Rüstungsmodernisierung durch Wissenschaftsmigration? Deutsche Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien 1947-1963 9783964567611

Die vorliegende Studie, die sich auf archivierte Quellen und mündliche Befragungen stützt, bietet die erste wissenschaft

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German Pages 360 [362] Year 2019

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Inhalt
Tabellenverzeichnis
Verzeichnis der Abkürzungen
Danksagung
1. Einleitung
2. Die Streitkräfte als Träger der industriellen Modernisierung in Argentinien und Brasilien
3. Deutscher Militäreinfluß in Argentinien und Brasilien von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
4. Deutsche Rüstungsforschung und -produktion nach 1945: Die Politik der Besatzungsmächte und ihre Auswirkungen auf die argentinische und brasilianische Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute
5. Motive und Umstände der Migration deutscher Rüstungsfachleute nach Argentinien und Brasilien
6. Rüstungsprojekte deutscher Nachkriegsmigranten in Argentinien
7. Deutsche Rüstungsfachleute in der brasilianischen Luftfahrtforschung
8. Die Auswirkungen der Tätigkeit deutscher Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien: Vergleich und Bilanz
9. Rüstungsproliferation durch Wissenschaftlermigration: Ergebnisse und Tragweite der Untersuchung
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Rüstungsmodernisierung durch Wissenschaftsmigration? Deutsche Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien 1947-1963
 9783964567611

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Ruth Stanley Rüstungsmodernisierung durch Wissenschaftsmigration?

Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft / Lingüística Serie C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad Serie D: Bibliographien / Bibliografías Herausgegeben von t Editado por: WaltherL. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad, 3

Ruth Stanley

Rüstungsmodernisierung durch Wissenschaftsmigration? Deutsche Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien 1947-1963

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1999

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

D188

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Iberoamericana / Editionen / C] Editionen der Iberoamericana - Ediciones de Iberoamericana. Serie C, Geschichte und Gesellschaft = Historia y sociedad. Frankfurt am Main : Vervuert Reihe Editionen, Serie C zu: Iberoamericana. - Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03

3. Stanley, Ruth: Rüstungsmodernisierung durch Wissenschaftsmigration?. -1999 Stanley, Ruth: Rüstungsmodemisierung durch Wissenschaftsmigration?: deutsche Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien; 1947 -1963 / Ruth Stanley. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Editionen der Iberoamericana : Serie C, Geschichte und Gesellschaft ; 3) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1996 ISBN 3 - 8 9 3 5 4 - 8 6 9 - 6

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann; Photo: Entwurf I.Ae.37 (Überschalljäger mit Deltaflügel) von Reimar Horten, Holzmodell

Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

INHALT

Tabellenverzeichnis Verzeichnis der Abkürzungen Danksagung 1. Einleitung 1.1 Gegenstand der Untersuchung 1.2 Zur Begriffsklärung 1.3 Fragestellungen 1.4 Stand der Forschung 1.5 Quellen 1.6 Methode 1.7 Aufbau der Arbeit 2. Die Streitkräfte als Träger der industriellen Modernisierung in Argentinien und Brasilien 2.1 Vorbemerkung 2.2 Brasilien 2.2.1 Von der Jahrhundertwende bis 1930 2.2.2 Nach 1930 2.3 Argentinien 2.3.1 Von der Jahrhundertwende bis 1930 2.3.2 Nach 1930 2.4 Zusammenfassung 3 Deutscher Militäreinfluß in Argentinien und Brasilien von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.. 3.1 Vorbemerkung 3.2 Deutsche Militärmissionen und Ausbildungshilfe 3.3 Deutsche Waffenverkäufe und Lizenzproduktion 3.4 Die Bedeutung früherer Kontakte für die Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute nach 1945

6 4. Deutsche Rüstungsforschung und -produktion nach 1945: Die Politik der Besatzungsmächte und ihre Auswirkungen auf die argentinische und brasilianische Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute 4.1 Vorbemerkung 4.2 Deutsche Rüstungsforschung und -produktion nach 1945: Die Politik der Besatzungsmächte 4.2.1 Das Verbot militärischer Forschung, Entwicklung und Produktion 4.2.2 Die Verwendung deutscher Rüstungsexpertise durch die Besatzungsmächte 4.2.3 Vorenthaltung: Die anglo-amerikanische „policy of denial" 4.3 Die Anwerbung deutscher Rüstungsexperten durch Argentinien und Brasilien 4.3.1 Die argentinische und brasilianische Anwerbung deutscher Rüstungsexperten im Kontext der Besatzungspolitik 4.3.2 Das Vorgehen Argentiniens und Brasiliens im Kontext außenpolitischer Traditionslinien 4.4 Die Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute durch die Besatzungsmächte, Argentinien und Brasilien im Vergleich 4.4.1 Der Umfang des Wissenschaftlertransfers aus Deutschland nach 1945 im Bereich der Rüstungstechnologie 4.4.2 Fachgebiete der deutschen Rüstungsmigranten 4.5 Zusammenfassung 5. Motive und Umstände der Migration deutscher Rüstungsfachleute nach Argentinien und Brasilien 5.1 Motive 5.1.1 Ewiggestrige oder Berufsegoisten: Gründe für die Migration nach Lateinamerika 5.1.2 Wissenschaftssöldnertum: Ein deutsches Phänomen? 5.2 Umstände der Migration 5.2.1 Die Nachkriegsmigration nach Lateinamerika unter den Bedingungen des Besatzungsregimes 5.2.2 Wege der deutschen Rüstungsexperten nach Lateinamerika... 5.2.3 Die illegale Auswanderung und die Besatzungsmächte 5.2.4 Zusammenfassung

83 83 84 84 86 94 100 100 104 111 113 117 119 121 121 121 134 139 139 143 154 157

7 6. Rüstungsprojekte deutscher Nachkriegsmigranten in Argentinien 159 6.1 Luftfahrt und Raketentechnologie 159 6.1.1 Luftfahrttechnische Forschung und Entwicklung in Argentinien 1927- J 957 159 6.1.1.1 Die Fábrica Militar de Aviones (FMA) 159 6.1.1.2 Das Instituto de Investigaciones Científicas y Técnicas de las Fuerzas Armadas (CITEFA) 164 6.1.2 Die Gruppe Tank 166 6.1.2.1 Von der Ta 183 zur I. Ae. 33 (Pulqui II) 167 176 6.1.2.2 Huanquero (I. Ae. 35) und Nachfolgemuster 6.1.2.3 Pentaturbino 178 6.1.3 Die Gruppe Horten 179 6.1.3.1 Segelflugzeuge ClenAntú (I. Ae. 34), Urubú (I. Ae. 41), H XVI 183 6.1.3.2 Carguero I. Ae. 38, Nurflügel-Transportflugzeug 187 6.1.3.3 I. Ae. 37 und 48, Turbinen-Delta-Flugzeuge 190 6.1.4 Die Gruppe um Julius Henrici 194 6.2 Der deutsche Beitrag zu den Anfängen der Nuklearforschung in Argentinien 205 6.2.1 Einleitung 205 6.2.2 Des Kaisers neue Kleider: Ronald Richter und die Kernfusion 209 6.2.3 Ein neuer Anfang: die DNEA 227 7. Deutsche Rüstungsfachleute in der brasilianischen Luftfahrtforschung 7.1 Die Entwicklung der Luftfahrtforschung und -industrie Brasiliens bis 1950 7.2 Die Gruppe Focke 7.2.1 Convertiplano 7.2.2 Beija-Flor 7.3 Weitere Migranten im Bereich der Luftfahrtforschung 8. Die Auswirkungen der Tätigkeit deutscher Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien: Vergleich und Bilanz 8.1 Vorbemerkung 8.2 Analyse und Vergleich der Projekte deutscher Rüstungsfachleute

231 231 235 237 242 248 251 251 252

8 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5

8.4

Impulse und Auswirkungen 266 Lerneffekte aus den Rüstungstechnologieprojekten 266 Etablierung neuer Forschungsgebiete bzw. -Institutionen 267 Die Übertragung von Technik- bzw. Forschungsstilen 271 Der Ertrag für die Migranten 274 Die Migration deutscher Rüstungsfachleute nach Argentinien und Brasilien: Vorläufer einer späteren Rüstungskooperation mit der Bundesrepublik? 275 Eine Bilanz 278

9. Rüstungsproliferation durch Wissenschaftlermigration: Ergebnisse und Tragweite der Untersuchung 9.1 Ergebnisse 9.2 Zur Übertragbarkeit der Ergebnisse 9.2.1 Proliferation durch Wissenschaftsmigration? Das aktuelle Szenario 9.2.2 Methodische Überlegungen zur Übertragbarkeit der Ergebnisse 9.2.3 Deutsche Rüstungsfachleute in Lateinamerika nach 1945: sowjetische Atomwissenschaftler in der Dritten Welt heute - ein Vergleich 9.4 Zusammenfassung

281 281 289 289 293

294 304

Anhang

305

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Archivbestände 2. Interviewpartner, Korrespondenzen 3. Sekundärliteratur

325 325 327 329

Register

347

9

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 1: Deutsche Rüstungsexperten in Argentinien und Brasilien nach 1945: Überblick über die Projektgruppen

112

Tabelle 2: Umfang des Wissenschaftlertransfers aus Deutschland nach 1945 im Bereich der Rüstungstechnologie

113

Tabelle 3: Deutsche Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien nach 1945: Mitgliedschaft in der NSDAP und NS-Organisationen bzw. Übernahme von NS-Ämtem/Verleihung von Ehrentiteln, 1933-1945

125

Tabelle 4: Ergebnisse der Technologieprojekte deutscher Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien

254

10

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN

ABB ACA AEC AFA AMIC AMSCO APuZ BAOR BMW BT CAP CAPRI CCG(BE) CEPAL CIOS CITEFA CNEA CNS COGA CTA DAF DAG DCOS DGER DGFM DGME DINFIA DNEA DP DSIR

Asea Brown Boveri Allied Control Authority Atomic Energy Commission Asociación Física Argentina Arsenal da Marinha de Ilha das Cobras American Steel Corporation Aus Politik und Zeitgeschichte British Army on the Rhine Bayerische Motorenwerke Board of Trade Companhia Aeronáutica Paulista Compañía Argentina para Proyectos y Realizaciones Industriales Control Commission for Germany (British Element) Comisión Económica para América Latina Combined Intelligence Objectives Subcommittee Instituto de Investigaciones Científicos y Técnicas de las Fuerzas Armadas Comisión Nacional de Energía Atómica Commissäo Nacional Siderúrgica Control Office for Germany and Austria Centro Técnico da Aeronáutica, später umbenannt in Centro Técnico Aeroespacial Deutsche Arbeitsfront Dirección de Arsenales de Guerra Deputy Chiefs of Staff Committee Direction Générale des Etudes et Récherches de Défense Nationale Dirección General de Fabricaciones Militares Dirección General de Material del Ejército Dirección Nacional de Fabricaciones e Investigaciones Aeronáuticas Dirección Nacional de Energía Atómica Displaced Person Department of Scientific and Industrial Research

ESG ETS FAMA FEB FMA FNM FO GOU HAHR IA IAME IARA ITA JIOA JLAS LFA MTCR NPT NSDAP NSDStB NSFK NSKK NYT ODI OMGUS PRO PT PVS SA SHAEF SIPRI SNECMA SS STIB SWNCC UNIDIR UCR VDI VDI-A WGL

Escuela Superior de Guerra Escuela Técnica Superior Flota Aérea Mercantil Argentina Força Expedicionária Brasileira Fábrica Militar de Aviones Fábrica Nacional de Motores Foreign Office Grupo de Oficiales Unidos Hispanic American Historical Review Instituto Aerotécnico Industrias Aeronáuticas y Mecánicas del Estado Inter-Allied Reparation Agency Instituto Tecnológico Aeronáutico Joint Intelligence Objectives Agency Journal of Latin American Studies Luftfahrtforschungsanstalt Missile Technology Control Regime Nuclear Non-Proliferation Treaty Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistischer Fliegerkorps Nationalsozialistischer Kraftfahrkorps New York Times Office of the Director of Intelligence Office of Military Government of the United States Public Record Office Proyectil teledirigido Politische Vierteljahresschrift Sturmabteilung Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force Stockholm International Peace Research Institute Société nationale d'Etudes et de Construction des Moteurs Aéronautiques Schutzstaffel Scientific and Technical Intelligence Branch State-War-Navy Coordinating Committee United Nations Institute for Disarmament Research Unión Cívica Radical Verein Deutscher Ingenieure Verein Deutscher Ingenieure in Argentinien Wissenschaftliche Gesellschaft für Luftfahrt

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Danksagung Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung einer 1996 an der Freien Universität Berlin im Fach Politische Wissenschaft eingereichten Dissertation. Diese entstand aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt über „Die Migration deutscher Naturwissenschaftler und Techniker nach Lateinamerika nach 1945". Der DFG danke ich für ihre großzügige finanzielle Unterstützung; ebenfalls danke ich Prof. Ulrich Albrecht, unter dessen Leitung das Projekt stand, und Gabriele Ley, die mit mir zusammen die Forschungsarbeiten durchführte, für die motivierende Erfahrung der Teamarbeit. Ulrich Albrecht betreute auch die Dissertation, die nun in leicht veränderter Form vorliegt. Nicht zuletzt konnte ich von seiner großen Kompetenz in rüstungstechnischen Fragen profitieren. Die Forschungs- und Nachwuchskommission der Freien Universität Berlin gewährte mir 1991 einen Reisekostenzuschuß, was mir einen längeren Forschungsaufenthalt in Argentinien ermöglichte, als ursprünglich vorgesehen, wofür auch ihr gedankt sei. Zu den Quellen, auf die sich die Untersuchung stützt, gehören Interviews mit deutschen Rüstungsfachleuten, die nach 1945 nach Argentinien oder Brasilien auswanderten, sowie mit deren argentinischen bzw. brasilianischen Kollegen und Schülern und, wo die Protagonisten selbst nicht mehr befragt werden konnten, mit ihrem Kindern. Allen, die so bereitwillig meine Fragen beantworteten, danke ich sehr herzlich. Ohne deren Mitwirkung hätte ich diese Studie nicht erstellen können. Ebenfalls danke ich den vielen anderen Gesprächspartnern in Argentinien und Brasilien, die Quellen zur Verfügung stellten und Verbindung zu Zeitzeugen und anderen Experten herstellten. Meine Gesprächs- und Korrespondenzpartner sind im Quellennachweis aufgelistet. Viele andere halfen auf andere Art: Dr. Holger Meding vermittelte mir die ersten Kontakte zu deutschen Rüstungsingenieuren in Argentinien und las das Endmanuskript durch eine kritische Lupe. Weitere sachkundige Leser, von deren Kritik und Anregung ich profitiert habe, waren Dr. Burghard Ciesla, Dr. Peter Lock, Professor Roberto Llaryora und Dr. Arend Wellmann. Mit zwei Protagonisten dieser Untersuchung, Herrn Dipl.-Ing. Erich Löllmann (Córdoba, Argentinien) und Herrn Prof. (emeritiert) Karl Nickel (Freiburg i.B.) führte ich über Jahre einen Schriftwechsel, wobei frühere Textentwürfe kommentiert, berichtigt und ergänzt wurden. Professor Alfonso Suárez (Córdoba, Argentinien) überließ mir zeitgenössische Photographien einiger der hier behandelten Entwürfe. Gertraud Wellmann stellte das Endmanuskript überaus schnell und professionell her. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Schließlich danke ich meinem Sohn Michael, der meine Abwesenheit zu Forschungsaufenthalten in Lateinamerika und anderswo mit Verständnis ertrug. Daß ihm dabei die Zeit nicht lang wurde, haben er und ich vor allem Gisela Hillus, Erika Auras und Jana Bengtson zu verdanken.

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1. EINLEITUNG 1.1 Gegenstand der Untersuchung Deutlicher als je ein Krieg zuvor hatte der Zweite Weltkrieg vor Augen geführt, daß der Ausgang militärischer Konflikte entscheidend vom jeweiligen Technologiestand der kriegführenden Staaten mitbestimmt wird. Die Atombomben, die in den letzten Kriegstagen auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden, waren das drastischste Symbol der Potenz neuer Waffentechnologien. Auch durch eine Reihe weniger spektakulärer technologischer Entwicklungen - etwa die Erfindung des Radars, die Entwicklung von Strahlflugzeugen oder die Fortschritte in der Raketentechnologie, um nur einige Beispiele zu nennen, - wurde die zentrale Rolle von Technologie in der modernen Kriegsführung deutlich. Technologische Entwicklungen im Dritten Reich wurden bereits während des Krieges von alliierten Geheimdiensten mit Aufmerksamkeit verfolgt. Noch vor Ende des Krieges in Europa begaben sich amerikanische und britische Einheiten auf eine Jagd nach deutschem Know-how und deutschen Experten. Ging es zunächst darum, Einzelheiten über die deutsche Atomforschung sowie Informationen, die für den Krieg gegen Japan relevant sein könnten, in Erfahrung zu bringen, so entstanden rasch Projekte zur Indienstnahme deutscher Experten sowohl im militärischen Bereich wie auch in der zivilen Industrie. Den jeweiligen Truppen folgten bald technische Sondereinheiten der Sowjetunion und Frankreichs. Wie ihre anglo-amerikanischen Kollegen und Rivalen hatten diese zunächst spezifische Technikbereiche im Auge (bei den Sowjets ging es um die Nuklearforschung, bei den Franzosen um Panzertechnologie), interessierten sich jedoch bald für ein breiteres Spektrum an Rüstungstechnologie. So fanden nach Kriegsende einige Tausend deutscher Experten weiterhin Beschäftigung in der Rüstungsforschung und -entwicklung vor allem der vier Besatzungsmächte. Aber auch in die technologisch weit weniger entwickelten Staaten Argentinien und Brasilien migrierten über einhundert Fachleute aus der inzwischen von den Besatzungsmächten ver-

14 botenen Rüstungsindustrie des besiegten Deutschland. Sie wurden dort erneut in diversen Rüstungsprojekten, von der Grundlagenforschung bis zur Rüstungsproduktion, tätig und erzielten manchen Achtungserfolg, der von der zeitgenössischen Öffentlichkeit aufmerksam registriert wurde. Andere Projekte der deutschen Rüstungsingenieure dagegen hinterließen kaum Spuren in der Technologieentwicklung des jeweiligen Aufnahmelandes. Wiederum andere Arbeitsvorhaben verliefen unspektakulär, legten aber den Grundstein für spätere Entwicklungen. Das Nachkriegs-Wirken der deutschen Rüstungsexperten in den beiden größten südamerikanischen Staaten ist Thema der vorliegenden Arbeit. Diese Untersuchung läßt sich in verschiedene Forschungszusammenhänge einordnen, wenngleich sie zu einigen von ihnen gewissermaßen querliegt. Zunächst sind da neuere Forschungen über die deutsche Wissenschaftsemigration nach 1933 zu nennen, die in der Bundesrepublik u.a. von der Stiftung Volkswagenwerk, zwischen 1988 und 1992 mit der Einrichtung eines Forschungsschwerpunktes zu diesem Thema durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft intensiv gefördert wurden.1 Die im Rahmen des DFG-Schwerpunktes ausgeführten Untersuchungen befaßten sich fast ausschließlich mit der ab 1933 einsetzenden erzwungenen Migration deutscher Wissenschaftler, meist jüdischer Herkunft. Ausnahmen innerhalb des Forschungsschwerpunktes Wissenschaftsemigration bildeten zwei an der Freien Universität Berlin durchgeführte Projekte zur Migration deutscher Naturwissenschaftler und Techniker in die Sowjetunion sowie nach Lateinamerika in den Jahren nach 1945.2 Aus dem letztgenannten Forschungsprojekt ging diese Untersuchung hervor. Der untersuchte Personenkreis, die Umstände der Migration aus Deutschland, die Arbeitsuche und -möglichkeiten im Exilland, Probleme der Akkulturation - alles das könnte kaum verschiedener sein, als zwischen den ab 1933 Deutschland verlassenden Exilanten und den nach 1945 aus Deutschland angeworbenen, bis dahin vom NS-Regime profitierenden Wissenschaftlern. Anhaltspunkte für einen Vergleich dieser zwei völlig andersgearteten Migrationsverläufe sind von daher kaum gegeben. 1

2

Zur Wissenschaftsemigrationsforschung vgl. Herbert A. Strauss, Wissenschaftsemigration als Forschungsproblem, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien, München usw. 1991, S. 9-23. Ulrich Albrecht/Andreas Heinemann-Grüder/Arend Wellmann, Die Spezialisten. Deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in der Sowjetunion nach 1945, Berlin 1992; Ulrich Albrecht/Gabriele Ley/Ruth Stanley, Die Migration deutscher Naturwissenschaftler und Techniker nach Lateinamerika nach 194S, MS, Berlin 1993.

15 Eher lassen sich die Ergebnisse dieser Arbeit in Bezug setzen zu Studien über die Verwendung von deutscher Wissenschaft bzw. deutschen Wissenschaftlern durch die Kriegsalliierten in den Jahren nach 1945. Über die Akquisition von deutschem Know-how bei Kriegsende durch die vier Besatzungsmächte liegen ausführliche Untersuchungen vor, die in mehrfacher Hinsicht einen Vergleich zur lateinamerikanischen Erfahrung mit deutschen Wissenschaftsmigranten nach 1945 ermöglichen. Am besten erforscht ist das Wirken deutscher Wissenschaftler in den USA. Hierzu liegen mehrere neuere Monographien und Aufsätze vor, die verschiedene Aspekte der Verwendung von deutschem Know-how im Rahmen des „Project Paperclip" sowie anderer, weniger bekannter Projekte behandeln. Auch die Migration deutscher Wissenschaftler in die Nachkriegs-Sowjetunion, lange Zeit ein tabuisiertes Thema, ist Gegenstand einiger jüngst erschienener Studien. Zu der Verwendungspraxis der kleineren Besatzungsmächte, Frankreich und Großbritannien, liegen ebenfalls seit neuerem Untersuchungen vor.3 Die Nachkriegsmigration deutscher Rüstungsfachleute nach Argentinien und Brasilien unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht von der Indienstnahme deutscher Experten sowohl durch die Sowjetunion als auch durch die westlichen Besatzungsmächte. Von Einzelfällen abgesehen hat die Sowjetunion bevorzugt geschlossene Arbeitsgruppen von Wissenschaftlern zwangsweise zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit in die Sowjetunion geholt. Bei den westlichen Siegermächten war das Verfahren anders. Häufig konnten die alliierten Offiziere das sie Interessierende durch Befragung deutscher Fachleute in Erfahrung bringen, ohne daß eine Übersiedlung notwendig wurde. Dies spiegelt den leichten Zugriff der Besatzungsmächte auf deutsche Ressourcen wider. Zugleich war ein solches Verfahren dank des in etwa gleichen technologischen Standes der fraglichen Volkswirtschaften zweckmäßig. Deutsche Naturwissenschaftler und Ingenieure, die dennoch zu einem längerfristigen Aufenthalt eingeladen bzw. aufgefordert wurden (in manchen Fällen glaubten sie, die Einladung nicht ausschlagen zu können), wurden gemäß den Bedürfnissen des Aufnahmelandes mehr oder weniger sorgfältig ausgewählt. In der Regel wurden in westlichen Ländern einzelne hervorragende Spezialisten aufgenommen und ihre Mit-

3

Auf die entsprechende Literatur wird in Kap. 4 unten eingegangen.

16 arbeiter zurückgelassen, im Gegensatz zur sowjetischen Praxis der Mitnahme ganzer Kollektive.4 In den lateinamerikanischen Staaten - und hier vor allem in Argentinien, das sich zur Empörung der US-amerikanischen Behörden eifrig um deutsche Rüstungsfachleute bemühte - waren die Ausgangsbedingungen gänzlich anders. Die Zugangsmöglichkeiten der lateinamerikanischen Anwerber waren im besetzten Deutschland beschränkt, so daß sie lediglich diejenigen Rüstungstechniker bekamen, an denen die Siegermächte kein Interesse hatten - selbst wenn sie durchaus daran interessiert waren, solche Wissenschaftler anderen Staaten nicht in die Hände fallen zu lassen. Daneben erwiesen sich die relevanten Industriezweige bzw. Forschungsgebiete in Lateinamerika im Vergleich zu den Verhältnissen in Deutschland als derart rückständig, daß die selektive Übernahme einzelner Wissenschaftler wenig Sinn gemacht hätte. Wie im sowjetischen Fall strebten die lateinamerikanischen Sucher vielmehr an, geschlossene Arbeitsgruppen aus Deutschland zu bekommen. Anders als bei den deutschen Forschern, die in die UdSSR gelangten, handelte es sich bei den Gruppen in Lateinamerika nicht um eingespielte Teams, sondern um mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelte Gruppen von Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und Technikern. So bestand etwa die größte in Argentinien in der Rüstungsentwicklung tätige Gruppe, jene von Kurt Tank, zwar hauptsächlich aus ehemaligen Mitarbeitern der Firma Focke-Wulf, deren Chefkonstrukteur und Technischer Leiter Tank bis 1945 gewesen war. Aber in der Gruppe Tank im argentinischen Córdoba wirkten auch ehemalige Angehörige der Firmen Daimler-Benz, Fieseier, Focke-Achgelis und Messerschmitt mit. Der größte Unterschied zwischen der Indienstnahme deutscher Experten in den Staaten der vier Besatzungsmächte und ihrer Verwendung in Argentinien und Brasilien bestand jedoch in dem extremen Entwicklungsgefälle zwischen dem Dritten Reich und den zwei südamerikanischen Aufnahmestaaten. Von daher wird diese Arbeit eine Fallstudie über den Versuch, mittels Wissenschaftlermigration Rüstungstechnologie in Entwicklungsländer zu transferieren. Sie gewinnt angesichts der aktuellen Debatte um die Proliferationsgefahr, die aus der Sicht westlicher Beobachter und vor allem der US-Regierung von abwandernden Nuklearwaffenexperten der ehemaligen Sowjetunion ausgehe, an Aktualität. Wenngleich die an4

Diese Aussage über die Auswahlpraxis der westlichen Besatzungsmächte trifft allerdings nur bedingt auf Frankreich zu. Siehe dazu das Kapitel 4 dieser Untersuchung.

17 fänglich sensationalistische Behandlung dieses Themas in den Medien inzwischen merklich abgeflaut ist, so bleibt die Frage nach den Proliferationsauswirkungen dieser Wissenschaftsmigration von Bedeutung. Dies um so mehr, weil das Problem nicht allein die ehemalige Sowjetunion betrifft, um die es in der jüngsten Debatte fast ausschließlich gegangen ist. Vielmehr ist die Gefahr eines „Wissenschaftssöldnertums" überall dort gegeben, wo einschneidende Reduzierungen in der militärischen Forschung und Entwicklung in bedeutendem Umfang zum Abbau dieser privilegierten Arbeitsplätze führen, mithin zur Freisetzung von Rüstungsfachleuten in großer Zahl, die den Weg ins Ausland finden könnten. Dies trifft gegenwärtig nicht nur auf Rußland, sondern beispielsweise auch - dank der erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion sowie des Erreichens von Haushaltsgrenzen - auf die USA sowie auch (wegen der Aufgabe des Nuklearwaffenprogramms) auf Südafrika zu.5 Denkbar ist auch, daß nach den jüngsten Entwicklungen in der brasilianischen und argentinischen Nuklearpolitik Experten aus diesen zwei Staaten sich ohne Beschäftigung finden und in Dritte-Welt-Staaten ihre Arbeit fortsetzen, wie einst die arbeitslos gewordenen deutschen Rüstungsingenieure. Als Beispiel für proliferationswirksame Rüstungsmigration sei hier der Fall brasilianischer Raketeningenieure erwähnt, die nach Einstellung des brasilianischen Mittelstreckenraketenprojektes im irakischen Parallelprogramm tätig wurden. 6 Argentinien und Brasilien fungieren in der vorliegenden Studie als Empfängerländer von Rüstungstechnologie; seitdem sind sie selbst zu Anbietern derselben avanciert. Dies verweist erneut auf die Frage, wie der Beitrag von ausländischen Experten zum Aufbau der Rüstungsindustrien dieser beiden Staaten zu bewerten ist. Die Nachkriegsmigration deutscher Rüstungsfachleute nach Argentinien und Brasilien unterschied sich in einer zweiten Hinsicht von der Indienstnahme deutscher Natur- und Technikwissenschaftler durch die vier Besatzungsmächte: Die Anwerbung Deutscher zur Mitarbeit in der rüstungsrelevanten Forschung und Entwicklung der beiden lateinamerikanischen Staaten nach 1945 setzte eine Tradition längerfristiger Bemühungen fort, durch die Gewinnung europäischer Fachkräfte die Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft voranzutreiben. In Argentinien war dieses 5 6

Vgl. Kathleen C. Bailey, Strengthening Nuclear Non-Proliferation, Boulder, Colorado, Oxford 1993, S. 44. Thomas Kamm, Brazilian Arms Experts Said To Upgrade Iraq's Missiles, in: The Wall Street Journal, 30.8.1990, S. 5, zitiert nach Bailey, S. 44.

18 Bestreben bereits im vorigen Jahrhundert unter dem Stichwort poblar el desierto (die Wüste bevölkern) eine Zielsetzung der Führungselite: Der liberalen, modernisierungswilligen „Generation der achtziger Jahre" schwebte ein Entwicklungsmodell vor, wonach Argentinien als Rohstofflieferant in die Weltwirtschaft integriert werden und sich gleichzeitig mit Hilfe europäischen Kapitals und europäischer Migranten zu einem modernen Staat entwickeln sollte.7 Die Modernisierungsauswirkungen, welche die argentinische Elite von der europäischen Einwanderung erhoffte, stellten sich in der Tat ein. So nahmen Europäer in der Industrie und Manufaktur des Landes eine herausragende Stellung ein.8 Die europäische Dominanz war in modernen Industriezweigen (Metallverarbeitung, Chemie) besonders ausgeprägt.9 Verglichen mit der Gesamtzahl der europäischen Einwanderer in Argentinien war das Ausmaß der deutschen Migration dorthin nicht sehr bedeutend: sie machte lediglich 1.5 % der Gesamtmigration in den Jahren 1857-1910 aus. Auch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, als viele Deutsche den Nachkriegswirren zu entkommen suchten, stieg der deutsche Anteil an der Immigration auf lediglich 3.2 % an.10 Aber unter den deutschsprachigen Einwanderern waren nicht wenige, die einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlich-kulturellen Entwicklung Argentiniens leisteten." Aus der Sicht der Führungselite in 7

Zu dem Projekt der Generation der achtziger Jahre vgl. Oscar Cornblit/Ezequiel Gallo/Alfredo O'Connell, La Generación del 80 y su Proyecto: Antecedentes y Consecuencias, in: Torcuato di Telia u.a. (Hrsg.), Argentina, Sociedad de Masas, Buenos Aires 1965, S. 59 ff., sowie Noé Jitrik, El 80 y su mundo. Presentación de una época, Buenos Aires 1968. Der Leitspruch poblar el desierto ging auf die „Generation von 1837" (La nueva generación) und ihr Motto gobernar es poblar (regieren heißt bevölkern) zurück. Dachten Vertreter der „Generation von 1837" an eine Besiedlung des ganzen Landes, so hatte die Elite der Generation von 1880 nur die Zonen im Süden des Landes (desierto) im Blick, wo die einheimische Bevölkerung durch die Kampagnen Rocas dezimiert worden war. Prof. Roberto Llaryora verdanke ich diesen Hinweis zum Ursprung des Leitspruchs. 8 1914 waren 66 % der Besitzer von Industrie- und Manufakturbetrieben Europäer; vgl. Gino Germani, Política y Sociedad en una etapa de transición, Buenos Aires 1962, S. 195. 9 Gustavo Beyhaut, Inmigración y desarrollo económico, Buenos Aires 1961, S. 31, nach Oscar Comblit, Inmigrantes europeos en la industria y la política argentina, in: Claudio Veliz (Hrsg.), El conformismo en América Latina, Santiago de Chile 1970, S. 242-269, S. 248-9. 10 Daten nach Carlota Jackisch, El nazismo y los refugiados alemanes en la Argentina 1933-45, Buenos Aires 1989, S. 111. 11 Zum Beitrag der Deutschen zur ökonomischen und wissenschaftlich-kulturellen Entwicklung Argentiniens siehe Wilhelm Lütge u.a., Deutsche in Argentinien

19 Argentinien verkörperten die Deutschen in besonderem Maße das Idealbild des Europäers als Modernisierungspotential.' 2 In Brasilien lagen die Verhältnisse etwas anders. Auch dort war die deutsche Einwanderung - gemessen an der Gesamtbevölkerung - relativ gering: In den hundert Jahren 1851-1950 wanderten 230 000 Deutsche nach Brasilien aus, gegenüber einer Gesamtzahl von ca. 5 Mio. Einwanderern in diesem Zeitraum. Nach Afrikanern (der Sklavenhandel wurde erst im Jahr 1850 von der brasilianischen Regierung verboten), Portugiesen, Italienern und Spaniern bildeten sie lediglich die fünftstärkste Bevölkerungsgruppe und stellten etwa 3 % der Gesamtbevölkerung dar. Aus deutscher Perspektive war die Einwanderung nach Brasilien zahlenmäßig von erheblicher Bedeutung: Brasilien war das Land, das nach den Vereinigten Staaten „den stärksten Strom deutscher Überseewanderer" aufnahm. 13 Der rege Handel, der sich zwischen Deutschland und Brasilien in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts und nach 1945 erneut zwischen Brasilien und der Bundesrepublik entwickelte, verdankte sich nicht zuletzt dem Einfluß dieser deutschen Gemeinschaft. 14 Im Bereich der Rüstungstechnologie knüpfte die Nachkriegsmigration Deutscher auch an eine spezifische Tradition des deutschen Militäreinflusses in den beiden lateinamerikanischen Staaten an. Dieser Einfluß war vergleichsweise sehr viel stärker in Argentinien, aber in beiden Staaten läßt sich die Bedeutung früherer Beziehungen zu Deutschland auf dem Gebiet der Rüstung für die Migration deutscher Rüstungsfachleute nach 1945 nachzeichnen.

1520-1980 (2. Aufl. der Geschichte des Deutschtums in Argentinien), hrsg. vom Deutschen Klub in Buenos Aires, Buenos Aires 1981, sowie diverse Beiträge in: Mitteilungen des Instituts für Auslandsbeziehungen, Nr. 2/3, 11. Jg., April-Sept. 1961 (Sonderheft Argentinien). Zur deutschen Einwanderung nach Argentinien siehe auch Anne Saint-Sauveur-Henn, Un siècle d'émigration allemande vers l'Argentine 1853-1945, Köln, Weimar 1995. 12 Vgl. Jackisch, El nazismo, S. 107. 13 Carlos Fouquet, Der deutsche Einwanderer und seine Nachkommen in Brasilien 1808-1824-1974, Säo Paulo und Porto Alegre 1974, S. 14-17. Zur Geschichte der Deutschen in Brasilien siehe ebenda, sowie Karl Oberacker Jr., Der deutsche Beitrag zum Aufbau der brasilianischen Nation, 2. dt. Auflage, Säo Leopoldo 1978. 14 Vgl. Stanley E. Hilton, Brazil's International Economic Strategy, 1945-1960: Revival of the German Option, in: HAHR 66:2 (1986), S. 287-318.

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1.2 Zur Begriffsklärung An dieser Stelle sollen diejenigen Begriffe der Studie kurz präzisiert werden, die im Titel der Arbeit angegeben sind. Technologietransfer kann als der „Transport technischen Wissens von einem Land oder einer Region mit höherem technischen Niveau in ein solches mit entsprechend niedrigerem Entwicklungsstand" 15 umschrieben werden. Zwar könnte gegen diese Definition eingewendet werden, daß sie den Transfer von Technologie zwischen vergleichbar entwickelten Regionen nicht einschließt, von vorneherein auf ein grundsätzlich ungleiches Verhältnis zwischen Anbietern und Empfängern abzielt - während ein Technologietransfer in bestimmten Bereichen durchaus auch stattfinden kann, ohne daß ein wesentliches Entwicklungsgefälle vorfindlich wäre.16 Gerade durch diese Fokussierung hat diese Definition aber den Vorteil, daß sie präzise den Sachverhalt erfaßt, der im Zentrum der Debatte um Technologietransfer steht, eben den des ungleichen Verhältnisses zwischen den Besitzern und den Empfängern der Technologie. Sie verweist somit darauf, daß der Technologietransfer in der Regel von entwickelten Industrieländern gesteuert wird, und daß seine Einschränkung durch Technologietransferkontrollen - etwa im rüstungsrelevanten Bereich - auch ein Machtinstrument der Anbieter gegenüber prospektiven Empfängern darstellt. Definitionsbedürftig ist der Gebrauch des Terminus „Rüstungstechnologie". Bei der Mehrzahl der hier analysierten Projekte, etwa im Bereich von Hochleistungsflugzeugen oder Raketentechnologie, bedarf der Begriff zwar keiner weiteren Begründung, handelt es sich hierbei doch im engsten Sinne um Technologie für den Krieg. Als Folge eines solchen Technologieprojektes - Ronald Richters Kernfusionsprogramm in Argentinien - wird auch die nukleare Grundlagenforschung an der argentinischen CNEA in dieser Untersuchung behandelt, obwohl sie nur in einem mittelbaren Sinne als Rüstungsforschung zu begreifen wäre. Sie zu den Rüstungsprojekten zu zählen scheint dennoch aus zwei Gründen gerechtfertigt. Erstens war dies ein Forschungsgebiet, das in Deutschland unter 15 16

Ulrich Troitzsch/Gabriele Wohlauf, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Technikgeschichte. Historische Beiträge und Neuere Ansätze, Frankfurt/Main 1980, S. 22. Beispielsweise wird der Begriff auch zur Bezeichnung der Diffusion von in Rüstungslabors und -unternehmen entwickelter Technologie in die zivile Industrie desselben Staates verwendet; vgl. Technology Transfer now a top priority, Aviation Week & Space Technology, Nov. 8,1993.

21 das alliierte Verbot der militärischen Forschung fiel. Dieses Verbot war zugegebenermaßen breit gefaßt (unter anderem schloß es die zivile Luftfahrttechnik ein). Dennoch handelte es sich um Forschungsbereiche, deren Kriegsrelevanz durch ebendieses Verbot belegt wurde. Zweitens, und dies scheint ein gewichtigeres Argument: Das Interesse an der Nuklearforschung stieg unter dem Eindruck von Hiroshima und Nagasaki sprunghaft an; insofern ist den Auftraggebern ohne weiteres ein Bewußtsein für die militärische Dimension zu attestieren. Zu dem Zeitpunkt, da die deutschen Experten angeworben wurden, war die zivile Nutzung von Kernenergie nicht einmal im Forschungsmaßstab erprobt. Es wäre also naiv anzunehmen, daß der potentielle militärische Nutzen der Kernenergie nicht eine wesentliche Motivation für die argentinische Anwerbung von einschlägigen Experten dargestellt hätte. Rüstungstechnologie, so wie der Terminus in dieser Untersuchung verwendet wird, ist demnach als eine auf den Gegenstand der Untersuchung bezogene Sprachverwendungsregel zu verstehen. „Rüstungsfachleute" schließt alle diejenigen ein, die an den solchermaßen als Rüstungstechnologie bezeichneten Projekten mitarbeiteten.17 Bei dem Verzeichnis der „Rüstungsmigranten" im Anhang werden Mitarbeiter an allen solchen Projekten sowie darüber hinaus Einzelpersonen, die an militärischen Forschungseinrichtungen Beraterverträge erhielten, aufgenommen. Im letzten Fall ist nicht immer klar, ob die deutschen Experten tatsächlich Forschungsaufgaben wahrnahmen oder lediglich pro forma als Mitarbeiter geführt wurden. Dagegen werden Wissenschaftler an Universitäten nicht berücksichtigt, u.a. deshalb, weil der Anwendungsbezug ihrer Arbeit sehr gering erscheint. Mit dem Begriff Wissenschaftsmigration - etwa im Gegensatz zur Wissenschaftleremigration - soll angezeigt werden, daß nicht Einzelbiographien, sondern die Entwicklung der Wissenschaft und ihrer Institutionen im Vordergrund steht. Gemäß der Gruppenbezogenheit eines solchen Ansatzes wurden zur Wissenschaftsmigration im Rüstungsbereich alle jene mitgezählt, die als Migranten an den hier analysierten Forschungs- und Entwicklungsprojekten beteiligt waren. Dies schließt neben Naturwissenschaftlern und Ingenieuren mit Hochschulabschluß auch solche ein, die ohne eine wissenschaftliche Qualifikation vorzuweisen - erkennbar inner17

Ich bin mir dabei im klaren darüber, daß einige der so bezeichneten deutschen Experten - etwa im Bereich der atomaren Grundlagenforschung - diese Qualifikation entschieden ablehnen würden.

22 halb der betreffenden Gruppen bedeutsame wissenschaftlich-technische Funktionen ausübten, etwa Ingenieure ohne Diplomtitel. Hingegen werden Personen, die lediglich pro forma als Gruppenmitglieder geführt wurden und die erkennbar nicht an der Arbeit der Gruppe beteiligt waren, nicht berücksichtigt.18

1.3 Fragestellungen Die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung lautet: Inwiefern trug die Tätigkeit der ausgewanderten deutschen Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien zur Entwicklung der Rüstungstechnologie im jeweiligen Aufnahmeland und somit zur Proliferation von Rüstung bei? Erfolg oder Mißerfolg läßt sich zunächst an den in diesen Ländern erzeugten Artefakten selber messen. Aber auch bei Anwendung dieses scheinbar klaren Kriteriums läßt sich die Frage nicht immer eindeutig beantworten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Kurt Tank und seine Gruppe von 45 Luftfahrtingenieuren entwickelten und bauten den Strahljäger Pulqui II, zur Zeit seiner öffentlichen Vorführung im Frühjahr 1951 eines der schnellsten Flugzeuge der Welt. Nach dem Bau mehrerer Prototypen wurden die Arbeiten an dem Projekt in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eingestellt. Ist dies als ein Mißerfolg zu bewerten? Noch schwieriger wird die Analyse dort, wo ein Scheitern auf jeden Fall zu konstatieren ist, wo das angestrebte Artefakt nicht gebaut werden konnte. Die genauen Gründe für solche Mißerfolge, die bei Rüstungsentwicklungen in Südamerika eher die Regel darstellen, lassen sich häufig nicht mit Sicherheit bestimmen. In Fällen, wo das „Projekt" im Nachbau eines bereits erfolgreich eingesetzten Artefaktes bestand, liegt es nahe anzunehmen, daß das Scheitern mit den technologischen Unzulänglichkeiten des Aufnahmelandes zu erklären ist. Bei avantgardistischen Vorhaben, die technologisches Neuland betraten, stellt sich die Frage, ob wegen Selbstüberforderung nicht bereits im Konzept das Scheitern angelegt war - vom 18 So figurierten die beiden hochdekorierten ehemaligen Offiziere der Luftwaffe, Adolf Galland und Hans-Ulrich Rudel, als Mitglieder der Gruppe Tank, ohne in irgendeiner Form an den Projekten dieser Gruppe beteiligt gewesen zu sein. Dagegen werden ehemalige Luftwaffenoffiziere, die als Testpiloten eine erkennbare Funktion in der Entwicklung neuer oder dem Nachbau bereits erprobter Artefakte innehatten (Werner Baumbach, Otto Behrens), als Gruppenmitglieder gezählt.

23 Sinn eines solchen Unternehmens einmal ganz abgesehen. Die Gründe für das Gelingen oder Scheitern eines Projektes zu identifizieren, erscheint gerade in bezug auf die Übertragbarkeit der Ergebnisse von ganz wesentlicher Bedeutung. Waren diese Gründe so sehr kontextbedingt, daß die hier untersuchten Fälle als sui generis gelten müssen, oder lassen sich aus den Fallstudien verallgemeinerbare Hypothesen über die Chancen des Rüstungstechnologietransfers mittels Wissenschaftsmigration in technologisch weniger entwickelten Staaten ableiten? Die hier vertretene These lautet, daß es nicht ausreicht, allein das Gedeihen eines Projektes - etwa den tatsächlichen Bau eines Artefaktes - zu berücksichtigen; dies kann lediglich ein Element der Bewertung darstellen. Vielmehr sind auch zusätzliche Aspekte wie die weitere Entwicklung der von den Deutschen begonnenen Projekte, etwaige Impulse für die Forschungspolitik und -Organisation im Aufnahmeland, sowie Lernerfahrungen dortselbst aus den Vorhaben in die Bewertung des Ertrags für die Aufnahmeländer miteinzubeziehen. Der Versuch der Verpflanzung einer Technologie in ein gänzlich anders geartetes Umfeld wirft die Frage nach Technikstilen und deren Folgen auf. Radkau definiert einen regionalen oder nationalen Technikstil als einen solchen, der die gegebene Ressourcenausstattung berücksichtigt und die Kosten und Nutzen der Technologie abwägt - wobei die Technologie den örtlichen Gegebenheiten angepaßt wird.19 Nationen- oder regionenspezifisch an der Technik können, so Radkau, ,4m allgemeinen nicht die Grundprinzipien, aber doch das Ensemble, die Umweltbeziehungen, die Dimensionierung, die Materialien, der Umgang mit Energie, das 'MenschMaschine-System'" sein.20 Zum nationalen Stil könne auch die zögerliche Übernahme einer neuen Technologie gehören, die durchaus rational begründet und daher Ausdruck nicht so sehr von Rückständigkeit, sondern von technischer Reife sein könne, wie Radkau am Beispiel der zaghaften Einführung der Dampfmaschine in Deutschland darlegt.21 Zu einem ähnlichen Schluß kam Rosenberg aufgrund historischer Studien über Technologietransfers. Diese lehren, so sein Fazit, daß die Fähigkeit, fremde Technologien gemäß lokalen Bedürfnissen zu modifizieren, geradezu der wichtigste Einzelfaktor bei der Bestimmung des Erfolges von Technologie19 20 21

Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1989, S. 21-29. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 11-20.

24 transfer sei. Voraussetzung für diese Anpassungsleistung sei das frühzeitige Entstehen einer einheimischen technologischen Kapazität, welche eine sinnvolle Selektion von fremder Technologie erst ermögliche.22 Nun wird die Identifikation eines nationalen Technikstils in der Rüstungstechnologie, von der diese Untersuchung ausschließlich handelt, dadurch erschwert, daß die Rüstungsindustrie tendenziell alle jene Faktoren außer acht läßt, oder zumindest ihnen eine geringe Bedeutung beimißt, deren Berücksichtigung gerade die Herausbildung eines nationalen Technikstils fördert. Dazu schreibt Radkau: „Das theoretische Optimum, unbehelligt von Kosten- und Nutzenerwägungen, von Reibungsverlusten und menschlichen Faktoren, kam vor allem dort zum Tragen, wo es um keinen Dienst am Menschen, sondern um die Vernichtung von Menschen ging."23 Auf der anderen Seite stellt Radkau am Beispiel der deutschen und französischen Kernenergieentwicklung fest, daß die nationale Prägung der Technik um so deutlicher wird, je mehr sie politischen Einflüssen unterliegt.24 Folgt man dieser Überlegung, so wäre gerade die Rüstungsindustrie aufgrund ihrer extremen Politisierung der Ort, an dem man die Herausbildung eines nationalen Stils in der Technik studieren könnte. Vergleiche der Rüstungstechnologieentwicklungen in unterschiedlichen Systemen haben solche unterschiedlichen Stile tatsächlich identifiziert und somit die These widerlegt, die Technik folge zwingend eigenen Gesetzen und führe durch Sachzwänge zu einer Nivellierung oder Konvergenz.25 Im Lichte dieser Debatte ist die Frage nach einem deutschen Technikstil (oder spezifischer:

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23 24 25

Nathan Rosenberg, „The International Transfer of Industrial Technology: Past and Present", in: OECD (Hrsg.), North-South Technology Transfer. The Adjustment Ahead, Analytical Studies, Paris 1982, S. 26 f. Vgl. auch Sidney Pollard, Die Übernahme der Technik der britischen industriellen Revolution in den Ländern des europäischen Kontinents, in: T. Pirker u.a. (Hrsg.), Technik und industrielle Revolution, Opladen 1987, S. 159-167, der aus historischen Studien den Schluß zieht, daß die unveränderte Übernahme von Technologie ein Zeichen der Unterentwicklung, hingegen die Fähigkeit zur Anpassung fremder Technologie ein Indiz für technologische Reife sei. Radkau, Technik in Deutschland, S. 42. Ebenda, S. 23. Vgl. Leon Trilling, Styles of Military Technical Development: Soviet and U.S. Jet Fighters, 1945-1960, in: Everett Mendelsohn u.a. (Hrsg.), Science, Technology and the Military, Sociology of the Sciences Yearbook X M , 1988, Dordrecht usw. 1988, S. 155-185; Ulrich Albrecht, Military Technology and National Socialist Ideology, in: Monika Renneberg und Mark Walker (Hrsg.), Science, Technology and National Socialism, Cambridge 1994, S. 88-125.

25 einem nationalsozialistischen) und seiner versuchten Übertragung auf ein anders geartetes Umfeld an den Gegenstand zu richten. Der hier untersuchte Kanal des Technologietransfers - der Wissenschaftlertransfer - stellt eine in der modernen Welt seltene Ausnahme dar. Zwar ist der zeitweilige Transfer von technischem Personal im Rahmen eines spezifischen Technologieprojektes ein häufig anzutreffendes Element des Technologietransfers. Als Hauptbestandteil eines Transfers ist er jedoch unüblich. Folgerichtig wird die Vermittlung von technologischem Know-how durch Fachkräftetransfer in der einschlägigen Literatur nicht als eigenständige Form des Technologietransfers erwähnt.26 Allerdings finden sich durchaus historische Parallelen zur Übertragung technischen Wissens durch die Abwerbung von Fachkräften aus damaligen VorreiterIndustrien.27 In solchen geschichtlichen Beispielen - ähnlich wie bei der Anwerbung Deutscher durch Argentinien und Brasilien nach 1945 - stellte der Personentransfer gewiß nicht den optimalen Kanal des Technologietransfers dar, sondern wäre im Idealfall durch den Import von Produktionsanlagen, Maschinen usw. ergänzt worden. Der Personentransfer war aber - angesichts des eingeschränkten Zugangs zu der fraglichen Technologie vergleichsweise leicht durchzuführen. Er hatte auch im Vergleich zu heute gängigeren Formen des Technologietransfers (etwa durch den Verkauf von industriellen Eigentumsrechten oder durch den Export von Produktionsmitteln) einen weiteren Vorteil: Wo nötig, konnten durch die angeworbenen Fachkräfte Modifikationen vorgenommen werden, die Technologie also flexibler gehandhabt werden, als dies bei anderen Transferformen möglich gewesen wäre. Gleichwohl konnten die Träger des Know-hows das Fehlen von geeigneten Produktionsanlagen, Zulieferindustrien, infrastrukturellen Voraussetzungen und indigener technologischer Kapazität nicht hinreichend kompensieren.

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27

Vgl. etwa: United Nations Center on Transnational Corporations (UNCTC), Transnational Corporations in World Development, Third Survey, United Nations, New York 1983, S. 163; J. Fred Bucy, An Analysis of Export Control of U.S. Technology - A D o D Perspective, Office of the Director of Defense Research and Engineering, Washington D.C., 1976. Vgl. etwa Werner Kroker, Wege zur Verbreitung technologischer Kenntnisse zwischen England und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1971; Gustav Otruba, Englische Fabrikanten und Maschinisten zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. in Österreich, in: Tradition, Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie, 12. Jg. H.2, April 1967, S. 365-377.

26 Neben diesen zentralen Fragen wird in weiteren Untersuchungsschritten der Versuch unternommen, den Gesamtumfang der Wissenschaftsmigration im Rüstungsbereich nach Argentinien und Brasilien annähernd zu bestimmen, sowie die Motive sowohl der angeworbenen deutschen Experten wie der anwerbenden Staaten zu ergründen. Bei den migrierenden Rüstungsfachleuten läßt sich die Migrationsbereitschaft aus dem unmittelbaren zeitgeschichtlichen Kontext begründen, insbesondere aus der im Potsdamer Abkommen proklamierten Zerschlagung des deutschen Kriegspotentials und dem daraus resultierenden Verbot militärischer Forschung und Produktion. Dieser Umstand begünstigte die Anwerbung deutscher Rüstungsexperten durch die politisch-militärischen Eliten in Argentinien und Brasilien. Gleichwohl ist deren Versuch, einen Technologietransfer durch Wissenschaftsmigration zu bewirken, auch in einem breiteren Zusammenhang zu sehen, nämlich in den längerfristigen Bemühungen beider Staaten um (rüstungs-)industrielle Modernisierung.

1.4 Stand der Forschung Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen die vielfältigen Bezüge des Untersuchungsgegenstandes zu mehreren Forschungssträngen. Gleichwohl ist zum engeren Thema ein Mangel an wissenschaftlicher Forschung zu konstatieren - eine Lücke, die diese Arbeit mit schließen soll. Der Mangel an einschlägigen Untersuchungen zu dem Thema dieser Arbeit hat ersichtlich Gründe. An erster Stelle ist die schwierige Quellenlage zu nennen. Zweitens: Die herkömmliche, vornehmlich an der Analyse von Sachquellen28 orientierte Technikgeschichte ist von ihrem Ansatz her an Fehlschlägen in der Technikentwicklung oder gar an Versuchen der nachholenden Technikentwicklung ohne eigene Innovationsleistung selten interessiert. Die häufigen Mißerfolge deutscher Rüstungsfachleute in den zwei hier untersuchten lateinamerikanischen Staaten sind ihr deswegen kein Thema.29 Der Mangel an klaren positiven Ergebnissen, gekoppelt mit 28

Als Sachquellen sind zu verstehen: „Materialien, Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, Maschinen, Apparate, technische Anlagen, technische Modelle, Spielzeug etc." (Troitzsch/Wohlauf, Einleitung, S. 14). 29 So wird der von deutschen Luftfahrtingenieuren in Argentinien entwickelte und erfolgreich erprobte Strahljäger Pulqui II in gleich zwei Bänden der einschlägigen Reihe Die Deutsche Luftfahrt (Hrsg. von Theodor Benecke in Zusammenarbeit mit

27 dem politischen Kontext, in dem die deutschen Rüstungsfachleute in Lateinamerika ihre Arbeit verrichteten, erlaubt es zudem nicht - wie etwa im Falle der in den USA im Rahmen des Paperclip-Projektes tätigen deutschen Raketenexperten um Wernher von Braun - triumphierend einen Bogen (von Peenemünde zum Mond) zu schlagen. Anders als bei der Indienstnahme deutscher Wissenschaftler durch die westlichen Siegermächte, die von den Betroffenen als Bestätigung ihrer Tätigkeit bis 1945 interpretiert wurde, steht die Migration nach Lateinamerika in einem problematischen Zusammenhang. In dieser Hinsicht ähnelt das Wirken deutscher Rüstungsexperten in Lateinamerika - namentlich in Argentinien dem der in der Sowjetunion tätigen deutschen Wissenschaftler. Immerhin konnten sich die deutschen „Spezialisten", die nach 1945 in der Sowjetunion in der Atomforschung, der Luftfahrt- und Raketentechnik sowie anderen rüstungsindustriellen Zweigen tätig wurden, als Opfer stilisieren, gelangten sie doch größtenteils durch eine sorgfaltig geplante Zwangsverschickung in die Sowjetunion.30 Das konnten die nach Lateinamerika ausgewanderten Rüstungsexperten von sich nicht behaupten. Obwohl die deutsche Wissenschaftsmigration nach Lateinamerika in den Jahren unmittelbar nach 1945 bislang weitgehend unerforscht geblieben ist, existiert dennoch so etwas wie eine herrschende Meinung über die Gründe der Migration. Die häufige Gleichsetzung der deutschen Nachkriegsmigration nach Lateinamerika mit einer Flucht vor der Justiz entsteht offensichtlich aus einer Reihe von Elementen, die zusammengefügt in der Tat ein suggestives Bild ergeben. Hierzu gehört zunächst, daß gesuchte Kriegsverbrecher tatsächlich in lateinamerikanischen Staaten Zuflucht fanden. Adolf Eichmann war lediglich der berüchtigste unter ihnen. Ein weiteres Element stellt die unverhohlene Bewunderung gewisser führender Politiker Lateinamerikas für das besiegte nationalsozialistische Regime dar, sowie deren mehr oder weniger ausgeprägte ideologische Nähe zum Faschismus. Daß Teile der argentinischen Elite große Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland hegte, wurde immer wieder von der US-Regierung und -Publizistik der damaligen Zeit behauptet. Der Zeit-

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dem Deutschen Museum, dem Bundesverband der Deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie und der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt) behandelt; dagegen finden andere Arbeiten der migrierten deutschen Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien keine Erwähnung. Vgl. die grundlegende Studie von Albrecht/Heinemann-Grüder/Wellmann sowie die Besprechung in Kap. 4 dieser Arbeit.

28 punkt der argentinischen Kriegserklärung, einige Wochen vor der deutschen Kapitulation, sowie die spätere Beteuerung Peróns, die Kriegserklärung sei lediglich „pro forma" erfolgt, schienen das Bild Argentiniens als „Hort des Faschismus" zu bestätigen.31 Die Legende vom Vierten Reich, das von Argentinien aus errichtet werden sollte, fügt sich nahtlos in dieses Bild ein.32 Daß die Mehrzahl der nach Argentinien ausgewanderten Wissenschaftler auf illegalem Wege dorthin gelangte, häufig noch mit gefälschtem Paß und erfundener Identität, war in Argentinien bald kein Geheimnis mehr: Bereits während Peróns erster Regierungszeit, und noch stärker nach seinem Sturz im September 1955, gerieten die deutschen Wissenschaftler in innenpolitische Auseinandersetzungen, als der Vorwurf erhoben wurde, Perón habe Nazis ins Land geholt. So fügen sich die Mosaiksteinchen zu einem scheinbar eindeutigen Bild zusammen: Kriegsverbrecher des Dritten Reiches seien unter falschem Namen nach Lateinamerika, insbesondere in das NS-freundliche Argentinien, geflohen, um dort das Waffenarsenal der verbliebenen Sympathisanten Hitlers aufzubauen. Die Gründe für die Auswanderung aus Deutschland sowie für das Interesse Argentiniens an Rüstungsfachkräften werden in diesen Texten angenommen, aber nicht näher untersucht.33 Die Tätigkeit deutscher Rüstungsingenieure in Argentinien und Brasilien wird in einigen Migrationsstudien, die sich im Schwerpunkt mit anderen Themen befassen, am Rande erwähnt, so etwa in den Untersuchungen von Bower und Hunt über das US-amerikanische „Project Paperclip".34 Beide Untersuchungen verweisen auf Widersprüche zwischen der USamerikanischen Praxis der Verwendung deutscher Wissenschaftler und der gleichzeitig angestrebten Zurückdrängung deutschen Einflusses vom ame31

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Zur Aussage Peróns über die Kriegserklärung Argentiniens gegen das Deutsche Reich vgl. T. Luca de Tena u.a., Yo Juan Domingo Perón. Relato autobiográfico (Barcelona, 1976), S. 87. Zur Zeit der Kriegserklärung gegen Deutschland war Perón Kriegsminister in der Regierung Farrell. Für die Ursprünge des Mythos vom Vierten Reich siehe Ronald Newton, The United States, the German-Argentines, and the Myth of the Fourth Reich, 1943-47, in: HAHR 64:1 (Feb. 1984), S. 81-103; siehe auch Holger M. Meding (Hrsg.), Nationalsozialismus und Argentinien. Einflüsse und Nachwirkungen, Frankfurt a.M. 1995. Etwa: Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (Hrsg.), Der Griff nach der Bombe. Das deutsch-argentinischen Atomgeschäft, Berlin 1981; Michael Frank, Die letzte Bastion. Nazis in Argentinien, Hamburg 1962. Tom Bower, The Paperclip Conspiracy. The Hunt for the Nazi Scientists, Boston, Toronto 1987; Linda Hunt, Secret Agenda. The United States Government, Nazi Scientists, and Project Paperclip, 1945-1990, New York 1991.

29 rikanischen Kontinent. Thematisiert werden die sich aus dieser widersprüchlichen Haltung ergebenden diplomatischen Schwierigkeiten mit lateinamerikanischen Staaten und die Konflikte innerhalb der US-Regierung, nicht jedoch die Tätigkeit der deutschen Wissenschaftler in Lateinamerika. Eine Darstellung einiger der Rüstungsentwicklungsprojekte deutscher Migranten in Argentinien findet sich in Medings faktenreicher Studie der deutschsprachigen Nachkriegsemigration nach Argentinien, als Teilaspekt einer umfassenderen Thematik bleibt seine Behandlung der rüstungstechnischen Projekte notgedrungen überblicksartig.35 In Selbstdarstellungen der deutschen Gemeinde in Argentinien werden die sichtbaren Erfolge in den rüstungstechnischen Projekten hervorgehoben - etwa Tanks Strahljäger - , ohne daß nach dem Sinn oder den Kosten für das Aufnahmeland gefragt wird. Überhaupt bleibt in entsprechenden Darstellungen der gesamte Kontext der Rüstungsprojekte merkwürdig unterbelichtet; gefeiert werden regelmäßig singulare Leistungen einzelner Deutscher als Beleg für den besonderen Beitrag deutscher Wissenschaft zur Entwicklung des Gastlandes.16 Es tut der Leistung von Tank und seiner Mannschaft keinen Abbruch, ebendiesen Beitrag in Frage zu stellen, wie dies in der vorliegenden Arbeit erfolgt. Argentinische Darstellungen der relevanten Forschungsbereiche leiden hingegen häufig unter dem entgegengesetzten Manko, nämlich den deutschen Beitrag zur argentinischen Rüstungstechnologieentwicklung nahezu zu verschweigen. Der Grund hierfür dürfte in dem Streben liegen, gerade eigene, argentinische Leistungen herauszustreichen (so zum Beispiel in den offiziösen Würdigungen in der argentinischen Fachpresse anläßlich des vierzigjährigen Bestehens der Fábrica Militar de Aviones*1), daneben 35

Holger M. Meding, Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien 1945-1955, Köln, Weimar, Wien, 1992. Den Rüstungsprojekten der deutschen Migranten sind die Seiten 182-208 gewidmet. 36 Vgl. Wilhelm Lütge/Werner Hoffmann/Karl Wilhelm Körner, Geschichte des Deutschtums in Argentinien, Buenos Aires 1955, S. 309-335. Das Werk wurde vom Deutschen Klub in Buenos Aires anläßlich seines 100jährigen Bestehens herausgegeben. Dem Anlaß entsprechend ist der Ton selbstgefällig, die Darstellung glatt. 37 Vgl. DINFIA (Dirección Nacional de Fabricaciones e Investigaciones Aeronáuticas), 40° Aniversario de un orgullo nacional: DINFIA, Buenos Aires 1967. Zehn Jahre später erwähnt ein Leitartikel in der argentinischen Fachzeitschrift Aeroespacio den Beitrag der deutschen Migranten mit keinem Wort, obwohl er argentinische Flugzeuge, die sie entwarfen (Huanquero) oder an denen sie einen erheblichen Anteil hatten (Pucará), besonders hervorhebt; vgl. El cincuentenario, in: Aeroespacio (Sept./Okt. 1977), S. 4-5.

30 auch in der Tatsache, daß das Thema in Argentinien selbst wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit gesuchter Kriegsverbrecher zu den Wissenschaftlergruppen lange tabuisiert wurde. Die wenigen seriösen argentinischen Darstellungen zu Teilaspekten der Thematik leisten einer solchen Haltung - wohl aufgrund mangelnder Kenntnisse über die alliierte Politik der Inanspruchnahme deutscher Wissenschaftler und der gleichzeitigen Vorenthaltung nicht verwendbarer Wissenschaftler gegenüber anderen Ländern im Rahmen der „denial policy" - Vorschub, indem sämtliche auf nicht-legalem Wege ausgewanderte deutsche Wissenschaftler kurzerhand zu Kriegsverbrechern erklärt werden.38 Demgegenüber findet in Brasilien der deutsche Beitrag zur Entwicklung der Luftfahrtforschung des Landes durchaus Erwähnung.39 Es läßt sich vermuten, daß der unverkrampftere Umgang mit dieser Thematik in Brasilien damit zusammenhängt, daß die brasilianische Anwerbung von deutschen Fachleuten - anders als die argentinische - nie als Beleg für bedrohliche politische Absichten interpretiert wurde. Dies hängt mit dem kooperativen Verhältnis zwischen Brasilien und den USA zusammen, ein Verhältnis, das sowohl die brasilianische Anwerbung deutscher Rüstungsingenieure wie auch die zeitgenössische Publizistik darüber beeinflußte. Es scheint, als habe sich in bezug auf Argentinien die Geschichtsschreibung nicht von einem Interpretationsmuster befreien können, das durch das spannungsreiche Verhältnis zwischen Argentinien und den USA geprägt war, und das auch in jüngeren Darstellungen fortlebt. Der Mangel an gesicherten Erkenntnissen über die Nachkriegsmigration deutscher Rüstungsingenieure nach Argentinien und Brasilien und gleichzeitig die Verbreitung ungeprüfter Annahmen über ihr Wirken dort betrifft gleich mehrere Aspekte der Thematik. Das setzt ein bei der Gesamtzahl der ausgewanderten, im Rüstungsbereich tätigen Wissenschaftler, die gelegentlich viel höher eingeschätzt wird, als sich belegen läßt.40 38

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So etwa Kurt Tank und seine Mitarbeiter in der ansonsten fundierten Studie: Mario Mariscotti, El secreto atómico de Huemul. El origen de la energía atómica en la Argentina, Buenos Aires, 2.Aufl. 1987. Vgl. z.B.: Roberto Pereira de Andrade, A Construyo Aeronáutica no Brasil 19101976, Sao Paulo 1976. Michael Brzoska, Schlüssel ohne Schloß, Was können russische Atomwissenschaftler in der 3. Welt ausrichten?, in: epd-Entwicklungspolitik 5/92, S. 26-30, spricht von „mehrere(n) Hundert" deutscher Waffenbauer, die in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg nach Argentinien fanden. Frank, Die letzte Bastion, S. 75, schätzt die Größe der Gruppe Tank im argentinischen Córdoba über

31 Es setzt sich fort bei den unterstellten Motiven sowohl auf Seiten der Migranten wie auch auf seiten der Aufnahmeländer, die wie angeführt als politisch bedingt gelten. Dagegen finden sich zwar einzelne Projekte der deutschen Fachleute in Argentinien und Brasilien in technikgeschichtlichen Werken dargestellt. Aber auch hier gibt es gravierende Lücken: Die in dieser Untersuchung enthaltene Analyse des Nachbaus der Gleitbombe Hs 293 findet in der Literatur sonst keine Erwähnung. Dies ist erstaunlich, denn die Hs 293, „die folgenreichste Entwicklung"41 unter den ab 1932 in Deutschland erprobten unbemannten Flugkörpern, wird in technikgeschichtlichen Darstellungen ansonsten breit thematisiert. Daß diese Waffe bei Kriegsende und auch für technologisch entwickelte Staaten von beträchtlichem Interesse war, läßt sich daran ablesen, daß ihr Erfinder, Herbert Wagner, noch im Mai 1945 in die USA geflogen wurde. Der Nachbau der Gleitbombe beschäftigte immerhin die zweitgrößte Gruppe deutscher Rüstungsfachleute in Argentinien. Von solchen Lücken abgesehen leiden technikgeschichtliche Darstellungen der Rüstungsprojekte migrierter Deutschen in den lateinamerikanischen Staaten durchweg daran, daß die Sachquellen mit großer technischer, jedoch ohne sozialwissenschaftliche Kompetenz und ohne jeglichen Kontextbezug beschrieben werden.

1.5 Quellen Zum wenig befriedigenden Forschungsstand trägt zweifelsohne die ungünstige Quellenlage bei. Die Archive von militärischen Einrichtungen sind zum Teil nicht zugänglich (es blieben z.B. verschiedene Anträge auf Zugang zum Archiv des argentinischen Technischen Instituts der Streitkräfte, CITEFA, unbeantwortet). Ein weiteres Problem besteht im lockeren Umgang von Institutionen der Aufnahmeländer mit den Zeugnissen ihrer eigenen Geschichte: Dort, wo Zugang möglich war, blieb die Ausbeute

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sechsmal zu hoch ein, wenn er von „300 deutsche(n) Ingenieure(n) und Technikerin)" berichtet, die „an einem argentinischen Düsenflugzeug" arbeiteten. Tatsächlich lag die Zahl von Tanks deutschen Mitarbeitern bei 45. Joseph Hoppe, Femsehen als Waffe, Militär und Femsehen in Deutschland 1935-1950, in: Museum für Verkehr und Technik (Hrsg.), Ich diente nur der Technik. Sieben Karrieren zwischen 1940 und 1950 (Berliner Beiträge zur Technikgeschichte und Industriekultur, Schriftenreihe des Museums für Verkehr und Technik Berlin, Bd. 13), Berlin 1995, S. 53-88, S. 70. Der Band erschien als Ausstellungskatalog zur gleichnahmigen Ausstellung im Berliner Museum für Verkehr und Technik im Jahr 1995.

32 häufig dürftig. In gut geführten Archiven wie dem des brasilianischen Centro Tecnico Aeroespacial (CTA) zum Beispiel, der Wirkungsstätte von Henrich Focke und seinen fast 20 deutschen Mitarbeitern, fanden sich keine Unterlagen über dessen dort ausgeführte Projekte. Die Memoirenliteratur der deutschen Rüstungsingenieure, die nach 1945 nach Argentinien oder Brasilien gingen, ist äußerst spärlich und nicht immer ergiebig: Fokkes Autobiographie widmet seiner brasilianischen Entwicklungsarbeit lediglich ein paar Seiten - vielleicht, weil diese nicht von besonderem Erfolg gekrönt war.42 Es liegt ohnehin in der Natur der Sache, daß vom Urheber eines Artefaktes verfaßte Berichte über die eigene Tätigkeit keine objektive Quelle darstellen. Solche Selbstdarstellungen können wichtige Informationen liefern - etwa über Projektzielsetzungen, Arbeitsbedingungen usw. Gerade bei der Evaluierung von Projekten, denen der Erfolg versagt blieb, werden die Autoren geneigt sein, die Gründe des Fehlschlags eher in äußeren Umständen zu suchen.43 Die zeitgenössische (Fach)presse insbesondere der Aufnahmeländer stellt zwar eine ergiebige, aber gleichermaßen nicht unbedingt eine zuverlässige Quelle dar und läßt sich eher zur Illustration der propagandistischen Ausschlachtung technologischer Neuerungen denn als verläßliche Quelle von Informationen heranziehen. Standardwerke der deutschen Technikgeschichte44 andererseits befassen sich mit Auslandsentwicklungen nur insoweit, als diese technologische Innovationen darstellen und mindestens bis zum erfolgreichen Prototyp gedeihen, wie etwa Tanks in Argentinien konstruierter Strahljäger. Technikgeschichte dieser Art vermag zwar faktenreiche Darstellungen zur technischen Auslegung von Artefakten sowie zu deren Leistungen zu liefern und ist insofern ein unverzichtbares Hilfsmittel, läßt aber alles weitere - z.B. Produktionsbedingungen und -Schwierigkeiten, wirtschaftlichen und politischen Kontext, Genese und Sinn der Konstruktionen - völlig außer acht. Zudem finden in den fraglichen Technikgeschichten weder diejenigen technischen Entwicklungen Erwähnung, die gerade weil sie bescheidener konzipiert wurden, dem Aufnahmeland mehr Nutzen brachten, noch sol42 43 44

Henrich Focke, Mein Lebensweg, Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt, DLR-Mitt. 77-01, Köln 1977, S. 88-90. Wie etwa Reimar Horten und Peter f. Seiinger, Nurflügel. Die Geschichte der Horten-Flugzeuge 1933-1960, Graz 1983, S. 171-223. Etwa die von Theodor Benecke in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Museum, dem Bundesverband der Deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie und der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt herausgegebene Reihe: Die deutsche Luftfahrt, Koblenz.

33 che, die scheiterten - obwohl die Analyse des Mißerfolgs unter Umständen mehr über die Bedingungen des Technologietransfers in einem Entwicklungsland aussagt als die seltenen Erfolge. Es wurden Archivquellen unterschiedlicher Provenienz herangezogen, um diesem z. T. wenig befriedigendem Stand der gedruckten Quellen abzuhelfen. Die Akten der amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS) gaben Aufschluß über die US-amerikanische Haltung zu lateinamerikanischen Anwerbungsversuchen gegenüber deutschen Naturwissenschaftlern. Anhand von Beständen des britischen Public Record Office konnte die britische Verwendungspraxis gegenüber deutschen Naturwissenschaftlern zumindest in groben Zügen nachgezeichnet werden.45 Zur Überprüfung des politischen Profils des hier untersuchten Personenkreises, mithin zur Ergründung der Migrationsmotive, wurden Bestände des Bundesarchivs, Außenstelle Berlin-Zehlendorf (vormals Berlin Document Center), genutzt. Weitere Archivquellen waren in bezug auf einzelne Projekte der deutschen Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien aufschlußreich. Der argentinische Physiker Mario Mariscotti, Autor einer hervorragenden Studie über das argentinische Kernfusionsprogramm, stellte der Verfasserin großzügigerweise seine Materialsammlung zu diesem Thema zur Verfügung. Akten des U.S. Department of Energy, die die Reaktion der U.S. Atomic Energy Commission auf Peróns Bekanntmachung im Jahr 1951 dokumentieren, in Argentinien sei die thermonukleare Fusion erstmalig auf der Welt gelungen, wurden aufgrund einer Anfrage der Verfasserin unter dem Freedom of Information Act freigegeben. Das Archiv der argentinischen Comisión Nacional de Energía Atómica (CNEA) enthält Verzeichnisse der Forschungsarbeiten deutscher Nachkriegsmigranten und deren argentinischen Schülern und Schülerinnen, die es ermöglichen, den Beitrag migrierter Deutscher zu den Anfängen der nuklearen Grundlagenforschung in Argentinien einzuschätzen. In der Fábrica Militar de Aviones im argentinischen Córdoba werden Konstruktionszeichnungen der Entwürfe deutscher Luitfahrtingenieure aufbewahrt, die zur Rekonstruktion der - teilweise nicht (mehr) vorhandenen - Sachquellen dienen. In dem HubschrauberMuseum Bückeburg (Niedersachsen) befanden sich Arbeitsberichte betreffend Henrich Fockes brasilianisches Hubschrauberprojekt, die aus der Feder eines seiner damaligen deutschen Mitarbeiter in Säo José dos Campos stammen. Darin werden technische und organisatorische Probleme schonungslos analy45

Zur Zeit der Recherche lag keine Untersuchung zu diesem Bereich vor; inzwischen hat Carl Glatt eine umfangreiche Dissertation hierzu angefertigt, auf die in Kap. 4 eingegangen wird.

34 siert, während zur selben Zeit die internationale Fachpresse äußerst positiv über Fockes Projekt berichtete. Gerade dieser markante Kontrast zwischen fachöffentlicher Darstellung und Realität läßt es bedauerlich erscheinen, daß mehr solcher interner Quellen nicht zu erschließen waren. Neben solchen Archivbeständen bildeten die Auskünfte deutscher Wissenschaftler und Ingenieure sowie deren argentinischer bzw. brasilianischer Counterparts und Mitarbeiter eine wesentliche Quelle für diese Untersuchung. Diese Auskünfte wurden zum Teil durch Schriftverkehr, im wesentlichen aber durch ausführliche Befragungen gewonnen. Solche persönlich gefärbte Erinnerungen sind eine nicht unproblematische Quelle. In der Regel waren die Befragten zur Zeit, als die Untersuchung durchgeführt wurde, zwischen 70 und 80 Jahre alt und hatten über Ereignisse zu berichten, die mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert zurücklagen. Die eigene Verarbeitung (einschließlich von Verdrängungsprozessen, die in einigen wenigen Fällen offenkundig wurden, und die in anderen vermutet werden können) und die wegen des zeitlichen Abstandes unvermeidlichen Gedächtnislücken der Befragten machen solche Auskünfte zu einer Quelle, die keinesfalls unkritisch verwendet werden darf; die bekannten Vorbehalte gegenüber den Verfahren der Oral History treffen auf sie zu.46 Dennoch stellte die Befragung von Protagonisten eine unverzichtbare Quelle zur Ergänzung anderer Berichte dar und ermöglichte einen Blick hinter die Kulisse verschönender Darstellungen. Selbstredend bleiben jedoch solcherart gewonnene Informationen in ihrer Aussagekraft kritisch zu hinterfragen sowie gegen andere Quellen abzuwägen. Durch diese größtenteils mündlichen Befragungen von Zeitzeugen war es nicht nur möglich, wichtige Einzelheiten über die verschiedenen Forschungs- und Entwicklungsprojekte der deutschen Gruppen in Erfahrung zu bringen. Die Befragten gaben auch vielfach Hinweise auf andere Gruppen deutscher Experten, deren Tätigkeit bislang in der Literatur unerwähnt geblieben ist. Offensichtlich existierten zumindest lockere Kontakte zwischen den diversen Gruppen, wenn auch die Kenntnisse über andere Projekte häufig sehr vage waren. So wußten befragte Mitglieder der Gruppe 46

Vgl. Daniel Beraux (Hrsg.), Biography and Society. The Life History Approach in the Social Sciences, Beverley Hills 1981; David P. Henige, The Chronology of Oral Tradition. Quest for a Chimera, Oxford 1974; ders., Oral Historiography, London 1982; Trevor Lummis, Listening to History. The Authenticity of Oral Evidence, London 1987; Paul Thompson, The Voice of the Past. Oral History, 2. Aufl., Oxford 1988; Wilhelm Heinz Schröder (Hrsg.), Lebenslauf und Gesellschaft (Historisch-Sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 18), Stuttgart 1985.

35 Tank von der Existenz einer deutschen Raketengruppe, konnten jedoch über ihre Arbeit nichts Näheres berichten (es handelte sich um die Gruppe um Julius Henrici, die mit dem oben erwähnten Nachbau der Hs 293 betraut war), und auch eine Anzahl deutscher Eisenbahnfachleute wurde erwähnt.47 Solche Hinweise von Zeitzeugen konnten zumindest teilweise den nicht gewährten Zugang zu den Archiven militärischer Forschungseinrichtungen und das Fehlen von systematischen Erfassungen der Gesamtzahl der Rüstungsfachleute kompensieren.48 Obwohl nicht auszuschließen ist, daß Einzelwissenschaftler oder Kleingruppen nicht erfaßt wurden, ist es unwahrscheinlich, daß eine signifikante Zahl an Rüstungsmigranten übersehen wurde. Eine genaue Zahl zu ermitteln, wird wohl aufgrund der schwierigen Quellenlage in den Aufnahmeländern nie möglich sein.

1.6 Methode Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach Wissenschaftsmigration als Kanal des Rüstungstechnologietransfers in Entwicklungsländer. Angesichts des Mangels an Forschungsergebnissen zu dieser Art von Technologietransfer wird mit der vorliegenden Studie wissenschaftlich Neuland betreten. Dies macht eine explorative Orientierung erforderlich: Beabsichtigt wird, Arbeitshypothesen zum Thema vorzutragen. Diese beziehen sich auf die Kernfrage nach den Chancen von Technologietransfer im Rüstungsbereich durch Wissenschaftsmigration, aber auch auf die Motive sowohl der Anwerber als auch der Angeworbenen. Die Grundlage für die Hypothesenentwicklung bildet eine beschreibende Untersuchung der Tätigkeit deutscher Rüstungsfachleute in zwei lateinamerikanischen Staaten. Die Studie ist somit vergleichend angelegt. Es ist dies - so die These - ein Vergleich von zwei gleichen und abweichenden Fällen zugleich.49 Um diesen Sachverhalt anders auszudrücken: „notions of

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49

Die Arbeit dieser Gruppe wird in dieser Untersuchung nicht weiter verfolgt. Das Archiv des Vereins Deutscher Ingenieure in Argentinien (VDI-A) war hier nicht aufschlußreich, denn die im argentinischen Staatsdienst tätigen Rüstungsingenieure traten dem Verein in der Regel nicht bei und sind somit in der Mitgliederdatei nicht nachgewiesen. Zur Forschungsstrategie des Vergleichs zwischen gleichen bzw. abweichenden Fällen siehe David Collier, The Comparative Method: Two Decades of Change, in: Dankwart A. Rustow und Kenneth Paul Erickson (Hrsg.), Comparative Political

36 'similar' and 'different' are relative. Two cases which from one perspective are closely matched may contrast sharply from another perspective." 50 Argentinien und Brasilien waren sich recht ähnlich, was das Technologiegefälle gegenüber dem Deutschen Reich betrifft. Deutliche Parallelen lassen sich auch hinsichtlich der längerfristigen Zielsetzung der Etablierung einer möglichst autonomen Rüstungsindustrie in beiden Staaten ausmachen. Aber bereits der Weg zu diesem Ziel unterschied sich. Sie waren sich sehr ungleich in ihrer Praxis der Anwerbung von deutschen Rüstungstechnologen nach 1945. Dies spiegelt diverse Faktoren wider: Zunächst ist da das unterschiedliche Verhältnis der beiden Staaten Argentinien und Brasilien zu den USA zu nennen - im einen Fall konfliktbereit, im anderen auf Kooperation angelegt - , was sich direkt auf die Bereitschaft zur illegalen Anwerbung deutscher Experten auswirkte. Unterschiedliche Traditionen des deutschen Militäreinflusses in den beiden lateinamerikanischen Staaten scheinen sich ebenfalls auf die Anwerbungspraxis gegenüber deutschen Rüstungsfachleuten ausgewirkt zu haben. Um diesem vielschichtigen Kontext der Nachkriegsmigration deutscher Rüstungsfachleute nach Argentinien und Brasilien Rechnung zu tragen, mithin die verschiedenen Bestimmungsfaktoren der Migration zu erfassen, wird die Analyse der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten deutscher Rüstungsexperten in den zwei lateinamerikanischen Staaten in einen breiten Rahmen eingebettet. Zu diesen Rahmenbedingungen gehören die Bestrebungen der politisch-militärischen Eliten Argentiniens und Brasiliens zur industriellen Modernisierung, insbesondere auf dem Rüstungssektor, ferner der in beiden Staaten unterschiedliche Grad des deutschen Militäreinflusses bis 1939. Dazu gehört ebenfalls das jeweilige Verhältnis zu den USA, die in der Doppelrolle als Hegemonialmacht des amerikanischen Kontinents und gleichzeitige Besatzungsmacht im Nachkriegsdeutschland bestrebt waren, maßgeblichen Einfluß auf die Migration Deutscher nach Lateinamerika zu nehmen. Zu den Bestimmungsfaktoren im engeren Sinne gehört die Politik der Besatzungsmächte gegenüber deutscher Naturwissenschaft und Technik nach 1945. Bei der Analyse der einzelnen Projekte in der folgenden Untersuchung wird die Blickrichtung geändert: Eine möglichst genaue Erfassung der Leistungen - von daher auch der Proliferationsauswirkungen der Tätigkeit

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Dynamics. Global Research Perspectives, New York 1991, S. 7-31, sowie die dort angegebene Literatur. Ebenda, S. 17.

37 der deutschen Rüstungsingenieure - sowie der Schwierigkeiten, mit denen sie ihre Arbeit konfrontiert sahen, kommt nicht um eine detaillierte Berichterstattung über die konkrete Entwicklungsarbeit, eine Benennung der spezifischen technischen Herausforderungen herum. Denn nur so läßt sich nachvollziehen, welcher Art die Hindernisse waren bzw. wie Lösungen für die auftretenden Probleme gesucht und z.T. gefunden wurden. Der „technizistische" Einschlag stellt einen klaren Bruch gegenüber den breiter angelegten Kapiteln dar, in denen der Rahmen für diese Art des Technologietransfers analysiert wird, scheint aber zur Behandlung des Themas unverzichtbar. Radkaus Feststellung über das Problematische und gleichzeitig Notwendige der genauen Nachzeichnung technischer Einzelheiten auch in der sozialhistorisch geprägten Technikgeschichte ist zuzustimmen: „Kein Zweifel: die technischen Einzelheiten enthalten stets die Gefahr der 'Technik-Illusion', der Vorspiegelung vermeintlicher technischer Sachzwänge. Dennoch ist ein gewisses Interesse am technischen Detail nötig" nach Radkau - um „über eine unfruchtbare kulturphilosophische Kritik an 'der' Technik" hinauszugelangen und „konkrete Alternativen innerhalb bestimmter Technikbereiche in den Blick" zu bekommen.51 Ähnlich warnen Troitzsch und Wohlauf zwar davor, „der Auffassung von einer Eigendynamik der technischen Entwicklung Vorschub" zu leisten, stellen aber gleichzeitig fest, daß „erst die systematische Erfassung und Analyse explizit technischer Sachverhalte die notwendige Basis für eine Einordnung in gesellschaftliche Zusammenhänge" bilde.52 Im Kontext dieser Untersuchung über den Transfer von Rüstungstechnologie soll die Beschäftigung mit den technischen Einzelheiten, wenngleich auf einer anderen Ebene, so doch in Radkaus Sinne einer unergiebigen Pauschalierung entgegenwirken. Die Analyse dieser technischen Sachverhalte bildet denn auch die notwendige Grundlage für den anschließenden Versuch einer differenzierten Analyse und Bewertung der verschiedenen Einzelprojekte sowie des Gesamtertrages. Anders als bei den vorherigen Kapiteln, die in sich vergleichend angelegt sind, erfordert die Detailanalyse der Technologieprojekte eine getrennte Behandlung nach Land und Sachgebiet. Ergebnisse dieser projektspezifischen Analysen werden anschließend einer vergleichenden Bewertung unterzogen.

51 52

Radkau, Technik in Deutschland, S. 20. Troitzsch und Wohlauf, Einleitung, S. 15.

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1.7 Aufbau der Arbeit Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich der Aufbau der Arbeit. Die Kapitel 2 und 3 gehen auf argentinische und brasilianische Vorläufer ein, zum einen im Hinblick auf die allgemeine Tradition der industriellen - namentlich der rüstungsindustriellen - Modernisierung durch die Streitkräfte, zum anderen im Hinblick auf die Bedeutung deutscher Militärhilfe und - damit eng verflochten - deutscher Rüstungsexporte bzw. Lizenzproduktion. Das darauffolgende Kapitel 4 analysiert dann die unmittelbaren Bestimmungsfaktoren der Migration. Zunächst wird auf der Grundlage neuerer Forschung ein Überblick über die Politik der Besatzungsmächte gegenüber der militärischen Forschung, Entwicklung und Produktion im besetzten Deutschland geboten, wobei besondere Aufmerksamkeit der Haltung der USA zu lateinamerikanischen Anwerbungsversuchen gegenüber deutschen Fachkräften gilt. Unerläßlich für ein Verständnis der sehr unterschiedlichen Reaktionen Argentiniens und Brasiliens auf die U.S.amerikanischen Kontrollmaßnahmen ist die Berücksichtigung der außenpolitischen Traditionen beider Staaten. Auf diese wird kurz eingegangen, um schließlich den argentinischen bzw. brasilianischen Ertrag an deutschen Rüstungsexperten mit der Verwendungspraxis der Besatzungsmächte zu vergleichen. Mit diesen vier Kapiteln sollen die Rahmenbedingungen der Migration, die jeweiligen Interessen der Eliten Argentiniens und Brasiliens dabei, und die Spezifika der lateinamerikanischen Praxis gegenüber dem privilegierteren Zugang der Besatzungsmächte herausgearbeitet werden. Im darauffolgenden Kapitel (Kap. 5) wird die Perspektive gewechselt: Hier stehen die Migranten selbst im Zentrum. Ihre Motive für die Auswanderung nach Lateinamerika werden analysiert und die Umstände ihrer Auswanderung geschildert. In den zwei folgenden Kapiteln (Kap. 6 und 7) werden dann, nach Staaten getrennt, die einzelnen Projekte der Deutschen analysiert. Kapitel 8 vergleicht und bewertet die Ergebnisse der Tätigkeit deutscher Rüstungsfachleute in der lateinamerikanischen Migration. Schließlich wird im Kapitel 9 der Befund aus diesen zwei Fallbeispielen zusammengefaßt und im Lichte der aktuellen Debatte über Wissenschaftlermigration als Quelle der Rüstungsproliferation auf seine Verallgemeinerbarkeit hin überprüft.

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2. DIE STREITKRÄFTE ALS TRÄGER DER INDUSTRIELLEN MODERNISIERUNG IN ARGENTINIEN UND BRASILIEN 2.1 Vorbemerkung Die Verpflichtung deutscher Rüstungsingenieure nach Argentinien und Brasilien in den Jahren nach 1945 kann nicht losgelöst von dem Zusammenhang der besonderen Rolle der Streitkräfte im Industrialisierungsprozeß beider Staaten betrachtet werden: Die Anwerbung der Deutschen ergab sich nicht unvermittelt aus der Situation, die 1945 mit dem Verbot militärischer Forschung in Deutschland entstanden war, sondern reiht sich in eine längere Tradition des Erwerbs von ausländischer Expertise als Komponente einer Strategie der (rüstungs-)industriellen Modernisierung ein. Anläufe zum Aufbau der waffenproduzierenden sowie der grundlegenden Basisindustrien (etwa Stahl und Chemie) wurden nicht erst in der Nachkriegszeit unternommen; sie entstanden aber auch nicht erst in der Phase der importsubstituierenden Industrialisierung beider Länder in den dreißiger Jahren,1 sondern lassen sich bis 1

Diese These vertritt Victor Miliàri in seiner Studie der argentinischen Rüstungsproduktion. Er schreibt: „The creation of an arms industry was regarded as part of the development strategy adopted by Argentina in the 1930s. Self-sufficiency in arms production was seen as an extension of general import-substitution policies." Siehe Victor Millán, Argentina: schemes for glory, in Michael Brzoska/Thomas Ohlson (Hg.), Arms Production in,the Third World, (SIPRI) London/Philadelphia 1986, S. 35. Hingegen reichen die Bemühungen um einen systematischen Aufbau der Rüstungsindustrie in Argentinien und Brasilien bis in die frühen 1920er Jahre zurück und sind vor allem unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs entstanden; vgl. unten in diesem Kapitel. Zur Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung, die ab den späten vierziger Jahre von der 1948 gegründeten Wirtschaftskommission fur Lateinamerika (Comisión Económica para América Latina, CEPAL) propagiert wurde, siehe: Ruth Zimmerling, Die ursprüngliche CEPAL-Doktrin, in: Zeitschrift für Lateinamerika, 30/31 (1986), S. 27-55. Siehe auch: José Hodara, Prebisch y la CEPAL: Sustancia, trayectoria, y contexto institucional, Mexiko 1987; Cristóbal Kay, Latin American Theories of Development and Underdevelopment, London 1989. Zum Einfluß der argentinischen wirtschaftspolitischen Debatte auf das Denken von Raúl Prebisch, dem ersten Leiter der CEPAL, siehe: Juan Carlos Korol/Hilda Sabato, Incomplete Industrialization: An Ar-

40 zu den ersten Dekaden des Jahrhunderts zurückverfolgen. Ohne das Eintreten der Militärs für eine Strategie der forcierten industriellen Entwicklung und insbesondere ihr Bestreben, in der Waffentechnologie eine weitestgehende Autonomie zu erlangen, wäre die Anwerbung der deutschen Rüstungsfachleute wenig schlüssig gewesen. Im Zusammenhang der Modernisierungs- und Autonomiebestrebungen hingegen - die in beiden Ländern erkanntermaßen auf Know-how und Technologie aus dem Ausland angewiesen waren, zumindest in der Frühphase - erscheint sie als ein folgerichtiger Schritt. In diesem Kapitel werden die Bemühungen beider Länder um die Etablierung einer autonomen Rüstungsindustrie sowie das Selbstverständnis der Militärs als Träger einer industriellen Modernisierung erörtert. Diese Bemühungen trugen zwar in den beiden Ländern zu unterschiedlichen Zeiten Früchte, lassen sich aber sowohl in Argentinien als auch in Brasilien lange zurückverfolgen. Es läßt sich zeigen, daß es neben vielen Parallelen im Selbstverständnis der militärischen Eliten beider Staaten auch Unterschiede in der jeweiligen Strategie gab. Dies betrifft insbesondere die Frage nach der Rolle des Staates im Industrialisierungsprozeß. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt wurde die Schwäche des nationalen Unternehmertums, insbesondere ihr Kapitalmangel, als Hemmschuh der industriellen Entwicklung gesehen. Während aber in Brasilien Konsens herrschte, daß der Staat sich weitgehend aus der Industrie heraushalten und die Industrialisierung nach Möglichkeit nur indirekt durch Steuererleichterungen, Subventionen und Absatzgarantien fördern sollte, kamen die maßgeblichen argentinischen Militärs zu dem umgekehrten Schluß, daß sich der Staat durch seinen Militärapparat an der industriellen Modernisierung führend zu beteiligen habe. Es ist hier nicht beabsichtigt, einen weiteren Beitrag zur Debatte über die Funktionsbestimmung des Militärs bei der wirtschaftlichen Modernisierung im Kontext nachholender Entwicklungsprozesse zu liefern.2 Vielgentine Obsession, in: Latin American Research Review 25/1 (1990), S. 7-30; zu europäischen Einflüssen: E.V.K. Fitzgerald, ECLA and the Formation of Latin American Economic Doctrine, in: David Rock (Hrsg.), Latin America in the 1940s. War and Postwar Transitions, Berkeley u. Los Angeles, 1994, S. 89-107. Für eine Selbsteinschätzung seines wirtschaftspolitischen Denkens siehe Raul Prebisch, Five Stages in My Thinking on Development, in: Gerald M. Meier/Dudley Seers (Hrsg.), Pioneers in Development, New York 1984, S. 175-191. Ein kritischer Überblick über diese Debatte, mit präziser Darstellung der wichtigsten Positionen, findet sich in Jürgen Rüland/Nikolaus Werz, „Entwicklungsdiktatur" und Bedingungen von Demokratie. Von der „Entwicklungsdiktatur" zu

41 mehr sollen hier die Grundzüge der militärischen Modernisierungsbemühungen in Argentinien und Brasilien auf dem Gebiet der Rüstungsproduktion bis 1945 skizziert werden. Ziel dabei ist es, die Anwerbung ausländischer Waffentechniker als einen im Kontext der Strategie einer rüstungsindustriellen Autonomisierung konsequenten Schritt deutlich werden zu lassen.3 Da in beiden Staaten die ersten drei Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts als eine Phase der Konzipierung dieser Strategie sowie der ersten, zaghaften Realisierungsschritte anzusehen sind, wird in der nachfolgenden Darstellung eine entsprechende Periodisierung vorgenommen.

2.2 Brasilien 2.2.1 Von der Jahrhundertwende bis 1930 Strategien der industriellen Entwicklung wurden intensiv von militärischen Kreisen in Argentinien und Brasilien insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg entworfen, der den entscheidenden Einfluß neuartiger Waffentechnologien auf den Kriegsverlauf demonstriert hatte. Trotz des Einverständnisses über das Ziel der Industrialisierung blieb jedoch in der Praxis für lange Zeit die Beschaffung von Rüstungsgütem im Ausland das vordringliche Problem der brasilianischen Führung. Der desolate Zustand des Heeres, seine manifeste Untauglichkeit nicht nur zur Verteidigung der langen Landesgrenzen, sondern auch als effektives Instrument bei inneren Unruhen, und vor allem seine Unterlegenheit im Vergleich zu den argentinischen Truppen, ließen viele Pläne zur forcierten Industrialisierung, insbesondere zum Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie, angesichts dieser prioritären Aufgabe zurücktreten4.

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4

den Diktaturen ohne Entwicklung - Staat und Herrschaft in der politikwissenschaftlichen Dritte Welt-Forschung, in: Dritte Welt-Forschung, Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik, PVS Sonderheft 16/1985, S. 211-232; ausführlich zur Rolle des Militärs im Entwicklungsprozeß: Nicole Ball, Security and Economy in the Third World, Princeton 1988; Friedemann Büttner/Klaus Lindenberg/Ludger Reuke/Rüdiger Sielaff, Reform in Uniform? Militärherrschaft und Entwicklung in der Dritten Welt (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-EbertStiftung, Bd. 127), Bonn - Bad Godesberg 1976. Eine genauere Darstellung der Forschungsinstitute und Industriezweige in Argentinien und Brasilien, in denen die deutschen Rüstungsfachleute nach 1945 tätig wurden, findet sich unten (Kap. 6 und Kap. 7). Grundlegend hierzu: Stanley E. Hilton, The Armed Forces and Industrialists in Modem Brazil: The Drive for Military Autonomy (1889-1954), in: HAHR 62 (4),

42 Bereits um die Jahrhundertwende war für die brasilianische Elite offenkundig, daß das brasilianische Heer untauglich war. Der Kriegsminister in der Regierung Pena, General Hermes da Fonseca, bezeichnete den Zustand den Heeres als jämmerlich 5 - eine Einschätzung, die in den folgenden Jahrzehnten konstant blieb und die von ausländischen Beobachtern geteilt wurde. Die Unzulänglichkeiten des Heeres manifestierten sich wiederholt in der Unfähigkeit, auf innere Unordnung prompt und effektiv zu reagieren. Mehrere Aufstände konnten nur mit großer Mühe zerschlagen werden. Das Heer war kaum in der Lage, das Staatsterritorium vor Rebellen, geschweige denn, vor Angriffen von außen - und im strategischen Denken brasilianischer Militärs hieß dies konkret: von argentinischer Seite - zu schützen. Das Heer war überdies zerstritten; führende Offiziere waren immer wieder auf der Seite Aufständischer zu finden.6 Die Mängel der Streitkräfte betrafen die Ausrüstung, die Logistik, die Ausbildung und sogar den gesundheitlichen Zustand der Soldaten. Vergleiche zwischen der argentinischen und der brasilianischen Militärstärke, die in den dreißiger Jahren von Militärplanem angestellt wurden, fielen regelmäßig deutlich zugunsten Argentiniens aus - ein realistisches Urteil, wie Hilton schreibt.7 Aufgrund dieser offenkundigen Schwächen angesichts aktueller Herausforderungen durch Aufständische wurde zwar die Industrialisierung als längerfristiges Ziel immer wieder thematisiert, die prompte Beschaffung von Rüstungsgütem aber als vordringliches Gebot angesehen. Angesichts des embryonischen Zustandes der brasilianischen Industrie konnte dies nur heißen, Rüstungsgüter im Ausland zu beschaffen. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb Deutschland der Hauptlieferant von Waffen, Munition und optischen Ausrüstungen, nach der Ausschaltung Deutschlands aus dem internationalen Waffenhandel übernahm Frankreich in den zwanziger Jahren diesen Part.8 Die Abhängigkeit von ausländischen Produzenten brachte allerdings mehrere Nachteile mit sich. Brasiliens chronische Devisenknappheit setzte der Rüstungsbeschaffung enge Grenzen. Bestellte Waren wiesen häufig Mängel auf; gelegentlich wurde die Munition für bereits gekaufte Waffen nicht

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1982, S. 629-673. Siehe auch: José Marilo de Carvalho, Armed Forces and Politics in Brazil, 1930-45, HAHR 62 (2), 1982, S. 193-223. Vgl. Hilton, Armed Forces and Industrialists, S. 632. Vgl. de Carvalho, Armed Forces and Politics, S. 195 ff. Vgl. Hilton, Armed Forces, S. 633, siehe auch: Ders., Brazil and the Post-Versailles World: Elite Images and Foreign Policy Strategy, 1919-1929, in: JLAS 12 (Nov. 1980), S. 342-344. Hilton, Armed Forces, S. 634.

43 geliefert, so daß letztere nicht eingesetzt werden konnten. Die Anfälligkeit der Lieferungen für politische Auswirkungen, auf die Brasilien selber keinen Einfluß nehmen konnte, wurde insbesondere beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges deutlich. Das Ausweichen auf andere Lieferländer nach 1918 führte zu dem Problem einer Vielzahl von Waffentypen, bisweilen innerhalb einer einzigen militärischen Einheit. Neben dem Erwerb von Rüstungsgütern im Ausland wurde von der Jahrhundertwende an die Expansion der eigenen Rüstungsproduktion angestrebt. Neben Arsenalbetrieben des Heeres und der Marine bestand der brasilianische Rüstungssektor um 1900 lediglich aus drei Munitionsfabriken. Hier setzten auch die Modernisierungsbestrebungen an, unter anderem mit dem Kauf von deutschen Maschinen zur Herstellung von Munition. Neuartige Anlagen waren allerdings nur von begrenztem Nutzen, denn der Mangel an qualifizierten Technikern erwies sich damals wie auch in der Folgezeit immer wieder als hinderlich.9 „Nationalisierung" der Produktion im Sinne der Verwendung einheimischer Produkte zeichnete sich bereits vor 1930 als Zielsetzung der Politik ab.10 Immerhin konnte die Produktion von Artilleriegeschossen zwischen 1900 und 1914 auf ein Zwölffaches gesteigert werden - von 500.000 auf 6 Mio. jährlich. Eine neue Pulverfabrik, die 1908 in Piquete (Bundesstaat Säo Paulo) mit US-amerikanischen Maschinen und technischer Assistenz gebaut wurde, ergänzte die Eigenproduktion. Der Ausbau der Heeresarsenale unter Verwendung deutscher Ausrüstungen wurde ebenfalls am Anfang des Jahrhunderts angestrebt; auch hier litt das Projekt unter dem Mangel an Fachkräften. Der Weg zur Gründung eines neuen Marinearsenals dagegen (das spätere Arsenal da Marinha de Ilha das Cobras - AMIC) konnte wegen Finanzierungsproblemen erst in den späten 1920er Jahren durch Bewilligungen des Kongresses freigemacht werden." Rüstungsrelevante Grundindustrien wurden ebenfalls gefördert, wenn auch zunächst mit nur mageren Ergebnissen. Insbesondere der Ausbau der metallverarbeitenden Industrien wurde bereits vor 1914 als eine notwendige Bedingung für die Erlangung größerer Autonomie in der Rüstungsproduktion erkannt. Die Dringlichkeit einer erhöhten Stahlproduktion wurde durch die im

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Ebenda, S. 639. Ebenda, S. 641. Ebenda, S. 639 f.

44 Ersten Weltkrieg auftretenden Importschwierigkeiten noch unterstrichen.12 Neben dem Projekt der Reaktivierung einer staatlichen Eisenhütte wurde versucht, die Stahlproduktion durch Anreize an private Investoren anzukurbeln, etwa 1918 durch die Verabschiedung eines kontroversen Gesetzes zur Gewährung einer Konzession für den Export von Eisenerz als Gegenleistung für den Bau eines modernen Stahlwerkes.13 Anfang der zwanziger Jahre wurde mit belgischer Beteiligung die Belgo-Mineira- Stahlgesellschaft gegründet, die bis zum Bau des Volta-Redonda-Komplexes zwanzig Jahre später der größte Stahlhersteller Brasiliens blieb. Nicht alle diese Vorstöße konnten zur Realisierung gebracht werden; insbesondere das Konzessionsgeschäft, in Brasilien lange Zeit als Königsweg zur modernen Stahlindustrie gepriesen, scheiterte an politischem Widerstand und Finanzierungsschwierigkeiten.14 Dennoch bleiben diese Anläufe erwähnenswert als Beleg für das frühe Interesse der Militärs an der schwerindustriellen Entwicklung, die mit dem expliziten Ziel der militärischen Emanzipation gefördert wurde.15 Nach Hilton bildete sich während der Ersten Republik (bis 1930) ein Grundkonsens über den einzuschlagenden Weg heraus, der in den folgenden Jahrzehnten recht konstant blieb. Aus diesem Grunde, und nicht etwa wegen der tatsächlichen Leistungen auf dem Gebiet der Rüstungsproduktion, bezeichnet er jene Epoche als eine Schlüsselperiode in der Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes in Brasilien. Die zwei wesentlichen Elemente dieses Konsens' waren, erstens, die Erkenntnis, daß ein erheblich größeres Maß an Modernisierung und Autonomie in der Rüstungsproduktion vonnöten sei und, zweitens, daß nicht dem Staat, sondern Privatunternehmen die zentrale Rolle sowohl in der industriellen Entwicklung im allgemeinen als auch in der Rüstungsproduktion im besonderen zufallen sollte; im Idealfall wäre die Rolle der Streitkräfte auf technische Kontrollen zu beschränken.

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Zur Entwicklung der Stahlindustrie in Brasilien und die zentrale Rolle des Militärs darin, siehe John D. Wirth, The Politics of Brazilian Development, 1930-1954, Stanford 1970. Vgl. Wirth, S. 76-89; zur schließlich gescheiterten Konzession siehe auch Charles A. Gauld, The Last Titan, Percival Farquhar, Stanford 1964. Wirth, Politics of Brazilian Development, S. 76-89.

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Hilton, Armed Forces, S. 642.

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2.2.2 Nach 1930 Wenn auch die Notwendigkeit einer breiten industriellen Basis erkannt war, blieb Brasilien zunächst, auch in der Ära Vargas, auf ausländische Lieferungen angewiesen. Externe und interne Ereignisse ließen eine adäquate Ausrüstung von Heer und Marine als vordringlich erscheinen, denn die Bedrohungen, denen Brasilien in den Augen seiner herrschenden Elite zu widerstehen hatte, waren recht unmittelbar; dazu gehörten die Revolte des Bundesstaates Säo Paulo im Jahr 1932, die zum Bürgerkrieg ausartete, die Aufrüstung des traditionellen Rivalen Argentinien und die allgemeine politische Lage jener Jahre. Wie zuvor in der Ersten Republik mußte Brasilien mehrfach die Erfahrung machen, daß ausländische Lieferanten recht unzuverlässig waren - sei es, daß die gelieferten Waren von schlechter Qualität (mitunter sogar unbrauchbar) waren, sei es, daß zugesagte Rüstungsgüter überhaupt nicht geliefert wurde. Auch blieb der Devisenmangel ein chronisches Problem und setzte dem Kauf von Waffensystemen im Ausland enge Grenzen. In den dreißiger Jahren kam es erneut zu Geschäften mit dem traditionellen Lieferanten, Deutschland, wobei Brasiliens Zahlungsschwierigkeiten durch Kompensationsgeschäfte (Waffen gegen Baumwolle, Kaffee und Kakao) umgangen wurden.16 Das bedeutendste Geschäft dieser Art wurde kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausgehandelt: Im März 1938 bestellte Brasilien bei Krupp Waffen im Wert von etwa 100 Mio. US Dollar, wovon fünf Sechstel als Kompensationsgeschäft abgewickelt werden sollten. Politische Ereignisse - in diesem Fall der Beginn des Zweiten Weltkriegs - durchkreuzten das Geschäft; ein Teil der Waffen wurde von Deutschland für den Eigenbedarf requiriert, während die Schiffe mit den freigegebenen Gütern von Großbritannien im Zuge der Seeblockade gegen Deutschland am Auslaufen nach Brasilien gehindert wurden.17 Solche Episoden führten erneut die Abhängigkeit Brasiliens vor Augen, wie dies bereits im Ersten Weltkrieg erfahren wurde.

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17

Für eine detaillierte Beschreibung des sog. Askisystems, das bei Kompensationsgeschäften des Dritten Reiches angewendet wurde, siehe Frank D. McCann, The Brazilian-American Alliance 1937-1945, Princeton 1973, S. 150. Weitere Einzelheiten zu dem Waffengeschäft bei Hilton, Brazil and the Great Powers 1930-1939: The Politics of Trade Rivalry, Austin 1975, S. 118-129, 186-190. Nach einer Intervention der USA ließ Großbritannien schließlich die Schiffe auslaufen. Vgl. Frank McCann, Brazil, the United States and World War D: A Commentary, in: Diplomatie History 3/1 (Winter 1979), S. 59-76, S. 65.

46 Dennoch markierten die Jahre des Zweiten Weltkriegs einen Wendepunkt in Brasiliens Bemühungen um Rüstungsmodemisierung. 18 Für Washington war Brasiliens nordöstliche Küste die Achillesferse der Verteidigung der westlichen Hemisphäre, und Brasilien erhielt Militärhilfe zur Stärkung seiner Verteidigung.19 Nach der alliierten Landung in Nordafrika im November 1942 verschwand die Gefahr einer Invasion der Achsenmächte, womit Brasiliens Verhandlungsposition gegenüber den USA geschwächt wurde. Schließlich war die US-Hilfe für Brasilien als Beitrag zur Verteidigung des Kontinents gegen eine Invasion der Achsenmächte gedacht, während aus brasilianischer Sicht die Rüstungslieferungen vor allem der Stärkung der Verteidigung gegen Argentinien dienen sollten. Dennoch blieb Brasilien für die alliierte Sache wichtig: Bis Kriegsende waren die USA auf kriegswichtige Rohstoffe aus Brasilien - darunter Quarz und Kautschuk - angewiesen. Im Winter 1942-43 konnten aufgrund der schlechten Witterungsbedingungen Flugverbindungen über den Nordatlantik nicht aufrechterhalten werden, und fast der ganze Luftverkehr zwischen den USA und Europa bzw. Afrika mußte über Brasilien abgewickelt werden.20 Die Aufstellung der Forga Expedicionäria Brasileira (FEB), die eher gegen den Willen der USA am europäischen Krieg beteiligt war, sollte Washington von der Notwendigkeit überzeugen, Brasilien weiterhin als privilegierten Partner im Krieg zu behandeln. Nach Hilton verdeutlicht 18

Die positiven Auswirkungen der engen Zusammenarbeit zwischen den USA und Brasilien auf die Modernisierungsstrategie sollten allerdings nicht überbewertet werden. McCann hat gezeigt, daß trotz der Vorteile, die Brasilien aus seinem Schulterschluß mit den USA bezog, diese hinter den brasilianischen Erwartungen zurückblieben. Zudem wurden sie in dem Maße geringer, in dem die politischen Ereignisse es Brasilien unmöglich machte, zwischen Deutschland und den USA zu lavieren. Im Ergebnis sieht McCann Brasilien infolge der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der USA als einen klassischen Fall einer penetrierten Gesellschaft; vgl. McCann, Brazil, the United States and World War II, sowie ders., The Brazilian-American Alliance 1937-1945, Princeton 1974. Der kritischen Einschätzung McCanns wird eine positivere Bewertung der US-brasilianischen Zusammenarbeit entgegengehalten in Stanley E. Hilton, Brazilian Diplomacy and the Washington-Rio de Janeiro 'Axis' during the World War II Era, in: HAHR 59 (2) 1979, S. 201-231; siehe hierzu McCanns Erwiderung, Critique of Stanley E. Hilton's „Brazilian Diplomacy and the Washington-Rio de Janeiro 'Axis' during the World War II Era", in: HAHR 59 (4) 1979, S. 691-700. 19 75 % der Lend-Lease-Lieferungen nach Lateinamerika gingen an Brasilien; vgl. Irwin Gellman, Good Neighbor Diplomacy: United States Policies in Latin America, 1933-1945, Baltimore 1979, S. 137. 20 Gary Frank, Struggle for Hegemony in South America. Argentina, Brazil and the United States during the Second World War, Miami 1974, S. 36-7.

47 diese Episode auf drastische Weise die Abhängigkeit Brasiliens: „Rio de Janeiro was compelled to make a major policy demarche, one that it had not planned to make, because of its dependence upon a foreign power for the means of national defense."21 Hiltons Interpretation nimmt allerdings als gegeben hin, daß ein objektiver Zwang zur Entsendung von Truppen nach Europa bestanden habe. Dies scheint übertrieben: Nicht allein wegen des Gebots der nationalen Verteidigung wurden brasilianische Soldaten nach Europa geschickt, sondern auch in der Erwartung, daß Brasilien als einziger am Krieg beteiligter lateinamerikanischer Staat politisches Kapital aus seinem Engagement für die alliierte Sache schlagen werde. Bei den regierungsinternen Diskussionen über diese in Brasilien zunächst umstrittene Initiative wurde deutlich, daß die Verfechter der Entsendung der FEB mit diesem Schachzug Brasiliens Stellung in der Nachkriegsepoche stärken wollten. Frank nennt als Vargas' Motive die folgenden: „Raising new divisions (...) would strengthen Rio's hand at the peace table, enhance the nation's position in South America, and counter the growing numbers of the Argentine armed forces."22 Nicht zuletzt knüpfte Brasilien an die Initiative die Erwartung, daß die USA moderne Kampfausrüstungen für vier Infanteriedivisionen liefern würden.23 Schließlich sollte die Kriegsbeteiligung brasilianischer Truppen neben der Sicherstellung von weiteren Waffenlieferungen aus den USA insbesondere den brasilianischen Anspruch auf einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstreichen.24 Nachdem der Krieg in Europa beendet war und Washington die Regierung Vargas in Kenntnis setzte, daß fortan Militärhilfe im Rahmen des LendLease-Programms nur denjenigen unter den Alliierten gewährt werden könne, die sich im Krieg gegen Japan befanden, erfolgte - im Juni 1945 die brasilianische Kriegserklärung gegen Japan mit dem Zweck, Rüstungslieferungen aus den USA zu sichern. Das Manöver blieb erfolglos. Die Evidenz spricht nicht für Hiltons Annahme eines Sachzwangs, sondern für eine abgeschwächte Interpretation: Daß das Bestreben nach moderner Rüstung unter den gegebenen Bedingungen der Auslandsabhängigkeit mit einem Verlust an außenpolitischer Autonomie einherging. Die Forcierung der industriellen Entwicklung wurde in den dreißiger Jahren fortgesetzt, unter anderem mit Untersuchungen über die Kapazitä21 22 23 24

Hilton, Armed Forces, S. 651. Frank, Struggle for Hegemony, S. 37. Ebenda. Schließlich wurde lediglich eine Division nach Italien verschifft. McCann, Brazil, the United States, and World War II, S. 73.

48 ten der einheimischen Industrie mit dem Ziel einer genauen Erfassung. Im Jahr 1931 wurde eine Kommission gegründet, die die Unternehmen der metallverarbeitenden Industrie zu erfassen hatte; im selben Jahr wurde auch die CNS (Commissäo Nacional Siderürgica) gegründet; im darauffolgenden Jahr setzte Vargas eine weitere Kommission ein, die die Möglichkeiten der Errichtung eines Flugzeugwerks zu untersuchen hatte. Auch setzte sich der Aufbau rüstungsrelevanter Industrien fort: Am Ende der dreißiger Jahre wurden vom Heer in Brasilien entwickelte Flugzeuge mit US-amerikanischen Motoren, von der Marine Focke-Wulf Trainingsflugzeuge unter Lizenz produziert.25 Während des Krieges wurde der Erwerb vollständiger Waffenfabriken von den USA zu einem primären Ziel, in der Hoffnung, damit die Abhängigkeit von ausländischen Waffenlieferungen zu reduzieren. Verhandlungen darüber wurden allerdings erst 1944 aufgenommen und hatten bis Kriegsende zu keinem Ergebnis geführt. Symbol und Herzstück aller Modernisierungsbemühungen wurde jedoch das moderne Stahlwerk, dessen Bau 1943 begonnen wurde. Wie bereits erwähnt, war schon zu Beginn des Jahrhunderts versucht worden, durch finanzielle Anreize die Stahlproduktion zu erhöhen, und in den folgenden Jahrzehnten blieb dieses Vorhaben ein Anliegen der militärischen und industriellen Elite. Angesichts des Bedarfs an ausländischem Kapital zur Finanzierung der Projekte und aufgrund der Vorbehalte gewisser Kreise gegen eine befürchtete ausländische Einflußnahme auf eine solche Schlüsselindustrie konnte bis Ende der dreißiger Jahre keines der diversen Projekte realisiert werden. Im Rahmen von Lend-Lease erhielt Brasilien schließlich 20 Mio US Dollar und technische Unterstützung für die Errichtung eines integrierten Stahlwerks mit einer ursprünglichen Kapazität von jährlich 335 000 Tonnen. Die 1941 gegründete Companhia Nacional Siderürgica, eine gemischte Gesellschaft mit staatlicher und privater Beteiligung, konnte schon ab 1947 die Kontrolle der Stahlwerke übernehmen, nachdem die Leitung zunächst bei dem mit der Konstruktion beauftragten US-amerikanischen Maschinenbauunternehmen geblieben war. Die Bedeutung des Stahlkomplexes in Volta Redonda lag nicht nur darin, daß das Stahlwerk in der Lage war, Brasiliens jährliche Stahlproduktion sofort zu verdoppeln. Es zog auch weitere moderne Industrien nach sich und wurde durch die vorbildliche Ausstattung der dazugehörigen Siedlung (die

25

Vgl. Focke, Lebensweg, S. 83.

49 Companhia Nacional Siderúrgica ließ sich diese 10 Mio Dollar kosten) als Modell einer harmonisch-hierarchischen Industriegemeinschaft zum Symbol des paternalistisch-korporatistischen Estado Novo schlechthin.26 Bei all diesen Projekten blieb die Vorliebe für eine Einbeziehung des Privatkapitals bzw. die Beteiligung privatwirtschaftlicher Unternehmen auch in den dreißiger und vierziger Jahren bestehen. 'Nationalisierung' der Rüstungsproduktion hieß nicht Verstaatlichung, sondern die Herstellung von Gütern in Brasilien unter weitestgehender Verwendung brasilianischer Rohstoffe. Die bis 1945 stetig anwachsende Zahl privatwirtschaftlich organisierter Unternehmen, die Heer und Marine belieferten, stellte nicht nur Grundprodukte - etwa Stahl, Kupfer und Aluminium - , sondern auch Zubehör für Waffen und in einigen Fällen sogar die Endprodukte selber, etwa Munition, her. Die Allianz zwischen dem Militär und der privaten Wirtschaft wurde im Zuge der 1939 bei Kriegsausbruch einsetzenden industriellen Mobilisierung weiter vertieft. Wenngleich der Ausstoß der staatlichen Rüstungsbetriebe in den Jahren ab 1942, als Brasilien Kriegspartei wurde, stark anstieg,27 wurde die Diversifikation der einheimischen Waffenproduktion im wesentlichen durch die Kooperation mit der privaten Industrie und durch Beteiligung privater Investoren erreicht. Eine staatliche Motorenfabrik, die Fábrica Nacional de Motores (FNM), welche dem Transportministerium unterstand und Motoren der US-Firma CurtissWright herstellte, war die einzige rein staatliche Neugründung dieser Jahre. Dies kontrastiert stark mit der argentinischen Entwicklung, wo die Tendenz vorherrschte, nicht nur die Rüstungsproduktion im engeren Sinne, sondern auch die Grund- und Zubehörindustrien unter ausschließlicher militärischer Kontrolle zu halten. 26

27

Zu den positiven Auswirkungen des Stahlkomplexes auf die brasilianische Wirtschaft vgl: Wirth, Politics of Brazilian Development, S. 126. Zu Volta Redonda als Modellsiedlung, konzipiert als Symbol des Fortschritts, ebenda, S. 120. Der 1937 von Vargas proklamierte Estado Novo stellte einen Bruch mit der Tradition des liberalen laissez-faire Staates dar und war - wie das nach dem Zweiten Weltkrieg von Perön proklamierte Nueva Argentina - durch die Übernahme einer aktiven sozialpolitischen und ökonomischen Rolle durch den Staat sowie durch den Versuch, die entstehende industrielle Arbeiterschaft unter paternalistischem Vorzeichen zu integrieren, gekennzeichnet. Zum Estado Novo siehe Edgard Carone. O Estado Novo (1937-1945), Rio de Janeiro 1976; Thomas E. Skidmore, Politics in Brazil. 1930-1964: An Experiment in Democracy, New York 1967, insb. Kap. I: zum Peronismus siehe die grundlegende Studie von Peter Waldmann. Der Peronismus. 1943-1955. Hamburg 1974. Vgl. Hilton, Armed Forces, S. 662.

50 Die Strategie der Autonomisierung der Rüstungsproduktion hatte in den dreißiger und vierziger Jahren zweifelsohne Fortschritte gebracht, dennoch blieb Brasilien auch nach 1945 in starkem Maße von ausländischen Rüstungsproduzenten abhängig. Es waren nunmehr die USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg Hauptlieferant wurden. Aus brasilianischer Sicht erwiesen sie sich erneut als unzuverlässig. Dies führte zu einer Suche nach weiteren Anbietern (u.a. Finnen aus Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich).28 Eine Forcierung der industriellen Entwicklung, insbesondere auf dem Sektor der Waffenproduktion, blieb aber neben den Rüstungskäufen der Kern der Bemühungen um größere Autonomie. Die Strategie der militär-industriellen Entwicklung in der Nachkriegsepoche folgte im wesentlichen den Richtlinien, die bereits in der Zwischenkriegszeit entwickelt worden waren. Aufträge wurden nur dann von den Streitkräften ans Ausland vergeben, wenn kein einheimischer Lieferant den Bedarf decken konnte; dasselbe galt für Importgenehmigungen für kriegsrelevante Güter. Nach wie vor bildete der Mangel an qualifizierten Technikern und Ingenieuren ein beträchtliches Hindernis auf dem Wege zur autonomen Rüstungsindustrie, ein Problem, das auf dreierlei Weise gelöst werden sollte: Durch Verbesserungen der technischen Ausbildung der Streitkräfte, durch die Entsendung von Ingenieuren in die USA und nach Europa und durch die Verpflichtung europäischer und USamerikanischer Ingenieure und Techniker an brasilianischen Rüstungsbetrieben. Waffenkäufe im Ausland wurden häufig an die Bedingung geknüpft, daß der Transfer der dazugehörigen Produktionstechnologie gewährleistet werden mußte, etwa durch Vergabe von Patentrechten, Blaupausen und der notwendigen Werkzeugmaschinen, oder auch durch die Verpflichtung des Verkäufers, technische Fortbildung für Offiziere der brasilianischen Streitkräfte in den eigenen Betrieben anzubieten.29 In seiner Untersuchung der Rolle der brasilianischen Streitkräfte in der Industrialisierung faßt Hilton das Ergebnis dieser langfristig verfolgten Strategie recht anschaulich zusammen, weshalb seine Schilderung an dieser Stelle ausgiebig wiedergegeben wird. Hilton schreibt: „By the end of the Vargas era something important clearly had occurred in the military-industrial sector during the preceding quarter of a century. Before the Revolution of 1930, Brazil neither built nor assembled airplanes, naval construction was extremely limited, and its 28 29

Ebenda, S. 660. Ebenda, S. 670-1.

51 few arms and munition plants were poorly equipped, inadequately manned, and their range of activities severely circumscribed, focusing primarily on small arms cartridges and weapons repair. The role of the private sector in defense production was minimal, and was limited to light manufactures and low-technology items. Under the impact of grave international challenges in the 1930s and 1940s, however, national leaders gave systematic emphasis to industrial 'mobilization' as a means of strengthening the country against external threat. The supreme goal of autonomy was a distant one, but at every hand they sought to reduce dependence on overseas arms' markets whose interests, history had demonstrated, often diverged from Brazil's. The collaboration of private industry was judged vital to a modern system of national defense; indeed, military authorities throughout the first half of the century were firmly opposed, both as a matter of principle and on practical grounds, to extensive state industrial activity. That was why, especially after 1930, military authorities, while expanding the output of indispensable federal plants, energetically strove to attract an increasing variety of private firms to defense work through contracts, loan endorsements, tax favors, and technical assistance. (...) By the mid-1950s an array of civilian factories was cooperating with the armed forces, and projects such as the automotive industry were under way that would open up new dimensions for military production." 10

2.3 Argentinien 2.3.1 Von der Jahrhundertwende bis 1930 Die Entwicklung in Argentinien weist starke Parallelen zu der in Brasilien auf: Es läßt sich dieselbe Besorgnis um Abhängigkeit von externen Einflüssen feststellen, woraus sich die Forderung nach dem Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie ableitet. In einem Punkt unterscheidet sich das Denken der führenden argentinischen Militärs, die an der Erarbeitung von Industrialisierungsplänen und dem Aufbau der Rüstungsproduktion im Land beteiligt waren, von dem ihrer brasilianischen Kollegen: In Brasilien bildete sich bereits vor 1930 der auch später herrschende Konsens heraus, 30

Ebenda, S. 673.

52 die industrielle Produktion - auch von Kriegsgütem - möglichst in den Händen von Privatunternehmen zu lassen, wobei die Rolle des Staates sich darauf beschränken sollte, Investitionsanreize etwa durch Steuervorteile und Subventionen zu gewährleisten und die Abnahme gewisser Produkte sicherzustellen. Hingegen sah die argentinische militärische Elite angesichts des nur embryonalen Entwicklungsstandes der einheimischen Industrie die Lösung in der Errichtung von Industriebetrieben, die unmittelbar den Militärs unterstellt blieben. General Manuel Savio etwa, einer der konsequentesten und einflußreichsten Verfechter der militärischen Industrialisierung, zog aus seiner Beschäftigung mit Problemen der industriellen Mobilisierung den Schluß, daß es leichter sei, Militärbetriebe in Friedenszeiten für die zivile Produktion arbeiten zu lassen, als umgekehrt zivile Industrien in Kriegszeiten kurzfristig auf die Bedürfnisse der Militärs umzustellen.11 So entstanden in Argentinien in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren Militärfabriken nicht nur zur Herstellung von Munition und Kriegsgerät im engeren Sinne, sondern auch zur Entfaltung eines breiten Spektrums von industriellen Aktivitäten, von der Herstellung von landwirtschaftlichen Maschinen bis hin zur Stahlproduktion. Der enorme Einfluß der argentinischen Militärs in den ökonomischen Aktivitäten des Landes blieb bis in die achtziger Jahre bestehen und stellte einen nicht unwichtigen Faktor ihrer politischen Macht dar. Die argentinischen Bemühungen um eine Förderung der Rüstungsproduktion erhielten wie auch im Nachbarland Brasilien wesentliche Impulse durch den Ersten Weltkrieg. Argentinische Militärs nahmen zur Kenntnis, daß künftig moderne Waffentechnologie und insbesondere die Luftwaffe für den Ausgang eines militärischen Konfliktes von ausschlaggebender Bedeutung sein würde. Argentinien war ebensowenig wie Brasilien in der Lage, solche Waffen selbst zu produzieren, und wie Brasilien hatte das Land Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rüstungsgütem im Ausland. Auf diese Schwierigkeiten wies José Félix Uriburu32 in einem 1921 erschienenen Artikel in der Zeitung La Nación hin. Uriburu regte an, mittels ausländischer Lizenzen beim Waffenbau in Argentinien voranzukommen. Zu den Entwicklungen in den Nachbarstaaten schrieb er: „Die Kammern Brasiliens und Chiles haben jüngst Fonds genehmigt, die zum Er31

32

Alberto S.J. de Paula/María Haydée Martín/Ramón Gutiérrez, Los ingenieros militares y sus precursores en el desarrollo argentino (1930-1980), hrsg. Dirección General de Fabricaciones Militares, Buenos Aires 1980, S. 28. Zu Uriburu siehe unten, Kap. 3.

53 werb von Kriegsmaterial bestimmt sind (...) (I)n beiden Ländern ist für eine gewiß nicht ferne Zukunft das Problem der ökonomischen Abhängigkeit gelöst worden, denn sie haben sich von Käufern zu Produzenten von Stahl, Waffen und Geschossen entwickelt, zumindest zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse; auch bei uns muß die Frage der ökonomischen Unabhängigkeit in Sachen Waffen angegangen und mit größter Dringlichkeit gelöst werden."" Einen ähnlichen Standpunkt nahm General Agustín Justo ein. Als Kriegsminister in der Regierung Marcelo T. de Alvear von 1922-28 plädierte er entschieden für den Aufbau der Rüstungsproduktion und, als notwendiges Korrelat, der Schwerindustrie des Landes. In einer Denkschrift, die der General als Kriegsminister verfaßte, stellte er den desolaten Zustand der Arsenalbetriebe fest. Das Arsenal San Lorenzo, obwohl es „eine Fabrik zur Herstellung von Artilleriegeschossen sein sollte, ist in Wirklichkeit eine große Werkstatt und nichts mehr"; das Arsenal José María Rojas sei im Grunde nichts als ein Waffenlager und „auch davon hat es nichts außer im Namen."34 Die eigene Produktion war also mehr als dürftig. Dabei waren Rüstungsgüter laut Justo auch nicht importiert worden: Zwischen 1912 und 1922, fährt er fort, sei „nicht ein Körnchen Pulver noch eine einzige Kriegswaffe" importiert worden, und dies sei um so bedenklicher, da die Waffentechnologie während des Ersten Weltkrieges gewaltige Fortschritte gemacht habe: „Der letzte Krieg veränderte auf grundlegende Weise die Waffen; viele von denen, die 1914 eingesetzt wurden, sind beinahe Kinderspielzeuge im Vergleich zu den potenten, die im Verlauf der Kriegshandlungen entstanden."35 Um diesem Mangel abzuhelfen, legten Justo und Staatspräsident de Alvear im Jahr 1923 dem Kongreß das geheime Gesetz Nr. 11.266 vor, das im selben Jahr in Kraft trat. Es stellte ein ehrgeiziges Projekt zum Aufbau der Streitkräfte durch Erhöhung der Truppenzahl und durch die Ausrüstung mit modernen Waffen dar, die nach Möglichkeit in Argentinien hergestellt werden sollten. Unter anderem wurde vorgesehen, Fabriken für die Herstellung von Flugzeugen, Schießpulver und Granaten sowie zur Stahlherstellung zu gründen. Insgesamt sieben verschiedene Werke sollten errichtet werden, doch fürs erste

33

José Félix Uriburu, La renovación del material bélico, in: La Nación, 21. Jan. 1921, zitiert nach: Alberto S.J. de Paula, Restructuración operativa de la industria bélica argentina, in: Ders. u.a. Ingenieros militares, S. 65-83, S. 66-67.

34 35

Zitiert nach de Paula, Restructuración, S. 70. Ebenda.

54 kam es lediglich zur Gründung der Flugzeugfabrik Fábrica Militar de Aviones (FMA) in Córdoba,36 während die übrigen Rüstungswerke erst später entstanden. So wurden einige dieser in den frühen zwanziger Jahren anvisierten Projekte in den dreißiger Jahren realisiert, als Justo, der Verfechter des militär-industriellen Komplexes, das Amt des Staatspräsidenten bekleidete (1932-38); andere wurden erst in den vierziger Jahren in Angriff genommen. Wie in Brasilien bemühte sich auch in Argentinien die militärische Führung um den Erwerb von Waffenproduktionsanlagen. So wurden zwischen 1927 und 1928 Motoren und Maschinen importiert, um die Herstellung von Gewehren und Karabinern (Mauser), Maschinengewehren (Madser) und Pistolen (Colt) im Lande zu besorgen.37 Allerdings vermerkt eine offiziöse Darstellung der argentinischen Militärfabriken, daß die Produktionsanlagen „nicht in Betrieb genommen wurden, sondern in ihren Verpackungen" blieben; auch hier wurde das Projekt erst während der Präsidentschaft Justos erneut in Angriff genommen.38 Der Vorfall ist nicht singular: auch nach 1945 wurden teuere Fabrikanlagen importiert, aber nie montiert.39 Zulieferindustrien entstanden aus dem Bedarf an Grundstoffen für die Rüstungsproduktion. Dies war der Fall bei der Pulver- und Sprengstoffabrik Villa Maria (Provinz Córdoba). 1926 wurde dort ein Areal von 200 ha für die im Gesetz von 1923 vorgesehene Fabrik erworben, doch harrte dieses Projekt wie viele andere bis in die späten dreißiger Jahre seiner Verwirklichung. Erst dann wurde mit der Rodung des Bodens und dem Bau von Werkhallen begonnen. Die Angelegenheit erschien mittlerweile dringlich, denn die Reserven an Schießpulver waren im Jahr 1940 fast erschöpft. Da die notwendigen Maschinen und Ausrüstungen aus Europa importiert werden mußten, kam es zu weiteren kriegsbedingten Verzögerungen. Die Verschiffung verschleppte sich, und manche der bestellten Maschinen kamen überhaupt nicht an.40 Auch die Beschaffung von Zwischenprodukten bereitete Schwierigkeiten. Angestrebt wurde, nach Möglichkeit einheimische Stoffe zu verwenden, doch fehlte es Argentinien an Toluol und Salpetersäure, notwendige Vorprodukte für die Herstellung von Trotyl. So zog die Sprengstoffproduktion „backward-linkage"-Effekte nach sich: im Mai 36 37 38 39 40

Zur FMA siehe auch unten, Kap. 6. Angaben zu den lizenzvergebenden Firmen nach de Paula, Restructuración, S. 71. de Paula,Restructuración, S. 71. Siehe unten, Kap. 6. de Paula, Restructuración, S. 78.

55 1942 wurde von der kurz zuvor gegründeten Generaldirektion der Militärmanufakturen (Dirección General de Fabricaciones Militares, DGFM) beschlossen, eine Anlage zur Gewinnung von Salpetersäure aus importiertem chilenischem Nitrat zu errichten, und drei Monate später wurde eine weitere Fabrik für die Herstellung von synthetischem Toluol gegründet.

2.3.2 Nach 1930 Unzufriedenheit in Militärkreisen mit dem verschleppten Gang der Rüstungsbeschaffung und -Produktion während der Regierung von Yrigoyen spielte eine Rolle bei dem Militärputsch vom 6. September 1930, der eine Tradition militärischer Einmischung in die bis dahin zivile argentinische Politik begründete, die erst 1983 ihr Ende fand.41 Die nachfolgende Regierung des Generals José Félix Uriburu setzte in diesem Punkt allerdings keine neuen Akzente.42 Uriburu gehörte zu den entschiedenen Befürwortern einer forcierten Industrialisierung unter der Ägide der Militärs. Insbesondere hatte er sich für den Aufbau einer autonomen Rüstungsindustrie stark gemacht. So ist die Zurückhaltung seiner Regierung in diesem Punkt nicht etwa auf eine Abneigung gegen die Modernisierungsstrategie zurückzuführen - letztere scheint unter den führenden Militärs Konsens gewesen zu sein - , sondern auf die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen sich Argentinien infolge der Weltwirtschaftskrise und des Zusammenbruchs seiner traditionellen Absatzmärkte ausgesetzt sah. Erst unter seinem Nachfolger, General Agustín Justo (Staatspräsident 1932-38), der als Kriegsminister in der Regierung de Alvear wesentlichen Anteil an der Entstehung des Gesetzes aus dem Jahr 1923 gehabt hatte, kam es zu neuen Impulsen zur Realisierung der ein Jahrzehnt zuvor formulierten Projekte. Bis Mitte der dreißiger Jahre waren insgesamt sieben Militärfabriken geschaffen worden43, wobei einige, wie etwa die Flugzeugfabrik, eine kontinuierliche Produktion aufwiesen, während andere sich noch im Aufbau 41 42 43

Zum Putsch gegen Yrigoyen siehe Robert Potash, The Army and Politics in Argentina 1928-1945. Yrigoyen to Perón, Stanford 1969, S. 29-54. Ebenda, S. 63 f. Zur Herstellung von Flugzeugen, Stahl, Nachrichtenmaterial, Handwaffen, Handwaffenmunition, Artilleriemunition sowie Pulver und Sprengstoffen; vgl. Maria Haydée Martín, Estructuración industrial de la ingeniería militar, in: de Paula u.a.. Los ingenieros militares, S. 85-126, S. 91.

56 befanden. Die Fabriken wurden 1936 durch die Gründung der Direktion der Militärfabriken (Dirección de Fábricas Militares, DFM) organisatorisch unter eine Gesamtleitung gestellt. Die DFM konstituierte ihrerseits einen Teil der neugeschaffenen Generaldirektion für Heeresmaterial {Dirección General del Material del Ejército, DGME), deren zweiter Zweig von der Direktion der Kriegsarsenale (Dirección de Arsenales de Guerra, DAG) gebildet wurde. Die neue Generaldirektion löste die zwei bestehenden (für Arsenale und Nachrichtenwesen) ab; ihr unterstand fortan „alles, was die Arsenale, Pulvermagazine, Fabriken, Elektrizitätswerke, Nachrichtenmaterial, Munitionsversorgung, militärische Fahrzeuge und Ausrüstungen, Reparatur und Inspektion von Waffen" betraf. 44 Diese Zuständigkeiten wurden nunmehr zwischen den zwei neuen Direktionen (für Fabriken und für Arsenale) geteilt. Der Direktion der Militärfabriken oblag die Überwachung der schon bestehenden und noch zu gründenden Fabriken, während die Direktion der Arsenale die Funktion hatte, Waffen und Ausrüstungen zu verteilen, sie zu warten und die Waffendepots instandzuhalten. Erster Direktor der neuen DFM wurde Oberst Manuel Savio, seit 1930 Leiter der Technischen Hochschule des Heeres (Escuela Técnica Superior) und einer der aktivsten Verfechter einer zentralen Rolle des Militärs in der industriellen Modernisierung. In seiner Position als Direktor der DFM konnte sich Savio einen Überblick über die Arbeit der Militärfabriken verschaffen, der ihn zu einer kritischen Bestandsaufnahme und - nur anderthalb Jahre nach der geschilderten organisatorischen Neugestaltung - zu dem Projekt einer erneuten Reorganisation veranlaßte. Nach Savios Befund leisteten die Fabriken längst nicht die Produktion, die zur Deckung des militärischen Bedarfs notwendig wäre. Nicht einmal genügend Munition sei vorhanden, um den sehr bescheidenen Anforderungen der Ausbildung zu genügen, stellte er fest, und die unzulängliche Arbeitsweise der Fabriken stelle deren weitere Existenz in Frage: Wenn die Fabriken „in dem jetzigen Zustand weitermachen, werden sie recht bald zugrundegehen." Das Grundproblem identifizierte er im Mangel an Koordination zwischen den einzelnen Fabriken und in der fehlenden Berücksichtigung der sonstigen Industrie Argentiniens. 45 Savio sah die Lösung in

44 45

S o das Gründungsdekret der DFM vom 24. Dezember 1936, zitiert nach Martin, Estructuración industrial, S. 92. Vgl. Savios Begleitschreiben zu seinem Projekt einer Reorganisation und Gründung der Generaldirektion der Militärmanufakturen an den Generaldirektor für Heeresmaterial, zitiert nach Martín, Estructuración industrial, S. 94.

57 einer weiter verstärkten Rolle der Streitkräfte in der Industrialisierung sowie einer gestrafften und koordinierten Führung der Rüstungsbetriebe. In den „Hauptgrundlagen und -Überlegungen", die sein Projekt der Reorganisation der Militärfabriken begründen sollten, stellte er thesenartig die Gründe für eine Intensivierung der Industrialisierungsbemühungen der Streitkräfte vor. Erneut von der unzulänglichen Ausrüstung des Heeres ausgehend machte Savio geltend, daß es nicht zweckmäßig sei, Rüstungsgüter im Ausland zu kaufen, denn dies bedeute den Export von „wichtigen Summen"; zudem trage es nicht zur Förderung der einheimischen Industrie bei. Die Industrie aber, die die benötigten Güter herstellen könnte, sei in Argentinien nicht existent, deswegen habe der Staat die Pflicht, sie zu schaffen. Die zu schaffende Rüstungsindustrie könne weder dem privaten Unternehmertum noch dem ausländischem Kapital überlassen werden; vielmehr sei es vorteilhaft, staatliche Betriebe zu errichten. Somit sichere man in allen Zeiten die Produktion. Außerdem sei auf diese Weise die Qualität der hergestellten Waren gewährleistet, und man schaffe eine spezialisierte und qualifizierte Arbeiterschaft. Durch die Gründung von Staatsbetrieben könnten zudem die Preise für Rohstoffe und Endprodukte kontrolliert werden. Man wäre somit nicht mehr den überhöhten Preisen ausgeliefert, die ausländische Hersteller verlangten, und die Argentinien bislang mangels Alternativen habe bezahlen müssen. Die Rüstungsproduktion im Lande würde es außerdem ermöglichen, mögliche Sanktionen oder Embargos im Falle politischer Konflikte mit den Lieferländern zu vermeiden. Noch deutlicher als in vorangegangenen Projekten wurde nunmehr die Rolle der Streitkräfte nicht nur in der Rüstungsproduktion, sondern in der Industrialisierung schlechthin betont. Als vorrangige Aufgabe bezeichnete Savio die genaue Erkundung von Erzvorkommen. Besonders sei eine Erfassung der Eisenerzvorkommen vonnöten, denn bislang gebe es nur wenig begründete Annahmen über die Verteilung von Mineralerzen im Lande. Es gehe darum, sich Klarheit über die Versorgung mit Primärmaterialien, insbesondere Stahl, zu verschaffen. 46 Diese Überlegungen spiegeln sich getreulich im Gesetz zur Gründung der Generaldirektion der Militärmanufakturen (Dirección General de Fabricaciones Militares, DGFM) wider, das im Oktober 1941, drei Jahre nach Vorlage des Projektes, in Kraft trat. Die DGFM unterstand unmittel46

Vgl. Savio, Fundamentos y consideraciones principales en que se basa el proyecto de ley de fabricaciones militares y su plan respectivo para los años 1939 a 1943, vollständig abgedruckt in Martín, Estructuración industrial, S. 98-100.

58 bar dem Kriegsministerium und bekam neben der Herstellung von Rüstungsgütern im strikten Sinne eine Reihe von weiteren Aufgaben übertragen, so die Anfertigung von Studien, Erstellung von Statistiken usw. über die industriellen Möglichkeiten des Landes. Ferner wurde sie verantwortlich für die Erkundung von Erzvorkommen sowie die Förderung verwandter Industrien. Nicht zuletzt wurden die Militärmanufakturen ausdrücklich ermächtigt, Güter für den allgemeinen Konsum zu produzieren.47 In der Tat übernahmen die Militärmanufakturen wiederholt zivile Aufgaben, insbesondere seit den fünfziger Jahren, als die Produktion den militärischen Bedarf überstieg. So wurde u.a. von der Panzerherstellung auf die Reparatur von Lokomotiven umgestellt, ein Konversionsprozeß, der sich als langwierig und umständlich erwies.48 Die Breite des Betätigungsfeldes der Militärmanufakturen war bereits im Gründungsgesetz angelegt. Mit diesem wurde der Grundstein zu einem „bedeutsamen industriellen Imperium" gelegt.49 So gab das Gesetz nicht nur den Impuls für die Gründung neuer und den Ausbau bestehender Munitionsfabriken. Neben den bereits erwähnten kamen fünf weitere Rüstungsbetriebe nach Gründung der DGFM hinzu. Als Zusammenführung zweier bestehender Betriebe entstand im April 1947 die neue Militärfabrik für Nachrichtenmaterial und Ausrüstung (Fábrica Militar de Material de Comunicaciones y Equipos), die 1974 in Fábrica Militar General San Martín umbenannt wurde. Im Februar 1943 nahm die bereits 1923 vorgesehene Handfeuerwaffenfabrik (Fábrica Militar de Armas Portátiles) in Buenos Aires die Herstellung von Colt-Pistolen auf, ehe der Betrieb 1946 an den endgültigen Standort in der Provinz Rosario verlegt wurde. Im Mai 1943 nahm eine neue Fabrik für Artilleriemunition in Rio Tercero (Provinz Córdoba) die Produktion auf. Im Jahr 1951 entstand aus weiteren zwei bereits bestehenden Betrieben zur Herstellung von Artilleriegranaten die Fábrica Militar San Lorenzo. Im August 1942 wurde die Gründung einer weiteren Fabrik zur Herstellung von Munition für Handfeuerwaffen verfügt, die ab 1946 ihren Standort in San Francisco (Córdoba) hatte. Die Militärfabrik für Pulver und Sprengstoffe José de la

47 48 49

Der Text des Gesetzes Nr. 12.709 zur Gründung der DGFM ist im Wortlaut abgedruckt in: Martín, Estructuración industrial, S. 114-120. Vgl. de Paula, Expansión industrial de los antiguos talleres militares, in: Ders. u.a., Los ingenieros militares, S. 127-148, S. 143. So bezeichnet Potash die Fabricaciones Militares; vgl. Potash, The Army and Politics, S. 123.

59 Quintana schließlich wurde 1951 in Betrieb genommen und stellte u.a. Nitrozellulose, Nitroglyzerin und Trotyl her. Die Produktionsanlagen wurden aus den USA, Schweden und der Schweiz importiert. Ursprünglich war vorgesehen, eine unterirdische Anlage nach Vorbild der bedrängten Rüstungsindustrie des Dritten Reiches zu bauen, doch ließen Belüftungsprobleme und die Kostenfrage von diesem Vorhaben Abstand nehmen.50 Neben diesen Rüstungsbetrieben wurden auch Grundstoffindustrien, deren Produkte militärisch relevant waren, unter der Ägide der DGFM im Rahmen des Gründungsgesetzes etabliert. Die Produktion von synthetischem Toluol, ein notwendiges Produkt für die Herstellung von Brisanzpulver und Sprengstoffen, wurde bereits oben erwähnt. Im August 1943 wurden die Nationalen Chemischen Industrien (Industrias Químicas Nacionales) zur Ausbeutung von kurz zuvor entdeckten Schwefelvorkommen in der Provinz Salta gegründet. Ursprünglich war eine von den Entdeckern der Vorkommen gegründete Aktiengesellschaft an den Industrias Químicas beteiligt, doch ging deren Besitz 1950 vollständig auf die Militärmanufakturen über.51 Im September 1952 nahm eine neu gegründete Militärfabrik die Produktion von Schwefelsäure auf. Im April 1945 wurde in Pilar (Provinz Buenos Aires) die Militärfabrik für pyrotechnische Materialien (Fábrica Militar de Materiales Pirotécnicos), im Oktober 1946 eine weitere für Bleiderivate (Fábrica Militar de Derívalos de Plomo) gegründet. In Córdoba entstand ein regelrechter Chemiekomplex: Zunächst beteiligte sich die DGFM mit einem Drittel des Startkapitals an der Gründung einer gemischten Gesellschaft gemeinsam mit dem privaten Chemieunternehmen Atanor. Ab 1947 wurden auf dem Gelände der Militärfabrik für Artilleriemunition in Río Tercero (Provinz Córdoba) weitere Produktionsanlagen errichtet52, und zwei Jahre später wurde die Produktion aufgenommen, u.a. von Methanol, Wasserstoffperoxid und Sodiumchlorid. Später kamen

50

51 52

Nach der offiziellen Chronik der DGFM waren die unterirdischen Rüstungsbetriebe des Dritten Reiches Gegenstand von eingehenden Studien und dem Anschein nach Inspiration des argentinischen Vorhabens. Es heißt: „Sobre la base de minuciosos estudios de fábricas subterráneas instaladas en Alemania, se había preparado un proyecto completo en todos sus detalles." Siehe de Paula, Desarrollo de la industria química y orígenes de la petroquímica, in: Ders. u.a., Los ingenieros militares, S. 149-163, S. 162. de Paula, Química, S. 152. Die Entscheidung fiel auf Río Tercero wegen der dort vorhandenen hydroelektrischen Energie. Das Chemieuntemehmen Atanor hatte seinen Standort in der Provinz Buenos Aires, wo Energie wesentlich teuerer war; vgl. de Paula, Química, S. 156.

60 Pestizide (nach einem Abkommen mit der Schweizer Firma Ciba Geigy wurde dort u.a. DDT hergestellt), Plastikstoffe, Phenol sowie Waren des täglichen Gebrauchs - etwa Nagellackentferner und Möbelpolitur - hinzu. Neben dieser Atanor Compañía Nacional para la Industria Química" und auf demselben Gelände in Río Tercero entstand aus einer Initiative Savios die „Chemiegruppe Rio III" (Grupo Químico Río III) im wesentlichen zur Herstellung von Rohstoffen für Schießpulver, Sprengstoffe und Düngemittel. Aus Frankreich und der Schweiz wurden Produktionsanlagen zur Herstellung u.a. von synthetischem Ammoniak, Salpetersäure, Schwefelsäure, Ammoniumnitrat und Ammoniumsulfat importiert. 1948 schließlich nahm auf dem Gelände eine Militärfabrik für die elektrolytische Gewinnung von Zink (Fábrica Militar de Cinc Electrolítico) die Produktion auf, die 1954 mit der Artilleriemunitionsfabrik und der Chemiegruppe zu einem einzigen Unternehmen (Fábrica Militar Río III) fusioniert wurde. Auf dem Feld der Erzgewinnung und Metallurgie - ein Bereich, der im Gründungsgesetz der DGFM besonders erwähnt wurde - beteiligten sich die Militärfabriken mit geologischen Studien und Schürfungen. Im Jahr 1943 wurden die seit 1920 stillgelegten Kupferminen Las Capillitas (Provinz Catamarca) von der DGFM erworben (Kupfer war eine Mangelware für die Herstellung von Geschoßhülsen). Nach langwierigen Rehabilitationsarbeiten stellte sich jedoch heraus, daß die Gewinnung von Kupfer aufgrund der Erzqualität zu kompliziert geriet. 1944 akqtirierte die DGFM mit derselben Zielsetzung, die Herstellung von GeschoShülsen zu sichern, eine Messingfabrik. Im selben Jahr beteiligte sie sich mit knapp über einem Drittel des Gründungskapitals an der Aktiengesellschaft Aceros Especiales, die in bescheidenem Umfang Eisenlegierungen produzierte. In einem Bereich blieben die Modernisierungsanstrengungen ohne nennenswerten Erfolg, nämlich bei der Stahlproduktion, einer S;hlüsselindustrie für die Herstellung von Rüstungsgütern wie für die industrielle Entwicklung schlechthin. Das Gesetz 11.266 des Jahres 1923 hatte auf den militärischen Bedarf an diversen Stahltypen verwiesen und die einheimische Stahlproduktion als eine der dringlichsten Aufgaben des Heeres genannt. Daß der Armee diese zentrale Rolle in der schwerindustriellen Entwicklung des Landes zukommen sollte, war damit begründet worden, daß die eisenschaffende Industrie erst im Entstehen begriffen und somit auf privatindustrielle Unterstützung nicht zu rechnen sei.51 Es tarn in den

53

de Paula, Restructuración operativa, S. 81.

61

Jahren danach zu ersten, recht bescheidenen Anfängen der Stahlherstellung, die allerdings bald wieder aufgegeben wurden. Wie bei der Mehrzahl der im Gesetz von 1923 projektierten Betriebe wurde auch dieses Vorhaben erst unter der Präsidentschaft Justos vorangetrieben: 1935 wurde die Militärfabrik für Stahl (Fábrica Militar de Acero) gegründet, die ein Jahr später der soeben konstituierten Dirección de Fábricas Militares zugeordnet wurde. Auf der Basis von Alteisen wurde 1937 die Produktion aufgenommen. Diese blieb aber weit hinter dem Bedarf zurück. Die für die Errichtung eines modernen Stahlkomplexes notwendige technische Expertise und die Kapitalmenge, die Brasilien durch US-Hilfe erhielt und das langgehegte Projekt eines großen Stahlwerks in den vierziger Jahren realisieren ließen, standen Argentinien nicht zur Verfügung. Erst nach der Annäherung zwischen Buenos Aires und Washington in der Zeit nach 1945 konnte unter der kontroversen Beteiligung der American Steel Corporation (Amsco) und dank eines 1955 gewährten Kredits der US Export-Import Bank ein moderner Stahlkomplex in San Nicolás errichtet werden, der 1960 die Produktion aufnahm.54 Der brasilianische Vorsprung auf diesem so symbolträchtigen Feld führte die Grenzen der argentinischen Politik der „naiven Herausforderung"" drastisch vor Augen; nach Rouquié gaben viele Militärs Perón die Schuld an Argentiniens verspätetem Einstieg in die moderne Stahlproduktion und sahen den Rückstand als die Konsequenz einer sträflichen Vernachlässigung der schwerindustriellen Entwicklung.56

2.4 Zusammenfassung Nach dieser Skizze der Überlegungen, Strategien und Maßnahmen in beiden Ländern dürfte es offenkundig sein, daß die Anwerbung deutscher Rüstungsingenieure durch Argentinien und Brasilien nicht allein der kontingenten Begebenheit entsprang, daß solches Personal nach 1945 verfügbar war. Vielmehr entsprach dieser Schritt der Zielsetzung, die eigene Rüstungsindustrie zu modernisieren, um sich möglichst weit von externen 54 55 56

Siehe Nora L. Siegrist de Gentile, Desarrollo Siderúrgico, in: de Paula u.a., Los ingenieros militares, S. 175-200. Vgl. Carlos Escudé, La Argentina vs. las grandes potencias, El precio del desafío, Buenos Aires 1986. Vgl. Alain Rouquié, Poder militar y sociedad política en la Argentina, Bd. 2, Buenos Aires 1986, S. 8 0 f.

62 Einflüssen zu befreien. Wie angeführt, gab es vor 1945 mehrere Ansätze in beiden Staaten, dieses Ziel durch ausländisches - nicht nur deutsches Know-how zu erreichen. Dazu gehörten der Erwerb von Lizenzen und Patentrechten aus den Industrieländern und der Kauf von schlüsselfertigen Technologien. Immer wieder mußte festgestellt werden, daß die Realisierung ehrgeiziger rüstungsindustrieller Projekte wegen des Mangels an hochqualifizierten Ingenieuren und gut ausgebildeten Technikern erschwert wurde, so daß neben dem Erwerb von Produktionsanlagen auch die Verbesserung der Ausbildung einheimischer Techniker und Ingenieure als eine vordringliche Aufgabe erschien. In diesem Zusammenhang stellen sich die waffentechnischen Projekte der deutschen Experten in Argentinien und Brasilien prima facie als folgerichtiges Element der Strategie einer eigenständigen militär-industriellen Entwicklung dar. Die Entwicklung der Technologie durch erfahrene Ingenieure und technisches Personal im Lande selbst schien eine Möglichkeit zu bieten, verschiedene Probleme der Rüstungsabhängigkeit zu überwinden. Hätten die diversen Projekte der deutschen Gruppen Erfolg gehabt, wären sie geeignet gewesen, zumindest mittelfristig das Ausmaß der Abhängigkeit von ausländischen Waffenkäufen und daher den Grad der Unsicherheit, die solchen Geschäften anhaftete, zu verringern. An die angeworbenen Fachleute wurde nicht nur die Erwartung geknüpft, spezifische Technologieprojekte zu verwirklichen, sondern gemäß der Annahme, daß von der Rüstungsindustrie wesentliche Impulse für die gesamte industrielle Entwicklung des Landes ausgingen, auch einen dauerhaften Beitrag zur industriellen Modernisierung zu leisten. Das Ziel der rüstungsindustriellen Entwicklung, verstanden als ein Mittel zur Erlangung größerer außenpolitischer Spielräume oder - drastischer ausgedrückt - zur Befreiung aus der Vormundschaft der führenden Industrienationen - wurde nicht allein von einer kleinen Gruppe technokratischer Militärs verfolgt, sondern war weitgehend Konsens unter den militärisch-politischen Eliten beider Staaten. Projekte zur Reduzierung der externen Abhängigkeit fanden Zustimmung in Argentinien - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität - von Vertretern so diverser politischer Strömungen wie Yrigoyen (Präsident der von der Unión Cívica Radical, UCR, gebildeten Regierungen, 1916-22 und 1928-30), Uriburu, dem germanophilen Anführer des Putsches gegen Yrigoyen, und seinem Nachfolger im Amt, dem General Justo, der durch Wahlmanipulation von 1932-38 im Interesse und mit Unterstützung der anglophilen landbesitzenden Oli-

63 garchie regierte.57 In Brasilien blieb ebenfalls der Aufbau des Rüstungssektors sowie der dazu notwendigen Schwerindustrie ein konstant verfolgtes Ziel von der Alten Republik bis zum Estado Novo und der Nachkriegszeit.58 In beiden Staaten bildete sich der Konsens bereits in den Jahrzehnten vor 1930 heraus, während die Realisierung der Projekte fast durchweg erst in die Zeit danach fiel. Neben der in beiden Staaten prinzipiell anerkannten Notwendigkeit der Erlangung größerer Autonomie auf dem Gebiet der Rüstungsherstellung gab es durchaus auch Differenzen in der Realisierung dieses Vorhabens. Länger als in Argentinien blieb in Brasilien die Beschaffung von Rüstungsgütern im Ausland das dringlichere Problem. Interne Herausforderungen wie der Bürgerkrieg in den dreißiger Jahren und die relative Schwäche der Zentralregierung gegenüber den Bundesstaaten sowie die perzipierte Überlegenheit des argentinischen Militärs ließen wenig Raum für längerfristige Rüstungsprojekte. Die rüstungsindustrielle Modernisierung Brasiliens nahm einen deutlichen Aufschwung erst während des Zweiten Weltkriegs, dank der Lend-Lease-Lieferungen, die Brasilien zum bevorzugten Partner der USA in Lateinamerika machten. In Argentinien hingegen war nach dem vorübergehenden Ausscheiden der Provinz Buenos Aires vom argentinischen Staat (i.d. Jahren 1852-61) und mit den militärischen Kampagnen gegen die indigene Bevölkerung - den sog. salidas de Roca in den 1870er und 1880er Jahren - die Konsolidierung des Staatsterritoriums bereits im letzten Jahrhundert erfolgt. Unmittelbare Bedrohungen der internen Sicherheit lenkten dort nicht wie in Brasilien von dem Aufbau eigener rüstungsindustrieller Kapazität ab. Der industrielle Komplex der argentinischen Militärmanufakturen zeichnete für einen sehr wesentlichen Teil der in den dreißiger und vierziger Jahren neugeschaffenen industriellen Infrastruktur Argentiniens verantwortlich. Bis 1955 war das industrielle Imperium der DGFM auf 14 Militärfabriken angewachsen, die zusammen 20,000 Arbeiter und Ange57

58

Der Einsatz Uriburus und Justos für den Aufbau der Rüstungsindustrien in Argentinien ist in den obigen Seiten belegt. Zu Yrigoyens Eintreten für eine Eigenständigkeit ermöglichende Politik (nicht explizit auf den Rüstungssektor konzentriert, aber in einigen Forderungen - etwa Aufbau einer eigenen Handelsflotte, Schutz der nationalen Erdölvorkommen - mit klarem Bezug zu den Zielsetzungen Autonomie und Industrialisierung) siehe Joseph Tulchin, Argentina and the United States, A Conflicted Relationship, Boston 1990, S. 36 ff. Hilton, Armed Forces; ders., Brazil's International Economic Strategy; de Carvalho, Armed Forces and Politics in Brazil.

64 stellte beschäftigten. 59 Für Brasilien läßt sich das Anwachsen des militärischen Einflusses auf die industrielle Entwicklung nicht mit solchen eindrucksvollen Zahlen illustrieren, was mit der dort gegebenen Präferenz für privatwirtschaftliche Lösungen zusammenhängt. Es bleibt eine interessante Frage, die sich im Vergleich der jeweiligen Selbstdefinition der Rolle der Militärs im Industrialisierungsprozeß geradezu aufdrängt, warum - ausgehend vom annähernd gleichen Entwicklungsniveau - in Brasilien die Streitkräfte bemüht waren, nichtstaatliche Unternehmen und privates Kapital zu beteiligen, während in Argentinien das Militär selber die unternehmerische Funktion zu übernehmen trachtete. Die Frage würde eine eigene Untersuchung lohnen, sie zu beantworten würde allerdings den Rahmen dieser Studie sprengen. Die Konsequenz, mit der jeweils die eingeschlagenen Wege verfolgt wurden, deutet auf jeden Fall auf die Bedeutung von Gründungsentscheidungen hin: aus der einmal gefällten Entscheidung ergibt sich eine Dynamik, die sich selbst verstärkt und perpetuiert. Eine genauere Analyse der einzelnen Projekte der deutschen Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien nach 1945 erfolgt in späteren Kapiteln dieser Studie. So viel sei vorausgeschickt: Kurzfristig trugen die waffentechnischen Projekte der eingewanderten Deutschen nicht zur Überwindung der Abhängigkeit bei, sondern legten diese erneut offen. Denn allen Vorgaben hinsichtlich der Verwendung einheimischer Einzelteile und Materialien zum Trotz war es gerade bei den technologisch fortschrittlichsten Projekten nicht möglich, auf ausländische Lieferungen zu verzichten. So zeigten sich erneut just die Probleme der Abhängigkeit vom Ausland, die zum Überdruß bekannt waren, und die durch die Gewinnung von ausländischer Expertise hätten beseitigt werden sollen, von politischer Einflußnahme über die Belieferung mit Mangelwaren bis hin zur leidigen Kostenfrage und den zeitlichen Verzögerungen, die die Importabhängigkeit mit sich brachte. So gesehen befanden sich beide Staaten in einem Dilemma: Ihre bisherigen Erfahrungen hatten ihnen gezeigt, daß auf das Ausland kein Verlaß war und daß die Abhängigkeit von Waffenimporten ihnen allerlei Unsicherheiten einbrachte. Aber der Versuch, durch eigene Rüstungsproduktion aus dieser Abhängigkeit auszubrechen, gelang nicht.

59

Rouquie. Poder militar, S. 81.

65

3. DEUTSCHER MILITÄREINFLUSS IN ARGENTINIEN UND BRASILIEN VON DER JAHRHUNDERTWENDE BIS ZUM AUSBRUCH DES ZWEITEN WELTKRIEGS 3.1 Vorbemerkung Neben den allgemeinen Vorläufern der Nachkriegsmigration, auf die in der Einleitung eingegangen wurde, läßt sich in bezug auf die Gruppe der Rüstungsingenieure eine spezifischere Verbindungslinie zu dem Einfluß des deutschen Militärs in Lateinamerika ab etwa 1900 ausmachen. Deutschland nahm in dreifacher Hinsicht Einfluß auf militärische Institutionen in Lateinamerika: Zum einen durch die Entsendung deutscher Militärmissionen, zweitens durch die Aufnahme lateinamerikanischer Offiziere zur Absolvierung eines Teils ihrer militärischen Ausbildung in Deutschland und schließlich durch deutsche Rüstungsgüter. Diese gelangten entweder durch Waffenkäufe oder durch die Herstellung unter Lizenz in die Region. Die Anwerbung deutscher Rüstungsingenieure nach 1945 zur Mitarbeit an waffentechnischen Projekten in Argentinien und Brasilien baute auf diesen früheren Kontakte auf, weshalb in diesem Kapitel die Formen und das Ausmaß des deutschen Militäreinflusses in den beiden Staaten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vergleichend nachgezeichnet werden. Die spezifischen Auswirkungen der deutschen Militärberater auf die Werte und das Selbstverständnis ihrer lateinamerikanischen Kollegen werden in der Literatur recht unterschiedlich bewertet. Frederick Nunn etwa kommt zu einem pauschalen negativen Urteil im Hinblick auf die Übernahme demokratiefeindlicher Werte, die nach ihm grundsätzlich den Boden für politische Einmischungen der lateinamerikanischen Militärs bereitet habe.1 Dagegen 1

Dies ist die Kernthese Nunns, der außerdem davon ausgeht, daß die US Militärs, die nach 1945 deutsche Ausbilder ersetzten, demokratiefreundliche Werte und Haltungen vermittelt hätten, allerdings hätten sie aufgrund der bereits vorhandenen Prägung mit demokratiefeindlichen Ansichten wenig ausrichten können. Vgl. aus

66 weist de Carvalho für Brasilien nach, daß gerade diejenigen brasilianischen Offiziere, die durch das deutsche bzw. französische Militär beeinflußt waren, einer Professionalisierung im Sinne auch von politischer Enthaltsamkeit das Wort redeten.2 Eine differenzierte Sichtweise auf die Auswirkungen des deutschen Militäreinflusses auf das politische Verhalten argentinischer Offiziere findet sich bei Potash. In seiner Analyse des Militärputsches vom 6. September 1930, der eine Phase der direkten politischen Einmischung argentinischer Militärs einleitete, die ein halbes Jahrhundert dauern sollte, stellt er fest, daß „(t)he German experience obviously exerted no consistent influence on the political behavior of Argentine officers."3 In bezug auf demokratiefeindliche Haltungen weist Potash zudem darauf hin, daß bis 1914 die Anerkennung der verfassungsmäßig konstituierten Ordnung zu den Werten gehörte, die durch die deutschen Offiziere vermittelt wurden.4 Weder Ansichten und Wertevorstellungen der deutschen Militärs noch Einzelheiten des von ihnen vertretenen Modells wurden zwangsläufig und in jedem Fall übernommen. In einem Vergleich zwischen Chile und Argentinien bis 1914 stellt Brunn beispielsweise fest, daß der deutsche Einfluß in diesen beiden Staaten nicht nur unterschiedlich stark war, sondern auch unterschiedliche Auswirkungen hatte. Wegen des massiven deutschen Einflusses glichen sich die chilenischen Offiziere dem deutschen Vorbild immer stärker an. Dies betraf das Erscheinungsbild (für das Laienauge seien die Unterschiede zwischen chilenischen und deutschen Uniformen nicht erkennbar gewesen), die Heeresorganisation und das Selbstverständnis des Offizierskorps. Als Anzeichen für den elitären und oligarchischen Charakter des chilenischen Offizierskorps wertet er die Tatsache, daß die Ober- und obere Mittelschicht um diese Zeit noch einen großen Teil des Offiziersnachwuchses stellten. In Argentinien dagegen „war der ideologische und gesellschaftspolitische Einfluß preußischer Offiziere nicht entfernt so stark." Brunn fuhrt dies u.a. auf die andere soziale Zusammensetzung des argentinischen Offizierskorps zurück: J n Argentinien bedeutete Professionalisierung zugleich, daß die Armee zu einem Instrument sozialer Mobilität wurde, eine Entwicklung, die deutscherseits mit Mißfallen beobachtet wur-

2 3 4

der Vielzahl seiner Veröffentlichungen zum Thema Frederick M. Nunn, Yesterday's Soldiers. European Military Professionalism in South America, 1890-1940, Lincoln und London 1983; ders., The Time of the Generals. Latin American Professional Militarism in World Perspective, Lincoln und London 1992. Vgl. de Carvalho, Armed Forces and Politics in Brazil, S. 198. Vgl. Potash, The Army and Politics, S. 52. Ebenda, S. 51.

67 de."5 In Brasilien dagegen, wo es zu keinem Zeitpunkt eine deutsche Militärmission gab und wo der deutsche Einfluß verhältnismäßig gering blieb, wurden die Zulassungsbeschränkungen zur Offizierslaufbahn immer enger (sie schlössen unter anderem Juden und Schwarze vom Offizierskorps aus) mit dem - auch von Gegnern des Estado Novo geteilten - Ziel, durch zunehmende Selektivität den Offizierskorps zu einer Aristokratie zu bilden.6 Diese wenigen Beispiele mögen veranschaulichen, daß die spezifischen Auswirkungen des deutschen militärischen Einflusses nicht leicht zu bestimmen sein werden. Eine angemessene Analyse hätte nicht nur zeitlich zu differenzieren, sondern müßte auch jene länderspezifischen Faktoren (darunter etwa Kultur, geistige und politische Tradition, soziale Herkunft der Offiziere wie auch allgemeine Mentalitätsaspekte) berücksichtigen, die den Einfluß der Deutschen gebrochen oder verstärkt haben; sie hätte zudem nicht nur eine Korrelation, sondern eine Kausalität nachzuweisen. Eine derartige Analyse wird hier nicht vorgenommen. Es sollen lediglich die Formen der Einflußnahme in groben Zügen nachgezeichnet werden, um eine Antwort auf die Frage zu ermöglichen, inwiefern sich die vorhergehenden militärischen Verbindungen zwischen Deutschland und Lateinamerika als einflußreich bei der Anwerbung von deutschen Rüstungsingenieuren in der Zeit nach 1945 erwiesen.

3.2 Deutsche Militärmissionen und Ausbildungshilfe Bemühungen um Modernisierung und Professionalisierung des Heeres setzten in Argentinien und Brasilien, wie auch in anderen lateinamerikanischen Staaten, etwa ab der Jahrhundertwende ein. Vorbildlich wirkte hier der chilenische Fall. In seiner vergleichenden Studie des deutschen Militäreinflusses in vier lateinamerikanischen Staaten bis 1914 nennt ihn Brunn „stilbildend".7 Dort konnte der Hauptmann Emil Körner, der 1885 nach Chile verpflichtet wurde, durchschlagende Erfolge bei der Reorganisation des chilenischen Heeres verzeichnen und wurde 1904 zum Heeresinspekteur ernannt. Obwohl mit unter5

6 7

Gerhard Brunn, Deutscher Einfluß und deutsche Interessen in der Professionalisierung einiger lateinamerikanischer Armeen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 6 (1969), S. 276-336, S. 305 f. Vgl. de Carvalho, Armed Forces and Politics, S. 205 f. Brunn, Deutscher Einfluß, S. 279.

68 schiedlicher Intensität in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern verfolgt, waren sich die Modernisierungsbemühungen im Kern recht ähnlich. Es wurde beabsichtigt, das Militärwesen auf ständige Kriegsbereitschaft auszurichten und die militärische Effizienz gemäß den Anforderungen der modernen Kriegsführung und Waffentechnik zu gestalten. Dies sollte vor allem mittels der Einführung einer berufsspezifischen und klar geregelten Ausbildung für Offiziere und Mannschaften sowie der Durchsetzung des Leistungsprinzips bei Beförderungen erreicht werden; zudem sollte die Funktion der Armee als Schule der Nation in Anlehnung an europäische Vorbilder durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gewährleistet werden. Der Erfolg der deutschen Militärmission in Chile, wo das Heer vollständig nach preußisch-deutschem Muster umgestaltet wurde, machte recht bald Schule. Als erstes lateinamerikanisches Land zog Peru nach; 1896 wurde eine aus sieben Mitgliedern bestehenden französischen Militärmission dorthin verpflichtet. Nach Argentinien kamen die ersten deutschen Berater im Jahr 1900. Dort waren Anläufe zur Heeresmodernisierung bereits wesentlich früher unternommen worden. So wurde infolge des Paraguaykriegs (1865-70) eine Kadettenanstalt (colegio militar) gegründet, auch wurden argentinische Offiziere regelmäßig zur Ausbildung nach Belgien, Frankreich und Italien geschickt. Das 1869 gegründete colegio militar wurde in den ersten 25 Jahren seines Bestehens von dem Deutsch-Ungam Johann Czetz geleitet. Ab 1902 galt der erfolgreiche Abschluß des colegio militar als Befähigungsnachweis für die Offizierslaufbahn. Im Gegensatz zu Chile, wo deutsche Berater in sämtlichen militärischen Ausbildungsstätten mitwirkten, entwickelte sich die argentinische Kadettenanstalt ohne direkten deutschen Einfluß. 8 Anders die Kriegsakademie (Escuela Superior de Guerra, ESG), die 1900 zur Ausbildung von Generalstabsoffizieren gegründet wurde. Hier hatten die deutschen Militärberater maßgeblichen Einfluß. Die ESG wurde nach dem Muster der Königlich Preußischen Kriegsakademie in Berlin eingerichtet, und der preußische Offizier Oberst Alfred Arent wurde als ersten Leiter der Akademie verpflichtet. Vier weitere deutsche Offiziere wirkten als Lehrer an der Akademie. Wegen Auseinandersetzungen mit dem Kriegsminister blieb Arent nur kurze Zeit in seiner Leitungsfunktion (er wurde 1902 abgelöst), doch auch nach seiner Abberufung waren deut-

8

Ebenda, S. 295.

69 sehe Offiziere weiterhin in Argentinien tätig, und ab 1904 wurden argentinische Offiziere zur Fortbildung zu deutschen Einheiten entsandt. Das Lehrerkollegium der militärischen Fächer an der Kriegsakademie bestand bis 1914 ausschließlich aus deutschen Offizieren; lediglich als Hilfslehrer wurden argentinische Kollegen eingesetzt. Auch an anderen Ausbildungsstätten, etwa den Schießschulen der Artillerie und der Infanterie, wurden deutsche Offiziere verpflichtet. Bei der Truppenausbildung hatten die Deutschen dagegen wenig Einfluß; nach Brunn war die Verpflichtung einer größeren Anzahl deutscher Instrukteure für die Truppenausbildung politisch nicht durchsetzbar. Immerhin kam es - erneut nach chilenischem Vorbild - in Argentinien zur Verabschiedung eines Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht. In Chile geschah dies 1900, in Argentinien erfolgte der Schritt ein Jahr später. Das von Arent ausgearbeitete Gesetz passierte den Kongreß allerdings nur in abgeschwächter Form; auch bei der Neufassung vier Jahre später wurde es nicht wesentlich verschärft. Höchstens ein Drittel der Wehrpflichtigen wurde einbezogen; zudem galten die Dienstzeitregeln nur mit Einschränkungen. Wer etwa nach drei Monaten gewisse Fähigkeiten aufweisen konnte, konnte bereits wieder aus dem Dienst entlassen werden. Die argentinische Heeresstärke blieb deshalb immer niedriger als die chilenische, trotz der höheren Einwohnerzahl Argentiniens. Die Verpflichtung von Deutschen als Militärberater war nicht unumstritten. Von Anfang an gab es gewisse Vorbehalte, die nur zum Teil durch den Hinweis auf den Ruf des deutschen Heeres als besonders schlagkräftig (und mit dem chilenischen Beispiel vor Augen) entkräftet werden konnten.9 Zur Erklärung des Unbehagens der Argentinier gegenüber ihren deutschen Lehrmeistern verweist Brunn auf die liberale Tradition des Landes, die sich schwer mit preußischen Tugenden vertrug: „Ganz allgemein hatte die liberale, frankophile lateinamerikanische Mittelschicht gegenüber Deutschland ein unbehagliches Gefühl, das einmal auf verschiedene politische Wertvorstellungen zurückzuführen war, zum anderen sich aus Mentalitätsgründen ergab und seine stärkste Stütze in der starken geistigen Ausrichtung auf Frankreich hatte."10 Die deutschen Militärberater sahen sich nicht nur der Kritik der liberalen Presse Argentiniens ausgesetzt, sondern ihnen standen auch viele alte Offiziere 9

10

George Pope Atkins/Larry V. Thompson, German Military Influence in Argentina, 1921-1940, in: J L A S 4/2 (Nov.1972), 257-274, S. 258; Brunn, Deutscher Einfluß, S. 312-4. Brunn, Deutscher Einfluß, S. 312.

70 ablehnend gegenüber. Waren die Deutschen geneigt, die Einwände der „Gaucho-Generäle" abzutun und letzteren Unfähigkeit zu bescheinigen, so hatten die altgedienten Kämpfer doch auch rationelle Gründe für ihrer Abneigung gegen die Überstülpung deutscher Methoden und Erfahrungen. Indirekt wurde die Berechtigung mancher Kritik eingeräumt. So bemerkte Oberstleutnant Breidbach nach einer Generalstabsreise durch Argentinien über seine argentinischen Kollegen: „Sie stehen eben auf dem Standpunkt des GuerillaKriegs, der allerdings bei diesen weiten Entfernungen große Vorteile haben könnte."11 Auch die Übernahme deutscher Formationsgliederungen und Kommandostrukturen war für das wesentlich kleinere argentinische Heer, in dem dann die vielen Untergliederungen eine viel zu geringe Mannschaftsstärke aufwiesen, von zweifelhaftem Nutzen. Und was sollten die künftigen Generalstabsoffiziere des argentinischen Heeres mit den Szenen aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870 anfangen, die ihren Sandkastenspielen in der Kriegsakademie zugrundegelegt wurden?12 Der deutsche Einfluß wurde durch die Praxis der Entsendung argentinischer Offiziere zur Absolvierung eines Teils ihrer Ausbildung nach Deutschland verstärkt. Sie waren zur Weiterbildung bei den deutschen Heeresakademien, zum Dienst in deutschen Regimentern sowie als Beobachter bei Manövern in Deutschland zugelassen. Die Voraussetzung für die Aufnahme ausländischer Offiziere in deutsche Truppenteile war „eine Vorvereinbarung, in der sich die betreffenden Regierungen verpflichteten, nur deutsche Offiziere als Instrukteure der eigenen Truppen zuzulassen, alle Offiziere aus anderen als deutschen Truppenteilen zurückzuziehen und auch weiterhin Offiziere zur Ausbildung nur nach Deutschland zu schicken. So sicherte man einmal den ausschließlichen deutschen Einfluß ab, andererseits schützte man sich gegen die Verbreitung von Interna aus dem Dienstbetrieb der preußischen Armee."13 Bis diese Praxis bei Kriegsausbruch 1914 unterbrochen wurde, hatten etwa 150-175 argentinische Offiziere einen solchen Aufenthalt in Deutschland absolviert.14 Sie wurden hernach selbst als Instrukteure an argentinischen Heeresakademien tätig oder dienten, nach Absolvierung der Kriegsakademie, im Generalstab und hatten somit eine Multiplikatorwirkung auf die künftige Offizierselite. So schreibt Potash: ,Jt was precisely those officers who were assigned thereafter as instructors in Argentine military schools and who rose 11 12 13 14

Zitiert nach ebenda, S. 313. Vgl. ebenda, S. 298. Ebenda, S. 328. Potash, Army and Politics, S. 4.

71 to high administrative and troop positions in the Argentine army of the 1920s."15 Wie die verschiedenen Formen der Einflußnahme sich gegenseitig verstärken konnten, läßt sich exemplarisch anhand der Person José Félix Uriburu (1868-1932) veranschaulichen. Uriburu, der der argentinischen Elite entstammte (sein Onkel José Evaristo Uriburu war 1895-98 Staatspräsident), war einer der ersten Absolventen der argentinischen Kriegsakademie, setzte dann von 1903-5 seine militärische Ausbildung in Deutschland fort, war 1907-12 Direktor der Kriegsakademie und 1913 argentinischer Militârattaché mit Sondermission in Berlin und London; 1923 wurde er zum Generalinspekteur des Heeres ernannt. In dieser ranghöchsten Stelle der argentinischen Armee hatte seine ausgeprägte germanophile Haltung einen maßgeblichen Einfluß, wie unten noch gezeigt wird.16 Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war der deutsche militärische Einfluß auf Argentinien beträchtlich. Atkins und Thompson fassen zusammen: „Thus on the eve of the First World War, Argentina had imported much of the Prussian military system, especially educational methods and the general staff organisation, and Germany had almost exclusive foreign military influence in Argentina."17 Ahnlich konstatiert Brunn: „Seit der Jahrhundertwende war (...) ein nach Hunderten zählender, junger, preußisch gebildeter Nachwuchs entstanden, unter denen sich Oberstleutnants, Oberste und Generäle befanden, deren Einfluß gegenüber den alten Gaucho-Generälen wuchs."18 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte sich der Einfluß der deutsch ausgebildeten Offiziere im argentinischen Heer so durchgesetzt, daß der deutsche Gesandte, von Bussche-Haddenhausen, nach Berlin meldete, ein Offizier könne nur als Anhänger des deutschen Systems Karriere machen.19 Nach 1918 wurden erneut deutsche Offiziere in Argentinien tätig. Das Motiv zur Fortsetzung der Beratertätigkeit blieb auf argentinischer Seite das Bestreben nach einer Modernisierung der Armee, denn trotz der bis 1914 erreichten Fortschritte war das Ziel eines modernen, professionellen Heeres nicht erreicht. Deutscherseits ließen die Beschränkungen des Versailler Vertrages die durch das argentinische Heer angebotenen Beraterverträge als attraktive Perspektive für Karrieresoldaten erscheinen. Historiker 15 16 17 18 19

Ebenda. Zu Uriburu vgl. Atkins/Thompson, German Military Influence, S. 260; Nunn, Yesterday's Soldiers, S. 126-7. Atkins/Thompson, German Military Influence, S. 259. Brunn, Deutscher Einfluß, S. 324. Ebenda.

72 attestieren ihnen eine Söldnermentalität: „The desire for professional employment on the part of German officers, prompted by the Versailles military restrictions placed on Germany, developed into a sort of 'this gun for hire' posture which eventually led them back into the service of a traditional military employer."20 Der persönliche Einfluß Uriburus war bei der erneuten Verpflichtung von Deutschen - wie übrigens auch für die Zurückweisung der Annäherungsversuche französischer Offiziere in den zwanziger Jahren - maßgeblich.21 Bereits 1921 arbeiteten sechs deutsche Offiziere wieder beim argentinischen Heer. Es handelte sich um Militärs, die auch vor 1914 in Argentinien tätig gewesen waren. Ranghöchster war Oberst Wilhelm Faupel, der von 1921 bis 1926 als persönlichen Berater Uriburus diente und in der NS-Zeit zum Präsidenten des IberoAmerikanischen Instituts und zum ersten Botschafter Deutschlands bei Franco avancierte.22 Bereits vor 1914 war der Status der Militärberater quasi-inoffiziell; sie traten aus dem aktiven deutschen Dienst aus und schlössen Verträge mit der argentinischen Regierung ohne offizielle Vermittlung oder Mitwirkung deutscher diplomatischer oder militärischer Kanäle. Diese Praxis erleichterte nach 1918 die formelle Einhaltung des Versailler Friedensvertrages, zu dessen Bedingungen das Verbot für Deutsche gehörte, in ausländischen Streitkräften zu dienen sowie Beratertätigkeiten in Militärmissionen im Ausland auszuüben. Ab 1918 erhielten die deutschen Militärberater die argentinische Staatsbürgerschaft, ohne auf die deutsche verzichten zu müssen. Für den deutschen diplomatischen Dienst waren diese deutschen Offiziere gleichwohl wichtige Zuträger von Informationen und Kontakten. Das Interesse des Auswärtigen Amtes an einer Stärkung dieser Einflußmöglichkeiten der inoffiziellen, eingebürgerten Militärberater zeigt sich nicht zuletzt an der Beförderung Faupels. Seine Ernennung zum General der Reichswehr erfolgte auf den Rat des Auswärtigen Amtes, das sich davon eine Stärkung der deutschen Position in Argentinien gegenüber der französischen Konkurrenz «hoffte. 23 20 Atkins/Thompson, German Military Influence, S. 260. 21 Vgl. ebenda, sowie Potash, Army and Politics, S. 5. 22 Mit Faupels Werdegang vor Augen drängt sich die Frage nach der Rolle des IberoAmerikanischen Instituts in der NS-Zeit als Instrument der deutschen (Militär-)politik in Lateinamerika auf; vgl. Oliver C. Gliech, Das IberoAmerikanische Institut (Berlin) in der NS-Zeit. Grundprobleme einer Untersuchung, in: Iberoamerikana 14 (1990) Nr.l (39), S. 5-16. 23 Vgl. Atkins/Thompson, German Military Influence, S. 265.

73 Trotz des hohen Ansehens der deutschen Offiziere blieb ihre Tätigkeit in Gesíllschaft und Heer Argentiniens umstritten. Andere Mächte, insbesondere Frankreich, mißgönnten den Militärberatern aus Deutschland ihren Einfluß auf das argentinische Heereswesen, während sich argentinische Offiziere über Arroganz und Bevormundung durch deutsche Ausbilder beklagten. Der Tiefpunxt wurde erreicht, als der Gönner der Deutschen, Uriburu, 1926 sein Amt als Generalinspekteur niederlegte. Der unmittelbare Anlaß war ein Beschluß des Kabinetts, Ausgaben für Rüstungskäufe im Ausland zu beschränken. Vorausgegangen war öffentliche Kritik an der Rolle deutscher Militärberater bei den Heeresmanövern im Jahr davor.24 Daraufhin begab sich der eingebürgerte Argentinier Faupel nach Peru, wo er Generalinspekteur des Heeres wurde. Dieser - in argentinischen Augen - Verrat dämpfte die Begeisterung für die inoffizielle Militärmission der Deutschen in Argentinien. Nicht einmal unter den in Deutschland ausgebildeten argentinischen Offizieren herrschte einhellige Zustimmung zu den Aktivitäten der deutschen Mentoren; nach Faupels Weggang veröffentlichte die Revista Militar eine Kritik an den deutschen Pseudo-Experten, die zugleich ein Plädoyer für größeres Selbstvertrauen der argentinischen Offiziere darstellte. Der Autor, Oberst Ramón Molina, hatte vor dem Ersten Weltkrieg zwei Jahre bei deutschen Truppen gedient und war ein Vertrauter Uriburus gewesen.25 Die Kritik ist bedeutsam, nicht nur weil sie aus dem Kreis um Uriburu stammte, sondern weil ihre Veröffentlichung im Organ des Heeres von einer breiteren Unzufriedenheit zeugt. 1928 war die Militämission auf eine Person (Faupels Nachfolger, General Johannes Kretzschmai) zusammengeschrumpft und „(f)rom 1927 until about 1930, German military influence was weaker than at any previous peace-time period during the cercury."26 Es war erneut der Einfluß Uriburus zu danken, der 1930-32 als Präsident in der räch dem Putsch gegen die Regierung Yrigoyen amtierenden provisorischen Regierung fungierte, daß die Präsenz der deutschen Militärberater ab 1930 wieder verstärkt wurde. Sie blieb dennoch recht bescheiden: 1931 waren lediglich drei deutsche Offiziere in Argentinien tätig. Es ist bezeichnend für die anhaltenden Ressentiments, daß die diplomatische Vertretung Deutschlands ii Buenos Aires befürchten mußte, daß eine Erhöhung der deutschen militärischen Präsenz gefährliche Konsequenzen haben könnte.27 Die Zahl der 24 25 26 27

Eboida, S. 265. Potish, Army and Politics, S. 5. Atkns/Thompson, German Military Influence, S. 268. Potish, Army and Politics, S. 5.

74 argentinischen Offiziere, die einen Teil ihrer Ausbildung in Deutschland absolvierten, stieg erneut an, von drei im Jahr 1930 auf 18 im Jahr 1939. Insgesamt waren es über 50 argentinische Offiziere, die im Laufe der dreißiger Jahre zur Fortbildung nach Deutschland geschickt wurden.28 Die Zahl blieb also deutlich unter der vor dem Ersten Weltkrieg erreichten, obwohl das argentinische Heer und mit ihm das Offizierskorps insgesamt angewachsen waren. Nach der Machtübernahme der NSDAP wurden die deutschen militärischen Aktivitäten in Argentinien nicht verstärkt. Atkins und Thompson vermuten als Grund eine deutsche Selbstgefälligkeit: Man sei, so die These, davon ausgegangen, daß die engen Beziehungen des nationalsozialistischen Deutschlands zu Spanien und Italien, jenen zwei europäischen Ländern, mit denen Argentinien historisch und kulturell besonders eng verbunden war, quasi automatisch zu einer Erhöhung des Ansehens und Gewichts der Deutschen führen würde.29 Die deutsche Zurückhaltung in den dreißiger Jahren dürfte schlicht in der Ressourcenkonzentration auf die deutsche Aufrüstung, ab 1939 auf die Kriegsfuhrung, begründet gewesen sein. Argentinischerseits ist zu vermuten, daß eine Stärkung der schon immer kontroversen Tätigkeit ohnehin nicht durchzusetzen war, zumal nachdem Uriburu im Jahr 1932 als Präsident abgelöst wurde. In Brasilien kam es trotz der Befürwortung durch einflußreiche Offiziere nie zur Einladung einer deutschen Militärmission, wobei sich ähnliche Vorbehalte gegen die als fremd empfundene preußische Mentalität wie im argentinischen Fall äußerten, in Brasilien allerdings mit deutlicher Akzentuierung. Hier wurden wie im Nachbarland nach 1900 Anläufe zur Professionalisierung des Heeres unternommen. Im Jahr 1902 wurden zum ersten Mal brasilianische Offiziere zum deutschen Heer zugelassen, wo sie, wie ihre Kollegen aus anderen lateinamerikanischen Staaten, einen Teil ihrer militärischen Ausbildung absolvierten, und Außenminister Rio Branco bemühte sich um die Verpflichtung einer deutschen Mission zur Instruktion der brasilianischen Bundestruppen. Die Sympathien der Öffentlichkeit Brasiliens hingegen lagen eher bei Frankreich, auch waren Vorbehalte innerhalb des Heeres zu überwinden. Nach den guten Erfahrungen mit deutschen Militärberatern in anderen lateinamerikanischen Ländern war das deutsche Auswärtige Amt von den Vorteilen der Entsendung einer Mission überzeugt, und so galt es, die Entscheidungsträger in Brasilien zu umwerben. Auf einer Deutschlandreise im Jahr 1908 wurde 28 29

Atkins/Thompson, German Military Influence, S. 269. Ebenda, S. 272.

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Kriegsminister Hermes da Fonseca regelrecht hofiert: Er wurde vom Kaiser Wilhelm zur Herbstparade des Gardekorps nach Berlin und zu den Kaisermanövern im Elsaß eingeladen und erhielt auch Gelegenheit, die Rüstungsbetriebe der Firma Krupp zu besichtigen. Die Aufmerksamkeit der deutschen Gastgeber erfüllte ihren Zweck: Hermes da Fonseca „kehrte als überzeugter Anhänger deutscher Heereseinrichtungen zurück."30 Die deutsche Zusage zur Entsendung einer Militärmission wurde Fonseca, inzwischen Präsident, im Juli 1910 auf seiner Europareise persönlich gegeben, doch wurde der Plan in der brasilianischen Presse kontrovers diskutiert. Es gab Stimmen, die in der Verpflichtung einer ausländischen Militärmission eine Beleidigung für Brasilien sahen; andere Pressestimmen äußerten sich prinzipiell dafür, plädierten aber aus sprachlichen, politischen und kulturellen Gründen für die Verpflichtung einer französischen Mission. Die sichtbaren Erfolge bei den Heeresmodemisierungen in Chile und Argentinien wiederum schienen für die Deutschen zu sprechen, wobei die unterschiedlichen Positionen der Presse den Widersprüchen im brasilianischen Heer und in der Regierung widerspiegeln dürften. Die Unschlüssigkeit der Regierung wurde durch französische Vorbehalte verstärkt: Es wurde befürchtet - und von Frankreich recht unverhüllt angedroht - , daß Brasilien erhebliche Nachteile bei der Kreditgewährung durch Frankreich in Kauf nehmen müsse, wenn es sich für eine deutsche Militärmission entscheide. So kam es zwar 1911 zu einer Ermächtigung zur Anwerbung einer deutschen Mission im Staatshaushalt, diese blieb aber toter Buchstabe. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine ausländische Militärmission verpflichtet, die aber nicht von Deutschland, sondern von Frankreich gestellt wurde. Ihrem Einfluß war es zu verdanken, daß französische Waffen langsam die vormals beim brasilianischen Heer fast ausschließlich verwendeten deutschen ersetzten, wobei das Insistieren der französischen Militärberater auf den Kauf französischer Waffen in Brasilien Unmut erzeugte.31

30 31

Brunn, Deutscher Einfluß, S. 317. Vgl. Frederick Nunn, Yesterday's Soldiers, S. 182 ff.

76

3.3 Deutsche Waffenverkäufe und Lizenzproduktion Damit ist ein weiterer wichtiger Aspekt von Einflußnahme angesprochen. Rüstungsverkäufe hingen eng mit der Tätigkeit ausländischer Militärberater zusammen, aber nicht unbedingt davon ab, wie das brasilianische Beispiel zeigt. Dort bestellte der germanophile Kriegsminister Hermes da Fonseca 1909 ohne Ausschreibung siebzehn Geschützbatterien für sieben Millionen Mark bei Krupp, dessen Rüstungsbetriebe er ein Jahr zuvor besichtigt hatte.32 Auch in den dreißiger Jahren wurden - unter Mißachtung des Versailler Friedensvertrags, der den Export deutscher Rüstungsgüter untersagt hatte - größere Waffengeschäfte zwischen Brasilien und dem nationalsozialistischen Deutschland vereinbart; die einseitige Einflußnahme der französischen Militärmission konnte angesichts der deutschen Bereitschaft zu Kompensationsgeschäften, die Brasilien mit seinem chronischen Devisenmangel entgegenkamen, wenig ausrichten.33 Dort, wo deutsche Militärmissionen tätig waren, konnten sie einen Beitrag zur Eroberung und Sicherung des Marktes für die deutschen Waffenindustrie leisten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte das Auswärtige Amt bei der Befürwortung von Anträgen zur Entsendung deutscher Instrukteure stets auf die wirtschaftspolitischen Vorteile hingewiesen. Die Rolle der Militärberater im deutschen Waffengeschäft läßt sich besonders deutlich am Beispiel der Konkurrenz zwischen Krupp und dem französischen Unternehmen SchneiderCreuzot veranschaulichen, als es 1906-1909 um die Neubewaffhung der argentinischen Artillerie ging. Verschiedene Versuche fielen zugunsten des französischen Herstellers aus. Nichtsdestotrotz wurden die Geschütze doch bei Krupp bestellt, und dies dank der Schlüsselposition der deutschen Instrukteure, die darauf hinwiesen, „daß eine Einführung des französischen Geschützes auch französische Schießregeln und französische Taktik nach sich ziehen müßte", womit „die Einheitlichkeit der gesamten Heeresausbildung in Frage" gestellt werde.34 Es ist nicht verwunderlich, wenn das Auswärtige Amt 1910 feststellte, daß der Sieg der deutschen Waffenindustrie im Kampf französischer und deutscher Finnen in erster Linie den deutschen Instrukteuren zu verdanken sei.35 32 33 34 35

Brunn, Deutscher Einfluß, S. 333. Zu brasilianischen Rüstungskäufen in Deutschland in den dreißiger Jahren siehe auch oben, Kap. 2. Brunn, Deutscher Einfluß, S. 333. Vgl. ebenda, S. 330.

77 Der Kauf von Waffen stellte lediglich eine Dimension des Bestrebens nach Modernisierung der Rüstungstechnologie in Argentinien und Brasilien dar. Die zweite, die im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde, war der Aufbau einer autonomen Rüstungsindustrie. Die Auslandshilfe, die hierzu geleistet wurde, nahm verschiedene Formen an. Es wurden u.a. Produktionsanlagen importiert, ausländische Fachkräfte verpflichtet und ausländische Waffen und Flugzeuge in Lizenz gebaut. In diesem Bereich gab es keine Monopolstellung der deutschen Industrie, sondern Kontakte wurden zu nahezu allen damals militärtechnisch führenden Staaten geknüpft, darunter Italien, Belgien, den USA, Großbritannien und Frankreich. Der Lizenzbau deutscher Produkte schuf aber auf jeden Fall Kontakte, die nach 1945 bei der Anwerbung von Rüstungsingenieuren zum Tragen kamen. So wurde der Hubschrauberpionier Henrich Focke durch Vermittlung des ehemaligen Focke-Wulf-Ingenieurs Walter Stein nach Brasilien verpflichtet. Stein war im Zusammenhang mit dem Lizenzbau von Focke-Wulf Flugzeugen durch die brasilianische Marine im Jahr 1936 nach Brasilien gekommen und blieb auch nach Kriegsausbruch dort. Der Kontakt zu seinem ehemaligen Chef Focke blieb bestehen. Als Stein erfuhr, daß Fockes Arbeiten in den Niederlanden infolge Finanzierungsschwierigkeiten zu scheitern drohten, stellte er einen Kontakt zwischen Focke und dem brasilianischen Luftfahrtminister Montenegro her, der 1952 in der Übersiedlung Fockes nach Brasilien mündete. Auch in Argentinien hatte der Lizenzbau deutscher Flugzeugtypen dazu beigetragen, den Bekanntheitsgrad deutscher Technologie zu erhöhen und den Boden für die Gewinnung von Experten vorzubereiten. Das Fokke-Wulf Modell Stieglitz (Fw 44) wurde in den dreißiger Jahren in der staatlichen Flugzeugfabrik in Córdoba nachgebaut. Mehr noch als durch den Stieglitz war allerdings Kurt Tank, bis 1945 Technischer Leiter bei Focke-Wulf und wohl der prominenteste deutsche Ingenieur, der nach 1945 nach Lateinamerika migrierte, durch das Langstreckenflugzeug Condor (Fw 200) in Amerika bekanntgeworden. Die Condor absolvierte ihre erste Atlantiküberquerung in Rekordzeit im Jahr 1938, ein aufsehenerregendes Ereignis.35

36 Wolfgang Wagner, Kurt Tank - Konstrukteur und Testpilot bei Focke-Wulf (Die deutsche Luftfahrt, Bd. 1), München 1980, S. 199 ff.

78

3.4 Die Bedeutung früherer Kontakte für die Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute nach 1945 Das deutsche Militärwesen hatte in Brasilien nie die Anziehungskraft ausgeübt, die es für Teile des argentinischen Offizierskorps besaß. Aber auch in Argentinien war der deutsche Einfluß auf das Militär weder vollständig noch unumstritten. Was Argentinien und Brasilien in der Frage der Anwerbung deutscher Rüstungsfachkräfte nach 1945 vor allem voneinander unterschied und den zahlenmäßig sehr unterschiedlich ausfallenden Ertrag an deutschen Waffenbauexperten erklärt, war weniger der Grad des bisherigen deutschen Einflusses auf das jeweilige Militär, als vielmehr das jeweilige Verhältnis zu den USA, auf das im folgenden Kapitel eingegangen wird. Die Strategie der brasilianischen Regierung während der dreißiger und vierziger Jahre (d.h. sowohl unter dem Estado Novo (1937-45) wie auch nach der Wiedereinführung einer demokratischen Verfassung), sich durch kooperatives Verhalten gegenüber den USA Vorteile zu verschaffen, schloß eine illegale, heimliche Anwerbung von Rüstungsexperten aus Deutschland aus. Bis die von den Besatzungsmächten verfügten Ausreisebestimmungen wegfielen, waren die herausragendsten deutschen Experten längst von anderen Mächten unter Vertrag genommen worden. Die Projektauswahl - etwa, mit Focke und Baumgartl, zwei unabhängig voneinander arbeitenden Hubschrauberexperten - war beliebig. Für ein Land wie Brasilien mit einem großen Staatsterritorium und einem unzureichenden Straßen- und Schienenverkehrssystem war ein Projekt zur Hubschrauberentwicklung durchaus sinnvoll. Gleichwohl war die Verpflichtung der Focke-Gruppe keinesfalls das Ergebnis einer sorgfältigen Prioritätensetzung für die einheimische Rüstungsindustrie. Sie ergab sich vielmehr aus dem Zufall, daß sich Focke nach einem neuen Auftraggeber umsah und dies seinem ehemaligen Mitarbeiter Stein mitteilen konnte - zum selben Zeitpunkt, als das brasilianische Luftfahrttechnische Zentrum seine weitere Finanzierung durch ein großes, prestigeträchtiges Projekt abzusichern versuchte. Daß dies ein Hubschrauberprojekt wurde, ergab sich aus der Verfügbarkeit Fockes und nicht aus einer vorausgehenden Entscheidung der Luftfahrtbehörden des Landes für diese Technologielinie. Hätten sie die Wahl gehabt, hätten die brasi-

79 lianischen Entscheidungsträger lieber Kurt Tank unter Vertrag genommen, der sich allerdings bereits seit fünf Jahren in Argentinien befand.37 In Fockes Autobiographie liest sich seine Anwerbung durch das brasilianische Luftfahrtministerium so: Es „kam ein Brief eines meiner alten Mitarbeiter, Obering. Stein, der seinerzeit zusammen mit einer Arbeitsgruppe von der nationalsozialistische Regierung nach Brasilien geschickt worden war, um den 'Stieglitz' (...) in Lizenz zu bauen. Auf Druck der Vereinigten Staaten war er bei deren Kriegseintritt aus dem brasilianischen Luftfahrtministerium entlassen worden und hatte sich, da er nicht interniert worden war, mit der Anlage von Energieversorgung für die großen Hotels, die in Rio aus dem Boden schössen, durchgeschlagen. Er schrieb, er habe dem Leiter des Technischen Zentrums des brasilianischen Lufitfahrtministeriums, General Montenegro, mitgeteilt, ich sei vermutlich frei, woraufhin ihn dieser sofort gebeten habe, bei mir anzufragen, ob ich mit einer Arbeitsgruppe in brasilianische Dienste treten wolle."38 Da der Kontakt just in dem Augenblick zustande kam, in dem das Scheitern des niederländischen Entwicklungsprojektes Fockes absehbar wurde, bleibt die Vermutung nicht abwegig, daß zunächst Fühler von Europa nach Brasilien ausgestreckt wurden und nicht umgekehrt. Focke und seine Mitarbeiter stellten die einzige Gruppe von deutschen Rüstungsfachleuten dar, die in den Jahren nach 1945 von Brasilien angeworben wurden. Daneben gab es lediglich vereinzelt Luftfahrtingenieure, die von staatlichen Unternehmen oder der Privatindustrie unter Vertrag genommen wurden und deren Projekte - wie übrigens die der Focke-Gruppe auch - keine Spuren in der Luftfahrtproduktion Brasiliens hinterließen.39 Das argentinische Vorgehen war ein anderes. Beauftragte der Forschungsinstitute der argentinischen Streitkräfte beteiligten sich spätestens seit 1947 an der Jagd nach deutschen Experten. Gerade unter den Bedingungen einer klandestinen, von den Besatzungsmächten - und hier vor allem den USA - argwöhnisch beobachteten, planmäßigen Anwerbung deutscher Rüstungsingenieure waren den Argentiniern ihre früheren Kontakte hilfreich. Die Verbindungslinien sind nicht immer im einzelnen aufzeigbar. Deutlich ist jedoch, daß Argentinien sich erfolgreich um Fachleute bemühte, die auf jenen Gebieten der 37

Dies die Aussage von Oberst-Lt. (a.D.) Urbano Ernesto Stumpf im Interview in Säo José dos Campos vom 16.10.92. 38 Focke, Lebensweg, S. 83. 39 Siehe unten, Kap.7.

80 Waffentechnologie ausgewiesen waren, welche allgemein als zukunftsträchtig anerkannt waren, etwa Strahlflugzeuge und Raketen. Das prompte und zielgerichtete argentinische Vorgehen wäre ohne die früheren persönlichen Beziehungen kaum denkbar gewesen. Ein Geheimdienstbericht der britischen Besatzungsbehörden identifizierte einen ehemaligen Hauptmann der deutschen Luftwaffe als einen der Mittelsmänner bei der Organisation illegaler Fluchtrouten, und es ist anzunehmen, daß er aufgrund früherer Verbindungen zu Argentinien als Vermittler verwendet wurde.40 Zwei argentinische Militärs deutscher Abstammung und mit Vorkriegskontakten zu Deutschland spielten ebenfalls bei der Anwerbung eine wichtige Rolle. Der eine war der Hauptmann der argentinischen Luftwaffe O.F. Peters, der an der Technischen Hochschule Charlottenburg studiert hatte.41 Nach einer mündlichen Aussage eines Mitglieds der TankGruppe soll Peters vor 1939 eine Zeitlang bei der deutschen Luftwaffe gedient haben.42 Nach dem Krieg gehörte er zur argentinischen diplomatischen Vertretung in Paris, nach einem Bericht als Luitfahrtattache. In dieser Funktion soll er die Überfuhrung deutscher Luftfahrtingenieure, die vorübergehend in Frankreich Arbeit gefunden hatten, nach Argentinien organisiert haben.43 Der zweite war Gualterio Ahrens, der sich nach Kriegsende mit dem Auftrag in der Schweiz aufhielt, deutsche Rüstungsingenieure für Argentinien zu gewinnen. Er stellte den Kontakt zu Julius Henrici her, ehemals Mitarbeiter von Herbert Wagner bei der Entwicklung der ferngelenkten Gleitbombe Hs 293 der Firma Henschel und, über diesen, auch zu weiteren Ingenieuren, die an diesem Projekt mitgearbeitet hatten. Ahrens wurde später zum Direktor der Generaldirektion der Militärmanufakturen Argentiniens ernannt und somit zum Vorgesetzten der von ihm persönlich angeworbenen Deutschen. Nichts spricht dafür, daß sich das prinzipielle Interesse Argentiniens und Brasiliens an deutschen Rüstungsexperten (wie an ausländischem Know-how auf dem Gebiet der Rüstungstechnologie überhaupt) aus den früheren militärischen Kontakten ergab. Vielmehr war es die seit der Jahrhundertwende anvisierte Strategie der rüstungsindustriellen Modernisierung in beiden Staaten, die den Impuls für die Gewinnung ausländischer 40 41

Siehe unten, Kap. 5. Dies die Aussage eines ehemaligen Mitglieds der Gruppe um Tank in Córdoba, der anonym bleiben wollte; Interview in Córdoba am 10.9.91. Erich Löllmann, ebenfalls Mitglied der Tank-Gruppe, äußerte dazu: „Er soll in Deutschland studiert haben." (Brief an d.V. vom 27.12.94). 42 Es handelt sich um das in der Anonymität verharrende Mitglied der Tank-Gruppe (FN 41). 43 Brief E. Löllmann vom 27.12.94.

81 Expertise auf dem Gebiet der Waffenentwicklung und -Herstellung gab. Der Mangel an technischem Know-how hatte sich immer wieder bei der Realisierung von neuen waffentechnologischen Projekten als hinderlich erwiesen, und die Verpflichtung von erfahrenen Ingenieuren und Technikern gehörte bereits seit längerer Zeit zum Repertoire der Modernisierungsmaßnahmen in der Rüstungsproduktion. Das unterscheidet beide Staaten beispielsweise von Chile, wo der deutsche Militäreinfluß - auch im Vergleich zu Argentinien - ungleich stärker war, es aber zu der Zeit kaum eine Rüstungsindustrie und auch keine Strategie der gezielten Förderung der Rüstungsproduktion gab, weswegen eine Anwerbung von Experten auf dem Gebiet wenig Sinn gehabt hätte und in der Tat - trotz der engen Beziehungen zum deutschen Militärwesen - nicht stattfand.44 Und dennoch waren diese früheren Kontakte wichtig für die Anwerbung von Experten nach 1945: Die bestehenden Verbindungen zwischen argentinischen und deutschen Militärs trugen zum Gelingen der illegalen argentinischen Beute-Aktion unter den Bedingungen des Besatzungsregimes bei, während in Brasilien der eher zufällige Fang sich ebenfalls aus Vorkriegskontakten ergab.

44

Zur chilenischen Rüstungsindustrie siehe: Raül Sohr, La industria militar chilena, Santiago de Chile 1989; Carlos Portales/Augusto Varas, The Role of Military Expenditure in the Development Process. Chile, 1952-1975 and 1973-1980: Two Contrasting Cases, in: Ibero Americana 12:1-2 (1983), S. 29 ff.

83

4. DEUTSCHE RÜSTUNGSFORSCHUNG UND -PRODUKTION NACH 1945: DIE POLITIK DER BESATZUNGSMÄCHTE UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF DIE ARGENTINISCHE UND BRASILIANISCHE ANWERBUNG DEUTSCHER RÜSTUNGSFACHLEUTE

4.1 Vorbemerkung Die Migration deutscher Rüstungsfachleute nach Argentinien und Brasilien in den Jahren nach 1945 läßt sich nur vor dem Hintergrund der Politik der Besatzungsmächte gegenüber der Rüstungsforschung und -produktion im besetzten Deutschland verstehen. In dreifacher Hinsicht nahm diese Politik maßgeblichen Einfluß auf die Migration von Rüstungsexperten nach Lateinamerika. Erstens: durch das Verbot militärischer Forschung und Produktion wurde das bisherige Betätigungsfeld tausender Natur- und Technikwissenschaftler in Deutschland fortan untersagt. Dies stellte den entscheidenden Faktor bei der Migration solcher Fachleute in andere Staaten dar. Zweitens: die Verwendung solcher Experten durch die vier Besatzungsmächte, welche als solche einen leichten Zugriff auf die personellen und materiellen Ressourcen ihrer jeweiligen Besatzungszone hatten, dürfte die Nachahmung durch andere Staaten angeregt haben. Und drittens: Die Politik der Vorenthaltung deutscher Rüstungsexperten gegenüber Drittstaaten erschwerte den Zugang von diesen zu den Fachleuten. Wegen dieser Politik der Vorenthaltung sahen sich an der Anwerbung deutscher Fachkräfte interessierte Drittstaaten genötigt, entweder sich von den Besatzungsmächten vorschreiben zu lassen, welche Experten sie aufnehmen durften, oder aber sich über die Bestimmungen des Besatzungsregimes hinwegzusetzen und sich an der Jagd auf deutsche Wissenschaftler zu beteiligen. In diesem Kapitel wird die Politik der Besatzungsmächte gegenüber der militärischen Forschung, Entwicklung und Produktion im besetzten

84 Deutschland als einer der Bestimmungsfaktoren für die argentinische bzw. brasilianische Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute nach 1945 erörtert. Dies erfolgt in drei Schritten. Zum einen werden die Grundzüge der Besatzungspolitik mit den drei Elementen Verbot, Verwendung, Vorenthaltung, nachgezeichnet. Zum anderen wird die gegensätzliche Reaktion der argentinischen bzw. brasilianischen Führung auf die Politik der Vorenthaltung geschildert. Da die Haltungen Argentiniens und Brasiliens gegenüber den von den USA verhängten Restriktionen im Kontext unterschiedlicher außenpolitischer Traditionslinien der beiden Staaten zu sehen sind, werden sodann die Beziehungen Argentiniens und Brasiliens zu den USA skizziert. Dies soll verständlich machen, warum die Vorgehensweisen dieser zwei lateinamerikanischen Staaten bei der Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute nach 1945 so unterschiedlich waren. Drittens wird ein Vergleich der Anwerbungspraxis der vier Besatzungsmächte und der zwei hier untersuchten lateinamerikanischen Staaten unternommen.

4.2 Deutsche Rüstungsforschung und -produktion nach 1945: Die Politik der Besatzungsmächte 4.2.1 Das Verbot militärischer Forschung, Entwicklung und Produktion Als erstes Element der Besatzungspolitik gegenüber deutscher Wissenschaft und Technik ist das Verbot von militärischer Forschung und Entwicklung sowie der Rüstungsproduktion zu nennen. Unter den Zielen der Besatzungspolitik nannte das Potsdamer Abkommen an erster Stelle die völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands. Dort hieß es unter der Überschrift „Politische Grundsätze": „Die Ziele der Besetzung Deutschlands, durch welche der Kontrollrat sich leiten lassen soll, sind: (1) Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands und die Ausschaltung der gesamten deutschen Industrie, welche für eine Kriegsproduktion benutzt werden kann, oder deren Überwachung." Zu diesem Zweck wurde - neben der Auflösung der Streitkräfte und sämtlicher militärischer Organisationen - verfügt, daß „sich alle Waffen, Munition und Kriegsgerät und alle Spezialmittel zu deren Herstellung in der Gewalt der Alliierten befinden oder vernichtet werden (müssen). Der Unterhaltung und Herstellung aller Flugzeuge und aller Waf-

85 fen, Ausrüstung und Kriegsgeräte wird vorgebeugt werden."1 Unter den „Wirtschaftlichen Grundsätzen" des Besatzungsregimes stand die Zerstörung der deutschen Rüstungsindustrie ebenfalls an erster Stelle: „Mit dem Ziele der Vernichtung des deutschen Kriegspotentials ist die Produktion von Waffen, Kriegsausrüstung und Kriegsmitteln, ebenso die Herstellung aller Typen von Flugzeugen und Seeschiffen zu verbieten und zu unterbinden."2 In bezug auf militärisch relevante Forschung wurde diese Bestimmung im Kontrollratsgesetz Nr. 25 vom 29. April 1946 präzisiert. Naturwissenschaftliche Forschung für militärische Zwecke sollte unterbunden werden ebenso wie die praktische Anwendung der Forschung für solche Zwecke. Darüber hinaus war die Forschung auf Gebieten, die potentiell militärische Bedeutung haben könnten, zu überwachen und in friedliche Bahnen zu lenken. Zu diesem Zweck verfügte das Gesetz, das am 7. Mai 1946 in Kraft trat, die Auflösung und Beseitigung aller technischen militärischen Organisationen in Deutschland und verbot die angewandte naturwissenschaftliche Forschung auf neun Gebieten, darunter die Bereiche angewandte Kernphysik, Luftfahrt, Raketenantrieb, Gasturbinen und Radar.3 Mit der angewandten Kernphysik, mehr noch der Luftfahrt- und Raketenforschung waren Bereiche betroffen, aus denen sich wenige Jahre später ein wesentlicher Teil der Wissenschaftsmigranten nach Lateinamerika rekrutieren sollte. Die noch zugelassenen Forschungsinstitute hatten regelmäßig Bericht an die Kontrollinstanzen der jeweiligen Besatzungszone zu erstatten, wobei die Erteilung einer weiteren Forschungsgenehmigung von dem Inhalt dieser Berichte abhängig gemacht wurde.4 In der Praxis galt das Verbot der militärischen Forschung - schon wegen der schwierigen Grenzziehung zwischen angewandter und Grundlagenforschung - nicht absolut, und das Gesetz wurde je nach Besatzungszone unterschiedlich gehandhabt.5 Zudem wa-

1

Vgl. Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, 2. Aug. 1945, abgedruckt in: Das Potsdamer Abkommen. Dokumentensammlung. Berlin 1979, S. 215232, S. 219.

2 3

Ebenda, S. 221. Vgl. Wolfgang Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, S. 4 3 ff.; vgl. auch Helmuth Trischler, Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900-1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt am Main, N e w York 1992 (Studien zur Geschichte der deutschen Großforschungseinrichtungen, Bd. 4), S. 286 ff. Der vollständige Text des Gesetzes mit Anhängen findet sich in Allied Control Authority (ACA), Control Council, Control Council Law 25, PRO FO 943/300.

4 5

Vgl. Trischler, S. 290. Beispiele bei Müller und Trischler.

86 ren die Kontrolloffiziere wegen Personalmangels auf deutsche Mitwirkung angewiesen, was einer deutschen Mitgestaltung der Forschungspolitik gleichkam.6 Diese Umstände führten dazu, daß, wie Trischler schreibt, „eine einheitliche und verbindliche Forschungspolitik der Alliierten (...) nicht gegeben (war). Die konkrete Überwachung der Forschung hing von den sich wandelnden politischen Vorstellungen der Besatzungsmächte, von der Umsetzung der Direktiven durch die örtlichen Kontrollbehörden und von der Fähigkeit der deutschen Wissenschaftler und ihrer Organisationen ab, die gegebenen Spielräume auszuloten."7 Im Prinzip aber galt, daß eine Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit auf einem der im Kontrollratsgesetz Nr. 25 aufgelisteten Forschungsgebieten nicht mehr möglich war. Die Ausnahme bildeten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, die, sei es in der jeweiligen Besatzungszone, sei es im Ausland, im Auftrag der Besatzungsmächte selber durchgeführt wurden. Auf diese Weise fanden tausende deutscher Naturwissenschaftler und Techniker eine Beschäftigung in ihrem alten Beruf; in nicht wenigen Fällen erfolgte ein nahtloser Übergang zu den Diensten derjenigen Staaten, die bis dato das Dritte Reich bekämpft hatten.8

4.2.2 Die Verwendung deutscher Rüstungsexpertise durch die Besatzungsmächte Die Technisierung der Kriegsführung, die bereits im Verlauf des Ersten Weltkriegs augenfällig geworden war, war während des Zweiten Weltkriegs noch drastischer vorangeschritten. Auf zahlreichen Gebieten der Rüstungsproduktion, vom Panzerbau bis zur Luftfahrttechnik, hatte das Kriegsgeschehen die Modernität der deutschen Waffentechnik unter Beweis gestellt.9 Diese Überlegenheit stützte sich nicht nur auf den Einfallsreichtum deutscher Waffeningenieure, sondern auch auf eine bemerkenswerte Fähigkeit der Zulieferindustrien, die es - etwa durch die Entwicklung synthetischer Ersatzstoffe für knappe Rohstoffe - der deutschen 6

7 8

9

Maria Osietzki, Wissenschaftsorganisation und Restauration. Der Aufbau außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen und die Gründung des westdeutschen Staates 1945-1952, Köln und Wien 1984, S. 95 f. Trischler, Luft- und Raumfahrtforschung, S. 290. Herbert Wagner etwa, Leiter der Forschungsabteilung bei Henschel, die die ferngelenkte Gleitbombe Hs 293 entwickelt hatte, wurde bereits am 19. Mai 1945 in die USA eingeflogen; vgl. Hunt, Secret Agenda, S. 6. Vgl. ausführlich hierzu Bower, Paperclip Conspiracy, S. 9-87.

87 Rüstungsindustrie erstaunlich lange ermöglichte, die Produktion aufrechtzuerhalten. Offenkundig waren solche Erneuerungen auch von großem kommerziellem Nutzen. Damit sind zwei zentrale Elemente der alliierten Ausbeutung deutscher Technik in der Nachkriegszeit angesprochen: das Bestreben, vom Stand deutscher Waffentechnik zu profitieren, aber auch die Aneignung von Produktionsverfahren zum kommerziellen Vorteil der eigenen zivilen Industrie.10 Beide Elemente traten bei Briten und Amerikanern noch vor Ende des europäischen Krieges zutage. Nach der Landung alliierter Truppen in der Normandie wurden die sogannten „T-Forces" aufgestellt, deren Aufgabe darin bestand, deutsche (waffen-) technologische Entwicklungen, einschließlich der dazugehörigen Dokumente, Ausrüstungen und Personen aufzuspüren und sicherzustellen. Ziele solcher Aktionen wurden vorab durch das britisch-amerikanische Combined Intelligence Objectives Subcommittee (CIOS) identifiziert. Wenn auch zunächst die vordringliche Aufgabe des CIOS die Gewinnung von Informationen über militärtechnische Entwicklungen war, so wurde bereits im Sommer 1944 die Idee lanciert, auch technologische Informationen ohne militärische Relevanz, jedoch von Interesse für die zivile Industrie, durch CIOS und T-Forces sicherzustellen. Dies wurde durch das CIOS mit der Erstellung einer „grauen Liste" von Industriezielen ab Oktober 1944 praktiziert." Die Initiative für diese Erweiterung der anvisierten Ziele kam, so Gimbel, von britischer Seite.12 In der Praxis scheint Großbritannien weniger Nutzen als die US-amerikanischen Rivalen daraus gezogen zu haben, und das britische Programm zur zivilen Anwendung deutscher Wissenschaftler, das sog. Darwin Panel Scheme, blieb im Umfang bescheiden.13 Von Anbeginn der Beute-Aktion kam es zu einer starken Konkurrenz zwischen den künftigen Besatzungsmächten. Frankreich und die Sowjetunion sollten ohnehin aus der britisch-amerikanischen Kooperation herausgehalten werden, doch auch zwischen Briten und Amerikanern 10 11 12 13

Vgl. John Gimbel, Science, Technology, and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany, Stanford 1990, S. 21-34. Ebenda, S. 5-6. Ebenda. Siehe Board of Trade, Report on the Darwin Panel Scheme (1949), PRO BT 211/476. Siehe auch Carl Glatt, Reparations and the Transfer of Scientific and Industrial Technology from Germany: A Case Study of the Roots of British Industrial Policy and of Aspects of British Occupation Policy in Germany between PostWorld War II Reconstruction and the Korean War, 1943-1951, Ph.D. thesis, European University Institute, Florenz 1994.

88 herrschte eher Mißtrauen als einvernehmliche Zusammenarbeit. Es kam nicht selten zu Abwerbungen deutscher Wissenschaftler, in einigen Fällen zu regelrechten Entführungen, oder zum Abtransport bereits requirierter technischer Unterlagen durch eine weitere Besatzungsmacht.14 Es ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt, die Verwendungspraxis der Besatzungsmächte im einzelnen darzustellen.15 Ein Überblick über die Gesamtzahl der migrierten Rüstungsexperten und eine knappe Skizze der unterschiedlichen Verwendungspraxis der vier Besatzungsmächte und der zwei lateinamerikanischen Staaten wird unten in diesem Kapitel geboten. Hier sollen einige zentrale Aspekte der Handhabung deutscher Rüstungsexpertise durch die Besatzungsmächte zur Sprache kommen, die sich von der Verwendung durch Drittstaaten wie Argentinien und Brasilien unterschieden. An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, daß - wenn auch eine eindeutige Rechtsgrundlage für die Indienstnahme deutscher Fachleute durch die vier Hauptsiegermächte fehlte - diese qua Besatzungsmächte einen leichten Zugang zu deutschen Experten hatten. Das machte sich zum einen in dem zeitlichen Vorsprung bemerkbar, den sie gegenüber anderen potentiellen Anwerbern genossen: Wie erwähnt, fahndeten britische und amerikanische Experten noch vor Kriegsende nach deutschen Wissenschaftlern. Auch französische und russische Sondereinheiten auf der Suche nach deutscher Rüstungsexpertise folgten im Frühjahr 1945 dem Vormarsch ihrer Truppen.16 Geheimdienstinformationen sowie - im französischen Fall - die Rüstungszusammenarbeit während des Krieges verschafften den Besatzungsmächten auch einen Informationsvorsprung. 17 Bereits im Juli 1945 14

Beispiele bei Bower, Paperclip Conspiracy, S. 133 ff.; Gimbel, Science, Technology and Reparations, S. 31-2, S. 40; Albrecht u.a., Spezialisten, S. 36 ff.; Ulrich Albrecht, Rüstungsfragen im deutsch-französischen Verhältnis 1945-1955, in: Dokumente, Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, 6/1995, 51. Jg., S. 448453; 1/96, 52. Jg., S. 52-56, u. 2/96,52. Jg., S. 140-146, hier 6/95, S. 449 f. 15 Es sei auf die Literatur verwiesen: Zu den USA: Bower, Paperclip Conspiracy; Gimbel, Science, Technology and Reparations; Hunt, Secret Agenda; Burghard Ciesla, Das „Project Paperclip" - deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in den USA (1946-1952), in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Bd. 1, Berlin 1993, S. 287-301. Zur sowjetischen Verwendung: Albrecht u.a., Spezialisten; Burghard Ciesla, Der Spezialistentransfer in die UdSSR und seine Auswirkungen in der SBZ und DDR, in: APuZ, B 49-50/93, 3. Dez. 1993, S. 24-31. Zu Frankreich: Albrecht, Rüstungsfragen. Zur britischen Praxis: Glatt, Reparations. 16 Albrecht, Rüstungsfragen, Teil III, S. 144; Albrecht u.a., Spezialisten, S. 34. 17 Der BMW-Düsentriebwerksexperte Hans Münzberg bezeichnete die deutschfranzösische Rüstungskooperation der Nachkriegszeit angesichts dieser früheren

89 genehmigten die US Joint Chiefs of Staff das Projekt „Overcast" - die Verbringung von 350 deutschen Raketenexperten in die USA; bis Ende des Jahres befanden sich Wemher von Braun und etwa 120 seiner Mitarbeiter in Texas. In Großbritannien konnten bis Anfang Dezember 1945 178 deutsche Wissenschaftler und Ingenieure identifiziert werden, die für Forschungen im Auftrag der Streitkräfte gewonnen werden sollten.18 Die Übersiedlung deutscher Rüstungsfachleute in die Staaten der Besatzungsmächte stellte lediglich eine Form der Informationsgewinnung aus Befragungen der Experten dar.19 Nicht in allen Fällen wurden diejenigen deutschen Fachleute, deren Kenntnisse die Besatzungsmächte in den Dienst der eigenen Forschung stellen wollten, für längere Aufenthalte im eigenen Lande verpflichtet. Es erfolgte zunächst meist eine Befragung in Deutschland. Jene Wissenschaftler, deren Kenntnisse von Briten oder Amerikaner für besonders interessant erachtet wurden, wurden dann in Internierungslager wie ,,Ashcan" in Luxemburg oder „Dustbin" (bis 1945 in Versailles, danach in Schloß Kransberg bei Frankfurt) zur weiteren Befragung gebracht. Kurze Aufenthalte

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Zusammenarbeit als eine „natürliche Partnerschaft". Zitiert nach Bower, Paperclip Conspiracy, S. 150. Nach dem Krieg war Münzberg Mitarbeiter in der nach dem Leiter Dr.-Ing. Hermann Oestrich genannten „Gruppe O" bei der SNECMA (Société Nationale d'Etudes et de Construction des Moteurs Aéronautiques). Während des Krieges hatte Oestrich den Gasturbinen-Entwicklungsbetrieb der B M W geleitet; vgl. Kyrill von Gersdorff und Kurt Gramann, Flugmotoren und Strahltriebwerke (= Die deutsche Luftfahrt, Bd. 2) 2. Aufl., Koblenz 1985, S. 226-233. Siehe auch Albrecht, Rüstungsfragen. DCOS Committee, Employment of German Scientists, German Experts to be Employed in the U.K., Comprehensive Initial British Requirements, 3.12.1945, PRO FO 942/377. Allerdings kann nicht von dieser Liste auf die tatsächliche Zahl der nach Großbritannien verpflichteten Deutschen im Bereich der militärischen Forschung geschlossen werden. Denn sie enthält neben Doppelzählungen zahlreiche Namen von Experten, die in die USA gingen oder sich bereits bei Erstellung der Liste dort befanden, darunter die Raketenexperten von Braun und Debus, der Hubschrauberkonstrukteur Flettner und der Lenkwaffenexperte Herbert Wagner, sowie von Experten, denen schließlich keine Verträge angeboten wurden und die für andere Mächte arbeiteten, darunter der Hubschrauberkonstrukteur Focke (Frankreich, Niederlande, Brasilien), der Nurflügelspezialist Horten (Argentinien) und der ehemalige Chefkonstrukteur von Fokke-Wulf, Tank (Argentinien, später Indien und Ägypten). Für ein Beispiel der Informationsgewinnung durch deutsche Experten ohne eine Verpflichtung ins Ausland, siehe Trischler, Luft- und Raumfahrtforschung, S. 290 ff.: Im Auftrag der britischen Besatzungsmacht fertigten Mitarbeiter der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen (AVA) und des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Strömungsforschung die „Monographien über Fortschritte der deutschen Luftfahrtforschung seit 1939" an. „Die englische Übersetzung der erweiterten Berichte...hatte ein Volumen von 14.000 Seiten Text und 9.400 Abbildungen". - Ebenda, S. 296.

90 in Großbritannien (immerhin bis zu sechs Monaten) folgten in vielen Fällen, ohne daß die deutschen Wissenschaftler unter Vertrag genommen wurden. Eine Übersiedlung erfolgte im Falle Großbritanniens und der USA nur nach sorgfältiger Auswahl20 und bei denjenigen, deren Mitwirkung bei bestimmten Projekten unverzichtbar erschien. Frankreich und die Sowjetunion bevorzugten dagegen die Mitnahme ganzer Arbeitsgruppen.21 Im sowjetischen Fall erfolgte dies im wesentlichen durch eine Zwangsverbringung, worin diese sich deutlich von dem bei weitem indirekteren Druck der westlichen Besatzungsmächte unterschied: etwa 85 % der Spezialisten wurden in einer sorgfältig vorbereiteten Aktion überfallartig in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 1946 per Bahn in die Sowjetunion gebracht, ohne daß die mitgenommenen Deutschen Gelegenheit hatten, einer solchen Dienstverpflichtung zuzustimmen.22 Neben der Übersiedlung von Experten ließen die Besatzungsmächte, vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit, auch in ihren jeweiligen Zonen weiterhin militärische Forschung betreiben. Beispiele aus allen vier Zonen lassen sich anführen. Über die sowjetische Praxis der Weiterführung deutscher Rüstungsforschung und -produktion schreibt Heinemann-Grüder: „Mit den bisherigen deutschen Mitarbeitern ließ sich die Rekonstruktion und Produktion von Kriegsgerät weitaus schneller bewerkstelligen, zugleich konnten sowjetische Wissenschaftler und Ingenieure wertvolle Erfahrungen bei der Kooperation mit deutschen Fachleuten sammeln. Eine Demontage der Anlagen hätte die Rekonstruktion gerade verhindert oder doch zumindest erheblich hinausgezögert. Und so wurden deutsche

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Dies zumindest vom Anspruch her. In der Praxis konnten die umworbenen Deutschen durch Fürsprache die Auswahl ihrer Mitarbeiter mitbestimmen. Unter den in die USA migrierten „Raketenexperten" um Wernher von Braun befanden sich so u.a. der Patentanwalt Herbert Axster, ein Künstler, und der Fahrer W. von Brauns; vgl. Bower, Paperclip Conspiracy, S. 126-7. Dieser Unterschied in der Praxis der Briten und Amerikaner einerseits und der Franzosen andererseits wird von Albrecht am Beispiel von BMW-Düsentriebwerksexperten herausgestellt: „Die amerikanischen Verantwortlichen offerierten, wie in anderen Fällen auch an den Führungskräften von Technologieteams interessiert, Dr. Oestrich und elf seiner Mitarbeiter Verträge...Die Franzosen hingegen, des enormen Potentials der Gruppe für den Aufbau einer eigenständigen DüsenTriebswerksindustrie in Frankreich gewahr, boten an, Dr. Oestrich und 120 seiner Mitarbeiter Wirkungsmöglichkeiten in Frankreich zu geben." Albrecht, Rüstungsfragen, Teil II, S. 53. Oestrich nahm das französische Angebot an. Albrecht u.a., Spezialisten, S. 12.

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Fachkräfte, namentlich Rüstungsforscher, vorerst in Betrieben, die sowjetischer Verwaltung unterstellt wurden, wieder beschäftigt." 23 Für die britische Zone wurde die Möglichkeit, Forschungsaufträge nach Deutschland zu vergeben, im September 1946 aufgeworfen. 24 Sie schien mehrere Vorzüge zu bieten: die beteiligten deutschen Wissenschaftler hätten eine sinnvolle Aufgabe und trügen durch ihre wissenschaftliche Arbeit zumindest indirekt zum Aufbau ihres Landes bei. Ferner würde man dadurch dem mit Sorge beobachteten Drift solcher Fachleute in die sowjetische Zone entgegenwirken. Die anvisierte langfristige Verzahnung von deutschem Know-how mit britischer industrieller Kapazität schien symbolhaft für die erhoffte gute Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit zu stehen und wurde geradezu mit Emphase gepriesen. In einem Schreiben an das Department of Scientific and Industrial Research (DSIR) verwies Derek Johnston vom Control Office for Germany and Austria (COGA) auf „überragende politische und strategische Gründe", aufgrund derer die Vergabe von Forschungsaufträgen unterstützt wurde, fuhr aber fort: „I am sure it is a useful contribution to the German problem (...) in that it will help us to keep German scientific activity out of subversive channels and will promote good morale and a healthy internationalism among German scientists. The action which is dictated to us by political considerations rather rarely seems to be thoroughly good and worthwhile in itself; this step towards coordinating German with British research and towards harnessing German scientific resources to British technical progress is one of the welcome exceptions." 25 Dennoch war diese Lösung nicht unproblematisch, war doch die Zerschlagung des deutschen Militarismus das Hauptziel der Besatzung und hatten die Besatzungsmächte nur wenige Monate davor ein Verbot aller militärisch relevanten Forschung in Deutschland verfügt. Daß sich Forschungseinrichtungen der britischen Streitkräfte neben der zivilen Industrie unter den Auftraggebern befanden, mußte daher verborgen bleiben. Man suchte also nach zivilen Trägern in Großbritannien, die quasi als Tarnorganisationen die Forschungsaufträge in Deutschland erteilen sollten, denn diese, so

23 24

Ebenda, S. 34. DCOS, Extracts from Minutes of Meeting held on 11th September 1946, PRO BT

25

Johnston (COGA) to Verry (DSIR), The Placing of Research Contracts with German Research Establishments by Government Departments and British Industry, November 1946, PRO BT 211/66.

211/60.

92 die Überlegung, obwohl „peaceful and innocent in themselves" und - so wurde zumindest beteuert - „in conformity with Control Council Law No. 25, might give occasion for misrepresentation in the press or elsewhere." Das DSIR erklärte sich prinzipiell bereit, „civilian cover for contracts which service departments wished to place" anzubieten.26 In der französischen Zone wurde ebenfalls militärische Forschung zunächst weitergetrieben. Triebwerkspezialisten der Firmen BMW und Daimler-Benz, die später nach Frankreich übersiedelten, wurden zunächst in der französischen Zone beschäftigt. 27 In Kiel ließen Vertreter der britischen und US-amerikanischen Marine zwei neuartige U-Boote nachbauen und profitierten zudem von der „erstaunlichen Bereitschaft" deutscher Marineoffiziere und Wissenschaftler, Auskunft über diese neue Technologie zu geben.28 In Stuttgart-Zuffenhausen ließ die U.S. Marine neuartige Düsenantriebe der Firma Heinkel herstellen.29 Für die Besatzungsmächte stellte die Verwendung von deutschen Rüstungsexperten - sei es in der jeweiligen Besatzungszone, sei es durch Befragung oder durch eine längerfristige Verpflichtung ins Ausland - lediglich eine Dimension der Ausbeutung deutscher Technik dar, die auch die Mitnahme von Mustern neuer Waffen, Produktionsunterlagen, Fertigungsanlagen sowie Informationen über technische Verfahren umfaßte. Das macht einen erheblichen Unterschied zu der Beteiligung von Drittstaaten wie Argentinien und Brasilien an den waffentechnischen Errungenschaften des Dritten Reiches aus. Einige Beispiele geben eine Vorstellung von dem Gewinn, den die Besatzungmächte aus diesem Zugang zu nicht personellen Ressourcen erzielten. Entwicklungslabors und Versuchsanlagen des Peenemünder Raketenentwicklungs- und Testgeländes wurden von einem sowjetischen Sonderkommando systematisch ausgewertet,30 wobei die derart gewonnenen Informationen vermutlich dem sowjetischen Raketenbauprogramm - zumal in Verbindung mit der Zwangsverpflichtung deutscher Raketenexperten - zugute kamen.31 Dem sowjetischen Atombombenbau 26 27 28 29 30 31

Placing of Research Contracts in Germany, Minutes of Meeting held 15th January 1947, PRO BT 211/66. Albrecht, Rüstungsfragen, Teil I, S. 53 f. Bower, Paperclip Conspiracy, S. 97 f. Ulrich Albrecht, The Soviet Armaments Industry, Chur (Schweiz) 1993, S. 32 (FN 56). Albrecht u.a., Spezialisten, S. 33 f. Vgl. Arend Wellmann, Raketenforschung, in: Albrecht u.a., Spezialisten, S. 83 ff. Immerhin wurde, wie Wellmann schreibt, der sowjetische Nachbau der V2 Ende 1947 bereits in Serie produziert (ebenda, S. 100).

93 kamen ebenfalls deutsche Ressourcen - nicht nur Wissenschaftler - zugute: trotz Bombardierung durch die Amerikaner fanden die Sowjets im Werk der Auer-Gesellschaft in Oranienburg „noch einige Tonnen sehr reinen Uranoxyds sowie Akten, Verträge und Verfahrenseinzelheiten vor."12 Auch andernorts wurden die Sowjets fündig: „Die Uranschmelzanlage der Degussa in Stadtilm fiel den Sowjets ebenso zu wie in Rheinsberg verbliebene Uranwürfel und einige Tonnen Metallpulver. 25 weitere Tonnen ungereinigten Uranoxyds und andere Uranate fand ein eigens geschaffenes Uransuchkommando in verschiedenen Lagerstätten (...)" Im Berliner Labor von Manfred von Ardenne wurden diverse Geräte vorgefunden, die ihn z.T. auf seine Reise in die Sowjetunion begleiteten.33 Den Franzosen fiel eine getarnte Prüf- und Abnahmeeinrichtung für Raketenmotoren der V-2 am Bodensee in die Hände. Die Einrichtungen wurden abgebaut und nach Frankreich überführt. Aus den Mittelwerken erhielten die Franzosen ferner VI-Geschosse und V-2-Bauteile.34 Zu der amerikanischen Beute an nicht personellen Ressourcen gehörten Zeichnungen und Berichte von BMW sowie Messerschmitt-Konstruktionszeichnungen. Diese wertvollen Unterlagen wurden sämtlich nach dem Luftwaffenstützpunkt Wright Field, Ohio, geschafft. 35 In einem großangelegten Versuch zur Systematisierung der Informationsgewinnung initiierten die Amerikaner ein flächendeckendes Dokumentenprogramm mit dem Ziel der Mikroverfilmung von Informationen über wissenschaftliche, industrielle und technologische Verfahren, Erfindungen, Methoden usw. Obwohl das Programm bald zurückgestutzt werden mußte zugunsten eines selektiveren Verfahrens blieb es, wie Gimbel schreibt, „a 'scientific clean-up' Operation of the first order."36 Für Großbritannien dürfte die wertvollste Beute die Luftfahrtforschungsanstalt (LVA) in Völkenrode gewesen sein, deren hochmoderne Forschungs- und Meßeinrichtungen sämtlich nach Großbritannien abtransportiert wurden.37

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Andreas Heinmann-Grüder, Deutsche Mitarbeit im sowjetischen Atomprojekt, in: Albrecht u.a., Spezialisten, S. 48 ff., S. 50. Ebenda, S. 50, S. 52. Albrecht, Rüstungsfragen, Teil III, S. 140-1. Gimbel, Science, Technology and Reparations, S. 164; Bower, Paperclip Conspiracy, S. 105. Gimbel, Science, Technology and Reparations, S. 63. Glatt, Reparations, S. 241. Für eine ausführliche Erörterung von britischen Beschlagnahmungen deutscher militärischer Forschungseinrichtungen siehe ebenda, S. 239-265.

94 Die Bedeutung solcher Transfers läßt sich nicht quantifizieren, doch ist sicherlich die Annahme berechtigt, daß sie - schon für sich genommen und erst recht in Verbindung mit der Übernahme deutscher Experten - eine wesentliche Stütze beim Nachbau bzw. Weiterentwicklung deutscher Rüstungstechnologie darstellten. Hingegen war der „brain drain" nach Argentinien und Brasilien im wesentlichen eben nur ein Personentransfer. Konstruktionszeichnungen wurden in einigen Fällen durch die Lateinamerika-Migranten mitgenommen. Aber zu der technischen Infrastruktur, von der die Besatzungsmächte profitierten, hatten die lateinamerikanischen Aufnahmestaaten keinen Zugang.

4.2.3 Vorenthaltung: Die anglo-amerikanische „policy of denial" Für die USA und Großbritannien galt von Anfang an, deutsche Wissenschaftler nicht nur zu verwenden, um selbst daraus Nutzen zu ziehen, sondern auch, um diese Wissenschaftler anderen Staaten vorzuenthalten - die sogenannte „policy of denial". Gimbel vermutet gar, daß das USamerikanische Programm, „Project Paperclip", nur wegen des Elements der Vorenthaltung von Präsident Truman akzeptiert worden sei. Für die Betonung der Vorenthaltung als zentrales Element der amerikanischen Politik führt Gimbel drei Gründe an. Ersten sei dies das einzige Argument, welches das State Departement beeindruckt habe, zweitens schien es geeignet, die eigennützigen Einwände US-amerikanischer Wissenschaftler zu entkräften, die am Import deutscher Konkurrenten Anstoß nahmen, und schließlich ermöglichte dieses Argument eine Verzahnung des nationalen mit sektoralen Interessen - d.h. mit den Wünschen und Plänen derjenigen in Industrie, Wissenschaft sowie der Geschäftswelt, die deutsche Experten und deutsches Know-how zum privaten Vorteil nutzen wollten.38 Zur Rechtfertigung eines kontroversen Programms mag das Argument der Vorenthaltung hilfreich gewesen sein. Gleichzeitig enthielt es unübersehbare Widersprüche, auf die Vertreter des State Department immer wieder hinwiesen. Die Vorenthaltung hatte aus der Sicht der USA zwar vornehmlich der Sowjetunion zu gelten, doch bei den kontrovers geführten Diskussionen innerhalb der US-Regierung zeigte sich auch die Besorgnis, daß neben anderen Ländern auch Argentinien deutsche Wissenschaftler anwerben 38

Vgl. Gimbel, Science, Technology and Reparations, S. 38-9.

95 könnte. Die Verwendung deutscher Wissenschaftler durch die USA, so wurde besonders von Lateinamerika-Spezialisten des State Department geltend gemacht, stelle einen Verstoß gegen gültige inneramerikanische Abkommen zur Reduzierung von „Einflußzentren" der Achsenmächte in der westlichen Hemisphäre dar. Die USA praktizierten mit dem PaperclipProjekt genau das, was in Lateinamerika unterbunden werden sollte. Zur Untermauerung seiner Kritik an der Aufnahme deutscher Wissenschaftler in die USA führte etwa Spruille Braden ein anschauliches Beispiel an: „Certainly if we found German atomic physicists in Argentina we should insist on their repatriation, and if an attempt were made to bring them to Argentina we would resist."39 Dieser damals (1946) hypothetische Fall sollte ein knappes Jahr später tatsächlich eintreten, als Werner Heisenberg eine Einladung nach Argentinien erhielt, von den Besatzungsmächten aber keine Ausreiseerlaubnis bekam.40 Gegenüber Lateinamerika verwickelten sich so die USA mit ihrer Politik der Verwendung deutscher Wissenschaftler im eigenen Lande in Widersprüche, die in der Konkurrenz unter den vier Besatzungsmächten nicht so sichtbar wurden. Denn während alle vier Besatzungsmächte den günstigen Umstand der Besatzung nutzten, um sich an der Jagd auf deutsche Naturwissenschaftler und Ingenieure zu beteiligen, und dabei in ihren Methoden häufig nicht wählerisch waren, hatten sich die amerikanischen Staaten auf der inneramerikanischen Konferenz von Chapultepec (März 1945) auf Betreiben der USA zu einer Politik verpflichtet, die mit der Anwerbung deutscher Wissenschaftler, zumal im Bereich der Waffentechnologie und mitunter von politisch erheblich belasteten Personen, schlichtweg unvereinbar war. Die Akte von Chapultepec sah die Repatriierung von „obnoxious Germans" aus den amerikanischen Staaten nach Deutschland vor mit dem Ziel, die Herausbildung von Einflußzentren der Achsenmächte zu verhindern. Die US-Amerikaner hatten das Beispiel der Verlagerung deutscher Waffenproduktion ins Ausland nach 1918 vor Augen; damals wurden Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages umgangen, so daß die deutsche Waffenindustrie teilweise weiterlaufen konnte.41 Die Re39 Zitiert nach ebenda, S. 45. 40 Das Ausreiseverbot wurde von der britischen Besatzungsmacht ausgesprochen, wobei der Vorgang aufmerksam in den USA verfolgt wurde; s. unten, Kap. 6. 41 Fred Tanner, Versailles: German Disarmament after World War I, in: Ders. (Hrsg.) From Versailles to Baghdad: Post-War Armament Control of Defeated States, New York 1992 (United Nations Institute for Disarmament Research, UNIDIR), S. 5-25. Für Beispiele der deutsch-russischen Rüstungskooperation zur Umgehung des Rü-

96 patriierung und der Kampf gegen den Einfluß der Achsenmächte auf dem amerikanischen Kontinent sollte verhindern, daß diese Auslagerungsstrategie zum zweiten Mal nach einem verlorenen Krieg Erfolg zeitigte. Aber die Zurückdrängung deutschen Einflusses vertrug sich schlecht mit der eigenen Anwerbung deutscher Fachleute, und es ist kein Zufall, daß der Widerstand innerhalb der US-amerikanischen Regierung gegen das PaperclipProjekt von Mitarbeitern des State Department kam, die mit inneramerikanischen Angelegenheiten oder mit dem Safehaven-Programm befaßt waren.42 Nur unter der Voraussetzung, daß die Verwendung solcher Wissenschaftler in den USA diskret gehandhabt wurde (angesichts der befürchteten kritischen Öffentlichkeit in den USA war Geheimhaltung oder zumindest Verschleierung ohnehin geboten), konnte Chapultepec als Hebel gegen ähnliche Versuche der Nutzung deutschen Know-hows seitens lateinamerikanischer Staaten angewendet werden. In der Praxis allerdings blieb die Akte von geringer Wirkung.43 Während eine Politik der Vorenthaltung gegenüber der Sowjetunion auch ein Element der britischen Handhabung deutscher Wissenschaft und Technik darstellte, scheint die Sorge um eine Gefährdung der Sicherheit durch die Einwanderung Deutscher in lateinamerikanische Staaten ausschließlich die USA beschäftigt zu haben. Britische Quellen legen den Schluß nahe, daß die britischen Behörden der US-Politik geflissentlich

stungsproduktionsverbots des Versailler Vertrages siehe Albrecht, Soviet Armaments Industry, S. 12 ff. 42 Das Safehaven-Programm bestand im wesentlichen aus zwei Elementen, erstens, Verhandlungen mit neutralen Ländern für die Liquidierung deutscher Guthaben darin und deren Transfer zur Interalliierten Agentur für Reparationen (Inter-Allied Reparation Agency, IARA); zweitens, Rückführung nach Deutschland von Deutschen, die in neutralen Ländern während des Krieges politisch oder wirtschaftlich aktiv waren. Siehe Foreign Office (German Section) to Berlin, 3.11.1948, PRO FO 940/177. Als Safehaven-Länder, d.h. Länder, in die die Einwanderung Deutsche besonders scharf zu überwachen war, galten nicht nur die Neutralen, sondern auch der Mittlere Osten, Äthiopien, Griechenland, die Länder Mittel- und Südamerikas sowie Siam. Vgl. HQ Entries and Exits Branch, Intelligence Division, CCG(BE), B.A.O.R. to Foreign Office (German Travel Department), 7.2.1949, PRO FO 940/177. 43 Im Zusammenhang mit der Ausreisepolitik nach Lateinamerika berichtete die britische Botschaft in Bogotá dem Foreign Office am 21.8.1947: „I asked him (the U.S. Chargé d'Affaires, d.V.) if, as Americans, they had not the Act of Chapultepec on which to rely and, while he said that that was so, in practice it was quite useless to say anything." PRO FO 940/54.

97 folgten, ohne sie unbedingt nachvollziehen zu können.44 Lateinamerika galt eindeutig als Interessensphäre der USA. Die Haltung der USA in der Frage der Auswanderung Deutscher nach Lateinamerika war folglich für Großbritannien bestimmend. Die Control Commission for Germany (British Element) stellte im Zusammenhang eines Auswanderungsgesuchs im Oktober 1947 fest: „we are (...) bound by a Travel Agreement between ourselves, the Americans and the French. Under this Agreement the Americans have what amounts to a right of veto on the grant of an exit permit to any intending traveller to Latin-America of whom they disapprove. We have tried hard for a long time to persuade the Americans to interpret this Agreement sensibly and liberally, but they have persistently dug their toes in." Selbst wenn der Ausreisewillige eine doppelte Staatsbürgerschaft besitze, fährt der Bericht fort, „the Americans would veto the grant to him of an exit permit if he had ever been a party member, even if only nominal." Nach einer Schilderung des komplizierten und langwierigen Verfahrens der Beantragung einer Ausreisegenehmigung, schließt der Bericht mit der realistischen Einschätzung: „the net result of all these restrictions on travel is that most people who wish to get to Central or South America, realising how small are their chances of doing so legally, cross the border illegally into Belgium or Holland and there proceed to arrange their onward journey with the assistance of their local Consulate."45 Während der späten vierziger Jahre änderte sich die US-Politik der Vorenthaltung. Diese Änderung wurde im Zeichen des Kalten Krieges ab 1947 maßgeblich. Dabei galt das Konzept der Vorenthaltung zunehmend der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten. Zwar war die Verpflichtung deutscher Wissenschaftler durch die Sowjetunion im wesentlichen bereits nach der großen Verbringung vom Oktober 1946 abgeschlossen. Dennoch wurde die sowjetische Anwerbung deutscher Wissenschaftler und Techniker weiterhin als Gefahr gesehen. Mit dieser Begründung gelangten 44

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Etwa: Economic Warfare Department, Foreign Office, an britische Botschaft in Bogotá am 20.10.1947: „We are endeavouring to find out just how strictly the Americans are now interpreting their policy of 'hemispheric security'..." PRO FO 940/54. Im August 1947 schlug das Foreign Office vor, daß Personenüberprüfungen im Rahmen des Safehaven-Programms durch US-Stellen vorgenommen werden sollten, soweit die Zielländer in der westlichen Hemisphäre lagen. Die Begründung: „It is after all their 'hemispheric security' bogy which makes all this work necessary." - PRO FO 940/530. C.E. Steel, Political Division, HQ, CCG(BE), Berlin, an F.K. Roberts, British Embassy, Moskau, 9.10.1947, PRO FO 940/55.

98 weitere Wissenschaftler in die USA, nicht in erster Linie wegen ihrer Bedeutung für die US-amerikanische Forschung und Entwicklung, als vielmehr, weil diese Experten vor allem der Sowjetunion vorenthalten werden sollten. Die veränderte Zielsetzung fand ihren Ausdruck in der sprachlichen Unterscheidung zwischen „the paperclip or denial projects".46 Die Mehrzahl der im Rahmen der Vorenthaltungsstrategie angeworbenen Wissenschaftler fand eine Einstellung an der Universität oder in der Rüstungsindustrie.47 Solches Personal wurde, soweit weder die USA noch Großbritannien Verwendung dafür hatten, in verstärktem Maße auch Drittstaaten, insbesondere denjenigen des britischen Commonwealth, angeboten. Auch der anfängliche Widerstand gegen die Auswanderung deutscher Experten nach Lateinamerika wurde im Zuge einer nunmehr ausschließlich gegen die Sowjetunion gerichteten Vorenthaltungspolitik aufgegeben. In bezug auf Argentinien ist ein zweiter Aspekt nicht minder wichtig: die vorsichtige Annäherung zwischen der Regierung Perön und den USA, der eine engere militärische Zusammenarbeit vorausgegangen war. Der Wandel scheint sich allmählich vollzogen zu haben. Nach der Studie von Hunt galt die neue Politik der USA ab 1950.48 Eine Lockerung des Ausreiseverbots für Wissenschaftler gab es allerdings bereits ab 1949, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird. Diese machte sich für ausreisewillige deutsche Wissenschaftler mit Zielland Argentinien in einer spürbaren Erleichterung der Ausreisebestimmungen bemerkbar. Selbst in den Fällen, in denen es Drittstaaten erlaubt oder gar anheimgestellt wurde, Wissenschaftler aus Deutschland aufzunehmen, kann von übereinstimmenden Interessen seitens der Briten und Amerikaner als Besatzungsmächte auf der einen Seite und der aufnahmewilligen Staaten auf der anderen Seite nicht die Rede sein. Für die Besatzungsmächte stand eben nicht die Leistung von Reparationen an die Vereinten Nationen im Vordergrund. Vielmehr waren ganz andere Motive für ihre Ausreisepolitik ausschlaggebend. Die Politik der Vorenthaltung gegenüber der Sowjetunion blieb ein zentrales Element der Ausreisepolitik und ließ es vordringlich erscheinen, jene Wissenschaftler im Ausland unterzubringen, die als potentiell nützlich für die Sowjetunion eingeschätzt wurden und nicht primär solche, die vom Aufnahmeland sinnvoll eingesetzt werden konnten. Daneben spielte auch die Überlegung eine Rolle, daß man mit dem Transfer von 46 47 48

OMGUS (Maj. T.J. Grant) an JIOA, 27.12.47, RG 260/OMGUS/AGTS/511. Hunt, Secret Agenda, S. 176. Vgl. ebenda, S. 143-156.

99 technologischem Know-how in sich industrialisierende Staaten mittelfristig zur Stärkung der Konkurrenz und somit zur Gefährdung der eigenen Absatzmärkte beitrage. Die Diskussionen innerhalb der betroffenen Regierungsstellen Großbritanniens über das Ersuchen der indischen Regierung um deutsches technisches Personal veranschaulichen die Gesichtspunkte, die bei der Formulierung der Auswanderungspolitik gegenüber einem befreundeten Drittstaat als relevant erachtet wurden. Das Interesse der Regierung Indiens an deutschen technischen Fachkräften wurde der britischen Regierung Anfang des Jahres 1946 - noch vor der Unabhängigkeit Indiens - mitgeteilt und konkretisierte sich im November desselben Jahres mit der Erstellung einer Liste der benötigten technischen Berufe. Vertreter der betroffenen Ministerien, denen die Anfrage vorlag, äußerten unter anderem, die Mehrzahl der von Indien benötigten Kräfte „were probably not of the type which it was most important for defence reasons to get into employment outside Germany." Im Klartext hieß dies, daß die britische Regierung kein starkes Interesse an der Unterstützung des indischen Ansuchens hatte, da es sich nicht um Wissenschaftler handelte, die dem Zugriff der Sowjetunion entzogen werden sollten. Auch wurde geltend gemacht, daß eine indische Anwerbung deutscher Fachkräfte britischen Interessen abträglich wäre: „The employment of Germans in India would be prejudiced (sic) to the United Kingdom's export trade, because they would naturally recommend their employers to buy German equipment when it is available and employ further German technicians."49 Ein halbes Jahr später war die Angelegenheit noch immer nicht geklärt. Offenbar zögerte Großbritannien, der entstehenden indischen Konkurrenz Stärkung in Form qualifizierten technischen Personals zukommen zu lassen: ,J feel this is a rather delicate matter" schrieb ein Vertreter des Foreign Office im Juli 1947, „as I understand that the Board of Trade entertained certain views about the promotion of Indian technology which might result in her industries becoming highly competitive in the world's markets."50 Auch wenn im Ergebnis die indische Anfrage Zustimmung und Unterstützung erhielt,51 so verdeutlicht doch die

49 50 51

Employment of German technicians in India, Minutes of Meeting held in India Office, 18.12.46, PRO BT 211/67. Worsfold (Foreign Office) an F. Broomfield (Board of Trade), 22.7.47, PRO BT 211/67. Siehe Minutes of Meeting held in Commonwealth Relations Office, 24.10.47, PRO BT 211/67.

100 vorausgegangene regierungsinteme Diskussion in London, daß die Anwerbungsgesuche von Drittstaaten nicht primär im Lichte von deren Bedürfnissen betrachtet wurden, sondern vor allem eine kritische Überprüfung hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den Zielen der Besatzungsmächte erfuhren. Es ist verständlich, daß Drittstaaten sich gelegentlich weigerten, die ihnen zugedachte Rolle als Auffangbecken für Deutsche auf den sog. „graded lists" zu übernehmen, für jene Deutsche also, die nicht in russische Hände fallen sollten. Südafrika lehnte ein von der britischen Regierung unterbreitetes Angebot dankend ab. Das südafrikanische Council for Scientific and Industriell Research war durchaus an deutschen Spitzenwissenschaftlern („the top-noteh people") interessiert, stellte aber zugleich resignierend fest, „I doubt if we can get them."52 Diese Annahme war durchaus realistisch.

4.3 Die Anwerbung deutscher Rüstungsexperten durch Argentinien und Brasilien 4.3.1 Die argentinische und brasilianische Anwerbung deutscher Rüstungsexperten im Kontext der Besatzungspolitik Lateinamerikanische Anwerbungsversuche fanden ebenfalls in diesem, im erheblichen Maße von den Eigeninteressen der Besatzungsmächte geprägten Kontext statt. Für Lateinamerika blieb, wie gezeigt, die Haltung der USA ausschlaggebend. Unmittelbar nach Beendigung des Krieges bis gegen Ende der vierziger Jahre blieb bestimmendes Motiv die Ausschaltung des deutschen Einflusses auf dem amerikanischen Kontinent. Dazu gehörte auch, eine Verlagerung deutscher Waffenproduktion ins Ausland zu unterbinden. In dieser Situation war es ausgeschlossen, daß Argentinien oder Brasilien die Zustimmung der USA zu einer gleichberechtigten Teilhabe an der Wissenschaftler-Beute erhalten hätten. Wie die CommonwealthStaaten für Großbritannien, sollte Lateinamerika in den Augen der USA in erster Linie als Auffangbecken für Personal dienen, das sonst nicht zu vermitteln gewesen wäre und welches der Sowjetunion vorenthalten wer-

52

Scientific Liaison Officer, South Africa, an Control Office for Germany and Austria (Apr. 1947), sowie South African Council for Scientific and Industrial Research an Scientific Liaison Officer (Feb. 1947), PRO FO 943/273.

101

den sollte. Die Behandlung einer brasilianischen Anfrage nach Technikern verdeutlicht diese Haltung. Die brasilianische Botschaft in Washington hatte im August 1947 um die Erlaubnis gebeten, Fachkräfte in Deutschland anzuwerben, und wurde vom State Department ermutigt, etwa fünfzig Personen zu bestimmen. Als schließlich eine Liste von 59 namentlich identifizierten Personen vorgelegt wurde, ging der amerikanischen Zustimmung eine Diskussion voraus, in der das Für und Wider einer Erlaubnis abgewogen wurde. Es wurde festgestellt, daß zehn der beantragten Personen „positive NSDAP records at Berlin Document Center" aufwiesen und daß ihre Entnazifizierung auf jeden Fall vor einer Ausreise abgeschlossen werden sollte (bei ihren eigenen Zuzugskandidaten waren die USA nicht so penibel). Sodann wurde darauf hingewiesen, daß der deutsche und europäische Wiederaufbau prioritäre Aufgaben seien und daß deshalb nur überschüssige Arbeitskräfte ausreisen durften. „Ordinarily, therefore", so sollte der brasilianischen Militärmission in Berlin mitgeteilt werden, „every exit application of an able-bodied German must be considered carefully on its economic as well as other merits, and it is only because the group recommended by you is so small (...) that it is possible to take group action."" Neben diesen prinzipiellen Überlegungen kam anläßlich der Überprüfung des brasilianischen Gesuchs ein weiterer Gedanke auf: Brasilien könnte helfen, den peinlichen Fall von etwa 1500 deutschen Wissenschaftlern und Technikern zu lösen, für die die US-amerikanischen Behörden keine Verwendung hatten. Es waren allesamt Personen, die in einem Teil Deutschlands gearbeitet hatten, der von U.S. Truppen befreit und anschließend gemäß der Vereinbarung über die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen von der Roten Armee besetzt wurde. Im Juli 1945, nach Beendigung der Kampfhandlungen also, waren sie aus dem von der Sowjetunion besetzten Teil Deutschlands zwangsevakuiert worden. Seitdem befanden sie sich mitsamt ihrer Familien - insgesamt waren etwa viereinhalb Tausend Personen betroffen - ohne Beschäftigung in der U.S. Zone. Eine knappe Chronik dieser unrühmlichen Episode findet sich in einer Mitteilung des Office of the Director of Intelligence in der amerikanischen Militärregierung. Dort heißt es u.a.:

53

Memorandum from James Riddleberger, OMGUS, Office of the Director of Political Affairs, to General Gailey, „Emigration of German Technicians to Brazil", 29.3.48. Zitate sind Riddlebergers Entwurf eines Briefes entnommen, der dem Leiter der brasilianischen Militärmission in Berlin, General Anor Teixeira dos Santos, zugeschickt werden sollte. RG 260 /OMGUS/AGTS/5/1.

102 „U.S. troops, withdrawing from areas that were to be turned over to Soviet control, received instructions from SHAEF (= Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force, d.V.) to evacuate certain classes of scientists and technicians to the U.S. Zone in order to deny their services and technical knowledge to other nations. These instructions were executed hastily and without adequate planning. In some instances force was necessary while in others questionable commitments were made. The hurried evacuations resulted in the evacuees taking only such private property as they could carry."54 Bis auf einige wenige der Zwangsevakuierten, die im Rahmen des Paperclip-Projektes unter Vertrag genommen wurden, hatten die USA keine Verwendung für diese Gruppe. Einige der Deutschen kehrten freiwillig in die sowjetische Zone zurück, „but the bulk remain (sic) as public charges without being integrated into the German economy of the U.S. Zone."55 So wurde die Idee lanciert, einige der evakuierten Wissenschaftler als Teil des genehmigten Kontingents in Brasilien unterzubringen. Die Annahme der Evakuierten durch Brasilien konnte schließlich mit Rücksicht auf die knappe Zeit, die für Verhandlungen zur Verfügung stand (der Transport sollte mit dem brasilianischen Schiff Santorem erfolgen, das am 1. Mai 1948 aus Hamburg auslaufen sollte), nicht zur Bedingung gemacht werden.56 Der Vorgang illustriert dennoch - insofern bildet er eine Parallele zum Antrag der indischen Regierung an die britische Besatzungsmacht daß aus Sicht der USA selbst befreundete Staaten nur sehr begrenzt und in Ausnahmefallen Zugang zu deutschen Fachkräften erhalten sollten, vor allem dann, wenn dies den Interessen der USA als Besatzungsmacht diente. General Clay unterstrich denn auch, die amerikanische Zustimmung sei „a special favor to a war ally and not a precedent."57 Mit der von den USA übernommenen Mitverantwortung für das Schicksal der displaced persons (DPs) wurde deren Übersiedlung ohnehin als eine dringlichere Aufgabe

54

OMGUS, Office of the Director of Intelligence, Berlin, to Chief of Staff, „Disposition of Scientists Evacuated from Soviet Controlled Germany", 21.11.47, in: RG 260/OMGUS/AGTS/5/1. 55 Ebenda. 56 Memorandum Riddleberger to Gailey (FN 53). 57 Memorandum Clay to Gailey, 4.4.48; Hervorhebung im Original, RG 26Q/OMGUS/AGTS/5/1.

103 gesehen als die Bereitstellung deutscher Arbeitskräfte für andere Staaten.58 Auch im Falle der von Brasilien angeforderten deutschen Techniker wurde nur davon Abstand genommen, Brasilien die Aufnahme einer DP-Familie für jede aufgenommene deutsche Familie zur Bedingung zu machen, weil „Brazilians have shown willingness (to) accept DPs."59 Brasilien mochte ein Alliierter sein und zudem das einzige Land Lateinamerikas, das eigene Truppen an den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs beteiligt hatte. Aber was seine Beteiligung an der Jagd auf deutsche Wissenschaftler anging, so fielen die ihm erwiesenen Gefälligkeiten durch die USA recht mager aus. Wenig nutzte den brasilianischen Machthabem ihr gelobtes „above-board approach."60 Hochkarätige Spezialisten gelangten erst in den fünfziger Jahren nach Brasilien, als die vom Besatzungsregime auferlegten Reisebeschränkungen endgültig wegfielen.61 Damit ist der entscheidende Unterschied zu der argentinischen Praxis genannt: Argentinien ging einen ganz anderen Weg als sein Nachbarland und warb Personal unter Umgehung der Bestimmungen des Kontrollrats an. Dies blieb den Besatzungsbehörden nicht lange verborgen, doch trotz der Überwachung durch das von den Deutschen nicht selten als repressiv empfundene Besatzungsregime waren die Möglichkeiten, eine illegale Auswanderung zu verhindern, nur gering. Die Umstände der Ausreise von deutschen Experten nach Argentinien und Brasilien werden im folgenden Kapitel näher untersucht. Als Zusammenfassung dieser Übersicht über die Verwendungs- und Vorenthaltungspraxis der Besatzungsmächte kann an dieser Stelle festgehalten werden, daß keine Bereitschaft vorhanden war, deutsche technologische Errungenschaften oder deutsches Know-how einvernehmlich untereinander zu teilen, geschweige denn, diese im Sinne von Reparationsleistungen weiteren Mitgliedern der Vereinten Nationen zukommen zu lassen. Soweit deut58

59 60 61

Vgl. Leonardo Senkman, Las Relaciones EE.UU.-Argentina y la Cuestión de los Refugiados de la Post-Guerra: 1945-1948 (Judaica Latinoamericana, Estudios Histórico-Sociales), Jerusalem 1988. Telegramm von Secretary of State George Marshall to OMGUS, 25.3.48, RG 260/OMGUS/AGTS/5/1. R.W.Benton, OMGUS, USPOLAD, 29.3.48, ebenda. Vgl. Birgit Frieder und Wiebke Henning, Auswanderung nach 1945: Hoffnung für Millionen - Schutz und Fürsorge für Auswanderer als staatliche Aufgabe, in: Jetzt wohnst Du in einem freien Land. Zur Auswanderung Deutscher im 19. und 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Kulturaustausch 3 (1989), S. 336-344; Walter Moosmayer, Deutsche Auswanderung seit 1945, in: Mitteilungen des Instituts für Auslandsbeziehungen, 5. Jg., Nr. 112 (Jan/Feb. 1955) S. 40-41.

104 sches Personal anderen Staaten angeboten wurde, erfolgte dies unter Gesichtspunkten, die so gut wie nichts mit den von den betroffenen Regierungen perzipierten Bedürfnissen zu tun hatten. Vielmehr entsprachen den Verteilungskriterien spezifische politische Zielsetzungen der Besatzungsmächte, die als solche de facto bestimmen konnten, wer ausreisen durfte und wer nicht. An vorderster Stelle bei diesen Zielsetzungen ist die Politik der Vorenthaltung gegenüber der Sowjetunion zu nennen; für die USA war die Vorenthaltung gegenüber Argentinien in den ersten Nachkriegsjahren ein ebenso wichtiges Element. Daneben spielten auch weitere Überlegungen eine Rolle, die die Interessen der potentiellen Aufnahmeländer ebensowenig berücksichtigten. Dazu gehörten, wie die Quellen gezeigt haben, der Schutz der eigenen Industrie vor der Konkurrenz ausländischer Anbieter, die Mitverantwortung für eine Übersiedlung von Flüchtlingen und Displaced Persons, und der wirtschaftliche Aufbau der westlichen Zonen Deutschlands. Drittstaaten, welche, eigenen Interessen folgend, an der Beute teilhaben wollten, konnten dies in den ersten Nachkriegsjahren nur durch Umgehung der Ausreisebestimmungen der Besatzungsmächte erreichen.

4.3.2 Das Vorgehen Argentiniens und Brasiliens im Kontext außenpolitischer Traditionslinien Es wurde in Kap. 2 gezeigt, daß die Anwerbung deutscher Rüstungsexperten durch Argentinien und Brasilien im Zusammenhang einer Strategie der industriellen Modernisierung zu sehen ist, in der dem Militär eine gewichtige - in Argentinien die entscheidende - Rolle zukam. In beiden Staaten reichte diese Strategie bis in die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zurück, in beiden Ländern hatte sie als eines ihrer vorrangigen Ziele die Erlangung weitestgehender Autonomie in der Rüstungsproduktion, um sich von ausländischen Einflüssen unabhängig zu machen. Diese Zielsetzung ließ die Gewinnung ausländischer Experten im Bereich der Rüstungstechnologie nach 1945 - die ja als Element der Modernisierungsstrategie keinesfalls neu war - als folgerichtigen Schritt auf dem Weg der technologischen Modernisierung erscheinen. Dennoch war - bei prinzipiell ähnlichem Interesse beider Staaten an Rüstungs-Know-how - das Vorgehen Argentiniens und Brasiliens bei der Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute nach dem Zweiten Weltkrieg grundverschieden. Die Frage der Gewinnung deutscher Expertise wurde

105 entscheidend mitgeprägt vom jeweiligen Verhältnis zu den USA, die in der Doppelrolle als Besatzungsmacht in Deutschland und Hegemonialmacht auf dem amerikanischen Kontinent eigene Interessen zu wahren suchten. Allein aus diesem Grund ist eine Skizze des jeweiligen Verhältnisses der hier untersuchten Länder zur USA angebracht. Sie erscheint aber auch aus einem weiteren Grund notwendig: Die konfliktreiche Beziehung zwischen Argentinien und den USA, die ihren Tiefpunkt in der persönlichen Auseinandersetzung zwischen dem Leiter der Lateinamerika-Abteilung des State Departments und ehemaligen Botschafter der USA in Buenos Aires, Spruille Braden, und dem damaligen Präsidentschaftskandidaten, Juan Perön, erreichte, prägt vielfach noch heute das Bild vom Argentinien der dreißiger und vierziger Jahre als einem ausgesprochen achsenfreundlichen Land. Die damalige Sichtweise von Argentinien als späte Brutstätte des Faschismus, eifrig propagiert vom State Department, hat sich trotz differenzierter Analysen bis heute erhalten und schlägt sich auch in der Bewertung der deutschen Wissenschaftsmigration nieder.62 Der Antagonismus zwischen Argentinien und den USA im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg schien vordergründig in den proAchsen-Sympathien von Teilen der argentinischen Gesellschaft begründet zu sein. Argentiniens Weigerung, diplomatische Beziehungen mit den Achsenmächten abzubrechen (dieser Schritt erfolgte erst im Januar 1944) durchkreuzte das Bestreben der USA, „hemisphärische Solidarität" mittels einer geschlossenen Frontstellung aller amerikanischen Republiken gegenüber den Achsenmächten zu demonstrieren. Als Argentinien schließlich seine traditionelle Neutralitätspolitik aufgab und Deutschland im März 1945 den Krieg erklärte, konnte der Schritt nur noch opportunistisch erscheinen. Die Machtübernahme des argentinischen Militärs im Juni 1943 und der zunehmende Einfluß der Grupo de Oficiales Unidos (GOU) (der auch der spätere Präsident Perön angehörte) innerhalb der neuen Militärregierung bestätigte für die Kritiker im State Department ihre Annahme, daß Argentinien ein Gefahrenherd für die Sicherheit der westlichen Hemisphäre sei. Der Vorwurf antidemokratischer, profaschistischer Tendenzen lierferte jedoch lediglich eine weitere, ideologische Dimension in einem Konflikt um Führungsansprüche, der bis ins vorige Jahrhundert zurückreicht; der US-Historiker Joseph Tulchin spricht von einer „conflicted relationship". 61 62 63

Beispielsweise bei Linda Hunt, Secret Agenda, oder Michael Frank, Die letzte Bastion. Joseph S. Tulchin, Argentina and the United States, A Conflicted Relationship, Boston 1990.

106 Selbstbewußt widersetzte sich Argentinien den Hegemonialbestrebungen der USA. Auf den panamerikanischen Konferenzen, die auf Initiative der USA ab 1889 stattfanden und die Führungsrolle der Vereinigten Staaten in der westlichen Hemisphäre verfestigen und ausbauen sollten, zeigte sich Argentinien regelmäßig widerspenstig.64 Dies hatte zum einen handfeste handelspolitische Gründe. Die kommerziellen Interessen Argentiniens waren mit dem Bestreben der USA zur Bildung eines amerikanischen Wirtschaftsraums unvereinbar. Wichtigster Handelspartner Argentiniens war Großbritannien, der Hauptabnehmer jener argentinischen Nahrungsmittel, deren Export die argentinische Prosperität begründete, gefolgt von anderen europäischen Ländern.65 Hingegen blieb aufgrund des US-amerikanischen Agrarprotektionismus der Handel Argentiniens mit den Vereinigten Staaten gering. Großbritannien war auch die wichtigste Quelle ausländischen Kapitals in Form sowohl von Direktinvestitionen wie auch Anleihen. Handelspolitische Initiativen der USA, wie etwa die Bildung einer panamerikanischen Zollunion (vorgetragen auf der panamerikanischen Konferenz von Washington im Jahr 1889) waren daher für Argentinien nicht annehmbar. Auch in den Jahren danach wurde die Zoll- und Tarifpolitik der USA auf vergleichbaren Konferenzen dieser Art von Argentinien heftig angegriffen. 66 Neben solchen handelspolitischen Divergenzen spielten bei Argentiniens Widerstand gegen die US-amerikanischen Hegemonialansprüche auch weitere, weniger greifbare Faktoren eine Rolle. Kulturelle und kommerzielle Bindungen zu Europa ebenso wie die europäische Immigration nach Argentinien, die in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ein Ausmaß erreichte, das im Verhältnis zur argentinischen Gesamtbevölkerung gewichtiger war als vergleichsweise die Immigration in die USA, ließen bei der Elite des Landes eine stärkere Identifikation mit Europa entstehen als mit den USA.67 Der Grad 64

Ebenda; Carlos Escudé, Gran Bretaña, Estados Unidos y la declinación argentina 1942-1949, Buenos Aires 1988, S. 39 ff. 65 Zur argentinischen Wirtschaftsentwicklung und der Rolle Großbritanniens darin siehe H.S. Ferns, The Argentine Republic 1516-1971, Newton Abbot 1973; Ders., Britain and Argentina in the nineteenth Century, Oxford 1960. 66 Vgl. Escudé, Declinación; Tulchin, Argentina and the United States; sowie ders., Argentina, Gran Bretaña y Estados Unidos, 1930-1943, in: Revista Argentina de Relaciones Internacionales, Mai-Aug. 1976, S. 66-71. Tulchin schildert in diesem Aufsatz die fruchtlosen Bemühungen Argentiniens, in den dreißiger Jahren Zugang zum US-amerikanischen Markt zu erhalten. 67 Escudé, Declinación, S. 39. Zur europäischen Einwanderung nach Argentina siehe Gino Germani, Política y sociedad en una etapa de transición, Buenos Aires 1962,

107 der sozioökonomischen Entwicklung Argentiniens - am Anfang des Jahrhunderts einer der höchsten der Welt - ließ zudem in argentinischer Sicht ein Klientenverhältnis zu den Vereinigten Staaten als unangemessen erscheinen.68 Gegen das Hegemoniestreben der USA setzte Argentinien einen eigenen Führungsanspruch in Südamerika, der mit dem Entwicklungsstand des Landes begründet wurde; das State Department unterstellte sogar argentinische Ansprüche auf ein eigenes „manifest destiny".69 Angesichts dieses spannungsreichen Verhältnisses und der traditionellen Weigerung Argentiniens, Hegemonialanspriiche der USA anzuerkennen, stellten Faktoren wie etwa die argentinische Neutralität im Zweiten Weltkrieg oder die nationalistische Rhetorik Peróns zwar ein zusätzliches Ärgernis, doch nicht den eigentlichen Grund für den anhaltenden Konflikt mit den USA dar. In der Sicht des damaligen britischen Botschafters in Buenos Aires, Sir David Kelly, bestand die grundsätzliche Schwierigkeit im Verhältnis Peróns zu den USA darin, daß „die Regierung der USA nicht so sehr gegen den Oberst Perón, sondern gegen Argentinien selber feindlich gesinnt ist."70 S. 185, S. 198. Für einen frühen Beleg der argentinischen Identifikation mit Europa sowie der Überzeugung, daß nichts das Land mit den USA verbinde, siehe Manuel Ugarte, El porvenir de América Latina, Buenos Aires 1910, S. 89. 68 Daten zur sozioökonomischen Entwicklung bei Fems, Argentine Republic, S. 67115, insb. S. 88-89. 69 Escudé, Declinación, S. 40 ff. Daß Argentinien über ein halbes Jahrhundert diese Politik der „Herausforderung" betreiben konnte, ohne empfindlich dafür bestraft zu werden, lag nach Escudés Untersuchungsergebnissen an der Wirkung des Dreiecksverhältnisses Großbritannien-Argentinien-USA. Britische finanzielle und kommerzielle Interessen in Argentinien und die Durchsetzungsfähigkeit Großbritanniens gegenüber den USA seien bis Ende der dreißiger Jahre hinreichend gewesen, um Argentinien unbehelligt agieren zu lassen. Dies änderte sich während des Zweiten Weltkriegs. Zwar konnte Argentinien noch bis 1947 auf britische Unterstützung rechnen; aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche und politischer sowie ökonomischer Abhängigkeit Großbritanniens von den USA im und nach dem Zweiten Weltkrieg verlor diese Unterstützung zunehmend an Bedeutung. Escudés detailreiche Studie dieses Dreiecksverhältnisses im Zeitraum 1942-49 stützt sich auf britisches und amerikanisches Quellenmaterial. „Herausforderung" der USA durch die argentinische Außenpolitik ist Thema und Titel einer Essay-Sammlung desselben Autors, La Argentina vs. las grandes potencias. El precio del desafío, Buenos Aires 1986, in der der Autor vergleichend den außenpolitischen Spielraum peripherer Staaten analysiert. Wiederholt spricht Escudé von Argentiniens „desafío ingenuo", einer naiven Herausforderung, welche den geringen außenpolitischen Spielraum Argentiniens und vor allem seine geringe Bedeutung für die USA außer Betracht ließ. 70 Zitiert nach Escudé, Declinación, S. 51.

108 Waren die Beziehungen Argentinien-USA seit dem letzten Jahrhundert konfliktbesetzt, so gestaltete sich das Verhältnis USA-Brasilien während desselben Zeitraums hervorragend. Im Gegensatz zu Argentinien schickte sich Brasilien nie an, den US-amerikanischen Führungsanspruch in Frage zu stellen. Es war vielmehr ein Grundsatz der brasilianischen Außenpolitik, enge und freundschaftliche Beziehungen zur Führungsmacht des amerikanischen Kontinents zu pflegen. Denn allein durch die Allianz mit den Vereinigten Staaten, so die Überzeugung diplomatischer Kreise in Brasilien, würde das Land seine eigenen außenpolitischen Interessen durchsetzen können. So nennt McCann als eines der traditionellen Ziele der brasilianischen Außenpolitik „to achieve what (...) Oscar Aranha termed a 'true alliance of destinies' with the United States, based on the formula of Brazilian support for United States worldwide predominance in exchange for recognition of Brazilian preeminence in South America and eventually West Africa."71 Prägnant brachte der damalige Außenminister Aranha die brasilianische Sicht auf das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und die Erwartungen, die daran geknüpft waren, zum Ausdruck: „Die traditionelle Politik Brasiliens kann in folgender Formel zusammengefaßt werden: Unterstützung für die Vereinigten Staaten in der Welt im Tausch gegen deren Unterstützung (für Brasilien, d.V.) in Südamerika."72 Gefördert wurden die freundschaftlichen Beziehungen zu den USA durch die Komplementarität der beiden Volkswirtschaften: die USA wurden zu einem wichtigen Absatzmarkt für brasilianischer Rohstoffe. In den dreißiger Jahren gewann Brasilien zusätzlich eine strategische Bedeutung: Aufgrund der Nähe zu Afrika wurde seine nordöstliche Küste als Achillesferse der Verteidigung des amerikanischen Kontinents bewertet - als der Punkt, an dem eine deutsche Invasion am wahrscheinlichsten wäre. Die Bedeutung Brasiliens für die USA war also strategisch und ökonomisch gesehen ungleich größer als die Argentiniens, gegen das zudem Brasilien in Südamerika ein Gegengewicht bilden sollte. Dies erlaubte es der brasilianischen Führung in den dreißiger Jahren, unbehelligt eine freundliche Politik gegenüber den Achsenmächten zu betreiben. Im Äthiopienkrieg etwa belieferte Brasilien das italienische Heer mit Maultieren und Gefrierfleisch und lehnte es ab, sich an den vom Völkerbund verhängten Sanktionen gegen Italien zu beteiligen.73 Ein bilaterales Abkom71 72 73

McCann, Brazil, the United States, and World War II, S. 59. Aranha an Vargas, 25. Jan. 1943, zitiert nach ebenda, S. 60. Carlos Escudé, La Argentina vs. las grandes potencias, S. 160-161.

109 men mit dem Deutschen Reich, das Brasilien in den Jahren 1938-39 zum wichtigsten außereuropäischen Markt Deutschlands werden ließ, rief keinen Protest der USA hervor, obwohl das Abkommen im Widerspruch zu Brasiliens 1935 eingegangener Verpflichtung auf die Prinzipien des Freihandels stand.74 Bei seiner Erörterung der deutsch-brasilianischen Handelspolitik der späten dreißiger Jahre weist McCann darauf hin, daß solche Verletzungen vertraglicher Verpflichtungen in der brasilianischen Außenpolitik geradezu mit System betrieben wurden. McCann erklärt dies mit der Selbstwahrnehmung der brasilianischen Diplomatie als Interessensvertretung eines verhältnismäßig schwachen Landes: „It was axiomatic among Brazilian diplomats that Brazil, as a comparatively weak country, could not always be forthright in its dealings. The diplomats needed to behave in such fashion as to mollify strong foreign powers, to appear to satisfy foreign demands while attempting to protect their own interests, (...) The creation of such façades, the tendency to appear to agree while actually disagreeing, gave rise to the descriptive expression para Ingles ver (for the English to see), altered in the 1930s to para Americano ver.li1> McCann will darauf aufmerksam machen, daß der Historiker nicht immer sicher sein kann, ob er es mit der Fassade oder mit der Wirklichkeit der brasilianischen Außenpolitik zu tun hat. Im Zusammenhang der Beziehungen zwischen Brasilien und den USA in den dreißiger und vierziger Jahren scheint ein weiterer Aspekt beachtenswert: Washington blieb es augenscheinlich nicht verborgen, daß die brasilianische Außenpolitik solche Fassaden errichtete, gab sich aber mit dem Schein zufrieden. Neben der strategischen Bedeutung Brasiliens dürfte dessen prinzipielle Anerkennung der US-amerikanischen Führungsrolle diese Toleranz gefördert haben. Auch innenpolitische Entwicklungen in diesem befreundeten Land, die Anlaß zu Sorge in Washington hätten sein können, wurden von den USA mit großer Gelassenheit registriert. Im November 1937 löste Staatspräsident Getúlio Vargas den Kongreß auf und proklamierte den faschistisch inspirierten Estado Novo. Dieser Schritt wurde in der Presse der Vereinigten Staaten heftig kritisiert, für die Regierung war er eine ausschließlich interne Frage der brasilianischen Politik. Der Kontrast mit der virulenten Kampagne gegen Argentinien ist auffallend. Perón wurde gescholten, einer der letzten verbliebenen faschistischen Diktatoren zu sein. Daß er im Gegensatz zu Vargas durch 74 75

Ebenda, S. 159-160. McCann, Brazil, the US and World War II, S. 62.

110 freie Wahlen an die Präsidentschaft gelangte und daß trotz der zunehmend repressiven Natur des peronistischen Regimes (Pressezensur, Gleichschaltung der Universitäten, usw.) die politische Opposition in Argentinien bis zur Entmachtung Peröns ein Sprachrohr im Kongreß hatte, änderte nichts an dem düsteren Bild, welches das State Department weiterhin von dem peronistischen Argentinien zeichnete. Washingtons ungleiche Behandlung der zwei lateinamerikanischen Staaten wurde vom Südamerika-Korrespondent des Christian Science Monitor auf den Punkt gebracht: „While Washington fumes at Argentine fascism, it winks at Brazilian fascism."76 Die brasilianische Strategie der grundsätzlichen Anerkennung der Führungsrolle der USA brachte durchaus Vorteile. Auf der anderen Seite erwies sie sich immer wieder als in den Ergebnissen enttäuschend, was schließlich zu einer Kursänderung und der stärkeren Betonung nationaler Interessen führen sollte.77 Sichtbarster Ausdruck dieser neuen Linie wurde Jahrzehnte später das höchst kontroverse Abkommen der Regierung Geisel mit der Bundesrepublik Deutschland, wonach sich diese verpflichtete, Brasilien schlüsselfertige Kernkraftwerke mitsamt aller dazugehörigen Technologie zu liefern.78 Durch dieses Milliardengeschäft fühlten sich die USA brüskiert, ähnlich wie ehemals durch die argentinische Anwerbung deutscher Rüstungsingenieure. Durch den Transfer hochmoderner, militärisch relevanter Technologie aus Deutschland in die westliche Hemisphäre schienen in der Sicht Washingtons US-amerikanische Sicherheitsinteressen ernsthaft bedroht. In den vierziger und frühen fünfziger Jahren war diese Entwicklung noch nicht absehbar. Vielmehr war die Pflege der Beziehungen zu den USA noch ein Grundstein der brasilianischen Außenpolitik. Die grundsätzliche Anerkennung der hegemonialen Stellung der USA wirkte sich unmittelbar auf die brasilianische Anwerbung deutscher Fachkräfte nach 1945 aus. Brasilien respektierte die US-amerikanische Verfügungsgewalt über deutsches Personal in den von den USA besetzten Gebieten und richtete seine Anfragen nach Fachkräften an das State Department. Diese korrekte Vorgehensweise wurde dort sowie in der US-Militärregierung in Deutschland wohlwollend registriert. Jedoch wurde Brasiliens „above-board approach" nicht so weit honoriert, daß ihm hochqualifiziertes deutsches Per76 77 78

Zitiert nach Frank, Struggle for Hegemony, S. 76. Vgl. Hilton, Brazil's International Economic Strategy, 1945-1960. Siehe dazu K.R. Mirow, Das Atomgeschäft mit Brasilien. Gin Milliardenfiasko, Frankfurt/New York 1980 sowie zu den Hintergründen Hilton, Brazil's International Economic Strategy.

III sonal zugestanden wurde. Der Ertrag an Rüstungsexperten aus Deutschland fiel deshalb für Brasilien recht bescheiden aus. Anders der argentinische Fall. Argentinische Agenten warben um hochkarätige Rüstungsingenieure und scherten sich weder um inneramerikanische Abkommen zur Zurückdrängung deutschen Einflusses auf dem Kontinent noch um die Vorrechte der USA als Besatzungsmacht. Auch dies entsprach einer spezifischen außenpolitischen Tradition - die der Herausforderung an die USA. Angesichts der konfliktreichen Beziehungen der beiden Staaten und der massiven US-amerikanischen Kritik an der argentinischen Neutralitätspolitik im Zweiten Weltkrieg war diese geheime Beute-Aktion die einzige Möglichkeit Argentiniens, sich aus dem Pool von stellenlos gewordenen deutschen Rüstungsexperten zu bedienen. Dieses Vorgehen war - numerisch sowie in bezug auf die von den deutschen Migranten vertretenen Technologielinien - wesentlich ergiebiger als Brasiliens geflissentliche Respektierung der von den USA verhängten Restriktionen auf die Auswanderung Deutscher nach Lateinamerika (vgl. Tabelle 1).

4.4 Die Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute durch die Besatzungsmächte, Argentinien und Brasilien im Vergleich Nachdem in den vorigen Abschnitten der Kontext der Anwerbung deutscher Rüstungsfachleute durch Argentinien und Brasilien analysiert wurde, soll abschließend die Verwendung deutscher Rüstungswissenschaftler durch die vier Besatzungsmächte sowie durch Argentinien und Brasilien verglichen werden. Vorab ist zu betonen, daß die zugrundegelegten Daten teilweise unvollständig sind oder lediglich auf Schätzungen beruhen. Daten über die Migration deutscher Rüstungsexperten in die Besatzungsstaaten sind der Sekundärliteratur entnommen; eigene Recherchen wurden nicht unternommen, um die teilweise stark voneinander abweichenden Zahlenangaben zu überprüfen. Die Vergleichbarkeit der Daten wird ferner durch unterschiedliche Definitionen dessen, wer zu den „Rüstungsmigranten" zu zählen ist, beeinträchtigt. Aus diesen Gründen geht es hier lediglich um illustrative Größenordnungen, nicht jedoch um abgesicherte Zahlen. Der Vergleich lohnt sich dennoch, um die bislang unterbelichtete Anwerbungspraxis Argentiniens und Brasiliens in Relation zur Verwendungsstrategie der Besatzungsmächte zu setzen.

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Prof. Inst. Quirn. Uni Tucumán; DNEA; 1955-59 Prof. TU Berlin IDGFM I IDGFM I120.10.19531 1|FMA, Córdoba; USA | arg. Raketenbauprogramm; später USA FMA, Córdoba; Mili14.8.1993 tärhochschule der Luftwaffe 1 FMA, Córdoba | Mitarbeiter von R. Richter 11 FMA, Córdoba; BRD | 1 FMA, Córdoba | FMA, Córdoba; Raketenbauprogramm 1948-60 Dir. General de Fábricaciones Militares; 1960-64 Ber. Ing. Siam Di Telia Automotores; 1964 Ber. Ing. Siam Di Telia Ltda. Staff.

Sterbedatum

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1937 TH München; 1938-42 TH Berlin

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01.08.1905 Chemie

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Name

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Flugzeugbau

Flugzeug- u. Raketenbau

102.04.191411 Flugzeugbau 27.01.1811 Flugzeugbau

Ing.

Wilhelm

Koch

1911

02.08.1911 Raketenbau

Flugzeugbau

Fach

1

1 Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

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Dr.

Hans

Kleiner

1

iKsoll Kühr

Dipl.-Ing.

Geb. Dat.

Stationen Emigration

Sterbedatum

1945-46 Ber. Ing. München; 1946-48 Ltr. d. Techn. Abt. Wirtschaftmin., Süd-Württ. 1948/— FMA, Córdoba; BRD verst. Messerschmitt; Junkers; Focke-Wulf; 1946 frz. Werk Turbomöca, Bregenz 1947/— Raketenbauprogramm, verst. Ltr. SchmiddingCórdoba u. Acasuso Rüstungswerke, Bodenbach/Elbe 1935 Siemens, Berlin; 1948/1959 1948-59 techn. Ber. im Flugkörperbau u. ChefAGO Flugzeugwerke, konstrukteur Inst. d. Oschersleben; FockeStreitkräfte; ab 1959 Wulf; 1940-45 FlugBölkow Entwicklung zeugbau Henschel, AG; Chefkonstrukteur Berlin; 1946-48 Baubei MBB maschinen GmbH, Hannover Dt. Versuchsanstalt f. 1948/— FMA, Córdoba; Indien verst. Luftfahrt, BerlinAdlershof [verst. | 11948/— 11 FMA, Córdoba | stud. höhere Fachschule 1948/— FMA, Córdoba, später verst. f. Masch.bau u. ElekUSA trotechnik, Würzburg; Focke-Wulf

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Paul

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| |01.05.1907| J1 Heinrich 1 IlOtto Ernst J1 Dr. Ing. Maschinen- 07.10.1902 Flugzeugbau schlosser Flugzeugbau Carl-Hans Prof. Dr.

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06.01.1918 Verwaltung

Stationen Emigration

1 Focke-Wulf 111948/— 1|FMA, Córdoba; BRD Berater bei DGFM Staatssekretär im Reichspostministerium 1937 stud. Maschi1947/— FMA, Córdoba nenbau; Focke-Wulf Focke-Wulf 194(7)8/ FMA, Córdoba; USA

Arbeitsorte vor Emigration 1 1

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1112.03.19061 02.10.1899

Fach s

|Dipl.-Ing. Dr. Ing.

Geb. Dat. 2 at

Jacob

Vorname Titel MB

Nagel

Name

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Dipl.-Ing.

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11948/— 1|FMA, Córdoba; BRD | stud Dt. TH Prag; 1948 Inst, du Pétrole, versch. Labors, Berlin; Paris; Inst. Balseiro, Kernphysik Inst. d. Bariloche Reichspostminist.; AEG Triebwerksbau Daimler-Benz; 1946 1948/— FMA, Córdoba; 1955 in die USA Turbomeca, Bregenz Focke-Wulf 19.06.1902 Verwaltung 1948/— FMA, Córdoba; mit Tank nach Indien Flugzeugbau Focke-Wulf 1948/— FMA Córdoba; mit Tank nach Indien 13.02.1922 Flugzeugbau 193940 Autowerk 1948/— FMA, Córdoba; USA Borgward, Bremen; 1940-42 Focke-Wulf Bremen; 1942-43 Messerschmitt, Augsburg; 194344 Luftfahrtforsch. Wien; 1944 Werk Oberammergau |118.01.19051 Flugzeugbau |1 Focke-Wulf 1948/— 11 FMA, Córdoba; BRD |

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1 |Focke-Wulf Telefunken, Berlin

Sterbedatum U >

|1 Arnold || Anton Ronald

111948/— 1 FMA, Córdoba; BRD DGFM

Arbeitsorte vor Emigration

Stationen Emigration

S S os V

1 Flugzeugbau | 30.08.1910 Elektrotechnik Dr. Dipl.Ing. |05.05.1905|1 Raketenbau | |Dipl.-Ing. 1122.02.1914 1 21.02.1909 Kernforschung

Fach M

1 Theodor Dieter

Geb. Dat. M

Radinger, von 1 Rehbock 1 Reichmann Richter

Vorname Titel

315

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1

Rudolf

Ulrich

| Herbert Rudolf

| Ernst Josef

Hans

HansJoachim

Schmidt

Schnaack

| Schnabel Schoeffel

1 Schoettler Schreckenberg

Schubert

Schumacher

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Sterbedatum

Testpilot und Ausbilder

1

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Prof. Dr.

Stationen Emigration

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Dipl.-Ing.

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Dipl.-Ing.

Arbeitsorte vor Emigration S

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1948/1979 1948-65 FMA, Córdoba, Mitarbeiter von Horten; BRD 1948/— FMA, Córdoba; 1955 in Dt. LuftfahrtforFlugzeugbau die USA; BRD schungsanstalt, BerlinAdlershof 1948/— FMA, Córdoba; später Focke-Wulf Flugzeugbau in die USA | 11948/— | 11 FMA, Córdoba 107.09.191311 Flugzeugbau | |Focke-Wulf Focke-Wulf, Bremen 1948/— FMA, Córdoba; 1955 in 16.04.1910 Flugzeugbau die USA Entwurfsabt. | 1 Focke-Wulf 111948/— 11 FMA, Córdoba Triebwerksspezialist FMA, Córdoba; 12.02.1904 Flugzeugbau bei Junkers betrieb später Dieselmotorenfabrik 1948/— FMA, Córdoba; später Heinkel ?; FockeFlugzeugbau Hamburger FlugzeugWulf; Dt. Versuchsbau anst. f. Luftfahrtforsch. Bin-Adlershof 1932-43 Uni Berlin; 1946/— 1946 nach Frankreich, 23.09.1904 Chemie 1935-45 Uni Frankfurt 1947-52 DGFM; ab 48a.M.; arb. für Ober75 Prof. Univ. La Plata kommando der Wehrmacht

Fach ei

Dr. Ing.

Heinz

Scheidhauer

Geb. Dat. m S

16.08.1912

Vorname Titel

Name

316

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Herbert

Flugzeugbau

Dipl.-Ing.

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Wolff

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25.07.1909 Flugzeugbau

1

14.12.1977 1948/1956 FMA, Córdoba; 56 33-36 Flugzeugbau Blohm & Voss, HamBölkow Entwicklunburg; 36-45 Focke gen; bis 60 Bölkow Apparatebau Nabern; 60 Henschel, Kassel; 62 Varta AG Focke-Wulf; Domier- 1948/— FMA, Córdoba;USA; BRD Werke

1

Dipl.-Ing.

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1948/—

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FMA, Córdoba; Geschäftsfüh. Heinkel Werk, Speyer

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1 Waltz 1 Wedemeyer

WagnerManslau 1 | Schmidding-Werke

06.05.1912 Flugzeugbau

Dipl.-Ing.

1

Voigtsberger Rudolf

Stationen Emigration

FMA, Córdoba; später in die USA 1946/— Turboméca, Frankreich; FMA, Córdoba; USA 50er Ber. f. Panzerfragen im arg. Kriegsministerium | ICITEFA 1 1948/— FMA, Córdoba

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Raketenbau Flugzeugbau

Focke-Wulf

03.04.1912 Flugzeugbau

1948/—

Sterbedatum to t-l o>

Vagner

1926-40 THBlnCharlottbg.; Geschäftsführer Fieseier, Kassel Focke-Wulf

15.04.1898 Flugzeugbau

Karl Gustav Prof. Dr.

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Thalau

Arbeitsorte vor Emigration

Geb. Dat.

Vorname Titel

Fach

1

Name

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Verzeichnis der nach 1945 nach Brasilien migrierten Wissenschaftler

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