Rüstungskontrolle und Völkerrecht: Zur Steuerung rüstungstechnischen Wandels durch völkerrechtliche Verträge [1 ed.] 9783428470143, 9783428070145


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German Pages 330 Year 1990

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Rüstungskontrolle und Völkerrecht: Zur Steuerung rüstungstechnischen Wandels durch völkerrechtliche Verträge [1 ed.]
 9783428470143, 9783428070145

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DIETMAR HÖGEL

Rüstungskontrolle und Völkerrecht

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Hans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen

Band 22

Rüstungskontrolle und Völkerrecht Zur Steuerung rüstungstechnischen Wandels durch völkerrechtliche Verträge

Von Dr. Dietmar Högel

Duncker & Humblot · Berlin

Gefördert durch einen Druckkostenzuschuß des Auswärtigen Amtes, Bonn

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Högel, Dietmar: Rüstungskontrolle und Völkerrecht: zur Steuerung rüstungstechnischen Wandels durch völkerrechtliche Verträge I von Dietmar Högel. - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht; Bd. 22) Zug!.: Tübingen, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07014-3 NE:GT

D 21

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: TecDok März, Tübingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Gerrnany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-07014-3

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im April 1990 von der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie aktualisiert und um einige Literaturhinweise ergänzt. Dabei konnten rüstungskontrollpolitische Entwicklungen in dem für das Ost-West-Verhältnis so ereignisreichen Jahr 1990 bis Anfang Juli berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer und Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum, der das Rahmenthema "Völkerrecht der Rüstungskontrolle" im Sommer 1988 anregte. Die Dissertation ging zum Teil aus wissenschaftlichen Gesprächen und Vorarbeiten zu seinem (Mit-)Bericht "Rechtsfragen der Rüstungskontrolle im Vertragsvölkerrecht der Gegenwart" im Rahmen der Hamburger Jubiläumstagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht im März 1989 hervor. Professor Graf Vitzthum hat den Fortgang der Forschungsarbeit mit seinem Rat begleitet und gefördert, indem er mir als wissenschaftlichem Angestellten an seinem Lehrstuhl großzügig Freiräume gewährte. Herzlich danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Oppermann für die Übernahme und rasche Erstellung des Zweitgutachtens sowie für die ehrenvolle Aufnahme der Arbeit in die "Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht". Der Fakultät danke ich für die überaus zügige Durchführung des Promotionsverfahrens, meinem Lehrstuhl-Kollegen Dr. Wolfgang März für die Erstellung der satzfertigen Druckvorlage dieses Buches. Für die Lektüre des Manuskripts und ihre konstruktive Kritik danke ich meinen Eltern, Elfriede und Prof. Dr. Rolf Högel. Meine Ehefrau Katharina Högel hat mit Geduld, Interesse, Ermutigung und Liebe wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ihr widme ich dieses Buch. Tübingen, im August 1990

Dietmar Högel

Inhalt

15

Einrlihrung

Rüstungstechnischer Wandel und Völkerrecht (15) - Besonderheiten des Völkerrechts der Rüstungskontrolle und Abrüstung (17) - Kritik der Alternativen zur vertraglichen Rüstungskontrolle (22) - Rüstungstechnischer Wandel als Kernproblem vertraglicher Rüstungskontrolle (25) - Völkerrechtliche Fragestellung (28) - Gang der Untersuchung (31) - Terminologie (32) Erster Teil Rüstungskontrollrecht und rüstungstechnischer Wandel

37

1. Kapitel: Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle . . . . . . . .

37

I. Theorie der Rüstungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

.................

39

2. Schadenslimitierung durch Rüstungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . .

1. Kriegsverhütung durch Rüstungskontrolle

41

3. Senkung der Militärausgaben durch Rüstungskontrolle . . . . . . . . .

42

II. Politik der Rüstungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

1. Westliche Rüstungskontrollpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

2. Östliche Rüstungskontrollpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

3. Propaganda- und Werbefunktion der Rüstungskontrolle . . . . . . . ..

48

III. Recht der Rüstungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

z. Kapitel: Rüstungstechnischer Wandel als Gegenstand kooperativer Rüstungssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

I. Technischer Rüstungsprozeß und Rüstungskontrollrecht . . . . . . . . . .

52

1. Rüstungstechnischer Wandel als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . .

53

2. Besonderheiten des Rüstungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

8

Inhalt

II. Schwerpunkte und Implikationen aktueller rüstungstechnischer Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zielgenauigkeit als Problem der Rüstungskontrolle

61

..... .. .. ..

61

2. Multifunktionalisierung und Konventionalisierung . . . . . . . . . . . . .

63

3. Computerisierung und Automatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

4. Militärische Nutzung des Weltraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

5. Ambivalenz rüstungstechnischer Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . .

67

III. Rüstungstechnischer Wandel und Verifikation

..... ...... . ... .

69

1. Verifizierbarkeil determiniert Reduzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . .

69

2. Funktionen, Begriff und Prozeß der Verifikation . . . . . . . . . . . . .

71

3. Veriftzierbarkeit und Verifikationsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4. Verifikationsfähigkeit und Verifikationsinstrumentarium . . . . . . . .

76

5. Verifizierbarkeil determiniert Definierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . .

86

3. Kapitel: Instrumentarium und Gesamtgefüge kooperativer RüstungsSteuerung

88

I. Rüstungskontrollmaßnahmen als normative Optionen kooperativer Rüstungssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

1. Wirkungsrichtung quantitativer und qualitativer Maßnahmen . . . . .

89

2. Quantitative Maßnahmen kooperativer Rüstungssteuerung

. . ... .

91

3. Qualitative Maßnahmen kooperativer Rüstungssteuerung . . . . . . .

95

4. Einsatzverbote als Instrument kooperativer Rüstungssteuerung . . . .

103

II. Der Rüstungskontrollvertrag als Rechtsinstrument der kooperativen Rüstungssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

1. Rüstungskontrollvertragliche Definitionstechnik . . . . . . . . . . . . . .

107

2. Vertragsauslegung und Streitschlichtung

. ....... ..... . .. ..

112

3. Vertragsüberprüfung und Vertragsanpassung . . . . . . . . . . . . . . .

119

4. Rücktritt und Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

III. Das Problem rüstungstechnischen Wandels im Gesamtgefüge kooperativer Rüstungssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

1. Kooperative Rüstungssteuerung und Massenvernichtungswaffen . . .

127

2. Kooperative Rüstungssteuerung im Weltraum . . . . . . . . . . . . . . .

138

3. Umweltschützende und konventionelle Rüstungskontrolle . . . . . . .

141

Inhalt

9

Zweiter Teil Kooperative Rüstungssteuerung und kernwaffentechnische Entwicklung

149

1. Kapitel: SALT und die technische Entwicklung nuklearstrategischer Offensivwaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

I. Nukleare Offensivwaffen und nukleares Gleichgewicht . . . . . . . . . . .

152

1. Grundlagen nuklearstrategischer Ab5chreckungsdoktrin . . . . . . . . .

152

2. Grundlagen offensivnuklearer ROstungskontrolle . . . . . . . . . . . . .

153

3. MIRV und strategisches Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

II. Fallstudie: SALT-1-Interimsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

1. MIRV und Raketen-Wurfgewicht in den SALT-I-Verhandlungen . .

159

2. Scheitern des quantitativen ROstungskontrollansatzes . . . . . . . . . .

162

3. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

III. Fallstudie: SALT-Il-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166

1. SALT II und die Technik ballistischer Raketen (ICBM) . . . . . . . .

170

2. SALT II und die Technik multifunktionaler Waffensysteme . . . . . .

176

3. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

2. Kapitel: Nukleare Flugkörper-Rüstungskontrolle in der Ära ortsinspizierter Reduzierungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

I. Fallstudie: INF-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

1. Normative Struktur und qualitative Reichweite der INF-Nullösung .

192

2. Der INF-Vertrag als positives und negatives Modell kooperativer ROstungssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

3. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

II. Fallstudie: START . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

1. Konturen des START-Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

202

2. Technische Probleme und qualitative Reichweite von START . . . .

205

3. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

10

Inhalt 213

3. Kapitel: Die technische Gefährdung des AHM-Vertrages

I. Das ABM-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Strategische Verteidigung und nukleare Stabilität . . . . . . . . . . . . .

2. Regelungs- und Definitionstechnik des ABM-Vertrages

215

. . . . . . . . 218

3. Die Krise des ABM-Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 II. Auslegung des ABM-Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

1. Auslegungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

2. "Enge" und "weite" Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3. Reichweite des ABM-Erprobungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 III. Ausblick und Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1. ABM-Optionen kooperativer Rüstungssteuerung . . . . . . . . . . . . .

237

2. Ergebnis und Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Zusammenfassung, Schlußfolgerungen und Ausblick

246

Kooperative Rüstungssteuerung von SALT bis START (246) - Reformansätze kooperativer Rüstungssteuerung (250) - Zu den Voraussetzungen vertraglicher Rüstungsprävention (256) - Ausblick (264) Anhang 1. Rüstungskontrollvereinbarungen in chronologischer Reihenfolge

267

2. Auszüge aus den näher untersuchten Rüstungskontrollverträgen . . . . . 276 3. Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur

290 303

Abkürzungen ABM

Anti-Ballistic Missile

ACDA

U .S. Arms Control and Disarmament Agency

AFDI

Annuaire

AJIL

American Journal of International Law

Fran~is

de Droit International

ALCM

Air-Launched Cruise Missile

ASAT

Anti-Satellite

ASBM

Air-Surface Ballistic Missile

ASW

Anti-Submarine Warfare

ATBM

Anti-Tactical Ballistic Missile

BMD

Ballistic Missile Defense

BMVg

Bundesminister(ium) der Verteidiung

CCD

Conference of the Committee on Disarmament

CD

Committee (Conference) on Disarmament

CEP

Circular Error Probability

CM

Cruise Missile

COPREDAL

Comisi6n Preparatoria para Ia Desnuclearizaci6n de Ia America Latina

CST

Conventional Stability Talks

CTBT

Comprehensive Test Ban Treaty

cwc

Chemical Weapons Convention

DGFK

Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung

DST

Defence and Space Talks

EIS

European Institute for Security

ENDC

Eighteen-Nation Disarmament Committee

ENMOD

Environmental Modification

EOD

Externally Observable Differences

EODF

Externally Observable Design Features

FBS

Forward-Based Systems

12 FS

Abkürzungen Festschrift

FROD

Functionally Related Observable Differences

GCD

General and Complete Disarmament

GLCM

Ground-Launched Cruise Missile

GYIL

German Yearbook of International Law

Hrgs.

Hearings

Hrsg.

Herausgeber, herausgegeben

HSFK

Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

IAEA

International Atomic Energy Agency

ICBM

Intercontinental Ballistic Missile

IDO

International Disarmament Organisation

IISS

(London) International Institute for Strategie Studies

ILM

International Legal Materials

INC

Insertable Nuclear Components

INF

Intermediate-Range Nuclear Forces

ISMA

International Satellite Monitoring Agency

KRK

Konventionelle Rüstungskontrolle

KSZE

Konferenz Ober Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

KT

Kilotonne

KVAE

Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa

LNTS

League of Nations Treaty Series

MAD

Mutual Assured Destruction

MARV

Manoeuvrable Re-entry Vehicle

MBFR

Mutual and Balanced Force Reductions

MIK

Militar-Industrie-Komplex

MIRV

Multiple lndependently Targetable Re-entry Vehicle

MRV

Multiple Re-entry Vehicle

MT

Megatonne

MX

Missile Experimental

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NPT

Non-Proliferation Treaty

NST

Nuclear and Space Arms Talks

Abkürzungen

13

NTM

National Technical Means (of Verification)

OPANAL

Organismo para Ia Proscripci6n de las Armas Nucleares en Ia America Latina

PNET

Peaceful Nuclear Explosions Treaty

PTBT

Partial Test Ban Treaty

RdC

Recueil des Cours

RGDIP

Revue generate de droit international public

s., s.

Seite, siehe

SA

Surface-Air

SALT

Strategie Arms Limitation Talks

SCAS

(US-Senate) Committee on Armed Services

sec

(SALT-) Standing Consultative Commission

SCFR

(US-Senate) Committee on Foreign Relations

SDI

Strategie Defense Initiative

SIPRI

Stockholm International Peace Research Institute

SLBM

Submarine-Launched Ballistic Missile

SLCM

Sea-Launched Cruise Missile

SNF

Shorter-Range Nuclear Forces

SSKP

Single-Shot Kill Probability

START

Strategie Arms Reduction Talks

ss

Surface-(to)-Surface

SVN

Satzung der Vereinten Nationen

TNT

Trinitrotoluol

TTBT

Threshold Test Ban Treaty

UN

United Nations

UNDC

United Nations Disarmament Commission

UNTS

United Nations Treaty Series

VBM

Vertrauensbildende Maßnahmen

Vgl.,vgl.

Vergleiche, vergleiche

VKSE

Verhandlungen über konventionelle Streitkrane I Stabilitat in Europa

VN

Vereinte Nationen

VRÜ

Verfassung und Recht in Übersee

VSBM

Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen

14

Abkürzungen

VVSBM

(Wiener) Verhandlungen Ober Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen

WP

Warschauer Pakt

WVRK

Wiener Konvention Ober das Recht der Vertrage

Im übrigen wird auf Hildebert Kirchner I Fritz Kastner, Fritz, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl. Berlin/New York 1983, verwiesen.

Einführung Rüstungstechnischer Wandel und Völkerrecht Die Stabilität der internationalen Beziehungen wäre bedroht, sollte das Rüstungsgeschehen aufgrund der Geschwindigkeit waffentechnischer Entwicklungen der politischen Kontrolle entgleiten und stattdessen umgekehrt - die Sicherheitspolitik der Staaten bestimmen, ja vor sich her treiben. Die Gefahr einer "Tyranny of Weapons Technology" 1 wird zu Recht beschworen. Dementsprechend ist es eine der zentralen Aufgaben von Rüstungskontrolle zu verhindern, daß sich das Wettrüsten mit der Automatik technologischer Neuentwicklung gegenüber der Rüstungskontrolldiplomatie verselbständigt2, und der qualitativen Rüstungsentwicklung3 eine kriegsverhütende, stabilisierende Richtung zu geben. Es ist das Ziel der Rüstungskontroll-Vertragspolitik der Staaten, die vorhandenen waffentechnischen Systeme einer kooperativen Kontrolle zu unterwerfen und rüstungstechnische Entwicklungen mit den Mitteln des Völkervertragsrechts zu steuern4•

1 So der Titel einer Veröffentlichung von Ralph Lapp aus dem Jahre 1970. Auch im Bereich des innerstaatlichen Technikrechts ist das "Dominantwerden der technischen Realisation" vielfach beklagt worden. Vgl. etwa Wolf, Das Recht im Schatten der Technik, S. 246. 2 Forndran, Ist Rüstungskontrolle noch relevant?, S. 18. 3 Im Unterschied zur quantitativen Rüstungsentwicklung (anzahlmaßige Vermehrung vorhandener Waffensysteme) umfaßt die qualitative Dimension der Rüstungsprozesse die Verbesserung der Waffenarsenale durch Modernisierungs- oder Ersetzungsmaßnahmen sowie alle entsprechenden Vorbereitungshandlungen (Forschung, Entwicklung, Erprobung usw.). 4 "Modern technology and science are moving at an unbelievably rapid pace. New developments will affect the military force structures of both the United States and the U.S.S.R. The great challenge we all face is how to make certain that the impact of the new technologies will be stabilizing." (US-Botschafter Kampelman, zit. in: United Stares Congress, INF-Hrgs. (SCFR] 1, S. 108). Vgl. auch die im Schlußdokument zur Abrüstungs-Sondergeneralversammlung der VN von 1978 formulierte Zielvorgabe: " ... Bemühungen in dieser Richtung müssen auch Verhandlungen über die Begrenzung und Einstellung der qualitativen Verbesserung der Rüstung, insb. von Massenvernichtungswaffen, und der Entwicklung neuer

16

Einführung

In ihrem waffenbezogenen Kernbereich ist vertragliche Rüstungskontrolle daher immer auch normative Technikkontrolle. Dieser zentrale technikrechtliche Aspekt des Rüstungskontrollrechts ist bislang von der Völkerrechtswissenschaft weitgehend vernachlässigt worden 5, obwohl doch den technischen Entwicklungen im militärischen Sektor fast immer eine Spitzenposition zukommt. Zudem ist die Effektivität und Bestandskraft von Rüstungskontrollvereinbarungen in besonderem Maße abhängig vom Fortbestehen ihrer tatsächlichen Voraussetzungen, den materiellen Gründen ihrer Verbindlichkeit6• Entsprechend haben sich rüstungstechnische Veränderungen als Achillesferse der Rüstungskontrolle erwiesen7• Wichtigster Präzedenzfall ist der SALT-Prozeß der 70er Jahre, dessen Vereinbarungen sich rüstungstechnischen Innovationen kaum gewachsen zeigten8• Die qualitative Dimension des Rüstungsprozesses ist daher Objekt der Rüstungskontrolle und Hauptbedrohung ihres normativen Steuerungsinstrumentariums zugleich. Als technikkontrollierende und -steuernde Wissenschaft9 muß die Rechtswissenschaft zur Kenntnis nehmen, daß sich das Grundlagenproblem des Rechts "normative Technikbewältigung" auch im Völkerrecht der Rüstungskontrolle stellt. Gegenüber der Aufgabenstellung "Kon-

Kampfmittel einschließen, damit schließlich wissenschaftliche und technologische Errungenschaften ausschließlich für friedliche Zwecke genutzt werden (Abs. 39)." (Resolution S-10/2 vom 30. Juni 1978, abgedruckt in: Vereinte Nationen 5!78, s. 171 ff.) 5 Eine Ausnahme sind die rechtlichen Probleme, die durch die Weitergabe militärisch nutzbarer Nukleartechnologie aufgeworfen werden (Stichwort: Nichtverbreitungsvertrag von 1968). 6 Vgl. Bruha, Die normative Struktur des SALT-Prozesses, S. 172 f. 7 "Technology, itself, was proving tobe the great enemy of arms control" (Lapp, The Tyranny of Weapons Technology, S. 178). Die technische Gefährdung von Rüstungskontrollvertragen ist kein neues Phänomen der modernen NachkriegsRüstungskontrolle. So verloren etwa die "Naval Arms Contra! Agreements" von Washington (1922) und London (1930) ihre Effektivität durch Neuentwicklungen im Bereich der Marinetechnik bereits 10 Jahre nach ihrer Unterzeichnung. Dazu Bull, The Precedent of the Washington and London Naval Treaties; Miatello, L'arme nucleaire en droit international, S. 144 ff. m.w.N.

8 "One of the banes of SALT has been that new technologies render arms control measures obsolete or inadequate, sometimes before the ink is dry on a treaty or an agreement. MIRVs and CruiseMissilesare the two most obvious examples." (Ta/bott, Endgame, S. 157) 9

Wii/de, Rechtliche Aspekte von "Technology Assessment", S. 7.

Einführung

17

trolle von Technik durch Recht" in den innerstaatlichen Rechtsordnungen (z.B. Gentechnik) und im Unterschied zu anderen Bereichen des Völkerrechts ergibt sich für die normative Bewältigung von Rüstungstechnik zum Zweck der Kriegsverhütung eine dreifache Besonderheit: die besondere Art der Normsetzung durch völke"echtliche Verträge (im Unterschied zur technikrechtlichen Normsetzung durch eine innerstaatliche Legislativinstanz); die politisch-existenzielle Natur des Rechts der Rüstungskontrolle (im Unterschied zu anderen - weniger politischen - Bereichen des Völkerrechts); und - als Regelungsgegenstand - das komplexe Phänomen "Rüstungsprozeß", dessen spezifische Eigendynamik den quantitativen und qualitativen Rüstungswettläufen zugrundeliegt (im Unterschied zu technischen Entwicklungen in zivilen Bereichen, etwa der Umwelt- und Meeresbergbautechnik). Besonderheiten des Völke"echts der Rüstungskontro/le10 und Abnlstung Auf der Ebene des Völkerrechts sind zwischenstaatliche Vereinbarungen der Rüstungskontrolle und Abrüstung ein wichtiges Mittel zur Effektivierung des Gewaltverbots 11• Von Anfang an wurde die zum Gewaltverbot des modernen Völkerrechts führende Entwicklung

10 Die das internationale Recht der Rilstungskontrolle und Abrilstung regelnden Normen werden teils als selbst~ndiger Zweig des Völkerrechts (Abrüstungsrecht, Disarmament Law) angesehen (so etwa Fahl, Rüstungsbeschr1inkung durch internationale Verträge, S. 17: "Recht der Rilstungskontrolle und Abrüstung", ebenso Bot/te, Völkerrechtliches Kriegsverhütungsrecht [im Untertitel]), teils nur als unselbständiger Ausschnitt des Rechts der Friedenssicherung und Kriegsverhütung. Vgl. mit Nachweisen Mrazek, International Security and Disarmament Law, S. 88 ff. Jedenfalls von einem allgemeinen "Völkerrecht der Rilstungskontrolle und Abrilstung" kann nicht gesprochen werden. Vgl. Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rilstungskontrolle, S. 115 ff. und These 3.2., S. 140.

11 Sie verleihen "der Pflicht der Staaten, sich der Androhung oder Anwendung der Gewalt in ihren gegenseitigen Beziehungen zu enthalten, Wirkung und Ausdruck" (Punkt 1 des KVAB-Mandats vom 6. September 1983). Das völkerrechtliche Gewaltverbot ist als Rechtsnorm weitgehend unwirksam und bedarf daher der Effektivierung durch das Schaffen geeigneter Rahmenbedingungen. Vgl. Grewe, Frieden durch Recht?, S. 16 f.; Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 110.

18

Einführung

begleitet von der Forderung nach Abrüstung12• Die entsprechenden Ansätze der Zwischenkriegszeit waren vor allem durch das Spannungsverhältnis gekennzeichnet, das zwischen der in der Völkerbundsatzung (Art. 8) vorgesehenen allgemeinen Verminderung der nationalen Rüstungen und den den Weltkriegsverlierern durch den Versailler Vertrag einseitig auferlegten Rüstungsbeschränkungen bestand. Der deutsche Versuch der Konstruktion einer vertraglich begründeten allgemeinen Rechtspflicht zur Abrüstung13 scheiterte ebenso wie die multilaterale Abrüstungskonferenz von 1932/3314• Den frühen Abrüstungsansätzen blieb damit, wie auch dem Kriegsverbot von 192815, ein Erfolg versagt. Erst der vorläufige Höhepunkt der waffentechnischen Entwicklung, der im August 1945 mit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki erreicht wurde, leitete die endgültige Wende des Völkerrechts zum internationalen Recht der Kriegsverhütung ein. Die menschheitsbedrohende Präsenz der Kernwaffen legte es nahe, das hergebrachte Konzept einer in souveräne Einzelstaaten organisierten Völkergemeinschaft von Grund auf zu überdenken. Nach einer verbreiteten Ansicht würde es im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen einer neuen internationalen Rechts- und Friedensordnung weichen müssen 16• Ansatzpunkt sollte die weitestgehende Aufhebung der dem Gewaltverbot komplementären staatlichen Rüstungsfreiheit sein. Diese auf umfassende Abrüstungsverpflichtungen aller hinauslaufenden Überlegungen konnten sich bei der Errichtung der Vereinten Nationen (in deren Charta) nicht durchsetzen. Ihnen

12 Vgl. Bothe, Völkerrechtliches KriegsverhOtungsrecht, S. 214 f.; Klein, ROstungsbeschränkung zwischen den Weltkriegen; Miatello, L'arme nucleaire en droit international, S. 141 ff.; Schütz, Geschichte der internationalen Abrüstungsverhandlungen. 13

Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 95 ff. m.w.N.

Zu Gegenstand, Verlauf und Stellenwert der Genfer Abrüstungskonferenz Go/dblat, Agreements for Arms Control, S. 7 ff.; Miatello, L'arme nucleaire en droit international, S. 158 ff. m.w.N. 15 Vertrag Ober die Ächtung des Krieges vom 27.8.1928 (RGBl 1929 II, S. 97; LNTS Vol. %, S. 57). Zum Thema "Krieg und Frieden" in der Geschichte und Gegenwart des Völkerrechts vgl. etwa Kimminich, Völkerrecht im Atomzeitalter, S. 294 ff.; ders., Friedenssicherung im Völkerrecht; Graf Vitzthwn, Frieden und Krieg im Völkerrecht, S. 426 ff. 14

16 Vgl. etwa die Erklärung der "Association of Los Alamos Scientists" in der New York Times vom 14. Oktober 1945 "World Government right now", zit. nach Fox, International Control of Atomic Weapons, S. 170. Dazu auch Slouka, International Law-Making, S. 134 f. m.w.N.

Einführung

19

entsprachen jedoch zahlreiche Initiativen, die auf eine allgemeine und vollstllndige Abrüstung unter internationaler Kontrolle (General and Complete Disarmament - GCD) 17 gerichtet waren. Zur Aufhebung der staatlichen Rüstungsfreiheit hätte es indes insbesondere einer über den Kompetenzrahmen der VN hinausreichenden supranationalen Organisation mit umfangreichen Befugnissen zur Durchsetzung und Überwachung des allseitigen Abrüstungsprozesses bedurft, also einer weltstaatsähnlichen, mit internationaler "Polizeigewalt" ausgestatteten Institution18. Wie die Geschichte des Scheiteros der GCD-Pläne nach 1945 zeigte, blieb demgegenüber die Souveränitätsverhaftetheil der Nationalstaaten weiterhin der bestimmende Grundfaktor in den internationalen Beziehungen und im Völkerrecht. Solange Rüstungsfreiheit Verteidigungsfähigkeit und damit staatliche Sicherheit und Unabhängigkeit garantiert, ist die Forderung nach sofortiger und vollständiger Abrüstung nicht seriös 19. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Kriegs- und Gewaltverbot einerseits und der grundsätzlich unbeschränkten Rüstungsfreiheit der Staaten20 andererseits besteht daher nach wie vor. Sein sichtbarster Ausdruck ist die bis heute virulent gebliebene Angst der Völker vor den unabsehbaren Folgen eines mit modernen Massenvernichtungswaffen ausgetragenen militärischen Konflikts. Angesichts dieser Realitäten mußte es zur vordringlichen Aufgabe der internationalen Politik und des Völkerrechts werden, das risikoreiche Spannungsverhältnis zwischen Gewaltverbot und Rüstungsfreiheit durch völkerrechtliche Verfahren und Instrumente der Friedenssicherung und Kriegsverhütung im Vorfeld bewaffneter Konflikte abzumildern. Hierin liegt unverändert die aktuelle Aufgabe von Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die "allgemeine und umfassende Abrüstung" hingegen ist heute lediglich Fernziel und "handlungsleitende Utopie" 21 des neuen Ansatzes einer gestuften Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik der kleinen 17 Zu Geschichte und Konzept der GCD Frei, Kriegsverhütung und Friedens-

sicherung, S. 151 ff.; Schütz, Geschichte der Abrüstungsverhandlungen, S. 105 ff.

18 Zum Thema "Weltstaat und Kriegsverhütung" vgl. etwa Waterkamp, Konfliktforschung und Friedensplanung, S. 134 ff.; Randelzhofer, "Peaceful Change", s. 1822 f. 19 So auch Jung, Rüstungskontrolle - 25 Jahre danach, S. 157.

20 Das allgemeine Völkerrecht kennt de lege lata weder eine die Rüstungsfreiheit der Staaten beschränkende Pflicht zur Abrüstung bzw. Rüstungskontrolle noch eine Pflicht zur Teilnahme an entsprechenden Verhandlungen. Vgl. Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 115 ff.

21

Schatz, Geschichte der internationalen Abrüstungsverhandlungen, S. 121.

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Schritte22• Diese ist gekennzeichnet durch Segmentierung, also durch das Aufteilen der Gesamtmaterie auf verschiedene Verhandlungsforen und Verhandlungsebenen (z.B. nukleare, chemische und konventionelle Rüstungskontrolle, bilaterale und multilaterale Verhandlungen), und durch Sequenzierung, d.h. durch das Hintereinanderschalten sukzessiver Teilvereinbarungen in den einzelnen Gegenstandsbereichen der Rüstungskontrolle (z.B. SALTI, SALT II, START): "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" anstelle von "Schwerter zu Pflugscharen". Das Völkerrecht der Rüstungskontrolle und Abrüstung ist weitestgehend Vertragsrecht. Rüstungsfreiheit ist ein essentieller Bestandteil der Staatenfreiheit23• Ihre Beschränkung impliziert staatlichen Souveränitätsverzicht Im hochsensiblen Bereich ihrer vitalen Sicherheitsinteressen sind die Staaten zu einem solchen Verzicht jedoch nur unter engen Voraussetzungen bereit. Die strikte Reziprozität von Rechten und Pflichten, die Anerkennung der Gleichheit und Gleichwertigkeit der Sicherheitsinteressen (jedenfalls im Verhältnis der Supermächte untereinander24), sowie die Überpnljbarkeit der Vereinbarungen sind "conditio sine qua non" der Rüstungskontrolle. Sie machen für eine stufenweise Beschränkung der staatlichen Rüstungsfreiheit das Vertragsinstrument - ohne ihm ein Monopol zu geben - unentbehrlich 25 : Die synallagmatische Verknüpfung der Rechte und Pflichten26, die Begründung eines subjektiven Rechts auf den Vollzug der Verpflichtungen, die Bereitstellung zuverlässiger Mittel und Methoden der Vertragseinhaltungskontrolle und das Schaffen der rechtlichen Voraussetzungen für Reaktionen auf Nichterfüllung sind nur auf der Grundlage förmlicher, schriftlicher, völkerrechtlicher Verträge möglich. Entsprechend enthalten Rüstungskontrollverträge regelmäßig eine Ratifikationsklausef7: Die Staaten wollen für ihre AbVgl. z.B. Art. VI NY-Vertrag und Abs. 19 der von der ersten VN-Sondergeneralversammlung für Abrüstung verabschiedeten Resolution S-10/2 vom 30. Juni 1978 (deutsch in: Vereinte Nationen 5/78, S. 171 ff.). 23 Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 115. 24 Das "principle of equality and equal security" wurde ausdrücklich in der Präambel des amerikanisch-sowjetischen SALT-Il-Vertrages von 1979 verankert. 25 Vgl. Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 107 ff. 26 Vgl. Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, S. 239 ff., 269 ff. 27 Z.B. Art. XVI (1) AHM-Vertrag, Art. XIX (1) SALT-11-Vertrag, Art. XVII INF-Vertrag. Verwaltungsabkommen (nach US-Verfassungsrechtsterminologie "executive agreements") wie z.B. das "Heiße Draht"-Abkommen von 1963 bedürfen im Unterschied zu Staatsverträgen nicht der Zustimmung der innerstaatlichen 22

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machungen im Bereich der nationalen Sicherheit die intensivste rechtliche Bindung erzeugen, die mit den Mitteln des Völkervertragsrechts herstellbar ist. Das Recht der Rüstungskontrolle und Abrüstung ist "politisches" Völkerrecht. Die für das Völkerrecht als solches ohnehin typische

gegenseitige Bedingtheit und Durchdringung von_ internationaler Politik und internationalem Recht ist in einem so souveränitätsnahen und gefahrgeneigten Regelungsbereich intensiver als in jedem anderen Gebiet des Völkerrechts28• Ein normativ verengter rechtswissenschaftlicher Ansatz, der die Tatsachenbedingtheit des völkerrechtlich Bindenden außer acht ließe, würde den Realitäten der vertraglichen Rüstungskontrolle nicht gerecht29• Die Hinwendung des Völkerrechts zu den politischen Rahmenbedingungen der Kriegsverhinderung ist umso erforderlicher, als dem an sich nicht bestrittenen Gewaltverbot im System der internationalen Friedenssicherung praktisch nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt30• Real werden Frieden und die nationale Sicherheit der Staaten nach wie vor durch militärische Abschreckung, d.h. durch vorhandene Waffen und die glaubwürdige Drohung ihres Einsatzes gewährleistet: "Si vis pacem para bellum." In der politisch-existenziellen Natur eines Rechts der Kriegsverhütung, das in diesem Koordinatensystem von normativem Gewaltverbot, souveräner Rüstungsfreiheit und militärischer Abschreckung angesiedelt ist, liegt daher eine wesentliche, ja typusbestimmende Besonderheit des Rüstungskontroll-Vertragsrechts. Diese Tatsache zwingt die Rechtswissenschaft in unserem Bereich zu einer Erweiterung des Betrachtungshorizontes; sie macht die rechtswissenschaftliche Durchdringung des Rüstungskontrollgegenstandes zugleich schwierig und zu einem intellektuellen Faszinosum. Legislative und der Ratifizierung als "Vertrag". Dennoch handelt es sich bei ihnen um vollwertige völkerrechtliche Verträge. 28 Der eminent politische Charakter des Rechts der Rüstungskontrolle wird in der neueren völkerrechtlichen Rüstungskontrollforschung zu Recht besonders herausgestellt. S. etwa Neuhold, Legal Aspects of Arms Control Agreements, S. 448; Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 110 ff. und These 3.4, s. 140.

29

Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 107, FN 54.

Zu Geltungskraft und Geltungsmängeln des Gewaltverbots vgl. etwa Oppermann, Das Verbot der Gewaltanwendung, S. 119 f. Bothe, Beiträge des Völker30

rechts zur Friedenssicherung?, S. 52, spricht gar vom "Musterbeispiel einer ineffektiven Norm".

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Kritik der Alternativen zur vertraglichen Rastungskontrolle

Über die hoffnungsvoll stimmenden Fortschritte der vertraglichen Rüstungskontrolle der Gegenwart darf die Krise, in der sich Politik und Konzept der Rüstungskontrolle noch vor wenigen Jahren befanden, nicht in Vergessenheit geraten. Aus rechtlicher Sicht gilt dies umso mehr, als es sich primär um eine Krise des Vertragsinstruments handelte. Im Jahre 1979 konstatierte Horst Ajheldt den "Bankrott der bis heute manifestierten Rüstungskontrollpolitik"31• Schon 1972 hatte Dieter Senghaas in seiner Studie "Aufrüstung durch Rüstungskontrolle" eine vernichtende Kritik am theoretischen Rüstungskontrollkonzept, an seiner Umsetzung durch die politische Praxis und am Vertragsinstrument der Rüstungskontrolle geübt32• Dabei wurde dem Vertrag grundsätzlich die Fähigkeit abgesprochen, als normative Grundlage für kooperative Maßnahmen der Rüstungssteuerung zu dienen33: Das Vertragsinstrument sei aufgrund der Rigidität seiner Normen den Herausforderungen der modernen, in ständiger Innovation begriffenen Rüstungstechnik nicht (mehr) gewachsen34; Verträge könnten allenfalls - ineffektive - quantitative Rüstungsschranken errichten; die ausschlaggebende qualitative Dimension der Rüstungsprozesse entziehe sich naturgemäß einer vertraglichen Regelung. Darüber hinaus wirke der langwierige "Rüstungskontrollpoker" eher rüstungsbeschleunigend als rüstungsbegrenzend, indem er Anreize schaffe, neue Waffen als "bargaining chips" für Verhandlungen zu entwickeln und herzustellen. Kurz: Die vertragliche Rüstungskontrolle sei als völkerrechtliches Instrument der Friedenssicherung und

Politische Steuerung der Rüstung in den neunziger Jahren, S. 325. Senghaas, Aufrüstung durch Rüstungskontrolle, S. 7 und 9, vertrat die These, mit Rüstungskontrolle sei das politische Bindeglied zwischen Entspannungspolitik und weiterer Aufrüstung gefunden. Dann hatte Rüstungskontrolle nur eine symbolische, auf die Beruhigung des öffentlichen Bewußtseins zielende Bedeutung: "symbolischer Gebrauch von Politik". 33 So etwa auch Scoville, Reciprocal Unilateral Restraint; Adelman, Arms Control with or without Agreements. Yost, Die Zukunft atomarer Rüstungskontrolle in Europa, S. 21, betrachtete die SALT-Vertrage der 70er Jahre als den mißglückten Versuch einer praktischen Verwirklichung der Rüstungskontrolltheorie. 34 Eine parallele Kritik wurde im innerstaatlichen Bereich mit der Behauptung geübt, die starren parlamentarischen Gesetze seien zur Normierung dynamischer technischer Prozesse ungeeignet. Dazu m.w.N. Westphalen I Neubert, Zur Rolle von Recht und Rechtswissenschaft, S. 275 f. 31 Aflteldt,

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Kriegsverhütung ebensowenig effektiv wie das normative Gewaltverbotl5.

Aus der Diskussion über die (behauptete) Untauglichkeit des Vertragsinstruments gingen Konzepte einer "alternativen" Rastungslwntrolle ohne Verträge hervor. Während der in diesem Zusammenhang erörterte Weg der einseitigen AbrastunfiY' keine ernstzunehmende Alternative zur vertraglichen Rüstungskontrolle darstelle7, hat das in der amerikanischen "arrns control"-Theorie entwickelte Konzept einer Rüstungskontrolle durch reziprokes, aufeinander bezogenes Beispielgeben zahlreiche Befürworter gefunden38• Es erkennt das Gegenseitigkeitsprinzip an, pro35 So etwa Bertram, Arms Control and Technological Change, S. 1 ff.; Vetschera, International Law and International Security, S. 151. 36 Die Befürworter der einseitigen Abrüstung (Unilateralisten) halten die Logik der Abschreckung für einen "Zirkelschluß des Argwohns", aus dem man ausbrechen könnte, indem die Staaten ohne Beharren auf gegenseitige Kontrollmaßnahmen die Lauterkeit ihrer Absichten unter Beweis stellen. Hauptvertreter ist Erich Fromm. Vgl. ders., May Man Prevail?; ders., Argumente zur einseitigen Abrüstung. Eine Darstellung der Thesen Fromms und anderer Unilateralisten gibt Fomdran, Abrüstung und Friedensforschung, S. 119 ff. m.w.N. 37 Insbesondere zur Überwindung der von der Rüstungskontrollpolitik ungelösten Probleme der kontinuierlichen rüstungstechnischen Innovationen wird immer wieder der Weg einer einseitig durchgeführten freiwilligen Selbstbeschränkung in militärischer Forschung und Entwicklung gewiesen (so etwa Rix/Wilke, Gemeinsame Sicherheit, S. 214 f.). Unilateralistische Abrüstungskonzepte vernachlässigen jedoch vor allem den für den Rüstungskontrollbereich zentralen Reziprozitäts- und Gleichgewichtsgrundsatz sowie den erheblichen Kontrollbedarf. Den Unterwerfungscharakter einseitiger Abrüstungsschritte zeigen die historischen Anwendungsbeispiele: In der zwischenstaatlichen Praxis ist der einseitige Rüstungsverzicht außer im Verhältnis zwischen Sieger und Besiegtem (z.B. Versailler Vertrag) nur in wenigen eng begrenzten und unter Gleichgewichtsgesichtspunkten vernachlässigbaren Fällen zur Anwendung gelangt. Frei, Kriegsverhütung und Friedenssicherung, S. 161, wirft dem Unilateralismus die Vernachlässigung elementarer Erkenntnisse der allgemeinen Konflikttheorie vor, ja nach der Ansicht von Fomdran, Dynamik des Rüstungsprozesses, S. 212, induziert einseitiger Rüstungsverzicht die Gefahr internationaler Destabilisierung. Begrenzte einseitige Vorleistungen können als Beweis von rüstungskontrollpolitischem "Goodwill" Verhandlungen vorbereiten und vorantreiben.

38 "Mutual /Reciprocal F.xample", "Unilateral Reciprocal Restraint 1Action". In der deutschen Friedensforschung werden die Vertreter dieser Theorie als "Gradualisten" bezeichnet. Dazu Menzel, Die Technik des "Gegenseitigen Beispiels"; Scoville, Unilateral Reciprocal Restraint, S. 172 ff.; Delbrilck, Maßnahmen zur Kriegsverhütung, S. 603 f.

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pagiert aber eine Flucht aus der Rechtsförmlichkeit, die die Mängel der Vertragsinstrumente und den fehlenden Rechtsbindungswillen der Staaten kompensieren soll. Der Abrüstungs- und Rüstungskontrollgedanke ließe sich, so heißt es, eher durch aufeinander folgende rechtlich unverbindliche kleine Schritte in der Art eines "stummen Dialogs"39 verwirklichen. Das (angeblich) geringere Risiko einer solchen vertraglosen Rüstungskontrolle erhöhe die Chance für substantielle Schritte. Ein entsprechender Mechanismus sei etwa beim Nichteinsatz von Kernwaffen in den lokalen und regionalen Nachkriegs-Konflikten oder bei den sowjetisch-amerikanischen Kernwaffentest-Moratorien zwischen 1958 und 1961 erfolgreich gewesen40• Aktuelle Präzedenzfälle für das Funktionieren informeller Gegenseitigkeit im Rüstungskontrollbereich werden in der beiderseitigen Einhaltung der nichtratifizierten TTBT (1974), PNET (1976) und des SALT-Il-Vertrages (1979) durch die USA und die Sowjetunion gesehen. Angesichts des hohen Flexibilitätsbedarfs der Rüstungskontrollparteien, der sich u.a. aus dem Zwang zur Anpassung an die ständigen technischen Veränderungen bei den betroffenen Waffensystemen ergibt, verfügt eine Politik des gegenseitigen Beispiels über unbestreitbare Vorteile. Gegenüber dem auf umfassende rechtliche Regelungen gerichteten System der vertraglichen Rüstungskontrolle eröffnet sie ein erweitertes Spektrum politischer Handlungmöglichkeiten. Wie aber das Schicksal des nichtratifizierten und dennoch bis 1986 stillschweigend beachteten SALT-Il-Vertrages von 1979 zeigt4\ liegt in den Flexibilitätsvorteilen solcher "metalegalen"42 Rüstungskontrollmaßnahmen gleichzeitig ihre Beschränkung. Die (Über-)Betonung des Flexibilitätsaspekts geht notwendigerweise zu Lasten der Verläßlichkeit der Erwartungshaltungen. Das Bedürfnis der Staaten nach zuverlässiger Vorhersehbarkeit des Rüstungsverhaltens des potentiellen Gegners, an dem sich die eigene langfristige Rüstungsplanung ausrichten muß, kann nur durch das Vertrags-

39 Doty/Carnesale, The Race to control Nuclear Arms, S. 119; Menzel, Die Technik des "Gegenseitigen Beispiels", S. 768. 40 Vgl. Stein, Impact of New Weapons Technology, S. 254 f.; Menzel, Die Technik des "Gegenseitigen Beispiels", S. 762 ff.; Stahl, Die Einstellung der Kernwaffenversuche, S. 578 ff.; Chappuis, La Iimitation des armes, S. 129 f. 41 Die USA erklärten 1986 nach jahrelangem Disput über angebliche "Vertrags"-verletzungen ihren "Ausstieg" aus dem SALT-11-Vertrag, dessen Bestimmungen bis dahin von beiden Seiten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit prinzipiell beachtet worden waren. 42

"metalegal forms", Stein, Impact of New Weapons Technology, S. 254.

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instrument befriedigt werden. Das Risiko, die Gegenseite könnte ihr beispielgebendes bzw. beispielfolgendes Verhalten infolge rechtlicher Unverbindlichkeit jederzeit aufgeben, ist für die Rüstungskontrollparteien i.d.R. nicht akzeptabel43• Im Bereich der Vertrauensbildung, als flankierende Hilfsmaßnahme zur Vorbereitung, Ergänzung und Absicherung der vertraglichen Rüstungskontrolle sowie in Bereichen, in denen eine Mitbestimmung der anderen Seite bei nationalen Entscheidungen aus psychologischen Gründen unerwünscht ist, können "metalegale" Handlungsformen - von der Moratoriumstechnik bis hin zu den Instrumenten des "Soft Law" - jedoch wichtige rüstungskontrollpolitische Funktionen übernehmen. Die jüngste Rüstungskontrollpraxis bestätigt die ungebrochene Präferenz der Staaten für das Vertragsinstrument Mit dem INF-Abkommen vom 7. Dezember 1987 (doppelte Nullösung für bodengestützte Mittelstreckenflugkörper) erhielt die Idee der vertraglichen Rüstungskontrolle neuen Auftrieb. Darüber hinaus belegen die aktuellen Verhandlungen über strategische (START), chemische (C-Waffen-Vertrag) und konventionelle Waffen (VKSE) den wachsenden Normbedarf des internationalen Sicherheitssystems. Das Argument von der Unentbehrlichkeit des Vertragsinstruments widerlegt jedoch nicht die vor allem technikbezogene Kritik am Konzept der vertraglichen Rüstungskontrolle. Das Fehlen praktikabler Alternativen zum Instrument des völkerrechtlichen Vertrages unterstreicht vielmehr die Dringlichkeit der zu lösenden Probleme des vertraglichen Rüstungskontrollrechts: Ein neuerliches Scheitern des Vertragsansatzes der Rüstungskontrolle an rüstungstechnischen Veränderungen brächte das sicherheitspolitische Rüstungskontroll- und Abrüstungskonzept insgesamt in Gefahr. Hier liegt die zentrale Herausforderung für Wissenschaft und politische Praxis. Hieraus ergibt sich die hohe praktische Relevanz, die der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen normativer Technikbeherrschung im Bereich der militärischen Rüstung zukommt.

Rüstungstechnischer Wandel als Kernproblem vertraglicher Rüstungskontrolle Es liegt auf der Hand, daß das Ziel einer kooperativen Steuerung quantitativer und qualitativer Rüstungsprozesse nur mittels einer stabilen

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So im Ergebnis auch Goldb/at, Agreements for Arms Control, S. 355.

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vertraglichen Rüstungskontrolle zu erreichen ist. Werden die Vertragsinstrumente selbst das Opfer technischer Veränderungen, indem sie von rüstungstechnischen Innovationen unterlaufen, überholt und in ihrem Bestand gefährdet werden, gerät "arms cantrot out of control"44• Nun ist es in der Realität der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts durchaus kein unüblicher Vorgang, daß Verträge zwischen Staaten hinfällig werden, wenn politische, wirtschaftliche oder technische Veränderungen neue Politikoptionen eröffnen, die den Interessen einer Vertragspartei besser dienen als das jeweilige Abkommen. Das Entfallen der politischen oder technischen "Geschäftsgrundlage" kann jedoch im Bereich der vertraglichen Rüstungskontrolle, den wir als politisch-existenziell charakterisierten, geradezu verheerende politische und militärische Konsequenzen haben. Rüstungstechnische Veränderungen drohen nicht nur, den Staaten mit den Verträgen die Instrumente ihrer Kriegsverhütungs- und Sicherheitspolitik aus der Hand zu schlagen; das Scheitern von Vereinbarungen - so die Lehre aus dem bisherigen Rüstungskontrollprozeß - konsumiert darüber hinaus Vertrauen. Enttäuschte Erwartungen gegenüber dem Rüstungsverhalten des potentiellen Gegners könnten Reaktionen auslösen, die von der Verschärfung der internationalen Sicherheitslage über die Intensivierung des Wettrüstens bis hin zum Präventivschlag reichen. Die Herausforderung des rüstungstechnischen Wandels an die vertragliche Rüstungskontrolle liegt daher zunächst in der Schaffung von Vertragsinstrumenten, die der technologischen Rüstungsdynamik gewachsen, d.h. gegen technischen Wandel abgesichert und damit zukunfts- und veränderungsfest sind. Abkommen, die diesen Beschaffenheitsanforderungen genügen, bezeichnen wir als qualitativ wirksame Vertrage bzw. qualitative Rastungskontrolle45• Hinsichtlich der technischen Gefährdungen, gegen die qualitativ wirksame Vereinbarungen abgesichert werden müssen, ist aus juristischer Sicht zwischen zwei verschiedenen Wirkungsbereichen rüstungstechnischer Veränderungen zu unterscheiden. Offensichtlich ist, daß technische Innovationen im Bereich der Vertragsgegenstande, d.h. bei Waffensystemen, die innerhalb der gegenständlichen 44 So die Überschrift eines Artikels in der International Herald Tribune vom 16. August 1979, S. 4.

45 Der Inhalt dieses der nachfolgenden Untersuchung zugrundeliegenden Ar· beitsbegriffs ist enger und präziser als die verschwommene Formel von der "qualitativen Rüstungskontrolle", mit der Praxis und Literatur einen Rüstungskontrollansatz bezeichnen, der im Unterschied zu einem rein "quantitativen" Ansatz auch die qualitative Dimension des Wettrüstens - irgendwie - in Rechnung stellt.

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und definitorischen Reichweite der Vereinbarung liegen, zum Leerlaufen der Verträge führen können. Hier stellt sich insbesondere das Problem der Modemisierung der von der Regelung erfaßten vorhandenen Waffensysteme und ihrer Ersetzung durch neue Waffen der nachfolgenden technischen Generationen. Nicht weniger gefährdet werden Abkommen indes durch technische Veränderungen in technisch benachbarten Rüstungsbereichen, die zwar außerhalb des Definitionsbereichs der Vereinbarung liegen, die konkrete Regelung jedoch untergraben und unwirksam machen können. Hier erweisen sich die sogenannten multifunktionalen "Grauzonenwaffen" als das technische Kernproblem vertraglicher Rüstungskontrolle. Angesichts der Gefahr, daß der gesamte Rüstungskontrollprozeß in Definitionsproblemen stecken bleibt und dabei von der rüstungstechnischen Entwicklung überrollt wird, ist in der wissenschaftlichen Rüstungskontrolldiskussion der letzten Jahre verstärkt die Forderung nach Verwirklichung eines präventiven Rastungskontrollansatzes erhoben worden46. Vorbeugende Rüstungskontrollmaßnahmen, die zwischen stabilisierenden und destabilisierenden Waffen unterscheiden und letztere zum Gegenstand rüstungskontrollvertraglicher Verbote machen, sollen verhindern, daß waffentechnische Entwicklungen unumkehrbare Fakten schaffen47. Ziel vertraglicher Rüstungsprävention ist es damit, unerwünschte Waffentechnologien bereits im Keim zu ersticken ("to outlaw weapons before they are born"48). Auf dieser in der naturwissenschaftlichen Abrüstungsforschung besonders favorisierten Linie liegt etwa der Vorschlag des Marburger Physikers Jargen Altmann 49, einen am Vorbild des VNWaffenübereinkommens von 1980 orientierten Rahmenvertrag abzuschließen, der alle Waffen mit neuartiger Zerstörungswirkung verbietet und nach Bedarf die erforderlichen Detailregelungen in Zusatzprotokol46 Vgl. etwa 0. Feldmann, Über praventive Rüstungskontrolle reden, in: FDPTagesdienst, Nr. 510, Bonn, 4.5.1988. In der jüngeren Literatur ist auch von "praventiver Abschirmung qualitativer Abrüstung" die Rede (Gießmann, Qualitative Rüstung, S. 94 ff.). - Die Forderung nach praventiver Rüstungskontrolle ist die moderne Version der Idee einer "qualitativen Abrüstung", die im Rahmen der (gescheiterten) Abrüstungskonferenz von 1932 diskutiert wurde. Vgl. Bul/, Future Conditions of Strategie Deterrence, S. 22. 47 So etwa Scheffran, Rüstungskontrolle im Weltraum, S. 5.

48 US-SALT-1-Delegationsleiter Smith im ABM-Kontext; zit. in United Stares Department of State, ABM Treaty I, S. 52. Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, These 6.1, S. 143, spricht diesbezüglich von ,~Jroleptic laws".

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Laserwaffen, S. 7-8 ff.

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len trifft. Der Erkenntnisstand des innerstaatlichen Technikrechts spricht grundsätzlich für die Richtigkeit des Konzepts einer vorbeugenden Rüstungskontrolle. Danach reicht beim modernen Stand der technischen Entwicklung eine rein reaktive Position nicht aus, die das Recht als bloßes Korrektiv für nicht akzeptable Entwicklungen versteht, ohne einen weitergehenden Anspruch auf die vorausschauende Beeinflussung potentiell gefährlicher Technologien zu erheben50• Der Vertragsgefährdungsaspekt des rüstungstechnischen Wandels, der die Frage nach der Herstellung und Perfektionierung qualitativ wirksamer Vertragsinstrumente aufwirft, erschöpft daher das Thema der Untersuchung noch keineswegs. Die praxisorientierte Aufgabenstellung erstreckt sich vielmehr auch auf die Frage nach den Möglichkeiten zur Instrumentalisierung qualitativ wirksamer Abkommen im Rahmen einer möglichst frühzeitig einsetzenden kooperativen Rüstungssteuerung. Völke"echtliche Fragestellung

Die große praktische Bedeutung des Rechts für die Rüstungskontrolle ergibt sich vor allem aus der Unentbehrlichkeit des Vertragsinstruments. In der Praxis der Rüstungskontrolldiplomatie ist der Rechtsberater der Verhandlungsdelegationen " ... focal point at the working level for the negotiation and completion of the treaty text" 51 • Auch bei der Vertragsdurchführung, insbesondere bei der Vertragsauslegung im Rahmen der Einhaltungskontrolle (Verifikation), wo potentiell vertragswidrige Handlungen der Gegenseite zu beurteilen sind und zu beanstandende Handlungen rechtlich bewertet werden müssen (etwa als "material breach"), fällt den Rüstungskontroll-Vertragsjuristen eine Schlüsselfunktion zu. Gleiches gilt für die Beurteilung der rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten auf Vertragsverletzungen der Gegenseite und der Rechtmäßigkeit des eigenen Rüstungsverhaltens im Lichte der geltenden Verträge und einschlägigen Normen des Völkerrechts. Besonders deutlich wurde der letztgenannte Aspekt am Beispiel der US-internen Kontroverse über die rechtliche Kompatibilität des SDI-Projekts mit dem amerikanisch-sowjetischen ABM-Vertrag von 1972, die überwiegend als juristische Expertendebatte ausgetragen worden ist.

50 Dazu Backhenns, Recht und Technik, S. 10; Westphalen I Neubert, Rolle von Recht und Rechtswissenschaft, S. 261 f. 51

McNeill, The Processand the Lawyer, S. 65 ff.

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Eine zielführende Rüstungskontroll-Vertragspolitik der Staaten ist in hohem Maße darauf angewiesen, daß das zu ihrer Verfügung stehende rechtliche Instrumentarium sowie die Wirksamkeit der vorhandenen normativen Mittel und Möglichkeiten bekannt sind. Entsprechend haben wissenschaftlich fundierte Normwirkungsprognosen neben den möglichst genauen Auswirkungen der in Frage kommenden Regelungen de lege ferenda auch die Möglichkeiten und Grenzen des tatsächlichen Normenvollzuges darzustellen. Vor allem aber gilt es zu verhindern, daß die Möglichkeiten rechtlicher Festlegung im Rüstungskontrollbereich unterschätzt und dann nicht ausgeschöpft oder aber überschätzt werden. Dabei wird es der Völkerrechtswissenschaft nur dann möglich sein, der Politik ein funktionsgerechtes Instrumentarium normativer Steuerungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, wenn sie die nichtrechtlichen Determinanten der vertraglichen Rüstungskontrolle angemessen berücksichtigt52. Die Völkerrechtswissenschaft ist aufgefordert, ihre bisherige Zurückhaltung gegenüber dem Rüstungskontrollgegenstand aufzugeben, der lange nahezu exklusiv als selbstverständliches Leitthema von Friedensforschung, Politikwissenschaft und anderen Disziplinen gelten konnte. Das (wieder-)erwachende Interesse der deutschen Völkerrechtswissenschaft53 an Rüstungskontrolle und Abrüstung manifestierte sich in der Themenwahl der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht für ihre Hamburger Tagung im April 1989 ("Rechtsfragen der Rüstungskontrolle im Vertragsvölkerrecht der Gegenwart"). Während Michael Bothe hier den Fragen der Begründung und des Inhalts der Rüstungskontroll-Verpflichtungen nachging, stellte Graf Vitzthum die Vertragsdurchführung und insbesondere den Verifikationsaspekt in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Damit wurde für die rechtswissenschaftliche Aufarbeitung des Themas "vertragliche Rüstungskontrolle" ein wichtiger Grundstein gelegt; erschöpft ist das Rüstungskontrollthema damit jedoch noch keineswegs.

52 Die rechtswissenschaftliche Durchdringung des Rüstungskontrollgegenstandes, d.h. die empirische Befundnahme, die Analyse und Bewertung des bisherigen ROstungskontrollprozesses, darf insbesondere die sicherheits- und militärpolitischen Rahmenbedingungen und Zielvorstellungen der Rüstungskontrolle, die theoretischen und politischen Konzeptionen der "arms control", die geltenden Militär- und Abschreckungsdoktrinen, die Erkennlisse der Rüstungsforschung über die Dynamik der (qualitativen) Rüstungsprozesse etc., nicht vernachlässigen. 53 Zum Interesse der deutschen Völkerrechtswissenschaft der Zwischenkriegsara am Abrüstungsgegenstand und zum aktuellen besonderen Rüstungskontrollinteresse Deutschlands Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 95 ff.

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Insbesondere die schwelWiegenden Probleme, vor die der dynamische rüstungstechnische Wandel die vertragliche Rüstungskontrolle stellt, sind trotz des rapide wachsenden Normenbedarfs des internationalen Sicherheitssystems bislang aus rechtswissenschaftlicher Sicht kaum thematisiert worden54• Das zentrale Anliegen dieser Untersuchung ist es daher, die normativen Möglichkeiten der vertraglichen Rüstungskontrolle zur möglichst frühzeitigen - kooperativen Steuerung der qualitativen Rüstungsentwicklungen zu überprüfen. Dabei ist insbesondere den vertragsgeftJhrdenden Aspekten militärtechnischer Innovationen nachzugehen. Ziel der Untersuchung ist es, anband des Schlüsselproblems rüstungstechnischen Wandels die Möglichkeiten, Grenzen und Wirksamkeitsvoraussetzungen einer qualitativen und präventiven Rüstungskontrolle aufzuzeigen. Schon hinsichtlich der Grundsatzfrage, ob dem Recht im allgemeinen und dem Vertragsinstrument im besonderen eine eigenständige Rolle im Kanon der Erfolgsbedingungen vertraglicher Rüstungskontrolle zukommt, besteht Klärungsbedarf. Während sich die Kritik der vertraglichen Rüstungskontrolle primär auf das Argument von der grundsätzlichen, "angeborenen" Untauglichkeit des Vertragsinstruments zur Steuerung qualitativer Rüstungsprozesse abstützte, entscheidet nach einer verbreiteten Auffassung ausschließlich der politische Wille der Beteiligten über Erfolg und Mißerfolg der Rüstungskontrolle: Wo ein politischer Wille sei, finde sich auch ein rüstungskontrollrechtlicher Weg55• Die Frage nach der Steuerungsfunktion des Rechts und den Wechselwirkungen zwischen Narrnativität und Faktizität im Rüstungskontrollbereich, genauer: die Frage nach der Interdependenz zwischen den Möglichkeiten rüstungskontrollvertraglicher Normierung und den Rahmenbedingungen ihrer Wirksamkeit, bedarf daher der Beantwortung. Die Untersuchung wird aus diesem Grunde im Wege der empirischen Befundnahme und der historischen Analyse zwischen solchen Fehlleistungen der Vertragsinstrumente, die auf mangelndes rüstungskontrollpolitisches Wollen der Beteiligten zurückzuführen sind, und solchen, die auf einem mangelhaften rüstungskontrolltechnischen und -rechtlichen Können beruhen, zu

54 Allenfalls wurde auf das Problem als solches und als Desideratum der Völkerrechtswissenschaft hingewiesen. So etwa Grewe, Frieden durch Recht?, S. 20; Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, Diskussionsbeitrag. 55

So etwa Neuhold, Legal Aspects of Arms Control Agreements, S. 448.; Graf

von Baudissin, New Technology, Stability and the Arms Control Deadlock, S. 59.;

im Ergebnis ähnlich, wenn auch differenzierter, Grewe, Frieden durch Recht?,

s. 23 f.

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unterscheiden haben. Dabei ist nicht eine abstrakte Funktionsbestimmung des Rechts oder der (untaugliche) Versuch einer "Dogmatisierung" oder ,,Juridifizierung" der Kriegsverhütung das Entscheidende, sondern die Frage nach der Eignung des rechtlichen Instrumentariums zur Lösung konkreter rüstungskontrollpolitischer Aufgabens6• Erst nach der Klärung des Verhältnisses zwischen den Möglichkeiten rüstungskontrollvertraglicher Normierung und den politisch zu schaffenden Wirksamkeitsbedingungen der vertraglichen Rüstungskontrolle wird es also möglich sein, zu Aussagen über die Anforderungen zu gelangen, die an qualitativ wirksame Vertragsinstrumente zu stellen sind, und die Wege aufzuzeigen, die von der Politik zur Effektivierung der vertraglichen Rüstungskontrolle beschritten werden müssen. Dabei sind die Grenzen des mit den normativen Mitteln der Rüstungskontrolle Machbaren aufzuzeigen und diejenigen politischen Faktoren zu bestimmen, die über die funktionsgerechte Wirksamkeit der rüstungskontrollvertraglichen Steuerungsnormen entscheiden. Dabei liegt es nahe, das rüstungskontrollvertragliche Kernproblem des rüstungstechnischen Wandels auch durch die "technikrechtliche Brille" zu betrachten. Möglicherweise lassen sich die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem innerstaatlichen Technikrecht für die Zwecke der vertraglichen Rüstungskontrolle nutzen. Umgekehrt ist es - so eine Mutmaßung Däub/erss7 - denkbar, daß dem militärischen Sektor des Völkerrechts Modelle einer normativen Techniksteuerung zu entnehmen wären, die für die legislatorischen Aufgaben im Bereich des innerstaatlichen Technikrechts fruchtbar gemacht werden könnten. Gang der Untersuchung

Die Untersuchung ist nur auf der Grundlage fundierter Erkenntnisse über Konzept, Besonderheiten und typische Problemstrukturen der vertraglichen Rüstungskontrolle möglich. Dies folgt aus der komplexen, interdisziplinären Natur des Rüstungskontrollgegenstandes und aus dem hohen Stellenwert, der den nichtrechtlichen Determinanten der vertraglichen Rüstungskontrolle zukommt. Die Untersuchung gliedert sich daher in einen allgemeinen Grundlagenteil und einen besonderen, einzelfällebezogenen Teil.

s6 In diesem Sinne auch Grewe, Frieden durch Recht?, S. 23 f. s7 Däubler, Gestaltung neuer Technologien durch Recht, S. 46.

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Aufgabe des ersten, allgemeinen Teils ist es, im ersten Kapitel die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen der Rüstungskontrolle darzulegen, im zweiten Kapitel die für die Untersuchung zentralen Probleme (rüstungstechnischer Wandel und Verifizierbarkeitsimperativ) aus juristischer Sicht zu analysieren sowie im dritten Kapitel das technische und das rechtliche Instrumentarium der vertraglichen Rüstungskontrolle darzustellen. Den zweiten Teil bilden ausgewählte Fallanalysen aus dem Bereich der nuklearen Flugkörper-Rüstungskontrolle der Supermächte. Die Gegenstände dieser "Fallstudien" stammen aus dem SALT-Prozeß als dem "großen Paradigma der vertraglichen Rüstungskontrolle" der 70er Jahre58 (lnterimsabkommen von 1972 und SALT-Il-Vertrag von 1979 im ersten Kapitel, ABM-Vertrag von 1972 im dritten Kapitel) und aus den jüngsten amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen, die die Renaissance der vertraglichen Rüstungskontrolle in der zweiten Hälfte der 80er Jahre markierten (INF-Vertrag von 1987 und START-Verhandlungen im zweiten Kapitel). Die Einzelfallbetrachtungen dürfen jedoch angesichts der Ganzheitlichkeil des Rüstungskontrollproblems nicht zusammenhanglos in den Raum gestellt werden. Um die Vergleichbarkeit der Problemstrukturen in den verschiedenen Gegenstandsbereichen der Rüstungskontrolle und die Übertragbarkeit der in den "Fallstudien" gewonnenen Erkenntnisse beurteilen zu können, sind sie in eine Übersicht über das Gesamtgefüge und die Vertragslandschaft der Rüstungskontrolle einzubetten. Diese wird im letzten Kapitel des ersten Teils den Fallanalysen vorangestellt. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlußfolgerungen sowie ein "rechtspolitischer" Ausblick schließen die Untersuchung ab. Terminologie

Ein einheitlicher fachsprachlicher Begriffskatalog zum Thema "Rüstungskontrolle und Abrüstung", auf den die Rechtswissenschaft zurückgreifen könnte, liegt nicht vor. Es ist daher erforderlich, an dieser Stelle einige für die Zwecke der Untersuchung zentrale Grundbegriffe zu klären. So impliziert schon das in der öffentlichen Diskussion vorherrschende undifferenzierte Verständnis, wonach unter Abrüstung und Rüstungskontrolle alle Maßnahmen zu verstehen sind, die zur Begrenzung und Verminderung von Kriegsmitteln und Kriegsgefahr ergriffen werden, zu viele Unschärfen. Bereits im Jahre 1961 hat Hedley Bu/1 in einer grundle-

58

Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 133.

Einführung

33

genden Studie zum Konzept der Rüstungskontrolle eindeutig zwischen Abrüstung und Rüstungskontrolle unterschieden 59• Unter dem Oberbegriff Abrüstung sind - neben den gescheiterten Plänen für eine umfassende und allgemeine Abrüstung unter internationaler Kontrolle (GCD) - die einseitig-freiwillige bzw. einseitig-aufgezwungene Abrüstung sowie alle kooperativen Maßnahmen zu verstehen, die auf eine schrittweise Rüstungsverminderung gerichtet sind60• Abrüstung i.S. einer gestuften Rüstungsreduzierung soll die internationale Mächtekonstellation durch proportionale Verminderungen von Waffen auf einem niedrigeren Niveau des allgemeinen Rüstungsstandes festschreiben und gegen zukünftige Verschiebungen absichern. Rüstungskontrolle als funktionaler Oberbegriff bezeichnet ein um das Jahr 1960 in den USA unter dem englischsprachigen Begriff "arms control" entwickeltes politisches Konzept mit dem Ziel, Kriege zu verhindern und destabilisierende Rüstungswettläufe zu beschränken. Eine präzisere, umfassende und allgemein anerkannt Definition des Rüstungskontrollbegriffs ist bisher nicht gelungen61• Der vielgestaltige Inhalt von "arms control" ergibt sich einerseits aus der Abgrenzung zu Begriff und Konzept des "Complete and General Disarmament", aus denen heraus sie entwickelt wurde, und andererseits aus den Funktionen, die der Rüstungskontrolle in Theorie und politischer Praxis zugewiesen werden. Diese sind Gegenstand ausführlicherer Darstellung im nachfolgenden ersten Kapitel des allgemeinen Teils. Anders als der auf eine allgemeine und vollständige Abrüstung gerichtete hochgegriffene Ansatz geht "arms control" den bescheideneren Weg einer stabilisierenden "Zähmung des Rüstungswettlaufs" durch Verlangsamung und Kanalisierung der Rüstungsprozesse. Sie verliert zwar das Fernziel umfassender Abrüstung nicht aus dem Auge, stellt jedoch die auf Waffen- und Bedrohungspotentialen beruhende Abschreckungsstrategie nicht in Frage. Maßnahmen der "arms control" sollen das Abschreckungssystem als die real existierende Grundlage der Kriegsverhütung stabilisieren. Zur Erreichung des Stabilitätszieles kommen Maßnahmen der Rüstungsbeschränkung, des Rüstungsstopps, der Rüstungsregulierung und Rüstungsreduzierungen grundsätzlich ebenso in Betracht wie Umrüstungs- und (partielle) Aufrü-

59 Bu/1, The Control of the Arms Race, S. 30; ebenso Morgenthau, Political Aspects of Disarmament, S. 57. 60

So etwa auch Frei, KriegsverhUtung und Friedenssicherung, S. 162 f.

Vgl. Schütz in der "Encyclopedia of Public International Law", Bd. 3, S. 34, und Forndran, Rüstungskontrolle - Theorie und Probleme, S. 15. 61

Einführung

34

stungsmaßnahmen62, kriegsrechtliche Einsatzverbote für bestimmte Waffen, Maßnahmen der Vertrauensbildung und des Krisenmanagements63• Entsprechend definiert Forndran Rüstungskontrolle als den Versuch der Manipulierung des gesamten Rüstungsapparates nach Stabilitätsgesichtspunkten mit dem Ziel der Steuerung militärischer Potentiale, Doktrinen und der Rüstungstechnologie, um Kriege unwahrscheinlicher zu machen, im Kriege die Eskalationsgefahr zu reduzieren und die Rüstungsanstrengungen insgesamt zu begrenzen64• Angesichts der konzeptionellen Breite von "arms control" konnte in der einschlägigen deutschsprachigen Literatur keine Einigkeit über die richtige Übersetzung des englischen Begriffs ins Deutsche erzielt werden. Wegen der begrifflichen Unschärfen, die die mißverständliche wörtliche Übersetzung von "arms control" mit "Rüstungskontrolle" impliziert65, werden zahlreiche alternative Termini vorgeschlagen und verwendet66•

62

V gl. Graf von Baudissin I Lutz, Kooperative Rüstungssteuerung in Europa,

s. 445 ff.

63 Jung, Rüstungskontrolle - 25 Jahre danach, S. 153, prägte das schöne Bild vom "Netz der Rüstungskontrollmaßnahmen", das Krieg verhindern, jedenfalls aber immobilisieren soll, so wie "Gulliver mit Hunderten von Zwirnsfäden an den Boden gefesselt wird." Vgl. auch die Begriffsbildung von Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 98 ff. 64 Fomdran, Technologie und Stabilität, S. 479. Vgl. auch die Rüstungskontrolldefinition des Bundeswehr-Weißbuchs 1983, S. 173 f.: "Rüstungskontrolle ist die Gesamtheit aller Bemühungen, in einer gerüsteten Welt trotz fortbestehender Gegensätze militärische Macht und ihren Gebrauch einzuschränken, Stabilität und Berechenbarkeil im militärischen Bereich zu fördern und damit die Aussichten für Kriegsverhütung und Krisenbewältigung zu verbessern. Rüstungskontrollpolitik strebt durch Rüstungsbegrenzung und Rüstungsverminderung ein stabiles Kräftegleichgewicht auf möglichst niedrigem Niveau an. Abrüstung ist die weitergehende Zielvorstellung. Sie strebt die Beseitigung einzelner Waffenkategorien und auf lange Sicht vollständige Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle an."

65 Die Kritik am Begriff der "Rüstungskontrolle" ist insofern berechtigt, als der Inhalt des "arms control"-Konzepts über die bloße Kontrolle des Rüstungsstandes, etwa i.S.v. Überwachung, Nachprüfung, Verifikation (disarmament control), weit hinausreicht. S. etwa Waterkamp, Konfliktforschung und Friedensplanung, S. 128 f. 66 Den Begriff der ,,Rilstzmgsbegrenzung'' bevorzugen etwa Ipsen, Abrüstung, S. 5, und Bothe, Völkerrechtliches Kriegsverhütungsrecht, S. 215 ff. Den in der Völkerbundzeit in die wissenschaftliche Literatur eingeführten Fachbegriff der ,,Rilstungsbeschränkung'' verwenden etwa Klein, Rüstungsbeschränkung zwischen den Weltkriegen, S. 217 f., und Fahl, Rüstungsbeschränkung durch internationale Verträge, S. 17 f. m.w.N.

EinfOhrung

35

Der von Graf von Baudissin eingeführte Begriff der "kooperativen Rastungssteuerung'1 betont die "technische Seite" der Rüstungskontrolle und bietet sich daher als waffenbezogener Unterbegriff zu "arms control" besonders für die Zwecke dieser Untersuchung an68• Im Rahmen dieser Begriffshierarchie bezeichnen "Rüstungsstopp", "Rüstungslimitierung", "Rüstungsbeschränkung", "Rüstungsregulierung", "Rüstungsred uzierung" usw. die Art und Wirkungsrichtung der konkret vereinbarten Maßnahmen, d.h. das rüstungskontrolltechnische Instrumentarium, mit dem die kooperative Rüstungssteuerung stabilisierend auf den Stand und die Entwicklung der militärischen Rüstungen einwirken will. Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) sind nach einer vielzitierten Definition "arrangements designed to enhance ... assurance of mind and belief in the trustworthiness of States and the facts they create"69• VSBM sind Bestandteil der Rüstungskontrolle i.w.S., berühren jedoch nicht unmittelbar den Stand oder die Qualität von Waffen, Truppen etc., d.h. die militärische Hardware als solche70. Transparenzfördernde VSBM, wie z.B. die Ankündigung militärischer Großübungen, die Einladung von Manöverbeobachtern und Inspektoren usw., sowie restriktive VSBM, wie etwa die quantitative Begrenzung von Truppenanzahl und Teilnehmerzahl bei militärischen Manövern7\ gehören daher nicht zu den Instrumenten der kooperativen

67 Graf von Baudissin, Grenzen und Möglichkeiten, S. 5, Anm. 4. Für die Verwendung dieses Begriffs Müller, Die Theorie der Kooperativen Rüstungssteuerung, S. 1, Anm. 1.

68

Der Begriff erfaßt sowohl den Vertragsaspekt der Rüstungskontrolle ~.koope­

rativ") als auch die technikrechtliche Dimension von Rüstungskontrolle ("Rüstungssteuerung"). 69 Holst, Confidence-building Measures, S. 2. Eine frühere Definition lautet:

"Confidence-building involves the communication of credible evidence of the absence of feared threats by reducing uncertainties and by constraining opportunities for exerting pressure through military activity." (Holst I Meander, European Security and Confidence-building Measures, S. 147). 70 Nach einer im Vordringen befindlichen Terminologie handelt es sich bei VSBM um "operationelle Rilstungskontrolle" (operational arms control), wahrend Vereinbarungen über Truppen, Waffen und militärische Infrastrukturen als "stntkturelle Rilstungskontrolle" (structural arms control) bezeichnet werden (vgl. Sharp, Conventional arms control in Europe, S. 393). Die waffenbezogenen Maßnahmen der kooperativen Rüstungssteuerung sind der strukturellen Rüstungskontrolle zuzuordnen. 71

Die den europäischen Raum betreffenden Vereinbarungen sind ein Produkt

36

Einführung

Rüstungssteuerung. Sie können jedoch Verhandlungen konkret vorbereiten und fördern 72 sowie das sicherheitspolitische Umfeld der waffenbezogenen Rüstungskontrolle "atmosphärisch" verbessern73•

des KSZE I KVAE-Prozesses und als solche nur politisch verbindlich. Vgl. etwa Boysen, Rüstungskontrolle und Stabilität in Europa, S. 478.; ausführlich Schütz, Militärische Vertrauensbildende Maßnahmen aus völkerrechtlicher Sicht. 72 So wurde z.B. der mit dem INF-Vertrag von 1987 erzielte Durchbruch in der Inspektionsfrage durch die entsprechenden Vereinbarungen in der Stockholmer KVAE-Schlußakte von 1986 (Art. 69 ff.) psychologisch vorbereitet. Vgl. Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 105 f.

73 Eine "Abschreckungswirkung" eigener Art auf den fachfremden Leser erzielen regelmäßig die englischsprachigen technischen (Kurz-)Bezeichnungen für Waffensysteme und Systemkomponenten. Auf ihre Verwendung kann indes auch diese Untersuchung nicht verzichten. Für den Laien mag es daher tröstlich sein, daß die "Wortungetüme" der technischen Rüstungskontroll-Terminologie in der üblichen abgekürzten Verwendung viel von ihrem Schrecken verlieren. So wird z.B. aus den "Multiple Independently Targetable Re-entry Vehicles" die besser handhabbare Kurzform "MIRV". Fachsprachliche Kurzbezeichnungen werden bei ihrer erstmaligen Verwendung im Text erläutert; sie wurden darüber hinaus in das Abkürzungsverzeichnis aufgenommen, um die Mühe des Lesers im Umgang mit der ungewohnten Terminologie auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Der Anhang enthält eine chronologische Übersicht über die wichtigsten Rüstungskontrollvereinbarungen mit Fundstellennachweisen und den üblichen Kurzbezeichnungen (Anhang 1), Auszüge aus dem Originalwortlaut der amerikanisch-sowjetischen Vertragsdokumente, auf die im Rahmen der Untersuchung Bezug genommen wird (Anhang 2), und Abbildungen (Anhang 3).

Erster Teil

Rüstungskontrollrecht und rüstungstechnischer Wandel 1. Kapitel

Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle Das Konzept "arms control" wurde gegen Ende der 50er Jahre in den USA als Theorie der internationalen Politik entwickelt1 und später von der internationalen Sicherheitspolitik weitgehend rezipiert. Seine theoretischen Grundlagen bilden den Ausgangspunkt jeder Durchdringung des Rüstungskontrollgegenstandes. Aus der Sicht des Rechts sind sie insofern entscheidend, als sich aus der Rüstungskontrolltheorie die Sicherheits- und rüstungskontrollpolitischen Aufgaben ableiten, in deren Dienst das rechtliche Instrumentarium von "arms control" steht. Die Rüstungskontrollpolitik der Staaten ist dabei das Bindeglied zwischen politischer Theorie und den vertraglichen Normen des Rüstungskontrollrechts. Theorie und Politik der Rüstungskontrolle sind der Schlüssel zur juristischen Analyse der vertraglichen Rüstungskontrolle und ihrer Normen. Ihre Zielvorgaben stellen den "Eichstrich" dar, an dem die normativen Lösungen zu messen sind, die der Bewältigung der durch rüstungstechnische Veränderungen aufgeworfenen Probleme dienen 2•

1 Zur Herkunft der "arms control" vgl. etwa Jung, Rüstungskontrolle - 25 Jahre danach, S. 153 ff.; Müller, Die Theorie der kooperativen Rüstungssteuerung, S. 152 ff. Standardwerke der Rüstungskontrolltheorie sind z.B. Bull, The Control of the Arms Race; und Schelling I Halperin, Strategy and Arms Control (beide aus dem Jahre 1961). Obwohl die Theorie der "arms control" vergleichsweise modernen Ursprungs ist, können eine Reihe alterer Prazedenzntlle als praktische Beispiele für Rüstungskontrolle angeführt werden, z.B. die britisch-amerikanischen Vereinbarung über die Benutzung von Sicherungsschiffen auf den Großen Seen von 1817; die Befestigungsverbote für Antwerpen (1839), die Aaland-Insein (1856), Luxemburg (1867); die Haager Friedenskonferenzen zu Beginn unseres Jahrhunderts; die Flottenvertrage der 20er Jahre; das deutsch-britische Flottenabkommen (1935) u.a. Zu diesen und weiteren Beispielen vgl. Miatello, L'arme nucleaire en droit international, S. 141 ff.

2 So erklart sich ein Teil der an der vertraglichen Rüstungskontrolle geübten Kritik aus der undifferenzierten Gleichsetzung von Rüstungskontrolle und Abrüstung. Insbesondere die Kritik am geringen Abrüstungsgehalt der Vereinbarungen

38

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

I. Theorie der Rüstungskontrolle

Die Rüstungskontrollidee baut auf Erkenntnissen der Kriegsursachenforschung auf, wonach Kriege nicht nur politische Ursachen haben, sondern auch durch die vorhandenen Waffen selbst ausgelöst werden können3. Von dieser These ausgehend will "arms control" grundsätzlich weder die politischen Ursachen von Kriegen noch die Waffen als Instrumente von Politik "radikal" beseitigen. Sie will vielmehr "nur" die friedensgefährdenden Risiken regionaler oder universeller Sicherheitssysteme vermindern und beherrschbar machen. Dabei geht es primär um Kriegsrisiken, die durch die Fehleinschätzung der Absichten des potentiellen Gegners, Fehlinformationen, technisches oder menschliches Versagen des Abschreckungssystems sowie durch militärische Ungleichgewichte und unkontrollierte Rüstungswettläufe entstehen können. Ihr Kernanliegen ist damit die Herstellung und Bewahrung politischer und militärischer Stabilitlit im Frieden und in Krisensituationen, aber auch die Rückgewinnung von Stabilität nach dem Beginn von Kriegshandlungen4. Die theoretische Rüstungskontrolliteratur hat die einzelnen Funktionen und Zielvorgaben von "arms control" z.T. unterschiedlich gewichtet, was zur Ausprägung verschiedener "Rüstungskontrollschulen" führte5• Gemeinsam ist ihnen die Ausrichtung auf die Bezugspunkte Abschrekkung und Abrüstung: Rüstungskontrolle ist das Konzept einer rationalen Sicherheitspolitik Die Rüstungskontrollidee steht für Stabilitätsdenken. Auch hinsichtlich der wesentlichen Ziele und Funktionen von "arms

geht dort fehl, wo das Rüstungskontrollkonzept den Rüstungsabbau anderen Zielen unterordnet. 3 Vgl. Bull, The Control of the Arms Race, S. 3; Fomdran, Rüstungskontrolle Theorie und Probleme, S. 15. Die Kriegsursachenforschung kennt ökonomische, psychologische, ideologische, anthropologische und andere Kriegursachen. Vgl. die Literaturübersicht zur modernen Kriegsursachenforschung in Arbeitskreis Marburger Wzssenschaftler, Bibliographie, S. 60. 4 Ajhe/dt, Politische Steuerung der Rüstung in den neunziger Jahren, S. 326 ff.

5 Vgl. Brodie, On the Objectives of Arms Control, S. 18 ff.; Fomdran, Abrüstung und Friedensforschung, S. 119 ff.; ders., Abrüstung und Rüstungskontrolle; ders., Rüstungskontrolle - Theorie und Probleme; Heisenberg, Ziele und Optionen der amerikanischen SALT-Politik, S. 54 ff.; Kissinger, Memoiren Bd. 2, S. 1177 ff.; Kre/1, Rüstungskontrolle und Abrüstung, S. 196 ff.; Müller, Die Theorie der kooperativen Rüstungssteuerung, S. 152 ff.; und die umfangreiche Literaturübersicht in Schwarz I Lutz, Sicherheit und Zusammenarbeit, S. 28 ff.

1. Kap.: Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle

39

control" besteht weitestgehende Übereinstimmung: Im Rahmen einer Gesamtstrategie der Kriegsverhütung, in der Abrüstungsbemühungen, Rüstungskontrollpolitik und die Politik der Sicherheitssysteme einander funktional zugeordnet sind6, verfolgt Rüstungskontrolle drei Hauptziele: Friedenssicherung durch Kriegsverhinderung, Schadensbegrenzung im Kriege und Senkung der Rüstungsausgaben7• 1. Kriegsverhatung durch Rüstungskontrolle

Um die Stabilität der auf dem Abschreckungsgedanken beruhenden Kriegsverhinderung zu erhöhen und abzusichern, stellt Rüstungskontrolle ein breitgefächertes Instrumentarium gegen Kriegsrisiken zur Verfügung, die die typischen Risikofaktoren des Abschreckungssystems beherrschbar machen sollen. Kriegsverhütung durch Rüstungskontrolle umfaßt dabei die kooperative Steuerung der Rüstungsprozesse, Vorkehrungen des Krisenmanagements und das Eindämmen einer Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Bei der kooperativen Rustungssteuerung, dem waffenbezogenen Kernbereich von "arms control", geht es primär um die Risiken, die sich aus kriseninstabilen Rustungspotentialen (Gefahr von Überraschungsangriffen, Präventivschlägen etc.) und aus unkontrollierten Rüstungswettliiufen ergeben, die zu militärischer Instabilität führen können 8• Um ein Abschreckungsgleichgewicht zu gewährleisten, sollen Maßnahmen zur Herstellung von Rustungsstabilittu (arms race stability) dem Wettrüsten den ihm eigenen Impetus nehmen. Die kooperative Rüstungssteuerung zielt daher auf Absprachen zur stabilisierenden Handhabung und Steuerung der technischen Rüstungsdynamik, zur Begrenzung und Reduzierung vorhandener Rüstungen, zur Verhinderung einseitiger militärischer Vgl. Delbrück, Maßnahmen zur Kriegsverhütung, S. 519 ff. Vgl. Bertram, Arms Contra! and Technological Change, S. 6 ff.; Schiitz, Arms Contra!, S. 34 f. 8 Dem Bereich der kooperativen Rüstungssteuerung ist die Mehrzahl der seit Beginn der 60er Jahre geschlossenen multi- und bilateralen Rüstungskontrollabkommen zuzuordnen, z.B. Partieller Teststoppvertrag (1963); Weltraumvertrag (1967); die Vertrage über kernwaffenfreie Zonen in der Antarktis (1959), in Lateinamerika (1967) und im Südpazifik (1985); Meeresbodenvertrag (1971); Bio-/ Toxinwaffen-Konvention (1972); SALT-1-Interimsabkommen und ABM-Vertrag (1972); SALT-Il-Vertrag (1979); INF-Vertrag (1987). 6

7

40

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

Überlegenheit und zur Herstellung von Transparenz über die vorhandenen Waffen und die durch sie eröffneten militärischen Optionen. Die Verlangsamung und schließliehe Beendigung des Rüstungswettlaufs dient dabei vorrangig der Verhinderung von Instabilität. Es ist daher kein Widerspruch, daß das Instrumentarium der kooperativen Rüstungssteuerung neben Abrüstungs- auch Umrüstungs- und Aufrüstungsmaßnahmen kennt, wenn dies dem übergeordneten Stabilitätsziel dient. Im Bereich der kooperativen Rüstungssteuerung fordert und fördert Rüstungskontrolle also nicht unbedingt Schritte der Abrüstung; kooperative Rüstungssteuerung kann aber Vorstufe und muß Bestandteil von Abrüstungsschritten sein, wenn diese nicht destabilisierende Auswirkungen auf das internationale Sicherheitssystem haben sollen9• Die kooperative Rüstungssteuerung ist somit als begleitende Strategie zur Abschreckung zu charakterisieren, die die Erhaltung der Stabilität dem Fernziel der Abrüstung überordnet, ohne diese jedoch aus den Augen zu verlieren. In diesen Funktionsbereich von "arms control" fällt die der Untersuchung zugrundeliegende Fragestellung nach der normativen Bewältigung des rüstungstechnischen Wandels durch vertragliche Rüstungskontrolle. Die Rüstungskontrolltheorie unterscheidet zwischen Stabilität im Frieden und Stabilität in Krisensituationen (crisis stability), in denen das militärisch-psychologische Abschreckungssystem - effektiviert durch Maßnahmen der kooperativen Rüstungssteuerung - seine Funktionsfähigkeit unter Beweis stellen muß. Da Abschreckungs- und Rüstungsstabilität allein zur Gewährleistung von Krisenstabilität nicht ausreichen, ist ein weiterer Ansatzpunkt der Rüstungskontrolltheorie das den Staaten gemeinsame Interesse, ungewollte Kriege zu verhindern und Unsicherheitsfaktoren zu beseitigen, die im Krisenfall den Entscheidungsspielraum der verantwortlich Handelnden einschränken und ihnen die notwendigen Kontrollmöglichkeiten verwehren könnten 10• Diesen Zielen dienen Rüstungskontrollmaßnahmen der Krisenbewältigung (crisis management), die die Einrichtung krisenfester Dialogmöglichkeiten ("heiße Drähte", "rote Telefone" usw.) und Vorkehrungen zur Verhinderung des unbeabsichtigten Ausbruchs eines (Atom-)Krieges infolge von technischen Pannen und menschlichen Fehlentscheidungen zum Inhalt haben (z.B. Vorab-Notifizierung von Raketenstarts) 11•

9

So auch Forndran, Erfahrungen und Probleme, S. 15 f.

Vgl. Bühl, Strategisch-operative und Rüstungskontrollkriterien, S. 100. Abkommen zu Verhinderung von Zwischenfallen auf Roher See (USAUdSSR: 1972; UdSSR-Bundesrepublik Deutschland: 1988); Abkommen über die Verhinderung gefahrlieber militarischer Aktivitaten (USA-UdSSR: 1989); Verein10 11

1. Kap.: Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle

41

Neben den Kriegsrisiken, die sich aus dem Wettrüsten der Staaten gegeneinander (vertikale Proliferation) ergeben, will Rüstungskontrolle auch der zunehmenden horizontalen Proliferation von Waffen und moderner Rüstungstechnologie begegnen. Insbesondere die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in den Staaten der Dritten Welt und in Krisenregionen birgt Gefahren für die internationale Sicherheit. Die Proliferationsrisiken reichen von (nuklearen) Erpressungsversuchen und dem terroristischen Einsatz moderner Massenvernichtungswaffen bis hin zur Auslösung eines großen Krieges durch regionale Konflikte. Im Zentrum der rüstungskontrollpolitischen Anstrengungen zur Begrenzung der horizontalen Proliferation standen bislang die Kernwaffen 12• Angesichts des nach dem Giftgasprotokoll von 1925 völkerrechtswidrigen Einsatzes chemischer Kampfstoffe ist nunmehr auch die Proliferation der technisch einfach und kostengünstig herzustellenden chemischen und biologischen Waffen verstärkt in den Blickpunkt der Rüstungskontrolle geraten. In Verbindung mit dem sich rasant ausbreitenden Besitz modernster Raketentechnologie13 bergen die C- und B-Waffen als "Atombombe des kleinen Mannes" ein gewaltiges Destabilisierungspotential. 2. Schadenslimitienmg durch Rüstungskontrolle

Für den Fall eines Versagens der Kriegsverhütungsmechanismen sollen Rüstungskontrollmaßnahmen den Verlust von Menschenleben und die Zerstörung von Sachwerten im Rahmen von Kriegshandlungen begrenzen, die Eskalation eines Konflikts verhindern, politischen Handlungsspielraum und sicherheitspolitische Stabilität zurückgewinnen und

barungen über die Errichtung und Verbesserung der Kommunikation im Krisenfall (USA-UdSSR: 1963, 1971, 1984 und 1987; UdSSR-Frankreich: 1966; UdSSRGroßbritannien: 1967; UdSSR-Bundesrepublik Deutschland: 1989); Vereinbarungen über die Verminderung der Gefahr eines (unbeabsichtigten) Kriegsausbruchs (USA-UdSSR: 1971, 1972 und 1973; UdSSR-Großbritannien: 1977; UdSSRFrankreich: 1976); Abkommen über die Errichtung von Zentren zur Verminderung des nuklearen Risikos (USA-UdSSR: 1987); Abkommen über die Notifizierung von Flugkörper-Starts (USA-UdSSR: 1988). Zu den Crisis-ManagementVereinbarungen der Supermächte vgl. Fahl, SALT II vor START, S. 16 f.; Ress, Washingtoner Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen. 12 Insb. Nichtverbreitungsvertrag von 1968. 13 Zu den Besitzern von Mittelstreckenraketen werden Ägypten, Indien, Iran, Irak, Israel, Libyen, Pakistan, Saudi-Arabien und Syrien gezählt. Vgl. Kaiser, Abschreckung und Nichtverbreitung, S. 486.

42

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

damit die Voraussetzungen zur raschen Beendigung eines Krieges schaffen. Die Schadensbegrenzung im Kriege ist die problematischste und umstrittenste Zielsetzung des Rüstungskontrollkonzepts. So gilt etwa der Schadensbegrenzungsaspekt im Nuklearbereich als besonders fragwürdig14. Aber auch gegenüber dem Ziel der Optimierung von (Abschrekkungs-)Stabilität steht die Schadenslimitierungsfunktion in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis: Unter Stabilitätsgesichtspunkten wäre jede Verminderung des Schreckens einer militärischen Auseinandersetzung ("horror Iimitation") kontraproduktiv15• Im Bereich ihrer schadenslimitierenden Funktion stimmt Rüstungskontrolle weitgehend mit den Anliegen des humanitären Kriegsrechts überein. In dieser "Grauzone" zwischen Rüstungskontrolle und humanitärem Kriegsrecht sind die völkerrechtlichen Normen angesiedelt, die (Erst-) Einsatzverbote und Einsatzbeschränkungen für bestimmte Waffen zum Inhalt haben16. 3. Senkung der MiliUirausgaben durch Rastungskontro/le

Die Hoffnung auf Reduzierung der drückenden Rüstungsausgaben ist das älteste Motiv und in der Praxis die wohl wichtigste Antriebsfeder für Rüstungskontrolle17. Das qualitative Wettrüsten hat mit den astronomischen Kosten moderner Waffensysteme selbst Supermächte an die Grenzen des Finanzierbaren (und darüber hinaus) geführt. So verdankte die Rüstungskontrolle ihre in der Mitte der 80er Jahre einsetzende Renaissance maßgeblich den Zwängen der reformbedürftigen sowjetischen Volkswirtschaft und dem Haushaltsdefizit der USA18• Rüstungskontrolle ist eine Tochter der Haushaltskrise19• Die im bisherigen Rüstungskon-

14 So etwa Kubbig, Der gefährdete ABM-Vertrag, S. 3. 15

Taylor, The Bankruptcy of the Strategist's Approach, S. 53.

16 Z.B. Genfer Giftgasprotokoll (1925), Bio/Toxinwaffen-Vertrag (1972), Ver-

trag über inhumane Waffen (1981), ENMOD-Konvention (1977).

17 Vgl. Bull, The Cantrot of the Arms Race, S. 12 ff.

18 Zum dem den Supermachten gemeinsamen Interesse an einer Reduzierung der Kosten des Supermacht-Status vgl. Kre/1, Entwicklung der Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, S. 39. 19 Graf VitzJhum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, These 2.4, S. 139.

1. Kap.: Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle

43

trollprozeß erzielten Einsparungen sind indes weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben20• Es liegt in der Konsequenz des Rüstungskontrollprozesses, daß mit den gestiegenen Aussichten auf substantielle Rüstungsverminderung die Fragen der Umwidmung rüstungsgebundener Ressourcen zu zivilen Zwecken unter dem Stichwort "Rüstungskonversion" verstärkt in das Blickfeld der Rüstungskontrolltheorie geraten sind21• Dieser Entwicklung entspricht die seitens der Dritte-Welt-Staaten vorgetragene Forderung nach Partizipation an den durch Rüstungsabbau freigesetzten Ressourcen und Finanzmitteln. Hier schließt sich der Kreis zwischen Rüstungskontrolle und den Fragen einer (neuen) Weltwirtschaftsordnung22.

II. Politik der Rüstungskontrolle

Das Recht der Rüstungskontrolle dient nicht nur der Implementierung von Rüstungskontrolltheorien; es ist vielmehr auch die Kehrseite von Militärpolitik und sicherheitspolitischen Strategien. Diese bestimmen einen Teil der "ratio legis" der konkreten Vereinbarungen. Stets zu beachten ist jedoch, daß die auf den Abschreckungsgedanken aufbauende Theorie und Politik in den USA auf der Grundlage von Kategorien entwickelt wurden, die dem westlichen Sicherheitsdenken entsprechen. Ebensowenig wie in der Theorie hat es auf der politischen Ebene (im Westen) eine einheitliche Vorstellung über die Mittel und Ziele der Rüstungskontrolle gegeben. "Arms control" dient in der politischen Praxis vielmehr als Sammelbegriff für alle Versuche, die "Abrüstungsdiplomatie" von ihrer ausschließlichen Bindung an das Ziel der Abrüstung zu befrei-

20 Heute zeichnet sich nicht nur im Bereich der C-Waffen ab, daß die Beseitigung von Waffen im Einzelfall die Produktionskosten bei weitem übersteigen kann. Abrüstungsschritte im Bereich der vergleichsweise preiswerten nuklearen Rüstungen werden allenfalls marginale Einsparungen bewirken können. So ergab der amerikanisch-sowjetische INF-Vertrag von 1987, der ca. 4% des Kernwaffenarsenals der UdSSR beseitigte, für die sowjetische Wirtschaft eine Entlastung von weniger als 1% (Wettig, Europa nach der zweifachen Null-Lösung, S. 27). Im Bereich der konventionellen Rüstungen liegt ein unvergleichlich größeres Potential für die Einsparung und Umwidmung von Rüstungsausgaben.

21 Zu ökonomischen Problemen und Konsequenzen Delbriick, Maßnahmen zur Kriegsverhütung, S. 600 ff.

22 Bothe, Völkerrechtliches Kriegsverhütungsrecht, S. 219.

44

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

en und sie auf die gesamte Bandbreite gemeinsamer sicherheitspolitischer Interessen auszuweiten23• Es gibt daher so viele rüstungskontrollpolitische Konzeptionen, wie es unterschiedliche strategische, sicherheitsund außenpolitische Orientierungen gibt24• Bedeutender als diese politischen Varianten von "arms control" sind aus rechtlicher Sicht indes die z.T. gravierenden konzeptionellen Unterschiede zwischen westlichem Rastungskontrolldenken und östlichem Sicherheitsbegriff, die primär auf unterschiedliche Einstellungen zu Idee und Konzeption von militärischer Sicherheit und militärischer Abschreckung zurückzuführen sind. Die Bedeutung dieser Unterschiede ist bei der Frage nach der rüstungskontrollpolitischen "ratio legis" der Vereinbarungen immer wieder verkannt worden25• 1. Westliche Rastungskontrollpolitik

Die Sicherheitspolitik des NATO-Bündnisses hat die auf den Aufbau und die Perfektionierung eines stabilen Abschreckungssystems gerichtete Rüstungskontrolltheorie während der 60er Jahre weitgehend rezipiert. Im Hamul-Bericht von 196726 wurde Rüstungskontrolle in die Trias der sicherheitspolitischen Zielsetzungen des Bündnisses aufgenommen27• Danach gelten Verteidigungsfähigkeit, Abschreckung und Rastungskontrolle als gleichwertige "integrale Bestandteile" der westlichen Kriegsverhinderungsstrategie28. Abschreckung wird dabei als eine auf psychologischen Theorien beruhende intellektuelle Konstruktion begriffen. Entsprechend verbindet das Abschreckungskonzept der flexiblen Reaktion die konven-

23 "Arms Control in its broadest sense comprises all those acts of military policy in which antagonistic states cooperate in the pursuit of common purposes even while they are struggling in the pursuit of conflicting ones" (Bull, The Control of the Arms Race [2nd ed.], S. XIV).

24 Heisenberg, Ziele und Optionen der amerikanischen SALT-Politik, S. 55 f.; Edwards, Arms Control in International Politics. 25 Vgl. Jung, Rüstungskontrolle - 25 Jahre danach, S. 158 ff.; Krel/, Neue Technologie und Rüstungskontrolle, S. 48 f. 26 Wortlaut in: EA 1968, S. D 75 ff. Dazu von Staden, Das Management der Ost-West-Beziehungen, S. 119 f.; Rostow, 20. Jahrestag des Harmel-Berichtes. 27

Vgl. Müller, Theorie der kooperativen Rüstungssteuerung, S. 158.

28 Zur Sicherheitspolitik der NATO vgl. etwa Boysen, Beitrag der Rüstungskon-

trolle zur Stabilität in Europa, S. 479 f.; Ruth, Rüstungskontrolle und Abrüstung,

s. 6.

1. Kap.: Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle

45

tionelle und nukleare Rüstungskomponente zu einem "Kontinuum von Fähigkeiten und Potentialen", das die Aggressionsschwelle jeweils so hoch ansetzt, daß der offensive Gebrauch militärischer Macht aufgrund rationaler Einschätzung des Schadensrisikos unterbleibt29• Ziel ist es, eine sicherheitspolitische Stabilität zwischen Ost und West herzustellen und aufrechtzuerhalten, die durch gleichgewichtige Kräfteverhältnisse geprägt ist. Maßnahmen der Rüstungskontrolle und Abrüstung sollen zur Herstellung dieses Gleichgewichts beitragen und es auf immer niedrigerem beiderseitigen Rüstungsniveau stabilisieren. Diese Zielsetzungen wurden durch das "NATO-Gesamtkonzept für Rüstungskontrolle und Abrüstung" vom Mai 198~ bestätigt, das die Sicherheit der Bündnispartner, die Stabilität des militärischen Kräfteverhältnisses und die Nachprüfharkeil der Vereinbarungen als Leitprinzipien der westlichen Rüstungskontrollpolitik ausweise\ Die "Londoner Erklärung: die Nordatlantische Allianz im Wandel'm, Ergebnis der NATO-Gipfelkonferenz vom 5./6. Juli 1990, trug den jüngsten sicherheitspolitischen Veränderungen im Ost-West-Verhältnis Rechnung, indem sie das Abschreckungskonzept der NATO modifizierte und der Rüstungskontrolle höchste Priorität zuwies. Auf der bilateralen Ebene der Supermachtsbeziehungen sind nach amerikanischer Auffassung Maßnahmen der Rüstungskontrolle integraler Bestandteil der amerikanischen Verteidigungs-, Außen- und Menschenrechtspolitik. Sie dienen primär der Verwirklichung der nationalen Si-

29 Ausführlich Ruth, Abschreckung und Rüstungskontrolle, S. 135. Schwarz I Van Cleave, Die Theorie der Abschreckung. Dabei wird sich die "flexible Erwiderung" zukünftig in geringerem Umfang als bisher auf die nukleare Abschreckungskomponente abstützen: Nuklearwaffen als "Waffen des letzten Rückgriffs" (Punkt 18 und Punkt 20 der Londoner Erklärung der NATO vom 6.7.1990 [Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin vom 10. Juli 1990]).

Gesamtkonzept für Rüstungskontrolle und Abrilstung, angenommen von den Staats- und Regierungschefs auf der Tagung des Nordatlantikrats am 29. und 30. Mai 1989 in Brilssel, in ihrem Schlußdokument der Tagung des Nordatlantikrats 29./30.5.1989 (EA 1989, S. D 344 ff.). 30

31 Ebenda S. D 350 f. Zur jüngeren Entwicklung der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik der NATO vgl. auch die Dokumentationen in EA 1986, S. D 57 ff., D 363 ff.; EA 1987, S. D 395 ff.; EA 1988, S. D 189 ff., D 403 ff.; EA 1989, S. D 323 ff. 32 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin vom 10. Juli 1990.

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

46

cherheitsinteressen der USA33• Im Mittelpunkt der amerikanisch-sowjetischen Rüstungskontrollpolitik stehen die nuklearen Langstreckenwaffen, auf deren Abschreckungswirkung die strategische Stabilität beruht. Gemäß der nuklearstrategischen Abschreckungslogik setzt Kriegsverhütung die "wechselseitig gewährleistete Zerstörungsfähigkeit" (Mutual Assured Destruction) voraus ("Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter"). In ihrem Dienste stehen nach amerikanischer Auffassung die einschlägigen bilateralen Rüstungskontrollvereinbarungen. Die SALT-Rüstungskontrolle der 70er Jahre wird demgegenüber heute in den USA allgemein als kontraproduktiv und einseitig vorteilhaft für die Sowjetunion abgelehnt. Präsident Bush stellte seine Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zunächst ausdrücklich in die Kontinuität der Außenpolitik seines Amtsvorgängers, bemüht sich aber angesichts der politischen Umwälzungen in der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Staaten um eine neue Architektur der Sicherheitsbeziehungen34• 2. Östliche Rüstungskontrollpolitik

Die Frage, ob die Sowjetunion diese sicherheitspolitischen Zielsetzungen teilte, war im Westen bekanntlich Gegenstand unterschiedlicher politischer Einschätzungen35• Da zwischen den deklarierten Absichten

33

Vgl. Rowney, Principles and Initiatives in United States Arms Cantrot Policy,

s. 67 f.

34 Vgl. etwa die Dokumentation der Malteser Gipfelbegegnung Bush/Gorbatschow im Dezember 1989 (EA 1990, S. D 39 ff.). 35 Kritische Deutungen gingen davon aus, die UdSSR erstrebe vor allem die Ausschaltung der nuklearen Vergeltungskapazitäten gegenüber dem sowjetischen Territorium und die ausschließliche Stärkung der eigenen Sicherheits- und Hegemonialinteressen auf der eurasischen Landmasse und darüber hinaus. Das sowjetische Werben für Abrüstung und Rüstungskontrolle habe daher die vorrangige Funktion, dem sowjetischen Sicherheitsideal der zuverlässigen Kriegsfallsicherheit näherzukommen, den Westen einseitig zu schwächen und Westeuropa von den USA "abzukoppeln" (vgl. v. Oudenaren, Die sowjetische Politik in Europa, S. 237 ff.). Das Verhalten und die Friedenspropaganda Moskaus lasse sich auf der Grundlage westlicher Sicherheits- und Rüstungskontrollvorstellungen nicht angemessen verstehen. Es müßten vielmehr die andersartigen sowjetischen Auffassungen über die Landessicherheit analysiert und in Rechnung gestellt werden. Vgl. Papp, Soviet Perceptions of the Strategie Balance, S. 3, und zum traditionellen sicherheitspolitischen und militärstrategischen Denken in der UdSSR Mertes, Sowjetische Kriterien der Sicherheit und Rüstungskontrolle; Wettig, Europa nach der

1. Kap.: Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle

47

und den Angeboten sowjetischer Führer einerseits und dem realen Verhalten der UdSSR andererseits regelmäßig Widersprüche auftraten, erwies sich die Funktionsbestimmung der Rüstungskontrolle innerhalb der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik traditionell als schwieriges Unterfangen. Die neuen mit der Person Gorbatschows verbundenen, in Umfang, Wirkung und Beständigkeit noch nicht überschaubaren Politikansätze haben die Beurteilung zusätzlich erschwert, zumal Einblicke in interne Meinungsbildungsprozesse im Sicherheitsbereich auch in der Ära von "Glasnost" bisher kaum möglich waren. Nach traditioneller sowjetischer Auffassung war das westliche Rüstungskontrollkonzept zu abstrakt, sophistisch und lebensfern36• Den Unterschieden, die den sicherheitspolitischen Funktionen von Rüstungskontrolle in Ost und West bislang zugewiesen wurden, liegen die entgegengesetzten Auffassungen zur militärischen Abschreckung als Grundlage sicherheitspolitischer Stabilität zugrunde37• So hat die sowjetische Seite dem Kernanliegen der westlichen Rüstungskontrolle, der Erhaltung eines stabilen Abschreckungsgleichgewichts, stets widersprochen. Das nukleare Abschreckungskonzept wird als "veraltete Vorstellung über die Gewährleistung der nationalen Sicherheit", ja als "Straße zum Abgrund" abgelehnt. Es soll nach den Erklärungen Gorbatschows aus den OstWest-Beziehungen eliminiert38 und - nach radikaler Abrüstung durch ein in zahlreichen Initiativen propagiertes weltweites oder gesamt-

zweifachen Nullösung; sowie die umfangreichen Nachweise bei von Schubert, Sicherheitsvorstellungen und Militärstrategien im Ost-West-Konflikt, S. 292, FN 23. Vgl. Shulman, Comment zu Panofsky. Das sowjetische Konzept der zuverlässigen äußeren Sicherheit forderte die Fähigkeit, im Kriegsfalle die Kampfhandlungen auf dem europäischen Schauplatz sofort auf das Territorium der NATO zu verlagern und eine "Aggression" der NATO rasch durch deren Vernichtung auf dem eigenen Territorium zu beenden. Solange jedoch die westliche Seite über nukleare Optionen verfügte, bestand für die UdSSR und ihre Verbündeten ein unerträgliches Zerstörungsrisiko, so daß ihre Sicherheit nicht "zuverlässig" gewahrleistet war. Die westliche Abschreckungsphilosophie widersprach damit dem sowjetischen Streben nach Kriegsfallsicherheit Das östliche Defensivkonzept der Vorwärtsverteidigung erhielt in der operativen Umsetzung Offensivcharakter; es wurde daher im Westen stets als Invasionsfähigkeit mit Blitzkriegcharakter interpretiert. Vgl. dazu von Sclrube11, Sicherheitsvorstellungen und Militärstrategien im Ost-West-Konflikt, S. 293; Wettig, Bedrohung und Bedrohungsabwehr in sowjetischer Sicht. 38 Vgl. etwa den in EA 1987, S. D 656 ff. abgedruckten Artikel Gorbatschows aus "Prawda" und "Iswestija" vom 17. September 1987. 36

37

48

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

europäisches "System umfassender Sicherheit" ersetzt werden 39 (z.B. Konzept des "gemeinsamen europäischen Hauses"). Nicht zu übersehen ist, daß sowohl der Stellenwert der Rüstungskontrolle im politischen Instrumentarium der UdSSR als auch die sowjetische Militärdoktrin in der gegenwärtigen Phase des Umbruchs in den Staaten des Warschauer Pakts Veränderungen unterliegen, die eine Annäherung der rüstungskontrollpolitischen Ausgangspositionen nach sich ziehen könnten40• Dies zeigte etwa in den aktuellen Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (VKSE) die sowjetische Bereitschaft, westlichen Leitvorstellungen (z.B. strukturelle Nichtangriffsfähigkeit) zu folgen. Aber auch wenn sich die sowjetische Rüstungskontrollpolitik nach wie vor in zentralen Bereichen vom westlichen Rüstungskontrollverständnis unterscheiden mag, ist an einer Interessenkongruenz hinsichtlich der Hauptziele von Rüstungskontrolle (Kriegsverhinderung, Senkung der Rüstungsausgaben) nicht zu zweifeln. Sie sind der "kleinste gemeinsame Nenner" des rüstungskontrollpolitischen Interesses beider Seiten41. 3. Propaganda- und Werbefunktion der Rüstungskontrolle

Rüstungskontrolle war und ist immer auch ein Ringen um politischmoralische Vorteile. Die der Abrüstung und Rüstungskontrolle gemeinsame ethisch-moralische Dimension darf daher auch im Rahmen einer völkerrechtswissenschaftlichen Untersuchung nicht vernachlässigt werden42. Die durch Krieg, Massenvernichtungswaffen und Hochrüstung

39 Vgl. etwa den "Gorbatschow-Pian" vom 15.01.1986 zur völligen Beseitigung aller Kernwaffen bis zur Jahrtausendwende (Wortlaut der ErkUirung in: EA 1986, S. D 135 ff.). Das Konzept von der Errichtung eines umfassenden Sicherheits- und Friedenssystems läuft letztlich auf die Vision des "world peace through world law", also auf eine revolutionäre Umgestaltung der gegenwartigen Völkerrechtsordnung, hinaus.

40 Skeptisch aber: Backerra, Perestroika der sowjetischen Militärdoktrin?; Wagen/ehner, Militärdoktrin und Glasnost; Wettig, Wandlungen der sowjetischen Militärdoktrin? Zur Entwicklung der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik der WPStaaten vgl. die Dokumentationen in EA 1986, S. D 135 ff., D 427 ff.; EA 1987, S. D 385 ff., 656 ff.; EA 1988, S. D 415 ff. 41 Vgl. Bühl, Strategisch-operative und Rüstungskontrollkriterien, S. 106 f. 42 Vgl. dazu Bull, The Control of the Arms Race, S. 20 ff.; Barton I Weiler, International Arms Control, S. 9 ff. Huber, Das Recht im technischen Zeitalter, S. 72,

1. Kap.: Theorie,. Politik und Recht der Rüstungskontrolle

49

aufgeworfenen Fragen sind indes nicht nur eine wesentliche Triebkraft für Abrüstungsidealismus und Pazifismus. Die Friedenssehnsucht der Menschen ist in der internationalen Politik immer wieder als Propagandawaffe sowie als Ablenkungs- und Verschleierungsmittel instrumentalisiert worden43• Auch die Innenpolitik ist oftmals der eigentliche Adressat werbewirksamer Rüstungskontrollinitiativen von Regierung und - in freiheitlichen Staaten - Opposition44• 111. Recht der Rüstungskontrolle Die Entwicklung des Völkerrechts zum Recht der Friedenssicherung entspricht der Einsicht, daß im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen die Kriegsverhütung zur zentralen Aufgabe der internationalen Politik

betont das grundsatzliehe Spannungsverhältnis zwischen technischen Entwicklungen und den "prajuristischen Wahrheiten" ethischer Grundsatze, das rein technikbezogene Regelungen aus dem "ethischen Gravitationszentrum des Rechts" zu entfernen droht. Insbesondere während des kalten Krieges und in der Debatte über eine allgemeine und vollständige Abrüstung sind Rüstungskontrolle und Abrüstung als Waffe im Propagandakrieg zwischen Ost und West eingesetzt worden. Vgl. etwa die umfangreiche Dokumentation sowjetischer Abrüstungsvorschläge von 1917 bis 1986 ,An alle.. ". Die medienbewußte Politik Gorbatschows, der es lange Zeit vorzog, spektakuläre Abrüstungsvorschläge an den Verhandlungstischen vorbei zu präsentieren, belegt, daß der Rüstungskontrolle nach wie vor ein hoher Progandawert im "Krieg um die Köpfe" zukommt. Eine in der sowjetischen Zeitschrift "Sowjetunion heute" (Nr. 1, Januar 1987, S. 10 ff.) veröffentlichte Chronik sowjetischer "Friedensinitiativen" nennt allein für das Jahr 1986 23 größere Vorschläge und Aktionen. 43

44 Bothe, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 52, spricht diesbezüglich von der "Werbungsfunktion" der Rüstungskontrolle. Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an das SPD /SED-Konzept einer C-Waffen-freien-Zone an der Nahtstelle zwischen Ost und West. Kritiker der Rüstungskontrolle wie Senghaas betrachteten Rüstungskontrollpolitik gar als Versuch, das "zumindest marginal wachgewordene öffentliche Bewußtsein" durch Hinweis auf den Rüstungskontrolldialog zu beruhigen, ohne daß die weitere Aufrüstung dadurch behindert würde. Danach habe Rüstungskontrolle die innenpolitische Funktion, die Loyalität der Bevölkerung für die bisherige Sicherheitspolitik zu gewährleisten, ohne daß es tatsachlich zu Eingriffen einer Größenordnung käme, die die vorherrschenden rüstungspolitischen Praktiken ernsthaft beeinträchtigen könnten. Rilstungskontrolle diene somit als Legitimation für Aufrüstung (Senghaas, Aufrüstung durch Rüstungskontrolle, s. 121 f.).

50

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

und des Völkerrechts geworden ist. Entsprechend ist in der Systematik des modernen Völkerrechts dem Kriegsrecht (ius in bello) nunmehr das Recht der Kriegsverhütung funktional vorgeschaltet. Die Charakterisierung der vertraglichen Rüstungskontrolle als Mittel zur Effektivierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots ist der Schlüssel zur Einordnung der Rüstungskontrolle in die Systematik des Völkerrechts. Sie allein reicht indes zu einer völkerrechtlichen Funktionsbestimmung nicht aus. Deibrack unterscheidet zwischen den primär instrumentellen Formen der Kriegsverhütung und der inhaltsbezogenen kriegsverhütenden Rechtsetzung45. Zur ersteren Gruppe gehören die durch Bündnisverträge errichteten kollektiven Verteidigungssysteme, kollektive Sicherheitssysteme im Rahmen internationaler Organisationen46 sowie Verfahren zur friedlichen Streitbeilegung (z.B. "Gute Dienste", Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsgerichtsbarkeil und internationale Gerichtsbarkeit). Während sich die Militärbündnisse durch die Gewährleistung gegenseitiger Abschreckungsfähigkeit real als das wirksamste Instrument der Kriegsverhütung erwiesen haben47, spielen das kollektive Sicherheitssystem der VN und die internationale Gerichtsbarkeit in der Realität der internationalen Beziehungen eine nachrangige Rolle.

Demgegenüber entspricht die wachsende Zahl kriegsverhütender Normen dem zunehmenden Normenbedarf des internationalen Sicherheitssystems. Sie können in Normen zur Herbeiführung friedlichen Wandels48 und in prohibitive Normen der Kriegsverhütung unterschieden werden49• Mit der ersten Gruppe sind vor allem die Normenbereiche des völkerrechtlichen Menschenrechtschutzes, der sozialen Grundrechte und des internationalen Wirtschaftsrechts angesprochen. Demgegenüber besteht die Gruppe der prohibitiven Kriegsverhütungsnormen aus dem völkerrechtlichen Kriegs- und Gewaltverbot einerseits, aus Friedensver-

45 De/brilck, Völkerrechtliche Kriegsverhütungs- und Friedenssicherungsinstrumente, S. 99 ff. 46 Das Völkerrecht unterscheidet zwischen kollektiven Sicherheitssystemen (etwa das VN-Sicherheitssystem nach Kapitel VII der SVN; Art. 16 f. der Völkerbundssatzung) und kollektiven Verteidigungssystemen (i.S.d. Art. 51 SVN) wie NATO und Warschauer Pakt. 47

So etwa auch Grewe, Frieden durch Recht?, S. 18.

48 Rande/zhofer, "Peaceful Change" als Problem de lege ferenda, S. 1819 ff. 49 Delbrack, Völkerrechtliche Kriegsverhütungs- und Friedenssicherungsinstru-

mente, S. 106 ff.

1. Kap.: Theorie, Politik und Recht der Rüstungskontrolle

51

trägen50, anderen Abkommen militärisch relevanten Inhalts51 sowie dem Recht der Abrüstung und Rüstungskontrolle andererseits. Auf letztere verlagerte sich seit der Völkerbundzeit der Schwerpunkt der kriegsverhütenden Völkerrechtsentwicklung, der zuvor auf der Schaffung internationaler Streitschlichtungssysteme (Schiedsgerichtsbarkeit) und auf der kollektiven Sicherheit gelegen hatte52• Hier dienen die im Spannungsbogen zwischen Gewaltverbot und staatlicher Rüstungsfreiheit angesiedelten Normen des Rüstungskontrollrechts primär der Effektivierung des Gewaltverbots. Der vertraglichen Rüstungskontrolle kommt damit eine rechtsetzende Funktion zur Stärkung des friedenssichernden Normenbestandes de lege lata und zur Ausweitung der völkerrechtlichen Kriegsverhütungsnormen zu. Hingegen dienen die auf das Ziel der Schadensbegrenzung im Kriege gerichteten und die Art der Kriegsführung betreffenden Rüstungskontrollvereinbarungen letztlich dem humanitären Kriegsrecht. Die kriegsrechtliehen Einsatzverbote und Verwendungsbeschränkungen für bestimmte Waffen können aufgrundder durch sie erzielbaren Präventionswirkungen auf den Rüstungsprozeß zu den normativen Instrumenten der Rüstungskontrolle gezählt werden 53• Sie bilden das Scharnier zwischen dem völkerrechtlichen Kriegsverhütungs- und dem Kriegsrecht.

50 Zur friedenssichernden Funktion der Friedensvertrage vgl. Grewe, Friede durch Recht?, S. 6 ff. m.w.N.

51 Garantie- (z.B. Demilitarisierungs- oder Neutralisierungsabkommen), Status. und "Staatsvertrage" enthalten i.d.R. rüstungsrelevante Bestimmungen und weisen damit eine Affinität zur vertraglichen Rüstungskontrolle auf. Vgl. etwa die Bestimmungen in Teil II des Staatsvertrages betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich vom 15. Mai 1955 (österr. BGBI. 1955 I 152 idF 1 BGBI. 1964 I 59). 52 Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 104, hat darauf hingewiesen, daß sich mit der Entwicklung des modernen Rüstungskontrollrechts die gedankliche Sequenz des Völkerbundes "arbitrage - securite - desarmement" in ihr Gegenteil umgekehrt hat. Dazu auch Grewe, Frieden durch Recht?, S. 13 ff.; Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, S. 236. 53

Vgl. Fleck, Verbote der Anwendung bestimmter Kriegswaffen, S. 1.

52

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

2. Kapitel

Rüstungstechnischer Wandel als Gegenstand kooperativer Rüstungssteuerung Im technischen Zeitalter hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Segnungen moderner Technik sich als Fluch erweisen können, werden den Handlungspotentialen nicht normative Schranken auferlegt. Dieser Einsicht entspricht das Anliegen der kooperativen Rüstungssteuerung, zu verhindern, daß im Bereich der Militärtechnik der Sinn technischen Handeins zum Unsinn der Selbstzerstörung wird. Insofern ist die strukturelle, waffenbezogene Rüstungskontrolle ein spezieller Aspekt der Grundlagenproblematik "Technik und Recht". Die Aufgabe normativer Technikkontrolle durch kooperative Rüstungssteuerung stellt sich im Spannungsfeld der internationalen Sicherheitsbeziehungen jedoch komplexer und risikoreicher dar, als in anderen Bereichen des internationalen Rechts oder in den innerstaatlichen Rechtsordnungen. Schwierigkeiten ergeben sich dabei aus dem besonderen Rechtsschöpfungsprozeß, aus der Dynamik der technischen Rüstungsprozesse und aus der politisch-existenziellen Natur dieses Regelungsbereichs, die in den rüstungskontrollspezifischen Nachprüfbarkeilserfordernissen ihren sichtbarsten Ausdruck findet. I. Technischer Rüstungsprozeß und Rüstungskontrollrecht

Inhalt und Form internationaler Regelungen sind von den Notwendigkeiten der zu regelnden Materie bestimmt. Entsprechend muß das Völkerrecht als "sachnahes" Recht sein Instrumentarium auf die jeweils bereichsspezifischen Probleme zuschneiden 1• In unserem Bereich setzt dies konkrete Vorstellungen über die durch rüstungstechnische Veränderungen aufgeworfenen rechtlichen Probleme und ihre tatsächliche Ursache, das Phänomen der technischen Rüstungsdynamik, voraus. Dabei ist von den allgemein technikrechtlichen und den rüstungskontrollspezifischen Problemgefügen sowie den Erkenntnissen der Rüstungsforschung über die Natur von Rüstungsdynamik auszugehen.

1

Vgl. Bothe, Völkerrechtliches Kriegsverhütungsrecht, S. 224 ff.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

53

1. Rastungstechnischer Wandel als Rechtsproblem

In der Rechtsentwicklung führen technische Innovationen und neue Technologien regelmäßig zu Reaktionen in der jeweils betroffenen Rechtsordnung. So hat im innerstaatlichen Bereich die Forderung nach Kontrolle von Technik durch Recht zur Übernahme immer neuer Ordnungs- und Gestaltungsaufgaben durch den Gesetzgeber geführtz. Der Schwerpunkt dieser legislatorischen Tätigkeit liegt auf dem Schaffen spezieller Regelungen für die neuen Techniken und ihre Anwendung. Im deutschen Rechtsbereich entwickelte sich aus dem allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr ein breitgefächertes Rechtsgebiet mit dem Ziel der präventiven Schadensverhütung. Die Regelungen dieses "technischen Sicherheitsrechts" sollen verhindern, daß sich die spezifischen Gefahren technischer Produkte verwirklichen3• Dabei darf indes nicht übersehen werden, daß die grundsätzliche Frage, ob technische Entwicklungen durch das Recht überhaupt domestiziert werden können, in der technikrechtlichen Diskussion durchaus auch negativ beantwortet worden ist 4• Die vielbeklagte relative Statik des Rechts - insbesondere die Rigidität der Gesetzesinstrumente - gegenüber der technischen Dynamik sowie das "Nachhinken" des Rechts hinter der technischen Entwicklung gehören zu den Standardthemen der Literatur zum innerstaatlichen Technikrecht. Auch die Völkerrechtsentwicklung ist durch technischen Wandel beeinflußt worden 5• Im Unterschied zu den nationalen Rechtsordnungen fehlt auf der Ebene der internationalen Beziehungen jedoch die übergeordnete l..egislativinstanz. Die Kontrolle von Technik kann hier daher nur im Wege zwischenstaatlicher Normsetzung durch die Staaten erfolgen. Das Recht der Rüstungskontrolle verfolgt seine Ziele primär auf der Grundlage vertraglicher Normsetzung. So ist es vor allem der Vertragsaspekt, unter dem sich das Problem rüstungstechnischer Veränderungen als Rechtsproblem darstellt. Die Schwierigkeiten ergeben sich sowohl im 2 Z.B. in den Bereichen Informatik, Kernenergie, Umwelt, Medien, Telekommunikation, Reproduktionsmedizin und Gentechnik. Dazu etwa Berg, Vom Wettlauf zwischen Recht und Technik; Denninger, Herausforderung der Technik an das Recht; Huber, Das Recht im technischen Zeitalter.

3 Vgl. Berg, Vom Wettlauf zwischen Recht und Technik, S. 403 ff.; Graf Vitzthum I Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht, S. 11 ff.

Dazu Wolf, Das Recht im Schatten der Technik, S. 246. Vgl. etwa Schoenborn, Der Einfluß der neueren technischen Entwicklung auf das Völkerrecht. 4

5

54

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

Bereich des Normsetzungsverfahrens, d.h. bei der Vertragserstellung, als auch bei der Normanwendung, also bei der Auslegung, Durchführung und Überwachung der Verträge. Auf der Ebene rüstungskontrollvertraglicher Normsetzung wird die lange Dauer der Vertragsverhandlungen ebenso gerügt wie in der innerstaatlichen technikrechtlichen Diskussion die Langsamkeit des Verfahrens parlamentarischer Gesetzgebung, das stets hinter der technischen Entwicklung zurückzubleiben droht6• Während der nach Jahren zu bemessenden Rüstungskontrollverhandlungen7 schreiten waffentechnische Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse fort. Vorschläge, die darauf abzielen, die Rüstungsentwicklung während der Verhandlungen anzuhalten und einzufrieren8, gehen nach den Erfahrungen des bisherigen Rüstungskontrollprozesses an der Realität vorbei. Das Verschaffen einer "Atempause" für die Rüstungskontrolldiplomatie durch Rüstungsstopp und Vorab-Moratorien nähme z.T. die angestrebte Vereinbarung vorweg. Ein Ausbrechen aus der zeitlichen Parallelität von Rüstungsentwicklung und Rüstungskontrollverhandlungen ist daher praktisch kaum zu bewerkstelligen. Die Gefahr, daß rüstungstechnische Innovationen das zeitgleich an den Verhandlungstischen angestrebte Rüstungskontrollziel von vornherein in Frage stellen, ist auf diesem Wege nicht zu bannen9• Zu ver6 Krüger, Rechtssetzung und technische Entwicklung. Zum Wettlauf zwischen rüstungstechnischer Entwicklung und Rüstungskontrolldiplomatie vgl. Forndran, Technologie und Stabilität, S. 495; Vetschera, International Law and International Security, S. 151; Scoville, Reciprocal Unilateral Restraint, S. 170. 7 SALT 1: 1%9-1972, SALT li: 1972-1979, INF: 1981-1987, MBFR: 1973-1989 (ohne Ergebnis), START: seit 1982. 8 So etwa die Forderung von Egon Bahr nach einem Modernisierungs-und Entwicklungsstopp bei Beginn der Wiener VKSE-Verhandlungen, vgl. Körber-Stiftung, Das europäische Haus, S. 73. 9 Die Rüstungsentwicklung ist wahrend der Verhandlungen nicht nur nicht ohne weiteres anzuhalten, sondern ein gegenteiliger Effekt der vertraglichen Rüstungskontrolle wurde beobachtet: Dieser Effekt tritt ein, wenn Waffensysteme entwikkelt, hergestellt und disloziert werden, um die Gegenseite durch Vor-, Nach- oder Gegenrüstung "an den Verhandlungstisch zu rüsten" bzw. um als "Trumpfkarte" im "Rüstungskontrollpoker" gespielt werden zu können: Nur wer etwas besitzt, kann die Gegenseite zum Verzicht bewegen. Nicht immer gelingt es jedoch, die als "bargaining chip" produzierten Waffen schließlich tatsachlich "wegzuverhandeln". Dazu Toinet, Comment desarmer sans desarmer, S. 815 f.; Fischer, Les Accords SALT I, S. 22 ff.; Scoville, Unilateral Reciprocal Restraint, S. 171; Lellouche, Wissenschaft und Abrüstung, S. 19; Ruina, Strategie Arsenals, S. 42; Shulman, SALT and the Soviet Union, S. 120. Bertram, Arms Contra! and Technological

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

55

hindern, daß die Rüstungskontrolldiplomatie den Wettlauf mit der waffentechnischen Entwicklung nach dem "Hase-Igel"-Schema verliert, ist daher das Hauptanliegen der Befürworter einer präventiven Rüstungskontrolle, die technische Entwicklungen möglichst frühzeitig einer kooperativen Kontrolle unterwirft, noch bevor irreversible Fakten geschaffen worden sind. Auf der Ebene der Normanwendung stehen die eingangs geschilderten Varianten des Problems der technischen Gefährdung der Abkommen im Vordergrund. Waffentechnische Innovationen innerhalb und außerhalb des Definitionsbereichs konkreter Vereinbarungen drohen die Tatbestände vertraglicher Rüstungskontrollnormen zu unterlaufen, und sie stellen die Einhaltungskontrolle vor immer höhere, oftmals unlösbare Anforderungen. Die Tendenz zur Entwicklung von Waffen mit multifunktionalen Eigenschaften droht darüber hinaus die Grenzen zwischen den hergebrachten Kategorien der Rüstungskontrolle (strategisch/nichtstrategisch, nuklear /konventionell, offensiv /defensiv) zu verwischen: rüstungstechnischer Wandel als Definitions- und Verifikationsproblem.

2. Besonderheiten des Rastungsprozesses Das Verhältnis von Rüstungskontrollrecht zum dynamisch-technischen Rüstungsprozeß ist das Verhältnis von normativer Ordnung zu der von ihr geregelten Materie. Rüstungstechnische Entwicklungen spielen sich im Bereich der realen Sachverhalte ab, die von den Tatbeständen der Rüstungskontrollnormen zu erfassen und in den durch das Völkerrecht der Kriegsverhütung gesetzten Ordnungsrahmen einzubeziehen sind. Nur innerhalb dieses Rahmens sollen - so die Zielvorgabe - die Staaten die Rüstungstechnik "souverän" handhaben dürfen. Es ist die Eigenart der in den Begriffen "Rüstungsprozeß" und "Rüstung" zusammengefaßten Vorgänge und Gegenstände, die den Charakter des Rüstungskontrollrechts und seines vertraglichen Instrumentariums bestimmt und "arms control" von den anderen Bereichen, in denen die moderne Technikentwicklung durch internationales Recht kontrolliert wird, unterscheidet. So vielschichtig und schwer durchschaubar der Rüstungsprozeß im einzelnen auch ist, so muß er doch begrifflich erfaßt und in theoretischen Modell-

Change, S. 24, erlautert den "bargaining-chip effect" am Beispiel der US-Marschflugkörper. Zur sowjetischen SS-20-Aufrüstung und dem "NATO-Doppelbeschluß" von 1979 als Teil einer "Trumpfkartenpolitik" Schiotter !Tiedtke, Der gegenwartige Rüstungswettlauf in Europa, S. 53 ff.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

vorstellungen ausgedrückt werden, soll er rechtswissenschaftlichem Erkennen und rüstungskontrollpolitischem Handeln zugänglich werden. Gegenstand der kooperativen Rüstungssteuerung und Kernstück der vertraglichen Rüstungskontrolle ist der Rüstungsprozeß. Die Ursachen [ar das Entstehen von Rastungsdynamik verdienen daher auch aus rechtlicher Sicht Aufmerksamkeit. Rüstungswettläufe und Aufrüstungsprozesse sowie die ihnen zugrundeliegende technische Dynamik sind Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen (Rüstungsforschung). Eine einheitliche, als gesichert geltende Erklärung der Gründe für die Dynamik von Rüstungsprozessen ist jedoch nicht gelungen. Es liegen vielmehr eine Reihe teilweise widersprüchlicher Theorieansätze vor, die die Bedingungsfaktoren der Rüstungsdynamik und Rüstungswettläufe in unterschiedlicher Weise darstellen und gewichten 10• Während das Militllrtheorem Rüstungsprozesse als Folge militärischer Zielvorgaben, strategischer Doktrinen und sicherheitspolitischer Stabilitätsvorstellungen betrachtet, führt das in verschiedenen Varianten vertretene Aktions-Reaktions-Theorem Rüstungswettläufe auf das vom Konkurrenzdenken der Staaten bestimmte Streben zurück, den Rüstungsentscheidungen des potentiellen Gegners durch eigene Maßnahmen zu begegnen. Danach führt das den sicherheitspolitischen Analysen inhärente "worst-case"-Denken zu rüstungspolitischen Überreaktionen, die ihrerseits entsprechende Reaktionen des Gegners auslösen. Aktion und Reaktion münden so in einer Rüstungsspirale11• Unter den Theoremen des innersystematisch bedingten Rastungsprozesses 12, die die Gründe der Rüstungsdynamik vor allem in systeminternen Faktoren wie etwa der machtvollen Interessenvertretung militärischer, industrieller, wissenschaftlicher und bürokratischer Funktionseliten sehen, hat das Theorem vom militärisch-industriellen Komplex (MIK) besondere Verbreitung gefunden13. Das Technologietheorem betrachtet demgegenüber Rüstungsprozesse vor allem als das Ergebnis technischer Eigendynamik. Der technologische Imperativ führe zum Veralten der vorhandenen Arsenale und zwinge somit zur permanenten Modernisierung und Neuentwicklung von 10 Zum Nachfolgenden vgl. etwa die Übersicht bei Fomdran, Dynamik des Rüstungsprozesses, S. 146 ff. m.w.N.; Senghaas, Aufrüstung durch Rüstungskontrolle, s. 48 ff. 11 Vgl. die Kritik dieses Theorems bei Chayes, The Werkings of Arms Control Agreements, S. 912 ff.

Dazu Chayes, The Werkings of Arms Control Agreements, S. 914 ff. Vgl. die Literaturübersicht zum MIK in: Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, Bibliographie, S. 62. 12

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2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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Waffen, zu einem internen Rüstungswettlauf der Systeme untereinander14. Die Vielzahl der Erklärungsmodelle für Rüstungsdynamik lassen sich grob auf die zwei alternativen Grundtheoreme des "außengeleiteten" und des "innengeleiteten" Rüstungsverhaltens zurückführen. Dabei ist Farndran zuzustimmen, daß der Vielfalt und Komplexität der unter dem Begriff "Rüstungsprozeß" zusammengefaßten wirklichen Vorgänge eine Kombination der unterschiedlichen Erklärungsversuche am gerechtesten wird15• Dem logischen Ansatz des Rüstungskontrollkonzeptes entspricht jedoch - dies zeigte die Funktionsbestimmung im ersten Kapitel - am ehesten die Interpretation der Rüstungsentwicklung als Rüstungswettlauf zwischen antagonistischen Bündnissystemen und ihren Führungsmächten: Die vereinbarte Rüstungskontrolle will dem eskalatorisch verlaufenden Wettrüsten entgegensteuern, indem sie auf vertraglicher Grundlage verläßliche Erwartungshaltungen für das zukünftige Rüstungsverhalten der Gegenseite ermöglicht 16• Die aufeinanderfolgenden Phasen des Rüstungsprozesses sind - bei schematisierender Betrachtung - die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung, die angewandte militärische Forschung, die forschungsbezogene Experimentalphase, die Entwicklung, Herstellung und Erprobung von Prototypen, die industrielle Serienproduktion, die Lagerung, Zuführung und Indienststellung von Waffensystemen. Der

14 Vgl. zu Einzelheiten dieses Prozesses Senghaas, Aufrüstung durch Rüstungskontrolle, S. 55 ff. 15 Fomdran, Dynamik des Rüstungsprozesses S. 150.; ebenso Senghaas, Aufrüstung durch Rüstungskontrolle, S. 52 f. 16 Sowohl die Bedeutung der höchst unterschiedlichen Bedingungsfaktoren des Rüstungsprozesses als auch ihr Zusammenspiel im Rahmen des Spektrums der angebotenen Erklärungsmodelle entziehen sich letztlich der wissenschaftlichen Objektivierung. Ohne eine eindeutig identiflzierbare Ursache von Rüstungsdynamik fehlt es damit an der naheliegenden Möglichkeit, das Wettrüsten von seiner Ursache her zu kontrollieren. Die unterschiedlichen Aussagen und Erkenntnisse der Rüstungsforschung legen vielmehr die Schlußfolgerung nahe, daß die erfolgreiche Kontrolle der Rüstungsprozesse nicht durch punktuelle Vereinbarungen zu erreichen sein wird. Da es einen "offensichtlichen" Ansatzpunkt für kooperative Rüstungssteuerung nicht gibt, müssen Vereinbarungen der Rüstungskontrolle mit ihren materiellen Verpflichtungen an die empirisch zu unterscheidenden Phasen des Rüstungsprozesses anknüpfen. Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet dies: Ist die Ursache nicht greifbar, hilft nur die Untersuchung der Wirkungen und der Symptome.

58

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

Rüstungsprozeß endet mit der Aussonderung und Verschrottung veralteter bzw. "abgerüsteter" Systeme oder mit dem "scharfen Schuß" 17• Technische Neuerungen erfolgen dabei sowohl in Form revolutionärer Neuentwicklungen18 als auch durch das kumulative Zusammenwirken einer Vielzahl begrenzter Einzelinnovationen. Jedoch nicht nur auf neuen Technologien beruhende neuentwickelte Waffengenerationen können zu ausschlaggebenden Qualitätsveränderungen führen, sondern auch die kontinuierliche Modernisierung der vorhandenen Waffen 19• Diese ist i.d.R. kostengünstiger und rascher realisierbar als langwierige, finanziell aufwendige Neuentwicklungen. Die sowjetische Rüstung ist traditionell bestrebt, soviel wie möglich von der bewährten Technik vorhergehender Waffengenerationen zu bewahren und Neuerungen nur dort vorzunehmen, wo es darauf ankommt, Waffen mit bestimmten Fähigkeiten auszustatten. Die amerikanischelwestliche Rüstung ist demgegenüber grundsätzlich innovativer und regelmäßig zur Entwicklung neuartiger Waffensysteme bereit20• Von Bedeutung für die Rüstungskontrolle ist daher die Unterscheidung zwischen Modernisierung als der technischen Verbesserung vorhandener Waffen (modernization) einerseits und der Ersetzung vorhandener Waffen durch neuentwickelte Nachfolgemodelle (replacement) andererseits. Da in der Rüstungspraxis die Übergänge zwischen Modernisierung und Neuentwicklung oft fließend sind, stellt sich hier ein praktisches Unterscheidungs- und rechtliches Definitionsproblem.

Die naturwissenschaftliche Forschung (research) ist Ausgangspunkt jeder rüstungstechnischen Entwicklung. Selten ist die Modernisierung eines vorhandenen oder die Entwicklung eines neuen Waffensystems auf 17 Zum "Lebenslauf' wehrtechnischer Systeme vgl. Oestreich I Knoth, Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen, S. 34. 18 Seit 1945 z.B.: Erfindung der Atomwaffen, Einführung der ballistischen Trägerrakete, Entwicklung der Mehrfachsprengköpfe.

19 Z.B. Kampfwertsteigerung durch Erhöhung der Reichweite, Zielgenauigkeit und Unverletzlichkeit von Flugkörperwaffen. Ausführlich Shapley, Technology Creep and the Arms Race.

20 Ein Beispiel sind die aktuellen Rüstungsanstrengungen der Supermächte im Bereich der strategischen Raketenabwehr: Während die USA das SDI-Projekt lancieren, versucht die UdSSR ähnliche Ziele durch das "Aufstocken" der vorhandenen Luftabwehrkapazitäten zu erreichen. Vgl. Bertram, Arms Control and Technological Change, S. 12. Zu den unterschiedlichen Ursachen und Wirkungsbedingungen rüstungstechnischer Innovationen im qualitativen Rüstungsprozeß in den USA und in der UdSSR vgl. die umfassende Studie von Evangelista, Innovation and the Arms Race.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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eine einzelne wissenschaftliche Entdeckung auf einem bestimmten Gebiet zurückzuführen. Rüstungstechnische Innovationen sind i.d.R. das Ergebnis einer Vielzahl begrenzter Fortschritte auf unterschiedlichen wissenschaftlichen und technischen Gebieten; oftmals ergeben sich technologische Durchbrüche aus der Kombination naturwissenschaftlichen Wissens und technischen Könnens der verschiedensten Bereiche21• Eine Unterscheidung zwischen ziviler und milititrischer Forschung ist regelmäßig nicht möglich. Die Ergebnisse von Forschung sind darüber hinaus selten vorhersehbar und planbar. Die Tragweite von Forschungsergebnissen steht in keinem zwingenden Zusammenhang zum betriebenen Forschungsaufwand oder finanziellen "input". Insofern ist wissenschaftlicher Fortschritt zu Recht als "unkontrollierbares Phänomen" bezeichnet worden22. Die Diskussion über die individuelle Verantwortung des Naturwissenschaftlers für die Rüstungsentwicklung bestätigt indirekt diesen Befund. In der rüstungstechnischen Entwicklungsphase werden die durch Forschung entdeckten allgemeinen Grundsätze in konkrete wehrtechnische Systeme übertragen. Wegen der Komplexität moderner Waffensysteme erfordert die Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in entsprechende Rüstungsprojekte (development) erhebliche Entwicklungszeiten und eine weit vorausschauende, sich auf lange Zeiträume erstreckende Rastungsplanung. Eine zentrale Rolle im Rüstungsprozeß nimmt die Waffenerprobung ein. Sie dient primär der Erfolgskontrolle, ob es gelungen ist, die Forschungserkenntnisse in praktische Apparate umzusetzen. Nur wenn eine Waffe durch intensive Erprobung ihre Funktionstüchtigkeit und Zuverlässigkeit praktisch unter Beweis stellt, besteht Aussicht auf ihre Indienststellung. Entsprechend ist die Testphase der letzte Schritt, der der Entscheidung zur Produktion und Aufstellung einer neuen Waffe oder zur Anwendung technischer Innovationen auf bestehende Waffen vorausgeht23.

21 So ging etwa die bahnbrechende rüstungstechnische Innovation der Mehrfachsprengkopftechnik aus dem in der zivilen Raumfahrt entwickelten Verfahren des Aussetzens mehrerer Satelliten durch eine Tragerrakete hervor.

22 Lellouche,

Wissenschaft und Abrüstung, S. 16.

23 DarOber hinaus dient die Waffenerprobung der ZuverlSssigkeitskontrolle der

vorhandenen Systeme. Einsatzbereit ist eine flug- bzw. felderprobte Waffe schließlich erst nach der Ausbildung der Bedienungsmannschaften und der Einbeziehung des neuen Waffensystems in die militarische Einsatz- bzw. Zielplanung.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

Wegen der unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade der zu lösenden Definitionsprobleme sind aus rüstungskontrollrechtlicher Sicht drei Gruppen rüstungstechnischer Entwicklungen unter dem Kriterium ihrer zeitlichen Distanz zum Abschluß der Vereinbarung zu unterscheiden: Hier geht es erstens um das Modernisierungspotential der vorhandenen Waffen, zweitens um Entwicklungen im Bereich der sogenannten "emerging technologies", deren Richtung und Tragweite sich auf den Reißbrettern der Rüstungsingenieure bereits abzeichnen, und drittens um die noch nicht greifbaren Zukunftswaffen einer zukünftigen Rüstungstechnologie. Insbesondere die Zukunftswaffen, die sich gerade durch ihren technisch-utopischen Charakter auszeichnen, entziehen sich per definitionem der vorausschauenden Betrachtung. Das SDI-Projekt hat jedoch gezeigt, wie rasch gestern noch utopisch anmutende waffentechnologische Konzeptionen in die technische und rüstungskontrollrechtliche Realität übertreten können. Das Argument von der rasanten, sich jeder (rechtlichen) Regelung entziehenden Geschwindigkeit rüstungstechnischer Dynamik ist angesichts der langen Dauer militärischer Rüstungsprojekte von der Forschung bis zur Einsatzbereitschaft zu relativieren. Diese sind i.d.R. nach Jahren, ja Jahrzehnten zu bemessen, wie gerade das amerikanische SOlForschungs- und Entwicklungsprojekt zeigt. Der Zeitfaktor ist daher ein Element jeder Rüstungsplanung. Entscheidungen über rüstungstechnische Entwicklungen erfolgen vor dem Hintergrund langfristiger Beurteilungen der sicherheitspolitischen Gesamtentwicklung und des zu erwartenden Rüstungsverhaltens des potentiellen Gegners. Die entsprechenden, der Rüstungsplanung vorausgehenden Prognosen sind mithin ein "psychologischer" Ansatzpunkt der kooperativen Rüstungssteuerung: Stabile Vereinbarungen einer qualitativen Rüstungskontrolle machen das zukünftige Rüstungsverhalten der Gegenseite berechenbar. Da Rüstungsentscheidungen dann nicht mehr auf der Grundlage der Hypothese des ungünstigsten Falles getroffen werden müssen, ist damit ein wesentlicher Aspekt von Rüstungsdynamik erfaßt. Angesichts der Tatsache, daß die rüstungstechnischen Entwicklungszyklen mit der zunehmenden Komplexität modernster "High Tech"-Systeme eher länger werden, scheint die vertragliche Rüstungskontrolle der rüstungstechnischen Herausforderung keineswegs a priori chancenlos gegenüberzustehen.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

61

II. Schwerpunkte und lmplikationen aktueller rüstungstechnischer Entwicklungen

Die Implikationen konkreter rüstungstechnischer Entwicklungen werden zu Recht nicht nur in Bezug auf das strategische Kräfteverhältnis sowie die Sicherheits- und Rüstungsplanung untersucht, sondern zunehmend auch unter dem Aspekt der Rüstungskontrolle24• Aus der Vielzahl der gegenwärtig identifizierten Entwicklungslinien kristallisieren sich vier rüstungstechnische Tendenzen von besonderer Tragweite für die kooperative Rüstungssteuerung heraus: die zunehmende Zielgenauigkeit von Waffensystemen aller Art, die Entwicklung multifunktionaler Waffensysteme, die militärische Nutzung des Weltraums und die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung.

1. Zielgenauigkeit als Problem der Rüstungskontrolle Treffsicherheit ist derjenige technische Faktor eines Waffensystems, der den Grad der Verwundbarkeit eines Angriffsobjekts und damit das Zerstörungspotential einer Waffe bestimmt. Nach dem Durchbruch, der Ende der 60er Jahre in der Mehrfachsprengkopftechnik erzielt wurde25, ist die Verbesserung der Zielgenauigkeit von Fernlenkwaffen zum zentralen Bereich der qualitativen Rüstungsentwicklung geworden26• Die gesteigerte Treffsicherheit moderner Waffensysteme ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen kontinuierlichen Innovationsprozesses. Besonders deutlich wird die Tragweite der noch keineswegs abgeschlossenen Entwicklung am Beispiel der weitreichenden Fernraketen (lntercontinental Ballistic Missiles - ICBM). Während Städte und große Industriekomplexe als Zielobjekte strategischer Angriffswaffen große Treffsicherheit nicht erfordern, ist dies bei militärischen Objekten und anderen Punktzielen insbesondere dann der Fall, wenn diese durch passive Abwehrmaß24 Z.B. Bajusz, Technology and Strategie Arms Control; Bun, The CruiseMissile and Arms Control; Gottemoeller, Finding Salutions to SLCM Arms Control Problems; Kre/1, Neue Technologie und Rüstungskontrolle; Snow, ICBM Vulnerability, Mobility and Arms Control; Tritten, Throw-Weight and Arms Control.

25 Die Technologie der MIRV (Multiple Independently Targetabte Re-entry Vehicles) verlieh Flugkörperwaffen die Fähigkeit, statt nur eines Zieles nunmehr eine Vielzahl von Angriffsobjekten mit einem Trägersystem zu vernichten (s. Anhang 3, Abbildungen 1 und 2). 26 Vgl. die umfassende Studie von Scheib, Raketenzielgenauigkeit und Raketenteststopp.

62

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

nahmen, z.B. Verbunkerung, gegen einen (nuklearen) Angriff besonders geschützt sind. So kann eine nukleare Fernlenkwaffe mit einer Zielabweichung von mehreren Kilometern eine Stadt nachhaltig zerstören, militärische Punktziele jedoch kaum bedrohen. Gemessen wird die Zielgenauigkeit von Fernlenkwaffen als "Circular Error Probable" (CEP - "Streukreishalbmesser"). Die statistische Meßgröße CEP bezeichnet den Radius des Kreises um den Zielpunkt, in dem die auf das Ziel gerichtete Waffe mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% niedergehen wird27• Für die Berechnung der Zerstörungsfähigkeit gegenüber geschützten Objekten (Hard Target Kill Capability) ist die Zielgenauigkeit der ausschlaggebende Faktor: Die Verbesserung der Zielgenauigkeit einer Fernrakete um den Faktor zwei entspricht eirier Erhöhung der Sprengkraft um den Faktor acht. Dementsprechend war bisher eine Sprengkraft von großer Megatonnage eine "Versicherung" gegen Abweichungen und Unzuverlässigkeiten bei der Zielgenauigkeit28• Die sowjetische Vorliebe für großkalibrige ICBM, die "schwere" Sprengköpfe von hoher Sprengwirkung befördern können, interpretierte man als Versuch, ein technisch bedingtes Zielgenauigkeitsdefizit gegenüber den "leichteren", jedoch präziseren US-Raketen auszugleichen. Insbesondere die technischen Fortschritte im Bereich der Trägheitsnavigation, der Positionsbestimmung mit Hilfe von Satelliten und der Selbststeuerung in der Endflugphase von Fernlenkwaffen führen zu extrem geringen Zielabweichungen und damit zu einer bedeutenden Steigerung der Zerstörungsfähigkeit29• Die zielgenaue Fernlenkwaffe erlangt somit die Fähigkeit, das vorgegebene Ziel mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vernichten (Single-Shot Kill Probability - SSKP). Mit der Erhöhung der SSKP verringert sich die Anzahl der auf ein bestimmtes Ziel zu richtenden Waffen, so daß mit derselben Anzahl von Systemen eine größere Zahl von Zielen bekämpft oder eine strategische Reserve aufgebaut werden kann. Eine Fernlenkwaffe mit "Hard-Target Kill Capability" gefährdet die Überlebensfähigkeit auch der verbunkerten ortsfesten ICBM des Gegners und damit seine Zweitschlagsfähigkeit30• Die gesicherte Fähigkeit zum nuklearen Vergeltungsschlag ist gemäß der Logik

27

Ruina, Strategie Arsenals, S. 48; Tsipis, New Technologies, S. 43 f.

28

Vgl. Krell, Das militärische Kräfteverhältnis, S. 329.

Zu den technisch-physikalischen Problemen bei der Verbesserung des CEPWertes strategischer Angriffswaffen vgl. Ruina, Strategie Arsenals, S. 49 ff. 29

30

Ausführlich Snow, ICBM Vulnerability, Mobility and Arms Control, S. 32 ff.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

63

der nuklearstrategischen Abschreckung Synomym für Gleichgewicht, Stabilität, Kriegsverhütung. Die gesteigerte Treffsicherheit ermöglicht eine Verringerung der Explosivwirkung der Sprengkörper. Die dadurch bedingte Gewichtsverminderung erlaubt wiederum die Erhöhung der Sprengkopfanzahl unter Ausnutzung der vorhandenen Transportkapazität der Trägersysteme (Wurflast). Die Zahl der Trägerraketen, ein Anknüpfungspunkt für Rüstungskontrollmaßnahmen, verliert somit an praktisch-militärischer Relevanz. Die gesteigerte Präzision der Fernlenkwaffen entzieht der Rüstungskontrolle nicht nur wichtige Anknüpfungspunkte für normative Beschränkungsmaßnahmen; sie bewirkt darüber hinaus auch rüstungstechnische Reaktionen der Gegenseite, aus denen sich wiederum neue Rüstungskontrollprobleme ergeben. So führte etwa die zunehmende Verwundbarkeit ortsfest installierter Waffensysteme zur Entwicklung mobiler Systeme, die sich der Aufklärung und Ortung durch Ortswechsel und "Unsichtbarkeit" entziehen. Unsichtbarkeit ist jedoch eine der rüstungskontrollfeindlichsten Eigenschaften von Waffen, da sie der auf nachprüfbare, d.h. lokalisierbare und dann auch zählbare Regelungsgegenstände angewiesenen kooperativen Rüstungssteuerung den Zugriff erschwert. Neben den sogenannten passiven Maßnahmen zum Schutz der eigenen Angriffswaffen vor einem gegnerischen Erstschlag (Tarnung, Verbunkerung, Mobilisierung etc.) hat das Verwundbarkeilsproblem dem Konzept der aktiven Verteidigung gegen gegnerische Raketenangriffe Auftrieb gegeben; hierin liegt ein Motiv für die Pläne zur Errichtung einer weitraumgestützten Raketenabwehr (SDI). Da die Dislozienmg strategischer Raketenabwehrwaffen - unstreitig - mit dem ABM-Vertrag von 1972 unvereinbar ist, ist dieses de lege lata wohl wichtigste Rüstungskontrollabkommen nunmehr stark gefährdet.

2. Multifunktionalisierung und Konventionalisienmg Aus rüstungskontrollrechtlicher Sicht folgenschwer ist die Funktionsredundanz, mit der die immer ausgeprägtere Tendenz zur Entwicklung multifunktionaler "Grauzonensysteme" moderne Waffen ausstattet. Die technikbedingten Mehrzweckeigenschaften solcher Waffen berauben die vertragliche Rüstungskontrolle der notwendigen Kongruenz zwischen der modernen Rüstungstechnik und den formalen Kategorien, auf die sie

64

1. Teil: ROstungskontrollrecht und technischer Wandel

entsprechend ihrem Segmentierungsansatz angelegt ise1• So erlauben es die gesteigerten Reichweiten und die erhöhte Treffsicherheit moderner Flugkörpersysteme, daß militärische Einsätze zunehmend von konventionellen Waffen nicht nur auf dem Gefechtsfeld, sondern auch in der Tiefe des Raumes durchgeführt werden können. Die Bandbreite der insbesondere von der Mikroelektronik und Sensortechnik eröffneten rüstungstechnischen Möglichkeiten reicht von kleinen Kampf- und Aufklärungsdrohnen bis zur Marschflugkörper- und Raketentechnik. Startbahnen, Brücken, Verkehrsknotenpunkte, Truppenmassierungen, Kommandozentralen etc. werden daher in absehbarer Zeit auch konventionell treffgenau und zuverlässig zu zerstören sein32• Potenziert werden die sich aus dieser Konventionalisierungstendenz ergebenden Probleme durch die am Horizont sichtbar gewordene Generation der INC-Waffen (Insertable Nuclear COmponents). Durch diese Technik können konventionelle Waffensysteme im Bedarfsfall kurzfristig mit (heimlich) bereitgehaltenen nuklearen Sprengsätzen ausgestattet werden 33. Auch der zentrale Rüstungskontrollbegriff der Massenvernichtungswaffe (bisher A-, B- und Cund radiologische Waffen) wird durch die Entwicklung von konventionellen Waffen mit Massenvernichtungsqualität relativiert. Ein bereits "klassisches" Beispiel für die Problematik der multifunktionalen Waffen ist der seit dem Ende der 70er Jahre eingeführte Marschflugkörper (Cruise Missile - CM). Marschflugkörper sind kleine ferngelenkte, unbemannte Flugzeuge mit eigenem Antrieb34. Sie können mit nuklearen oder konventionellen Sprengladungen versehen sein, je nach Brennstoffvorrat verschiedene Einsatzreichweiten haben, von Flugzeugen (Air-Launched Cruise Missile - ALCM), Über- und Unterwasserschiffen (Sea- bzw. Submarine-Launched Cruise Missile - SLCM) oder von Land (Ground-Launched Cruise Missile - GLCM) gestartet werden. Zudem sind sie auf Grund ihrer geringen Größe leicht zu verbergen35. Die Probleme der Einbeziehung von Cruise Missiles in Rü31

Rühl, The Grey Area Problem, S. 25.

32

Vgl. von Bülow, Friedensordnung und Verteidigung, S. 11.

33 Vgl. Bajusz, Technology and Strategie Arms Control, S. 10 f.; Blechman, New

Technology, S. 51; Slocombe, Technology and the Future of Arms Control, S. 46.

34 Vgl. die Marschflugkörperdefinitionen in Art. II (3) des Protokolls zum SALT-Il-Vertrag und in Art. II (2) S. 1 INF-Vertrag; s. auch Anhang 3, Abbildungen 3 und 4.

35 AusfUhrlieh zu den technischen Multifunktionseigenschaften der Marschflug-

körper Ferriere, Le secret des missiles de croisiere, S. 129 ff.; Gottemoel/er, Landattack Cruise Missiles, S. 5 ff.; Nalewajek, The Cruise Missile Case, S. 232 ff.;

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

65

stungskontrollvereinbarungen zeigten sich bereits in den SALT-II-Verhandlungen; sie bestätigen sich bei START. Das Multifunktionalitätsproblem lenkt den Blick auf die Tatsache, daß es zur Erreichung des Stabilitätszieles von "arms control" letztlich weniger auf die de lege ferenda zu beschränkenden technischen Eigenschaften von Waffen ankommt, als auf die von ihnen technisch verkörperte Fähigkeit, bestimmte militärische bzw. abschreckungspsychologische Funktionen zu erfüllen. Die hieraus zu ziehenden Folgerungen hinsichtlich der Methoden und Ansatzpunkte der qualitativen Rüstungskontrolle sind im nachfolgenden dritten Kapitel näher zu erörtern. 3. Computerisienmg und Automatisiernng

Die rasanten Entwicklungen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung und der Mikroelektronik haben technische Revolutionen in allen Bereichen der Militärtechnik bewirkt. So ermöglichte die moderne Computertechnik die Miniaturisierung von Fernlenksystemen und trug damit wesentlich zur Steigerung der Treffgenauigkeit von Fernlenkwaffen bei. Im Bereich von militärischer Kommunikation, Kommando und Kontrolle sind eine automatische Gefechtsfeldüberwachung, eine perfektionierte elektronische und elektro-optische Aufklärung, die fast verzugslose Übermittlung von Meldungen und Befehlen36 und eine Teil- bis Vollautomatisierung der Gefechtsabläufe die sichtbarsten Auswirkungen des Rüstungswettlaufs im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung: Der blitzschnell ablaufende konventionelle Knopfdruckkrieg gerät in Sichtweite37• Die Anfälligkeit elektronischer Systeme gegenüber einem gegnerischen Erstschlag macht sie zu einem potentiell destabilisierenden, jedenfalls schwer faßbaren, noch weitgehend unbekannten Faktor in der Gleichung der kooperativen Rüstungssteuerung.

Rah/, The 'Grey Area' Problem, S. 31; ders., SALT li, S. 58 f.; Tsipis, Cruise Missiles, S. 20 ff. 36

Bareth, L'OTAN face aux d~fis technologiques iuturs, S. 149 ff.

37

von Balow, Friedensordnung und Verteidigung, S. 28 f.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

4. Militärische Nutzung des Weltraums

Mit dem Schlagwort vom "Krieg der Sterne" haben die technischen Möglichkeiten militärischer Weltraumnutzung, die die Grenzen der Wirksamkeit der einschlägigen Verträge vor Augen führten 38, die Rüstungskontrolldiskussion der 80er Jahre mitbestimmt. Über den dabei im Vordergrund stehenden Fragen nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit, den Chancen und Risiken einer weltraumgestützten Raketenabwehr (SDI)39 dürfen die vielfältigen, noch unabsehbaren Konsequenzen der weltraumtechnischen Entwicklungen für die te"estrische Kriegsführung nicht übersehen werden40• Das Aufgabenspektrum der Satelliten reicht von der Unterstützung der Land-, See- und Luftstreitkräfte durch Nachrichtenübermittlung, Aufklärung, Navigationshilfe, Beobachtung usw. bis hin zur direkten Bekämpfung von Erdzielen aus dem Weltraum 41• Gefahr droht etwa der U-Boot-Waffe durch einen Durchbruch im Bereich der ASW-Technologien (Anti Submarine Warfare). Gelänge es, der maritimen Komponente der nuklearstrategischen Abschreckung mit Hilfe neuartiger satellitärer Ortungssysteme ihren Unsichtbarkeitsvorteil zu nehmen, würde die gesicherte Zweitschlagskapazität als das Rückgrat der nuklearstrategischen Stabilität erschüttert42: U-Boot-Detektion als eine

38 Weltraumvertrag von 1967, ABM-Vertrag von 1972, Weltraumregistrierungsabkommen von 1975, Mondvertrag von 1979. 39 Diese Fragen sind u.a. Gegenstand der Untersuchung im dritten Kapitel des zweiten Teils. 40 Angesichts der umfassenden Wirkungen von Weltraumwaffen wird befilrchtet, ganze Kernbereiche des bisherigen Rüstungskontrollrahmens könnten zusammenbrechen, sollte es nicht gelingen, die qualitative Weltraumrüstung rechtzeitig zu stoppen. Vgl. Altmann, Laserwaffen, S. 6-25. 41 Vgl. Jasani, La guerre spatiale, S. 104 ff.; Stahl, Militärische Nutzung des Weltraums, S. 705 ff.; von Welck, Weltraum statt Kernwaffen, S. 352 ff.; Wolf I Hoose, Die militärische Nutzung des Weltraums, S. 184 ff.

42 Zum Destabilisierungspotential neuer ASW-Technologien vgl. Bajusz, Strategie Arms Control, S. 21 f.; Herbig, Die militarisierten Meere, S. 90. Umgekehrt könnte eine auf Navigationssatelliten beruhende perfektionierte Zielgenauigkeit der seegestützten Fernraketen (SLBM) die strategische U-Boot-Waffe in die Lage versetzen, eine den landgestützten ICBM vergleichbare Treffsicherheit zu erlangen. Die strategische Funktion der wegen ihrer geringeren Treffsicherheit traditionell als "stabilisierende" Zweitschlagswaffe geltenden Nuklear-U-Boote, die bislang nur zur Bekämpfung großer Ziele (Städte, Industriezentren etc.), nicht aber zum Angriff auf militärische Punktziele geeignet waren, würde sich dadurch drastisch verändern. Ausführlich Wit, American SLBM.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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der vielen noch nicht angenommenen Herausforderungen der kooperativen Rüstungssteuerung. Das Rüstungsgeschehen im Weltraum wurde von der inzwischen weit fortgeschrittenen Entwicklung von Antisatellitenwaffen (ASAT) und technischen Mitteln zu ihrer Abwehr begleitet43• Der Nachdruck, mit dem insbesondere die Supermächte die ASAT-Rüstung vorantreiben, entspricht der militärischen Bedeutung der künstlichen Erdtrabanten44• ASAT-Waffen können vom Boden oder von Flugzeugen aus mit Raketen und Hochenergielasern operieren oder als Jagdsatellit selbst im Orbit stationiert sein45• Im Bereich der technischen Möglichkeiten liegt darüber hinaus die Unterbindung der Kommunikation zwischen Satelliten und Bodenstationen durch elektromagnetische Impulsbomben oder Manipulationen des die Radiowellen befördernden Raumes. 5. Ambivalenz riistungstechnischer Entwicklungen

So wie in den zivilen Bereichen "Segnung und Fluch" neuer Technik eng beieinander liegen, ist auch im Rüstungsbereich keineswegs jede Neuentwicklung a priori eindeutig zu bewerten. Rüstungstechnische Innovationen können stabilisierend oder destabilisierend auf das internationale System wirken46• So ist etwa die Mobilität von Fernlenkwaffen ein ambivalenter Faktor: Mobile Nuklearsysteme entziehen sich einerseits einem gegnerischen Erstschlag, sind weitgehend unverwundbar und tragen damit als "ideale" Zweitschlagwaffe zur strategischen Abschrekkungsstabilität bei; gleichzeitig sind sie aufgrund ihrer "Unsichtbarkeit" nicht zählbar und daher schwer zu kontrollieren. Unter dem Rüstungs-

43 Im Deutschen werden die Bezeichnungen Killersatellit, Satellitenjäger, Jagdsatellit und das aus der amerikanischen Terminologie übernommene Kürzel ASAT (Anti-Satellite) oft synonym verwendet.

44 Ein System von Satelliten und Weltraumstationen gehört zu den unverzichtbaren Instrumenten für die Eroberung, Beherrschung und Nutzung des Weltraums. Gleichzeitig dienen sie der globalen Kontrolle und Beeinflussung der Vorgänge auf der Erde. Vgl. Feig/, Militärisch nutzbare Satelliten, S. 189 ff.; von Welck, Weltraum und Weltmacht, S. 14 f.

Zu den ASAT-Programmen der Supermächte Wachtel, Les "Tueurs" de Satellites, S. 124 ff. Zu neuesten Entwicklungen Pike, Military use of outer space, s. 69 ff. 45

46 Vgl. Krell, Neue Technologien und Rüstungskontrolle, S. 47 ff.; Slzulman, Comment zu Panofsky, S. 180.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

kontrollaspekt gelten sie daher übelWiegend als destabilisierend, als uneiWünscht47. Die Doppelgesichtigkeit rüstungstechnischer Innovationen unter Stabilitätsgesichtspunkten ist primär ein dem Bereich der kooperativen Rüstungssteuerung vorgelagertes politisches Bewertungsproblem. Aufgabe der Rechtswissenschaft, einschließlich der Rechtspolitik, ist es, die in rechtlicher Hinsicht rüstungskontrollfeindlichen Effekte technischer Entwicklungen zu identifizieren und Wege zu ihrer normativen Bewältigung zu zeigen. Dabei wirken sich die technischen Trends für die vertragliche Rüstungskontrolle vor allem in zweierlei Hinsicht aus. Erstens beruhen die maßgeblichen qualitativen Veränderungen der Rüstungstechnik zu einem bedeutenden Teil auf mikrotechnischen Innovationen. Sie erschweren das Auffinden geeigneter Anknüpfungspunkte für praktikable Definitionen in den vertraglichen Verpflichtungstatbeständen. Multifunktionale Waffensysteme veiWischen zudem die Grenzen zwischen den Waffenkategorien, auf die sich die Rüstungskontrolle bisher maßgeblich abstützte. Damit steigen insgesamt die Schwierigkeiten der definitorischen Erfassung der Gegenstände von Vereinbarungen. Der kooperativen Rüstungssteuerung stellt sich neben dem Problem des Modernisierungspotentials der vorhandenen Waffen - zweitens - das Problem der "emerging technologies" und der Zukunftswaffen. So reicht es kaum aus, ausschließlich die bei Verhandlungsbeginn oder Vertragsschluß existierenden Waffen zum Gegenstand der Vereinbarungen zu machen. Verträge mit begrenztem technischen "Horizont" können bereits durch die nächste Waffengeneration obsolet werden. Die Einbeziehung der nächsten und aller nachfolgenden Waffengenerationen, deren technische Eigenschaften zum Vereinbarungszeitpunkt oftmals erst in vagen Umrissen oder gar nicht auszumachen sind, wird damit zur maßgeblichen, schwierigsten Herausforderung der Rüstungskontrolle48• Von besonderer rüstungskontrollrechtlicher Bedeutung ist daneben die Frage nach der Unterscheidung von (erlaubter) Modernisierung vorhandener Waffen einerseits und (verbotener) Entwicklung neuer Waffensysteme andererseits.

47 So etwa auch Ta/bott, Endgame, S. 164 ff. Hierzu heißt es schon im ABM-Kontext: "(lt) amounts to trying to put a box araund something that does not exist." Zitat eines sowjetischen RüstungskontrollDiplomaten nach Memo, "SALT-Principal Negotiating Issues", R. Spiers to Secretary Rogers, Dec. 20, 1971, p. 3, in: United States Depa111nent of State, ABM Treaty I, S. 43. 48

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

69

111. Rüstungstechnischer Wandel und Verifikation

Die Verifikation (Vertragseinhaltungskontrolle) ist der derzeit innovativste Bereich der Rüstungskontrolle49• Hierin liegt eine Chance für eine effektive kooperative Rüstungssteuerung. In der Verifikationsfrage materialisiert sich die politisch-existentielle Natur der Rüstungskontrolle auf der Ebene der normativen Regelungen. Die Verifikation drückt dem vertraglichen Rüstungskontrollrecht ihren Stempel auf. Der Aspekt der Einhaltungskontrolle gehört zu den bestimmenden Faktoren der normativen Bewältigung der durch rüstungstechnischen Wandel aufgeworfenen Probleme. Ausgangs der 80er Jahre bestimmte das Verifikationsthema die Diskussion über den rüstungskontrollfeindlichen Charakter technischer Innovationen. 1. Verifuierbarkeit determiniert Reduzierbarkeit

Das Interesse von Vertragsparteien an der Vertragstreue der Gegenseite bedarf keiner Erklärung. Der Satz "pacta sunt servanda" (Art. 26 WVRK) beruht auf der Annahme, daß die Parteien eines frei ausgehandelten Abkommens schon aus Eigeninteresse die eingegangenen Verpflichtungen erfüllen werden50• Gemäß der traditionellen Courtoisie im Umgang der Staaten untereinander enthalten völkerrechtliche Verträge i.d.R. keine Bestimmungen über die Überwachung der Einhaltung vertraglicher Verpflichtungen51• Der übliche Verzicht auf Kontrollbestimmungen beruht letztlich auf dem Vertrauen in die Vertragstreue der Gegenseite. Daß der anderen Partei grundsätzlich nicht zu trauen sei, daß infolgedessen Maßnahmen zur Reaktion auf einen Vertragsbruch von vornherein in Erwägung zu ziehen seien, mochten Staaten allenfalls in (Friedens-)Verträgen unterstellen, die sie dem besiegten Feind auferlegten. Maßnahmen der kooperativen Rüstungssteuerung können jedoch ein so hohes Risiko für die Sicherheit der beteiligten Staaten beinhalten, daß in diesem Bereich das vermutete Eigeninteresse der Gegenseite an der

49

Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 104.

Dies gilt auch für den Rüstungskontrollbereich: "Arms Control Tremies must by their very nature be of mutual benefit." US-Außenminister Slmltz, zit. in: United States Congress, INF-Hrgs. [SCFR] 1, S. 47. 50

51

Vgl. Gotlieb, Disarmament and International Law, S. 133.

70

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

Vertragseinhaltung allein nicht weit trägt52• Wie der bisherige Rüstungskontrollprozeß zeigte, haben nur zuverlässig verifizierbare Maßnahmen Aussicht auf vertragliche Fixierung: Die Verifizierbarkeil determiniert die Reduzierbarkeit53, also den Umfang und die Reichweite der Vereinbarungen, genauer: das Ob, das Wie und das Wieviel der Rüstungskontrolle. Diesem Veri[1Zierbarkeitsimperativ entsprechend sind verifikationslose Verträge von allenfalls marginaler Bedeutung: "Die Möglichkeit unentdeckter (Vertrags-)Verletzung ist der Untergang der Rüstungskontrolle"54• In Form von Verifikationsbestimmungen ist das gegenseitige Mißtrauen somit zu einem Merkmal des Typs "Rüstungskontrollvertrag" geworden, ja zur conditio sine qua non der kooperativen Rüstungssteuerung. Auch wenn vertrauensbildende Maßnahmen und ein günstiges internationales Klima eine gewisse Vertrauensbasis geschaffen haben, auf die die Rüstungskontrolle aufbauen kann, bleibt das wechselseitige Mißtrauen virulent und berücksichtigungs-, ja einbindungsbedürftig. Die Kontrollfrage hat sich regelmäßig als entscheidender Punkt der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen erwiesen55• So war das

52 "Verification is necessary only because you are afraid the other side will step outside the treaty, given the chance. Otherwise, we would not need verification." US-General Rowny in: United States Congress, INF-Hrgs. [SCFR] 1, S. 271. Vgl. auch Meyer, Verification and Risk in Arms Control. 53

Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 104, 122 ff.

US-Vizepräsident Bush auf der Genfer Abrüstungskonferenz am 18.4.1984, in: EA 1984, S. D 323 ff. (325). 54

55 Die Zurückweisung der amerikanischen Standard-Forderung nach intensiver Verifikation durch die sowjetische Seite wurde i.d.R. zur Ursache fUr das Scheitern von Verhandlungen. Dazu mit Beispielen Treverton, Das SALT-11-Abkommen, S. 457. Dieses in unterschiedlichen Varianten immer wiederkehrende Thema ist vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Anschauungsunterschiede der Supermächte zur Verifikationsfrage zu sehen. Betrachteten die USA verifikationslose Rüstungskontrollvereinbarungen als teere Gesten ohne Wert, sah die UdSSR in den amerikanischen Verifikationsforderungen traditionell den Versuch der Auskundschaftung ihrer militärischen Geheimnisse. Der Spionagevorwurf galt vor allem jeder Forderung nach Vor-Ort-Inspektionen. Die Inspektionsfrage wurde somit zum Kristallisationspunkt des Konfliktes zwischen den gegensätzlichen Rüstungskontrollkonzepten. Vgl. Waterkamp, Konfliktforschung und Friedensplanung, S. 127 ff. Die Rüstungskontrollfortschritte der späten 80er Jahre sind zum großen Teil verifikationsbedingt und auf die veränderte Haltung der Verifikationspolitik Gorbatschows zurückzufUhren. Vgl. EJ]inger, Die Verifikationspolitik der Sowjetunion.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

71

Scheitern zahlreicher Abrüstungsprojekte in den 50er und 60er Jahren maßgeblich auf die ungelöste Überwachungsfrage zurückzuführen. Die Bedeutung des INF-Vertrages von 1987 für den weiteren Rüstungskontrollprozeß liegt vor allem in dem durch ihn erzielten Durchbruch im Bereich des Verifikationsverfahrens, das erstmalig vertraglich fixierte Inspektionen vor Ort umfaßte56. Dennoch besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß das INF-Verifikationsmodell in anderen Bereichen der Rüstungskontrolle - etwa bei START, bei der konventionellen und bei der C-Waffen-Abrüstung - nicht ausreichen wird. Der mit dem INF-Abkommen eingeleitete, durch START, VKSE usw. fortzusetzende Übergang der Rüstungsbeschränkung zum Rüstungsabbau wird dazu führen, daß unter den Bedingungen eines niedrigeren Rüstungsniveaus eine geringfügige Vermehrung der Waffen in Verletzung eines Abkommens einen größeren Effekt hätte als vorher. Auch im Rüstungskontrollprozeß der 90er Jahre wird daher die Verifikation ein herausragendes Thema sein: Verifikation als Prüfstein für Erfolge kooperativer Rüstungssteuerung. 2. Funktionen, Begriff und Prozeß der Verifikation

"Verifikation" bezeichnet die Gesamtheit aller Bemühungen, die Einhaltung von Rüstungskontrollvereinbarungen zu überprüfen, durch Entdeckungswahrscheinlichkeit von Vertragsverletzungen abzuhalten und objektivierbare informationeHe Voraussetzungen für Reaktionen auf vertragswidriges Verhalten der Gegenseite zu schaffen57. In ihrer Entdecf..."Ungs- und Frühwarnfunktion schafft die Verifikation die Voraussetzungen zur Aufdeckung von Vertragsverletzungen. Der Überwachung unterliegt das Unterlassen untersagter Aktivitäten (z.B. das Aufstellen bestimmter Waffensysterne) ebenso wie die Vornahme vereinbarter Handlungen (z.B. die Vernichtung von Munition oder Waffen)58. Entdeckungswahrscheinlichkeit ist die Voraussetzung sowohl für eine Abschreckung von vertragswidrigem Verhalten als auch für das Ergreifen von Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vertragseinhal56 Art. XI INF-Vertrag i.V.m. dem INF-Inspektionsprotokoll. Vgl. die Erlauterung des INF-Inspektionsverfahrens in ATIL 1988, S. 345 ff., und die Kritik von Codevilla, The Cure that may kill, S. 42 f. 57 Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 122.

58 Effinger, Verifikation und Rüstungskontrolle, S. 11 f., spricht diesbezüglich von "negativen" und "positiven" Entdeckungen.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

tung, für Sanktionen, für das Ausüben von Rücktrittsrechten usw. 59 Nur durch rechtzeitiges Erkennen einer Umgehung ist zu verhindern, daß sich eine Partei in vertragswidriger Weise einen Vorteil gegenüber der vertragstreuen Seite verschafft60• Die der Verifikation zugewiesene Abschreckungsfunktion beruht auf der Annahme, daß von der Möglichkeit der Entdeckung vertragsverletzenden Verhaltens Abhaltungswirkung ausgeht61• Der potentielle Verletzer muß in seine Überlegungen öffentliche, politische und völkerrechtliche Reaktionen einbeziehen, deren Schaden den Vorteil eines Vertragsbruches aufwiegen könnte. In Abwandlung des bekannten Leninschen Mottos "Vertrauen ist gut und wird durch Kontrolle noch besser"62 hat Verifikation, vorausgesetzt Vertragsverletzungen werden nicht festgestellt, auch vertrauensbildende Wirkung. Dies gilt sowohl im Verhältnis der Parteien zueinander als auch bezüglich des Rüstungskontrollrahmens als solchen. Erschüttertes Vertrauen stellt nicht nur die konkret betroffene Vereinbarung in Frage, sondern entzieht letztlich dem gesamten Rüstungskontrollprozeß die Grundlage. Eine erfolgreiche vertragliche Rüstungskontrolle schafft sich hingegen ihre Vertrauensbasis weitgehend selbst. Verifikation dient zudem der Klärung von Ungewißheit und der Überprüfung bzw. Bestätigung der auf anderem Wege, etwa durch vereinbarten offiziellen Informations- oder Datenaustausch, erlangten Informationen. Der Inhalt des Verifikationsbegriffs ergibt sich aus den Funktionen der Einhaltungskontrolle. Sie ist als spezieller, auf die Belange der kooperativen Rüstungssteuerung zugeschnittener Prozeß der "Bewahrheitung" durch Überprüfung zu charakterisieren. Mit der Entwicklung einer ausgefeilten Verifikationstechnik gegen Ende der 50er Jahre (Einführung der künstlichen Erdsatelliten) wurde der bis dahin in der Abrüstungsterminologie vorherrschende Begriff der Inspektion (inspection) durch

59 " ... there is ultimately only one way to enforce an arms cantrot agreement, and that is by both being able to detect any increase in the threat and being able to react to that change." OS-Senator McCain, in: United Stares Congress, INF-Hrgs. [SCAS) 1, S. 18.

60

Ausführlich Chayes, The Warkings of Arms Control Agreements, S. 949 f.

Vgl. Bluhm, Die Überwachung der Abrüstungsmaßnahmen, S. 13 f.; Effinger, Verifikation und Rüstungskontrolle, S. 11. 62 Bühl, Leitsätze für Verifikation, S. 2B7. 61

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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den Begriff der Verifikation abgelöst63• Heute ist "Inspektion" nur eines der möglichen Verfahren von Verifikation. Von großer Relevanz ist die Abgrenzung der (legalen) Verifikation von anderen Bereichen der (illegalen) Informationsgewinnung, d.h. von der allgemeinen militärischen Aufklärung bis hin zur Spionage. Verifikation ist nur ein Ausschnitt aus dem umfassenden Prozeß der Gewinnung von Informationen eines Staates über andere Staaten (intelligence). Im Unterschied zu militärischer Aufklärung und Spionage beruht die Anwendung von Verifikationsmitteln und -methoden zur Überwachung von Rüstungskontrollvereinbarungen auf wechselseitiger Duldung bzw. Anerkennung. Das rechtliche Unterscheidungskriterium wurde durch SALT I (1972) in einer Standardformel über die völkerrechtliche Zulässigkeil der Verifikation mit innerstaatlichen technischen Nachprüfungsmitteln (z.B. Photosatelliten) festgelegt. Diese gehört seither zum festen Bestandteil der bilateralen Rüstungskontrollverträge64, ist jedoch juristisch wenig aussagefähig: Zulässig sollen nur solche Überwachungsmittel sein, die in einer Weise eingesetzt werden, "die mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts im Einklang stehen"65 • Da die Tätigkeit unilateral eingesetzter technischer Verifikationsmittel (National Technical Means of Verification - NTM) regelmäßig durch vertragliche "Störverbote" vor Abschirm- und Gegenmaßnahmen abgesichert wird, gewinnt die Abgrenzung zwischen legalen und illegalen Methoden durch den "Vorbehalt" der Standardformel eine überragende Bedeutung: Während ein Staat Abwehrmaßnahmen gegen Spionagemittel ergreifen darf6, sind legitime Verifikationsmittel vor feindlichen Einwirkungen geschützt. Zum potentiell brisanten Problem wird diese Unterscheidung durch die Tatsache, daß die Verifikation und die weitergehenZur Terminologie vgl. Krass, Verification, S. 212 m.w.N. Sie weist inzwischen die Tendenz zu völkergewohnheitsrechtlicher Wirksamkeit auf; Graf Vitzthwn, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 126. 63

64

65 Art. XII (1) ABM-Vertrag, Art. V (1) SALT-1-Interimsabkommen, Art. II Testschwellenvertrag, Art. IV Vertrag über unterirdische Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken, Art. XV SALT-II-Vertrag, Art. XII INF-Vertrag. Der völkerrechtliche Verifikationsbegriff muß daher dahingehend erganzt (also eingeschrankt) werden, daß es sich bei ihm um einen Prozeß der "Bewahrheitung" von Vereinbarungen durch Überprüfung im Rahmen der allgemein anerkannten Gnmdsätze des Völkerrechts handelt. 66 So lautete etwa die sowjetische Rechtfertigung des Abschusses eines koreanischen Passagierflugzeuges über Sachalin im Jahre 1983, das den sowjetischen Luftraum verletzt hatte.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

de militärische Aufklärung i.d.R. von denselben Apparaten vorgenommen werden (z.B. Aufklärungssatelliten)67• Das Schließen dieser "Grauzone" zwischen legitimer Verifikation und illegaler nachrichtendienstlicher Aufklärung bleibt eine wichtige Aufgabe der zukünftigen Rüstungskontrolle68. Es liegt auf der Hand, daß alle Erkenntnisse, die im Rahmen des Prozesses der "intelligence" gewonnen werden, die Verifikation ergänzen und komplettieren (z.B. "offene" Quellen, diplomatischer Dienst, Militärattachedienst, Geheimdienste etc.). Sie sind de facto ein in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzender Teil der Verifikationssysteme69•

Verifikation ist kein statischer Zustand, sondern ein mehrphasiges, kontinuierliches Verfahren, das als ein verschiedene Stufen durchlaufender Erkenntnisprozeß zur Beurteilung der Einhaltung von Rüstungskontrollabkommen beschrieben werden kann. Ausgangspunkt dieses technischen, aber auch politischen, juristischen, diplomatischen und militärischen Prozesses ist die Datenerhebung, d.h. die Gewinnung der "Rohinformationen" durch Beobachtung und Aufklärung mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Verifikationsmittel und -methoden. Bei der darauffolgenden Datenaufbereitung und Analyse werden die technischen Rohdaten von Spezialisten in eine aussagefähige Form gebracht, gesichtet und verglichen. Erst auf der darauffolgenden Stufe der Identi[uierung können Erkenntnisse über tatsächliche oder vermutete Vertragsverletzungen anfallen. Experten interpretieren das durch Informationen aus allen Bereichen ergänzte Bündel von Verifikationsergebnissen mit dem Ziel, der Politik in allgemeinverständlicher Form einen möglichst abgesicherten Befund zu präsentieren, der die Gefahr eines "falschen Alarms" nach Möglichkeit ausschließt. Zur Klärung von Ungewißheiten kann auf dieser Stufe die Gegenseite um Aufklärung oder zusätzliche Informationen angegangen werden.

67 Die durch das Fehlen eindeutiger Bestimmungen über die Art und Weise des Einsatzes von NTM bedingten Mehrdeutigkeiten werden durch die Abwesenheit eines Kataloges der legitimen Verifikationsmittel noch verstärkt. Vgl. Calvo-Goller I Calvo, SALT Agreements, S. 288; Krass, Verification, S. 182. 68 Zu Mißbrauchsgefahren und entsprechenden Ansatzen einer Verifikation der Verifikation Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 119 f. mit Beispielen.

69 Illegal erworbene Informationen können in Vertragsverletzungsverfahren indes nicht herangezogen werden. Vgl. Graf Vitzthum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 126.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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Die Bewertung des Umfangs und der Signifikanz identifizierter Vertragsverletzungen durch die politische Führung ist der aus rüstungskontrollpolitischer Sicht kritischste Punkt im Verifikationsprozeß70• Sie legt die Grundlage für die Entscheidung über das "Ob" und das "Wie" der Reaktion auf eine Vertragsverletzung und leitet über zur Planung politischer und I oder rechtlicher Gegenmaßnahmen.

3. VerifiZierbarkeil und Verifikationsbedarf Die Verifizierbarkeil einer Rüstungskontrollmaßnahme ergibt sich einerseits aus dem Verifikationsbedarf, der von den Parteien unter subjektiven Gesichtspunkten festgelegt wird71, und der objektiven Verifikationsfähigkeit andererseits 72• Bleibt die Verifikationsfähigkeit hinter dem Verifikationsbedarf zurück, haben die zur Disposition stehenden Rüstungskontrollmaßnahmen infolge des Verifizierbarkeilsimperativs keine Aussicht auf Verwirklichung. Die Verifikation kann die ihr von den Parteien zugemessenen Funktionen nur dann erfüllen, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit gewährleistet ist, daß eine Vertragsverletzung entdeckt wird, bevor der Verletzer aus seinem Verhalten einen Vorteil ziehen kann. 70 Ebenso Krass, Verification, S. 197. Zur Bedeutung des subjektiven Elements im Verifikationsprozeß vgl. Voas, Arms control compliance, S. 9 ff. 71 Die Frage der erforderlichen Intensität der Verifikationsverfahren steht im Zentrum vor allem der amerikanischen Rüstungskontrollpolitik: " ... since there is no such thing as perfect verification, how much is really enough?" (US-Senator Cranston in: United States Congress, INF-Hrgs. [SCFR] 1, S. 232). Zu dieser verifikationspolitischen Schlüsselfrage vgl. auch Biennann, Verifikation durch Kooperation, S. 103 ff. Die USA betrachten traditionell die Gewahrleistung einer zuverlässigen Kontrolle als conditio sine qua non fUr alle substantiellen Vereinbarungen und damit als das kritische Element der Rüstungskontrolle. Vgl. United States Anns Contro/ and Disannament Agency, Verification; Chayes, Arms Contra! Agreements, S. 945 ff. Im einzelnen wurden unterschiedliche Verifikationsstandards als Kennzeichen einer "weichen" oder "harten" amerikanischen Rüstungskontrollpolitik aufgestellt. Dazu Buchanan, The Verification Spectrum. Die Regierungen Nixon, Ford und Carter vertraten bei SALT das Konzept der "adequate verification", das die Entdeckung substantieller Vertragsverletzungen für ausreichend erachtete. Die Reagan-Administration postulierte einen als "effective verification" bezeichneten strengeren Maßstab, der von der Überlegung ausging, jede noch so geringfügige unentdeckte Vertragsverletzung ermutige zu gravierenderen Verstößen und sei daher auszuschließen. Vgl. auch Krass, Verification, S. 143. 72

Efjinger, Verifikation und Rüstungskontrolle, S. 7.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

Daraus folgt, daß die Intensität der Verifikation sich maßgeblich daran orientieren muß, welchen potentiellen Nutzen die andere Seite aus einer Vertragsverletzung ziehen könnte. Die Frage, wann eine genügende Kontrollintensität erreicht ist, wird jedoch letztlich immer Gegenstand einer vom allgemeinen Klima beeinflußten subjektiven Wertung sein. Die Festlegung des Verifikationsbedarfs einer Rüstungskontrollmaßnahme ist daher essentiell politischer Natur. Grundlage jeder realistischen Einschätzung des Verifikationsbedarfs und der Verifizierbarkeil von Maßnahmen der kooperativen Rüstungssteuerung muß dabei jedoch die Einsicht sein, daß eine Vertragsüberwachung mit absoluter Erkenntnissicherheit ein unerfüllbares Postulat wäre. 4. Verifikationsfähigkeit und Verifikationsinstrumentarium

Neben dem subjektiv festgelegten Verifikationsbedarf ist die Verifizierbarkeil einer Rüstungskontrollvereinbarung maßgeblich von den vereinbarten Mitteln, Verfahren und Instrumenten abhängig, die von den Parteien zur Herstellung von Verifikationsfähigkeit eingesetzt werden. Da die Verifikationstätigkeit der Staaten auf wechselseitiger Duldung bzw. Anerkennung beruht, ist der Grad von Verifikationsfähigkeit, der durch die Bereitstellung adäquater Mittel und Verfahren erzielt werden kann, von der Kooperationsbereitschaft der Beteiligten abhängig. Mit zunehmender Intensität tangiert die Verifikation indes den Bereich der nationalen Souveränitätsrechte und macht einen entsprechenden Verzicht des zu kontrollierenden Staates erforderlich: je intrusiver die Verifikation ausfällt, desto gravierender ist der erforderliche Souveränitätsverzicht und desto höher liegt die politische Akzeptanzschwelle. Das verifikationspolitische Schlüsselproblem ist es daher, solche Mechanismen zu vereinbaren, die einerseits Verifikationsfähigkeit gewährleisten, andererseits aber die Souveränitätssphäre des kontrollierten Staates so wenig wie möglich einschränken - ein Verhältnismäßigkeilsprinzip der Verifikation. Der Rüstungskontrollpolitik steht ein weites Spektrum von Verifikationsmitteln und -verfahren zur Verfügung, mit denen unterschiedliche Kontrollintensitäten zu erzielen sind. Idealtypisch können dabei die einseitig eingesetzten nationalen technischen Nachprüfungsmittel (NTM), die kooperativen nichtinstitutionalisierten Verifikationsmethoden und die institutionalisierte internationale Kontrolle unterschieden werden. Da die einseitig eingesetzten technischen Verifikationsmittel weitgehend mit den allgemeinen militärischen Aufklärungsmitteln iden-

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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tisch sind, unterliegen sie der strikten Geheimhaltung73• Zu den NTM gehören vor allem boden-, see- und luftgestützte Radargeräte unterschiedlicher Reichweite, satellit- oder seegestützte Infrarot- und Photosensoren sowie land-, see-, Iuft- und satellitengestützte Einrichtungen zum Abhören von Kommunikations-, Radar- und bei der Waffenerprobung übertragenen Telemetriesignalen74• Die Effektivität der Verifikationstätigkeit von NTM kann durch entsprechende Gegenmaßnahmen beeinträchtigt werden. Sie reichen von passiven Maßnahmen wie Täuschung, Tarnung, Verschleierung und Verschlüsselung bis zu aktiven Maßnahmen wie dem Einsatz von Störsendern, Blendspiegeln usw. Daher wird die Tätigkeit technischer Verifikationsmittel, die auf der Grundlage der entsprechenden rüstungskontrollvertraglichen Verifikationsklauseln erfolgt, regelmäßig durch einen Katalog von begleitenden Flankierungsvereinbarungen unterstützt und geschützt. Von SALT I über SALT II zu INF und START sind diese

kooperativen Standardmaßnahmen zur Absicherung und Ergänzung der NTM-Verifikation 75 erheblich ausgedehnt und verfeinert worden76•

73 Für die Beweisführung bezüglich eines durch NTM festgestellten Vertragsverstoßes bedeutet dies ein gewisses Handicap, da Beweis i.d.R. nur unter Offenlegung der Leistungsfähigkeit des Verifikationsmittels angetreten werden kann. 74 Vgl. Fahl, SALT II vor START, S. 77 ff.; Talbott, Endgame, S. 194 ff. Die Leistungsfähigkeit von NTM wird bestimmt von der Art der zu verifizierenden Maßnahme, der Beschaffenheit des betroffenen Gegenstandes, der aufgabenspezifischen Eignung des Instruments, den Möglichkeiten der Datenaufbereitung, den Grenzen des technischen Leistungsvermögens der Apparate, aber auch von Umweltfaktoren (z.B. Bewölkung, Gelände). 75 Verbot des störenden Eingriffs (Art. XII [2] ABM-Vertrag, Art. V [2] lnterimsabkommen, Art. II [3] TTBT, Art. IV [2] PNET, Art. XV [2] SALT-11-Vertrag, Art. XII [2] a INF-Vertrag; Verbot vorsätzlicher Verschleierung (Art. XII [3] ABM-Vertrag, Art. V [3] Interimsabkommen, Art. XV [3] SALT-11-Vertrag, Art. XII [2] b INF-Vertrag); lnfonnationsaustausch über Flugkö1perstarts und den Umfang der Arsenale (Art. XVI [1], Art. XVI [3] SALT-11-Vertrag), Notifiziemngs-

pflichten; vereinbarte Datengnmdlage; Verbot der Verschlüsselung von Telem etriedaten (2. Absprache zu Art. XV SALT-11-Vertrag). Anbringung von "Functionally Related Observable Differences" (FROD), "Extemally Observable Design Features" (EODF) und "Extemally Observable Differences" (EOD) zur Unterscheidung

zwischen sich außerlieh gleichenden Waffensystemen unterschiedlicher militärischer Funktion (1. Absprache zu Art. II [3]; Vereinbarte Erklärung zu Art. VIII [1]; Absprache zu Art. VI [6]; 2. Absprache zu Art. II [3]; 4. Vereinbarte Erklärung zu Art. II [3] a; 2. Absprache zu Art. II [8]; 4. Absprache zu Art. II [3] SALT-11Vertrag). Dazu von Hippe/ I Weiss, Betrug lohnt nicht, S. 86.; Earle, Verification

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

Zu den "einseitigen Verifikationsverfahren" im untechnischen Sinne gehören auch die diversen Formen der mittelbaren Überwachung, die in der rüstungskontrollpolitischen Praxis ein maßgeblicher Faktor der Verifizierbarkeitsgleichung sind. Im Vordergrund steht dabei die Selbstkontrolle in den "offenen" Gesellschaften des Westens, die primär durch parlamentarische Kontrolle und eine freie Presse (insb. durch investigativen Journalismus) gewährleistet wird. Das zwischen "offenen" und "geschlossenen" Gesellschaftsordnungen bestehende Informationsgefälle ist zu einem traditionellen Element der Verifikationsdiskussion gewordenn. Durch die Kombination der verschiedenen Komponenten unilateraler Verifikation kann ein hoher Grad von Verifikationsfähigkeit erzielt werden. Verifikation ist jedoch stets darauf angewiesen, daß die Verifikationsobjekte spezifische (technische) Merkmale und Eigenschaften aufweisen, die mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden beobachtet werden können (Signaturen 78). Weisen bestimmte Eigenschaf-

Issues, S. 17 f.; Fahl, SALT II vor START, S. 84 f.; Talbott, Endgame, S. 233 f. Der INF-Vertrag dehnte das Verschleierungsverbot auf nichtvorsätzliche Maßnahmen aus (Art. XII [2] b). Eine bislang einzigartige Maßnahme zur SatellitenVerifikation mobiler ICBM stellte die Vereinbarung dar, die entsprechenden Systeme auf Ersuchen (6 pro Jahr) im Freien aufzustellen (Art. XII [3]). Zählregeln (Art. VII), Bestimmungen über den Aufenthaltsort und Transport von Waffensystemen (Art. VIII) und Regelungen über Datenaustausch und Notifizierungen (Art. IX) runden das NTM-Verifikationsverfahren des INF-Vertrages ab. - Bei START wird nun gar die gegenseitige Vorführung der vorhandenen MIRV erwogen (Reifenberg, Der START-Vertrag ist ungenügend, in: F.AZ. vom 10.4.1990, s. 16). 76 Ein neues Verfahren, das Anbringen unveränderlicher und falschungssicherer, identifizierbarer Kennzeichen an den Vertragsgegenstanden ("tagging"), wird im START- und VKSE- Kontext erörtert. Satellitenlesbare Kennzeichnungen sollen es erlauben, die Art, Anzahl und Bewegung von mobilen Raketen, Panzern usw. zu überwachen. Dazu Fetter I Garwin, Using Tags to Monitor Numerical Limits in Arms Control Agreements; Krepon, Verification of conventional arms reductions, S. 551 f.; Legelf /Lewis, S. 422 f.

n Vgl. Bluhm, Die Überwachung der Abrüstungsmaßnahmen, S. 526 ff.; Adelman, Reykjavik, S. 8. Die Informations-Asymmetrie wurde zwar von sowjetischer Seite regelmäßig bestritten (so etwa Prokofiev, Problems of Verification, S. 121), ist jedoch in der UdSSR auch in der Ära von "Glasnost" noch keineswegs vollständig abgebaut worden. 78

Begriffsprägung für die technischen Anknüpfungspunkte der Verifikation bei

Gestreich I Knoth, Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen, S. 34.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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ten von Waffen keine entsprechende Signaturen auf, die durch nationale technische Mittel wahrnehmungsmäßig erfaßt werden können (z.B. Art der Bewaffnung eines Marschflugkörpers), sind die Leistungsgrenzen der unilateralen Verifikation erreicht. Kooperative Verifikationsverfahren sind geeignet, den Kreis von Signaturen der Rüstungskontrollgegenstände zu erweitern und damit die Grenzen von Verifikationsfähigkeit auszudehnen (z.B. Überprüfung der Bewaffnung eines Marschflugkörpers durch ein vor Ort eingesetztes Inspektorenteam). Insbesondere kann über kooperative Verifikationsmethoden "Beweisführung" angetreten werden; über einseitig gewonnene Informationen ist dies oftmals nicht möglich, ohne die Quelle (Spionage) zu kompromittieren oder die Leistungsfähigkeit der technischen Aufklärungssysteme preiszugeben. Zu unterscheiden ist zwischen kooperativen Verifikationsverfahren ohne Inspektionen, die zur Absicherung der NTMVerifikation oder als eigenständige Verifikationsmaßnahme vereinbart werden, und nationalstaatliehen Inspektionen durch die Gegenseite (adversary I reciprocal inspection).

Das gebräuchlichste kooperative Verfahren ohne Inspektion ist der Austausch von Infomwtionen, für den unterschiedliche diplomatische Kanäle oder Plattformen in Anspruch genommen werden können79• Da die ausgetauschten Informationen durch den informationspflichtigen Staat einseitig ermittelt und zusammengestellt werden, sind entsprechende Vereinbarungen vergleichsweise einfach zu erzielen. Die zur Verfügung gestellten Angaben bedürfen jedoch ihrerseits der Bestätigung durch den Vergleich mit Aufklärungsergebnissen anderer Verifikationsmethoden80. Eine Vorab-Notifikation kann der anderen Partei eine Aktivität im voraus ankündigen, die von dieser sonst als Vertragsverstoß

79 Der Austausch geographischer, geologischer und anderer Informationen wurde in den Protokollen zu TIBT (1974) und PNET (1976) vereinbart. Art. XVII (3) SALT-Il-Vertrag sah eine im Rahmen der Ständigen Beratungskommission fortzuschreibende Datenbasis filr die Zahl strategischer Offensivwaffen vor. Der in Art. IX INF-Vertrag i.V.m. dem INF-Datenmemorandum vorgesehene Datenaustausch soll im Rahmen der durch das Abkommen vom 15. September 1987 errichteten "Nuclear Risk Reduction Centers" fortgeschrieben werden. Die START-Verhandlungen stUtzen die Ansicht von Krepon, Verification of conventional arms reductions, S. 547, daß Datenaustausch ein Standardbestandteil künftiger Vereinbarungen sein wird. 80 Der INF-Vertrag etwa sieht Inventurinspektionen zur Nachprüfung der ausgetauschten Informationen vor.

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1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

interpretiert werden und einen "falschen Alarm" auslösen könnte81• Darüber hinaus dienen Konsultationspflichten und Konsultationstreffen (ad hoc oder regelmäßig) ebenfalls dem Austausch verifikationsrelevanter Informationen und der Klärung offener Fragen. Verfahren, die Inspektionen vor Ort durch die jeweilige Gegenseite ohne Auflagen und Beschränkungen zulassen, werden der Entdekkungs-, Abschreckungs- und Vertrauensbildungsfunktion der Verifikation in höchstem Maße gerecht82• Inspektionen können wegen ihrer punktuellen Wirkung die ständige und flächendeckende Überwachung durch die technischen Verifikationsmittel jedoch nicht ersetzen. Auch sind im Rüstungsbereich Forschung, Entwicklung, Produktion, Transport und Lagerung aus praktischen Gründen selbst durch intensivste Inspektionsverfahren nicht überall und simultan zu überwachen. Hohe Entdeckungswahrscheinlichkeit ermöglichen daher kombinierte Verifikationssysteme; sie hätten im Idealfall sicherzustellen, daß einem bei der Beobachtung durch NTM entstandenen Verdacht im Wege der Vor-Ort-Inspektion sofort und überall nachgegangen werden kann. Die vertragliche Verwirklichung des Maximalkonzepts der Inspektion "any time, any place" scheint jedoch auch nach dem mit dem INF-Vertrag erzielten psychologischen Durchbruch noch in ferner Zukunft. Sie würde die Souveränität des kontrollierten Staates am stärksten beeinträchtigen und stellt daher eine hohe Hürde für die politische Akzeptabilität dar. Rechtliche Probleme stellen sich diesbezüglich auch im innerstaatlichen Bereich, wo - etwa bei einem C-Waffen-Verbot - auch private Unternehmen fremden Inspektoren offenstehen müßten83• Unbegrenzte Inspektionsrechte bedürften daher in jeder betroffenen Rechtsordnung der Schaffung innerstaatlicher Durchführungsvoraussetzungen84•

81 Vgl. etwa den in Art. II des Protokolls zum PNET (1976) vorgesehenen umfassenden und detaillierten Katalog von Notifizierungs- und Informationspflichten. 82 Zu rüstungskontrollvertraglichen Inspektionen vgl. etwa Fischer, L'lnspection et le controle des armements. 83 So schützt etwa das Vierte Amendment der US-Verfassung Privateigentum vor "unreasonable search and seizure". Vgl. auch Krass, Verification, S. 215 f.

84 Z.B. wurden die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen für die Durchführung der WEU-Kontrollmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland 1%1 durch das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 14.12.1957 über Rüstungskontrollmaßnahmen der Westeuropaischen Union (BGBI. 1%1 II, S. 384 ff.) geschaffen.

2. Kap.: Technischer Wandel und kooperative Rüstungssteuerung

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Dem theoretischen Verifikationsideal nahe kommen die großzügigen Bestimmungen über gegenseitige Inspektionen des Antarktisvertrages85, des Weltraumvertrages86 und des Mondvertrages87• Nicht zu übersehen ist jedoch, daß die Inspektionsoffenheit dieser Verträge Bereiche betrifft, deren vertragliche Rechtsgrundlagen Rüstungsrelevantes nur am Rande regeln und die staats-, d.h. souveränitätsfreie Räume minderer militärischer Bedeutung erfassen88: je staatsfreier der Raum, desto intrusiver die Verifikation89• Die Verifikationsliteratur hat unter Zugrundelegung unterschiedlicher Kriterien eine Vielzahl bi- oder multilateraler Inspektionsvarianten und -modelle hervorgebracht90, über die sich an dieser Stelle nur ein grober Überblick geben läßt. So kann etwa unter Abstellung auf die Qualifizierung des Zugangs von Inspektoren unterschieden werden zwischen Inspektionen auf Einladung (Handhabung nach Belieben des kontrollierten Staates)9l, Inspektionen durch qualiftzierten Zugang (Rechtsanspruch auf Zugang unter bestimmten Voraussetzungen), Inspektionen durch quotierten Zugang (Festlegung einer Jahresquote) und Inspektionen "any time, any place" (Rechtsanspruch auf unbeschränkten Zugang). Nach zeitlicher Frequenz und Dauer hingegen sind unangemeldete "Biitz"-Inspektionen, stitndige Inspektionen bei dauernder Anwesenheit von Inspektoren oder Routinekontrollen in vorbestimmten zeitlichen Abständen denkbar. Wei-

Nach Art. VII Antarktisvertrag stehen fremden Inspektoren alle Gebiete, Anlagen, Einrichtungen etc. offen; eine Behinderung der Inspektionst~tigkeit ist untersagt. Von den Inspektionsmöglichkeiten des Antarktisvertrages ist jedoch in der Praxis kaum Gebrauch gemacht worden. Weder lag den wenigen durchgeführten Inspektionen ein Verdacht auf vertragswidrige Handlungen zugrunde, noch sind solche bekannt geworden. Ausführlich Auburn, Antarctic Law and Politics, S. 110 ff. m.w.N. 85

86 Art. XII Weltraumvertrag öffnet auf Gegenseitigkeitsbasis den Vertretern fremder Staaten alle Einrichtungen auf Himmelskörpern. 87 Art. XV (1) Mondvertrag eröffnet unbeschränkte Besuchsmöglichkeiten (visits) für Raumfahrzeuge, Einrichtungen, Stationen etc. nach angemessener (reasonable) Vorankündigung.

88 Die militärisch bedeutenden Satelliten etwa wurden aus dem großzügigen Verifikationsverfahren des Weltraumvertrages ausgeklammert. 89

Graf VitZJhum, Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, S. 121 f.

90

Vgl. etwa Biennann, Verifikation durch Kooperation, S. 34 ff.

91 Z.B. die als Vertrauensbildende Maßnahme vereinbarten KVAB-Manöverbeobachtungen.

82

1. Teil: Rüstungskontrollrecht und technischer Wandel

tere Möglichkeiten sind Luftinspektionen