft entwickelt,

F o r d e r u n g e n der e i n z e l n e n Stufen

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zugleich führt in Natur und Geschichte ein unablässiges Anschwellen der Erfahrung uns unermeßlichen Stoff zu; es ist eine leichte Sache, mit jener Kraft beliebig neue Kombinationen der Elemente herzustellen, die Dinge bald so bald so zu beleuchten, zu wenden, zu verwenden. Aber alle gewandte Reflexion gepaart mit vielem Wissen erzeugt noch lange keinen Charakter, auch verhindert sie nicht eine innere Leere. Tritt diese Leere selbstgefällig auf und gibt sie die Leichtigkeit ihrer Bewegung als ein Zeugnis überlegener Kraft, so ist mit allem Nachdruck zu fragen, was an geistiger Substanz, an Selbständigkeit des Schaffens dabei in Werken und Personen steckt, zu fragen, was die Leistungen aus uns innerlich machen und uns im Kern unseres Wesens an Förderung gewähren. Solche Frage würde stark zusammenschrumpfen lassen, was im Alltagsleben ruhmredig das Wort führt. Jeher Leere gegenüber gelangen wir nicht schon dadurch zu einem Charakter des Lebens, daß wir uns möglichst dem unmittelbaren Eindruck der Dinge ergeben, möglichst beim Sinnfälligen und Handgreiflichen verweilen und alle geistige Umbildung des Empfangenen als eine Verfälschung ablehnen. Denn so wenig wir die sinnliche Unmittelbarkeit entbehren können, aus eignem Vermögen erzeugt sie keineswegs einen geistigen Charakter und Inhalt, sie muß die Richtung darauf erst empfangen, und sie kann sie nur empfangen, indem eine überlegene Selbsttätigkeit sie ergreift und umwandelt. Ein Zeugnis dessen bildet unsere eigne Zeit An bunter Fülle von Eindrücken, Anregungen, Aufforderungen, an eindringlichem Zuspruch der Umgebung ist sie allen früheren Zeiten voran, ist sie es auch in der Ausprägung eines geistigen Charakters, in der Verwandlung der Ereignisse in Erlebnisse, läßt nicht oft jener Wirbel von Eindrücken die Seele gar nicht zur Besinnung gelangen, unterwirft er sie nicht widerstandslos dem, was eben jetzt auf sie eindringt? Wie wir sahen, gilt es vor allem eine Selbständigkeit und Überlegenheit zu gewinnen, ohne eine Scheidung des anfänglichen Durcheinander kommt es nicht zu irgendwelchem geistigen Ertrage, ohne ein Zurücktreten nicht zu einem Oberschauen, ohne eine Frage nicht zu einer Antwort. Und die Frage läßt sich nicht stellen, ohne daß wir selbst etwas werden und wollen. Wohl müssen wir nach erlangter Selbständigkeit zum Reich der Erfahrung zurückkehren und mit seiner Hilfe das Geistesleben weiterbilden. Aber daß es der Standort des Geisteslebens ist, auf dem sich diese VerE u c k e n , Kampf.

II. Aufl.

21

322

A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

bindung vollzieht, und daß der Erfahrungsbestand mit der Versetzung dahin eine wesentliche Umwandlung erfährt, das sollte keinen Augenblick verdunkelt werden; das ist aber heute vielen gänzlich verdunkelt. Kein Wunder, daß wir nicht zu einem Charakter des Lebens gelangen, daß es uns an einer sicheren Stellung zum Ganzen der Welt, an einer Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse zu einem Ganzen der Erfahrung und zugleich auch an einem alle Mannigfaltigkeit durchdringenden Grundgefühle fehlt Das bringt in all unser Schaffen auf den zentralen Gebieten, in Religion und Moral, in Kunst und Philosophie, eine peinliche Unsicherheit, das läßt uns in dieser Richtung verarmen, während wir nach der Umgebung hin unablässig fortschreiten. So ist es nicht bloß ein Grübeln einsamer Forscher, es ist eine dringende Notwendigkeit der Zeit, das ein Verlangen nach mehr Charakter des Lebens erzeugt; die Wesensbildung aber zeigte sich uns als ein Weg nach einem solchen, in einem eigentümlichen Lebenssysteme hoffte sie die sonst auseinandergehenden Bewegungen zusammenhalten und zugleich die Menschen wieder mehr zu gemeinsamem Streben verbinden zu können. 3. Beim Problem der Weltmacht des Geisteslebens treffen zwei Thesen zusammen: die eines unsere ganze Erfahrung durchdringenden Widerspruches und die einer Erhebung über diesen Widerspruch; ein starkes Nein wird anerkannt, aber ein befreiendes Ja ihm entgegengehalten. Zur Anerkennung eines solchen Nein ist unsere Zeit weit geneigter als die Epochen, die ihr vorangingen, viel zu deutlich werden die Schäden einer ausgereiften Kultur, viel zu stark wird ein weiter Abstand zwischen der unsäglichen Mühe der Arbeit und dem geringen inneren Ertrage empfunden, viel zu merklich treten im eignen Innern des Menschenwesens Verwicklungen hervor, als daß wir einem wohlgemuten Optimismus huldigen könnten. Wohl ist in der neuesten Literatur viel Gerede von einer unmittelbaren Bejahung, von Größe und Schönheit des Lebens, aber es ist ein bloßes Gerede, dem die innere Wahrheit mangelt, eine flüchtige und gehaltlose Stimmung, welche die Schwere der Wirklichkeit nicht zu bewegen vermag. Es gehört das zu dem Auf- und Abwogen der Zeitoberfläche, mit dem Grundstrom hat es gar nichts zu tun. Aber wenn die frohe Zuversicht früherer Zeiten erlosch und der Pessimismus im Grunde der Gemüter vordringt, so ist das meist ein verstreuter und zerstückelter Pessimismus, der nicht über

Forderungen der einzelnen Stufen

323

eine Erregung weicher und matter Stimmung hinaus zur Kraft einer Aufrüttelung wird. Zu einer solchen kann er nur werden, wenn er in ein Ganzes gefaßt und als Ganzes erlebt wird; dann nämlich stellt er den Menschen vor die Wahl zwischen einer völligen Verzweiflung und einer durchgreifenden Umwälzung; es zeigt aber die Erfahrung der Geschichte, daß bei solcher Fassung des Problems eben die schwerste Erschütterung die Gewißheit einer neuen Ordnung hervorzutreiben pflegte. Es ist ein Mangel an Lebensenergie, eine Mattheit des Fühlens und Strebens, die unsere Zeit bei diesen zentralen Fragen haltlos hin und her schwanken läßt. Tiefere Naturen können über die Unzulänglichkeit des Durchschnittsstandes nicht zweifelhaft sein, aber vor einem radikalen Bruch mit ihm und vor einer Ergreifung einer neuen Ordnung pflegen auch sie wie vor einem tollkühnen Wagnis zurückzuscheuen. Eine Sehnsucht nach neuen Zielen geht durch die Zeit, aber aller Bruch mit der überkommenen Lage und dem landläufigen Weltbild wird ängstlich vermieden; wir wollen eine Erneuerung, aber wir wollen sie ohne viel Mühe und ohne allen Verzicht, wir glauben sie durch ruhige Besinnung und freundliche Verständigung erreichen zu können. So bequem aber hat sich im Lauf der Geschichte noch nie eine geistige Wandlung vollzogen; wer immer daher mit uns anerkennt, daß die Verwicklungen der Zeit, vor allem die wachsende Leere des Lebens, zu einer eingreifenden Wandlung drängen, der muß auch einen vollen Mut gegen die Zeitoberfläche und einen um ihren Widerspruch unbekümmerten Sinn verlangen, den wird die Notwendigkeit, die aus dem Ganzen des Lebens hervorbricht, über alle Sorgen und Bedenken im Einzelnen sicher hinausheben, dem wird sich das Leben in einen Kampf um ein geistiges Sein verwandeln, aber zugleich auch eine freudige Siegesgewißheit gewinnen. Ihm wird mit uns die Überzeugung Festigkeit geben, daß nicht die Wahrheit des Geisteslebens an der Zustimmung der Menschen und Zeiten, wohl aber der Gehalt und Wert dieser daran hängt, wie weit sie am Geistesleben teilgewinnen. Der Mensch kann verneinen und sich in der Verneinung gefallen, aber er kann es nicht ohne sich innerlich zu zerstören und auf allen Sinn und Wert des Lebens zu verzichten.

21*

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A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit c. Forderangen einzelner Hauptgebiete.

Wir sahen, wie das System der Wesensbildung den einzelnen Lebensgebieten eine eigentümliche Stellung und Bedeutung gibt, wie sie hier nicht einen ihnen zugeführten Inhalt bloß anzuwenden haben, sondern mit eigner Leistung das Ganze zu prüfen und zu fördern vermögen. Zugleich aber wird die von jenem System verfochtene Hauptrichtung an sie alle bestimmte Forderungen bringen und damit in aller Mannigfaltigkeit eine innere Verwandtschaft aufrechterhalten. Auch an jedem Punkt der Verzweigung muß das Geistesleben den ideellen Standort geben, und muß seine Förderung, nicht das Wohlsein des bloßen Menschen, das leitende Ziel bilden; überall heißt es, nicht in einer gegebenen Welt dieses oder jenes zu verbessern und zu verschieben, sondern in energischer Umkehrung eine neue Welt zu erringen und auszubauen. Jedes einzelne Gebiet wird sich dadurch sicher zu begründen und dadurch näher zu gestalten haben, was es an Eignem und Unersetzlichem für den Aufbau einer geistigen Wirklichkeit im Kreise des Menschen leistet. Doch diese Fragen seien beim Abschluß unserer vornehmlich auf das Ganze gerichteten Arbeit zurückgestellt, es sei vielmehr mit dem Nachweis geschlossen, daß auf dem Boden der Gegenwart alle Gebiete zentralen Lebens mit ihren besonderen Erfahrungen nach der Richtung weisen, die das Ganze unserer Arbeit vertritt; es ist die eigne und unmittelbare Erfahrung der Zeit, die wir zu ihrer Bestätigung anrufen.

a. D i e R e l i g i o n .

Schon das prinzipielle Verhalten der Gegenwart zur Religion zeigt einen Widerspruch schroffster Art. Einerseits gewinnt die Verneinung immer mehr Boden und dringt in Kreise, die vordem ihr gänzlich verschlossen dünkten; von hier aus angesehen kann die Religion in voller und endgültiger Auflösung scheinen. Andererseits wird sie auf der Höhe der geistigen Arbeit mit größerem Ernst und Eifer behandelt als seit langer Zeit, bei den Hauptproblemen des Kulturlebens regt sie sich mehr als in früheren Jahrhunderten, wo die Individuen ihr noch willfähriger folgten. Die Zeit neigt zur Verneinung der Religion und scheint sie doch nicht entbehren zu können. Wie anders ist ein solcher Zwiespalt zu überwinden als durch ein Zurückgehen auf das Ganze des Lebens,

Forderungen einzelner Hauptgebiete

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durch ein Ermitteln dessen, ob in ihm die Religion eine feste Wurzel und eine Notwendigkeit hat oder nicht, und ob seine Zusammenhänge einen Widerspruch zu überwinden gestatten, der ihrem innersten Wesen anzuhaften scheint Die Religion bedarf eines Lebens, das zugleich Innenleben und Weltleben ist. Denn wenn es einerseits feststeht, daß sie sich nur von innen her begründen läßt, so darf sie nun und nimmer ohne Gefährdung ihrer Wahrheit einen Weltcharakter aufgeben; es muß also das Innere unmittelbar in Weltzusammenhängen stehen und sie uns erschließen. Es bedarf einer eigentümlichen Fassung und Stellung des Geisteslebens, um dies scheinbar Unmögliche möglich zu machen; um eine solche bemühte sich unsere Untersuchung. Wie der Kampf um die Religion die Gegenwart auf die Grundfrage des Geisteslebens zurückwirft, so tun es auch die Zwistigkeiten innerhalb der Religion. Ihre kirchliche Form erscheint uns vielfach als zu eng und als zu ausschließlich mit dem bloßen Menschen befaßt, ihr tritt ein Verlangen entgegen, die Religion mehr ins Universale und Kosmische zu gestalten und aus ihr eine Gegenwirkung gegen das Kleinmenschliche zu üben. Aber wird ohne eine Anerkennung eines Selbstlebens des Geistes diese Wendung zum All nicht ins Vage und Gehaltlose führen? Die einen suchen heute der Religion einen möglichst engen Anschluß an die Geschichte zu geben, die anderen bekämpfen das als eine Erdrückung und Verfälschung der Gegenwart, jene nehmen leicht dem Leben die volle Unmittelbarkeit, diese haben Mühe, ihm irgendwelchen Inhalt zu sichern. Wie anders sollte dieser Streit zu schlichten sein, als wenn dem Leben zunächst ein Standort in ewiger Wahrheit errungen, es dann aber für seine Durchbildung auf die Arbeit und Erfahrung der Geschichte verwiesen wird? Es bedarf einer Ausgleichung von Zeit und Ewigkeit, von Geschichte und Gegenwart; wie aber wäre sie auch nur zu erstreben ohne die Anerkennung eines selbständigen Geisteslebens? Auch die Bewegungen innerhalb des Christentums drängen zu einer größeren Schätzung des Lebensprozesses und zugleich eines selbständigen Geisteslebens. Es regt sich in der Zeit ein starkes Verlangen, von dem weitschichtigen Ausbau, den die Geschichte dem Christentum gab, auf einen einfachen und unangreifbaren Kern zurückzugehen und von ihm aus seine Gestalt zu erneuern, wir verlangen ein schlichteres, jedem Einzelnen erlebbares Christentum,

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A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der Z e i t

wir verlangen ein Christentum nicht des gelehrten Theologen, sondern des Menschen als Menschen. Aber ein solches Unternehmen ist voller Gefahren, es enthält im besonderen die Gefahr eines Verfallens ins Vage, Allgemeine und Charakterlose; was unserer Zeit als Wesen des Christentums geboten wird, ist oft so unbestimmt und so flach, daß sein Verlust keinen beträchtlichen Schaden und Schmerz bereiten dürfte. Wie anders aber könnten wir zugleich nach schlichter Einfalt und nach einem charaktervollen Inhalt streben als durch Ergreifung des eigentümlichen Lebensprozesses, den das Christentum entwickelt und vertritt, und wie anders könnten wir uns der Wahrheit dieses Lebensprozesses versichern als durch den Aufweis, daß er zur geschichtlichen Verwirklichung bringt und in die Welterfahrung verfolgt, was das Grundgefüge alles selbständigen und wesenhaften Geisteslebens bildet; daß das Notwendige hier eine konkrete und individuelle Gestalt erlangt hat, das gibt dieser Welt ihre Macht und ihr Überzeugungsvermögen. Wo immer aber im Geistesleben zwischen einer grundlegenden, kämpfenden und überwindenden Stufe geschieden, wo immer die Unvernunft des Daseins vollauf anerkannt und zugleich die Überlegenheit der Vernunft gewahrt wird, wo immer das Ja und das Nein nicht starr und nnveränderlich gegeneinander stehen, sondern durch stärkste Erschütterung hindurch ein Aufstieg vom Nein zum Ja erfolgt, da muß sich ein enges Verhältnis zum Christentum finden, zu einem frei und weit, aber zugleich tief und substantiell verstandenen Christentum, einem Christentum des Geisteslebens, nicht des bloßen Menschen. Doch wir brechen hier ab, es galt nur zu zeigen, daß unser Gedankenkreis, der zunächst in ferner Höhe über den Dingen zu schweben schien, in Wahrheit die engste Berührung mit Problemen hat, welche die Gegenwart bewegen und aufregen.

ß. D i e M o r a l .

Von den Verwicklungen der Religion flüchten sich heute manche zur Moral als zu einer unangreifbaren und sonnenklar einleuchtenden Wahrheit; sie tun es mit Recht, sofern sie unter Moral nur eine Summe von Leistungen im sozialen Leben verstehen, sie tun es mit Unrecht, sofern Moral das bedeutet, was sie auf der Höhe ihres Strebens sein wollte: ein Aufnehmen der Unendlichkeit, die zunächst wie fremd, ja feindlich entgegensteht, in das eigne Wesen und zugleich eine innere Umwälzung dieses Wesens. Was uns als Tatbestand

Forderungen einzelner Hauptgebiete

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umgibt, das kann uns wertvoll, ja ein Gegenstand echter Liebe nur werden, und was die Notwendigkeit uns auferlegt, sich uns in eigne Tat nur verwandeln bei Eröffnung neuer Tiefen, bei Belebung neuer Kräfte, bei Aufgehen einer neuen Welt. Wer das erwägt, dem kann die Moral nicht als selbstverständlich gelten, der findet in ihr Probleme und Verwicklungen, die hinter denen der Religion in keiner Weise zurückbleiben. Diese Probleme und Verwicklungen empfinden wir heute besonders stark. Denn es fehlt uns sowohl eine sichere Begründung als eine charakteristische Gestaltung der Moral. Was die Vergangenheit an uns brachte, genügt uns nicht mehr, und die Neuzeit hat den Verlust noch keineswegs ersetzt. Die Moral kam an uns mit religiöser Begründung, aber nicht nur ist diese Grundlage durch mannigfachste Angriffe erschüttert, es schien dem modernen Menschen auch die Reinheit und der Inhalt der Moral darunter zu leiden, wenn sie aus einer Ordnung an ihn kam, die ihm als eine jenseitige galt; so erhob sich die Forderung, die Moral von der Welt her, aus dem eignen Wesen der Wirklichkeit, „immanent" zu begründen und demgemäß zu gestalten. Aber über das was als Kern der Wirklichkeit und zugleich als Quell der Moral zu gelten habe, entzweiten sich schroff die Geister, entzweite sich auch das Streben der Menschheit; indem wir so von verschiedenen Seiten in Anspruch genommen werden, verbleibt die Sache in Unsicherheit und der ganze Mensch ohne zwingende Antriebe. Es kämpfen aber um den modernen Menschen eine Moral des Weltgedankens, eine Moral der Kulturarbeit, eine Moral des gesellschaftlichen Zusammenseins; jede von ihnen hat fruchtbare Anregungen gebracht und bedeutende Aufgaben gestellt, jede von ihnen aber hat zugleich eigentümliche Schranken und kann daher nicht den ganzen Menschen gewinnen. Die Moral des Weltgedankens, die kosmische Ethik, wie sie namentlich von der philosophischen Spekulation, vor allem einem Spinoza vertreten wurde, erklärt die Unendlichkeit des Seins für das echte Wesen des Menschen und verlangt von ihm das Opfer aller Besonderheit, aber sie gestaltet das Bild der Wirklichkeit so ins Formale und Abstrakte, sie macht aus ihr so sehr ein Reich der Schatten, daß eine bewegende Kraft davon höchstens auf dem Gipfel intellektuellen Schaffens ausgehen kann. Die Ethik der Kultur spricht zu weiteren Kreisen, aber sie richtet alles Sinnen auf Arbeit

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A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

und Leistung, nicht auf den Stand der Seele, auch läßt sie unerklärt, wie die Unermeßlichkeit von Geschichte und Gesellschaft den Menschen als eigne Sache bewegen kann, weshalb er sich für ferne und fremde Völker und Zeiten aufopfern soll. Mehr Wärme hat die Moral des gesellschaftlichen Zusammenseins, die soziale Ethik, aber zur allbewegenden Hauptsache kann sie das Wohl der Gesellschaft nicht machen ohne das Geistesleben unter die menschlichen Zwecke zu beugen und es damit tief herabzudrücken; auch gehört ein starker Optimismus dazu, Wohlwollen, Liebe, Aufopferung als Mächte zu behandeln, die den Menschen wie er leibt und lebt aufs leichteste gewinnen. Bloße Leistungen gemeinnütziger Art aber für Moral erklären kann nur eine Flachheit des Denkens. Wenn alle diese Arten der Moral bei uns zusammentreffen und einander durchkreuzen, so muß ihr Ganzes eine schwere Erschütterung erfahren, und es ist leicht zu begreifen, wie solche Läge einen Immoralismus aufwuchern läßt, der die Moral für ein bloßes Machwerk der Menschen erklärt, und dem es leicht wird, sie zu einer Karikatur herabzudrücken, weil er alle Fehler der menschlichen Fassung der Sache aufbürdet In einer Zeit, die so viel Oberflächenleben und so wenig Tiefe hat wie die Gegenwart, kann es solchem Angriff an Zustimmung nicht fehlen; wie sehr der Mensch mit solcher Verneinung sich selbst erniedrigt, dafür mangelt jener Oberfläche alles Verständnis. In Wahrheit handelt es sich bei der Moral um nichts Geringeres als darum, das eigne Sein in Tat zu verwandeln und damit erst voll zu gewinnen, das Leben als ein eignes zu führen, es handelt sich um eine Verwandlung der Notwendigkeit in Freiheit, es handelt sich um das rechte Grundverhältnis nicht nur zur Welt, sondern vor allem zu uns selbst. Der daraus quellenden Stärkung des Lebens kann am wenigsten eine Zeit entraten, wie die Gegenwart, die so viele Aufgaben äußerer und innerer Art zu lösen hat, und die in so eingreifenden Wandlungen des Lebens steht So.muß auch jetzt die Menschheit an der Moral festhalten und das Problem ihrer näheren Begründung und Gestaltung neu aufnehmen. Sollte das aber ohne die Anerkennung eines selbständigen Geisteslebens und einer Wesensbildung möglich sein? Hier steht die Moral in höchsten Ehren, da nur eine moralisch fundierte Kultur dem Geistesleben eine volle Überlegenheit gegen die Natur gewährt, hier eröffnet die Aneignung des Geisteslebens ein neues Selbst, hier sichert die Ursprünglichkeit einer neuen Welt eine Freiheit So

Fjord^ej^ja^vg^en^jei^

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liegt auch hier ein Kontakt zwischen der Gedankenwelt der Philosophie und den Bewegungen der Gegenwart deutlich zu Tage.

y. Die Kunst. Die Kunst hat für sich die Neigung und Gunst der Zeit Diese sucht in ihr eine Befreiung von drückender Schwere, eine Freudigkeit gegenüber dem Ernst des Tagewerks, eine Individualisierung des Lebens gegenüber gleichförmiger Ordnung, eine Ruhe gegenüber der Hast des Kampfes ums Dasein, ein Selbstleben der Seele gegenüber der Herabsetzung des Menschen zu einer bloßen Arbeitsmaschine. Kein Wunder, daß sie die Seelen gewinnt und sich zur Führung des ganzen Kulturlebens (»ästhetische Kultur") für berufen erachtet Auch das künstlerische Schaffen der Zeit ist voll Rührigkeit, es sucht neue Ziele und Darstellungsformen; seine Bedeutung bezweifeln kann nur, wer es nach den Maßen anderer Zeiten bemißt Trotzdem entstehen auch auf diesem Gebiete schwere Probleme und Verwicklungen, sie entstehen namentlich dadurch, daß das künstlerische Schaffen und Schauen oft den Zusammenhang mit dem übrigen Leben aufgibt und allein für sich stehen, allein seine Sonderzwecke verfolgen will. So gewiß das darin ein gutes Recht hat, daß die Kunst keinen Einfluß anderer Lebensgebiete und Betrachtungsweisen in ihrem Gebiet dulden darf — insofern ist das l'art pour l'art unangreifbar —, die Sache gewinnt ein anderes Ansehen, wenn die Kunst auch die Verbindung mit dem Ganzen der Seele, mit den Erlebnissen und Erfahrungen des Menschen als eines Ganzen, wenn nicht aufgibt, so doch lockert, wenn sie als freischwebende Macht für sich selbst bestehen und mit ihrem Streben im eignen Kreise abschließen will. Die Gefahren und Schäden dessen machen sich unmittelbar bei denen bemerklich, welche die Kunst empfangen, beim künstlerischen Publikum. Denn wenn die Kunst ihnen keine Förderung der Seele bringt, sie nicht in den Kampf des Lebens begleitet, ihnen nicht das Leben vertieft und veredelt, so wird sie ihnen unvermeidlich ein bloßes Mittel des Genusses, eines Genusses feinster Art, aber immerhin eines Genusses; wo aber der Genuß zum leitenden Ziel wird, da verfällt das Leben unvermeidlich einem Epikureismus, und ein solcher kann nur zu wachsendem Raffinement, zur Verweichlichung und zur Erschlaffung wirken. Die Schaffenden selbst wird davor der Ernst und die Mühe der Arbeit

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A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

behüten, aber auch ihnen bereitet die Lockerung des Zusammenhanges der Kunst mit dem Ganzen des Lebens große Gefahren. Das Schaffen wird damit notwendig die Richtung zur Oberfläche nehmen, sei es, daß es die sinnliche Erscheinung der Dinge zu möglichst eindringlicher Anschauung bringt, sei es, daß es den Stimmungen der Seele — auch sie gehören zur Oberfläche des Lebens — zu deutlichem Ausdruck verhilft, es entsteht damit keine neue Welt, worin die Kunst die Erfahrungen des Lebens versetzt, keine geistige Atmosphäre, die jene aufnimmt und umwandelt. Bei solchem Mangel wird zur Hauptsache die Kraft und das Geschick der Gestaltung, das Subjekt zieht die Dinge an sich, erweist an ihnen seine Überlegenheit und macht sie zum Ausdruck seiner Eigentümlichkeit; das kann eine hervorragende Technik und viel glänzendes Virtuosentum ergeben, ein geistiges Schaffen höchster Art ergibt es nicht. Dafür spricht es viel zu wenig aus der Tiefe der Seele und aus einem gemeinsamen Erlebnis der Menschheit, dafür ist es lange nicht schlicht und ursprünglich genug, dafür faßt es viel zu wenig die Gesamterfahrung des Menschen in ein einfaches Grundgefühl zusammen, dafür fehlt es ihm viel zu sehr an geistigem Gehalt Wir kennen die Energie, mit der solche Forderung eines geistigen Gehaltes von vielen Vertretern der modernen Kunst abgelehnt wird, aber wir glauben, daß diese Ablehnung weniger die Sache selbst als ihre Karikatur trifft. Die Kunst zur Darstellung eines bestimmten Gedankengehalts, einer »Idee" oder wie es heißen mag, anzuhalten und sie damit lehrhaft zu gestalten, das bedeutet allerdings die Auflegung eines drückenden Joches und eine arge Verkümmerung. Aber fallen denn Gedankengehalt und Geistesgehalt einfach zusammen, reicht nicht das geistige Schaffen viel weiter als seine Darstellung in Gedanken, wird nicht die intellektualistische Gleichsetzung von Denken und Geist seit langer Zeit eifrig und erfolgreich bekämpft? Denken wir an die Zeit der Gotik oder auch der Renaissance. Den Künstlern lag dort gänzlich, lag hier meist eine Umsetzung des Schaffens in Gedanken und Lehren fern; können wir leugnen, daß es aus einer eigentümlichen Welt erfolgte, daraus einen eigentümlichen Lebensaffekt und eine eigentümliche Grundstimmung zog und durch sie alles beseelte, was es ergriff? Ohne die Gegenwart einer geistigen Welt hat die Kunst keine Seele und kein sicheres Grundverhältnis zur Wirklichkeit, kann sie auch keinen festen Stil entwickeln. Wir reden heute viel von einem neuen Stil

Forderungen e i n z e l n e r H a u p t g e b i e t e

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und sind auf eifriger Jagd nach einem solchen begriffen. Aber werden wir ihn finden können, so lange sich uns das Ganze des Lebens nicht in einfache Grundlinien faßt und durch alle Mannigfaltigkeit des Strebens einer Hauptrichtung folgt? Wie können wir eine Einheit der Darstellung erreichen, wo unserem Leben eine beherrschende Einheit fehlt? Wie heute die Dinge stehen, gibt die Kunst den innersten und wesentlichsten Angelegenheiten des Menschen nicht ihr gebührendes Recht Wir befinden uns in eingreifendsten Wandlungen des Lebens, alte Ideale verblassen, neue steigen auf, aber sind noch voll Unruhe und Unfertigkeit, die Stellung des Menschen im All geriet in Unsicherheit, um einen Sinn und Wert seines Lebens hat er von neuem zu kämpfen. Kann die Kunst ihm bei allen diesen Fragen nichts sagen und helfen, weist sie alle diese Fragen als ihr fernliegend von sich, so muß sie zu einem nebensächlichen Sport herabsinken, und zwar um so mehr, je mehr jene Wesensprobleme die Gemüter der Menschen gewinnen; will sie aber dem Menschen in den Nöten und Sorgen eine wertvolle Förderung bringen, so muß auch sie die Probleme des Geisteslebens anerkennen und den Kampf um die Aufrechterhaltung und Gestaltung einer geistigen Welt im menschlichen Kreise teilen, so sind die Fragen, die uns beschäftigten, auch ihre Fragen.

8. D i e P h i l o s o p h i e .

Der Philosophie ergeht es ähnlich wie der Moral: in einem gewissen Sinne ist sie unangreifbar, aber es ist nicht dieser Sinn, der ihr eine innere Selbständigkeit verlieh und sie der Menschheit zu einem hohen Gute machte; eine Selbständigkeit und eine Größe erstreben kann sie nicht, ohne mit dem Ganzen ihres Seins zu einem schweren Problem zu werden und immer von neuem ihre Existenzberechtigung dartun zu müssen. Es bedarf irgendwelcher Disziplin, welche die Voraussetzungen, die Methoden, die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften überblickt und möglichst zusammenfaßt, die ein Inventar des menschlichen Wissens anlegt. Diese Disziplin würde ihre Grenze überschreiten, wenn sie mehr tun wollte, als das Empfangene treulich registrieren, wenn sie es irgend von sich aus weiterzubilden versuchte. Denn woher sollte sie das Recht und die Kraft dazu nehmen? Jene Disziplin wäre eine Enzyklopädie, ein Appendix der einzelnen Wissen-

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A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Zeit

Schäften; wer liberal mit den Worten verfährt, mag sie immerhin eine Wissenschaft nennen; ein eignes Reich aber hat diese Wissenschaft nicht; was immer sie dem übermittelten Bestände von sich aus hinzufügt, das müßte als eine rechtswidrige Erschleichung gelten. Wo immer aber die Philosophie in Ehre und Ansehen stand und wo sie in die Weltgeschichte eingriff, da hat sie auch etwas Eignes und Neues zu bringen behauptet; wohl stand sie in einem engen Verhältnis zur Zeit, aber was die Zeit ihr entgegenbrachte, das hat sie wesentlich umgebildet und weitergeführt Nur im Zusammenhang mit der griechischen Welt wird Plato verständlich, aber was in ihr an geistigem Gehalt war, das hat er von der Verquickung mit der bloßmenschlichen Art und der Zeitlage abzulösen und in eine Welt zeitloser Wahrheit zu heben gesucht; das aber konnte er nicht ohne ein kühnes Vordringen und eingreifendes Umbilden. Auch Aristoteles bringt nicht eine bloße Zusammenfassung des. in seiner Zeit vorhandenen Wissensstoffes; den inneren Zusammenhang, die feste Organisation, welche er der Gedankenwelt gab, hätte er nimmer erreicht ohne einen überlegenen Standort und ein von ihm aus entworfenes inneres Gefüge der Gedankenwelt Den Stoikern wurde die Philosophie zu einem inneren Halt, den die übrige Welt dem Menschen damals nicht bot, zum Hauptmittel der Erringüng einer Selbständigkeit des Lebens wie der Gesinnung. Und wenn der letzte große Denker der alten Welt, wenn Plotin den religiösen Zug seiner Zeit teilt, so verwandelt er diesen Zug aufs wesentlichste, indem er ihn von dem Glücksverlangen des bloßen Menschen ablöst und aus einer neuen Art der Religion dem Menschen ein neues Leben und Wesen eröffnet So wirkte in der alten Welt die Philosophie auf dem Gipfel des Schaffens durchweg zur Umwandlung und Erhöhung des Lebens, zur Verbindung des Menschen mit überlegenen Ordnungen; daß es in der neuen Welt ähnlich stand, bedarf keiner Erörterung. Wie aber steht es damit heute? Haben wir eine Philosophie, die dem Menschen ähnliches leistet wie jene alten Systeme, die sich seiner geistigen Not annimmt, die von einem neuen Standort aus zur Umwandlung und Erhöhung seines Lebens wirkt ? Oder hat sich uns das Leben so glatt und klar, so fest und sicher gestaltet, daß wir jener Hülfe nicht mehr bedürfen? Angesichts der Probleme und Widersprüche, die sich uns in seinem Bestände zeigten, läßt sich das schwerlich behaupten; in der Sache ist das Bedürfnis nach

Forderungen einzelner H a u p t g e b i e t e

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Philosophie so stark wie nur je; würden die Menschen dies Bedürfnis in gleichem Maße empfinden, so würden wir gewiß eine Philosophie in jenem alten und vollen Sinne haben. Einstweilen haben wir sie nicht, sondern beginnen erst sie, die uns verloren ging, wieder zu suchen. Und wenn wir nach Abbruch der geschichtlichen Kontinuität die Sache wieder aufnehmen, so finden wir uns in allerschwierigster Lage; schon der allgemeinste Umriß der Sache, der Gewinn eines selbständigen Standorts sowie der Wahrheitsbegriff, bereitet uns die größte Mühe und Sorge. Nicht mehr können wir uns mit den Alten aus der Überzeugung von einer Wesensverwandtschaft des Menschen mit dem All unmittelbar in die Dinge versetzen, der Zusammenhang mit der Welt, den jene sicher zu besitzen glaubten, ist für uns zum Problem geworden und läßt sich, wenn irgend, nur von innen her wiedergewinnen. Damit wird zur ersten Frage und Sorge, einen festen Standort zu finden, der von innen her an einer Welt teilhaben läßt und den Aufbau einer Wirklichkeit möglich macht. Wir finden ihn nicht in dem von der Welt abgelösten Subjekt, denn dies ist aus eigner Kraft der Weltaufgabe weitaus nicht gewachsen, wir finden ihn nicht in einem einzelnen Lebensgebiete, sei es der theoretischen, sei es der praktischen Vernunft, denn dies würde immer nur ein Stück der Wirklichkeit umfassen, und seine beherrschende Stellung ließe sich immer von anderen Punkten her angreifen, wir können ihn nur in einem Ganzen des Lebensprozesses finden, das alles Einzelne umspannt. Ob es ein solches Ganzes gibt, und was seinen näheren Inhalt bildet, das wird damit zur ersten und dringlichsten Aufgabe der Philosophie; an dieser Stelle wird über die Hauptrichtung der Arbeit entschieden, hier liegt der Schwerpunkt des Kampfes um Wahrheit, nirgends anders als von hier aus kann die Philosophie eine selbständige Aufgabe gewinnen und zugleich das Ganze des Lebens fördern. So weist auch hier die Erfahrung des besonderen Gebietes nach derselben Richtung, welche die Gesamtbetrachtung verfolgte.

Demnach hat uns der Blick auf die einzelnen Gebiete den Hauptgedanken der Arbeit bestätigt. Durchgängig zeigte sich im Leben der Gegenwart die Konzentration der Expansion bei weitem nicht gewachsen, durchgängig geraten wir bei allem äußeren Gewinn in

Forderungen einzelner H a u p t g e b i e t e

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Philosophie so stark wie nur je; würden die Menschen dies Bedürfnis in gleichem Maße empfinden, so würden wir gewiß eine Philosophie in jenem alten und vollen Sinne haben. Einstweilen haben wir sie nicht, sondern beginnen erst sie, die uns verloren ging, wieder zu suchen. Und wenn wir nach Abbruch der geschichtlichen Kontinuität die Sache wieder aufnehmen, so finden wir uns in allerschwierigster Lage; schon der allgemeinste Umriß der Sache, der Gewinn eines selbständigen Standorts sowie der Wahrheitsbegriff, bereitet uns die größte Mühe und Sorge. Nicht mehr können wir uns mit den Alten aus der Überzeugung von einer Wesensverwandtschaft des Menschen mit dem All unmittelbar in die Dinge versetzen, der Zusammenhang mit der Welt, den jene sicher zu besitzen glaubten, ist für uns zum Problem geworden und läßt sich, wenn irgend, nur von innen her wiedergewinnen. Damit wird zur ersten Frage und Sorge, einen festen Standort zu finden, der von innen her an einer Welt teilhaben läßt und den Aufbau einer Wirklichkeit möglich macht. Wir finden ihn nicht in dem von der Welt abgelösten Subjekt, denn dies ist aus eigner Kraft der Weltaufgabe weitaus nicht gewachsen, wir finden ihn nicht in einem einzelnen Lebensgebiete, sei es der theoretischen, sei es der praktischen Vernunft, denn dies würde immer nur ein Stück der Wirklichkeit umfassen, und seine beherrschende Stellung ließe sich immer von anderen Punkten her angreifen, wir können ihn nur in einem Ganzen des Lebensprozesses finden, das alles Einzelne umspannt. Ob es ein solches Ganzes gibt, und was seinen näheren Inhalt bildet, das wird damit zur ersten und dringlichsten Aufgabe der Philosophie; an dieser Stelle wird über die Hauptrichtung der Arbeit entschieden, hier liegt der Schwerpunkt des Kampfes um Wahrheit, nirgends anders als von hier aus kann die Philosophie eine selbständige Aufgabe gewinnen und zugleich das Ganze des Lebens fördern. So weist auch hier die Erfahrung des besonderen Gebietes nach derselben Richtung, welche die Gesamtbetrachtung verfolgte.

Demnach hat uns der Blick auf die einzelnen Gebiete den Hauptgedanken der Arbeit bestätigt. Durchgängig zeigte sich im Leben der Gegenwart die Konzentration der Expansion bei weitem nicht gewachsen, durchgängig geraten wir bei allem äußeren Gewinn in

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Auseinandersetzung mit der Zeit

die Gefahr eines inneren Sinkens, mehr und mehr zerfallen wir in einzelne Stücke und haben dem Zustrom der Umgebung kein Ganzes entgegenzusetzen. Es ist eine Frage unserer geistigen Selbsterhaltung, ein genügendes Gegengewicht gegen jene drohende Zerstreuung und Verflachung zu finden; dazu aber verhilft uns nicht schon eine Steigerung des bloßen Subjekts, ein Hegen und Pflegen von Stimmung und Reflexion, wir können es nur bei Voraussetzung einer Tiefe der Wirklichkeit suchen. Aber diese Tiefe gilt es für uns erst herauszuarbeiten, und dafür bedarf es einer kräftigen Fassung des Lebens ins Ganze und eines mutigen Aufnehmens eines Kampfs um ein geistiges Sein.

Sachregister. Anthropomorphismus; seine Überwindung: 12 ff. a p r i o r i ; warum notwendig: 62ff. A r b e i t ; das Problem in ihr: 14ff.; ihre weiterbildende Kraft: 160ff. B ö s e s ; wachsende Vertiefung seiner Fassung: 79. Durchschnittsleben; seine Schranke: 33ff. E i n h e i t u n d V i e l h e i t ; wie zu versöhnen: 129 ff. E n e r g i e ; eigentümliche Fassung: 81 ff., 123 ff. E r f a h r u n g ; ihre Bedeutung für den Lebensprozeß: 30ff. E t h i k u n d e t h i s c h s. Moral. E w i g k e i t u n d Z e i t : 143ff. F r e i h e i t ; ihre Notwendigkeit für das Geistesleben: 47ff., 117ff., 245ff., 254ff. F r e i h e i t u n d G n a d e ; ihr Verhältnis: 260. G e d a n k e n g r ö ß e n ; ihre Macht und ihr Wirken: 6ff., 21, 74. G e g e n w a r t ; Forderung einer echten Gegenwart: 150 ff. G e g e n w ä r t i g e Z e i t ; verschiedene Strömungen in ihr: 307ff.; Widersprüche: 310; Umschlag der Stimmung: 314; Eigentümlichkeit:321 ff. G e i s t e s k u l t u r ; ihr Wesen und ihre Forderungen: 120ff. G e i s t e s l e b e n ; Forderung seiner Selbständigkeit: 22ff., 27ff.; seine Stufen: 47ff.; der Standort der Arbeit: 315. G e s c h i c h t e ; eigentümliche Gestaltung beim Geistesleben: 8; als Boden einer neuen Wirklichkeit: 21, 116; was verändert sich in ihrem Verlauf: 43, 72 ff., 142; ihr Recht und

ihr Unrecht: 141 ff.; ihr Ertrag: 149; ihre Gefahr: 189ff. Geschichtliche Persönlichk e i t e n ; ihre Bedeutung: 32ff. Geschichtliche R e l i g i o n ; ihr Verhältnis zur Philosophie: 236. Geschichte und Gesellschaft; ihre Bedeutung und ihre Schranke: 119ff„ 290ff. G e s e l l s c h a f t ; ihre Gefahren: 192ff.; Notwendigkeit einer ethisch - religiösen Gesellschaft: 278. G l a u b e ; falscher und richtigerSinn: 246. G l ü c k ; Unmöglichkeit eines Verzichts auf Glück: 66. I d e a l i s m u s u n d R e a l i s m u s ; ihre Versöhnung: 168ff. Idealisierung der Wirklichkeit; abgewiesen: 83. I d e e ; eigentümlicher Sinn: 81 ff. I d e e n in d e r G e s c h i c h t e ; Art ihres Wirkens: 144ff. I m m o r a l i s m u s ; seine Flachheit: 305 ff., 328. I n d i v i d u a l i s i e r u n g ; als Mittel der Vergeistigung: 161. I n d i v i d u u m ; seine Stellung und Bedeutung: 120, 125ff., 258ff. I n t e l l e k t u a l i s m u s ; Befreiung von ihm: 136 ff. K o n k r e t h e i t ; wie zu verstehen: 61. K u l t u r ; ihr allgemeinster Begriff: 7; ihr Verhältnis zur Moral: 121 ff. K u n s t ; ihre Lage und Aufgabe in der Gegenwart: 329ff. L e b e n s p r o z e ß ; sein Kern: 51 ff. L e b e n s s y s t e m e ; Möglichkeit verschiedener Lebenssysteme: 89; Darstellung und Kritik des antiken Lebenssystems:90ff.,des modernen:

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Sachregister

96ff; Entwicklung des Lebenssystems der Wesensbildung: 104ff. M e n s c h ; seine Stellung im System der Wesensbildung: 49ff., 113ff., 289ff.; seine geistige Schwäche: 182ff.; seine moralische Unzulänglichkeit: 186 ff. M e n s c h e n l e b e n ; sein dramatischer Charakter: 118. Mittelalterliches Lebenssystem; seine Würdigung: 68. M o d e r n ; seine heutige Bedeutung: 293 ff. M o n i s m u s u n d D u a l i s m u s : 16. M o r a l ; das Neue in ihr: 11; Lage und Fassungen in der Gegenwart: 327ff.; Würdigung der Angriffe auf sie: 305ff., 328; ihr Verhältnis zur Religion: 277; ihre Stellung im System der Wesensbildung: 107, 317 ff. N a t u r ; ihr Verhältnis zum Geistesleben: 24ff., llOff.; ihre Gleichgültigkeit gegen das Geistesleben: 179 ff. N a t u r a l i s m u s ; seine Macht in der Gegenwart: 1 ff.; Kritik: 5ff. N e g a t i o n ; ihre Bedeutung für das Leben: 157ff. N e u z e i t ; ihr Kulturideal: 295ff. N o o l o g i s c h e s V e r f a h r e n : 80,227. O p t i m i s m u s ; seine Versuche der Wegdeutung des Bösen: 206ff. Pantheismus; Würdigung und Kritik: 114. Persönlichkeit und Persönlichsein; Bedeutung: 289, 291; Kampf von persönlicher und unpersönlicher Lebensgestaltung: 84ff., 309; Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte: 233 ff.; persönlicher Faktor bei Bildung der letzten Überzeugungen: 240ff. P e s s i m i s m u s ; sein Recht und sein

Unrecht: 217ff.; sein Vordringen in der Gegenwart: 322ff. P h i l o s o p h i e ; ihr Verhältnis zur Religion: 236ff., 279ff.; Lage und Aufgabe in der Gegenwart: 331 ff. P r o z e ß ; Macht unpersönlicher Prozesse im modernen Leben: 309. R a t i o n a l e s u n d P o s i t i v e s ; ihr Verhältnis: 61. R a u m u n d Z e i t ; ihre Überwindung durch die geistige Arbeit: 8ff. R e a l i s m u s ; Aufsteigen und Gegenwirkung: 297 ff. R e l i g i o n ; ihr selbständiges Hervortreten: 232ff.; ihr Verhältnis zur Kultur: 268; ihre Lage und Aufgabe in der Gegenwart: 324ff. Sache und sachliche Wahrheit; das Problem: 14. S c h i c k s a l ; seine Macht über den Menschen: 198 ff. S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t ; ihre Zerstörung durch die Geschichte: 43. S i n n l i c h e s ; seine Macht über uns: 17 ff. S u b j e k t i v i s m u s ; Darstellung und Kritik: 293ff., 302ff. U n i v e r s a l k u l t u r der Neuzeit: 295 ff. V e r g a n g e n h e i t ; Bedeutung einer großen Vergangenheit: 165. V o l l t ä t i g k e i t : 16, 41. W e r k ; Bedeutung der Wendung zum Werk: 41 ff. W e s e n s b i l d u n g : 57ff.; ihr System: 104ff.; ihr ethischer Charakter: 107, 121 ff. W i d e r s p r ü c h e ; ihr aufrüttelndes Wirken: 157 ff. W i r k l i c h k e i t ; wie zu verstehen: 42, 57, 316. Z e i t ; Schwierigkeit des Bildes einer Zeit: 292ff. Z w e i f e l ; Auseinandersetzung mit ihm: 237ff.